Paradigmen des Entwicklungsdenkens: Gegenstandskonstitution und bewegungsdynamische Orientierung 9783495817629, 9783495485422


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Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Inhalt
Danksagung
Einleitung
1) Der vergessene Doppelsinn: Diakritische und konstituierende Entwicklung
2) Lebenswelt und Metaphysik: Die Bedeutungsdifferenz von »Entwicklung« und ihre konstitutionstheoretische Reduktion
3) Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs
4) Bewegungs- und Auslösungsdynamik, Stoffwechsel und Restitution: Die Konstitution als Reflexionsbegriff der Organisation
5) Diakritische Entwicklung als Wiederholungshandlung. Der Reflexionsbegriff bewegungsdynamischer Organisation
6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung
Teil A · Philosophie der Entwicklung
Kapitel I · Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution
1) Kants »mechanische Entwicklung«: Die konstitutionstheoretische, analogische Bestimmung der diakritischen Entwicklung
2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff der bewegungsdynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung
3) Selbsterhaltung als Selbstorganisation: Der Lebensbegriff als Paradigma von Organisation und Entwicklung
4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels: Die Diakrisis als Differenzbildung eines lebenden Systems
Kapitel II · Restitutive Selbsterhaltung: Die diakritische Entwicklung als Form der mechanischen Reproduktion
1) Hegel und Herbart: Das Problem der Restitution und die Destruktion des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung
2) Herbarts Methodologie: Die diakritische Entwicklung als die Spaltung von Phaenomena und Noumena
3) Herbart und die Herbartschule: Habituelle »Begriffsgenese«. Die Reproduktionstheorie der diakritischen Entwicklung
4) Erkenntnistheorie und Phänomenologie: Die Habitualisierung und das Problem einer rezeptiven, selektiven Organisation
Teil B · Phänomenologie der Konstitution
Kapitel I · »Bewusstwerdende Objektivität«. Die phänomenologische Konstitution als Form der Objektbestimmung und Habitualisierung einer Objektbeziehung
1) Intentionale Konstitution: Die restriktiv erkenntnistheoretische Fassung des phänomenologischen Konstitutionsbegriffs
2) Von der Objektkonstitution zur Selbstkonstitution: Die Gewinnung des systematischen Begriffs der phänomenologischen Konstitution
3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung: Die Entfaltung des Organisationsbegriffs der phänomenologischen Konstitution
4) Die Erzeugung und reproduktive Aktualisierung eines Habitus: Der Konstitutionsbegriff der genetischen Phänomenologie
5) Erkenntnis und Interesse, Geltung und Genesis: Vom Ordnungs- zum Erhaltungsbegriff der Organisation
6) Konstitution und Vorkonstitution: Das habitualisierende Erkenntnisinteresse und sein intentionaler Wiederholungssinn
7) Erkenntnisgewinnung als Orientierungsproblem: Die genetische Phänomenologie der Organisation und ihre Themenfelder
Kapitel II · Die Organisationsprobleme der genetischen Konstitution: Primäre und sekundäre Habitualisierung (Begriffsbildung und restitutive Wiederkonstitution)
1) Abstraktion und reproduktive Habitualisierung. Die phänomenologische Wiederentdeckung der dynamischen Begriffsgenese
2) Modalisierung und Begriffsbildung: Die diakritische Entwicklung der intentionalen Erkenntnisorientierung
3) Phänomenologie der Assoziation: Identische Reproduktion und »Wiederkonstitution« durch die kausalgenetische Habitualisierung
4) Retention und assoziative Weckung. Die Dynamisierung der intentionalen Zeitkonstitution
5) Das dynamische Weckungskontinuum. Passivität als Form von responsiver Ichaktivität
6) Exkurs I. Husserl und die Herbartschule: Die konstitutionstheoretische Differenz des Habituellen und Unbewussten
7) Verdichtung und Verbildlichung. Die Konstitutionsprobleme der sekundären Habitualisierung
8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung (M. Lazarus, R. Wagner, W. Wundt und S. Freud)
Kapitel III · Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang. Die dynamischen Erhaltungsbedingungen des Systems der Konstitution
1) Bewegungsdynamische Fiktionalisierung und Restitution. Die Rekonstruktion eines Reproduktionszusammenhangs der Erkenntnis in der assoziativen Fernerinnerung
2) Husserl, Herbart und Hume: Die reduktionistische Betrachtung der Ähnlichkeitsassoziation durch die genetische Phänomenologie
3) Schwingende Vorstellungen an der Bewusstseinsschwelle. Apperzeptive Restitution als sukzessive Auflösung simultaner Assoziationen
4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«. Die konstitutionstheoretische Diakrisis eines Ordnungs- und Wirkungszusammenhangs in der assoziativen Weckung
5) Schwindendes Bewusstsein. Das konstitutionstheoretische Problem der Erhaltung des Weckungskontinuums
6) Auslösungsdynamische oder bewegungsdynamische Restitution? Das Beispiel des sich verlierenden Tonkontinuums
7) Zur Methode: Die Notwendigkeit einer Fundierung der Phänomenologie der Konstitution durch eine Phänomenologie der Orientierung
Teil C · Phänomenologie der Orientierung
Kapitel I · Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstandsorientierung: Konstitutionstheoretische Aporien
1) Anthropologie und Phänomenologie: Die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung und ihre konstitutionstheoretische Auflösung
2) Intentionale und räumliche Orientierung: Husserls reduktionistische Theorie der Kinästhesen
3) Statik der vorgegebenen Ganzheit. Die objektivistische Hypothek der phänomenologischen Begriffe von Welt und Raum
4) Transzendentale und motorische Orientierung, Welt und Umwelt: Die Leibräumlichkeit bei Merleau-Ponty
5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung: Heideggers lebensphilosophische Revision der Phänomenologie
6) Wahrnehmungsfeld (Umwelt) und Weltvorstellung. Die systematische Zweideutigkeit des Horizontbegriffs in Husserls Phänomenologie
7) Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«: Das hermeneutische Versäumnis einer phänomenologischen Feldtheorie
Kapitel II · Phänomenologische Feldtheorie: Die Umwelt als Organisation der Wahrnehmungsorientierung
1) Von Husserl und Heidegger zu Gurwitsch: Die Struktur und Organisation des Wahrnehmungsfeldes
2) Phänomenologie und Gestalttheorie: Die strukturalistische Interpretation des »Bewusstseinsfeldes« bei Aron Gurwitsch
3) Der Innenhorizont als Assoziationskomplex. Die gestalttheoretische Auf lösung des Konstitutionsbegriffs der Organisation
4) Erscheinung und Verweisung von Thema und thematischem Feld. Der Fundierungszusammenhang von Bedeutungsrelevanz und repräsentierendem Bewusstsein
5) Husserl und Leonardo da Vinci: Das Problem der bewegungsdynamischen Einheit des Wahrnehmungsfeldes
Kapitel III · Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation
1) Methodische Einleitung: Die Organisation des Wahrnehmungsfeldes durch das selektive Wahrnehmungsinteresse
2) Reproduktion und dispositionelle Bereitschaft: Steinthals naturalistischer Begriff des Wahrnehmungsinteresses
3) Kleist und die mechanistische Psychologie. Die Entdeckung des Zusammenhangs von Interesse, sprachlicher Artikulation und Habitualisierung
4) Dispositionelle Wiederholungshandlungen: Das artikulierte Wahrnehmungsinteresse und seine bewegungsdynamische Organisation
5) Zuwendung und Bezugnahme. Vorstellungs- und Wahrnehmungsintentionalität als Formen der thematischen Objektivierung
6) Steinthal und Ingarden: Die stilbildende assoziative Syntax als Problem diakritischer Entwicklung
7) Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation der hermeneutischen Logik
8) Feldtheorie der Wahrnehmung und Anthropologie – Schlussbemerkungen zum phänomenologischen und transphänomenologischen Begriff der diakritischen Entwicklung
Anhang: Literaturverzeichnis
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Paradigmen des Entwicklungsdenkens: Gegenstandskonstitution und bewegungsdynamische Orientierung
 9783495817629, 9783495485422

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https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Holger Kaletha Paradigmen des Entwicklungsdenkens

ALBER PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Seit der Antike ist der Begriff der Entwicklung in verschiedenen philosophischen Traditionen verwendet, aber selten philosophisch eingehend analysiert worden. Holger Kaletha zeigt, dass es neben dem vorherrschenden konstitutiven Entwicklungsdenken, das auf Aristoteles und den Neuplatonismus zurückgeht, auch ein zweites, nahezu vergessenes atomistisches Entwicklungsdenken gibt. Dieses wird in dieser Arbeit systematisch rekonstruiert (u. a. von Kant bis Herbart) und hinsichtlich der Konsequenzen für das Verständnis von Bewegung, Dynamik, Organisation, Orientierung und Subjektivität phänomenologisch reflektiert.

Der Autor: Dr. Holger Kaletha studierte Philosophie, Germanistik und Pädagogik an der Universität Wuppertal. Fachgebiete: Phänomenologie, Geschichte der Philosophie und Philosophie der Musik. Arbeit an interdisziplinären Forschungsprojekten im Bereich Anthropologie und Musiktheorie. Langjährige Lehrtätigkeit im Fachbereich Philosophie der Universität Siegen.

https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Holger Kaletha

Paradigmen des Entwicklungsdenkens Gegenstandskonstitution und bewegungsdynamische Orientierung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 24

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48542-2 E-ISBN 978-3-495-81762-9 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Inhalt Danksagung. . Einleitung. . 1) 2) 3) 4) 5) 6)

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Der vergessene Doppelsinn: Diakritische und konstituierende Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenswelt und Metaphysik: Die Bedeutungsdifferenz von »Entwicklung« und ihre konstitutionstheoretische Reduktion. Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungs- und Auslösungsdynamik, Stoffwechsel und Restitution: Die Konstitution als Reflexionsbegriff der Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diakritische Entwicklung als Wiederholungshandlung. Der Reflexionsbegriff bewegungsdynamischer Organisation. . Phänomenologie der Organisation und Orientierung. . . . . . .

. . 11 . . 17 . . 22 . . 32 . . 39 . . 43

Teil A · Philosophie der Entwicklung Kapitel I · Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution 1) 2) 3) 4)

Kants »mechanische Entwicklung«: Die konstitutions­ theoretische, analogische Bestimmung der diakritischen Entwicklung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff der bewegungs­ dynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung. . . Selbsterhaltung als Selbstorganisation: Der Lebensbegriff als Paradigma von Organisation und Entwicklung. . . . . . . . . . Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels: Die Diakrisis als Differenzbildung eines lebenden Systems. . . . . . . . . .

. . 60 . . 73 . . 96 . . 105

Kapitel II · Restitutive Selbsterhaltung: Die diakritische Entwicklung als Form der mechanischen Reproduktion 1) 2) 3) 4)

Hegel und Herbart: Das Problem der Restitution und die Destruktion des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung. . . . . . Herbarts Methodologie: Die diakritische Entwicklung als die Spaltung von Phaenomena und Noumena.. . . . . . . . . . . . . . Herbart und die Herbartschule: Habituelle »Begriffsgenese«. Die Reproduktionstheorie der diakritischen Entwicklung. . . . . Erkenntnistheorie und Phänomenologie: Die Habitualisierung und das Problem einer rezeptiven, selektiven Organisation. . . .

. 128 . 140 . 154 . 166

5 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Phänomenologie der Konstitution Kapitel I · »Bewusstwerdende Objektivität«. Die phänomeno­ logische Konstitution als Form der Objekt­bestimmung und Habitualisierung einer Objektbeziehung 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Intentionale Konstitution: Die restriktiv erkenntnistheoretische Fassung des phänomenologischen Konstitutionsbegriffs. . . . . . . Von der Objektkonstitution zur Selbstkonstitution: Die Gewinnung des systematischen Begriffs der phäno­­meno­ logischen Konstitution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das transzendentale Ideal der systematischen Objekt­ bestimmung: Die Entfaltung des Organisationsbegriffs der phänomenologischen Konstitution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erzeugung und reproduktive Aktualisierung eines Habitus: Der Konstitutionsbegriff der genetischen Phänomenologie. . . . . Erkenntnis und Interesse, Geltung und Genesis: Vom Ordnungs- zum Erhaltungsbegriff der Organisation. . . . . . . . . . . Konstitution und Vorkonstitution: Das habitualisierende Erkenntnisinteresse und sein intentionaler Wiederholungssinn. . . . Erkenntnisgewinnung als Orientierungsproblem: Die ­gene­tische Phänomenologie der Organisation und ihre  Themenfelder.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178 183 189 214 223 231 236

Kapitel II · Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­ tution: Primäre und sekundäre Habitualisierung (Begriffs­bildung und restitutive Wiederkonstitution) 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

Abstraktion und reproduktive Habitualisierung. Die phäno­ meno­logische Wiederentdeckung der dynamischen Begriffs­ genese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modalisierung und Begriffsbildung: Die diakritische Entwicklung der intentionalen Erkenntnisorientierung. . . . . . . Phänomenologie der Assoziation: Identische Reproduktion und »Wiederkonstitution« durch die kausalgenetische Habitualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retention und assoziative Weckung. Die Dynamisierung der intentionalen Zeitkonstitution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dynamische Weckungskontinuum. Passivität als Form von responsiver Ichaktivität.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs I. Husserl und die Herbartschule: Die konstitutions­ theoretische Differenz des Habituellen und Unbewussten. . . . . . Verdichtung und Verbildlichung. Die Konstitutionsprobleme der sekundären Habitualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung (M. Lazarus, R. Wagner, W. Wundt und S. Freud)..

6 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

244 250 270 283 291 296 304 316

Kapitel III · Ordnungszusammenhang und Wirkungs­ zusammenhang. Die dynamischen Erhaltungs­bedingungen des Systems der Konstitution 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Bewegungsdynamische Fiktionalisierung und Restitution. Die Rekonstruktion eines Reproduktionszusammenhangs der Erkenntnis in der assoziativen Fernerinnerung. . . . . . . . . . . Husserl, Herbart und Hume: Die reduktionistische ­ Betrach­tung der Ähnlichkeitsassoziation durch die genetische Phäno­menologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwingende Vorstellungen an der Bewusstseinsschwelle. Apperzeptive Restitution als sukzessive Auf‌lösung simultaner Assoziationen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«. Die kon­sti­tu­tions­ theoretische Diakrisis eines Ordnungs- und Wirkungs­­­zusam­ men­­hangs in der assoziativen Weckung. . . . . . . . . . . . . . . . Schwindendes Bewusstsein. Das konstitutionstheoretische Problem der Erhaltung des Weckungskontinuums. . . . . . . . . Auslösungsdynamische oder bewegungsdynamische Restitution? Das Beispiel des sich verlierenden Tonkontinuums. . . . . . Zur Methode: Die Notwendigkeit einer Fundierung der Phäno­ menologie der Konstitution durch eine Phänomenologie der Orientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 353 . 360 . 371 . 382 . 397 . 408 . 416

Teil C · Phänomenologie der Orientierung Kapitel I · Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­ orientierung: Konstitutionstheoretische Aporien 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Anthropologie und Phänomenologie: Die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung und ihre konstitutions­theoretische Auf‌lösung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intentionale und räumliche Orientierung: Husserls reduktionistische Theorie der Kinästhesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statik der vorgegebenen Ganzheit. Die objektivistische Hypo­ thek der phänomenologischen Begriffe von Welt und Raum.. . . . Transzendentale und motorische Orientierung, Welt und Umwelt: Die Leibräumlichkeit bei Merleau-Ponty. . . . . . . . . . . . . Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung: Heideggers lebensphilosophische Revision der Phänomenologie.. Wahrnehmungsfeld (Umwelt) und Weltvorstellung. Die syste­ matische Zweideutigkeit des Horizontbegriffs in Husserls Phänomenologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«: Das hermeneutische Versäumnis einer phänomenologischen Feldtheorie. . . . . . . . . .

432 4 42 452 456 463 482 490

7 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Kapitel II · Phänomenologische Feldtheorie: Die Umwelt als Organisation der Wahrnehmungs­orientierung 1) 2) 3) 4) 5)

Von Husserl und Heidegger zu Gurwitsch: Die Struktur  und Organisation des Wahrnehmungsfeldes. . . . . . . . . . . . . Phänomenologie und Gestalttheorie: Die strukturalistische Interpretation des »Bewusstseinsfeldes« bei Aron Gurwitsch. . . Der Innenhorizont als Assoziationskomplex. Die gestalttheoretische Auf‌lösung des Konstitutionsbegriffs der Organisation. . . Erscheinung und Verweisung von Thema und thematischem Feld. Der Fundierungszusammenhang von Bedeutungsrelevanz und repräsentierendem Bewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . Husserl und Leonardo da Vinci: Das Problem der bewegungs­ dynamischen Einheit des Wahrnehmungsfeldes. . . . . . . . . . .

. 501 . 509 . 518 . 524 . 542

Kapitel III · Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

Methodische Einleitung: Die Organisation des Wahrnehmungs­­feldes durch das selektive Wahrnehmungs­ interesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reproduktion und dispositionelle Bereitschaft: Steinthals naturalistischer Begriff des Wahrnehmungsinteresses. . . . . . . Kleist und die mechanistische Psychologie. Die Entdeckung des Zusammenhangs von Interesse, sprachlicher Artikulation und Habitualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dispositionelle Wiederholungshandlungen: Das artikulierte Wahrnehmungsinteresse und seine bewegungsdynamische Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuwendung und Bezugnahme. Vorstellungs- und Wahr­ nehmungs­intentionalität als Formen der thematischen Objektivierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steinthal und Ingarden: Die stilbildende assoziative Syntax als Problem diakritischer Entwicklung.. . . . . . . . . . . . . . . . Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation der hermeneutischen Logik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feldtheorie der Wahrnehmung und Anthropologie – Schluss­ bemerkungen zum phänomenologischen und transphänomenologischen Begriff der diakritischen Entwicklung . . . . . . . . . .

. 553 . 560 . 572 . 582 . 589 . 603 . 613 . 630

Anhang: Literaturverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650

8 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Danksagung Die Geschichte des Buches ist ein langwieriger Prozess wahrlich Zeit verschlingender Forschungsarbeit und Auswertung solcher in der phi­ losophischen Literatur kaum bekannter Quellen mit einem entspre­ chend hohen Aufwand der Erstellung einer methodischen Architektur. Für ihre Unterstützungsbereitschaft und vor allem ihre große Geduld möchte ich mich bei allen Förderern bedanken, zuerst beim Evange­ lischen Studienwerk e. V. Villigst für die Gewährung eines Promo­ tions­stipendiums, für die langjährige Unterstützung bei meinen El­ tern sowie vor allem auch bei meiner Frau, Gallina Tasheva, für ihre aufopferungsvolle Duldsamkeit, ihr waches Interesse in immer wieder ungemein anregenden Gesprächen, mit der sie mein idealistisch aus­ uferndes Projekt stützend begleitete. Herrn Trabert vom Alber-Verlag bin ich zu Dank verpflichtet dafür, dass er mich von Anfang an mit innerer Überzeugung, Wohlwollen und großer Zuversicht bei diesem Publikationsprojekt unterstützt hat. Nicht zuletzt gilt mein großer Dank Dieter Stockert für die Erstellung des Buchsatzes. Münster, Dezember 2017

9 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Einleitung 1)

Der vergessene Doppelsinn: Diakritische und konstituierende Entwicklung

Der Gedanke einer bewegungsdynamischen, diakritischen Entwicklung entsteht im Kontext des antiken Atomismus. Dort bezeichnet die Diakrisis den Moment der Aus- und Abscheidung relativ konstanter Verbindungen in einem alles umfassenden Wirbel der Atombewegung. Als anschauliches Modell für diesen Prozess fungiert schon bei Demokrit die Sedimentierung: In der Bewegung sind die qualitativ unterschiedlichen Teilchen zunächst unverbunden und durcheinander­ gemischt. Die wirbelnde Bewegung und ihre Diakrisis bewirkt hier eine Homogenisierung, indem sich das Gleichartige zusammenfindet und ausscheidet.1 Generell führt der Atomismus die Möglichkeit der Verbindung nicht auf das Eingreifen und den Zwang einer Ordnungs­ instanz, sondern auf die qualitativen Eigenschaften der Elemente zurück, die in der Bewegung im Prinzip zufällig aneinandergeraten.2 Die synthetisierende assoziative Verdichtung, griech. πύκνωσις (pykno­ sis), die mit der Aussonderung, griech. διάκρισις (diakrisis)3, einhergeht, begreift die Antike damit noch nicht als ein Organisationsproblem. Zu einer vollständigen und damit philosophisch eigenständigen Entwicklungskonzeption, welche die Diakrisis mit einer Leistung der Ordnung und Organisation schließlich verbindet, gelangt erst die Neu­ zeit mit ihrer Erklärung der Atombewegung durch die Bewegungsgesetze der Gravitation. Nicht nur, dass die »mechanische Entwicklung« (Kant) durch solche sie bewirkenden Kräfte der Attraktion und Repulsion ihre Zufälligkeit verliert, nun einer strengen Gesetzmäßigkeit unterliegt und damit den Makel einer unwissenschaftlichen Hypothese, der ihr seit der Antike anhaftet, endlich los wird. Die entwickelnde Diakrisis als solche bekommt den Sinn der Organisation in seiner dop1

2

3

Demokrits Beispiele sind das Sieben von Samenkörnern sowie die nach Form und Größe sortierende Ablagerung von Geröll in der Brandung. [Demokrit Fr. 164, vgl. Capelle, S. 402] Demokrits Beispiel nimmt Herbart Spencer wieder auf, vgl. dazu Teil A, Kap. I, 2. Die Zufälligkeit des Zusammentreffens der Atome aufgrund fehlenden organisierenden Zwangs einer Naturanlage hebt Cicero hervor in Vom Wesen der Götter I, 66, 67, siehe Capelle, S. 296. Den Zusammenhang von Diakrisis und Verdichtung betont Aristoteles in seiner Physik [Aristoteles 1987, Phys. VIII 260 b 10], vgl. Teil A, Kap. I,1.

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Einleitung

pelten Bedeutung des Entstehens von Ordnung (Systembildung) und Selbsterhaltung. Im antiken Modell der Mischung und Entmischung bleibt die Aussonderung und Verdichtung ein Moment des bewegungsdynamischen Kontinuums; sie geschieht in und aus der Bewegung. Neuzeitlich gedacht entsteht mit der Verdichtung der Atome durch den Einfluss der Gravitation eine träge Masse; die atomare Verbindung erlangt so die Fähigkeit, äußerer Veränderung zu widerstehen, worin sich eine zumindest passive Selbsterhaltung bewegungsdynamischen Prozessen gegenüber bekundet.4 Die organisierende, bewegungsdynamische Diakrisis resultiert demnach aus einer Entwicklung und Auseinanderwicklung in Form einer Entwindung, des Entzugs in der Entstehung nicht von Kontinuität, sondern Diskontinuität: Es bildet sich eine relativ stabile Synthesis in Gestalt eines verdichteten Atomkomplexes aus, dessen Elemente und ihre Ordnung dem Einflussbereich des verändernden bewegungsdynamischen Kontinuums gleichsam ent­rissen werden. Dieser Vorgang einer organisierenden diakritischen Entwicklung umfasst das Werden nun keineswegs voll und ganz, sondern lediglich eine Welle im periodischen Zyklus des Entstehens und Vergehens. Bewegungsdynamische Organisation und Desorganisation gehören notwendig zusammen: Der Verdichtung und absondernden Diakrisis korrespondiert die Auf‌lösung der geordneten Verbindung, wodurch die ausgeschiedenen Elemente in den Kreislauf des ungeordneten bewegungsdynamischen Kontinuums wieder zurückkehren. Eine philosophische Reflexion über Entwicklung, die mit der atomistischen Diakrisis einsetzt, muss den gebildeten Leser zweifellos über­raschen, denn aus diesem Entwicklungsmodell hat die philoso­ phische Tradition offenbar keinen expliziten Entwicklungsbegriff entwickelt. So fehlt bezeichnend im großen Historischen Wörterbuch der Philosophie jeder Hinweis auf die Linie atomistischen Entwicklungsdenkens5, die ihre Spur zieht von der Antike über Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Herbert Spencers philosophischem System bis hin zur Reproduktionstheorie der diakritischen 4

5

Bei Kant bleibt der Begriff der »mechanischen Entwicklung« dieses nur passiven Sinnes von Selbsterhaltung wegen abstrakt. Die bewegungsdynamische Orga­ni­sa­ tion reduziert sich deshalb auf das bloße Ordnungsproblem der Herstellung eines dynamisch stabilen Systems. Vgl. Teil A, Kap. I,1. Den systematischen Versuch Herbert Spencers, aus der »mechanischen Entwicklung« ein universelles Konzept der nicht nur passiven, sondern aktiven Selbsterhaltung in Gestalt des energetischen Stoffwechsels zu entwickeln, behandelt Teil A, Kap. I,2. Artikel »Entwicklung« in HWPh, Bd. 2, S. 550–560.

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1) Der vergessene Doppelsinn

Entwicklung: Herbarts mechanistische Konzeption der Begriffsgenese. Die Gründe dieser verhinderten, immer wieder verdrängten Begriffsbildung werden schon in der antiken Diskussion sichtbar: Die atomistische Diakrisis synthetisiert zwar, sie scheint sich jedoch mit keiner Leistung der Ordnung und Organisation aufgrund einer präformierenden Formursache zu verbinden. Seit Anaxagoras’ exemplarischem Einspruch konzentriert sich der philosophische Mainstream darauf, die Leistung von Organisation überhaupt auf ein den bewegungs­ dynamischen Prozessen gegenüber transzendentes Ordnungs- und d. h. Konstitutionsprinzip zurückzuführen. Es ist schließlich der Einfluss der aristotelischen Physik, durch den der Ordnungsgesichtspunkt der Konstitution ins Zentrum der Betrachtung des Werdens rückt und in deren Kontext sich schließlich auch derjenige die Tradition beherrschende Konstitutionsbegriff der Entwicklung etabliert. Das Ordnungsproblem scheint sich in der Periodizität des Entstehens und Vergehens zu verbergen. Es resultiert aus der assoziativen Verbindung und ihrem Zerfall nicht einfach nur immer wieder Anderes und Neues, es bildet sich eine Wiederholungsstruktur aus in der offensichtlichen Wiederkehr sowohl immer wieder derselben Entstehensprozesse als auch Konstellationen von Elementen. Diese Beobachtung periodisch-zyklischer Regelmäßigkeit verleitet offenbar dazu, die Bildung solcher Konstanten des Werdens nicht durch das bewegungsdynamische Kontinuum, sondern die Ordnungsleistung eines Ordners zu erklären. Anaxagoras unterscheidet eine doppelte Diakrisis. Die eine, die assoziative Synthesis der Verdichtung, entsteht durch diakritische Entwicklung aus dem Kontinuum der Bewegung heraus in der Mischung und Entmischung von Teilchen. Damit sich hier jedoch nicht bloß immer wieder beliebig Anderes, sondern mit Notwendig­ keit Dasselbe in einer Ordnung der Sukzession zusammenfindet, muss die Bewegung im Ganzen durch einen Ordner angestoßen werden.6 Der ordnende Geist (griech. νοῦς, nous) setzt deshalb wiederum eine Dia­krisis voraus, die schlechterdings bewegungsdynamisch unentstanden als eine transzendente Ordnungsinstanz in das Geschehen der Verdichtung und Auf‌lösung von außen eingreift und so gleichförmige Ordnungsverhältnisse in der Regelmäßigkeit einer Wiederkehr immer 6

Zur Problematik der sukzessiven Ordnung des bewegungsdynamischen Pro­ zesses bei Anaxagoras vgl. Teil A, Kap. I,1. Den Einwand der Be­liebig­keit des Entstehens gegen den atomistischen Gedanken einer bewegungsdynamischen Diakrisis sowie die damit verbundenen Aporien von Bewegung und Still­stand formuliert Aristoteles. Vgl. Aristoteles 1987, Phys. I 187 b 22 ff.

13 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Einleitung

derselben Verbindungen schafft. Aris­toteles nimmt diesen Gedanken nicht nur auf, sondern formuliert ihn sogleich um im Sinne einer allgemeinen, substanzontologischen Begründung von Organisation: Das Werden als ein Organisationsproblem besteht demnach überhaupt nicht in einer bloß assoziativen, sondern vergegenständlichenden Synthese, darin, der veränderlichen Materie eine im Prinzip unveränderliche Form aufzuprägen.7 Damit verdrängt – folgenreich für die philosophische Tradition – der Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung den einer möglichen bewegungsdynamischen Organisation. Die konstitutionstheoretische Anlage des von Aristoteles maßgeblich geprägten Organisationsbegriffs verrät sein leitendes onto­ logisches Modell: die ποίησις (poiesis), das Herstellen. Was sich im Herstellungsprozess konstituiert, ist ein Gegenstand, und zwar dadurch, dass die zunächst gestaltlose Materie einem prägenden Formungs­ prozess unterworfen wird. Die Formursache als Plan und Entwurf des Herstellens fungiert demnach als regulierende Ordnungskonstante, indem sie der ungeordneten Materie eine Ordnung aufzwingt, welche sich dann in der Fertigstellung als ein esse rei extra causas, d. h. das Produkt dieses Produktionsprozesses, sichtbar manifestiert: Die Idee des Bildhauers nimmt in der fertigen Statue greifbare Gestalt an. Der Bruch dieser Konstitutionstheorie der Organisation mit den ontologischen Prämissen des Atomismus ist radikal. Für den Atomismus liegt die Erhaltungskonstante des Werdens nicht in den relativ konstanten assoziativen Synthesen, sondern der Unaufhörlichkeit der Atombewegung.8 Als Erhaltungsprinzip fungiert der bewegungsdynamische Prozess, demgegenüber sich die Synthesis der Elemente als eine Variable erweist, welche sich in das bewegungsdynamische Kontinuum immer wieder auf‌löst. Wird die zusammenhaltende Synthesis nun konstitutionstheoretisch als eine ordnende Synthesis, eine die Materie organisierende Formung, interpretiert, dann erlangt sie schließlich den ontologischen Rang der zugrunde liegenden Erhaltungskonstante des Werdens: Assoziative Verbindungen können sich auf‌lösen, nicht aber die den Werdensprozess im Ganzen regulierenden Ordnungen. 7 8

Vgl. dazu Teil A, Kap. I,1. »Leukippos nahm als zahllose und in ewiger Bewegung befindliche Elemente die Atome an« [Alexander von Aphrodisias, zit. nach Capelle, S. 298]. Auch Aristoteles [Aristoteles 1970, Met. XII, 1071 b 31 ff.] gibt die Lehre der Ato­ misten so wieder, dass sie die Ewigkeit der Atombewegung behaupten.

14 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Der vergessene Doppelsinn

Die konstitutionstheoretische Fundierung seiner Substanzontologie führt Aristoteles zur Unterscheidung eines Doppelsinnes von Werden: der Veränderung einer Substanz sowie ihres Entstehens und Vergehens. Substanzielle Ordnungseinheiten erweisen sich als im Prinzip unauf‌lösliche Verbindungen, die nicht durch assoziative Synthese entstehen und vergehen. Das zeigt sich in der Unterscheidung einer ersten und zweiten ου̉σία (ousia), von Einzelding und Wesen (substanzieller Formeinheit). Die einzelnen Dinge unterliegen dem wirklichen Entstehen und Vergehen durch Synthese und Zerfall der Einheit von Stoff und Form; das gilt aber nicht in gleichem Sinne auch für die substanziellen Formen. Das Entstehen und Vergehen in Bezug auf die Formen bedeutet eine Veränderung nicht des wrklichen Seins, sondern lediglich der Seinsmodalität eines ansonsten unveränderlich Gegebenen. Diese originär konstitutionstheoretische Distinktion von Sein und Seinsmodalität folgt aus den Konstitutionsbedingungen des Herstellens. Die Formursache, solange sie den Stoff nicht formt, d. h. als ein Organisationsprinzip noch nicht wirksam ist, bleibt im Status der bloßen Möglichkeit (δύναμις, dynamis) der Organisation, die noch nicht zur Wirklichkeit (ἐνέργεια, energeia) geworden ist. Konstitutionstheoretisch reduziert sich demnach der Sinn von Organisation auf die Aktualisierung einer Vermögensdisposition. Was realiter entsteht und vergeht, ist die jeweilige Organisation – die konkret organisierten individuellen Gegenstände – nicht aber die Ordnungen, diejenigen, die Organisation lenkenden und leitenden allgemeinen Prinzipien der Formung. Die Ordnungen ontologisch als Konstitutionsprinzipien vorauszusetzen heißt demnach, sie als Erhaltungskonstanten des Werdens in Anspruch zu nehmen: Im Herstellungsprozess und ihrer Umkehr, dem Zerfall, wird eine Ordnung als Organisationsprinzip lediglich wirksam oder unwirksam durch den Übergang von einer Ordnungs­ disposition in einen Akt. Und die substanzielle Erhaltung auch solcher Dispositionen wird schließlich garantiert durch die Generativität: Die Individuen bleiben der Vergänglichkeit unterworfen, aber in der Geburt immer neuer Individuen reproduziert sich die Gattung als das Ordnungsprinzip der Dinge. Hier bereits wird der Doppelsinn von Organisation sichtbar einmal als ein aktuales Ordnungsprinzip, was Systeme bildet durch Integration und funktionale Differenzierung, und zum anderen in ihrer Erhaltungsfunktion durch die Reproduktion der Gattungsbestimmung. Zur Umformung dieses Konstitutionsbegriffs der Organisation in einen solchen der Entwicklung fehlt lediglich ein weiterer Schritt. 15 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Einleitung

Die aristotelische τελειώσις (teleiosis), die »Vollendung« in Gestalt der Verwirklichung eines substanziellen Vermögens, lässt sich als Vorformulierung des Entwicklungsgedankens ansehen, insofern eine Ordnung, die zunächst in nuce gegeben ist, im konstituierten Gegenstand als ein integrales, funktional differenziertes System Gestalt annimmt. Als explicatio einer complicatio im neuplatonischen Sinne erscheint eine solche τελειώσις dann, wenn die ordnende Entität nicht als Gat­ tung, sondern als Individuum und infolgedessen die Relation von Substanz und Akzidens, von Substrat und Bestimmung, im Sinne der Inhärenz gefasst wird. Die Ordnung geht so nicht einfach starr und unverändert über von der Potenz in den Akt, von der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit, sie erfährt selbst eine dynamisierende, differenzierende Entwicklung, indem sich die zur individuellen Substanz gehörende implizite, verborgene Komplexität von Bestimmungen enthüllt, sodass mit der Komplexitätssteigerung des zu Ordnenden zugleich auch eine solche der Ordnung selbst verbunden ist. Die im Deutschen Idealismus als souveräne Selbstentfaltung einer als Subjekt gesetzten Substanz gedachte individuelle Entwicklung geschieht im neuplatonischem Geiste »von sich aus« und »aus sich selbst« [Hegel 1969, § 12, 45 und 46]. In ihrer Dynamik des Generierens immer neuer Ordnungen behält sie stets den Sinn einer explizierenden Entwicklung, schafft demnach nichts wirklich Neues, was nur wieder heißt, dass sich die Entwicklungstätigkeit auf die Leistung des Konstituierens und Selbstkonstituierens beschränkt, d. h. die Selbstobjektivierung in der Vergegenständlichung einer immer schon gegebenen Ordnung, welche sich mit der Explikation impliziter Systemkomplexität vollzieht. Entwicklung (τελειώσις, teleiosis) sondert sich damit einmal mehr aristotelisch und konstitutionstheoretisch gedacht von der Veränderung (α̉λλοιώσις, alloiosis), insofern auch diese dynamisch organisierende Entwicklung lediglich ihren »Inhalt in die Wirklichkeit« setzt, der als solcher stets »derselbe« bleibt [Hegel 1982 b, S. 158] und weiter nichts beabsichtigt »als das, was innerlich, an sich ist, aus sich herauszuziehen und sich gegenständlich zu werden« [Hegel 1982 a, S. 40].

16 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Lebenswelt und Metaphysik

2)

Lebenswelt und Metaphysik: Die Bedeutungsdifferenz von »Entwicklung« und ihre konstitutionstheoretische Reduktion

Durch die Substanzontologie konstitutionstheoretisch fundiert wird aus dem atomistischen Begriff des Werdens allererst ein Organi­sa­ tions­begriff der Entwicklung. Es ist diese Orientierung an den Problemen der Ordnung und Organisation, welche die Tradition der Substanz­onto­logie zu einer sinnverkürzenden Begriffsbildung führt. Methodisch lässt sich das belegen nicht zuletzt durch die sehr selektive Anknüpfung des philosophischen an den vorphilosophischen Sprachgebrauch. Der lebensweltlich präsente semantische Doppelsinn von Entwicklung – einerseits Absonderung von etwas und andererseits Entfaltung von gegenständlicher Komplexität – reduziert sich in der Verbindung der Entwicklungsvorstellung mit dem Konstitutionsbegriff der Organisation auf den exklusiven Sinn der Komplexitätsentfaltung, der Aktualisierung einer Ordnungsvorgabe und ihrer differenzierenden Ausgestaltung durch die gegenstandskonstituierende Entwicklung. Begriffsgeschichtlich ist die Vorstellung einer sich systematisch selbst entfaltenden substanziellen Entwicklungseinheit neuplatonischen Ursprungs. Demnach gehört zu jeder explicatio komplementär die complicatio in der »Entfaltung des in der Einheit des Grundes Eingefalteten«9. Hegels eindeutig in dieser Tradition stehende Definition der systematischen Entwicklung als »sich in sich entfaltend und in Einheit zusammennehmend und -haltend« [Hegel 1969, § 14, 48] setzt bezeichnend die complicatio mit einer implicatio gleich im Sinne impliziter, in der konstituierenden Vergegenständlichung systematisch zu explizierender Begriffsbestimmungen. Diese konstitutionstheoretische Gleichsetzung der entwickelnden complicatio mit einer implica­ tio hat nun durchaus ein lebensweltliches Fundament, gibt sich jedoch als die reduzierende Einschränkung eines umfassenderen Sprachgebrauchs zu erkennen. Die noetische Bedeutung des komplikativ Eingefalteten – lat. com­ plicata notio – entspricht noch am ehesten der Form systematischer Begriffsbestimmung, insofern die explicatio in diesem Falle nichts anderes meint als die Verdeutlichung einer unklaren Vorstellung, deren innere Differenzierung in der geordneten Entfaltung ihres komplexen Inhalts hervortritt. Die etymologische Herkunft des Bedeutungsfel9

Artikel »Entwicklung« in HWPh, Bd. 2, S. 550.

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Einleitung

des von lat. complico, complexus, complector, das sich von lat. plecto, griech. πλέκω (pleko) herleitet, weist allerdings ursprünglich und vor allem den Sinn einer Verbindung im Stile der Verflechtung von Verschiedenem und demnach im Grunde gar nicht Einheitlichen, sondern Getrennten aus. So meint venire in complexum die heftige Umarmung der Liebenden nach einer Trennung, complexus armorum sogar eine verwirrende Verschlingung: das Handgemenge.10 Legt man die complicatio in ihrer Grundbedeutung der Verflechtung der explicatio zugrunde, dann resultiert daraus das Bild einer Entwicklung, die gerade nicht – wie diejenige der begriff‌lichen Vorstellung (lat. complicata notio) – eine zunächst Ungeschiedenes Eines und Ganzes differenzierend entfaltet und damit wiederum Verbindung schafft, vielmehr ursprünglich Verbundenes voneinander isoliert und trennt: Das Verflochtene wird entflochten, indem sich das Gemenge auf‌löst und seine Elemente in ihrer Unverbundenheit freigibt. Damit zeigt sich die semantische Zweideutigkeit der explicatio: Entwicklung, lebensweltlich verstanden entweder im Sinne zum Vorschein kommender, dem Blick zunächst verborgener Gegenstandskomplexität, oder aber als ein Lösungsprozess, eine ab- und aussondernde Diakrisis. Dem Konstitutionsbegriff der Entwicklung kommt der Erfahrungssinn deshalb dort entgegen, wo eine zunächst nicht sichtbare Ordnungsmannigfaltigkeit zum Vorschein kommt, wenn etwa ein ruhender Körper in Bewegung versetzt oder ein Plan der Vorstellung in die Tat umgesetzt wird, sodass deren Teile sukzessiv hervortreten. Die Entfaltung legt das Eingefaltete auseinander, indem sie es in seinen Einzelheiten ausbreitend entrollt: dasjenige einer Schriftrolle (volumen explicare), des gemalten Bildes (villam pictam explicare) oder eines auszuführenden Planes (consilium explicare). Bei aller Verschiedenheit lässt sich als verbindender Sinnhorizont solcher Entwicklungsphänomene angeben, dass die eingefaltete, ungesonderte Mannigfaltigkeit offenbar nur unter der Bedingung gesondert hervortritt, dass sich diese sukzessive Entwicklung nicht wahllos, sondern einer im Vor­aus festgelegten Ordnung gemäß vollzieht. Was am Beispiel der Verwirklichung einer Vorstellung wie der planmäßigen Abwicklung unmittelbar einleuchtet – dass sie geordnet und nicht ungeordnet vor sich geht –, gilt auch für die eher dinglichen Beispiele: Die Schriftrolle etwa muss der Reihe nach entfaltet werden, sonst lässt sich der

10

Diese und die folgenden Beispiele sind entnommen aus Stowasser.

18 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Lebenswelt und Metaphysik

geschriebene Text weder zusammenhängend lesen noch im Ganzen verstehen. Besonders sprechend ist der militärische Sprachgebrauch, weil er die dingliche und noetische Bedeutung der konstituierenden Entwicklung bereits auf dem Boden lebensweltlicher Erfahrung zur Vorstellung der organisierten Selbstkonstitution zu verbinden scheint. Acies explicare (Livius) meint die Entfaltung einer Schlachtordnung, agmen explicare dieselbe eines ganzen Heereszuges oder einer Kolonne. Die complicatio, welche der explicatio hier vorauszusetzen wäre, besagte somit den noch nicht in gesonderte Abteilungen auseinandergetretenen Heereshaufen, der aber in der Lage ist, im gezielten Vorrücken auf den Feind sein »System« – seinen Schlachtplan – schlagkräftig zu entrollen. Ein in geschlossener Formation »entwicklungsfähiges« Heer entfaltet seine Kraft demnach systematisch reguliert, indem es sich selbst in Bewegung setzend seine Teile zu einem Ganzen funktionsfähig geordnet hervortreten lässt. Weitere Beispiele komplexitätsenthüllender, konstituierender Ent­w icklungen im lebensweltlichen und alltagssprachlichen Sinne geben etwa die Rede von einer erhofften Entwicklung der Bevölkerung in einem zunächst dünn besiedelten Land oder die Ausführung von Teilbestimmungen einer Rechnung, von der gesagt wird, dass sie »entwickelt« werden. Schwierigkeiten, in den semantischen Horizont einer solchen Entwicklungsvorstellung eingeordnet zu werden, bereitet aber schon die Verzweigung der militärischen Grundbedeutung von lat. explicare »entfalten« in »entwirren« – wie etwa in der Wendung con­ fusum agmen explicare. Hier besteht die Entwicklung offenbar nicht darin, ein als planmäßige Möglichkeit schon angelegtes System aus dem Zustand der Ruhe und des Verharrens in den der Bewegung zu versetzen, sodass die Ordnung als ein Organisationsprinzip wirksam in Erscheinung tritt. Die Konfusion, die schlechterdings ungeordnete Verfassung, meint überhaupt keine complicatio im Sinne einer impli­ catio, eines zunächst nur unscheinbaren Ordnungszustandes in Gestalt einer lediglich zu verwirklichenden Ordnungsdisposition. Welche explicatio entspricht nun einer solchen complicatio, der eine dispositionelle Ordnungsvorgabe überhaupt zu fehlen scheint? Neben den besprochenen Variationen der explicatio mit der Grundbedeutung der konstituierenden Vergegenständlichung, der Ausdifferenzierung eines vorgegebenen Ganzen, belegt der lateinische Sprachgebrauch noch eine zweite Grundbedeutung von explicare, »entwickeln« – diejenige der Ablösung und trennenden Absonderung: 19 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Einleitung

Fugam explicare meint in diesem Sinne die ablösende Entflechtung in einer Bewegung der Flucht. Im militärischen Kontext wäre hier an die Fähigkeit eines geordneten Heerhaufens zu denken, sich im Rückzug der Übermacht des Feindes durch eine auseinanderwickelnde Trennung zu entziehen. In diesem hermeneutischen Feld kann die Entwicklung geradezu den Augenblick rettender Erlösung, einen Akt der Befreiung, bezeichnen: Siciliam explicare bedeutet die militärische Eroberung, welche von der Fremdherrschaft erlöst, legatos explicare meint die Befreiung von politischen Geiseln. Die Entwicklung als erlösende und befreiende Fluchtbewegung des »Durchbruchs« einer fesselnden Verbindung verstanden stellt explicatio und complicatio offenbar zusammen in der Form der Verflechtung und Entflechtung. Dass die confusio in diesem Zusammenhang keinen bloßen Ordnungsmangel im konstitutionstheoretischen Sinne bezeichnet – die fehlende Ausdifferenzierung eines nur noch nicht vollständig entwickelten Systems – belegt etwa ihr ethischer und ästhetischer Sinn. Die confusio indecora faßt den Zustand der Ver­ mischung nicht durch fehlende Gegenstandsbestimmung und systematische Differenzierung, sondern mangelnde Reinheit. Indecorus heißt etwas, was unschön und sogar hässlich, unschicklich und un­ ehren­haft und damit des Rühmens und Achtens unwert ist. Die Harmonie des Schönen und Guten im privativen Zustand der Vermischung mit dem Hässlichen und Schlechten wird gewissermaßen daran gehindert, in ihrer elementaren Reinheit frei und selbständig hervorzutreten. Damit gibt sich das Inhomogene durch eine mangelnde Diakrisis zu erkennen, die unzureichende Abscheidung und Ablösung homogen geordneter, elementarer Verbindungen. Auf eine eben solche explizierende Entwicklung nicht durch Ausdifferenzierung, vielmehr eine absondernde Diakrisis weist der Goethe-­Vers: »Sie entwickelte dem Trüben / Ein erklingend Farbenspiel« wie auch der barocke Sprachgebrauch, belegt durch August Adolf Haugwitz’ Obsiegende Tugend, oder der bethörte und doch wieder bekehrte Soliman von 1684: »Er streift des Hofes Lasterhaut wie eine Schlange von dem Rücken, / Wenn sie aus ihrer Höle kreucht, indem er sich des Hofes Stricken / Entwickelt und entfleucht.«11 Die barocke Apotheose der zu sich selbst befreiten Tugend bringt eine Entwicklungsbewegung der Flucht zum Abschluss, ein fugam explicare, das die geordnete Seelenverfassung befreiend aus einer Verstrickung 11

Die Beispiele sind entnommen aus Grimm, Bd. 3, S. 658 f.

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2) Lebenswelt und Metaphysik

löst, in die sie zuvor sich verwickelnd und verwirrend hineingeraten ist – gefasst im Gleichnis der falschen Schlange, die den Helden nahezu erdrückend umschlingt, bevor er sie in seiner Reifung, der Metamorphose des Lasters zur Tugend, wie eine lästige Larvenhaut abstreift. Denselben Sinn einer entwickelnden Diakrisis erkennen lässt auch eine Floskel wie »dasz ich gern Charaden und Räthsel entwickele«, wo das Deutsche Wörterbuch erläutert: »löse, wie einen Knäuel«. Besonders an diesem Beispiel wird die Unvereinbarkeit einer solchen Diakrisis mit der konstituierenden Entwicklung in Form der systembildenden Ausdifferenzierung deutlich. Immer weiter ausdifferenziert müsste das Rätsel um so rätselhafter werden, je mehr es sich entwickelt. Es löst sich aber als ein verwirrend Verwickeltes in seiner zu Verstand kommenden diakritischen Entwicklung auf. Mit der Konzeption einer bewegungsdynamischen »mechanischen Entwicklung« in Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels scheint der lebensweltliche Doppelsinn von dia­ kritischer und konstituierender Entwicklung endlich seine Entsprechung in der philosophischen Begriffsbildung zu finden. Doch bleibt auch diese Begriffsschöpfung merkwürdig privativ. Das atomistische Entwicklungsmodell emanzipiert sich zwar einerseits durch den neuzeitlichen Nachweis der Gesetzmäßigkeit bewegungsdynamischer Prozesse. Doch ihren Entwicklungssinn gewinnt Kants Begriff letztlich aus der Analogie mit derjenigen complicatio und explicatio, welche den Konstitutionsbegriff der Entwicklung ausmacht.12 Von daher bestimmt er sich durch einen grundsätzlichen Mangel: Die mechanische Entwicklung reduziert sich auf solche den Bewegungsgesetzen geschuldeten Ordnungsleistungen. Was sie jedoch nicht enthält, ist ein wirklich substanzielles Vermögen der Organisation, welches eine teleologisch regulierende Ordnung, eine Präformation, voraussetzt. Wie sehr der Entwicklungsbegriff auch in diesem naturphilosophischen Kontext konstitutionstheoretisch geprägt bleibt, zeigt sich etwa bei Herder. Kants naturgeschichtliche Konzeption der »mechanischen Entwicklung« fasst Herder zwar als eine universelle Theorie der Organisation, jedoch ohne eine Revision des leitenden substanzontologisch geprägten Organisationsbegriffs. Die diakritische Entwicklung kommt bei Herder zum Vorschein in der befreienden Herauslösung von reinen Elementen aus einer organisierten, komplexen Verbindung: Der »lebendige Kreislauf der Schöpfung« scheint darin zu bestehen, 12

Vgl. dazu Teil A, Kap. I,1.

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Einleitung

»dass das Flüssige vest und das Veste flüssig, das Feuer entwickelt und wieder gebunden, die lebendigen Kräfte mit Organisation beschränkt und wieder befreiet werden«. [Herder, 10. Buch, S. 376] Bezeichnend bezieht sich die diakritische Entwicklung hier nicht auf das Entste­ hen von Systemen, sondern auf das Vergehen, den Zerfall geordneter atomarer Verbindungen. Die diakritische Funktion zeigt sich substanzontologisch privativ nicht als eine Leistung lebenserhaltender Organisation, vielmehr der Desorganisation, als der freisetzende Ausbruch solcher durch keine Ordnung mehr gebändigter elementarer Lebenskräfte. Nicht schon bei Kant und Herder, erst durch Herbert Spencer kommt es zu einer nicht mehr substanzontologisch geprägten, rein mechanistisch begriffenen universellen Theorie der Organisation und bewegungsdynamischen, diakritischen Entwicklung.13

3)

Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs

Immer dann, wenn sich die atomistische Konzeption einer rein »mechanischen« Entwicklung anschickt, ihre durch die Analogie zum Konstitutionsbegriff der Organisation gesetzten Grenzen zu sprengen und gewissermaßen auf dem Sprunge steht, sich zur wirklich universellen Konzeption einer organisierenden, diakritischen Entwicklung zu entwickeln, weist sie die Tradition der Substanzontologie in ihre Schranken. Exemplarisch dafür steht die polemische Auseinandersetzung mit der Theorie der Epigenesis von Caspar Friedrich Wolff im 18. und der Entwicklungstheorie von Herbert Spencer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, sowie der postmoderne Irrationalitätsverdacht gegen den Gedanken der Ordnungsgenese. Leben und damit Organisation erklärt sich substanzontologisch nicht durch bewegungsdynamische Prozesse und ihre mechanischen Gesetzmäßigkeiten; es wird als eine Form von Selbstorganisation begriffen, deren Genesis nicht in einer Produktion, sondern Reproduktion systembildender Leistungen besteht. Die dia­ kritische Funktion der Entwicklung als das Produkt bewegungsmechanischer Prozesse beschränkt sich damit auf die Leistung, Ordnungen hervorzubringen in Gestalt stabiler dynamischer Systeme, denen aber keine Organisationsfunktion im eigentlichen Sinne einer lebensfä13

Vgl. dazu Teil A, Kap. I,2 »Herbert Spencer: Die mechanistische Konzeption der bewegungsdynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung«.

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3) Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs

higen Leistung zukommt. Eine solche ontologische Unterscheidung von Ordnung und Organisation läuft darauf hinaus, Organisation in Gestalt wirklicher Selbstorganisation nur lebenden, und nicht physikalischen Systemen zuzuschreiben.14 Im Organisieren bekundet sich das Regenerations- und Restitutionsvermögen als aktive Leistung der Selbsterhaltung, welche über die bloß passive Selbsterhaltung physikalischer Kräfte, äußerer Veränderung durch dynamische Repulsion zu widerstehen, hinausgeht. Wie schwer es hier die Physik in philosophischer Hinsicht hat, zeigt die von der Ungleichgewichtsthermodynamik angestoßene Diskussion um physikalische Selbstorganisationsprozesse. Begriff‌lich bleibt es bei der vorsichtigen Analogie von lebenden und unbelebten Erscheinungen, insofern eine der physikalischen Selbstorganisation entsprechende selektive Kausalität, die sich von der mechanischen Berührungskausalität unterscheidet, nicht eindeutig ausgewiesen ist.15 Rudolf Eucken konstatierte bereits 1878, der Entwicklungsbegriff sei »ziemlich abgenutzt und in der Wissenschaft, abgesehen von genau bestimmten Gebieten, fast unverwendbar geworden« [Eucken, S. 134]. Hinter einem solchen Urteil steht die sich durch Darwin und Spencer vollziehende Ausweitung des Entwicklungs- und Evolutionsbegriffs, 14

15

In diesem Sinne reklamiert der Biologe Pittendrigh in einem Brief an Ernst Mayr »Organisation« im Unterschied zu »Ordnung« für die lebenden Orga­ nis­men und ihre teleologische Konstitution: »Was es war, dem der Biologe nicht ausweichen konnte, war die blanke Tatsache […] daß die Gegenstände der biologischen Forschung Organisationen (er nennt sie Organismen) und als solche endgerichtet sind. Organisation ist mehr als bloße Ordnung, der Ordnung fehlt das Zielgerichtetsein; Organisation ist zielgerichtet.« Mayr ergänzt, er erinnere sich »an ein wundervolles Gespräch mit John von Neumann, an dem wir den Unterschied zwischen ›bloßer Ordnung‹ und ›Organisation‹ ausloteten und er darauf bestand (ich war bereits davon überzeugt), der Begriff der Organisation (wie er in seinem alltäglichen Gebrauch aus dem Kontext heraus definiert ist) schließe stets einen ›Zweck‹ oder ein Zielgerichtetsein ein.« [Mayr, S. 210, Fußnote 1] So heißt es bei Prigogine und Stengers: »Die neue Entwicklung im Bereich der Physik veranlaßt uns nämlich, die Allgemeingültigkeit des von uns so ge­ nannten ›Boltzmannschen Ordnungsprinzip‹ zu bezweifeln […]. Eine weit vom Gleichgewicht entfernte funktionierende Ordnung kann deshalb einer Organisation ähneln, weil sie aus der Verstärkung einer mikroskopischen Schwankung hervorging, die genau im ›richtigen‹ Augenblick einen Reaktionsweg aus einer Reihe von weiteren, ebenso möglichen Wegen begünstigte.« [Prigogine / Stengers, S. 175] Die Analogie von physikalischan­organischer Ordnung und lebendig-organischer Organisation bezieht sich demnach auf eine quasi-selektive Leistung.

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Einleitung

der sich nun vor allem auf kausalgenetische Mechanismen und bewegungsdynamische Prozesse erstreckt. Eucken geht es methodisch um die Rettung der Entwicklung als gefährdetem, aber unverzichtbarem Grundbegriff der Philosophie.16 Dies geschieht aber bezeichnend nicht durch eine Begriffsklärung, welche den Doppelsinn einer konstituierenden und diakritischen Entwicklung herausstellt, sondern das Bemühen um eine strikte, restriktive Verwendung des Konstitutions- und Systembegriffs der Entwicklung. Bei Eucken und Julius von Wiesner ist als Methode philosophischer Begriffskritik eine intentionale, auf die Begriffsdefinition durch einen jeweils zugrunde liegenden Sachverhalt zielende Begriffsklärung zu erkennen: »Die blosse Kunde und Schilderung der ›Entwicklung‹ darf nicht so alles Sinnen und Denken gefangen nehmen, dass darüber zu fragen vergessen wird, was sich denn entwickelt, und wie und wohin es sich entwickelt.« [Ebd., S. 139] Wiesner geht es im Kontext des Vitalismusstreits um die »Klärung und Begrenzung des Entwicklungsbegriffes«.17 Seine Begriffsklärung setzt organische und anorganische Phänomene als grundverschiedene, aufeinander unreduzierbare Sachverhalte voraus. Den originären Sinn von Entwicklung beschränkt sie von vornherein »prototypisch« auf den der organischen Entwicklung, der Ontogenese, weswegen dann die zur anorganischen Sphäre gehörenden kausalgenetischen, bewegungsdynamischen Prozesse als uneigentliche Entwicklungsphänomene, bloße »Scheinentwicklungen«, qualifiziert werden.18 Herbert Spencer hält einer solche Begriffskritik vor, mit einer völlig unspezifischen universellen Entwicklungskonzeption zu arbeiten, welche die durch die prototypische Ontogenese – also das, was sich nur entwickelt und entwickeln kann – gesetzten Grenzen der Entwicklungsmöglichkeit überschreitet.19 Unter den veränderten Vorzeichen postmodernen 16

17 18 19

»Das oft Widerlegte aber immer wieder zu bekämpfen, thut vor allem Noth im Interesse der Idee der Entwicklung selber. Wenn die strengere wissenschaftliche Fassung bei ihr aufgegeben wird, und wenn enge Formen gewaltsam über­a ll die Herrschaft an sich reissen, so sind sie nur in ihrem segensreichen Einfluss auf die gesammte wissenschaftliche Forschung gehemmt, sondern auch innerlich auf’s schwerste erschüttert. So erscheint es als Aufgabe all derer, die sich auf den Boden der neuen Wissenschaft stellen, gegen die Gefährdung jenes Grundbegriffes aufzutreten.« [Eucken, S. 153 f] Vgl. dazu die Einleitung von Wiesner, S. 8. Wiesner, insbesondere S. 40, 45 ff. Wiesners Auseinandersetzung mit Spencer findet sich in Wiesner (Kap. 9 „Herbert Spencers Entwicklungslehre nebst kritischen Bemerkungen hierzu“, S. 92-117).

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3) Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs

Krisenbewusstseins wiederholt Bernhard Waldenfels diesen methodischen Einwand Hans Poser gegenüber.20 Statt wie Poser universalistisch »die Evolution zur Metaerzählung der Gegenwart« zu erheben, gelte es »hartnäckig zu fragen, was entwickelt sich?« [Waldenfels 1998, S. 78] Philosophisch fragwürdig ist eine solche Begriffskritik gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen bewegt sie sich in dem methodologischen Zirkel einer bloß instrumentellen Kritik, welche den Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung als exklusiv geltend unbefragt voraussetzt. Zum anderen beruht sie auf der philosophischen Verwechslung von Begriff und Sachverhalt. Wiesners Einwand, dass es sich bei der mechanischen Entwicklung Spencers um eine bloße Scheinentwicklung handelt, unterstellt einen naturalistischen Fehlschluss: Das, was ursprünglich abgelesen wird an der präformierenden Ontogenese, die Form der Entwicklung, wird fälschlich übertragen auf bewegungsdynamische »Entstehungs«-Prozesse, also auf einen ganz anderen Sachverhalt.21 Dieser Einwand trifft Spencer jedoch methodisch in keiner Weise. Er unterstellt einmal die lediglich falsche Anwendung eines vorausgesetzten Konstitutionsbegriffs der Entwicklung, mithin eine fehlende Entsprechung von Begriff und Sachverhalt. Spencers »System« verfolgt jedoch in der naturwissenschaftlich-atomistischen Tradition stehend gar keine Konzeption einer konstituierenden, vielmehr der diakritischen Entwicklung. Die methodische Möglichkeit, dass es sich hier überhaupt um einen ganz an­ deren Entwicklungsbegriff handeln könnte, wird in einer solchen instrumentellen Kritik gar nicht erst in Betracht gezogen. Andererseits 20 21

Die Argumentation findet sich im Kapitel »Entwicklungskrisen« von Grenzen der Normalisierung [Waldenfels 1998, S. 75 ff]. »Aber in der Spencerschen Verallgemeinerung des Entwicklungsgedankens liegt als auffälliger Mangel auch das Übersehen des fundamentalen Unter­ schiedes, welcher zwischen wahrer Entwicklung und Scheinentwicklung be­­ steht.« [Wiesner, S. 111] Organische Prozesse sind Entwicklungen, folgen der »ontogenetischen Entwicklung der organischen Wesen« als dem »Proto­­ typ echter Entwicklung« [ebd., S. 40]. Demgegenüber stellen anorganische, bewegungsdynamische Kausalitäten ganz andere Sachverhalte dar, bloße Scheinentwicklungen. Entsprechend kritisiert von Wiesner die Deutung auch des Anorganischen als eine Entwicklung als methodisch unzulässige Ausweitung des Entwicklungsbegriffs: »Es liegt wohl auf der Hand, daß es als eine Übertreibung des Entwicklungsgedankens anzusehen ist, wenn Spencer die durch Temperaturveränderungen hervorgerufenen Kontraktionen und Dilatationen und ähnliche unwesentliche Veränderungen der toten Materie dem Prinzip der Entwicklung unterordnet.« [Ebd., S. 112]

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Einleitung

ignoriert der Einwand eines naturalistischen Fehlschlusses Spencers Beanspruchung der Entwicklung als ein universelles Entwicklungsprinzip. Das berühmte »Entwicklungsgesetz« stellt – wie Spencer ausdrücklich betont – überhaupt keinen Gattungsbegriff dar, der durch Abstraktion von einem gegenständlich Gegebenen gewonnen und von da aus verallgemeinert worden wäre.22 Philosophische Prinzipienaussagen sind zudem generell durch die Forderung der Übereinstimmung des Begriffs mit irgendwelchen Sachen oder Sachverhalten nicht zu erschüttern. Mit Hegel gesprochen: »Die Idee selbst ist nicht zu nehmen als eine Idee von irgend etwas.« [Hegel 1969, § 213, S. 182] Oder mit Deleuze und Guattari: Wissenschaftliche Begriffe charakterisieren sich als Funktionen von Sachverhalten23, nicht aber der philosophische Begriff; er »besitzt überhaupt keine Referenz« [Deleuze / Guattari, S. 168].24 Die Entwicklung als eine Entwicklung von etwas referen­ziell und intentional-sachverhaltsbezogen zu fassen heißt demnach, die Grenze von vorphilosophischer und philosophischer Begriffsbildung zu verwischen. Die phänomenologische Logik und Erkenntnistheorie in ihrer anti­ nominalistischen und antikonstruktivistischen Einstellung hat sich zwar von dem realistischen Abstraktionsmodell der Begriffsbildung nicht wirklich lösen können, wonach Begriffe referenziell durch eine Leistung der ideierenden Abstraktion von Gegenständen oder Sachverhalten ursprünglich gewonnen werden. Auch der Phänomenologe kann jedoch mit Blick auf die Begriffe der Ordnung und Organisation auf ideelle Begriffskonstruktionen nicht verzichten, wie Husserls Ideen von 1913 und Formale und transzendentale Lo­ gik zeigen. Jede Begriffsbildung geschieht einerseits sachbezogen und 22 23

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Die besondere Eigenart philosophischer Prinzipienaussagen hat Ernst Cassirer herausgestellt. Zu dieser methodischen Problematik vgl. Teil A, Kap. I,2. Wissenschaftliche Funktionen beziehen sich auf Sachverhalte, sodass »die wissen­schaftlichen Begriffe Funktionen von Sachverhalten sind« [Deleuze / Guattari, S. 165]. Der philosophische Begriff »besitzt überhaupt keine Referenz, auf das Erleben genausowenig wie auf Sachverhalte, sondern eine Konsistenz, die durch ihre internen Komponenten definiert ist: Weder Denotation eines Sachverhalts noch Bedeutung des Erlebnisses, ist der Begriff, das Ereignis als reiner Sinn, der unmittelbar die Komponenten durchläuft.« [Deleuze / Guattari, S. 168] Der Begriff referiert also weder auf Sachverhalte noch auf Erlebnisse: Deleuze und Guattari wenden sich damit sowohl gegen die positiv-wissenschaftliche als auch die phänomenologische Auffassung des Begriffs, gegen Husserl wie Gilles-Gaston Granger [vgl. ebd., S. 166–168].

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3) Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs

ist damit intentional und referenziell. Der Referent der Gewinnung nicht nur materialer, sondern auch formal-apriorischer Kategorien und Begriffe bleibt ein Individuum, d. h. ein sachhaltiger, gegebener Gegenstand, indem »jedes Individuum zum Etwas überhaupt entleert« wird. [Husserl, Hua XVII, § 87, S. 220] Mit Blick auf die Begriffsbe­ stimmung referieren jedoch nur Gattungs- und nicht Formbegriffe auf einen Sachverhalt. Anders als für die materialen Gattungen gilt für formal-allgemeine Begriffe wie »Gegenstand überhaupt« oder »Etwas überhaupt«, dass »jede sachhaltige Bestimmung von Gegenständen prinzipiell außer Betracht« bleibt [ebd., § 24, S. 82], die Sachen, auf die der Begriff referiert, entsprechend »nicht weiter befragt und ausgelegt werden müssen«, man sich ausdrücklich »nicht in einen vorgelegten sachhaltigen Sinn zu vertiefen« hat »wie im materialen Apriori, wo die Evidenz ganz auf der Vertiefung in das Eigenwesentliche irgendwelcher Sachen und auf seiner Explikation beruht« [ebd., § 87, S. 221]. Bäume, Berge, Häuser oder Tische zu kennen trägt zur Erkenntnis dessen, was ein Gegenstand überhaupt seiner Form nach ist, nicht das Mindeste bei: Bei einem universellen, formalen Apriori gewinnt das Referieren auf Gegenstände lediglich beliebig austauschbare Beispiele, aber keine umfänglichen Bestimmungen für den leitenden Begriff.25 Das intentional-sachbezogene Referieren ist demnach für eine formal-apriorische, systematische Begriffsbildung gar nicht von Belang, hat zwar eine Repräsentations-, aber keinerlei Organisations- und Entwicklungsfunktion und kann im Prinzip auch keine solche haben. Die systematische Form solcher nicht aus einer Generalisie­ rung, sondern Formalisierung26 gewonnener Begriffsbestimmungen, welche insbesondere dem Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung zugrunde liegt, ist letztlich auch bei Husserl nur durch eine idealisierende, reine Begriffskonstruktion zu gewinnen, ein die 25

26

Anders als beim sachhaltigen Apriori bedarf das formale Apriori zur Ge­ win­ nung der Evidenz »solcher bestimmten individuellen Anschauungen nicht, sondern nur irgendwelcher Exempel von Kategorialien« [Husserl, Hua XVII, § 87, S. 221]. In dem einschlägigen Kapitel über Generalisierung und Formalisierung in den Ideen I unterscheidet Husserls Vereinzelung und Bestimmung, Subsumption und Subordination. Die Gegenstände, die unter einen Gattungsbegriff fallen, werden diesem subordiniert und ge­hör­ten zu dessen Begriffsumfang, ohne den dieser leer bliebe. Bei der zur Formalisierung gehörenden Subsumption dagegen sind die sachhaltigen Umfänge nicht in diesem Sinne in dem betreffenden Begriff enthalten als dessen Differenzierungen und Bestimmungen. [Vgl. Husserl, Hua III,1, § 13, S. 32] Husserl, Hua III,1, § 13, S. 31 ff, vgl. Fußnote 25.

27 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Einleitung

Gegenstandbestimmung im Voraus leitendes transzendentales ­Ideal.27 In der konstituierenden Entwicklung organisiert sich der gegebene Sachverhalt, indem er auf eine ideale Bedeutungseinheit referiert – und nicht etwa nimmt umgekehrt die transzendentale Idee Bezug auf einen Sachverhalt als Referenten der Entwicklung. Entsprechend lässt sich die systematische Unterscheidung von konstituierender und diakritischer Entwicklung phänomenologisch-methodisch nur durch den Entwurf eines transzendentalen Ideals auch für die bewegungs­ dynamischen Prozesse gewinnen, resultiert also nicht einfach naiv anti­nominalistisch-realistisch aus einer »Wesensschau« von Sachen: Die organisierende Entwicklung ist ein formal- und kein regional­ ontologischer Begriff. Die restriktive Begriffsbildung seit Kant, welche die Möglichkeit einer diakritischen, »mechanischen Entwicklung« entweder auf solche zur Selbstorganisation nicht fähigen bewegungsmechanischen Prozesse regionalontologisch einschränkt oder aber ihren Entwicklungssinn überhaupt bestreitet, wird nun noch überboten durch einen weitaus grundsätzlicheren ontologischen Einwand: Sich selbst erhaltende Systeme, die sich reproduktiv generieren, können unmöglich auf Entstehungsbedingungen außerhalb der Systembildung zurückgeführt werden: Ordnung im Sinne von Organisation vermag nicht aus Unordnung zu entstehen. So wird die Ordnungsgenese zu einem ontologischen Paradox, ihre Inanspruchnahme zur philosophischen Naivität, eine Art irrational voraussetzungsloser Urproduktion anzunehmen, wie dies Bernhard Waldenfels kurz und bündig formuliert: »An die Entstehung von Ordnung kommen wir so nicht heran; denn diese besteht in nichts anderem als in der Ablösung einer Ordnung durch die andere.« [Waldenfels 1987, S. 154] Ordnung – gemeint ist natürlich diejenige reproduktionsfähiger Systeme, also Organisation – kann demnach immer nur aus anderer Ordnung, aber niemals aus dem ungeordneten Chaos entstehen.28 Diese Zurechtweisung eines Phänomenologen unterscheidet sich in ihrer ontologischen Begrün27 28

Zur Unterscheidung von neukantianisch-konstruktivistischer und phänomeno­ logischer Auffassung des transzendentalen Ideals vgl. Teil B, Kap. I,3. »Eine neue Ordnung setzt sich durch gegen eine alte, in welcher Form auch immer dies geschehen mag. Eine Unschuld des Werdens, die dieser Konfliktzone entrückt wäre, gäbe es nur, wenn wir von einer Urproduktion ausgehen könnten, die nichts wäre als reine Produktion – […]. Um einen Anfang zu machen, und sei es auch nur in Gedanken, kommen wir immer schon zu spät.« [Waldenfels 1987, S. 154]

28 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs

dung nicht wesentlich von der strukturalistischen Behauptung des Zusammenfalls der Genese mit der permutativen Veränderung einer immer schon vorgegebenen Struktur29 oder Luhmanns Systemtheorie, welche im Falle der Evolution die Entstehungs- auf die Erhaltungsbedingungen des Systems – die selbstreferenzielle Selbstreproduktion –, zurückführt.30 Die postmodern so populäre Verwerfung des Gedankens der Ordnungsgenese ist methodisch durchaus nicht originell, denn sie wiederholt im Grunde nur argumentativ-operativ Leibniz’ exemplarisch formulierten Einwand gegen den Gedanken der Epi­ genesis, eine rational nicht begründbare, paradoxe Schöpfung aus dem Nichts zu beschwören, ohne dessen ontologische Fundamente, die in der Substanzontologie und Konstitutionstheorie liegen, ausdrücklich zu reflektieren. Bei Goethe heißt es im Anschluss an Leibniz: »Der Begriff vom Entstehen ist uns ganz und gar versagt; daher wir, wenn wir etwas werden sehen, denken, dass es schon dagewesen sei. Deshalb das System der Einschachtelung kommt uns begreif‌lich vor.«31 Goethe ergreift Partei für die Präformationstheorie – also den Konstitutionsbegriff der Entwicklung – und ausdrücklich gegen die philosophischen Anhänger der Epigenesis, d. h. eine die Organisation einschließende Konzeption einer bewegungsdynamischen, diakritischen Entwicklung. Eine solche Apologie der Präformationstheorie führt exemplarisch Leibniz’ Monadologie vor im Rahmen der substanzontologischen Auslegung des Werdens. In der auf Aristoteles’ Physik zurückgehenden Tradition profiliert sich der Entwicklungsgedanke mit der philosophischen Aufgabe, einen konsistenten und zugleich umfassenden Begriff des Werdens zu gewinnen, welcher das Paradox der grundlosen Schöpfung aus dem Nichts vermeidet. In diesem Sinne bekämpft Leibniz die Vorstellung der Entstehung von Etwas aus dem Chaos im Sinne der absoluten 29

30

31

Nach der Genese einer Struktur überhaupt zu fragen, macht strukturalistisch gedacht keinen methodischen Sinn: »So wenig ein Gegensatz Struktur / Genese besteht, so wenig gibt es einen Gegensatz zwischen Struktur und Ereignis, Struktur und Sinn. […] Was man Struktur nennt, ein System von differentiellen Verhältnissen und Elementen, ist zugleich Sinn in genetischer Hinsicht, und zwar in Abhängigkeit von aktuellen Relationen und Termen, in denen sie sich verkörpert.« [Deleuze 1997, S. 243] Luhmann 1987, Bd. 1, S. 417 spricht davon, dass Evolution bedeutet, dass ein bestehendes, sich durch Reproduktion selbst erhaltendes System auf nutzbare Zufälle für die Veränderung gleichsam wartet. Vgl. dazu Teil A, Kap. I,2. Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, zit. nach Eucken, S. 135.

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Einleitung

Neuerzeugung (»generation entière«). Das Entstehen und Vergehen braucht nicht geleugnet zu werden als eine paradoxe Schöpfung aus dem Nichts, sofern ihm eine Substanz in Gestalt eines entwicklungsfähigen »Samens« zugrunde liegt, welcher das Werden als eine Ordnungskonstante im Ganzen präformiert.32 Leibniz spricht von »einer großen Umbildung« (»une grande transformation«)33, die sich mit dem Wachstum und der Entwicklung von Organismen vollzieht, d. h. in einem solchen Prozess wird die Ordnung im Sinne eines Konstitutionsprinzips, das lediglich seine Seinsmodalität ändert, immer schon vorausgesetzt. Strukturalismus und postmoderne Systemtheorie ändern an dieser Prämisse grundsätzlich nichts. Sie bestreiten lediglich die Möglichkeit einer »chronologischen Kodierung« von Ereignissen34 und ersetzen entsprechend den Konsti­ tutionsbegriff der Entwicklung durch verschiedene Surrogate: An die Stelle der Präformation des Werdens durch entwicklungsfähige Sub­ stanzen, welche eine lineare Ordnung der Sukzession vorgeben – eine »logische Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee«, die sich in der Zeit unmittelbar spiegelt, »die Gestalt der Aufeinanderfolge in der Zeit hat« [Hegel 1982 a, S. 49, 48] – tritt die sukzessionslose, permutative Transformation oder rekursive Ausdifferenzierung einer Ordnung, welche ausschließlich solche zur Systembildung immanent gehörenden internen Variablen nutzt und damit auf externe Ursachen in Form transzendenter, substanzieller Entwicklungseinheiten nicht mehr zurückgreifen muss. Grundsätzlich spielt sich die organisierende Ausdifferenzierung eines Systems »nur auf der Innenseite der Form« ab [Luhmann 1997, Bd. 1, S. 63], geschieht also niemals durch Dispositionen, die zur Außenseite, zur Umwelt des Systems gehören. Die postmoderne Eliminierung des klassischen Entwicklungsgedankens erschüttert nun keineswegs, sondern stützt einmal mehr dessen leitenden Konstitutionsbegriff der Organisation: Ob nun als sukzessive Entwicklung, als Permutation, als Internalisierung der Differenzbil-

Vgl. Leibniz, Monadologie, § 73–76, sowie Vernunft­prinzipien der Natur und der Gnade, §  6–7 [Leibniz 1982, S. 60–63 und S. 10–15]. An letzterer Stelle [S. 13] klärt sich die metaphysische Notwendigkeit des Entwicklungsbegriffs gemäß dem Prinzip des zureichenden Grundes: »Ist dieses Prinzip aufgestellt, so wird die erste Frage, die man mit Recht stellen darf, die sein, warum es eher Etwas als Nichts gibt.« 33 Vgl. Leibniz 1982, S. 60–61. 34 Claude Lévi-Strauss, Geschichte und Dialektik [in Lévi-Strauss 1973, S. 298]. 32

30 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Die Entwicklung: Krise und Kritik eines philosophischen Grundbegriffs

dung von System und Umwelt35 – das organisierte Werden wird der Tradition der Substanzontologie folgend als die Transformation einer zugrundliegenden Ordnungseinheit begriffen, mithin die Ordnung im Stile eines Konstitutionsprinzips als ontologische Letztbedingung, als nicht weiter zu hinterfragende Erhaltungskonstante auch weiterhin in Anspruch genommen.36 Nur innerhalb einer exklusiv konstitutionstheoretischen Begründung von Ordnung und Organisation macht der postmodern erneuerte Vorbehalt gegen die Ordnungsgenese – der rationalistische Einwand einer grundlosen Schöpfung aus dem Nichts – überhaupt Sinn. Mit Blick auf die bewegungsdynamische, diakritische Entwicklung läuft er schlicht ins Leere: Atomistisch gedacht fungiert als Erhaltungs­ konstante des Werdens gar nicht die Ordnung, sondern die Bewegung, der unaufhörliche, kontinuierliche Wirbel der Elemente, welcher bleibende Ursache ist sowohl für immer wieder entstehende Ordnung als auch Unordnung. Dieses wechselnde Entstehen und Vergehen wird durch das Fehlen einer grundgebenden Ordnungskonstante auch nicht einfach rational grundlos: Was die Ordnungen hervorbringt, sind gerade nicht systemtheoretisch und statisch gedacht wiederum andere Ordnungen, sondern die der Atombewegung immanenten, dynamischen Bewegungsgesetze. Semantisch unterscheidet die dia­ kritische von der konstituierenden »Entwicklung der Ordnung« somit der genitivus obiectivus vom genitivus subiectivus: eine gesetzliche Entwicklung keineswegs durch, sondern von Ordnung. Das Organisieren und Entwickeln wird hier also ganz anders als in der Tradition der Sub­stanz­ontologie nicht am konstitutionstheoretischen Leitfaden des Herstellens von vornherein als ein Ordnungsproblem begriffen. Es bleibt allerdings die entscheidende Frage, ob einer solchen bewegungs35

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Die Systemdifferenzierung vollzieht nach Luhmann »die Wiederholung der Differenz von System und Umwelt innerhalb von Systemen« [Luhmann 1987, S. 22]. Luhmanns Systemtheorie verschleiert diese ontologische Prämisse durch ihr funktionalistisches Verständnis von systeminterner Ausdifferenzierung. Wenn die funktionale Differenzierung eines bestehenden Systems von Operationen »an die Stelle« von dem tritt, wo traditionell Substanz und Subjekt stehen, dann spielt sie die Rolle des bloßen Substituts und Surrogats eines ontologischen (Selbst-)Erhaltungsprinzips: »Die Einheit der Form bleibt als Differenz vorausgesetzt; aber die Differenz selbst ist nicht Träger der Operationen. Sie ist weder Substanz noch Subjekt, tritt aber theorie­geschichtlich an die Stelle dieser klassischen Figuren. Operationen sind nur als Operationen eines Systems möglich, also nur auf der Innenseite der Form.« [Luhmann 1997, Bd. 1, S. 63]

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Einleitung

mechanischen diakritischen Entwicklung über die bloße Ordnungsgenese hin­aus die Fähigkeit auch regenerativer Leistungen zukommt. Wird also dem Einwand der Schöpfung aus dem Nichts der ontologische ­Boden entzogen nicht nur im Hinblick auf das Entstehen von Ordnung, sondern auch von originär lebendiger Organisation? Eine positive Antwort darauf setzt nicht weniger voraus als die Überholung der ontologischen Prämisse Kants: die methodologische Auf‌lösung der Analogie von mechanischer und konstituierender Entwicklung und damit die Gewinnung eines nicht mehr privativen, sondern universellen Begriffs von bewegungsdynamischer Organisation.

4)

Bewegungs- und Auslösungsdynamik, Stoffwechsel und Restitution: Die Konstitution als Reflexionsbegriff der Organisation

Kants Doktordissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis hatte den Streit zwischen Metaphysik und Physik zu schlichten versucht durch eine Reflexion auf die Form der Erkenntnisgewinnung. Die physikalische als eine Erfahrungserkenntnis bezieht sich nicht auf noumena, sondern lediglich auf die phaenomena, gelangt demnach zu keiner philosophischen Wesenserkenntnis, beschränkt sich vielmehr auf die Erforschung von Gesetzeszusammenhängen der Erscheinung.37 Es ist schließlich die Kritik der Urteils­ kraft mit ihrer ontologischen Zurechtweisung jener in der Theorie der Epigenesis liegenden Anmaßung, das Entstehen auch einer lebenden Substanz aus rein mechanischen Ursachen einer diakritischen Entwicklung erklären zu wollen, welche den Konstitutionsbegriff der Organisation befestigt: Das Leben als eine Form von nicht mechanischer, sondern zweckmäßiger Selbstorganisation erfasst die bloße Gesetzesbeschreibung der Phänomene nicht. Erkenntnis resultiert hier aus 37

Kant unterscheidet den auf die Phaenomena bezogenen logischen Ver­stan­ des­­­­gebrauch von dem auf die Noumena ausgerichteten realen. Die Eigen­ ständigkeit der phänomenalen Gesetzeserkenntnis betont Kant ausdrücklich, wenn es heißt, die Form der sinnlichen Erkenntnis, die zum Begriff der Erfahrung gelangt, sei kein bloßes Abbild der Erkenntnis des Realen, also kein nur unvollkommener realer Verstandesgebrauch: Es ist das »Verhältnis des Empfundenen […] aber eigentlich nicht ein Schattenriß oder eine Art Schema des Gegenstandes, sondern nur ein gewisses Gesetz, das der Erkenntniskraft eingepflanzt ist […]« [Kant 1770, Zweiter Abschnitt, § 4, S. 31; zum Begriff der Erfahrung vgl. § 5, S. 33].

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4) Bewegungs- und Auslösungsdynamik, Stoffwechsel und Restitution

e­ iner transzendentalen Begriffsbestimmung, welche die dynamischen Phänomene bestimmt als Erscheinungen von eines intelligiblen Sub­ strates, eines Noumenon.38 Organisation ist demnach kein einfacher Objekt-, sondern ein transzendentaler Reflexionsbegriff, insofern hier zwei verschiedene Erkenntnisquellen ins Spiel kommen.39 In der Konstitutionsbestimmung wird das Phaenomenon auf ein Noumenon reflexiv bezogen und damit der systematischen Form der Begriffsbestimmung unterworfen. Was die Phänomene organisiert, liegt nicht in diesen selbst, sondern einem davon verschiedenen intelligiblen Prinzip. Die Synthesis, welche die phänomenbezogene Gesetzeserkenntnis zustande bringt, bleibt eine aktuale, die im Wirkungszusammenhang bewegungsdynamischer Prozesse aufgehobene assoziative Verdichtung. Diese phänomenimmanente, assoziative Synthese ist jedoch nicht das, was die Erscheinungen in der Konstitution organisiert.40 Konstitutions­ theoretisch gedacht sind Organisationsprinzipien Ordnungen in Gestalt dispositioneller Vermögen. Indem sich solche Ordnungsdispositionen in der konstituierenden Entwicklung realisieren, kommen die Reflexionsbegriffe der Materie und Form, des Bestimmbaren und der Bestimmung [vgl. Kant 1968, B 317 / A 261] ins Spiel: Die assoziativen Synthesen der Phaenomena werden so zum bloß passiven Medium, dem ein Noumenon seine bestimmende Form aktiv aufzwingt. Zwar enthält auch der atomistische Begriff der Atombewegung eine solche Überschreitung der Phaenomena auf ein Noumenon hin: der Vorstellung des Atoms als unteilbarer Einheit liegt der parmenideische Gedanke eines unzerstörbaren Einen jenseits aller Phänomenvielfalt zugrunde.41 Doch führt die atomistische Erklärung des Werdens zu 38 39

40

41

Zu dieser Problematik vgl. Teil A, Kap. I,3. Reflexionsbegriffe beruhen Kants einschlägigem Kapitel über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft zufolge auf einer »Überlegung« (reflexio), wo sich die Erkenntnis nicht nur auf Gegenstände bezieht, sondern »das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen« enthält [Kant 1968, B 316, A 260]. Bei den Reflexionsbegriffen ist entscheidend, welcher Erkenntnisquelle die Vorstellung ihre Synthesis verdankt. Die entscheidende Frage ist: »in welchem Erkenntnisvermögen gehören sie [die Vorstellungen] zusammen?« [Kant 1968, B 316, A 260] Auf diese ontologische Dimension des Atomismus hat Hans-Georg Gadamer hingewiesen: »Der Atomgedanke ist also ein ontologisches Postulat und erweist sich als ein Versuch, den Seinsgedanken der eleatischen Einheitslehre mit den Forderungen der Naturerfahrung dadurch zu vereinen, daß er in der

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Einleitung

keinem Reflexionsbegriff der Organisation, denn die intelligible Begriffsbestimmung bezieht sich lediglich auf die Elemente, nicht aber auch deren vereinigende Synthesis. Ein transzendentaler Reflexionsbegriff entsteht erst da, wo die Synthesis der Erscheinungen als solche der Bestimmung durch ein Konstitutionsverhältnis unterworfen, die aktuelle, assoziative Synthese als die nur äußerliche Realisierung einer dispositionellen, mithin als eine synthetisierende Ordnungsleistung gedacht wird. Dispositionen erfasst das reine Denken, während sich der Erfahrungsbegriff und seine Gesetzeserkenntnis auf die Aktualität des Wahrnehmbaren bezieht. Der Begriff einer dispositionellen Synthesis aktueller Erscheinungen kann offenbar nur so gefasst werden, dass auf Wahrnehmung und Denken als zugrunde liegende Erkenntnisquellen reflektiert wird. Schon das Modell des Herstellens als ontologischer Leitfaden der Konstitutionsbestimmung eröffnet, dass der Reflexionsbegriff der Organisation methodologisch auf einer Analogie beruht. Es liegt hier offensichtlich eine formale Entsprechung vor zwischen der Organisation des Erkenntnisobjekts und der subjektiven Form der Erkenntnisgewinnung: Der Baumeister braucht, um den Herstellungsprozess subjektiv zu ordnen und zu organisieren, einen leitenden Plan in nuce und dieser geht schließlich ein in das Objekt als dessen konsti­ tuierendes Organisationsprinzip. Die Vorstellung, dass Organisation überhaupt in der Realisierung transphänomenaler Ordnungsdisposition besteht, spiegelt offenbar das durch Platons Ideenlehre gestiftete Modell der Erkenntnisgewinnung: Etwas erkennen heißt, die Wahrnehmung durch eine schlechthin wahrnehmungsvorgängige Erkenntnis zu ordnen. Wird Organisation schließlich als Form von sich selbst organisierendem Leben dynamisch gefasst, dann erschließt die Analogie von objektbezogener Erkenntnis und subjektiver Erkenntnisgewinnung die der Selbstorganisation implizite Reflexionsform, ihre Selbstreferenzialität. Die zur Selbstorganisation gehörende Form der Selbsterscheinung leitet sich ab aus ihrer spezifischen Form der Produktion, der Reproduktion. Selbstreferenzielle Reproduktion bedeutet nicht nur, dass Ordnungsdispositionen aktualisiert werden, sondern vor allem, dass sich ein lebendes Systems als ein geschlossenes seiner Umwelt gegenüber konstituiert. Das geschieht im wesentlichen durch Vielheit unsichtbar kleiner Einheiten das wahre Sein der Erscheinungen erkennt.« [Antike Atomtheorie, in: Gadamer 1999, S. 117].

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4) Bewegungs- und Auslösungsdynamik, Stoffwechsel und Restitution

eine autopoietische Differenzbildung, eine Inklusion und Exklusion, hervorgehend aus einer Unterscheidung durch Selbstunterscheidung. Die Systemtheorie geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Selbstkonstitution eines geschlossenen Systems in nichts anderem besteht als seiner selbstreferenziellen Selbstreproduktion. Reproduktion meint nach Niklas Luhmann das »Handhaben« der Differenz von System und Umwelt durch das selbstreferenzielle, autopoietische System.42 Luhmanns Systemtheorie wiederholt damit freilich nur – methodologisch unreflektiert – die spekulative Prämisse Hegels, der den totalisierenden Charakter der Selbstkonstitution des Lebendigen betont: Die autopoietische Reproduktion besteht in derjenigen immer eines ganzen Systems.43 So ergibt sich die Diakrisis von System und Umwelt als Folge einer Leistung der Selbstdifferenzierung, einer autopoietischen Selbstsetzung und ihrer Differenzbildung, hervorgehend aus der Selbsterhaltungsfunktion des Systems, seiner Selbstreproduktion. Die Diakrisis als die selbstkonstituierte Differenz eines Systems zu begreifen, eine aus der Systemreproduktion resultierende Exklu­ sion, setzt nun offenbar die Analogie von Erkenntnisobjekt und subjektiver Erkenntnisgewinnung voraus. Die sich hier verbergende Reflexionsbestimmung verrät der Rigorismus, mit der die Reproduktion als exklusives Prinzip der Selbstorganisation in Anspruch genommen wird. Beim lebenden Organismus geschieht – konstitutionstheoretisch gedacht – die Selbsterhaltung ausschließlich reproduktiv. Weil die Reproduktion totalisierend, die Reproduktion immer eines gan­ zen Systems ist, stellt sich die Systemorganisation als vollständige Unterbrechung bewegungsdynamischer Prozesse dar, indem sie sich aus diesen im Ganzen herauslöst. Die bewegungsdynamische Kausa42

43

»Systeme müssen mit der Differenz von Identität und Differenz zurechtkommen, wenn sie sich als selbstreferentielle Systeme reproduzieren, oder anders gesagt: Reproduktion ist das Handhaben dieser Differenz.« [Luhmann 1987, S. 26–27] Zur selbstreferenziellen Organisation als der geschlossener Systeme gehört, dass der »Selbstkontakt« und »Umweltkontakt«, mithin die »Selbstkonstitution also fortlaufend reproduziert« wird [ebd, S. 60 und 59]. Vgl. Teil A, Kap. I,4. Den totalisierenden Charakter der autopoietischen Re­ produktion immer des Systemganzen betont Luhmann ausdrücklich: »Und da diese Produktion/Reproduktion eine Unterscheidung externer und interner Bedingungen erfordert, vollzieht das System dabei immer auch die Reproduktion seiner Grenzen, und das heißt: seiner Einheit. Insofern heißt Autopoiese: Produktion des Systems durch sich selber.« [Luhmann 1997, Bd. 1, S. 97]

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Einleitung

lität hat demnach keinerlei organisierenden Einfluss auf das System, sie gehört als eine vollständig exkludierte vielmehr zur Umwelt des Systems. Der Analogie von Erkenntnisobjekt und subjektiver Form der Erkenntnisgewinnung folgend, der Ordnung der Phaenomena durch ein transphänomenales Noumenon, verbindet sich mit der Reproduktion die vollständige Verdrängung bewegungsdynamischer Prozesse an die Außenseite einer ausschließlich intern funktionierenden System­organisation: Eben deshalb spielt sich bei der »Zwei-SeitenForm« von System und Umwelt das Organisieren immer nur »auf der Innenseite der Form« ab [Luhmann 1997 Bd. 1, S. 63]. Zum Phänomen des Stoffwechsels gehören zweifellos reproduktive Leistungen, doch können diese sehr wohl lokal begrenzte Erscheinungen bleiben, sodass sich daraus keine wirkliche Unterbrechung des bewegungsdynamischen Kontinuums ergibt.44 D. h. nur aufgrund solcher in den Begriff des autopoietischen Stoffwechsels immer schon eingeflossener Reflexionsbestimmungen lässt sich eine wirklich systemerhaltende Leistung der Reproduktion, die Inklusion und Exklusion, überhaupt begründen. Methodisch führt der Konstitutionsbegriff der Organisation mit seiner reflexiven Analogie von Erkenntnisobjekt und Erkenntnisgewinnung zu einer doppelten Restriktion: die Bewegungsdynamik reduziert sich auf eine bloße Auslösungsdynamik, und die Restitu­ tion wird nicht als eigenständiges Organisationsphänomen, sondern als bloßer Grenzfall des autopoietischen Stoffwechsels behandelt. Jede Konstitutionstheorie der Organisation prägt eine im Prinzip reduktio­ nistische Betrachtung bewegungsdynamischer Prozesse: Die Differenzbildung und Exklusion durch die Selbstreproduktion geschlossener Systeme hat zur Folge, dass innerhalb der Organisation nur noch solche dynamischen Ursachen wirksam werden, welche in Verbindung mit einer reproduktiven Leistung stehen, indem sie Ordnungsdispositionen aktualisieren. Die Autopoiese ist keineswegs zu verwechseln mit einer göttlich-allmächtigen, schöpferischen causa sui, in dem auch sie offen bleibt für Umwelteinflüsse – freilich nicht im Sinne von in­ struierenden, sondern lediglich auslösenden Ursachen.45 Im Rahmen der Konstitutionsbestimmung werden nicht etwa die mechanischen, äußeren Ursachen der Organisation einfach eliminiert. Sie ändern le44 45

Zu dieser Problematik vgl. das Hegel-Kapitel (Teil A, Kap. I,4). Die Unterscheidung von »instruierenden« und »auslösenden« Ursachen mit Blick auf die Autopoiese stammt von Maturana. Vgl. Maturana / Varela 1987, S. 106. Zur konstitutionstheoretischen Begründung dieser Distinktion bei Hegel vgl. Teil A, Kap. I,4.

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4) Bewegungs- und Auslösungsdynamik, Stoffwechsel und Restitution

diglich ihre Funktion mit der vollständigen Umwandlung der Bewegungs- in eine Auslösungsdynamik. Methodologisch entspricht dem die Orientierung am Modell eines nicht mehr atomistisch begriffenen, autopoietischen Stoffwechsels. Ohne Stoffwechselaktivität keine Aktualisierung von Dispositionen – ein lebender Organismus, der mit seiner Umwelt kommuniziert, bleibt auf äußere, bewegungsmechanische Ursachen notwendig angewiesen. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Leistung dieser dynamischen Verursachung im Rahmen der organisierenden Konstitutionsbestimmung auf das Minimum des bloßen Bewegungsanstoßes reduziert: Während bewegungsdynamischen Prozessen die Funktion einer produktiven Synthesis zukommt, beschränkt sie sich nun im Rahmen der Konstitution auf die bloße Auslösung für eine Reproduktion: Die auf der Umwandlung der Bewegungs- in eine Auslösungsdynamik beruhende Organisation raubt der dynamischen Kausalität nicht weniger als ihre Leistung der assoziativen Synthese und damit jede mögliche Ordnungsfunktion innerhalb des reproduktiv geschlossenen Systems. Zu den Regenerationsphänomenen gehört schließlich der exem­ plarische Fall der Restitution. Es war nicht zuletzt die zur Ontogenese gehörende Restitutionsfähigkeit, die den Vitalismusstreit entfachte, welche durch bewegungsmechanische Ursachen des Stoffwechsels ­allein offenbar nicht zureichend erklärt werden kann.46 Die Systemtheorie hat freilich die Möglichkeit, die Unterbrechung bewegungsdynamischer Kausalität, welcher der Vitalismus methodisch in Anspruch nimmt, ohne Rückgriff auf metaphysische Entitäten allein durch die zur Systembildung gehörende Selbstreferenzialität zu erklären.47 Es zeigt sich jedoch, dass die Restitution nicht einfach als ein Sonderfall autopoietischen Stoffwechsels zu begreifen ist. Die Grundbedingung autopoietischer Selbstkonstitution, die exkludierende Geschlossenheit des Reproduktionszusammenhangs, wird nämlich durch den Restitutionsfall eingeschränkter Reproduktionsfähigkeit aufgehoben: Wenn die Reproduktion nicht mehr exkludiert, bedeutet dies: die Autopoiese 46

47

Nach Driesch leistet die Restitution eine »Umdifferenzierung« [Driesch, S. 64] die nicht durch bewegungsdynamische Prozesse der diakritischen Entwicklung erklärbar ist, das, was Driesch die »Unmöglichkeit einer chemischen Theorie der Formbildung« [ebd., Überschrift, S. 125] nennt. Diese »Umdifferenzierung« kann nicht auf die chemische »Zersetzung oder Entmischung« [ebd.] zurück­ geführt werden. Michael Weingarten betont in diesem Sinne in Bezug auf den Vitalismus von Driesch, dass »dessen richtige Momente in der Systemtheorie Ludwig von Bertalanffys aufgehoben wurden« [Weingarten, S. 92].

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Einleitung

wird unwirksam. In einem solchen Fall, wo sich die geordnete Systembildung tendenziell in Unordnung auf‌löst, kann die Wiederherstellung der Ordnung nicht wiederum auf eine wirksame Autopoiese – den geschlossenen Reproduktionszusammenhang – zurückgeführt werden. Die Disfunktionalität der Autopoiese scheint damit als Bedingung der Möglichkeit der Restitution auf das Eindringen bewegungsdynamischer Prozesse und ihrer assoziative Synthesen in die Organisation hinzuweisen. Doch selbst diesen Fall der Restitution interpretiert die Konstitutionstheorie ihrer Prämisse gemäß, wonach die Organisation der Phaenomena ausschließlich durch die Vermittlung eines intelligiblen Organisationsprinzips zustande kommt, als bloßen Grenz­ fall autopoietischen Stoffwechsels. Entsprechend wird die organisierende Leistung wiederum durch eine Auslösungsdynamik erklärt: die Enthemmung einer die autopoietische Reproduktion betreffenden Hemmung.48 Die methodologische Restriktion, welche bewegungsdynamischen assoziativen Synthesen eine Restitutionsfunktion generell nicht zuerkennt, nimmt wiederum den Reflexionsbegriff der Konstitution und seine transzendentale Analogie von Erkenntnis und Erkenntnisgewinnung in Anspruch: Die Wiederherstellung der Ordnung wird analog dem Wiedererkennen gedacht, wo die Wahrnehmung als reproduzierende Vorstellung einen habituellen Begriff reproduziert. Ordnung resultiert hier nicht aus der assoziativen Synthese der Wahrnehmung, vielmehr einer ganz andersartigen Synthesis zweier beteiligter Erkenntnisquellen: Wahrnehmung und Begriff. In Bezug auf den autopoietischen Stoffwechsel ergibt sich entsprechend die reflexive Scheidung von Bestimmbarem und Bestimmung, die kategorische Scheidung der bewegungsdynamischen, assoziativ-synthetischen Seite des Stoffwechsels von seiner reproduktiven Verarbeitung durch die Organisation.

48

Vgl. dazu Teil A, Kap. II,1.

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5) Diakritische Entwicklung als Wiederholungshandlung

5)

Diakritische Entwicklung als Wiederholungshandlung. Der Reflexionsbegriff bewegungsdynamischer Organisation

Wird die diakritische mit einer mechanischen Entwicklung gleich­ gesetzt, dann ist aus ihr ein nicht bloß reduktionistischer und analogischer, sondern transzendental-eigenständiger Organisationsbegriff nicht zu gewinnen. Demonstrieren lässt sich das an der zur Selbst­ organisation gehörenden regenerativen Leistung, der Reproduktion und Wiederholung. Zweifellos können sich auch rein mechanische Prozesse der assoziativen Verdichtung wiederholen, die zur Aussonderung geordneter Systeme aus dem noch ungeordneten bewegungsdynamischen Kontinuum führen. Solange die Wiederholung jedoch nicht mehr bedeutet als die bloße Akkumulation solcher im Grunde wiederholungslos-einmaliger Vorgänge, bleibt ihre Beurteilung als organisierende Leistungen in der Tat bloßer Schein. Die »mechanische Entwicklung« als solche ist noch kein transzendentaler Reflexionsbegriff von Organisation. Zu einem solchen wird sie aber durch eine analogische Konstitutionsbestimmung und ihre teleologische Struktur, welche die Phaenomena als Realisierungen eines Noumenon interpretiert. Genau dieser Schritt vollzieht sich bei Herbert Spencer mit der Unterscheidung von primärer (assoziativ aussondernder) und sekundärer (funktional-differenzierender) Integration. Nicht schon in Bezug auf die primäre, wohl aber die sekundäre Integration wird die assoziierende und ursprünglich Systeme generierende diakritische Entwicklung zur auslösenden Ursache für die Konstitutionsbestimmung eines bestehenden Systems, die immer weitere Ausdifferenzierung einer gegebenen Ordnung. Spencers komplexe methodische Begründung scheitert letztlich an ihrer naturalistischen Prämisse, Ordnungsdispositionen ohne Rückgriff auf eine transzendentale Teleologie der Selbst­organisation allein aus den mechanischen Ursachen der Diakri­ sis ableiten zu wollen. Die Entstehung von Ordnung bleibt mechanistisch begriffen ein kontingentes Faktum, d. h. mit Blick auf das Ganze der Entwicklung lässt sich das Überwiegen der Ordnung gegenüber der Unordnung nicht zwingend begründen.49 49

Zu Spencers Unterscheidung von primärer und sekundärer Integration vgl. Teil A, Kap. I,2; zur Aporie naturalistischer Begründungen be­wegungsdynamischer Organisation, den Erklärungsversuch, wie sich die Un­wahr­scheinlichkeit kau­ sal­­genetischer Entstehungsbedingungen in die Wahr­­scheinlichkeit einer Ent­ wicklungsteleologie verwandeln lässt vgl. ebd.

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Einleitung

Der Konstitutionsbegriff der Organisation geht davon aus, dass die Organisation prinzipiell durch eine Ordnungsleistung geschieht. Auch Spencers dynamisch-energetisch begriffene Leistung der Ordnung und Organisation kann auf einen konstitutionstheoretischen Begründungsrahmen offenbar nicht verzichten, indem er auf Ord­ nungsdispositionen der funktionalen Differenzierung rekurriert – zwar nicht in Gestalt präformierender Formursachen, die von außen in die bewegungsdynamischen Prozesse regulierend eingreifen, wohl aber mechanisch wirkender Kräfte des energetischen Stoffwechsels in der notwendigen Umwandlung von potenzieller in aktuelle Energie. Spencers konstitutionstheoretisch-analogische Fassung der diakritischen Entwicklung verrät sich auch damit, dass die Organisation durch dynamische Dispositionen derjenigen präformierender Ursachen analog als eine Individuation, d. h. die unwiederholbar-einmalige Bestimmung eines Bestimmbaren gedacht wird.50 Genau damit scheitert eine solche Reflexionsbestimmung bewegungsdynamischer Kausalität endgültig. Während sich in der ontogenetischen Präformation die Kontingenz von Entstehungsursachen aufhebt, bleibt sie in der analogischen Konstitutionsbestimmung bewegungsdynamischer Prozesse letztlich bestehen. Dass die ordnende Entwicklung der Auf‌lösung von Ordnung gegenüber überwiegt, kann nur durch die Wiederholung der mechanischen Aussonderung erklärt werden. Doch gerade hier macht sich das Fehlen einer präformierenden Ursache des mechanischen Entwicklungsprozesses im Ganzen als Grundlage für die Konstitutionsbestimmung bemerkbar. Die im Prinzip einmalige Umwandlung von potenzieller in aktuelle Energie kann als die Realisierung einer Ordnungsdisposition begriffen werden, nicht jedoch die wiederholte: Die Akkumulation mechanischer Prozesse unterliegt keiner transzendentalen Reflexionsbestimmung. Ein Reflexionsbegriff der Organisation ist deshalb aus den bewegungsdynamischen Prozessen nur zu gewinnen, wenn die Bestim­ mung des Phaenomenon durch ein Noumenon nicht mehr kon­sti­tu­ tionstheoretisch als eine Form der systematischen Begriffsbestimmung gedacht wird, die phänomenale bewegungsdynamische Entwicklung also keineswegs als die Aktualisierung einer Disposition in Gestalt 50

Die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der ›urstiftenden‹ Konstitution betont die genetische Phänomenologie Husserls, welche die Garantie dafür gibt, dass sich das Reproduzierende vom Reproduzierten scheidet und damit die Möglichkeit einer geordneten »Wiederkonstitution« nicht verloren geht. Vgl. dazu Teil B, Kap. III,3.

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5) Diakritische Entwicklung als Wiederholungshandlung

der durch eine vergegenständlichende Vorstellung und einen Begriff immer schon vorgegebenen Ordnung erscheint. Ob die Philosophie solche begriff‌lichen Dispositionen nun metaphysisch als substanzielle Vermögen, antimetaphysisch und funktionalistisch als permutative Variablen einer Struktur oder naturalistisch als die Freisetzung eines Energiepotenzials begreift, die Aktualisierung solcher Dispositionen ist stets mit einer Festlegung durch einen Akt der Individuation verbunden. Die Aktualisierung als Akt der Konstitution trennt – mit der genetischen Phänomenologie gesprochen – die »Urstiftung« der Ordnung von jeder möglichen Wiederholung einer solchen Ordnungsleistung durch andere Akte; sie beruht auf einer im Prinzip einmaligen, unwiederholbaren Setzung.51 Konstitutionstheoretisch wird die Wie­ derholung gleichgesetzt mit einer Leistung der Reproduktion, denn nur so lässt sich der wiederholende Akt als eine nur bedingte und abgeleitete Form der veränderlichen Konstitution von dem ursprünglich bedingenden ordnungsstiftenden Akt als der schlechterdings unver­ änderlichen Konstitutionsbedingung ablösen: Jede Wiederholung ist – mit Husserl gesprochen – eine »Wieder«-Konstitution, eine Leistung nur des reproduktiven Nachvollzugs eines Vollzugs der Konstitution. Das Beispiel der Restitution kann nun genau dann zu einem Reflexionsbegriff der bewegungsdynamischen Organisation führen, wenn die Disposition als eine der Bewegung selber, eine Disposition zur Wiederholung, gedacht wird. In der mechanischen Akkumulation reduziert sich die Wiederholung auf die bloße Verdopplung zweier im Prinzip unzusammenhängender, durch mechanische Ursachen jeder für sich vollständig erklärbarer, getrennter Vorgänge. Wird die Wiederholung dagegen als eine Wiederholungsdisposition gedacht, dann wird aus der bloßen Abfolge von Vorgängen der Begriff einer einheitlichen, intentional orientierten Wiederholungshandlung. Schon im ersten Vollzug liegt offenbar ein Motiv, ihn zu wiederholen mit dem Ziel, eine labile geordnete Struktur weiter zu verfestigen, die sich aus dem ungeordneten Chaos anfänglich herausbildet. Diese restitutive Stabilisierung setzt offenbar über die »blinde« mechanische Kausalität hinaus so etwas wie ein waches und wachendes »Gedächtnis« der organisierenden Bewegung voraus, welche von Selbstauf‌lösungsprozessen der einmal entstandenen Ordnung etwas »merkt«, d. h. eine Form von organisierender Selbstreferenzialität.52 Den Selbstorganisationsbegriff 51 52

Husserl, Hua XI, § 42, S. 194, siehe Fußnote 50! Verzweigungen und Brüche der Symmetrie als Zustände der Selbstorganisation

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Einleitung

in die kausalgenetische Analyse einzuführen bietet den methodologischen Vorteil, auf die Hypothese eines universellen Determinismus verzichten zu können, sei es nun im physikalischen Sinne einer lücken­los geschlossenen Ursachenkette oder im biologischen Verstande einer ausnahmslos regulierenden Ordnungsdisposition, eines genetischen Programms. Die Rekursivitätsschleife verwandelt Notwendiges in Kontingentes, macht vermeintlich Unabänderliches veränderlich, indem sie das an sich Unwiederholbare mechanischer Kausalität wiederholbar macht: Der einmalige und abgeschlossene mechanische Vorgang öffnet sich rekursiv zu einer im Prinzip unabgeschlossenen Wiederholungshandlung. Eine solche selbstreferenzielle Selbsterscheinung im Bereich der Naturkausalität ist nun nicht fassbar ohne eine intentionale Reflexionsbestimmung, welche in die kausale Betrachtung einfließt, denn nur so sind die einzelnen mechanischen Vorgänge als Momente einer zusammenhängenden, intentional-motivierten Wiederholungshandlung überhaupt vorstellbar: Die Akkumulation als das Phaenomenon mechanischer Wiederholung wird gedacht als die Rea­ lisierung eines Noumenon in Gestalt einer intentionalen Wiederholungsdisposition und damit die Organisation bestimmt durch die nicht einmalige, sondern mehrfache Setzung der Ordnung, wodurch sich dieser originär bewegungsdynamische, plurale Vollzugssinn dispositioneller Wiederholung grundlegend unterscheidet von einer dispositionellen Ordnung der Reproduktion – einem im Prinzip singulären Ordnungsvollzug und seinem vielfachen Nachvollzug im Zusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution.53 hängen »von der vorhergehenden Geschichte des Systems« ab [Prigogine / Stengers, S. 167], setzen also so etwas wie ein »Gedächtnis« des Systems voraus. Diese vermeintlich bloß metaphorische Beschreibung ist methodologisch ernstzunehmen, denn sie weist auf die dem Organisationsbegriff als solche anhaftende Reflexionsbestimmung hin – die Analogie von Erkenntnisobjekt und Form der Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsorientierung. 53 Die hier vorgenommene Unterscheidung von Reproduktion und Wieder­ holung deckt sich nicht mit derjenigen, die Gille Deleuze in Differenz und Wiederholung vorgenommen hat. Zwar unterstreicht Deleuze, dass die Wie­der­holung anders als die Reproduktion nicht durch ein Verhältnis der Repräsentation zweier Akte, die sich wie Urbild und Abbild, Vollzug und Nach­ vollzug zueinander verhalten, bestimmt wird. Gleichwohl behält sie durch ihre strukturalistische Deutung der permutativen Veränderung einer vorgegebenen variablen Ordnung der »Struktur« den ideal-konstitutionstheoretischen Sinn einer nun allerdings nicht mehr identitäts-, sondern differenzbildenden Reproduktion. Die in ihrer Fülle von Ordnungsmöglichkeiten unerschöpf‌liche Struktur als eine noumenale Ordnung jenseits realer Ereignisse und

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

Die Annahme einer solchen mehrfachen intentionalen Setzung, die zum Begriff der bewegungsdynamischen Organisation untrennbar gehört, widerspricht nicht nur, sie macht es methodisch einfach überflüssig, als leitendes Organisationsprinzip eine Teleologie der Konstitutionsbestimmung in Gestalt einer begriff‌lichen Ordnungsdisposition außerhalb des Wirkungszusammenhangs von Kräften des bewegungsdynamischen Kontinuums ins Spiel bringen zu müssen. Es bleibt bei der mechanischen Kausalität der Attraktion und Repulsion, welche durch ihre selbstreferentielle Spiegelung gleichsam zum Wiederholungsmotiv ihrer selbst wird. Die mehrfache Setzung der Ordnung geschieht bewegungsdynamisch unmöglich durch die noch unfertige und unselbständige und damit zur teleologischen Formation unfähige Ordnung, sondern allein die der Bewegung immanenten Bewegungsgesetze, die überhaupt nur einer Reflexionsbestimmung der Organisation durch die Setzung eines intentionalen Wiederholungsmotivs unterliegen können.

6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung Die Konstitutionstheorie der Organisation begrenzt ihre erkenntnistheoretische Fixierung: Organisation kommt durch die Erkenntnisund Begriffsvermittlung der Wahrnehmung zustande, welche die Ordnung als einen gegebenen Gegenstand vorgibt, eine zunächst nur durch den Gedanken erfasste Idee, welche sich dann erst als ein Wahrnehmungsphänomen realisiert. Das Herstellungsmodell fasst entsprechend die Leistung der Organisation als eine doppelte Vergegenständlichung: Zunächst wird eine Ordnung gegenständlich vorgestellt als der die Organisation lenkende und leitende Plan und Entwurf. Und diese Ordnungsvorstellung erfährt dann eine weitere Vergegenständlichung, indem sie sich in der Formung der Materie als ein nicht nur gedachtes, sondern wirkliches Objekt in der Wahrnehmung realisiert. Zur Verwirklichung der Idee in der Wahrnehmung gehört, dass sich der zunächst vage ideelle Entwurf näher bestimmt und damit systematisch weiter entwickelt: Die konstituierende Vergegenständlichung der Ordnung als Grundlage von Organisation beinhaltet demnach soAktvollzüge konstituiert sich in einer im Prinzip wiederholungslosen, ein­ maligen Setzung, welche sich dann auf der phänomenalen Ereignisebene in einer Vielfalt sich wiederholender Aktvollzüge jeweils reproduktiv realisiert. Vgl. dazu das Schlusskapitel Teil C, Kap. III,7.

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Einleitung

wohl die ursprüngliche Objektsetzung als auch die eigentlich erst ent­ wickelnde, systematische Objektbestimmung. Husserls Phänomenologie hat dem Konstitutionsbegriff der Organisation durch seine sprachanalytische Fundierung eine neue Fassung gegeben: Die Wahrnehmung erfährt ihre ordnende Vergegenständlichung von einem »bedeutungsverleihenden Akt« her, einer intentionalen Erkenntnisorientierung, welche der Begriffsbildung im eigentlichen Sinne zuvorkommt.54 Durch die im Prinzip vorbegriffliche Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung entfällt die Not‌ wendigkeit einer transzendentalen Reflexionsbestimmung, welche Phaenomena und Noumena als zwei voneinander getrennte Erkenntnisquellen ins Spiel bringt. Daraus folgt, dass Husserls frühe erkenntnistheoretische Fundierung der Phänomenologie den Konstitutionsbegriff einerseits intentional, aber andererseits noch nicht als einen Organisationsbegriff fasst. Die Wandlung des Konstitutionsbegriffs zu einem systematischen Organisationsbegriff in den Ideen von 1913 ist deshalb methodisch zwingend damit verbunden, dass eine solche transzendentale Reflexionsbestimmung in die intentionale wiederum eingeführt wird. Der Gegenstand verkörpert eine regulative »Idee im Kantischen Sinne«, d. h. die Organisation resultiert hier aus der Befolgung eines transzendentalen Ideals, infolge dessen ein Noumenon als Limesbestimmung zur Bestimmung der Phaenomena implizit gehört und die Konstitution infolgedessen die systematische Form der Begriffsbestimmung annimmt.55 Auch die phänomenologische Organisationstheorie beruht damit auf einer methodologischen Analogie, welche die Form der Organisation keineswegs phänomenimmanent gewinnt, vielmehr aus einer transzendentalen Reflexionsbestimmung hervorgehen lässt. Besonders Heidegger hat deshalb der Husserlschen Konstitutionstheorie vorgehalten, ihren Subjekt- und Systembegriff nicht wirklich phänomenologisch aus der intentionalen Bedeutungskonstitution abgeleitet zu haben.56 Gleichwohl hält auch Heidegger dort, wo es um die Erklärung 54

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Insbesondere die neukantianische Kritik der Phänomenologie als ein nai­ver »Intui­ tionismus«, welcher die Begriffsvermittlung der Erkenntnis aus­ schaltet, beruht auf einer Verkennung des modernen, sprachanalytischen Be­grün­dungsansatzes der Logischen Untersuchungen. Auch bei Husserl geht die Ordnung der Wahrnehmung aus einer wahrnehmungsvorgängigen Erkenntnisorientierung hervor, einer »signitiven« Bedeutungserfassung, die nichts von einer »Intuition« an sich hat. Vgl. dazu Teil B, Kap. I,3. Vgl. dazu Teil B, Kap. I,2 und I,3. Diese Kritik findet sich exemplarisch in Prolegomena zu einer Geschichte

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

der Ordnung der Erscheinungen durch eine vergegenständlichende Leistung der intentionalen Erkenntnisorientierung geht, an einer im Prinzip konstitutionstheoretischen Begründung operativ fest. Die systematische Konstitutionsbestimmung verliert lediglich ihre universelle Bedeutung der philosophischen Letztbegründung, indem sie sich hermeneutisch reduziert auf die bloß ontische Dimension der Sinn­ enthüllung, der lediglich nachgängigen, systematisch-explizieren­den »Auslegung« eines im ontologisch relevanten »Verstehen« bereits Vorverstandenen.57 Auch wenn man schließlich gegen Heideggers allzu pauschale Kritik Husserls methodische Leistung würdigt, die systematische Konstitutionsbestimmung in der intentionalen Erkenntnisbegründung verankert zu haben und damit die Möglichkeit einer Phänomenologie der Konstitution nicht von vornherein in Abrede stellt, so bleibt doch der fade Beigeschmack einer philosophischen Adaptation: Der Phänomenologie scheint es überhaupt an einem originären und originellen Organisationsbegriff zu mangeln. Entweder sie orientiert sich wie bei Husserl in der Tradition von Kant und dem Neukantianismus am »transzendentalen Ideal« eines Systems der Gegenstandsbestimmung, oder aber sie adaptiert ihrer intentionalen Fundierung von Erkenntnis entsprechend konstitutionstheoretische Begründungen jenseits transzendentaler Entwicklungstheorien. Auch hier wird die Ordnung als ein Gegenständlich-Gegebenes vorausgesetzt, sei es hermeneutisch als eine faktische Sinnvorgabe (Heidegger), genetisch-feldtheoretisch als eine bereits in der Wahrnehmung vorgegebene Gestaltqualität (Aron Gurwitsch) oder aber system- und diskurstheoretisch als die im Prinzip doppelseitige Innen- und Außendes Zeitbegriffs. Heidegger hält hier Husserls Ideen I vor, ihre kon­ sti­ t u­ tions­theoretische Bestimmung der Subjektivität nicht »im Hinblick auf das Intentionale« gewonnen zu haben [Heidegger, GA 20, S. 146]. 57 Bezeichnend nutzt Heidegger die aus seiner lebensphilosophischen Fun­ die­­­ rung der Phänomenologie resultierenden Möglichkeiten nicht, Ord­ nung und Organisation von der Bewegungsdynamik wechselnder Wahr­ neh­mungsorientierungen her zu verstehen. In Sein und Zeit kommt es der im Prinzip konstitutionstheoretischen Begründung von Ordnung aus dem Zusammenhang von Verstehen und Auslegung wegen auch zu keiner dynamischen Feldtheorie der Organisation. Auch Heidegger sieht – nicht anders als Husserl – in der Umwelt nur das bloße »Weltstück«, den ausgeschnittenen Teil eines umfassenden Ganzen, eines Ordnungszusammenhangs der Bedeutsamkeit, der keineswegs assoziativ synthetisiert, sondern wie eine fertig vorgegebene Gegenständlichkeit wahrnehmungsvorgängig erfasst wird. Vgl. Teil C, Kap. I,3 und I,5.

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Einleitung

seite eines Konstitutionsverhältnisses der Organisation, eine sich auf das Außerordentliche hin überschreitende Ordnung.58 Bezeichnend führt die Phänomenologie des Fremden die feld­ theo­retisch-deskriptive Abhebung des geordneten Bewusstseinsfeldes vom ungeordneten Rand zurück auf eine selektive Leistung der Organisation, eine im Prinzip systemtheoretisch begriffene Inklusion und Exklusion.59 Damit wandelt sich das Verhältnis von Ordnung und Unordnung von einer dynamischen Assoziation zu einer vergegenständlichenden Synthese. Wenn die Selektion, die zur Abhebung einer Figur von ihrem Grund und damit zur Aussonderung des geordneten Feldes führt, begriffen wird »im Sinne einer Verwirklichung des einen, was zugleich Verunmöglichung des anderen ist« [Waldenfels 1987, S. 56], dann schließt dies bewegungsdynamische Wechselwirkungen zwischen Feld und Rand grundsätzlich aus. Der zum geordneten Vor58

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Die Kritik an der phänomenologischen Konstitutionstheorie ist immer auch die an ihrer leitenden Intentionalitätskonzeption. Von Roman Ingardens ontologischem Realismus angefangen bis hin zu den »Responsivitätstheoretikern« Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Lévinas und Bernhard Waldenfels wird der konstitutionstheoretischen Begründung vorgehalten, das Intentionale auf eine bloße Vorstellungsaktivität zu reduzieren. Die Betonung einer Außenseite der intentionalen Konstitution, auf welche die Vorstellungsaktivität dann lediglich »antwortet«, befestigt aber letztlich nur wieder den Konstitutionsbegriff der Organisation, insofern dieses Außen als bloßes Negativ-Korrelat zur Konstitutionsbestimmung – das schlechterdings Ungeordnete und Un­orga­ ni­sierte, gefasst wird. Vgl. dazu meinen Artikel »Intentionalität« in PhäWb, S. 291 ff. Bernhard Waldenfels interpretiert Aron Gurwitschs Unterscheidung von thematischem Feld und Rand durch eine Leistung der »Ordnung als Selektion und Exklusion« [Waldenfels 1987, Teil B, S. 49]. Bei Gurwitsch gründet sich die Selektion dessen, was bedeutungsrelevant und -irrelevant ist, gerade nicht auf eine systematisch regulierende Konstitutionsbestimmung. Waldenfels dagegen folgt angeregt durch die Diskurstheorie von Michel Foucault und die Systemtheorie Niklas Luhmanns dem methodischen Ansatz, den »selektiven und exklusiven« Charakter auf eine Ordnungsbedingung, eine aktive Ordnungsleistung im Sinne der Regulierung, zurückzuführen: »Die elementare Ordnungsleistung bestünde darin, daß die Anknüpfung an interlo­ kutionäre Ereignisse durch Einführung selektiver Gesichtspunkte geregelt wird.« [Ebd., S. 40] Entsprechend bildet sich der Rand, der zum thematischen Feld nach Gurwitsch gehört, nicht sukzessiv und assoziativ, sondern durch eine spontane Vergegenständlichung. Mit Bezug auf den Rand heißt es: »Die Thematisierung, die etwas in den Brennpunkt rückt, stiftet Zusammenhänge und hat zur Kehrseite eine Marginalisierung. Beides geschieht mit einem Schlage wie die doppelte Auswahl« im Sinne der sprachlichen, paradigmatischen oder syntagmatischen Auswahl, wie sie Jacobson gefasst hat. [Ebd, S. 61]

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

dergrund gehörende ungeordnete Hintergrund – der »Rand« bei Gurwitsch – wird nun zum »Fremden«, zur Außenseite der Organisation, zum ausschließend gesetzten »Negativ-Korrelat« [Luhmann 1987, S. 249] eines sich durch Selbstvergegenständlichung konstituierenden Systems. Deshalb geschehen selektive, organisierende Einflüsse immer nur in einer Richtung – vom geordneten System aus auf die ungeordnete Umwelt, nicht aber von der Umwelt her, indem sie Ordnung aus Unordnung generierten: »Die Auswahl zwischen vorhandenen Angeboten kann erst beginnen, wenn eine Ordnung etabliert ist, auf die man zurückkommt.« [ebd.] Statt dem Phänomen der Wahrnehmungsorientierung zu folgen und den Rand als assoziativ-bewegliche Grenze zu verstehen, wo durch wechselnde Interessenlagen und Gewichtungen Bedeutungsrelevantes irrelevant und Irrelevantes wiederum relevant wird und damit in der Wahrnehmungsbewegung sich Ordnung in Unordnung, Unordnung in Ordnung immer wieder umwandelt, operiert die Phänomenologie des Fremden mit einem konstitutionstheoretischen Modell exkludierender Erkenntnisgewinnung: dem Festhalten an einer gesetzlichen Regel und Norm und ihrer irregulären Abweichung. Das ungegenständliche Andere, das Fremde, enthüllt sich als die notwendige Kehrseite des gegenständlich Eigenen. Umgebende Unordnung wird damit zur Konstitutionsbedingung einer immer schon bestehenden Ordnung, die Diakrisis von organisierter und unorganisierter Umwelt als die »Grenze der Normalisierung« objektiviert zu der durch ein Vorhandenes – ein immer schon funktionierendes geschlossenes Regelsystem – selbstkonstituierten sinnverschiebenden Differenz.60 Waldenfels’ Kritik an Husserls transzendentaler Phänomenologie bringt sich so um ihren möglichen Ertrag, wonach die »Orientierung an einem reinen Bewußtsein, einem reinen Sinn und einer reinen Geltung« dazu geführt habe, »dass der Sinn der Kraft allzusehr den Rang abläuft, als gäbe es dort, wo Kräfte walten, nur blinde Mechanismen.« [Waldenfels 1987, S. 57] Die Gleichsetzung des umweltlich Ungeordneten mit dem Unorganisierten, dem Außerordentlichen 60

So heißt es in Grenzen der Normalisierung: Das Fremde als Anormalität ist eine Funktion der Normalisierung im Sinne einer durch die Regulierung hervorgerufenen Selbstabweichung, einer Verschiebung, eines Entzugs: »Die Abweichung geschieht, indem sie bestehende Verhältnisse unterhöhlt, in Frage stellt, verändert, und sie vollzieht sich gleichzeitig als Selbstabweichung, da sie ein Doppelereignis darstellt, das sich selbst gegenüber verschoben ist. […] Die Differenzierung zwischen Normalem und Anormalem setzt nicht zwei Beziehungsglieder miteinander in Bezug, sondern in ihr geht Bezug Hand in Hand mit einem Entzug.« [Waldenfels 1998, S. 16]

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Einleitung

und Fremden, bedeutet: Unordnung gehört nicht zur Organisation der Eigenheitssphäre und dynamischer »Sinn« reduziert sich entsprechend konstitutionstheoretisch von einer assoziativ-synthetischen Be­ wegungs- auf bloße Auslösungsdynamik: eine Kraft als »Stachel des Fremden«, welche das System animiert, kreative Abweichungen von der Regel und Norm im Übergang der einen in die andere Ordnung zu produzieren.61 Es ist keineswegs eine Stärke, sondern empfindliche Schwäche der phänomenologischen Methode, das Problem der Ordnungsgenese und diakritischen Entwicklung durch ihre Intentionalitätskonzeption entweder in statischer Betrachtung ganz auszublenden oder aber genetisch durch eine konstitutionstheoretische Subjektivierung zu umgehen. In statischer Hinsicht wird – mit den Logischen Untersuchun­ gen gesprochen – der gegebene Sinn immer nur »gemeint« aber nicht »erzeugt«, d. h. Ordnungen stellen immer schon vorgegebene gegenständliche Sinneinheiten dar für die intentionale Bezugnahme. Genetisch-phänomenologisch im Sinne Husserls wird nun nicht etwa nach der Entstehung und Entwicklung eines solchen intentionalen Ordnungsbezugs gefragt, es werden vielmehr die freilich hoch komplexen Modalitäten seiner Realisierung im Bewusstsein untersucht. Die Dichotomie »vorgegeben – gegeben« in der »passiven Synthesis« verrät die konstitutionstheoretische Grundlage auch der genetischen Analyse62, die Entstehung von Organisation als die Veränderung lediglich der Seinsmodalität eines ansonsten unveränderlich Gegebenen zu fassen: der die Organisation leitende Ordnungsbezug ist und bleibt stets »vorgegeben«, welcher in Gestalt einer konstituierenden Ordnungs­ disposition in verschiedenen Gegebenheitsweisen des veranschaulichenden Bewusstseins »gegeben« und d. h. subjektiv aktualisiert wird, zu denen die Übergänge des Bewussten zum Unbewussten und damit des Organisierten zum Unorganisierten gehören. Ob diese modalisierende Abwandlung, welche niemals die Entstehungsbedingungen der 61 Vgl. Waldenfels 1987, das Kapitel »Innovation als Verformung und Ab­ weichung«, S. 153 ff. In Der Stachel des Fremden betont Waldenfels wiederum in Bezug auf die Überschreitung der Ordnung die unaufhebbare Grenzsetzung durch die bestehende Ordnung, denn wer »sich redend und handelnd in den Grenzen einer bestimmten Ordnung bewegt«, vermag dies nur so, dass er »diese Grenzen zugleich überschreitet, ohne sie zu überwinden« [Waldenfels 1990, S. 26]. 62 Vgl. dazu Teil B, Kap. III,4 »Die Distinktion ›vorgegeben – gegeben‹. Die kon­ stitutionstheoretische Diakrisis eines Ordnungs- und Wirkungs­zusam­men­ hangs in der assoziativen Weckung«.

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

Ordnungsvorgabe selbst, sondern immer nur diejenigen des aktualisierenden und organisierenden Ordnungsbewusstseins betrifft, sich nun wie bei Husserl auf die internen Konstitutionsbedingungen der substituierenden Verbildlichung und restitutiven Wiederkonstitution beschränkt, oder aber eine Außenseite der Konstitution einbezieht – den unorganisierten »Rand« des organisierten Bewusstseinsfeldes als das zur Bedeutungsrelevanz gehörende Irrelevante63 oder auch das Andere und Fremde als »responsiver« Ursprung und Kehrseite selbstkonstituierter Ordnungsvorstellungen64 – immer stützt sie sich auf eine genetisch unableitbare Setzung, den intentionalen Ordnungsbezug als solchen. Die Phänomenologie bleibt hier ihrem antinaturalistischen Erbe treu, indem sie zwar nicht mehr wie in der statischen Analyse Genesis und Geltung, wohl aber eine intentional vermittelte von einer assoziativen Genese unterscheidet: Die genetische Konstitution, welche der Kausalgenese Sinn gibt, synthetisiert ihre Ordnung nicht wiederum assoziativ, sie repräsentiert sie lediglich als eine intentional-­ gegenständliche Ordnungsvorgabe in verschiedenen Vorstellungsmodi des Bewussten und Unbewussten, des Vorstellbaren und Unvorstellbaren in der zur Vorstellungsaktivität gehörenden Grenzüberschreitung auf ein transzendentes Anderes hin. Das Problem der Ordnungsgenese philosophisch einzuholen in einer originär phänomenologischen Theorie der bewegungsdynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung verlangt deshalb eine methodische Erweiterung der Aufgabenstellung genetischer Phäno­menologie. Voraussetzung dafür ist eine Radikalisierung und Reformierung der phänomenologischen Intentionalitätskonzeption, in der die intentionale Beziehung selbst als das Produkt einer Genese begriffen wird, der Stiftung von lebensweltlicher Orientierung in einer ursprünglich diakritisch relevanten Artikulation von Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresse. Grundlagen dafür liefern Husserls genetische Analysen in Erfahrung und Urteil, die jedoch aus ihrem 63

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Aron Gurwitschs Konzeption eines durch die thematische Bedeutungsrelevanz organisierten Bewusstseinsfeldes und ihre gestalttheoretische Begründung gibt der genetischen Konstitution lediglich eine reduktionistische Fassung. Vgl. dazu Teil B, Kap. II,4–6. Seine Theorie der »responsiven Rationalität«, welche systematische Ansätze einer zweideutigen und zweiseitigen Konstitution bei Lévinas und MerleauPonty aufnimmt, versteht Bernhard Waldenfels als »Transformation der phäno­menologischen Konzeption der Intentionalität« »unter Benutzung kommunikationstheoretischer Einsichten« [Waldenfels 1994, S. 332]. Vgl. dazu meinen Artikel »Intentionalität« in PhäWb, S. 295 f.

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Einleitung

Kontext einer konstitutions- und erkenntnistheoretischen Fundierung gelöst werden müssen im Sinne der Betonung eines nicht nur aktualen, sondern reflexiven Sinnes von Intentionalität.65 Im Blick einer nicht mehr konstitutionstheoretisch fixierten genetischen Phänomenologie der Orientierung wird aus der intentionalen Beziehung als Akt der Bezugnahme auf einen Gegenstand eine reflexive Beziehung, sofern sich in ihr ein Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresse ursprünglich äußert. Das Interesse erklärt die habituelle Wahrnehmungs- und Erkenntnisorientierung als solche, d. h. den Grund der die Objektbestimmung der Konstitution vorausgehenden Objektsetzung. Es bildet ein habituell verfügbares, thema­ tisches Objekt, d. h. das Objekt wird hier als mein Objekt, was mir bedeutsam und für mich von Interesse ist, gesetzt. Diese Form einer selbstbezüglichen, thematischen Objektivierung geschieht im Rahmen der Selbstbildung und ihrer Bemühung, sich in einer Umwelt zu orientieren durch das Synthetisieren und Habitualisieren eines Orientierungsschemas.66 Während die transzendentalphilosophische Begründung Kants die ontologische Differenz von Phaenomena und Noumena durch die Unterscheidung zweier Vermögen stützt – Wahrnehmen und Erkennen –, legt eine Phänomenologie der Orientierung ihre genetischen Bedingungen frei. Die genetische Betrachtung enthüllt, dass die Beziehung des Phaenomenon auf ein Noumenon durch eine solche Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung keineswegs die einzig mögliche, sondern nur eine besondere Form der thematischen Objektivierung darstellt, eine Objektsetzung durch das Erkenntnis­ interesse. Das Interesse bezieht das Phaenomenon auf ein Noumenon, sofern es die aktuelle Wahrnehmung thematisierend artikuliert. Artikulation bedeutet, dass sich eine vom Wahrnehmungsobjekt zunächst ausgelöste Zuwendung in eine Bezugnahme umwandelt: Indem sich die zunächst passive, »responsive« Zuwendung in der ausdrücklichen Artikulation wiederholt und damit zu einer selbstvollzogenen und ­aktiven wird, entsteht das reflexive, thematische Objekt, welches über die phänomenale Präsenz das aktuell Wahrgenommenen hinaus die

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Zum reflexiven Sinn von Intentionalität als Form der thematischen Objek­ti­ vierung in der Artikulation von habituellem Interesse vgl. Teil C, Kap. III. Auf die verwickelte Problematik der Selbstbildung kann im Rahmen dieser syste­matischen Abhandlung nicht explizit eingegangen werden. Dies er­for­ derte eine eigene – umfangreiche – phänomenologische Studie.

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

noumenale Bedeutung einer Disposition enthält für die Wiederholung und Reproduktion der Bezugnahme.67 Phaenomena und Noumena in der Konstitutionsbestimmung bilden ein Verhältnis der Repräsentation, indem sich in einer Wahrnehmungsgegebenheit ein wahrnehmungstranszendentes Erkenntnisobjekt darstellt. Ihre genetische Bedingung liegt in der Ausbildung einer habituellen Erkenntnisorientierung. Hier vollzieht sich die Umwandlung der Zuwendung in eine Bezugnahme so, dass die thematische Objektivierung ein Noumenon setzt in Form eines wahrnehmungstranszendenten Vorstellungs- und Erkenntnisobjekts, das die Wahr­nehmungen lediglich repräsentieren. Und diese Repräsentation schafft allererst die Grundlage für die mögliche Konstitutionsbestimmung, in der die Synthesis der Wahrnehmung als die Realisierung einer nur in der Vorstellung gegebenen noumenalen Ordnungsdisposition aufgefasst wird. Die transzendentalphilosophische und konstitutionstheoretische Begründung von Organisation enthüllt sich genau dann als beschränkt, wenn herauskommt, dass die Vermittlung der Wahrnehmung durch eine Vorstellungs- und Erkenntnisorientierung mit der ihr anhängenden Konstitutionsbestimmung nur eine, aber nicht die ausschließliche Möglichkeit bietet, einen Reflexionsbegriff der Organisation zu entwickeln. Der Unterschied einer transzendentalen Phänomenologie der Konstitution zu einer anthropologisch fundierten Phänomenologie der Orientierung besteht somit in der Relativierung der die Konstitutionsbestimmung leitenden erkenntnistheoretischen Prämisse. Für eine transzendentale Erkenntnistheorie steht außer Frage, dass die Möglichkeit, dass sich Wahrnehmung überhaupt organisiert, die Ausbildung einer die Wahrnehmungen leitenden Erkenntnisorientierung zur Bedingung hat, die Erkenntnis- mit der Organisationsbedingung demnach zusammenfällt. In transzendental-anthropologischer Per­ spek­tive dagegen werden solche Grundunterscheidungen wie Erkennen und Wahrnehmen lediglich als verschiedene Möglichkeiten eines Subjektes betrachtet, sich in einer umgebenden Lebenswelt zu orien­ tieren und dadurch zu organisieren.68 Die erkenntnistheoretische 67 Vgl. dazu Teil C, Kap. III,5. 68 Diese universelle Breite des Problems der Orientierung vertritt Werner Stegmeiers Philosophie der Orientierung. Für sie treffen »Standard­unter­­ scheidungen wie Erkennen und Handeln oder Wahrnehmen. Fühlen, Denken […] im Blick auf die Orientierung schon Vorentscheidungen« [Steg­meier 2008, S. 4]. Das Orientierungsproblem kann deshalb auch nicht transzendental-er-

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Einleitung

Fixierung der klassischen, auf Kants Kritik der reinen Vernunft zurückgehenden Transzendentalphilosophie trifft der lebensweltlichen Orientierungsvielfalt gegenüber eine unbedachte Vorentscheidung, indem sie die Wahrnehmungsorientierung als alternatives Organisa­ tionsprinzip zur Konstitution erst gar nicht in Betracht zieht. Die phänomenologische Konstitutionstheorie erneuert dieses Vorurteil auf ihre Weise, indem sie wechselnde Wahrnehmungsorientierungen zwar als untrennbare Bestandteile der Konstitution ansieht, ihnen jedoch nicht die Bedeutung der Ordnung und Organisation zu geben vermag, welche allein und ausschließlich in ihrer die Wahrnehmungsgegebenheit transzendierenden Funktion der Konstitutionsbestimmung liegt, ein intentionales Erkenntnisobjekt zu repräsentieren.69 Dass Husserls genetische Phänomenologie nicht dahin gelangt ist, die transzendentale Phänomenologie der Konstitution zu einer anthropologischen Phänomenologie der Orientierung zu vertiefen, liegt nicht zuletzt in dem methodologischen Versäumnis, den Zusammenhang von Intentionalität und sprachlicher Artikulation, der mit Blick auf die reflexive Intentionalität des Interesses so einleuchtend scheint, systematisch zu bedenken. Bei Husserl resultiert die reflexive Struktur der thematischen Objektivierung nicht aus der Artikulation der Objektbeziehung, sondern konstitutionstheoretisch gefasst aus der Verfolgung des systematischen Erkenntnisinteresses, der Ob-

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kenntnistheoretisch verengt werden: »Man kann, aber muss nicht so entscheiden. Sofern es in der Orientierung darum geht, mit all dem zurechtzukommen, was auf einen zukommt, dienen alle Unterscheidungen der Orientierung.« [ebd.] An Husserls Phänomenologie kritisiert Stegmeier deshalb »sein Fest­ halten am transzendentalphilosophischen Standpunkt«, welcher wie schon bei Kant einer ausdrücklichen Begründung der leitenden (Erkenntnis-) Orien­­­tierung vermeintlich nicht bedürfe [ebd., S. 119]. Dem ist mit Blick auf die einseitig erkenntnistheoretische Fundierung der Phäno­menologie der Konstitution zuzustimmen. Es bietet sich jedoch die Möglichkeit, ausgehend vom reflexiven Verständnis von intentionalem Inter­esse in der genetischen Phänomenologie eine transzendental begründende, anthropologisch-universelle Phänomenologie der Orientierung systematisch zu entwickeln, wie es hier versucht wird. Das zeigt sich schon in der phänomenologischen Analyse räumlicher Orien­ tierungsphänomene sowohl bei Husserl als auch bei Merleau-Ponty. Der Orien­­tierungsraum wird konstitutionstheoretisch keineswegs in der kin­ästhe­ ti­schen Wahrnehmung, sondern einem nur der Erkenntnis zugänglichen intentional-gegenständlichen Raumordnung verankert, welche die Kinästhesen lediglich repräsentieren. Vgl. Teil C, Kap. I,1 und I,2.

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

jektbestimmung.70 Damit begreift die genetische Phänomenologie die intentionale Reflexionsbestimmung nicht als die der Objektbestimmung vorausgehende Objektsetzung, mithin auch nicht als die Stiftung derjenigen, der Konstitutionsbestimmung vorausgehenden Erkenntnisorientierung überhaupt. Eine genetisch-phänomenologische Reformulierung des Organisationsproblems auf einer breiteren, die Erkenntnis- wie auch die Wahrnehmungsorientierung einbeziehenden lebensweltlich-anthropologischen Basis und die dadurch mögliche kritische Reflexion über die Grenzen des Konstitutionsbegriffs der Organisation überhaupt wird damit methodologisch verspielt. Eine solche kritische Betrachtung eröffnet sich nur dann, wenn man die erkenntnistheoretische Fixierung der Phänomenologie der Konstitution aufgibt und die andere Möglichkeit der thematischen Objektsetzung als Grundlage der Organisation systematisch in Betracht zieht, diejenige durch das Wahrnehmungsinteresse. Das Wahrnehmungsinteresse bildet keineswegs eine bloße Vorstufe des »uneigentlichen« dem eigentlichen Erkenntnisinteresse gegenüber71, wie Husserls konstitutionstheoretische Erklärung annimmt, wenn man seine eigentümliche Form der Objektsetzung herausstellt. Es ist bezeichnend, dass sich das systematische Erkenntnisinteresse immer auf ein und nur ein Objekt fixiert, als eine thematische Identität, worauf sich die komplexe Objektbestimmung notwendig bezieht. Beim Wahrnehmungsinteresse geht es jedoch darum, ein Motiv dafür zu finden, warum gerade dieses und nicht ein anderes Objekt von Interesse ist. Ein solches ursprünglich selektives Wahrnehmungsinteresse setzt eine intentionale Mehrheitserfassung voraus und damit verbunden die Fähigkeit, ein besonderes Objekt als das im Zentrum des Interesses stehende auszuzeichnen. Die Orientierung hat hier nicht die Funktion, die Entfaltung von komplexen Bestimmungen eines Erkenntnisobjekts in der Wahrnehmung systematisch zu organisieren, sondern die Bildung eines geordneten Wahrnehmungsfeldes zu bewirken in der Ausbildung eines Wahrnehmungszentrums sowie einer ihm zugehörigen Peripherie. Die genetische Phänomenologie hat dieses Problem der Organisation der Wahrnehmungsorientierung durch die Ausbildung einer Feldstruktur thematisiert als dasjenige der Konstitution eines geordneten »Bewusstseinsfeldes«. Die konstitutionstheoretische Begrün70 71

Vgl. dazu die methodische Einleitung Teil C, Kap. III,1. Husserl 1972, § 47, S. 232; vgl. Teil B, Kap. II,2.

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Einleitung

dung scheitert hier jedoch auf ganzer Linie: Der Reflexionsbegriff der Konstitution setzt voraus, dass die assoziative Mehrheitserfassung stets auf eine intentionale Einheitserfassung gründet, in der die vermeintlich bloß assoziative Mehrheit einer vergegenständlichen, ordnenden Synthesis durch die wahrnehmungsvorgängige Erkenntnis­ orientierung unterworfen wird. Dies geschieht entweder – bei Husserl – dadurch, dass die thematische Fixierung, also die Objektsetzung der Wahrnehmungsorientierung, als eine bloße Folgeerscheinung der Objekt­bestimmung, der Verfolgung des systematischen Erkenntnis­ interesses, dargestellt wird oder – bei Aron Gurwitsch – durch die gestalttheoretische Begründung der Feldstruktur als eine im Prinzip nicht assoziativ-synthetische, sondern intentionale und aktuale, spontane Erfassung einer geordneten Ganzheit. Der kritische Durchgang durch die phänomenologische Feldtheorie72 gelangt schließlich zu der Einsicht, dass die Organisation des Feldes auf eine wahrnehmungsvorgängige Erkenntnisorientierung keines­wegs zurückzuführen ist, die Wahrnehmung den phänomenalen Charakter einer assoziativen Synthese durch wechselnde Gegenstandsorientierungen notwendig behält. Die Entwicklung eines phänomenologischen Begriffs der bewegungsdynamischen Organisation führt deshalb nur über den methodischen Weg, einen Reflexionsbegriff des intentional-organisierenden Wahrnehmungsinteresses auszubilden, die Wahrnehmungsorientierung demnach als eine Form von konstitutionstheoretisch unvermittelter, autonomer Selbstorganisation zu begreifen. Hierzu bedarf es eines grundlegenden Wechsels des sprachanalytischen Leitfadens. Die Konstitutionstheorie versteht die Intentionalität als eine Vorstellungsintentionalität. Sie orientiert sich dabei an der sprachlichen Leistung, ein Objekt benennen und damit unabhängig von jeder Wahrnehmungsmöglichkeit vorstellen zu können. Für die phänomenologische Feldtheorie geht es darum, eine der Wahrnehmungsintentionalität entsprechende Artikulationsform zu finden. Die Leistung einer solchen sprachlichen Bezugnahme besteht nicht etwa darin, die Wahrnehmungsgegebenheit durch die Weckung von Vorstellungsaktivität zu transzendieren, vielmehr der Wahrnehmung selbst die Bedeutung eines beharrlichen Zentrums zu verleihen, auf das sich die Rede konzentriert. Nicht in der einzelnen Aussage und direkten Aussprache, sondern in dem, was sich nur indirekt artikuliert – Form und Stil der Gesprächsführung – drückt sich das selek72

Vgl. dazu Teil C, Kap. II.

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

tive Wahrnehmungsinteresse aus in der Artikulation einer ganzen Wahrnehmungsbewegung. Ins Zentrum der Rede rückt das, worauf wir wiederholt zu sprechen kommen im Unterschied zu dem, was wir verschweigen oder nur im Vorübergehen beiläufig ansprechen. Durch die Artikulationsbewegung bildet sich hier ein thematisches Feld aus, in dem sich Hauptgedanken von Nebengedanken absondern durch eine thematische Gewichtung, die sich ergibt aus der sinnstiftenden Stellung des thematisch Erfassten in der Wiederholungsstruktur einer artikulierten Wahrnehmungsbewegung: Für das Interesse von zentraler Bedeutung ist jeweils das, wovon die Rede ausgeht und wohinein sie immer wieder mündet, während sie alles andere im Durchgang wahrnimmt und damit in thematischer Relevanzbeziehung auf den Anfang und Endpunkt der Bewegung – das thematische Zentrum – erfasst. In der periodischen Wiederholungsstruktur einer solchen Bewegung – Ausweichung und Rückkehr zu einem thematischen Zentrum – wird schließlich die philosophische Idee greifbar, einen alternativen Reflexionsbegriff der bewegungsdynamischen Organisation zu gewinnen, wo die Disposition zur Entwicklung nicht resultiert aus einem Konstitutionszusammenhang, einer Vermögensdispositionen in einem Reproduktionszusammenhang der Vorstellung, vielmehr besteht in solchen zur intentionalen Wahrnehmungsbewegung gehörenden dispositionellen Wiederholungshandlungen.73 Eine solche phänomenologische Theorie der bewegungsdynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung korrigiert die konstitutionstheoretische Begründung von Organisation in zwei entscheidenden Punkten: Die Auffassung von Selbstorganisation als einer Form von autopoietischer Selbstkonstitution macht erstens bewegungsdynamische Prozesse zu Fremdkörpern in der Systembildung, die entweder nur als auslösende, äußere Ursachen in einem ansonsten geschlossenen Reproduktionszusammenhang fungieren, auf die Organisation selbst aber keinen bestimmenden Einfluss haben oder dort, wo sie in die Organisation eindringen, letztlich nur destruktiv wirken und damit die Auf‌lösung der Systemorganisation herbeiführen. Die genetische Phänomenologie der Orientierung deckt letztlich die selektive Wahrnehmung als Bedingung für den Konstitutionszusammenhang der Erkenntnisgewinnung auf, insofern die Organisation ihre Ge73

Zur Unterscheidung von Vermögensdispositionen und dispositionellen Wieder­ holungshandlungen siehe Teil C, Kap. III, 4. Mit der Logik der Gesprächs­ führung als einer bewegungsdynamischen assoziativen Syntax beschäftigt sich Teil C, Kap. III,6.

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Einleitung

schlossenheit den bewegungsdynamischen Prozessen wesentlich mit verdankt, indem sie ein Wahrnehmungsfeld als selektives Orientierungsschema habitualisiert.74 Die zweite entscheidende Korrektur betrifft die differenztheo­ retische Auffassung der Organisation. Es ist das Verdienst der phänomenologischen Feldtheorie von Aron Gurwitsch, gezeigt zu haben, dass die Bildung des »Bewusstseinsfeldes« diakritisch relevant ist: Das organisierte Feld stellt keine alles einschließende Ordnungstotalität – keine »Totalinklusion« – dar, es hat immer eine Grenze, einen Rand zum Unorganisierten hin. Die Autopoiese-Theorie führt diese Ausrandung auf eine systeminterne Differenzbildung zurück, hervorgehend aus der Selbstreproduktion des Systems. So entsteht die Grenze von System und Umwelt auch nicht durch eine bewegungsdynamische, diakritische Entwicklung: Keinesfalls ist sie das Produkt einer suk­ zessiven und assoziativen, vielmehr einer spontanen und vergegen­ ständlichenden Synthese der Ein- und Ausgrenzung – »Inklusion« und »Exklusion« –, durch die sich ein selbstreferenzielles System als Erkenntnisobjekt ausschließlich selber konstituiert – in der informationstheoretisch begriffenenen Konstitution von Selbst- durch Fremd­ referenz.75 Die ontologischen Implikationen des Autopoiese-Begriffs zeigen sich gerade hier: Leben entsteht, wie exemplarisch Kants Kritik der Urteilskraft gegen die Theorie der Epigenesis einwendete, niemals durch bewegungsmechanische Ursachen.76 Die Fragwürdigkeit dieser systemtheoretischen Reduktion der ordnungsstiftenden Diakrisis auf eine systeminterne Differenzbildung enthüllt sich im Durchgang der Phänomenologie der Konstitution. Zur genetisch-phänomenologischen Betrachtung reproduktiver Erkennt74 Das Methodenproblem solcher selektiven Bedingungen der bewegungs­ dynamischen Organisation, welche die Konstitution fundieren, erörtert das Kapitel »Erkenntnistheorie und Phänomenologie: Die Habitualisierung und das Problem einer rezeptiven, selektiven Organisation« [Teil A, Kap. II,4]. 75 Die Selbstreferenz und Fremdreferenz ist konstruktivistisch und infor­ma­ tions­theoretisch gedacht eine operative Leistung der Systembildung. Die Aus­ grenzung einer Umwelt geschieht entsprechend allein aufgrund der Fähig­ keit eines Systems, sich als ein Komplex von Operationen selbst beobachten zu können. Genau darin – in der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung einer Systemtotalität – liegt die vergegenständlichende Leistung selbst- und fremd­ referenzieller Exklusion. Vgl. dazu GLU, Stichwort »Selbstreferenz«, S. 163 ff. 76 Vgl. dazu Teil A, Kap. I,3 »Selbsterhaltung als Selbstorganisation: Der Lebens­ begriff als konstitutionstheoretisches Paradigma von Organisation und Ent­ wicklung«.

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6) Phänomenologie der Organisation und Orientierung

nisleistungen gehört die Thematisierung von Zusammenhängen des Bewussten und des Unbewussten. Hier zeigt sich, dass die Fähigkeit zur Selbstreproduktion die Bedingung keineswegs der Aufrechterhaltung der Geschlossenheit des Konstitutionszusammenhangs ist, vielmehr seiner tendenziellen öffnenden Auf‌lösung.77 Letztlich ist es gerade nicht die Reproduktion, sondern ein restituierendes selektives Wahrnehmungsinteresse und seine Leistung der bewegungsdynamischen, diakritischen Entwicklung, welche für die Aufrechterhaltung eines geschlossenen Reproduktionszusammenhangs der Erkenntnis in der Erinnerung verantwortlich ist. Damit kommt heraus: Die Kon­ stitution stellt genetisch betrachtet gar keine autonome Form von Organisation dar, vielmehr eine heteronomisch bedingte. Die diakritische Relevanz der Organisation resultiert ursprünglich keineswegs aus einem vermeintlich autopoietisch-geschlossenen Zusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution – systemtheoretisch gesprochen einer reproduktiven Systembildung sowie der ihr zugehörigen selbstreferenziellen »Beobachtung«, also der Vermittlung einer Infor­ mation und Erkenntnis. Sie leitet sich vielmehr ab aus dem Wiederholungssinn bewegungsdynamischer Prozesse assoziativer Verdichtung und Auf‌ lösung in der erkenntnisfundierenden, umweltorientierten Wahrnehmung.

77

Vgl. dazu Teil B, Kap. III,7 »Zur Methode: Die Notwendigkeit einer anthro­polo­ gischen Fundierung der Phänomenologie der Konstitution durch eine Phäno­ menologie der Orientierung«.

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Teil A Philosophie der Entwicklung

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Kapitel I Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution 1)

Kants »mechanische Entwicklung«: Die konstitutions­ theoretische, analogische Bestimmung der diakritischen Entwicklung

Die philosophische Konzeption einer bewegungsdynamischen, dia­ kritischen Entwicklung taucht erstmals explizit auf beim vorkritischen Kant, in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755. Schon der volle Titel1 verrät die zugrunde liegende methodische Konstellation: Kants Schrift nimmt einerseits die atomistische Erklärung der Weltbildung auf. Die Entstehung des Planetensystems erkennt sie von daher vorbehaltlos an als das Produkt von rein mechanischen Ursachen. Dass eine solche Rehabilitierung des antiken Atomismus auf neuzeitlichem Boden überhaupt geschehen kann, verdankt die Philosophie letztlich der modernen Naturwissenschaft durch die nunmehr mögliche Verbindung der atomistisch-mechanistischen Auslegung des Werdens mit Newtons Gravitationstheorie.2 Wird die Bewegung der Atome nämlich von Kräften der Gravitation beherrscht, dann liegt darin der Hinweis auf eine in der bewegungsdynamischen Kausalität verborgene innere Gesetzmäßigkeit. Die mechanistische Welterklärung verliert so endlich den Makel des Gesetzlosen und Unwissenschaftlichen, der ihr seit der Antike anhaftet. An die Stelle der Zufälligkeit und Kontingenz der beanspruchten mechanischen Ursachen entstehender und vergehender assoziativer Verbindungen tritt nunmehr eine gesetzmäßig geordnete naturgeschichtliche Entwick1

2

»Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt.« [Kant 1755] »Ich werde es also nicht in Abrede stellen, dass die Theorie des Lukrez oder dessen Vorgängers des Epikurs, Leukipps, und Democritus mit der meinigen viele Ähnlichkeit habe […]. Epikur setzte eine Schwere, die diese elementarische Teilchen zum Sinken trieb, und dieses scheinet von der Newtonschen Anziehung die ich annehme nicht sehr verschieden zu sein […].« [Kant 1755, A XXIV] Der Überlieferung zufolge fügte Epikur zu den Grundeigenschaften der Atome die Schwere hinzu, während Demokrit lehrte, dass die »Urkörper« keine Schwere haben [Aetius I,3, S. 18 (68 A 47), sowie 12, 6, siehe Capelle, S. 403].

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lung: Die »Hervorbringungen [der Natur, d. Verf.] sind nicht mehr Wirkungen des Ohngefähr und des Zufalls […], weil sie lauter Züge aus dem allerweisesten Entwurfe sein, aus dem die Unordnung verbannet ist. Nicht der ungefähre Zusammenlauf der Atomen des Lukrez hat die Welt gebildet: eingepflanzte Kräfte und Gesetze, die den weisesten Verstand zur Quelle haben, sind ein unwandelbarer Ursprung derjenigen Ordnung gewesen, die aus ihnen nicht von ohngefähr, sondern notwendig abfließen musste.« [Kant 1755, A 148] Darauf stützt der Philosoph seine Überzeugung, dass »die Art der mechanischen Erzeugung« eine vollständig genügende Naturerklärung liefert, insofern die Welt erkennbar »eine mechanische Entwicklung, aus den allgemeinen Naturgesetzen, zum Ursprunge ihrer Verfassung« habe [ebd., A 149]. Diese Konzeption einer »mechanischen Entwicklung« verfolgt ganz offen den apologetischen Zweck, die Autonomie der naturwissenschaftlichen, mechanistischen Welterklärung den Ansprüchen der Metaphysik und Theologie gegenüber zu sichern. Die theologisch-­ metaphysische Weltdeutung betont die Sinnhaftigkeit der göttlichen Schöpfung und von daher ihren Ordnungscharakter, das »Systematische, welches die großen Glieder der Schöpfung in dem ganzen Umfange der Unendlichkeit verbindet« [Kant 1755, A IX]. Die naturwissenschaftliche Erklärung bedarf nun keineswegs einer transzendenten Ursache, um die Entstehung von Systemen zu erklären, »wenn die blinde Mechanik der Naturkräfte sich aus dem Chaos so herrlich zu entwickeln weiß« [ebd. 1755, A XII]. Dieses Entwicklungssinnes bewegungsdynamischer Prozesse wegen erscheint heidnisches, mechanistisches Denken schließlich im Einklang mit dem teleologischen Weltbild der christlichen Schöpfungsmetaphysik. Denn eine solche, sich ausschließlich mechanisch entwickelnde »Natur ist sich selbst genügsam, die göttliche Regierung ist unnötig; Epikur lebt mitten im Christentume wieder auf, und eine unheilige Weltweisheit tritt den Glauben unter die Füße, welcher ihr ein helles Licht darreichet, sie zu erleuchten.« [Ebd.] Die Einführung einer Entwicklungsteleologie in die mechanistische Welterklärung bedeutet zunächst eine philosophische Zumutung, die Kant auch unumwunden ausspricht.3 Letztlich ist die Frage, ob 3

»Diese unerwartete Auswickelung der Ordnung der Natur im Großen wird mir anfänglich verdächtig […]. Ich belehre mich endlich […], dass eine solche Auswickelung der Natur nicht Unerhörtes an ihr ist […].« [Kant 1755, A XXIII]

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

diese Konzeption der mechanischen Entwicklung mehr bedeutet als eine bloße Analogie zum Konstitutionsbegriff der Entwicklung. Kant hält ausdrücklich am Form-Stoff-Dualismus der Substanzontologie fest. Demnach betrifft die »mechanische Entwicklung« nur die »unorganisierte« Natur4, indem sie sich auf die Materie und ihre wirkenden Kräfte bezieht, nicht aber auch auf die Formprinzipien erstreckt. Bewegungsdynamische Prozesse haben demnach zwar eine Ordnungs-, aber keine Organisationsfunktion im originären Sinne. Zwar bringt auch »eine blinde Natur anständige Folgen hervor« [Kant 1755, A XX] – d. h. die Ordnung als das Telos des Entwicklungsprozesses im ganzen dominiert gegenüber der Unordnung – doch ist diese Ordnung nicht als eine Formursache und damit ein Konstitutionsprinzip vorgegeben. Ihrer emanzipatorischen, naturwissenschaftlichen Orientierung zum Trotz bleibt auch die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels der Substanzontologie und ihrem am ontologischen Leitfaden der Herstellung eines Gegenstandes gewonnenen Konstitutionsbegriffs von Organisation und Entwicklung verpflichtet. Den Konstitutionsbegriff der Organisation hat exemplarisch für die philosophische Tradition Aristoteles mit seiner Kritik des Atomis­ mus vorgegeben. Der Ausgangspunkt ist Anaxagoras’ Gedanke eines ordnenden Geistes (griech. νοῦς, nous), der nicht in die bewegungsdynamischen Prozesse des Entstehens und Vergehens verwickelt ist, sondern als eine Ordnungsinstanz von außen in diese eingreift. Anaxagoras geht wie die Atomisten von der Bewegung aus als Ursache des Entstehens und Vergehens, welches nicht aus dem Nichts geschieht, vielmehr besteht in der Entmischung eines Urzustandes der Mischung von Teilchen5, den »Homöomerien«.6 Die von der Bewegung 4

5

6

»Die ganze Natur, vornehmlich die unorganisierte, ist voll von solchen Beweisen, die zu erkennen geben, dass die sich selbst durch die Mechanik ihrer Kräfte bestimmende Materie eine gewisse Richtigkeit in ihren Folgen habe und den Regeln der Wohlanständigkeit ungezwungen genug tue.« [Kant 1755, A XX] »Vom Entstehen und Vergehen aber haben die Hellenen keine richtige Meinung. Denn kein Ding entsteht und vergeht, sondern aus vorhandenen Dingen mischt es sich und es scheidet sich wieder.« [Anaxagoras, Fragm. 17] Anaxagoras vermutete, »dass auch sämtliche Dinge zusammengemischt seien, bevor sie sich voneinander gesondert hätten. Daher begann er auch seine Schrift folgendermaßen: ›Ursprünglich waren alle Stoffe zusammen‹ (fr. 1 Anfang)« [Aetius, I,3, 5, zit. nach Capelle, S. 266]. »Anaxagoras […] erklärte als Prinzipien (Urstoffe) der Dinge die ›Homöome­ rien‹.« [Aetius, I,3, 5, zit. nach Capelle, S. 264]

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verursachte absondernde Ausscheidung (griech. δίακρισις, diakrisis) allein macht nach Anaxagoras jedoch nicht verständlich, inwiefern aus ungeordneten geordnete Verbindungen entstehen können. Dazu ist es erforderlich, einen Doppelsinn von Diakrisis zu unterscheiden: »Vollständig aber scheidet sich nichts ab oder auseinander, das eine vom anderen, nur der νοῦς.« [Anaxagoras, Fragm. 12] Wenn sich also allein der Nous aus der Teilchenbewegung vollständig abscheidet, dann liegt darin der deutliche Hinweis, dass er anders als die unvollständige Aussonderung entstehender Verbindungen von Teilchen nicht etwa aus der Bewegung hervorgeht, sie vielmehr von außen in Gang setzt. Nach Anaxagoras stößt der Nous seinerseits die Bewegung an und schafft so eine Ordnung der Sukzession in der kontinuierlichen Folge von Abscheidungen.7 Die Ordnung ist somit kein Moment des an sich ungeordneten bewegungsdynamischen Kontinuums. Zu dieser Annahme eines bewegungsdynamisch unentstandenen Ordners hat Anaxagoras offenbar der für die Ordnungsvorstellung überhaupt entscheidende Gedanke gebracht, dass Ordnungen nicht nur normative, sondern auch universell geltende Maßstäbe verkörpern. Sie sind – im Unterschied zu der das Werden direkt verursachenden Bewegung – in ihrer Wirkung nicht lokal begrenzt, sondern im Prinzip unbegrenzt, erfassen damit immer das Ganze. Die exterritoriale Diakrisis des souverän über dem Weltgeschehen herrschenden Nous, der sich mit dem Werdenden an keiner Stelle vermischt, macht es letztlich möglich, dass er wirklich alles und überall zu ordnen vermag.8 7

8

So gibt Cicero (Academica priora II,118) die Lehre des Anaxagoras wieder: »Anaxagoras erklärt die Materie als unbegrenzt; es gäbe aber von dieser ganz kleine unter sich ähnliche Teilchen. Diese seien ursprünglich wirr durch­ einander gemischt gewesen und dann durch den göttlichen Geist geordnet worden. […] Auch über die gesamte Wirbelbewegung hat der Geist die Gewalt, so dass sie am Anfang herumzukreisen begann. […] Und wie alles werden sollte und wie alles war (was jetzt nicht mehr vorhanden ist) und wie es jetzt ist, das alles ordnete der Geist an, auch diese Wirbelbewegung, die jetzt die Sterne und Sonne und Mond vollführen, wie auch die Luft und der Äther, die sich ausscheiden. Eben diese Wirbelbewegung bewirkte ihre Ausscheidung.« [Zit. nach Capelle, S. 269 f] Der Gedanke, dass sich die Folge der Ausscheidungen nach einer Ordnung der Sukzession vollzieht, findet sich im Kommentar des Simplicius: Anaxagoras »sah, dass jedes aus jedem wird, wenn auch nicht unvermittelt, sondern in einer bestimmten Reihenfolge« [Simplicius, zit. nach Capelle, S. 265]. Das wird wiederum bei Cicero deutlich: »Die anderen Dinge haben an jedem (Stoff) Anteil; der Geist aber ist etwas Unendliches und Selbstherrliches, und er ist mit keinem Dinge vermischt; denn wenn er nicht für sich (allein),

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

An Anaxagoras’ Gedanken einer aus der Teilchenbewegung nicht ableitbaren Ordnungsinstanz knüpft nun ausdrücklich Aristoteles in seiner Physikvorlesung an. Für ihn wird Anaxagoras zum Gewährsmann einer notwendigen substanzontologischen Interpretation des Werdens. Anaxagoras meine zwar philosophisch das Richtige, wenn auch ohne Einsicht in den wahren Sachverhalt [vgl. Aristoteles 1987, Phys. I 188 a5 ff]. Er habe zwar die Selbständigkeit des Nous erkannt, ohne den keine Mischungen und Entmischungen von Elementarzuständen existieren, jedoch nicht begriffen, dass es Werden und Bewegung nicht geben könne ohne ein werdendes Etwas [ebd., 188 b7 ff]. Der Nous erfasst nach Aristoteles die unveränderliche Substanz, die allen veränderlichen Zustandsveränderungen als ein Träger (griech. ὑποκείμενον, hypokeimenon) zugrunde liegt. Durch diese substanzontologische Auslegung wird das Problem der Ordnung und Organisation von der bewegungsdynamischen Diakrisis schließlich vollständig entkoppelt. Der Oberbegriff, von dem Aristoteles’ Bestimmung des Werdenden und Veränderlichen ausgeht, ist der der μεταβολή (metabole), des Umschlags gegensätzlicher Zustände des Seienden ineinander. Gemäß der kategorial vielfältigen Bedeutung des Seins9 wird diese allgemeine Charakterisierung weiter differenziert [Aristoteles 1987, Phys. V, 224 a 21 ff], vor allem durch die Unterscheidung von Substanz und Akzidens.10 Im Falle substanzieller und nicht bloß akzidenteller Veränderung11 lassen sich wiederum zwei Formen des Umschlags abheben, einmal die mit einer qualitativen Eigenschaftsveränderung verbundene Bewegung sowie das Entstehen und Vergehen [griech. γένεσις sondern mit irgend etwas anderem vermischt wäre, dann hätte er an allen Dingen Anteil, wenn er nämlich mit etwas vermischt wäre. Denn in jedem Dinge ist ein Teil von jedem enthalten, wie ich vorhin ausgeführt habe. Und es würden ihn die mit ihm vermischten Stoffe (nur) hindern, so dass er über kein Ding in derselben Weise herrschte, wie wenn er allein für sich wäre.« [Zit. nach Capelle, S. 270] 9 Das τὀ ὂν λέγεται πολλαχώς [Aristoteles 1970, Met. IV, 1003 a 33] bildet die Grundlage der aristotelischen Logik und Ontologie. 10 Neben dem substanziellen und akzidentellen Umschlag analysiert Aristoteles noch eine dritte Form, die akzidentelle Veränderung mittels Teilen substan­ zieller Bestimmung wie die Gesundung des ganzen Körpers, weil Auge und Brust das tun [Aristoteles 1987, Phys. V, 225 a 35 f]. 11 Mit dem substanziellen Wandel in weitester Bedeutung ist ein solcher des ὑποκείμενον gemeint, also dessen, was im logisch-kategorialen Sinne Substrat der Aussage ist. Die οῦσία im Sinne der Formbestimmung unterliegt natürlich keinerlei Bewegung und eigenschaftlicher Veränderung.

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1) Kants »mechanische Entwicklung«

und φθορά] der Substanzen. Für den Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung erweist sich vor allem diese kategoriale Differenz von Bewegung (κίνησις, kinesis) und Entstehung (γένεσις, genesis) als entscheidend. Die substanzielle Eigenschaftsveränderung bekundet ihren Vollzugscharakter der Bewegung zunächst dadurch, dass sie den Sinn eines zielgerichteten Werdens hat, wo der Umschlag durch zwei Zustände und Substrate abschließend markiert ist, die Ausgang und Ziel eines Prozesses bilden: Jede μεταβολή (metabole) erfolgt hier aus etwas zu etwas hin [Aristoteles 1987, Phys. V, 225 a 35 f]. Den Charakter wirksamer Bewegungstätigkeit unterstreicht, dass eigenschaftliches Werden einen »Weg« zurücklegt, indem es nämlich zwischen den Extremen des Umschlags der Gegensätze eine sukzessive Reihe von Mittelzuständen durchläuft. So geschieht der Umschlag von Schwarz in Weiß durch ein Kontinuum von Grauwerten, der Wechsel der hohen und tiefen Stimmlage beim melodischen Singen mit Hilfe gestufter Mitteltöne [ebd., V, 224 b 31 ff]. Das Werden im Sinne substanzieller Eigenschaftsveränderung zeichnet demnach seine der Bewegungstätigkeit geschuldete Geschlossenheit aus, gegeben einmal durch die Festsetzung von Anfang und Ende sowie die sukzessive Kontinuität von Phasen und Stufen. Letztlich ist es das Fehlen eines solchen geschlossenen Vollzugs, welcher Aristoteles dazu nötigt, γένεσις (genesis) und φθορά (phtora), als der zweiten kategorialen Gestalt der substanziellen μεταβολή den Charakter der Bewegung und eigenschaftlichen Veränderung von vornherein abzusprechen. Das Entstehen oder Vergehen stellt vor allem keine durch den Umschlag einer substanziellen Eigenschaft in eine andere abgeschlossene Vollzugstätigkeit dar. Als der Umschlag eines Nicht-Zugrunde-Liegenden in ein Zugrunde-Liegendes oder Zu­ grunde-­Liegenden in ein Nicht-Zugrunde-Liegendes bleibt es entweder nach der Seite der Herkunft oder derjenigen des Ziels der Bewegung unbestimmt offen [Aristoteles 1987, Phys. V, 224 b 7 f, 225 a 12 ff]. Dem Entstehen und Vergehen haftet somit etwas Utopisches an, weil es von nirgendwoher zu kommen und nirgendwohin zu gehen scheint.12 Aristoteles hilft hier einmal seine gegenständliche Auslegung jeglichen Wandels [griech. μεταβολή], wonach dieser immer 12

Aristoteles 1987, Phys. V, 225 a 31 f. Wie auch das εἶδος unterliegen die in­ein­­ ander umschlagenden Grenzzustände (πάθη) kontinuierlicher Eigen­schafts­ veränderung, sowie der Ort (τόπος), von woher und wohin sich die Bewegung erstreckend ausrichtet, keinerlei Bewegung [224 b 10 ff], sondern transzendieren diese als bleibender Ordnungs- und Orientierungsrahmen. Im Falle des

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

nur an einer beharrenden Substanz stattfinden kann. Der sprachliche λόγος (logos) mit seiner Struktur des »Etwas als etwas«-Aussagens13 bedeutet: Als veränderlichen Zustand sprechen wir nicht etwa die Weißfarbigkeit als solche an, sondern vielmehr die Weißfärbung eines Dinges als ὑποκείμενον (hypokeimenon) [Aristoteles 1987, Phys. V, 224 b 13 ff]. Was für die substanzielle Eigenschaftsveränderung gilt, die Bezeichnung eines Zustandes der Bewegung durch ihren Gegenstand, muss nun auch für die γένεσις (genesis) Bestand haben: Der gegenständliche Träger des Wandels darf nicht mit ihm entstehen, dann wäre das Werden gleichbedeutend mit einer Schöpfung aus dem Nichts. Ein derartiges Skandalon würde entstehen, wäre die γένεσις einem Bewegungsvollzug im Sinne einer bloßen Eigenschaftsveränderung einer unveränderlichen Substanz gleichbedeutend, denn ihrer utopischen Offenheit wegen könnte sie nicht als ein kontinuierlicher Wandel, in dem sich der Umschlag einer substanziellen Befindlichkeit in ihren Gegensatz vollzieht, gedeutet werden. Nur wenn sich ein beharrendes Substrat auch für das Entstehen und Vergehen einer Sub­ stanz auf‌finden lässt, die sich von der Eigenschaftsveränderung in der Bewegung unterscheidet, lässt sich dieses überhaupt als eine geschlossene Vollzugseinheit denken. Nicht so sehr vom Woher, sondern vom Wohin der Bewegung erhält das Werdende vorrangig Gestalt und Namen [Aristoteles 1987, Phys. V, 224 b 7 f], weil die intentional-teleologische Ausrichtung es ist, welche den Bezug auf das formgebende εῖδος (eidos) enthält. Nun scheint die utopische Bewegung des Entstehens und Vergehens einer wirksamen Teleologie überhaupt zu ermangeln, weil sie entweder aus einem Nicht-Zugrunde-Liegenden hervorgehend den eidetischen Bezug gar nicht realisiert oder aber ein gegebenes τέλος (telos) im Laufe des Werdensprozesses verliert. In beiden Fällen, dem Entstehen wie dem Vergehen, kann das εῖδος offenbar weder als Ordnungs- noch als Erhaltungskonstante innerhalb der Bewegung fungieren. Deshalb muss Aristoteles der Sache nach auf seine Unterscheidung einer ersten und zweiten οὐσία (ousia) wie sie in der Kategorienschrift entfaltet Vergehens etwa, das einen Umschlag zum Nichtsein hin vollzieht [224 b 8 f], bleibt der zielgebende τόπος leer. 13 Griech. τὶ κατὰ τινός. Ernst Tugendhat in seiner Dissertation Tí kata tinós. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, den überzeugenden Versuch unternommen, die Struktur des »Etwas von etwas«Aussagens »als das Ursprungsfeld der Grundbegriffe der aristotelischen Meta­ physik zu enthüllen« [Tugendhat, S. 6].

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1) Kants »mechanische Entwicklung«

ist, zurückgreifen. Im strengen Sinne können nur Dinge – individuelle gegenständliche Substanzen – vom Werden ergriffen sein [Aristoteles 1987, Phys. I, 190 a 31 ff]. Die κίνησις (kinesis) spielt sich nicht am εῖδος selbst ab, vielmehr an dem Zugrunde-Liegenden, was sich wirklich verändern kann [ebd., Phys. V, 224 b 25 f]. Diesen Gedanken begünstigt nicht zuletzt die substanz­ontologische Deutung des Werdens am Modell der ποίησις (poiesis), des ein Werk (griech. ἔργον, ergon) hervorbringenden Herstellens14, in der möglichen Absonderung einerseits der Organisation als der im Prinzip unveränderlichen Konstitutionsbestimmung des Werdenden von der veränderlichen Bewegung andererseits, eine ontologische Distinktion, die sich bei Aristoteles auch terminologisch niederschlägt in der Unterscheidung der vollendenden Entwicklung (griech. τελειώσις, teleiosis) von der Veränderung (griech. α̉λλοιώσις, alloiosis) [ebd., Phys. VII, 246 b 23 2 f]. Der Herstellungsvorgang verändert das substanzielle εῖδος nicht; es geht als eine Formkonstante lediglich über von der Idee in die Wirklichkeit. Indem sich die ideale Form in der Hervorbringung eines Werks vergegenständlicht, tritt sie an einem konkreten Ding schließlich in Erscheinung als dessen inneres Organisationsprinzip. Die »Konstitution«, gedacht als Form werktätigen Herstellens, ist demnach der wesentliche Aspekt der Organisation in der Hervorbringung eines Gegenstandes. Was sich in der Vergegenständlichung konstituiert, ist eine Ordnung, welche als diejenige den Prozess des Herstellens leitende Idee freilich immer schon vorgegeben ist und in der konstituierenden Vergegenständlichung, die im Wesentlichen in der Formung der ungeformten Materie besteht, als ein Organisationsprinzip lediglich wirksam wird. Die Organisation als herstellende Ursache einer konstituierenden Entwicklung zeigt sich im Prozess des Herstellens in seiner intentionalen Teleologie, der Präformation, und sie wird schließlich sichtbar im vollendenden Abschluss des Herstellungsprozesses, der Fertigstellung einer gegenständlichen Einheit, eines Werks in Gestalt des individuellen Einzeldinges, wo schließlich die Form die Materie vollständig durchdringt. Aristoteles spricht davon, dass die Materie beim fertigen Ding durch das εῖδος systematisch »durchgestaltet«, 14

Darauf, dass die Grundbegriffe der Metaphysik ein vorontologisches Seins­ verständnis voraussetzen, welches sich am Leitfaden des Herstellens orien­ tiert, hat Martin Heidegger aufmerksam gemacht [vgl. dazu etwa Heidegger, GA 24, S. 149 ff]. Auf die aristotelische Auslegung der φύσις als ein Herstellen weist Heidegger in Die Technik und die Kehre hin [Heidegger 1985, S. 11].

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»rhythmisiert«15 wird. Die Organisation in Form eines solchen Herstellungsprozesses verändert also die subszantiellen Formen nicht oder lässt sie gar kausalgenetisch entstehen. Nach Aristoteles wäre es geradezu lächerlich, würde die philosophische Aussage das organisierende Herstellen als eine Form der bewegungsdynamischen Eigenschaftsveränderung begreifen. Der Hausbau ist keine Gestalt veränderlichen Werdens, keine ἀλλοιώσις, sondern eine τελειώσις. Wenn die Handwerker den Dachstuhl aufsetzen, wird das Gebäude ganz einfach fertig [Aristoteles 1987, Phys. VII (Zweitfassung), 246 a 25 ff]. Damit sind letztlich die Grundlagen gelegt für den die philosophische Tradition beherrschenden Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung. Konstitutive Eigenschaften haben den Charakter von Wesensbestimmungen, die nicht vermehrt oder vermindert werden können. Deshalb wäre es beispielsweise unsinnig zu sagen, der Mensch werde mehr oder weniger Mensch wie ein Weißes mehr oder weniger Weiß oder ein Schönes mehr oder weniger schön aus­ sehen kann [Aristoteles 1974, Kat. S. 3 b]. Die konstitutive Unveränderlichkeit eignet vor allem der als Konstitutionsprinzip wirksamen substanziellen Formbestimmung, dem εἵδος als der zweiten οὐσία. Demgegenüber fungiert die erste οὐσία, das aus Form und Stoff zusammengesetzte individuelle Wesen, als das ὐποκείμενον von Wandel und Werden [Aristoteles 1987, Phys. I, 192 a 22], sowohl im Sinne der Bewegung und Veränderung als auch der unveränderlichen konstituierenden Entwicklung. Die Unveränderlichkeit der Konstitutionsbestimmung stützt letztlich das substanzontologische Fundament, wonach das Entstehen und Vergehen nicht atomistisch gedacht wird als die Hervorbringung eines Seienden durch die Bewegung – die Synthese und Auf‌lösung einer Verbindung –, sondern substanzontologisch als ein Wandel lediglich der Seinsmodalität eines gegenständlich Gegebenen außerhalb der Reichweite veränderlicher bewegungsdynamischer Prozesse begriffen wird. Als die Erhaltungsprinzipien des Werdens nimmt Aristoteles’ Physik – folgenreich für die Tradition europäischen Entwicklungsdenkens – substanzielle Formen, d. h. die Ord­ nungen in Anspruch, die demnach niemals kausalgenetisch in bewe15 Griech. ῥυθμιζόμενον (rhythmizomenon) [Aristoteles 1987, Phys. VII, 245 b 9]. Dieser aristotelische Konstitutionsbegriff der Organisation bestimmt auch Hegels klassizistisches Ideal der lebendigen Schönheit als individueller Gestalt, deren »durchgreifende Lebendigkeit« darin zum Vorschein kommt, dass die Form ihren Stoff »vollständig durchgearbeitet« hat [Hegel 1971, S. 256].

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gungsdynamischen Prozessen entstehen, sondern als präformierende, bleibende Organisationsprinzipien des Werdens diesem selbst enthoben sind. Das Entstehen und Vergehen als ein reziproker Umschlag vom Nichts ins Sein und Sein ins Nichts bezieht sich auf die konkreten, vergänglichen Dinge, deren Einheit von Form und Stoff solchen in der Erfahrung gegenwärtigen Prozessen des Aufbaus und des Zerfalls unterliegt. Was für die Form-Stoff-Einheit gilt, kann aber nicht auch auf die substanzielle Form übertragen werden: das εἶδος selbst ist dem Entstehen und Vergehen nicht unterworfen [Aristoteles 1987, Phys. V, 225 b 10 ff]. Als ein im Prinzip »ewiges« Vermögen [Aristoteles 1970, Met. IX, 1049 b], das sich nur immer wieder neu verwirklicht, fungiert es als Substrat für das Entstehen und Vergehen der Dinge, das damit seinen utopischen Charakter einer Schöpfung aus dem Nichts verliert. Die aristotelische Auslegung des Werdens als eines Herstellens (ποίησις, poiesis) durch die Analogie von Möglichkeit (δύναμις, dyna­ mis) und Wirklichkeit (ε̉νέργεια, energeia) prägt zwar den Konstitutionsbegriff der Entwicklung nicht vollständig aus, legt jedoch dessen wesentliche ontologische Fundamente. Die Entwicklung einer substanziellen Einheit, eines Dinges, ist letztlich keine Schöpfung aus dem Nichts, insofern sich die Organisation auf eine Ordnung stützt, die als eine den Entwicklungsprozess im Ganzen teleologisch präformierende Disposition immer schon vorgegeben ist. Wenn auch die individuellen Dinge vergänglich sind, so gewährleistet doch die Generativität – die Reproduktion des εἶδος als der allgemeinen Gattungsbestimmung – dass die Ordnung als ein dispositionelles, substanzielles »Vermögen« der Organisation im Entstehen und Vergehen erhalten bleibt. Dieser aristotelische Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung erweitert sich nun lediglich zur Vorstellung der individuellen Entwicklung im Sinne einer sich ausschließlich selbst entfaltenden Substanz, wenn die akzidentellen Eigenschaften schließlich als solche der Substanz inhärierenden Bestimmungen aufgefasst werden, wie dies im wesentlichen durch das neuplatonisch geprägte Entwicklungsdenken geschieht: Die Organisation wird nun explizit als ein Entwicklungsproblem gefasst im Sinne der explicatio einer complicatio.16 16

Dass die »Entwicklung« unstreitbar eine originär neuplatonische Begriffs­ prägung ist (vgl. dazu den Artikel »Entwicklung« in HWPh, Bd. 2, S. 550), darf deshalb nicht dazu führen, die konstitutive Rolle der aristotelischen Physik für den Prozess der Begriffsbildung zu vernachlässigen.

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Kant spricht in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von der »Auswickelung der Ordnung der Natur im Großen« [Kant 1755, A XXIII]. Der Entwicklungssinn mechanisch wirkender, bewegungsdynamischer Prozesse wird so als eine complicatio und explicatio begriffen und damit die »mechanische« einer konstituierenden Entwicklung analog bestimmt.17 Worauf stützt sich nun diese Analogie? Eine eidetische Präformation kann für solche die Materie betreffenden kausalgenetischen Entwicklungen nicht unterstellt werden. Den Urzustand der »mechanischen Entwicklung« bildet das völlig ungeordnete Chaos, aus dem heraus sich die Ordnung entwickelt.18 Die Bewegung der Atome enthält demnach keine präformierende Ordnung, die als eine substanzielle Entwicklungseinheit den Werdensprozess im Ganzen regulieren würde. Gleichwohl findet Kant ein Analogon für eine Präformation auch dieser bewegungsdynamischen Entwicklung durch eine Ordnung. Es ergibt sich demnach eine Analogie zur Herstellung eines Werks und seiner Form der konstituierenden Vergegenständlichung in doppelter Hinsicht: Bewegungsdynamische Prozesse bringen ein schönes Werk hervor. Es entstehen »schöne Verbindungen« nach dem »Plane der Vollkommenheit« [ebd., A XXVII], d. h. die Bewegungsmechanik impliziert eine intentionale Zweckbestimmung der konstituierenden, vollendenden Entwicklung, eine τελειώσις, die gleichsam ablesbar ist an der Entstehung schön geordneter Systeme, der vollkommenen Ersetzung des ungeordneten durch einen geordneten Zustand der Materie.19 Die andere Seite der Analogie ist, dass die Ordnung als Werk der mechanischen Entwicklung nicht zufällig zustande kommt, sondern eine Ordnungsdisposition voraussetzt. Diese besteht zwar nicht in einer Formursache und substanziellen Entwick17

18 19

Kant betont ausdrücklich die Analogie einer vervollkommnenden, geordneten Entwicklung in Hinblick auf Materie und Geist. Kant bemerkt die »Analogie: daß die Vollkommenheit der Geisterwelt sowohl, als in der materialistischen […] wachse und fortschreite« [Kant 1755, A 189 f]. Es zeigt sich naturgeschichtlich, dass die Dinge »wesentliche Verwandtschaften haben […], die Wechselwirkung der Elemente zur Schönheit der materialistischen und doch auch zugleich zu den Vorteilen der Geisterwelt, und dass überhaupt die einzelnen Naturen der Dinge […] ein System ausmachen […]; man wird auch alsbald inne werden, dass die Verwandtschaft ihnen von der Gemeinschaft des Ursprungs eigen ist« [ebd., A 190]. Die Natur vermag es »sich aus dem Chaos in eine regelmäßige Ordnung und in ein geschicktes System zu setzen« [Kant 1755, A 125]. Mit Blick auf die Materie und ihre Atombewegungen heißt es: »Ich sehe in ihrer gänzlichen Auf‌lösung und Zerstreuung ein schönes und ordentliches Ganze sich ganz natürlich daraus entwickeln.« [Kant 1755, A XXVII]

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lungseinheit, jedoch kann die Wirkungsweise der »wüsten Materie« »auf einige wenige leichte und allgemeine Bewegungsgesetze« [ebd., A XXX] wie die Attraktion und Repulsion zurückgeführt werden. Damit entsteht allerdings die Frage, auf welches fundamentum in re sich diese Analogie von mechanischer Kausalität und teleologischer Entwicklung stützen kann. Auch die scheinbar blind mechanistische Entstehung von Systemen ist offenbar nicht teleologisch voraussetzungslos. Ordnung entsteht hier zwar aus dem Chaos, doch bedeutet dies keine paradoxe Schöpfung aus dem Nichts, insofern in der ungeordneten Materie in Gestalt ihrer Bewegungsgesetze die Dis­ position für die Entwicklung geordneter Systeme aufgehoben ist. Die Ent­deckung der neuzeitlichen Naturwissenschaft, dass die Atombewegung nicht vom Zufall, sondern von kausalen Gesetzmäßigkeiten regiert wird, reicht jedoch für die Verankerung einer Entwicklungsteleologie in der Bewegungsmechanik nicht wirklich aus. Dafür ist mit Blick auf die bewegungsdynamischen Prozesse der Nachweis eines wirklich notwendigen und nicht bloß zufälligen Zusammenhangs zwischen den Naturgesetzen der Bewegung und der Systembildung erforderlich. Wodurch ist gewährleistet, dass die mechanische Entstehung geordneter Systeme nicht etwa nur die naturgeschichtliche Ausnahme, sondern die Regel bildet, sodass sie dann analogisch so interpretiert werden kann, als ob ihr eine teleologische Präformation zugrunde läge? Die Antwort liegt in dem Gesetzeszusammenhang zwischen der in der Bewegung wirksamen Gravitation und der sich durch sie vollziehenden homogenisierenden Verdichtung der Materie. Die Entstehung der Planetensysteme zeigt, dass sich die Ordnung statistisch proportio­ nal zur Sonderung verschiedener Dichtegrade der Materie verhält.20 Dabei wird deutlich, dass die ordnende Leistung der bewegungsdynamischen Verdichtung auf einer Diakrisis beruht, der Auf‌lösung der zunächst ungeordneten Mischung der Elemente durch ihre entmischende Aussonderung an einem bestimmten Ort: Den Mittelpunkt des Planetensystems bilden die weniger homogenen und dichten, die Peripherie solche Verbindungen höheren Dichtegrades: Der »nächste oder die nächsten zu dem Mittelpunkt umlaufenden Himmelskörper« entstehen durch »eine Aussonderung dichterer Sorten«, wogegen »der 20

Die Problematik entfaltet Kant im zweiten Hauptstück, das überschrieben ist Von der verschiedenen Dichtigkeit der Planteten und dem Verhältnisse ihrer Massen [Kant 1755, A 38 ff]. »Es ist also eine Art eines statistischen Gesetzes, welches den Materien des Weltraumes ihre Höhen, nach dem verkehrten Verhältnisse der Dichtigkeit, bestimmet.« [Ebd., A 40]

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Zentralkörper aber eine Mischung von allen ohne Unterschied in sich fasset« [Kant 1755, A 43]. Den Zusammenhang einerseits zwischen der Verdichtung und Auf‌lösung, der Verbindung unverbundener Elemente zu assoziativen Komplexen und ihrem Zerfall, und andererseits einer abscheidenden Diakrisis zu betonen gehört zum Traditionsbestand des Atomismus. So resümiert Aristoteles die atomistische Lehre: »Verdichtung (πύκνωσις, pyknosis) und Auf‌lösung (μάνωσις, manosis) sind ein Vermischen (σύγρισις, synkrisis) und Aussondern (δίακρισις, diakrisis), wonach man vom Entstehen (γένεσις, genesis) und Vergehen (φθορά, phtora) der Dinge redet.« [Aristoteles 1987, Phys. VIII, 260 b 1021] Im Lichte von Newton und seiner Gravitationstheorie verliert nun diejenige, die Verdichtung und Aussonderung verursachende Atombewegung ihre Kontingenz eines unerklärlichen Faktums durch eine kausalgenetischen Erklärung: Die gravitierenden Kräfte versetzen die zunächst im Raum zerstreuten, annähernd gleichmäßig verteilten Massen mehr und mehr vom Zustand der Ruhe in den der entwickelnden und ordnenden Bewegung.22 Die analoge Bestimmung der bewegungsdynamischen Kausalität als eine Form der konstituierenden Entwicklung stützt sich also auf die diakritische Funktion der Verdichtung. Es sieht so aus, dass die Entstehung geordneter Systeme einer kausalgenetisch fundierten Bewegungsintention folgt, die darin besteht, die Elemente nicht nur assoziativ zu verdichten, sondern durch die gravitierende Bewegung die Ordnung von der Unordnung aus- und abzusondern. Die mechanische Entwicklung ist damit eine diakritische Entwicklung, doch sind einer solchen Konzeption durch ihre analoge, konstitutionstheoretische Bestimmung unüberschreitbare methodische Grenzen gesetzt. Die Analogie legt unverrückbar fest, dass die diakritische Entwicklung eine 21 22

Vom Verf. veränderte Übers. von H. G. Zekl. Mit Newton folgert Kant, dass die Materie anfänglich »in dem Raume des planetischen Systems ausgebreitet gewesen sein, und in diesem Zustande sich in Bewegungen versetztet haben« müsse [Kant 1755, A 158]. Dieser Be­ wegungsimpuls bleibt in der sich daran anschließenden ordnenden Ver­ dichtung erhalten, als sich die Massen »in besondere Klumpen vereinigten, und die Himmelskörper bildeten, welche alle den ehemals zerstreuten Stoff der Weltmaterie in sich fassen. Man ist hiebei nicht lange in Verlegenheit, das Triebwerk zu entdecken, welches diesen Stoff der sich bildenden Natur in Bewegung gesetzt haben möge« [ebd., A 159]. Dieses ist »die Kraft der Anziehung« als »Quelle derselben«, »welche der Materie wesentlich bei­ wohnet, und sich daher, bei der ersten Regung der Natur, zur ersten Ursache der Bewegung so wohl schicket« [ebd.].

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

mechanistische bleibt, die nicht wirklich zur Erklärung von originärer Organisation im Sinne der Entstehung solcher sich selbst organisierender und selbst erhaltender Systeme herangezogen werden kann, welche dann erklärt wird durch eine nicht mehr mechanische, konstituierende Entwicklung, eine den Entstehungsprozess präformierende, sich selbst entfaltende Substanz. Die »mechanische Entwicklung« aus Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels verkörpert letztlich keine universelle Entwicklungskonzeption. Eine solche hat schließlich Herberts Spencers naturalistische Philosophie entwickelt. Die Ausweitung der mechanistischen Erklärung auch auf die Probleme der Organisation zeigt jedoch, dass das methodische Grundproblem der analogischen, konstitutionstheoretischen Bestimmung der diakritischen Entwicklung wieder aufbricht: Die mechanistische Entstehung von Systemen der Selbsterhaltung haftet eine unaufhebbare Kontingenz an, welche die Verankerung einer Entwicklungsteleologie in den bewegungsdynamischen Prozessen nicht gestattet.

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Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff der bewegungs­ dynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung

Die »mechanische Entwicklung« als einen wirklich universellen und nicht mehr restriktiven Begriff zu fassen, welcher den Sinn der Organisation nicht aus-, sondern einschließt, setzt die methodische Überwindung sowohl des substanzontologischen Form-Stoff-Dualismus als auch der konstitutionstheoretischen Unterscheidung von vollendender Entwicklung (τελειώσις, teleiosis) und veränderlicher Bewegung (ἀλλοιώσις, alloiosis) voraus. Dieser entscheidende Schritt vollzieht sich durch das philosophische System von Herbert Spencer. Spencer formuliert als universell geltendes Entwicklungsgesetz die »Integration des Stoffes und Zerstreuung der Bewegung« [Spencer 1875, § 105, S. 308]. Die Möglichkeit der Entwicklung wird hier ausnahmslos identifiziert mit einer grundlegenden Veränderung der Eigenschaften der Materie, die durch die bewegungsdynamischen Prozesse und ihre mechanische Kausalität hervorgerufen wird. Es ist somit weder bei den anorganischen noch den organischen Verbindungen möglich, auf eine substanzielle Form und konstituierende Entwicklungseinheit außer­ halb der Bewegungsmechanik zurückzugreifen. Mit dieser rigorosen Ausschaltung der Konstitutionsbestimmung wird zugleich die Funktion der Organisation auf die Bewegungsdynamik übertragen. Das 73 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

geschieht, indem Spencer als die wesentliche Entwicklungsleistung der bewegungsdynamischen Kausalität die Integration und Differen­ zierung hervorhebt.23 Die mechanische Entwicklung bringt demnach nicht nur einen geordneten Zustand der Materie hervor; die in der ­Bewegung entstehende Ordnung zeigt originäre Züge der Organisation dadurch, dass ihre Synthesis einmal heterogen ist und damit auf der Sonderung ihrer Elemente nach Funktionen beruht, die sich zum anderen durch ihre Integrations- und Erhaltungsfähigkeit gegenüber der die Verbindungen verändernden und auf‌lösenden Bewegung auszeichnet. Bekommt die »mechanische Entwicklung« den Sinn von Organisation, dann wird die Analogie mit der konstituierenden Entwicklung prekär. Es entsteht der Einwand einer Metabasis, dass hier Kategorien des Organischen auf das Anorganische unzulässig übertragen werden. Im Kontext des Vitalismusstreits wurde Spencer deshalb der Einwand gemacht, dass es sich bei den mechanischen Entwicklungen um bloße »Scheinentwicklungen« handelt. So fordert Julius von Wiesner, den Sinn von Entwicklung auf den der organischen, ontogenetischen Entwicklung zu beschränken und im Falle anorganischer Prozesse von »Entstehung« zu sprechen. Spencers »Entwicklungsgesetz«, die Suche nach einer »Weltformel« der Entwicklung, wird deshalb als ein natura­listischer Fehlschluss bekämpft und mit ihm die Idee einer bewegungsdynamischen Organisation als Irrweg verworfen.24 23 Zur Integration kommt als ergänzende Bestimmung die Differenzierung hinzu: »Die Bestandteile der Masse erleiden, während sie integrirt werden, zugleich auch eine Differenzierung.« [Spencer 1875, § 116, S. 334] 24 Wiesner geht es um eine »Klärung und Begrenzung des Entwicklungsbegriffes«, die zwischen verschiedenen Phänomenen des Werdens – Erschaffung, Ent­ stehung und Entwicklung – differenziert, ausdrücklich gegen die universalistische Verwendung des Entwicklungsbegriffs bei Herbert Spencer. Für Wiesner bleibt die organische Ontogenese »Prototyp echter Entwicklung« [Wiesner, S. 40], die Vorstellung auch einer anorganischen Entwicklung die einer bloßen »Scheinentwicklung« [ebd., S. 9, 45]. Spencers Versuch, eine »Weltformel der Entwicklung aufzustellen« [ebd., S. 90 f] verkennt in seinen Augen die Grenzen des Organischen und Anorganischen. Die Entwicklung als Form des Organischen beruht auf einer »Integration«, die »aus ursprünglichen Anlagen vereinheitlicht« im Sinne einer vorausgesetzten substanziellen Form, der zu­­folge Ordnung nicht durch assoziative Synthese erst nachträglich zustandekommt, sondern als eine gegenständliche Einheit in Gestalt eines dispositionellen Vermögens, das sich lediglich verwirklicht, immer schon vorgegeben ist [ebd., S. 94]. Ganz unverblümt wird hier der Konstitutionsbegriff der Entwicklung restringiert auf ein ontisches Phänomen: das organische Leben.

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

Es empfiehlt sich jedoch, Spencers System nicht voreilig und voreingenommen als Feindbild einer universalistischen, naturalistischen Welt­anschauung und ihrer Ausprägung zum philosophischen Materialismus zu bekämpfen und sich ganz nüchtern erst einmal auf seine methodische Fundierung einzulassen. Wissenschaftliche Aussagen über die »Beziehungen zwischen Stoff, Bewegung und Kraft« sind für Spencer zum einen keine ontologischen Bestimmungen der Wirklichkeit, sondern »blosse Symbole der unbekannten Realität« [Spencer 1875, § 194, S. 567]. Ihr Erkenntniswert besteht deshalb auch nicht in einer Abspiegelung der Wirklichkeit, sondern darin, mit Hilfe eines Systems von Zeichen, der Substitution komplexer durch einfache Symbole, die Erscheinungen in ihrer Gesetzmäßigkeit möglichst vollständig zu erfassen.25 Aus einer solchen Form der Erkenntnisgewinnung können somit auch keine metaphysischen Konsequenzen gezogen werden, weder im Sinne einer materialistischen noch einer spiritualistischen Philosophie, denn damit wären die Grenzen symbolischer, reiner Gesetzesaussagen überschritten, indem Aussagen nicht über Phaenomena, sondern Noumena beansprucht werden – also solche über die im Prinzip unerkennbare Wirklichkeit von »Dingen an sich«, die hinter den Erscheinungen und ihrer von der Erkenntnis fassbaren Gesetzmäßigkeit liegen.26 Zum anderen ist die Entwicklung für Spencer von vorn­herein kein Gattungsbegriff. Es gibt nicht »verschiedene Arten der Entwicklung […], welche gewisse gemeinsame Züge besitzen«. Vielmehr gilt als naturgesetzliche Tatsache, »dass eine und die-

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Wiesner unterbindet damit nicht nur jede analogische Verwendung dieses Begriffs, welche auch das »Mechanische« mit umfassen könnte. Dass Spencers System überhaupt eine ganz andere Entwicklungskonzeption – eine nicht konstituierende, sondern diakritische – zugrunde liegt, wird so gar nicht erst in Betracht gezogen. Wie »die Verbindung zwischen dem Phänomenalen und dem Realen für immer unerforschlich bleibt, so auch die Verbindung zwischen den bedingten Formen des Seins und der bedingungslosen Form des Seins unserer Erkenntnis stets unzugänglich sein wird. Die Erklärung aller Erscheinungen in Ausdrücken von Stoff, Bewegung und Kraft ist nichts weiter als eine Zurückführung unserer zusammengesetzten Denksymbole auf die einfachsten Symbole, und wenn die Gleichung auf ihre einfachste Form gebracht ist, so bleiben die Symbole eben immer noch Symbole.« [Spencer 1875, § 194, S. 567 f] »Daher liefern die im Vorhergehenden enthaltenen Schlüsse keine Stütze weder für die eine noch für die andere von den beiden gegensätzlichen Hypothesen über das innerste Wesen der Dinge. Die aus ihnen zu ziehenden Folgerungen sind in keiner Weise mehr materialistisch als spiritualistisch, noch umgekehrt.« [Spencer 1875, S. 568]

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selbe Entwicklung überall in gleicher Weise vor sich geht« [ebd., § 188, S. 555]. Deshalb unterbindet Spencer von vornherein jeden möglichen Einwand, dass ein solcher universeller Begriff von Entwicklung durch bloße Analogiebildung zustande kommt.27 Die Entwicklung »besteht nicht aus zahlreichen Umwandlungen, die ähnlichen Verlauf besitzen, sondern sie ist vielmehr eine einzige Umwandlung, die im ganzen Universum fortschreitet« [ebd.]. Die Unterscheidung des Organischen und Anorganischen spielt für die methodische Gewinnung des Entwicklungsgesetzes demnach keine Rolle und kann auch keine solche spielen. Weder wird das An­ organische idealistisch und konstitutionstheoretisch dem Organischen noch das Organische materialistisch dem Anorganischen analog bestimmt. Jede solche Analogiebildung setzt nämlich die verkehrte Auffassung der Entwicklung als ein Gattungsbegriff voraus. Die Aufgabe der Wissenschaft ist nach Spencer, die Erscheinungen systematisch zu klassifizieren durch die Gewinnung von allgemeinen Aussagen und ihre methodische Generalisierung.28 Die Philosophie knüpft an diesen sich in den Wissenschaften vollziehenden Generalisierungsprozess an und bringt ihn zum krönenden Abschluss, indem sie ein schlechthin umfassendes, für die Totalität der Erscheinungen geltendes Universalgesetz der Erkenntnis formuliert.29 Im Verlaufe der Entwicklung der Wissenschaften hat sich faktisch gezeigt, dass die systematische Ver27

So heißt es etwa mit Blick auf die geistigen Entwicklungen: »Mancher Leser wird vielleicht nicht recht einsehen […] und geneigt sein, das, was hier als Thatsachen aufgeführt wurde, nur für Analogien zu erklären. Nichtdestoweniger sind derartige Ausgleichungen ebenso thatsächlich physikalischer Natur wie alle andern.« [Spencer 1875, § 174, S. 515] 28 »Die Wissenschaft befasst sich mit den Beziehungen der Gleichzeitigkeit und Folge unter den Erscheinungen, sie gruppiert dieselben erst in Ver­a ll­ gemeinerungen von einfacher oder niederer Ordnung zusammen und er­hebt sich stufenweise zu immer höheren und ausgedehnteren Genera­li­sa­tionen.« [Spencer 1875, § 37, S. 129 f] 29 »Und nun, was ist die Aufgabe der Philosophie? Ihre Aufgabe ist, den bezeichneten Process noch um eine Stufe weiter zu führen. […] Wie jede weitere Verallgemeinerung der Wissenschaft die beschränkteren Verallgemeinerungen ihrer eigenen Abtheilung umfasst und befestigt, so umfassen und befestigen die Verallgemeinerungen der Philosophie die weitesten Verallgemeinerungen der Wissenschaft. […] Sie ist das Endresultat eines Processes, welcher mit der blossen Aneinanderreihung roher Beobachtungen beginnt, sich in der Auf­ stellung allgemeiner und immer mehr von besonderen Fällen abgelöster Sätze weiter und mit Universalgesetzen abschließt. […] Wissenschaft ist theilweise vereinheitlichte Erkenntniss; Philosophie ist vollkommen ver­e inheitlichte Erkenntniss.« [Spencer 1875, § 37, S. 131 f]

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

einheitlichung der Erkenntnis – so gerade auch die der organischen und anorganischen Erscheinungen – nicht anders als durch die naturwissenschaftliche Methode und ihre Erfassung bewegungsdynamischer Prozesse, die beständige »Andersvertheilung von Stoff und Be­ wegung« [Spencer 1875 § 92, S. 280], möglich ist.30 Da die Methode der Wissenschaft in der Generalisierung von naturwissenschaftlichen Gesetzesaussagen besteht, kann auch die Philosophie nur ein universales Entwicklungsgesetz formulieren, das im Prinzip »mechanistisch« ist. Spencer versucht die Grundbegriffe der Naturwissenschaften Materie, Kraft und Bewegung als »Tatsachen des Bewußtseins« zu gewinnen. Aus­ gangspunkt ist ein nicht metaphysischer Phänomenbegriff des Wirklichen, der die Wirklichkeit versteht als den Bewusstseinszustand des Fortdauerns des Gegebenen. Materie, Kraft und Bewegung verkörpern demnach Bewusstseinstatsachen im Sinne von grundlegenden Er­­haltungskonstanten der Erfahrung. Die philosophische Erkenntnis be­schränkt sich jedoch nicht auf die phänomenologische Deskription solcher elementarer und ursprünglicher Tatsachen, ihre Aufgabe ist die systematische Vereinigung der Tatsachen in einem integralen Prinzip, welches eine universale Gesetzeserkenntnis ermöglicht. So steht die philosophische Erkenntnis immer wieder vor der Frage, die Komplexität der dynamischen Tatsachen in einem einfachen dynamischen Prinzip zu fassen: »Welches dynamische Prinzip, das von der Umwandlung als Ganzes und in ihren Einzelheiten gültig ist, drückt diese stets veränderlichen Beziehungen [von Stoff und Bewegung, d.  Verf.] aus?« [Ebd., S. 280 f] Das dynamische Entwicklungsgesetz stellt schließlich das schlechterdings umfassende Erkenntnisprinzip dar, insofern es alle Erkenntnisprinzipien synthetisch vereinigt als das Ziel der philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnisbegründung überhaupt. Von daher klärt sich letztlich auf, warum die »Entwicklung« für Spencer keinen Gattungsbegriff verkörpern kann: Das Entwicklungsgesetz hat die Form eines systematischen Begriffs, einer Prinzipien­ aussage. Ernst Cassirer hat mit Blick auf die naturwissenschaftliche 30

»Diese mannigfaltigen Veränderungen, künstliche und natürliche, organische und unorganische, die wir der Bequemlichkeit halber unterscheiden, lassen sich, vom höchsten Gesichtspunkt aus betrachtet, nicht voneinander trennen, denn es sind alles Veränderungen, die in demselben Kosmos vor sich gehen und blos Theilerscheinungen einer grossen Umformung darstellen. Das Spiel der Kräfte ist dem Prinzip nach wesentlich dasselbe in dem ganzen Gebiete, das unser Verstand bisher durchforscht hat« [Spencer 1875, § 91, S. 280 f].

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Erkenntnis die Unterscheidung von Maßaussagen, Gesetzesaussagen und Prinzipienaussagen gemacht. Prinzipienaussagen, mit denen wissenschaftliche Erkenntnisaussagen vereinheitlicht werden, »sind stets kühne Antizipationen, die sich an dem bewähren, was sie für den Aufbau und die innere Organisation des gesamten Wissens­stoffes leisten. Sie beziehen sich nicht direkt auf die Phänomene, sondern auf die Form der Gesetze, nach denen wir diese Phänomene ordnen. Ein echtes Prinzip steht daher nicht einem Naturgesetz gleich; es ist gleichsam eine Matrix, aus der sich immer wieder neue Naturgesetze gebären können.« [Cassirer 1987, S. 189] Man kann somit Spencer zwar den methodischen Einwand machen, bei der Formulierung des Entwicklungsgesetzes die Grenze von Naturgesetz (Tatsache) und Prinzip nicht scharf genug gezogen zu haben: »Bei dieser Auffassung ist die Entwicklung eins, nicht blos im Princip, sondern in den Tatsachen selbst.« [Spencer 1875 § 188, S. 555] Davon bleibt aber die mögliche Formulierung der Entwicklung als ein universelles Prinzip der Erkenntnis letztlich unberührt. Prinzipienaussagen beziehen sich anders als die Gesetzesaussagen nicht direkt auf die Phänomene, sie sind lediglich Orientierungen der systematischen Erkenntnisgewinnung.31 Spencers Entwicklungsgesetz verkörpert deshalb prinzipiell keine Entwicklung von etwas, dessen Geltung in ihrer Reichweite durch die Beziehung auf einen besonderen Gegenstand regionalontologisch eingeschränkt werden könnte. Freilich entzieht sich auch die Aufstellung eines Prinzips nicht der philosophischen Kritik. Deren Maßstab kann jedoch wie­ derum nur die Möglichkeit der systematischen Vereinheitlichung der Erkenntnisse sein. Spencers Begriff der bewegungsdynamischen Organisation ist grundsätzlich mechanistisch und reduktionistisch. Der Reduktionismus seines Entwicklungsgesetzes zeigt sich darin, dass Organisation hier nicht vom Modell des Lebens her als eine Form von Selbstorganisation verstanden wird. Organisation entsteht einzig und allein durch eine Bewegungsmechanik, die als solche keinerlei Form von Selbstregulierung enthält. Die methodisch letztlich entscheidende Frage ist daher, ob sich die bewegungsdynamische Organisation als ein universelles Entwicklungsprinzip wirklich denken lässt, ohne dass die Fähigkeit zur Selbstorganisation in einen solchen regulativen Begriff aufgenommen wird. 31

»Und darum bedarf es der Höhenwege: sie sind für unsere Orientierungen in dem Gelände, das wir zu durchschreiten haben, unerläßlich. Die Prinzipien der Physik sind im Grunde nichts anderes als solche Orientierungsmittel: Mittel der Umschau und Überschau.« [Cassirer 1987, S. 190]

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

Dass die Analogie von mechanischer und konstituierender Entwicklung im Falle von wirklich bewegungsdynamischer Organisation versagt, hat Spencer selbst erkannt. Die organisierende Funktion der Be­wegungsmechanik besteht in einer Verdichtung, die zur Integration des Stoffes und Zerstreuung der Bewegung führt. Zur Beschreibung dieses Vorgangs ist die überlieferte Begriffsbildung der complicatio und explicatio im Grunde ungeeignet: Im »gewöhnlichen Sprachgebrauch heisst entwickeln: entfalten, öffnen und ausdehnen, austreiben, in Freiheit setzen, während, wie wir es verstanden wissen wollen, der Vorgang des Entwickelns, obwohl er mit der Zunahme eines concreten Aggregats verbunden und insofern eine Ausdehnung desselben ist, doch die Bedeutung hat, dass derselbe zusammengesetzte Stoff aus einem zerstreuten in einen sehr concentrierten Zustand übergegangen ist, sich zusammengezogen hat. Das entgegengesetzte Wort Einwicklung (involution) würde das Wesen des Processes viel richtiger ausdrücken« [Spencer 1875, § 97, S. 290]. Die analogische Bestimmung der mechanischen Entwicklung beruht demnach auf dem Paradox, dass die expli­ catio mit ihrem Gegenteil, der complicatio, gleichgesetzt wird. Trotz dieser offenkundigen Widersinnigkeit hält Spencer aus pragmatischen Gründen am überlieferten Konstitutionsbegriff der Entwicklung, der Auswickelung eines Eingewickelten, fest.32 Damit hat er letztlich die Möglichkeit aus der Hand gegeben, den Sinn von Entwicklung von der originär bewegungsdynamischen διάκρισις, diakrisis her zu bestimmen. Die diakritische Entwicklung bedeutet eine »Befreiung« in dem Sinne, dass die Verdichtung nicht nur Unverbundenes verbindet, sondern durch ihre integrierende und differenzierende Funktion die entstandene assoziative Synthese zugleich verfestigt, indem sie deren Elemente dem fließenden und veränderlichen bewegungsdynamischen Kontinuum wirksam entzieht: Der gerichtete Entwicklungssinn der Diakrisis ist der einer Abhängigkeit und Verbindlichkeit auf‌lösenden Entzugs, einer Fluchtbewegung, eines fugam explicare.33 Obwohl Spencer die diakritische Funktion der bewegungsdynamischen Organisation nicht zur Grundlage der Begriffsbestimmung der Entwicklung gemacht hat, lässt sie sich doch als deren Prinzip in 32

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»Gleichwohl aber, und trotzdem dass diese verschiedenen und sogar sich wider­sprechenden Bedeutungen sehr geneigt sind, Verwirrung anzurichten, sind wir genöthigt, Entwicklung als Gegensatz von Auf‌lösung zu brauchen. Das Wort ist gegenwärtig so allgemein anerkannt […], dass wir nun kein anderes Wort dafür einführen können.« [Spencer 1875, § 97, S. 290] Vgl. dazu die Einleitung, Kap. IV.

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der konkreten Beschreibung und Analyse erkennen. Die Diakrisis taucht bei Spencer in zweifacher Hinsicht auf: als eine Form sowohl der systembildenden Integration als auch der qualitativen, funktionalen Differenzierung durch die mit ihr verbundene Zunahme an Bestimmung und Abgrenzung, einer diakritischen Sonderung von Teilen des Systems. Das Entstehen und Vergehen denkt Spencer als eine Form der nicht unorganisierten, sondern organisierten Bewegung, insofern das Entstehen als ein Integrationsprozess und entsprechend das Vergehen als ein Vorgang der Desintegration verstanden wird. Dem atomistischen Denkmodell entspricht eine Erklärung der Synthesis, wonach die Verdichtung die Masse der Atome konzentriert, wodurch sich schließlich das Unverbundene zu Aggregaten verbindet. Den Werdensprozess in diesem Stile durch »die beiden entgegengesetzten Vorgänge der Concentration und der Auf‌lösung« [Spencer 1875, § 94, S. 285] zu beschreiben, reicht jedoch für seine Bestimmung als eine organisierende Entwicklung nicht aus. Integration bedeutet formal die »Vereinigung zu einem Ganzen« [ebd.], doch bleibt diese als Produkt einer mechanischen Verdichtung eben bloßes Aggregat, sodass nicht klar zu werden scheint, inwiefern mit einer solchen Verbindung die Umwandlung des unorganisierten in einen organisierten Zustand der Materie verbunden ist. Die Antwort darauf gibt Spencers energetische Interpretation der Verdichtung. Es führt die »fortschreitende Festigung des Zusammenhangs eine Abnahme der innerlichen Bewegung, und eine Zunahme der innerlichen Bewegung eine fortschreitende Lockerung des Zusammenhangs mit sich« [ebd.]. Die integrierende Wirkung der konzentrierenden Verdichtung beruht also darauf, dass Bewegungsenergie an die Umgebung abgegeben wird und damit eine Verfestigung der Verbindung eintritt, die sich aus dem Bewegungszusammenhang im Ganzen herauslöst. Desintegration bedeutet entsprechend, dass die Verbindung Bewegungsenergie von der Umwelt aufnimmt und sich die integrierende Verdichtung dadurch schließlich wieder auf‌löst. Die integrale Ordnung, welche aus dieser Aussonderung einer Verbindung aus dem ungeordneten Bewegungskontinuum resultiert, besteht deshalb in der Diakrisis eines Systems von seiner Umwelt: »Die Umformung eines Ganzen, das ursprünglich zerstreut und gleichförmig war, zu einer concentrirten Verbindung vielgestaltiger Theile führt zugleich zur Absonderung des Ganzen von seiner Umgebung und der einzelnen Theile voneinander.« [Ebd., § 138, S. 384] Der Aspekt der Organisation zeigt sich dabei nicht erst durch die Absonderung der Teile – die mit der Integration notwendig einher­ 80 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

gehende systemstabilisierende Differenzierung – sondern schon in der diakritischen Funktion der Integration, der Absonderung des Systems von seiner Umwelt. Die Abgabe von Energie an die Umgebung bedeutet, dass ein Zustand des beweglichen Gleichgewichts entsteht und damit die Fähigkeit zur Selbsterhaltung dieses Systems, solche von außen kommenden Störungen in gewissen Grenzen assimilieren zu können. Integrale Systeme als bewegliche Gleichgewichte besitzen »ein gewisses Selbsterhaltungsvermögen […], das sich in der Neutralisirung von Störungen und in der Anpassung an neue Bedingungen ausspricht« [Spencer 1875, § 189, S. 558]. Spencers energetische Interpretation bewegungsdynamischer Prozesse führt dazu, dass die Organisation als eine Form von Selbsterhaltung im Sinne des Stoffwechsels begriffen wird. Da sich dieser Stoffwechsel auf die elementare Funktion des Austausches von Bewegungsenergie beschränkt, gilt er als das »allgemeine Princip der Ausgleichung« in »sämmtlichen Formen der Entwicklung […], in den astronomischen, geologischen, biologischen, geistigen und gesellschaftlichen« [ebd.]. Zu jeder Integration gehört eine Differenzierung – die bewegungsdynamische diakritische Entwicklung erfüllt damit die beiden Grundbedingungen wirklicher Organisation: die Fähigkeit zur Selbsterhaltung und funktionalen Differenzierung. Das Differenzierungsgeschehen besteht formal in der Sonderung eines Ganzen in seine Teile und damit dem »Übergang des Ganzen aus einem zusammenhängenden in einen unzusammenhängenden Zustand« [Spencer 1875, § 116, S. 333]. Spencer betrachtet die Differenzierung bezeichnend nicht als einen selbständigen, sondern mit der Integration mitgängigen Prozess; den »Übergang aus einem zerstreuten in einen concentrirten Zustand« begleitet »ein Übergang aus einem homogenen (gleichartigen) in einen heterogenen (ungleichartigen) Zustand« [ebd., § 116, S. 334]. Wesentlich für die Abhängigkeit der Differenzierung von der Inte­ gration ist ihre ausnahmslos mechanistische, kausalgenetische Erklärung. Mit einer systeminternen »Ausdifferenzierung« im Sinne der Systemtheorie Niklas Luhmanns hat Spencers Differenzierung deshalb auch nichts gemein. Eine streng mechanistische Erklärung von Organisation auf den Grundlagen der Newtonschen Physik schließt jede Form von Selbstregulation methodisch von vornherein aus. Die Differenzierung ist deshalb auch kein Prozess, der sich an der »Innenseite« eines sich autopoietisch selbst organisierenden Systems abspielt, sondern wird ausnahmslos durch äußere Kräfte verursacht, die auf das System einwirken. Entscheidend ist die Erklärung, die Spencer für die 81 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

Möglichkeit der differenzierenden Entwicklung gibt. Hier zeigt sich, dass die Differenzierung grundsätzlich nur als Folgeerscheinung der systembildenden bewegungsdynamischen Diakrisis – der Integration – zu denken ist. Die Differenzierung und Sonderung stellt eine Erscheinung der lediglich sekundären Integration und Andersverteilung dar.34 Die anfängliche Ursache für die Entwicklung ist nach Spencer keine teleologische, sondern rein mechanische, ein unbeständiges, »labiles Gleichgewicht« [Spencer 1875, § 149, S. 407]. Da ein Zustand vollkommener Gleichartigkeit und gleicher Dichtigkeit der Materie faktisch nicht existiert35, können hier Kräfte ansetzen, die aufgrund der ungleichen Verteilung der Stoffe auch eine ungleiche Wirkung ausüben und damit eine weitere Umverteilung im Sinne des »Fortschritt[s] nach verhältnissmässiger Ungleichartigkeit« [ebd., S. 410] bewirken. Weil der desintegrierte Zustand der Materie als der Ausgangszustand der Entwicklung ein gestörtes Gleichgewicht ist, beinhaltet er eine Tendenz zur Integration und zugleich Differenzierung »als eine nothwendige Folge der Unbeständigkeit des Gleichartigen« im Sinne der »Umänderung eines eingestaltigen in einen vielgestaltigen Zustand«, die »an jeder Masse in Folge dessen vor sich geht, dass ihre verschiedenen Theile verschiedenen Bedingungen ausgesetzt sind« [ebd., § 151, S. 435]. Nicht nur, dass der Beginn der Entwicklung auf diese Weise notwendig vorgezeichnet wird, es ist zudem »der Schluss hinzuzufügen, dass diese Veränderungen fortdauern müssen. Das absolut Gleichartige muss seinen Gleichgewichtszustand verlieren, und das relativ Gleichartige muss einem relativ ungleichartigen Zustand anheimfallen« [ebd., § 155, S. 435]. Die kontinuierliche Erhaltung der zunehmenden Differenzierung in der Entwicklung resultiert dabei nicht aus der Selbsterhaltung eines sich vermeintlich selbst organisierenden Systems, sondern wiederum rein mechanisch aus den die Veränderungen auslösenden bewegungsdynamischen Prozessen und der sie tragenden Erhaltung der Kraft.36 Diese dynamische Differen34 Bei der Differenzierung und Sonderung muss sich die »Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die secundäre Integration richten, welche gewöhnlich die primäre Integration begleiten« [Spencer 1875, § 110, S. 315]. Dem entspricht die Unterscheidung einer primären von der sekundären Andersverteilung von Stoff und Bewegung [vgl. ebd., § 116, S.‌333]. 35 Vgl. Spencer 1875, § 149, S. 407 sowie 410. Ein stabiles Gleichgewicht ist nur »hypothetisch möglich«. »Alle endlichen Formen des Gleichartigen müssen unvermeidlich in Ungleichartigkeit übergehen.« [Ebd., § 155, S. 435] 36 Spencer will den Nachweis systematisch erbringen, dass der Grund dafür, dass

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

zierungstendenz der Entwicklung wird dabei noch verstärkt durch die »Vervielfältigung der Wirkungen«, als eine gleichförmige Kraft durch die Verschiedenheit der Bestandteile eines Aggregates, auf die sie trifft, auch verschiedene Wirkungen entfaltet und damit die Heterogenität der Verbindung im ganzen zunimmt.37 Spencer unterscheidet in Bezug auf die sekundäre Integration und Andersverteilung »Differenzierung« (differentiation) und »Sonderung« (segregation) [vgl. Spencer 1875, S. 371]. Die Sonderung bezeichnet die diakritische Funktion der Differenzierung einmal von ihrer Erkenntnisfunktion her, der mehr oder weniger deutlichen Unterscheidung, der Unbestimmtheit oder Bestimmtheit, und mit Bezug auf die Inhalte den Grad der Absonderung von Teilen und Gruppen [vgl. Spencer 1875, § 163, S. 465]. Damit kommt der Doppelsinn von Diakrisis zum Vorschein, die einmal eine Aussonderung bedeuten kann – hier vertreten durch die primäre Integration, die ein System aus der ungeordneten Atombewegung im Ganzen herauslöst – aber auch eine Absonderung im Sinne der Unterscheidung von Teilen des Systems, die sich durch die sekundäre Integration vollzieht. Dass die Differenzierung und Sonderung nicht etwa auf eine funktionale Differenzierung durch eine teleologische Präformation zurückzuführen ist, die zur mechanischen Integration als eine transzendente Ursache der Organisation hinzukäme, zeigt ihr kausalgenetischer Ursprung: Es sind ausnahmslos dieselben Prozesse der bewegungsdynamischen Verdichtung, welche für die primäre wie die sekundäre Integration verantwortlich sind. Das Prinzip der Sonderung erläutert Spencer so auch mit Demokrits Anschauungsbeispiel der Sedimentierung. Dem antiken Atomismus gegenüber hat er jedoch den Vorteil, durch die Gravitationsgesetze Newtons einen Erklärungsgrund für die offensichtliche Affinität der Elemente, die Ausscheidung von Gleichartigem und Ähnlichem, liefern zu können38:

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»eine gleichförmige Masse ihre Gleichförmigkeit verliert«, eine »Folgerung aus dem Fortbestehen der Kraft ist« [Spencer 1875, § 155, S. 431]. Davon handelt das XX. Kapitel »Die Vervielfältigung der Wirkungen« § 156 ff. »Wenn ein gleichförmiges Aggregat der Einwirkung einer gleichförmigen Kraft unterworfen ist, so werden seine Bestandteile, wie wir gesehen haben, da sie sich in verschiedenen Verhältnissen befinden, verschieden abgeändert.« [Spencer 1875, § 156, S. 436] »Auch Tiere gesellen sich zu stammverwandten Tieren, wie Tauben zu Tauben, Kraniche zu Kranichen, und ebenso ist es bei den anderen. So ist es auch bei den unbeseelten Dingen, wie man es beim Aussieben von Samenkörnern und bei den Kieseln (am Gestade) im Bereich der Brandung sehen kann. Denn dort

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»An der Küste des Meeres sind die Wellen fortwährend tätig, die vielfach gemengten Stoffe, an denen sie sich brechen, loszureissen und zu sortieren. Von jedem herabgestürzten Stück der Klippen führt die steigende und sinkende Fluth alle jene Teilchen hinweg, die klein genug sind, um sich längere Zeit im Wasser schwebend zu erhalten, und lagert sie in einiger Entfernung von der Küste in Form eines feinen Niederschlags ab. Grössere Theilchen, die verhältnismässig rasch niedersinken, werden in Sandschichten zunächst der Grenze des tiefsten Wasserstandes aufgehäuft. Der grobe Kies und die kleineren Steine sammeln sich auf der geneigten Fläche, über welche die Brandung hinaufstürzt. Und zu oberst liegen die grössern Steine und die Felstrümmer.« [Spencer 1875, § 165, S. 474] Die Sonderung geschieht hier einmal durch eine Bewegung und die in ihr wirkenden Kräfte der Attraktion und Reproduktion. Das »System« tritt in der Differenzierung und Sonderung also keineswegs selbstmächtig als »Ordner« auf, es bleibt völlig passiv der Bewegungsmechanik gegenüber: Elemente und Verbindungen von Elementen scheiden sich ab, gerade nicht, sofern sie Bestandteile eines Systems, sondern einer Bewegung sind – in einer bewegungsdynamischen Dia­krisis allein aufgrund ihrer qualitativen Beschaffenheit, hier der Schwere. Die funktionale Differenzierung resultiert demnach nicht aus einem Formprinzip, das sich der formlosen Materie aufprägte, sondern den unterschiedlichen aktuellen und dispositionellen Eigenschaften der gegebenen Massen. Da die Sonderung aus einer Verlagerung von Stoffen in der Bewegung hervorgeht, zeigt sich ihre Ordnungsleistung schließlich in der Anordnung der Elemente im Raum. Spencer spricht hinsichtlich der Ursache der primären und sekundären Andersverteilung von einer »örtlichen Integration« (local integration) und »örtlichen Differenzierung« (local differentiation) [Spencer 1875, § 163, S. 371 und 465]. Kräfte, die sondern und diffe­renzieren, wirken im Prinzip als lokale Urachen im Unterschied zur funktionalen Differenzierung im Rahmen einer autopoietischen System­organisation, wo sich gleichsam raumlos ein Ganzes in Teilbestimmungen »aus«-differenziert. ordnen sich infolge des Wirbels, der durch das Aussieben entsteht, für sich gesonderte Linsen zu Linsen, Gerste zu Gerste und Weizen zu Weizen; hier aber werden infolge der Brandung die länglichen Kiesel nach derselben Stelle wie die anderen länglichen getrieben, die runden aber zu den runden, als ob die Ähnlichkeit der Dinge hierbei eine gewisse Anziehungskraft auf sie ausübte« [Demokrit Fr. 164, zit. nach Capelle, S. 402].

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

Die Disposition des labilen, gestörten Gleichgewichtes begründet nach Spencer die Notwendigkeit eines Entwicklungsgeschehens der zunehmenden Integration und Differenzierung. Damit unterstellt Spencers Formulierung des universalen Entwicklungsgesetzes eine Entwicklungsteleologie, ohne diese jedoch als eigene Ursache im Sinne eines organisierenden Formprinzips in Anspruch zu nehmen, welches in die Bewegungsmechanik gleichsam von außen lenkend eingreifen würde. Diese reduktionistische Ableitung der Teleologie aus einer Naturkausalität erweist sich jedoch als brüchige Hypothese. Die mögliche Sonderung und Differenzierung beinhaltet verschiedene Grade und Stufen, die wiederum von den Eigenschaften der Materie und den in ihr wirkenden Kräften abhängen. Die annähernd vollstän­ dige Sonderung setzt Elemente und Verbindungen voraus, die sich in ihrer Beschaffenheit deutlich voneinander unterscheiden. Sind die zu sondernden Massen dagegen von ähnlicher Qualität, dann bleibt die Sonderung und Differenzierung unvollständig. Eine unvollkommene Integration bedeutet, dass auf das entstandene System nicht nur die konzentrierende Verdichtung und Entwicklung Einfluss nimmt, sondern auch die entgegengesetzten Prozesse der Zerstreuung und Auf‌lösung. Ob also die Entwicklung oder die Auf‌lösung dynamisch überwiegt, hängt ganz und gar von den Eigenschaften der Materie ab. In Bezug auf das Ganze des Universums ist eher davon auszugehen, dass die ähnlichen Massen den unähnlichen gegenüber ein Übergewicht haben. Unter dieser Voraussetzung erweist sich die unvollkommene Diakrisis als Normalfall und die vollkommene als der ideale Grenzfall. So aber droht schon im Ansatz der Versuch zu scheitern, die Entwicklungsteleologie reduktionistisch in der Bewegungsmechanik zu verankern: Die integrierende Entwicklung, die auch nach Spencer in einer τελειώσις (teleiosis) besteht, indem sie auf die vollständige Integration als Erfüllungsziel ausgerichtet ist, wird damit den desintegrierenden bewegungsdynamischen Prozessen gegenüber unwahrscheinlich. Damit zeigt sich die methodische Achillesferse einer rein mecha­ nistischen Theorie der bewegungsdynamischen Organisation und Ent­w icklung in der Frage: Wie lässt sich die Unwahrscheinlichkeit der kausalgenetischen Entstehungsbedingungen von Organisation in die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsteleologie umwandeln? Luhmanns Systemtheorie hat diese Schwierigkeit formuliert als die evolutionstheoretische »Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Un­ wahrscheinlichen« [Luhmann 1997, Bd. 1, S. 413, entnommen aus Manuyama] in der Grundaussage, »dass Evolution geringe Entste85 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

hungswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit transformiert« [ebd., S. 414]. Die Lösung dieses Paradoxes scheint auch für Spencers rein mechanistische Entwicklungskonzeption in der Selbsterhaltungsfunktion integraler Systeme zu liegen. Der diakritischen Entwicklung eignet die Fähigkeit, desintegrierenden Auf‌lösungstendenzen zu widerstehen, indem solche sich verdichtenden Massen »einer gewissen Differenzkraft unterworfen sind« [Spencer 1875, § 164, S. 473]. Sie wirkt innerhalb integraler Systeme, wo »die verdichtende Kraft größer ist als die der Verdichtung widerstehende Kraft«, während sich umgekehrt außerhalb des Systems – also in der »Umwelt«, der Umgebung des Systems – »die der Verdichtung widerstehende Kraft grösser als die verdichtende« zeigt [ebd.]. Die Einführung der Funktion der Selbsterhaltung in die rein mechanistisch begriffene diakritische Entwicklung ergibt sich aus der Interpretation der integrierenden und differenzierenden Diakrisis als eine Form des Austausches von Bewegungsenergie, des energetischen Stoffwechsels. Die Integration korrespondiert mit der Zerstreuung, d. h. Bewegungsenergie wird an die Umgebung abgegeben, wodurch sich die verdichteten Massen in ihrer Konzentration zugleich ver­ festigen. Zugleich kommt es jedoch zu einer Absorption von Bewegungsenergie durch das Aggregat, das sich verdichtende System.39 In diesem Fall transformiert sich ungeordnete in geordnete Bewegung, indem die Bewegungsenergie gleichsam zum Motor wird für die sekundäre Integration, die Differenzierung und Sonderung. Durch eine solche komplementäre Abgabe und Aufnahme von Energie stellt sich schließlich ein »bewegliches Gleichgewicht« her, welches dadurch aufrecht erhalten wird, dass sich integrierende und desintegrierende Kräfte wechselseitig kompensieren. Im Falle der Entwicklung überwiegt die absorbierte und geordnete innere Bewegung des Aggregats, die somit der zerstreuten und ungeordneten äußeren Bewegung, die von der Umwelt aus auf das sich verdichtende System desintegrierend einwirkt, einen Widerstand entgegensetzt und damit systemerhaltend wirkt.40 39

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Da Spencer mit keinem Konstitutionsbegriff der Entwicklung operiert, gibt es in seinem Denken auch keine Unterscheidung von funktional differenzierten gegenständlichen Systemen und bloßen Aggregaten. Integrale Systeme sind für Spencer solche durch die bewegungsdynamische Verdichtung her­ vor­ gebrachten assoziierten Komplexe und keine aus Form und Stoff zu­sam­men­ gesetzten Substanzen. Aus dem Gesetz der Ausgleichung geht hervor, »dass die Entwicklung jedes

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

Aus dem Gegeneinander integrierender und desintegrierender Bewegungen und Kräfte erklärt sich demnach rein mechanisch die Selbsterhaltung des beweglichen Gleichgewichts mit seiner Fähigkeit, nicht nur Störungen zu neutralisieren, sondern darüber hinaus eine Stoffwechselregulation auszubilden in der Anpassung an veränderliche äußere Bedingungen [Spencer 1875, § 189, S. 558]. Der energetische Stoffwechsel und seine Funktion der Selbsterhaltung reicht jedoch nicht wirklich aus, um die Wahrscheinlichkeit der Entwicklungstendenz und damit die Verankerung der Entwicklungsteleologie in der Bewegungsmechanik zu begründen. Die energetische Selbsterhaltung beruht auf einem Ungleichgewicht der Kräfte, in der die integrierenden Kräfte die desintegrierenden dominieren und hemmen. Sie setzt damit voraus, was sie eigentlich erklären sollte: das Überwiegen dynamischer Tendenzen der Entwicklung gegenüber solchen der Auf‌lösung und damit die Transformation der Unwahrscheinlichkeit der Entstehungs- in die Wahrscheinlichkeit der Erhaltungsbedingungen derselben bewegungsdynamischen Kausalität. Anders nämlich als die moderne Systemtheorie kann Spencers rein mechanistische Theorie der Entwicklung die Transformation des Unwahrscheinlichen in das Wahrscheinliche nicht einfach auf ein sich selbst organisierendes, reproduktionsfähiges System zurückführen, welches selbstmächtig seine Erhaltungsbedingungen den bewegungsdynamischen Kausalitäten einfach aufzwingen könnte und entsprechend auf »nutzbare Zufälle« von Seiten der Umwelt für eine evolutionäre Verwertung gleichsam wartet.41 Zu den unerlässlichen Bedingungen von wirklicher Organisation gehört zweifellos, dass sich ein integrales System gegenüber solchen desintegrierenden äußeren Veränderungen zu erhalten vermag.

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Aggregats so lange fortschreiten muss, bis dieses bewegliche Gleichgewicht hergestellt ist; denn wie wir gesehen haben muss jeder Überschuß an Kraft, den das Aggregat nach irgendeiner Richtung besitzt, schliesslich zur Überwindung von Widerständen gegen Veränderungen nach dieser Richtung hin verbraucht werden, so dass nur jene Bewegungen übrig bleiben, die sich gegenseitig compensiren und dadurch ein bewegliches Gleichgewicht bilden […]. So lange eine überschüssige Kraft in irgendwelcher Richtung noch vorhanden ist, sei es ein Überschuss einer von dem Aggregat auf seine Umgebung oder einer von dieser Umgebung auf das Aggregat ausgeübten Kraft, so lange kann kein Gleichgewicht bestehen und muss deshalb auch die Andersverteilung des Stoffes noch fortdauern.« [Spencer 1875, § 170, S. 497] »Evolution ist gleichsam eine Theorie des Wartens auf nutzbare Zufälle, und dies setzt zunächst einmal voraus, dass es bestands- und/oder reproduktionsfähige Systeme gibt, die sich selbst erhalten – und warten können.« [Luhmann 1997, Bd. 1, S. 417]

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Spencers ausnahmslos mechanistische Erklärung der Integration und Differenzierung durch bewegungsdynamische Prozesse schließt den Weg der Systemtheorie jedoch grundsätzlich aus, die Selbsterhaltung als Konstitutionsbestimmung eines sich selbst organisierenden Systems zu fassen und damit substanzontologisch auf die Ordnung als tragende Erhaltungskonstante zurückzuführen: Eine rein bewegungsdynamisch begriffene Selbsterhaltung ist im Prinzip »substanzlos«. Die Ordnungsleistung der mechanischen, diakritischen Entwicklung vermag sich nur unter der Bedingung konstant zu halten, dass sich diejenigen sie verursachenden Kräfte erhalten. »Integrität als Art« hält sich nur aufrecht, wenn »Kräfte beständig thätig sind, solche abweichenden Individuen von den übrigen zu sondern« [ebd., § 166, S. 479]. Eine rein mechanistische Lösung der evolutionstheoretischen Paradoxie scheint sich nun mit Blick auf das Beispiel organischen Lebens anzubieten, selbst dann, wenn nicht auf reproduktive Leistungen und damit selbstorganisierende Systembildungen rekurriert werden kann. Im Falle lebender Körper kommt zum Stoffwechsel die Fähigkeit zur Restitution hinzu. Die Störung des Gleichgewichts bedeutet hier eine nicht geringe, sondern erhebliche »Abweichung von dem gewohnten Gange der Functionen, so […] dass dieselben in Unordnung gerathen sind«, etwa »wo durch Ausschweifungen eine Störung der Ordnung verursacht ist«, die eine »Wiederherstellung« des ursprünglichen Gleichgewichts erforderlich macht [Spencer 1875, § 173, S. 508 f]. Die Restitution hat demnach die Auf‌lösung der Ordnung und ihre Verwandlung in Unordnung zur Voraussetzung, d. h. die Des­integration überwiegt gegenüber der Integration. Anstatt die Restitutionsfähigkeit lebendiger Organismen systemtheoretisch als den Übergang von einer rein bewegungsmechanischen Organisation zur Selbstorganisation zu begreifen, inte­griert sie Spencer in die mechanistische Erklärung: Das Beispiel der Restitution fungiert entsprechend nicht als Ausnahme, sondern bloßer Grenzfall des energetischen Stoffwechsels. »Voraus­ gesetzt, dass die Störung nicht so bedeutend war, um das Gleichgewicht der Functionen ganz aufzuheben und das Leben zu zerstören […] so wird das gewöhnliche Gleichgewicht nach und nach wiederhergestellt« [ebd., S. 508]. Das Gleichgewicht löst sich nicht völlig auf, es bleibt bei einer bloßen Störung der Selbsterhaltung, die jedoch andererseits als eine die Grenzen der Normalität überschreitende extreme Störung den ursprünglichen Zustand nicht unverändert wiederherstellen kann, die Restitution vielmehr mit einer Verschiebung des Gleichgewichts notwendig einhergeht. Die Gesetze des energetischen Stoffwechsels 88 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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bleiben damit uneingeschränkt in Geltung.42 Spencers reduktionistische Erklärung der Restitution als Grenzfall des Stoffwechsels und seiner Form der Selbsterhaltung einer Störung gegenüber krankt jedoch daran, dass ihr der Nachweis einer bewegungsdynamischen Ursache nicht wirklich gelingt. Die unerhebliche Störung und geringe Abweichung im Normalfall des Stoffwechsels bedeutet, dass die Integration und damit die Ordnung ein Übergewicht behält, sodass die ordnenden Kräfte die Unordnung verursachenden schließlich assimilieren können. Diese Möglichkeit der Assimilation fällt jedoch bei der extremen Störung weg, insofern hier die »Auf‌lösung«, die desintegrierenden Kräfte, durch den Ordnungs- und Integrationsverlust die Oberhand gewinnen. Für die Restitution fehlt somit schlechterdings eine bewegungsmechanisch erklärbare Ursache. Spencers philosophisches System enthüllt damit selbst die grundlegende methodische Schwäche jeder möglichen rein mechanistischen Erklärung der bewegungsdynamischen Organisation, insofern es ihr nicht gelingt, eine Entwicklungsteleologie in den bewegungsdynamischen Prozessen zu verankern. Dazu wäre es erforderlich, die Restitution als eine wirklich selbstregulierende, regenerative Leistung und damit eine dem energetischen Stoffwechsel gegenüber eigenständiges Problem wirklicher Selbstorganisation zu fassen. Andererseits löst sich die evolutionstheoretische Paradoxie keineswegs schon mit der bloßen Einführung des Begriffs der Selbstorganisation in die mechanistische Erklärung. Selbstorganisationstheorien haben längst erfolgreich Einzug auch in die Physik gehalten. Thermodynamische Prozesse fern vom Gleichgewicht können offenbar nicht ohne die Annahme selbstregulierender Leistungen physikalisch begriffen werden. Da die thermo­ dynamische Erklärung jedoch weiterhin am Paradigma des energetischen Stoffwechsels festhält, löst auch sie das evolutions­theoretische Paradox der Unwahrscheinlichkeit des Entstehens von Organisation letztlich nicht. Auf eine Form von Selbstorganisation weist die Fähigkeit physikalischer Systeme hin, sich fern vom Gleichgewicht selbst zu stabilisieren. Die hier entstehende Systemstabilität kann offenbar durch mechanische Gesetze allein nicht zureichend erklärt werden 42

»Selbst jene extremen Fälle, wo durch Ausschweifungen eine Störung der Ordnung verursacht ist, die nie wieder vollständig gut gemacht werden kann, bilden keine Ausnahme von dem allgemeinen Gesetz; denn in solchen Fällen gleicht sich die Gesammtheit der Functionen nach einiger Zeit um einen neuen Durchschnittszustand herum aus, der von nun an zum Normalzustand des Individuums wird.« [Spencer 1875, § 173, S. 508]

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[Prigogine / Stengers, S. 148 f]. Überschreitet ein thermodynamisches System fern vom Gleichgewicht die Schwelle zur Instabilität, dann unterliegt es nicht mehr dem – mechanisch begründeten – Zwang, ins Gleichgewicht zurückzulaufen, sondern organisiert sich selbst aufgrund eigener Aktivität [ebd., S. 308 f]. Die Erwartung einer Antwort auf die Frage nach der möglichen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Entstehens von Ordnung auf thermodynamischer Grundlage wird allerdings enttäuscht. Die äußeren, vom Energiefluss abhängigen Bedingungen für die Selbstorganisation scheinen dauerhaft nur aufrecht zu erhalten unter experimentellen, künstlich erzeugten »Einschränkungen« und »Zwangsbedingungen« im Labor.43 Der Makel der Unwahrscheinlichkeit und fehlenden teleologischen Ausrichtung der bewegungsdynamischen Organisation resultiert letztlich aus der analogen, konstitutionstheoretischen Erklärung auch der »mechanischen Entwicklung«. Die Verankerung des Konsti­ tutionsbegriffs der Entwicklung in der Ontologie des Herstellens führt dazu, dass die τελειώσις, die vollendende Entwicklung, als eine Form ausschließlich des Entstehens und nicht des Vergehens betrachtet wird. Die Vergänglichkeit und (Selbst-)Auf‌lösung von sich selbst erhaltenden Systemen als die Anfangsbedingung der Restitution kann deshalb nicht als teleologische Ursache des Werdens begriffen werden und erscheint so den geordneten Entwicklungsprozessen gegenüber als ein kontingenter, lediglich desorganisierender Faktor. In der Herstellung lässt sich die Phase der Produktion unterscheiden vom fertigen Produkt, das den Produktionsvorgang als abgeschlossenen hinter sich lässt. Mit diesem Vorgang ist vor allem ein grundsätzlicher Wandel der Erhaltungsbedingungen verbunden: Im Verlaufe der Produktion liegt die Erhaltung des Produktes in der Hand des Produzenten, während die Fertigstellung selbständige Existenz im Sinne des esse rei extra causas44 und damit die Selbsterhaltung des Produktes bedeutet. Versteht man den Entwicklungsprozess als einen solchen Produktionsvorgang, dann muss man in diesem Sinne auf der strikten Unterscheidung der Entstehungs- und Erhaltungsprinzipien beharren: Die zur System43

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Nicolis / Prigogine, S. 85 f. Auf diese grundsätzliche Problematik hat Michael Weingartens sehr instruktive Darstellung im Hinblick auf die Evolu­tions­ theorie hingewiesen [vgl. Weingarten, S. 252 ff., insbesondere 258 ff]. Cajetan bringt in seinem Kommentar zu Thomas von Aquins De ente et es­ sentia die für die mittelalterliche Ontologie und Theologie maßgebliche Be­ stimmung der Existenz im Sinne des von Gott Geschaffenen auf den Begriff: »Id quod realiter existit extra causas suas est ens reale.« [Cajetan IV 59, S. 92]

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bildung gehörende Selbsterhaltung als Produkt der Entwicklung kann nicht zugleich als Bedingung für ihre Produktion in Anspruch genommen werden. Die Unterscheidung von Produktion und Produkt hat aber noch einen anderen Aspekt, der vor allem die Auf‌lösung der evolutionstheo­ retischen Paradoxie verhindert: Der Teleologie des Herstellungsvorgangs folgend müssen Entstehen und Vergehen als voneinander getrennte Vorgänge betrachtet werden, die einander sukzessiv ablösen. Alle Produktionsvorgänge werden teleologisch bestimmt durch ihre Beziehung auf das zu verfertigende Produkt. Das Vergehen als ein Auf‌lösungsprozess der Ordnung ist deshalb nur als die Umkehrung der im Prinzip abgeschlossenen Produktivität des Entstehens denkbar, d. h. greift niemals ein in den Prozess der geordneten Produktion, sondern betrifft ausschließlich das fertige Produkt. Plausibilität gewinnt dieses ontologische Modell nicht zuletzt durch seine Übereinstimmung mit der alltäglichen Erfahrung periodischer Lebenszyklen. Im Einklang mit der Ontologie des Herstellens trennt auch Spencer das Entstehen und Vergehen im Sinne eines sukzessiven Ablaufs. Ganz aristotelisch sieht Spencer in der integrierenden Entwicklung nur das produktive Entstehen, die reine »Vollendung« (τελειώσις) im Sinne einer linear fortschreitenden Integration als Folge der Diakrisis. Erst wenn der Zenit, die »höchste Stufe der Integration«, überschritten ist, ändert sich der Lebensrhythmus dahingehend, dass Prozesse der Desintegration und des Zerfalls wirksam werden [vgl. Spencer 1875, § 172, S. 506 und § 173, S. 510]. Das ontologische Modell des Herstellens verstellt hier den Blick auf die Verschränkung des Entstehens und Vergehens, wie sie sich in der bewegungsdynamischen Restitution ergibt. Motor und Antrieb einer restituierenden, diakritischen Entwicklung ist nicht das auf die Fertigstellung eines Produktes ausgerichtete Entstehen, sondern das Vergehen. Die Restitution wirkt Zerfallsprozessen einer Organisation in statu nascendi entgegen, die sich gerade durch ihre mangelnde Fähig­keit zu einer wirklich dauerhaften Selbsterhaltung auszeichnet. Damit verlieren einerseits die bewegungsdynamischen Prozesse ihre Kontingenz der Entwicklungsteleologie gegenüber. Die mechanische Auf‌lösung eines sich selbst erhaltenden Systems ist hier nicht die Folge, sondern die Ursache des Entstehens, wodurch die Bewegungsmechanik in die Teleologie der Entwicklung von vornherein eingebunden wird. Zum anderen wird damit die systemtheoretische petitio princi­ pii vermieden, die Entstehungsbedingungen des Systems auf seine Er­ 91 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

haltungsbedingungen zurückzuführen im Sinne einer reproduktiven Verwertung zufälliger Veränderungen, insofern nun umgekehrt die Erhaltungsbedingungen des Systems in seinen Entstehungsbedingungen – den bewegungsdynamischen Ursachen der diakritischen Entwicklung – liegen. Die bewegungsdynamische, diakritische Entwicklung hat nicht den Sinn, den Bestand einer Ordnung durch eine Form der Selbstkonstitution eben dieser Ordnung, eine ihr eigene Aktivität des Stoffwechsels, zu sichern. Ein System, das im Zustand unaufhaltsamer Selbstauf‌lösung begriffen ist, wird durch solche Kräfte restituiert, die neue und mehr geschlossene Stoffwechselsysteme allererst schaffen, die sich durch die zunehmende Immunität verändernden, bewegungsdynamischen Einflüssen gegenüber auszeichnen. Die methodische Alternative, die zur bewegungsdynamischen Organisation gehörende Selbsterhaltung entweder auf innere oder äußere Bedingungen der Systembildung – eine systeminterne autopoietische Selbstorganisation oder mechanische Ursachen aus der Umwelt des Systems – zurückführen zu müssen, rührt letztlich von der nicht vollständig überwundenen Analogie der bewegungsdynamischen mit einer konstituierenden Entwicklung her. Die teleologische Anlage der Konstitution beruht auf der aristotelischen Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit, der Veränderung nur der Seinsmodalität einer dem Entstehen und Vergehen enthobenen substanziellen Entwicklungseinheit. Die Ordnungen sind demnach als »fertige« Dispositionen dem Herstellungsprozess immer schon teleologisch vorgegeben im Sinne eines zugrunde liegenden Plans der Entwicklung, einer sich realisierenden und in dieser Realisierung vollendenden Idee. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, eine solche teleologische Konstitutionsbestimmung der Aktualisierung von (Ordnungs-)Dispositionen zu denken: Entweder vollzieht sich diese Teleologie innerhalb des Systems durch seine Fähigkeit zur reproduktiven Entwicklung, oder aber die Dispositionen zur Entwicklung liegen außerhalb des Systems in Gestalt bewegungsmechanischer Gesetze der Attraktion und Repulsion. Die konsti­tu­tionstheoretische Fundierung der Teleologie verhindert in beiden Fällen, sie als eine den bewegungsdynamischen Prozessen immanente intentionale Ausrichtung zu fassen: Die Idee der autopoietischen Selbstorganisation von Hegel bis hin zu Luhmann setzt die Unterbrechung des bewegungsdynamischen Kontinuums durch die Selbstreproduktion des Systems voraus. Die Bewegungsdynamik wird so zu einer bloß kontingenten, auslösenden Ursache für eine Teleologie der Ordnung und Organisation, der sie selber nicht unterliegt. Wird die 92 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

Selbsterhaltung andererseits rein mechanistisch als Form des energetischen Stoffwechsels begriffen, die von Dispositionen konstituiert wird, die außerhalb des Systems in seiner bewegungsdynamischen Verursachung liegen, dann scheitert die Annahme einer Entwicklungsteleologie an der Zweideutigkeit der Entstehungsbedingungen, wonach bewegungsdynamische Prozesse sowohl integrieren als auch desintegrieren und ein Übergewicht der integrierenden Kräfte kausalgenetisch nicht wirklich ausweisbar ist. Die methodische Grundlage für den Aufweis einer originären Entwicklungsteleologie bewegungsdynamischer Prozesse wäre eigent­ lich von Spencers Kapitel über den »Rhythmus der Bewegung« [vgl. Spencer 1875, § 82–88, S. 254–275] zu erwarten. Bewegungsrhythmen weisen eine Periodenstruktur auf, welche die Ausbildung einer Wiederholungsstruktur erkennen lässt, etwa bei akustischen Schwebungen »wiederkehrende Zwischenräume von Ton und Tonlosigkeit« [ebd., § 82, S. 257], periodische Be­wegungen von Planetenbahnen [ebd., § 83, S. 259], metereologische Rhythmen, der periodische Vulkanismus [ebd., § 84, S. 263], die organischen Rhythmen der Verdauung und Ernährung, periodische Rhythmen von Krankheitsverläufen [ebd., § 85, S. 265 und 266] oder von Bewusstseinszuständen wie dem Schwanken der Aufmerksamkeit, Rhythmik und Metrum in der Dichtung und Musik, die Rhythmik von seelischem Schmerz und Erleichterung [ebd., § 86, S. 267 ff], dazu die Rhythmen gesellschaftlichen Lebens [ebd., § 87, S. 270 ff]. Es ist bezeichnend, dass Spencers mechanistische Erklärung die zur Bewegungsdynamik gehörende Rhythmik und Periodik nicht zur Gewinnung eines Begriffs von Selbstorganisation nutzt, sie in allen Fällen vielmehr nur als ein Sonderfall der Konsti­ tution eines labilen, beweglichen Gleichgewichts durch den energetischen Stoffwechsel ansieht. Das Phänomen periodischer Rhythmik muss zwar nicht, es kann aber in besonderen Fällen auf eine Form von Selbsterhaltung hinweisen, die durch eine sich selbst organisierende Bewegung verursacht wird, wie exemplarisch im Falle regenerativer Prozesse, die eine sich auf‌lösende Ordnung durch eine Wiederholungsbewegung restituieren, worauf etwa die von Spencer selbst angeführten Beispiele von periodischen Verläufen der Erkrankung und Gesundung hinweisen. Die Selbsterhaltung der Bewegung führt Spencer jedoch bezeichnend generell nicht auf eine organisierende Rhythmik zurück, weil dies den mechanistischen Erklärungsansatz sprengen würde, indem eine Fähigkeit zur Selbstregulation in Anspruch genommen würde. Die Selbsterhaltung des Rhythmus resul93 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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tiert keineswegs aus diesem selbst, sondern entspringt wiederum dem »Fortbestehen der Kraft« [ebd., § 88, S. 273]. Im Lichte der Analogie von konstituierender und mechanischer Entwicklung wird die Erhaltung des Rhythmus auf eine widerstandsfähige, sich selbst erhaltende Kraft und damit eine energetische Disposition ursächlich zurückgeführt, die fortwährende Aufnahme und Abgabe eines überschüssigen Potentials angesammelter Bewegungsenergie.45 Bezeichnend eliminiert diese mechanistische Erklärung den Wiederholungssinn der Bewegungsrhythmik. Die Umwandlung von Dispositionen in einen Ordnung stiftenden Akt im Sinne der individuierenden Konstitution ist als solche unwiederholbar einmalig46, was sich im Falle einer solchen rhythmischen Kraftentfaltung daran zeigt, dass ein immer wieder anderes und neues Energiequantum unwiederbringlich »verbraucht« wird, welches die Rhythmik in Gang hält. Die beobachtbare, periodische Wiederholung in den Phänomenen erweist sich demnach energetisch betrachtet als purer Schein. Sie gibt lediglich den symbolischen Hinweis auf die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen, eine an sich aperiodische, sukzessiv-kontinuierliche Erhaltung in Gestalt einer unter der Oberfläche der Phänomene im Verborgenen wirkenden Kraft.47 In diesem Sinne führt Spencer die Entstehung des musikalischen Rhythmus zurück auf die »abwechselnde Zu- und Abnahme der Muskelspannung« [Spencer 1875, § 86, 45

46 47

Dort, wo keine aktiv wirkende, anderen Kräften widerstehende sich selbst erhaltende Kraft als verursachende Größe des Rhythmus vorhanden zu sein scheint, »muss doch die in dem sich bewegenden Körper selbst angesammelte Bewegungsgrösse denselben schließlich über den ihn anziehenden Körper hinausführen und damit in eine Kraft übergehen, die im Gegensatz steht zu der, welche sie erzeugte« [Spencer 1875, § 88, S. 275]. Zur Problematik der konstitutiven Individuation vgl. Einleitung Kap. V sowie Teil B, Kap. III. Das Verhältnis von Phaenomena und Noumena erläutert der § 26 von Spencers Grundbegriffen. Die Erkenntnis bleibt im Prinzip auf das Phänomenale beschränkt. So kann »vernünftigerweise auch nicht die positive Existenz von etwas jenseits des Phänomenalen Liegendem behauptet werden« [Spencer 1875, § 26, S. 87]. Allerdings bleibt bei Spencer der metaphysische Dualismus von Phaenomena und Noemena bestehen, insofern die »Wirk­lich­keit« grundsätzlich ein hinter den Erscheinungen liegendes im Prinzip unerkenn­bares Sein verkörpert, das nur vom Phänomenalen aus durch symbolische Verweisungen erschlossen werden kann [vgl. ebd, § 4, S. 156 ff]. In der Schluss­betrachtung ist von »Hypothesen über das innerste Wesen der Dinge« die Rede [ebd., § 194, S. 568] in Form von Gesetzeserkenntnissen, welche »die Ver­bindung zwischen dem Phänomenalen und dem Realen«, welche »für immer unerforschlich bleibt« [ebd., S. 567] zumindest symbolisch andeutet [vgl. ebd., S. 568].

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2) Herbert Spencer: Der mechanistische Begriff

S. 296] – d. h. wiederum auf ein gleichbleibendes, sich kontinuierlich durchhaltenden Energiepotential, das integrierend wirkt. Stützt sich die teleologische Interpretation der Bewegungsrhythmik dagegen nicht auf den Normalfall des energetischen Stoffwechsels, sondern das, was bei Spencer als Grenzfall fungiert – die Restitution –, dann muss die Möglichkeit einer konstitutionstheoretischen Begründung von periodischer Selbsterhaltung und Entwicklung durch ein sich erhaltendes Kraftpotential im Prinzip entfallen. Im Falle der Restitution überwiegen die desintegrierenden gegenüber den integrie­ renden Kräften. Die Selbsterhaltung des Rhythmus, die sich bekundet in der periodischen Wiederholung, kann deshalb auch nicht auf integrierende Kräfte als Wirkursachen zurückgeführt werden mit ihrer Möglichkeit der Umwandlung von aktueller in potenzielle – dispositionelle – Energie und umgekehrt. Die restituierende Wiederholungsbe­ wegung aktualisiert keine zunächst in Ruhe befindlichen Vermögens­ dispositionen, sie besteht in der iterativen, aktualen Disposition einer nicht bloß möglichen, sondern wirklich vollzogenen Bewegung, einem sich aktiv immer wiederholenden Akt, der sich als solcher durch einen nicht einmaligen, sondern wiederholten Vollzug, eine dispositionell mehrfache Setzung, auszeichnet. Eine Entwicklungsteleologie, die aus einem solchen mehrfach setzenden Akt dispositioneller Wiederholungsaktivität resultiert, leitet deshalb grundsätzlich keine Ziel- und Zwecksetzung der Konstitution in Form der »aktiven« Verwirklichung eines zuvor »passiven« Vermögens. Bewegungsdynamische Prozesse enden mit der Diakrisis, der Aussonderung eines geordneten Systems aus dem ungeordneten bewegungsdynamischen Kontinuum. Wird diese Diakrisis durch eine Wiederholungsbewegung gleichsam bekräftigt als ein festes Ziel, dann kommt in ihr eine aktuale Teleologie der Selbstregulierung im Sinne einer konstanten intentionalen Orien­ tierung der Bewegung zum Vorschein. Der bewegungsdynamische Prozess schafft sich demnach – ohne auf ein dispositionelles Vermögen rekurrieren zu müssen – seine teleologische Ausrichtung selbst in der Selbstorganisation einer rhythmischen Wiederholungsbewegung. Die an Kants Kritik der Urteilskraft anschließende philosophische Theorie der Selbstorganisation und Entwicklung ist jedoch nicht diesen Weg gegangen, bewegungsdynamische Prozesse als Formen der intentionalen Selbstregulierung zu denken. Der Lebensbegriff wird vielmehr zum Rettungsanker für die durch die Naturwissenschaften bedrohte Substanzontologie, die jeden Versuch einer kausalgenetischen Erklärung von »lebendiger« Organisation als einen naturalistischen Fehl95 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

schluss zurückweist. Organisation wird auch hier nicht als ein Resti­ tutionsbegriff gefasst, sondern konstitutionstheoretisch als eine Form von reproduktivem, autopoietischem Stoffwechsel begriffen.

3)

Selbsterhaltung als Selbstorganisation: Der Lebensbegriff als Paradigma von Organisation und Entwicklung

Hegel feiert Kants Kritik der Urteilskraft, sie habe »die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wieder erweckt« [Hegel 1969, § 204, S. 178] und damit zugleich den einzig wahren aristotelischen Begriff einer sich selbst hervorbringenden und erhaltenden Lebenstätigkeit wiedergewonnen, der in der modernen, naturwissenschaftlichen Betrachtung der Natur verloren gegangen sei.48 Die Prämisse Hegels ist die Gewinnung eines rein noumenalen Konstitutionsbegriffs der Organisation im Sinne der sich ausschließlich selbst realisierenden Idee. Dafür steht der Begriff des Lebens als derjenige einer schlechterdings autonomen Gestalt autopoietischer Selbstorganisation: »das Lebendige produziert nur sich selbst« [Hegel 1982 b, A. 176]. Hegel weist damit jeden Anspruch naturwissenschaftlicher, kausalgenetischer Erklärung von Organisation und Entwicklung mit dogmatischer Entschiedenheit zurück. Das Leben als ein ausschließlich sich selbst Produzierendes kann niemals zugleich als das Produkt einer kausalgenetischen,

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Hegel sieht Aristoteles und Kant als die Gewährsmänner für seine Theorie der Autopoiese, indem sie die teleologische Bestimmung des Lebens als nicht nur äußere, sondern innere Zweckmäßigkeit, d. h. den Zweck als Selbstzweck und damit Organisation als Selbstorganisation gefasst haben: »Mit dem Begriffe von innerer Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wieder erweckt. Die Bestimmung des Aristoteles vom Leben enthält schon die innere Zweckmäßigkeit und steht daher unendlich weit über dem Begriffe der modernen Teleologie, welche nur die endliche, die äußere Zweckmäßigkeit vor sich hatte.« [Hegel 1969, § 204, S. 178] In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heißt es, in Aristoteles’ Begriff der Energie und Entelechie als Selbstzweck eines sich selbst Produzierenden sei »der Begriff des Lebens enthalten; aber dieser Aristotelische Begriff der Natur, der Lebendigkeit, ist verlorengegangen, ist abwesend in neuerer Betrachtungsweise der Natur, des Lebens, wo man Druck, Stoß, chemische Verhältnisse, überhaupt äußerliche Verhältnisse zugrunde legt.« [Hegel 1982 b, S. 177] Die Auffassung des Lebens als Energie und Entelechie impliziert nach Hegel die »sich selbst erhaltende Tätigkeit, d. h. die nur sich selbst hervorbringende Tätigkeit« [ebd., S. 176 f].

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3) Selbsterhaltung als Selbstorganisation

mechanischen Entwicklung entstehen.49 Philosophischen Ambitionen einer wirklich universellen Theorie der bewegungsdynamischen Organisation und »mechanischen Entwicklung«, welcher die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels zunächst durchaus Nahrung zu geben scheint, erteilt die Kritik der Urteilskraft in der Tat eine brüske Absage. Anlass und Grund dafür ist Kants Auseinandersetzung mit der Theorie der Epigenesis. Kant stellt sich ausdrücklich auf die Seite von Johann Friedrich Blumenbach, der in Bezug auf die Epigenesis das Lob erhält, »die Beschränkung eines zu vermessenen Gebrauchs derselben« [Kant 1979, § 81, B 379, A 374] geleistet zu haben. Mit dieser Kritik nicht direkt angesprochen aber unausdrücklich gemeint ist offenbar Caspar Friedrich Wolff und seine Theoria Generationis. ­Warum Wolff für Kant zum Stein des Anstoßes wird, lässt sich mit Blick auf Kants eigene, noch »vorkritische« Konzeption der »mechanischen Entwicklung« von 1755 verstehen. Das Skandalon, von einer teleologischen Entwicklung mit Blick auf die Bewegungsmechanik zu sprechen, konnte so lange philosophisch ertragen werden, als dieser Entwicklungsbegriff den Form-Materie-Dualismus der Sub­stanz­onto­ logie unangetastet ließ, indem er die Fähigkeit zur originären Organisation des Stoffes durch eine präformierende Formursache von einer solchen rein mechanischen Entwicklung ausdrücklich ausnahm. Bei Wolff werden bewegungsmechanische Ursachen nun jedoch für die Erklärung der Entstehung gerade auch von Leben und Organisation in Anspruch genommen, was letztlich – auch für den »kritischen« Kant ungeheuerlich – die ontologischen Fundamente der Substanzontologie und mit ihr des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung ins Wanken bringt. Die Präformationstheorie entwirft nach Wolff ein Zerrbild veränderlichen Werdens, indem sie die Möglichkeit wirklichen Entstehens und Vergehens der Substanzen ausschließt, die vielmehr als im Prinzip unveränderliche und unzerstörbare Keime angenommen werden, die sich immer nur entwickeln können: »Eine solche elende Natur kann ich nicht ausstehen, und die Samenthierchen, in ihrer Hypothese betrachtet, sind nicht ein Werk des unendlichen Philosophen, sondern sie 49

Die Art der Entstehung von Leben ist mit der bewegungsmechanischen unvereinbar. Während sich das Lebendige selbst produziert, scheint dagegen das »chemische Produkt […] nicht sich selbst so vorher zu haben, – Säure und Base; im Chemischen scheint ein Drittes herauszukommen« [Hegel 1982 b, S. 175], d. h. Produktion und Produkt fallen hier nicht autopoietisch zusammen, sondern kausalgenetisch auseinander.

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

sind das Werk eines Leuvenhocks, eines Glasschleifers.« [Wolff, S. 73] Wolffs Kritik an der Präformationstheorie von Hallers und Bonnets bestreitet nicht die Möglichkeit von Organisation und Entwicklung als solche, sofern sie offenkundig sichtbar ist wie bei der Entfaltung eines Planzenkeimes oder der Metamorphose der Insekten. Die weitergehende Annahme, dass entwicklungsfähige Keime auch dort hypothetisch anzunehmen sind, wo sie nicht unmittelbar beobachtet werden können – dem Entstehen organischer Substanzen –, stellt Wolff jedoch als eine unzulässige Ausweitung des Entwicklungsgedankens in Frage50, denn damit wird der Natur ihre eigentlich schöpferische Leistung, lebensfähige Keime ursächlich hervorzubringen, grundsätzlich abgesprochen. Wolff unterscheidet entsprechend von der Organi­ sation als Aspekt der Entwicklung die Phase der Produktion, welche ihr ursächlich vorausgeht, sodass die organisierende Entwicklung von daher als eine der Entstehung nachgängige Epigenesis begriffen wird. Die Entwicklung strukturiert die Materie, sie ist in diesem Sinne eine geordnete »Formation«. Die Produktion dagegen ist als solche unorganisiert. Die »Production des Theils ist von der Formation seiner Gefäße, woraus er, wenn er erwachsen ist, bestehen soll, verschieden. Folglich wird ein jeder organischer Theil zuerst producirt, und alsdann organisirt, und diese Organisation eines Theiles ist eine von der Production desselben unterschiedene Würkung der Natur« [ebd., S. 162]. Der Ausgangspunkt der Produktion bildet eine strukturlose, gänz­lich unorganisierte materielle Substanz.51 Der Zusammenhang von Produktion und Evolution und damit der epigenetische Charakter von Entwicklung überhaupt bekundet sich darin, dass als Bedingung der Möglichkeit für die organisierende Formation eine die Materieteilchen im Voraus verdichtende und aussondernde Diakrisis notwen-

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Wolff unterscheidet die »existirende Entwicklung« von der Entwicklung als Hypothese [Wolff, S. 48]. Die wahren Entwicklungen sind »immer sichtbar, nie­mals unsichtbar gewesen« [ebd., S. 46]. »Sie sagen, man sieht ja eine Ent­ wick­lung bey den Pflanzen wenigstens, an ihren Knospen (Gemmis) und bei den Insekten an der Verwandlung. Dass dieses eine wahre Entwicklung, so wie ich sie definirt habe, sey, die anstatt der Production seyn soll, die also die Production ausschließt, und nicht vor sich vorhergehen läßt, dieses eben ist es, was ich läugne« [ebd.]. Als Ausgangspunkt für die Produktion »bleibt weiter nichts, als ein Klumpen Materie übrig, die zwar die Eigenschaften der thierischen Substanz haben kann, in der sie aber so wenig Organisation oder Struktur noch antreffen, als in einem Klumpen Wachs« [Wolff, S. 162].

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3) Selbsterhaltung als Selbstorganisation

dig anzunehmen ist.52 Wolff verwendet als Ausdruck das lateinische Äquivalent von griech. διακρίνειν (diakrinein), excernere, »excerniren«. Das »Excerniren« (Aussondern bzw. Ausscheiden) vollzieht sich in zwei Stufen, entsprechend der zunächst anorganischen Produktion und der ihr epigenetisch folgenden organischen Entwicklung. Der rein mechanischen und unorganisierten bewegungsdynamischen Diakri­ sis als erster Stufe folgt als zweite eine formierte Diakrisis nach, eine funktionale Differenzierung solcher schon ausgesonderter Teile: »Ein jeder Theil ist im Anfange, wenn er excernirt oder deponirt wird, unorganisch, und er wird erst organisirt, wenn er schon wieder andere Theile excernirt hat, und diese Organisation eines Theils geschiehet entweder durch Gefäße und Bläschen, die in ihm formirt werden […], oder durch zusammengesetzte Theile, die innerhalb seiner Substanz deponiert werden.« [Wolff, S. 211] Die organisierende Funktion der Diakrisis ist im wesentlichen epigenetisch, d. h. die Diakrisis als Bedingung jeder organischen Entwicklung kann nicht wiederum durch eine formierende Organisation ursächlich erklärt werden.53 Während die Theorie der Selbstorganisation von Blumenbach und Kant angefangen über Hegel bis hin zu Maturana und Luhmann diese Diakrisis auf eine Leistung der systeminternen funktionalen Differenzierung zurückführt, geht sie bei Wolff dieser ermöglichend voraus: die bewegungsdynamische Diakrisis stellt alles andere, nur keine Form von »Selbst«-Differenzierung eines sich selbst reproduzierenden Systems dar. Eine produktive Diakrisis als mechanische Ursache der Formation und Organisation voranzustellen, droht nicht weniger als die Fundamente der Substanzontologie zu sprengen, denn die Möglichkeit des Entstehens und Vergehens betrifft so nicht mehr nur – wie in der aristotelischen Tradition – die Körper, die anfängliche Zusammenstellung und das endgültige Auseinanderfallen von solchen im Herstel52

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Dass die »Produktion« den Sinn einer bewegungsdynamischen Verdichtung hat, betont die Rezension von Hallers, welche Wolff in seiner Theoria Generationis abdruckt: »In diesem ganzen Geschäfte hat er [Wolff, d. Verf.] keine andere Grundkräfte vonnnöthen, als die Bewegung (vis essentialis) und das Dichtwerden des Stoffes.« [Wolff, S. 138] Das zeigt Wolff am Beispiel der morphologischen Entwicklung des Embryo: Die diakritische »Absonderung« von Teilen geht der funktionalen Differenzierung von Organen durch die »innere Organisation« als Bedingung voraus: »Auf eben diese Art fährt der Rückgrad fort, auf beyden Seiten die Substanz abzusondern, woraus durch ihre innere Organisation, die ich eben so deutlich erklärt habe, in der Folge die Flügel und Füße werden.« [Wolff, S. 104]

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lungsprozess zusammengebauten Composita aus Form und Stoff. Die Formursache, die vermeintlich unvergängliche Substanz als bleibende Erhaltungskonstante allen Werdens wird nun ihrerseits zum Produkt einer Produktion. Hier wird der Lebensbegriff letztlich zum Rettungsanker der Substanzontologie. Dass sich Kants Kritik der Urteilskraft vornehmlich Blumenbach und nicht Wolff mit Wohlwollen zuneigt, wird schließlich verständlich vor dem apologetischen Hintergrund eines philosophischen Rettungsversuchs der Substanzontologie angesichts der kausalgenetischen Erklärung auch von Organisation – verschuldet durch solches die Metaphysik mehr und mehr vertreibende neuzeitlich-naturwissenschaftliche Denken. »Alle und jede organisirte Körper haben ihren Bildungstrieb, alle folglich auch eine Reproduktionskraft […].« [Blumenbach, S. 85] Für Blumenbach wird die Reproduktions- und Regenerationsfähigkeit zur Auszeichnung des lebenden Organismus. Bewegungsdynamische Ursachen, wie sie die klassische Mechanik von Descartes und Newton begreift, sind als solche nicht regenerativ, sodass schließlich das Leben philosophisch als etwas in Anspruch genommen werden kann, was sich durch seine Fähigkeit zur Selbstreproduktion ausschließlich selbst konstituiert, ohne dass es in seiner »inneren« autonomen Selbstkonstitution zugleich durch irgendwelche »äußeren« bewegungsmechanischen Ursachen hervorgebracht würde. Kant und Hegel können so den methodischen Weg verfolgen, den klassischen Substanzbegriff in seiner Statik unbeweglich verharrender Naturanlagen zu dynamisieren, ihn funktional und genetisch zu fassen als eine Form der nicht passiven, sondern aktiven Selbsterhaltung durch reproduktive, sich selbst organisierende Leistungen wie Fortpflanzung und Stoffwechsel: Der Begriff des sich selbst reproduzierenden Lebens wird somit im kritischen Kontext einer Emendation der Substanzontologie zum höchst effektiven und wirkungsmächtigen antinaturalistischen Kampfmittel: Das Leben erscheint nun als ein Noumenon, eine dem kausalgenetisch erklärbaren Entstehen und Vergehen der Phaenomena schlechterdings enthobene Form der substanziellen Selbsterhaltung. Die Grundlagen für einen solchen Konstitutionsbegriff des Lebens im Sinne dynamischer Selbstorganisation und Entwicklung finden sich in den Erörterungen des Verhältnisses von Teleologie und Naturkausalität in der Kritik der Urteilskraft. Der vermessene Gebrauch der Theorie der Epigenesis beruht nach Kant auf einer mangelnden Unterscheidung der teleologischen und kausalgenetischen Erklärung der Natur, welcher deshalb auf die fehlerhafte Annahme 100 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Selbsterhaltung als Selbstorganisation

einer zweifachen Erzeugung, einer generatio aequivoca, hinausläuft, »worunter man die Erzeugung eines organisierten Wesens durch die Mechanik der r­ohen unorganisierten Materie versteht« [Kant 1979, § 80, Anm. A 366]. Der Naturforscher kann nach Kant einerseits »nicht auf reinen Verlust arbeiten« [ebd., B 367, A 362], d. h. in seiner rein mechanischen Erklärung der Phänomene auf die Unterstellung eines Organisationsprinzips gänzlich verzichten. Um die Möglichkeit »organisierter Wesen« zu begreifen, ist die Einführung des Begriffs des Naturzwecks in die Naturerklärung unerlässlich. Andererseits kann die Teleologie kritisch betrachtet nicht als ein von der mechanischen Naturkausalität unabhängiges und mit ihr konkurrierendes Kausalprinzip in Anspruch genommen werden. Deshalb müssen sich die teleologische und kausal­genetische Erklärung notwendig ergänzen – das »organisierte Wesen« ist zwar einerseits notwendig teleologisch zu begreifen, aber andererseits »zugleich als ein Produkt der Natur« zu betrachten [ebd., § 81, B 374, A 370]. Warum es bei dieser sowohl kausalgenetischen als auch teleologischen Erklärung nicht zu einer generatio aequivoca kommt, liegt an der methodischen Beachtung der Unterscheidung von Phaenomena und Noumena. Der Naturzweck bleibt ein intelligibler Begriff, der ­anders als die mechanische Erklärung nicht aus den Phaenomena zu gewinnen ist. Wie schon in seiner Doktordissertation De mundi sen­ sibilis atque intelligibilis forma et principiis von 1770 versucht Kant auch hier den Streit zwischen Naturwissenschaft und Philosophie um das Privileg der Welterklärung dadurch zu schlichten, dass er die natur­w issenschaftliche Gesetzeserkenntnis auf den Bereich der Phänomene, den mundus sensibilis, beschränkt.54 Diese systematische Einschränkung verschärft sich nun allerdings durch den Versuch, einen nicht metaphysischen, sondern kritischen Begriff des Naturzwecks zu gewinnen: Es gehört die Teleologie demnach weder zur Naturwissenschaft, noch zur Theologie. Einerseits obliegt die Ursachenerklärung, die Erkenntnis der »Naturerzeugungen und die Ursache derselben«, allein der Naturwissenschaft, denn es ist zur Begründung der Teleologie nicht möglich, auf eine transzendente und intelligible Ursache, 54

Kant verteidigt in dieser Schrift die Eigenständigkeit der naturwissenschaft­ lichen Methode. Auch wenn die Phaenomena »eigentlich Abbilder, nicht Ur­ bilder der Dinge« sind, so bleibt doch die auf sie bezogene »Erkenntnis von ihnen ganz wahr« [Kant 1770, § 11, A 13]. In Bezug auf die Phaenomena gibt es »demnach Wissenschaft, obgleich es bei ihnen, da sie Phaenomena sind, keine reale, sondern nur eine logische Verstandestätigkeit gibt« [ebd., § 14. A 14].

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

einen »göttlichen Urheber« als Grund für die Organisation natürlicher Erscheinungen, zu rekurrieren [Kant 1979, § 79, B 364, A 360]. Da sich »die mechanische Erklärung der Phänomene […] durch ihre wirkenden Ursachen« lediglich auf Phaenomena bezieht, gibt sie andererseits »über das Entstehen und die innere Möglichkeit dieser [teleologischen, d. Verf.] Formen gar keinen Aufschluß« [ebd., B 366, A 361]. Daraus zieht die Kritik der Urteilskraft den Schluss: »Die Teleologie, als Wissenschaft, gehört also zu gar keiner Doktrin, sondern nur zur Kritik, und zwar eines besonderen Erkenntnisvermögens, nämlich der Urteilskraft.« [Ebd.] Das Leben als »organisiertes Wesen« ist nun das geradezu exemplarische Beispiel für die Notwendigkeit, die Erscheinungen der Natur einerseits kausalgenetisch zu erklären, sie aber andererseits zugleich als zweckmäßig und innerlich organisiert beurteilen zu können und zu müssen. Kants teleologischer Begriff des Lebens ist freilich nicht metaphysisch in dem Sinne, dass er als ein reines Noumenon gelten könnte, denn so wäre die Organisation letztlich gar keine Naturerscheinung. Die kritische Verwendung der Teleologie führt vielmehr dazu, die Natur als organisiert zu beurteilen, indem das Phaenomenen auf ein Noumenon als Ordnungsinstanz bezogen wird. Es geht also darum, ein Organisationsprinzip in der kausalgenetischen Erklärung der Phänomene sichtbar werden zu lassen. So muss der Naturforscher »immer irgend eine ursprüngliche Organisation zum Grunde legen, welche jene Mechanismen selbst benutzt, um andere organisirte Formen hervorzubringen, oder die seinige zu neuen Gestalten (die doch aber immer aus jenem Zwecke und ihm gemäß erfolgten) zu ent­ wickeln.« [Kant 1979, § 80, B 367, 368, A 362, 353] Die Naturkausalität wird damit angesehen »gleichsam als das Werkzeug einer absichtlich wirkenden Ursache, deren Zwecke die Natur in ihren mechanischen Gesetzen gleichwohl untergeordnet ist.« [Ebd., § 81, B 374, 375, A 370] Es ist auf diese Weise zwar nicht möglich, zur Erklärung von möglicher Organisation die Teleologie in der Kausalgenese empirisch zu verankern. Das würde auf eine doktrinäre Verwendung der Teleologie hinauslaufen, den Naturzweck als eine wirkende Ursache im Bereich der Phänomene anzunehmen. Das angemessene Verhältnis von Teleologie und Kausalität in der Beurteilung durch die Urteilskraft ist vielmehr das von Zweck und Mittel. Diese instrumentelle Auffassung kausalgenetisch erklärbarer bewegungsdynamischer Prozesse restringiert bezeichnend den Sinn von Entwicklung auf den Konstitutionsbegriff der Verwirklichung eines präformierenden Vermögens, also der 102 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Selbsterhaltung als Selbstorganisation

Ontogenese, wie dies auch Kants Vermittlungsversuch von Präformation und Epigenesis im Begriff einer »generischen Präformation« zum Ausdruck bringt, wo dem epigenetischen Charakter der sichtbaren, aktuellen Organisation und Entwicklung dadurch Rechnung getragen wird, dass ihm eine unsichtbare, virtuelle Präformation zugrunde liegt im Sinne eines substanziellen Vermögens als Disposition, welche aktualisiert wird.55 Die Möglichkeit, einen wirklich universellen Begriff der »mechanischen Entwicklung« zu gewinnen, wonach diese nicht nur ordnet, sondern auch organisiert, wird damit von vornherein kritisch restringiert: Die Bewegungsmechanik kann nicht – wie bei Wolff geschehen – als das Frühere und Bedingende der Organisation genetisch in Anspruch genommen werden. Als Mittel zum Zweck – als bloßes »Werkzeug« einer teleologischen Formation – ist sie vielmehr stets das genetisch Spätere und Bedingte. Die Unterstellung einer generatio aequivoca in Wolffs mechanischer Erklärung der Entstehung von Organisation macht allerdings die Voraussetzung, dass die Organisation überhaupt als ein auf die Bewegungsmechanik nicht reduzierbares Erhaltungsprinzip in Anspruch genommen werden darf. Dies steht nun keineswegs im Widerspruch zum kritischen Begriff des Naturzwecks als einer Form nicht von wirklicher Naturkausalität, sondern lediglich der anthropomorphen Beurteilung natürlicher Erscheinungen, insofern das Leben von seiner Fähigkeit zur Selbsterhaltung her als ein Funktionszusammenhang der Selbstorganisation begriffen wird. Die teleologische Beurteilung des Phaenomenon als ein Noumenon muss einen Anhaltspunkt in der Erfahrung haben, der einsehbar macht, inwiefern sich die noumenale Begriffsbestimmung mit der genetischen Erklärung nach Ursachen vereinigen lässt. Die Teleologie als einen Zweck zu fassen, welcher die Naturkausalität als Mittel gebraucht, heißt, sie als ein Konstitutionsprinzip in Anspruch zu nehmen, indem die Phaenomena hier als Realisierungen und Darstellungen von Bestimmungen eines Noumenon gedacht werden. Konstitutionstheoretisch ist Kants Bestimmung des Organismus als ein geordnetes System, das aus Teilen besteht, die sich

55

Die rohe Präformationstheorie sieht die Keime als fertige Organismen en mi­ niature an, die sich lediglich durch räumliche Projektion auseinanderfalten. Kant betont nun – und diese revidierte Auffassung der Präformation ist bis hin zur modernen Genetik verbindlich geblieben –, dass die »spezifische Form« nicht aktualiter, sondern nur »virtualiter präformiert war« [Kant 1968, § 81, B 375, A 371].

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

zu einem Ganzen ergänzen.56 Die kausalgenetische Betrachtung erfasst von diesem Verhältnis von Teil und Ganzem lediglich die Wechselwirkung der Teile untereinander.57 Zum Begriff des Organismus gehört jedoch das Verständnis der Teile als Organe, die »um der andern und des Ganzen willen« existieren [Kant 1979, § 65, B 292, A 288]. Die Besonderheit kausaler Wechselwirkungen eines Organismus, insofern sie nicht nur einfach, sondern »wechselseitig Ursache und Wirkung« füreinander sind [ebd., B 291, A 287], wird also zur Grundlage einer teleologischen Beurteilung, als damit ein Funktionsverhältnis der Abhängigkeit der Teile von einem organisierenden Ganzen zum Ausdruck gebracht wird. Zu dieser teleologischen Funktionsbestimmung gehört nun des weiteren, dass die Teile und ihre kausalgenetischen Wechselwirkungen als Mittel zum Zweck der Erhaltung eines solchen Ganzen fungieren. Der als Erhaltungszweck gefasste Zweck führt schließlich zum Begriff der Selbstorganisation. Von der Selbsterhaltungsfunktion her erscheint das Organ nämlich als ein »hervorbringendes Organ« und insofern erweitert sich der Begriff des Naturzwecks von dem eines organisierten zu dem eines sich selbst organisierenden Wesens [vgl. ebd., B 292, A 288]. Wie der teleologische Begriff der Organisation in den der Selbst­ organisation gleichsam einmündet, demonstriert Kant an der Unangemessenheit des Vergleichs des lebenden Organismus mit einer Maschine. Dass sich die Teile funktional ergänzen zu einem Ganzen, gilt auch für ein Produkt der Kunst, ein τέχνη ο̉ν (techne on) wie etwa das Uhrwerk: ein Rädchen greift hier wohlgeordnet in das andere. Was einem solchen Mechanismus bei all seiner Zweckmäßigkeit jedoch fehlt, ist die Fähigkeit zur Regeneration und Restitution. Da beim Uhrwerk »ein Teil nur um des anderen Willen, aber nicht durch denselben da« ist im Sinne eines Zusammenhangs wechselseitiger, organischer 56

57

»Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, dass die Teile […] nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind.« [Kant 1979, § 65, B 290, A 286] Indem die »Idee des Ganzen die Form und Verbindung aller Teile bestimme«, wird sie zwar nicht als Ursache – wie beim Artefakt – sondern als »Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen« beurteilt. [Ebd., B 292, A 288] Indem die Teile einander wechselseitig bedingen, bringen sie »ein Ganzes aus eigener Kausalität hervor« [Kant 1979, § 65, B 291, A 287]. Dieser Begriff der kausalen Wechselwirkung verlangt nun umgekehrt das Einzelne aus dem Ganzen hervorgehend zu denken, also die teleologische Beurteilung der »Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch End­ ursachen« [ebd.].

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

Selbsterhaltung [ebd.], kann die Uhr keine anderen Uhren hervorbringen, d. h. sich nicht reproduzieren und auch nicht selbst reparieren, sie »ersetzt […] auch nicht von selbst die ihr entwandten Teile« [ebd.], d. h. sie ist weder regenerations- noch restitutionsfähig. Der Vergleich des lebenden Organismus mit einer Maschine zeigt deshalb: Die Analogie von Natur und Kunst greift zu kurz; Organisation muss als eine Poiesis der Selbsterhaltung, mithin Organisation als Selbstorganisation begriffen werden, welche ihren Urheber nicht außerhalb, sondern in ihr selbst hat: »Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisirten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses als ein Analogon zur Kunst nennt; denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert sich selbst […].« [Kant 1979, B 293, A 289]

4)

Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels: Die Diakrisis als Differenzbildung eines lebenden Systems

Der Begriff der Selbstorganisation, den Kant in der Kritik der Urteils­­kraft entwirft, bleibt insofern eine schwache Konzeption von Kausa­li­tät, als die Fähigkeit zur Selbsterhaltung nicht als autonome Wirkursache beansprucht werden kann, welche die Reichweite der bewegungsmechanischen Naturkausalität in irgend einer Weise einzuschränken vermag. Wie teleologische Ursachen, welche mechanische Ursachen als Mittel zum Zweck der Organisation gebrauchen, als ein Wirkungszusammenhang nicht nur zu denken, sondern faktisch zu erkennen sind, begreift nach Kant unsere Vernunft nicht. Und weil die Teleologie keineswegs als Wirkursache in den Phaenomena agiert, ist die uneingeschränkte Herrschaft der Naturkausalität überhaupt die Voraussetzung dafür, dass organisierte Wesen mehr verkörpern als bloße Noumena, reine Gedankendinge: Nur dadurch, dass sich die teleologische Erklärung mit einer mechanisch-naturgesetzlichen verbindet, können Leben und Organisation überhaupt als »Naturprodukte« erscheinen.58 58

Die teleologische Ursache bedient sich der mechanischen als ihr Werkzeug, doch die »Möglichkeit einer solchen Vereinigung zweier ganz verschiedener Arten von Kausalität […] begreift unsere Vernunft nicht, sie liegt im übersinnlichen Substrat der Natur«. Alles in der Natur, in Bezug auf die Phaenomena, ist »nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft« zu denken, »weil, ohne

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

Die »Organisation der Natur« hat nach Kant »nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir kennen« [Kant 1979, § 65, B 294, A 290]. Erst Hegel erhebt die Zweckbestimmung zu einer eigenständigen Form von nichtmechanischer Naturkausalität. Grundlage dafür ist, dass der Zweck als eine Form der autonomen und freien Zwecksetzung, mithin als ein sich selbst verursachender Selbstzweck gedeutet wird. Hegel nimmt Kants Begriff des Naturzwecks auf, deutet ihn jedoch um von der Idee eines sich selbst konstituierenden, sich selbst begreifenden Subjekts her. Hegel fordert: »das Lebendige ist sich selbst Zweck, muss als Selbstzweck beurteilt werden« [Hegel 1982 b, S. 177]. Hegels Berufung auf Kant, der ein solches Verständnis von Teleologie bahnbrechend auf den Weg gebracht habe, ist deshalb in Wahrheit eine Vereinnahmung, denn die Fähigkeit zur Selbsterhaltung und Selbst­ organisation wird von Hegel von vornherein von der Idee der begriff‌lich vermittelten Selbstkonstitution her als eine Wirkursache gedacht, eine Autopoiese.59 Der Begriff als die Tätigkeit des sich selbst begreifenden und bestimmenden Subjekts ist für Hegel einer, der sich selbst kon­sti­tuiert durch seine Verwirklichung in der Realität, wo er sich, indem er die Realität bestimmt und sich damit als Bestimmungsgrund alles Wirklichen erweist, selbst hervorbringt und produziert.60 Diese Form der produktiven, begriff‌lichen Selbstkonstitution prägt nun auch den Begriff des Lebens, den als Selbstzweck gedachten Zweck: Der »Begriff ist das Erzeugende der Realität. Das Natürliche muss als Selbstzweck in sich selbst betrachtet werden: die Idee, vorausgesetzt als ideell bestimmte Einheit, bewirkt sich« [ebd., S. 176]. Das Leben bewirkt sich demnach autopoietisch selbst, es »produziert nur sich selbst« [ebd.], die

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60

diese Art von Kausalität, organisirte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturprodukte sein würden« [Kant 1979, § 81, B 375, A 370]. »Erst in der Kantischen Philosophie tritt jener Begriff wieder hervor: das Lebendige ist sich selbst Zweck, muss als Selbstzweck beurteilt werden. Zwar hat dies bei Kant nur die subjektive Form […]; aber es liegt doch das Wahre darin, ein Selbstzweck, der das Hervorbringende ist, sich hervorbringt, sich erreicht, und dies ist das Erhalten der organischen Gebilde. – Dies ist also die Entelechie, die Energie des Aristoteles.« [Hegel 1982 b, S. 177] Die Konstitution als Form der Begriffsbestimmung ist nach Hegel produktiv. Sich verwirklichen und sich selbst hervorbringen – produzieren – sind von der Selbstkonstitution her gedacht Synonyma: »In diesen Bestimmungen liegt der wahrhafte Begriff. Die Natur eines Dinges ist ein Allgemeines, ein Sichselbstgleiches, welches sich von sich selbst abstößt und sich verwirklicht, hervorbringt (produziert)« [Hegel 1982 b, S. 176].

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

Selbsterhaltung wird von daher gedacht als eine Selbst­produktion, eine sich selbst ursächlich bewirkende Lebenstätigkeit. Durch diese Auslegung der Selbstorganisation als Autopoiese wandelt sich auch die Relation von Zweck und Mittel. Bei Kant behält die Teleologie eine gleichsam dienende Funktion der Naturkausalität gegenüber. Weil die teleologische Ursache eben keine wirklich eigen­ ständige Wirkursache ausmacht, muss sie die bewegungsmechanische Kausalität als ein von ihr unabhängiges Wirkungsprinzip beanspruchen, um sich als ein Noumenon in den Phaenomena zu verankern und damit überhaupt als Naturerscheinung beurteilt werden zu können. Bei Hegel dreht sich dieses Bedingungsverhältnis schlechterdings um: Den Selbstzweck denkt Hegel mit Aristoteles und Leibniz als »Ener­gie« und »Entelechie«, als eine sich selbst äußernde und in dieser Äußerung verwirklichende Kraft.61 Von daher wird auch das Mittel zu einem durch den Zweck gesetzten, zur Form der Selbstverwirklichung eines Zwecks: »Mittel ist eine eigene Vorstellung des Zwecks, als Tätigkeit, Beziehung der Möglichkeit auf die Wirklichkeit.« [Hegel 1982 b, S. 177] Damit erscheint die bewegungsdynamische Kausalität schließlich als etwas, deren Wirkungskreis durch die autopoietische Zwecksetzung nunmehr bestimmt und eingeschränkt wird. »Der Zweck ist der Begriff als das sich im Anderen Wiederherstellende.« [Hegel 1982 b, S. 178] Diese dialektische Fassung der Zweck-Mittel-Relation als Form der (Selbst-)Reproduktion eines Zwecks macht die bewegungsdynamischen Prozesse nunmehr zum Mittel der Selbsterhaltung, d. h. die Naturkausalität wird somit zu einer äußeren Erhaltungsbedingung der inneren Selbsterhaltung, der noumenalen Substanz des sich selbst reproduzierenden, lebenden Organismus. Daraus resultiert letztlich Hegels Begriff des Lebens als einer Gestalt autopoietischen Stoffwechsels. Die Selbsterhaltung und Selbstorganisation wird hier auotopoietisch gedacht als die Fähigkeit, äußere, bewegungsdynamische Ursachen von der inneren Organisation durch die Selbstreproduktion des lebenden 61

Die Natur ist nach Hegel »Entelechie, – ein für sich bestimmter Inhalt, der sich hervorbringt« [Hegel 1982 b, S. 177]. Dass Hegel die Entelechie im Sinne von Leibniz als eine sich selbst äußernde Kraft versteht, zeigt die Gleichsetzung der »Energie« und »Entelechie« mit dem Gedanken der Selbsterhaltung und Selbstorganisation bei Kant [vgl. Zit. Fußnote 55], die ohne dies gar nicht verständlich wäre. Die neuzeitliche Umdeutung der aristotelischen ενέργεια ­(energeia) in einen Kraftbegriff, die sich bei Leibniz vollzieht, hat Wolfgang Janke systematisch dargestellt [vgl. Janke].

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

Systems aktiv fernzuhalten. In der Enzyklopädie von 1830 definiert Hegel den Zweck entsprechend als die Selbstsetzung eines Subjekts durch die Ausgrenzung und Entgegensetzung einer äußeren Realität: »Der Zweck ist der in freie Existenz getretene, für-­sich-­seiende Begriff, vermittels der Negation der unmittelbaren Objektivität. Er ist als subjektiv bestimmt, indem diese Negation zunächst abstrakt ist und daher vorerst die Objektivität auch nur gegenübersteht.« [Hegel 1969, § 204, S. 177] Der subjektive Zweck setzt einen »Gegensatz von Subjektivität und Objektivität« und zwar so, dass sich die subjektive Zwecksetzung dabei als der Objektivität ermangelnd selbst bestimmt und damit in ihrer Setzung als Selbstweck – der Rückbeziehung auf sich – zugleich nach außen wendet.62 Die Funktion der inneren Zwecksetzung gegenüber dem Äußeren – der Gebrauch der Objektivität als Mittel – ist der eines freien Zwecks, welcher folglich das objektive ­Äußere seiner Zweckbestimmung unterwirft. Unmittelbar in seiner Wirkung ist deshalb die »Beziehung des Zwecks als Macht auf dies ­Objekt und die Unterwerfung desselben unter sich« bestimmt [ebd., § 208, S. 180]. In der Enzyklopädie fungiert der subjektive Zweck als die letzte Stufe der Lehre vom Begriff als Objekt [vgl. Hegel 1969, § 207], welche Abschluss und Übergang bildet zur Setzung der Idee, insofern in der Zweckbestimmung »der Begriff als die Form-Tätigkeit nur sich zum Inhalt hat« [ebd., § 212, S. 181]. In der Idee wird die Begriffsbestimmung des Zwecks schließlich gesetzt als absolute Bestimmung der Rea­ lität: »Die Idee ist das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität.« [ebd., § 213, S. 182] Somit erweist sich die Idee als die autopoietische Form der Konstitution eines Begriffs, denn »an ihr selbst ist sie wesentlich konkret, weil sie der freie, sich selbst und hiemit zur Realität bestimmende Begriff ist« [ebd., S. 183]. Zum Begriff gehört die Funktion, sich zu bestimmen und Bestimmung bedeutet im Wesentlichen: das Setzen von Unterscheidungen. In der Idee, wo sich der Begriff autopoietisch selbst zur Realität bestimmt, werden deshalb alle Unterscheidungen als Selbstunterscheidungen gesetzt: »Ihre zur Allgemeinheit bestimmte Subjektivität ist reines Un­ 62

Der subjektive Zweck als Form der Selbstbestimmung setzt »den Gegensatz von Subjektivität und Objektivität«. Die selbstbestimmte Zwecksetzung ist damit »zugleich die Rückkehr in sich […], indem sie die gegen die Objektivität vorausgesetzte Subjektivität des Begriffes in Vergleichung mit der in sich zusammengeschlossenen Totalität als ein Mangelhaftes bestimmt und sich damit zugleich nach außen kehrt« [Hegel 1969, § 207, S. 179].

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

terscheiden innerhalb ihrer« [ebd., § 223, S. 187]. Diese ideelle Bestimmung der Unterscheidung als Form der autopoietischen Selbstsetzung überträgt sich nun auch auf das Leben als der ersten, unmittelbaren Gestalt der Idee.63 Das Leben hat die Besonderheit, dass sich die Subjektivität hier eine Objektivität entgegensetzt, der lebendige Organismus sich durch eine Unterscheidung von einem Äußeren konstituiert. Von der autopoietischen Begriffsbestimmung her wird nun auch diese äußere Unterscheidung als eine selbstgesetzte interpretiert: als eine Selbstdifferenzierung in Form eines Ausschließens. Die Subjektivität des »belebten Organismus« zeichnet nach Hegel aus, dass sie anders als der »erste Organismus«, der physikalische64, »die physische und individuelle Natur von sich ausschließt und ihr gegenübertritt, aber zugleich an diesen Mächten die Bedingung ihrer Existenz, die Erregung wie das Material ihres Prozesses hat« [ebd., § 342, S. 287]. Damit ist die Idee eines autopoietischen Stoffwechsels formuliert. Der lebende Organismus ist einerseits abhängig von einer Umwelt, aus der er das Material für seine Selbsterhaltung gewinnt. Andererseits aber zeigt er durch den Stoffwechsel die Fähigkeit, sich selbst zu erhalten und zu organisieren, die ihn von diesen Umwelteinflüssen gerade unabhängig macht: die Autonomie des lebenden Organismus als einer sich selbst setzenden Subjektivität wird durch seine Verkettung mit einer äußeren Objektivität keineswegs aufgehoben, sondern gerade bestätigt. Verständlich wird dieses scheinbare Paradox vor dem Hintergrund der Verwandlung des mechanistischen, kausalgenetischen Begriffs von Stoffwechsel in einen Konstitutionsbegriff, der sich bei Hegel vollzieht. Hegel polemisiert gegen die atomistische Deutung, wonach der Stoffwechsel in einem Austausch von Elementen besteht, der einen Kreislauf bildet: Ein System nimmt Stoffe aus seiner Umwelt auf und gibt dafür andere – die Abfallprodukte des Stoffwechsels – an diese wiederum ab. Der Organismus kommt zwar unmittelbar in Berührung mit den Stoffen, welche er aus der Umwelt aufnimmt, doch stellt dies eine Verkürzung insofern dar, dass die eigentlich organisierende und vermittelnde Leistung des Stoffwechsels, die Assimilation, dabei unberücksichtigt bleibt.65 Deshalb wendet sich Hegel gegen die 63 »Die unmittelbare Idee ist das Leben.« [Hegel 1969, § 216, S. 183] 64 Vgl. Hegel 1969, § 338 sowie § 339, S. 285 f. Beispiel für diese erste, noch un­ lebendige Gestalt des Organismus ist »der Erdkörper als das allgemeine System der individuellen Körper« [ebd., § 338, S. 285]. 65 Die Assimilation ist nach Hegel »das Umschlagen der Äußerlichkeit in die selbstische Einheit« [Hegel 1969, § 363, S. 300]. Dieser Umschlag vollzieht

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

Vorstellung eines »bloß mechanischen, erdichteten Aus- und Abson­ derns schon brauchbarer Teile, sowie eines chemischen Prozesses« [Hegel 1969, § 365, S. 301]. Der autopoietische Stoffwechsel bestätigt also nicht, er widerlegt die Vorstellung, das Leben sei eine Form von bewegungsdynamischer Organisation und diakritischer Entwicklung. Im chemischen Prozess resultiert die Diakrisis, die Aus- und Absonderung, aus einer bewegungsmechanischen Verdichtung von Elementen, wie das der Theorie der Epigenesis entspricht: Bei Wolff entsteht die lebende Substanz, indem sie aus der flüssigen, in Bewegung befindlichen Materie »excernirt«, ausgesondert wird. Hegel übernimmt nun bezeichnend diesen Begriff des »Excernirens«, gibt ihm aber einen völlig anderen und neuen, nämlich konstitutionstheoretischen Sinn. Die unmittelbare Bedingung des Stoffwechsels ist die »Infektion«, wodurch der Organismus in Berührung mit der äußeren Umwelt gerät, sich auf die ihn umgebende Umwelt einlassen muss. Diese Kehrung nach außen, die Rezeptivität des Organismus, ist jedoch gerade nicht die Bedingung der Organisation, vielmehr die Fähigkeit, durch spontane Selbstreproduktion zu sich selbst zurückzukehren. Die Diakrisis, die Aussonderung eines organischen Systems seiner Umwelt gegenüber, verdankt sich somit nicht der spezifischen Rezeptivität des Lebens, durch welche die bewegungsdynamische Kausalität, die Objektivität des »chemischen Prozesses«, auf den Organismus Einfluss gewinnt, vielmehr seine Subjektivität, die Fähigkeit, das Äußere zu assimilieren durch die spontane Leistung, sich selbst zu reproduzieren: »Dieses Einlas­ sen mit dem Äußern […] macht also eigentlich das Objekt und das Negative gegen die Subjektivität des Organismus aus, das er zu überwinden und zu verdauen hat. Diese Verkehrung der Ansicht ist das Prinzip der Reflexion des Organismus in sich; die Rückkehr in sich ist Negation seiner nach außen gerichteten Tätigkeit. Sie hat die doppelte Bestimmung, dass er seine mit der Äußerlichkeit des Objekts in Konflikt gesetzte Tätigkeit von sich einerseits exzernirt, andererseits, als unmittelbar identisch mit dieser Tätigkeit für sich geworden, in diesem Mittel sich reproduziert hat.« [Hegel 1969, § 365, S. 301] sich in der Vermittlung der unmittelbaren Assimilation durch den reproduktiven Stoffwechsel. Unmittelbar ist die Assimilation eine rein rezeptive »einfache Verwandlung«, die Hegel auch »Infektion« nennt [ebd., § 364, S. 300]. Diese Unmittelbarkeit wird vermittelt durch die Assimilation in Form der »Verdauung« [ebd.], welche durch die reproduktive Leistung des Stoffwechsels das Subjektive von Objektivem »exzernirt« [vgl. ebd., §§ 65, 300, 301].

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

Helmuth Plessners phänomenologische Analyse unterscheidet den lebendigen vom unlebendigen Körper durch die Eigenschaft, nicht nur äußerlich begrenzt zu sein, sondern seine Grenze zur Umgebung selber zu setzen, d.h. durch die Organisation gleichsam selber zu ziehen. Lebendige Dinge sind demnach »grenzrealisierende Körper« [Plessner, S. 126], worin die Positionalität des Lebendigen zum Ausdruck kommt.66 Luhmanns Systemtheorie interpretiert diese Positionierung der Grenze von der autopoietischen Geschlossenheit der Systembildung her als eine Differenzbildung: Die Grenze von System und Umwelt konstituiert sich durch die Selbstreferenzialität der Systembildung. Von der Maschine unterscheidet das selbstreferenzielle System, dass es keine Selbstreferenz gibt ohne Fremdreferenz, d. h eine Selbstunterscheidung, welche notwendig eine Inklusion und Exklusion vollzieht.67 Die konstitutionstheoretischen Grundlagen für diese systemtheoretische Auffassung hat Hegel mit seinem Begriff des autopoietischen Stoffwechsels gelegt. In der Autopoiese verliert die systembildende und -erhaltende Diakrisis den Sinn einer Epigenesis, eines Produktes bewegungsmechanischer Prozesse, und wird nun konstitutionstheoretisch umgedeutet zu einer Differenz, welche das System durch seine Fähigkeit zur Selbstreproduktion ausschließlich selbst hervorbringt: Durch die reproduktive Vermittlung des Stoffwechsels, die Assimilation, wird das Objektive und Äußere vom Inneren und Subjektiven exkludiert. Die »selbstische Einheit« des Lebens kann »weder mechanischer noch chemischer Natur sein« – bewegungsdynamische Prozesse entbehren schlechterdings der »lebendigen absoluten Einheit« [Hegel 1969, S. 363, 300]. Die Möglichkeit, eine bewegungsdynamische Organisation und diakritische Entwicklung als Grundlage auch für das Leben zu denken, zerschellt damit gleichsam an den konstitutionstheoretischen Fundamenten des Begriffs der Selbstorganisation und Autopoiese. Die systematische Grundlage für diese Umdeutung der bewegungsdynamischen Diakrisis in eine systemimmanente, exkludierende Differenz am Leitfaden des Stoffwechsels legt Hegels Begriff des individuellen Lebens. So heißt es in Bezug auf die physikalische Betrachtung der Natur – also die gesetzliche Beschreibung bewegungsmechanischer Prozesse der Verdichtung und Auf‌lösung – dass sie 66

67

»In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom unorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität.« [Plessner, S. 129] Vgl. dazu GLU, Artikel »Selbstreferenz«, S. 163 ff.

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

keine wirklich substanziellen Einheiten, sondern lediglich Aggregate erfasst und damit den Gesichtspunkt der systematischen Organisa­ tion methodisch ausblendet, welcher erst durch die Naturphilosophie und ihre Orientierung an der Begriffsbestimmung ins Spiel kommt.68 Nicht von ungefähr spricht Hegel nur geringschätzig von den »Retorten« des Atomismus. Gegenüber Heraklit und der mit ihr erreichten Höhe der Philosophie fallen die Atomisten unendlich ab, indem hier die Unterscheidung einer Betrachtung der Natur »der Existenz nach und dem Begriffe nach« nicht vollzogen ist [Hegel 1982 a, S. 390]. Nur der Begriffsbestimmung und nicht der kausalgenetischen Erklärung sind die wahren Gründe veränderlicher Naturerscheinungen zugänglich. Sie finden sich nicht in den Phaenomena, bloßen Aggregaten als Resultanten bewegungsmechanischer Verdichtungen, sondern liegen als Noumena hinter den vordergründigen Erscheinungen in Gestalt solcher nur durch den Begriff fassbarer gegenständlicher Einheiten: sich selbst erhaltender und organisierender Substanzen nicht als Resultate, sondern Voraussetzungen jeglicher Entwicklungstätigkeit. Den Aspekt der Unterbrechung bewegungsdynamischer Prozesse durch die autopoietische Reproduktion und damit den noumenalen Charakter der substanziellen Selbsterhaltung betont die Wissenschaft der Logik durch den totalisierenden Charakter der Reproduktion. Das Äußerliche des Stoffwechsels »ist der Prozeß der Objektivität überhaupt, Mechanismus und Chemismus. Derselbe wird aber unmittelbar abgebrochen und in Innerlichkeit verwandelt.« [Hegel 1975, S. 425] Das Lebendige wird zur wirklichen, d. h. wirksamen Individualität durch die Reproduktion. Der Reproduktion ist es zu verdanken, dass sich der Lebensprozess in das Individuum einschließt, sich »als subjektive Totalität setzt« der äußeren Objektivität gegenüber.69 Für den Organisationsbegriff folgenreich führt Hegel die Geschlossenheit der Or68

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In der Naturphilosophie kann der Inhalt »nicht bloßes Aggregat sein, sondern, in Ordnungen, Klassen gestellt«, muss er »sich als eine Organisation ausnehmen […]. Indem die Naturphilosophie begreifende Betrachtung ist, hat sie dasselbe Allgemeine, aber für sich zum Gegenstand und betrachtet es in seiner eigenen, immanenten Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begriffs«. Diese begriff liche Konstitutionsbestimmung der »philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung« [Hegel 1969, 1830, § 246, S. 199 f]. »Mit der Reproduktion als dem Momente der Einzelheit setzt sich das Lebendige als wirkliche Individualität […]. Der innerhalb des Individuums eingeschlossene Prozeß des Lebens geht in die Beziehung zur vorausgesetzten Objektivität als solcher dadurch über, dass das Individuum, indem es sich als subjektive

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

ganisation, d. h. ihre diakritische Funktion, ein sich selbst erhaltendes System einer Umwelt gegenüber auszusondern, auf die Reproduktion als solche zurück. Dieser Gedanke ist alles andere als selbstverständlich, insofern sich die Reproduktionsfähigkeit mit dem Stoffwechsel konkret verknüpft, der – folgt man der atomistischen Auslegung – als ein Austausch von Elementen immer lokal begrenzt bleibt. Hegel dagegen versteht die Reproduktion von vornherein als diejenige immer eines ganzen Systems, wodurch überhaupt die aussondernde Dia­ krisis aus der Selbstreproduktion eines Systems voll und ganz resultiert, mithin als eine autopoietische Differenzbildung gedeutet werden kann: »Jedes der einzelnen Momente ist wesentlich die Totalität aller; ihren Unterschied macht die ideelle Formbestimmtheit aus, welche in der Reproduktion als konkrete Totalität des Ganzen gesetzt ist.« [Ebd., S. 422, 423] Wird die Reproduktion auf diese Weise totalisierend begriffen als die Unterbrechung der bewegungsdynamischen Kausalität, dann verliert die Bewegungsmechanik überhaupt jeden bestimmenden Einfluss auf die Organisation. Das lebendige Individuum setzt sich exkludierend »der vorausgesetzten objektiven Welt gegenüber«, indem es die Organisation inkludiert, ausschließlich »sich in sich selbst gestaltet« [Hegel 1975, S. 423]. Damit wird die zur Umwelt gehörende Kausalität zu etwas Gleichgültigem und Nichtigem in Bezug auf die innere Organisation. Hegel spricht von der »Ohnmacht« des Mechanismus, »sich gegen das Lebendige zu erhalten« [ebd., S. 425]. Das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität, Innerem und Äußerem, Organismus und Bewegungsmechanik resultiert aus dem Stoffwechsel. Dieser wird jedoch von der Interpretation der Diakrisis als einer durch die Reproduktion selbstgesetzten Differenz her so gedeutet, dass die Ordnungsaktivität allein von der Subjektivität ausgeht. Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels vollzieht Anaxagoras’ Gedanke eines diakritisch relevanten ordnenden Nous nach, der sich aus dem bewegungsdynamischen Kontinuum vollständig abscheidet und so als eine Ordnungsinstanz von außen in diese eingreift. Bei Hegel entspricht dem die reproduktive Vermittlung der Rezeptivität durch die Assimilation, in der sich die Formung des Stoffes bzw. Stoffwechsels in einer Aneignungsdialektik von Subjekt und Objekt vollzieht. Das Objekt hat »gegen den Begriff keine Substanz«: das Subjekt »übt nun, insofern es Totalität setzt, auch das Moment seiner Bestimmtheit als Beziehung auf die Äußerlichkeit zur Totalität wird.« [Hegel 1975, S. 423]

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[…] sich auf das Äußerliche bezieht und damit selbst Äußerliches oder Werkzeug ist, Gewalt über das Objekt aus« [ebd.]. Durch den Stoffwechsel vollzieht sich entsprechend eine eigenartige Verwandlung des Äußeren in das Innere, eine Aneignung des Objekts durch das Subjekt, welche die Stoffe jedoch dem bewegungsdynamischen Kontinuum, dem sie entsprungen sind, entziehen: »Mit der Bemächtigung des Objekts geht daher der mechanische Prozeß in den innern über, durch welchen das Individuum sich das Objekt so aneignet, dass es ihm die eigentümliche Beschaffenheit benimmt, es zu seinem Mittel macht und seine Subjektivität ihm zur Substanz gibt. Diese Assimilation tritt damit in eins zusammen mit dem oben betrachteten Reproduktionsprozeß des Individuums; es zehrt in diesem zunächst aus sich, indem es seine eigene Objektivität sich zum Objekte macht; der mechanische und chemische Konflikt seiner Glieder mit den äußerlichen Dingen ist ein objektives Moment seiner. Das Mechanische und Chemische des Prozesses ist ein Beginnen der Auf‌lösung des Lebendigen.« [Hegel 1975, S. 425 f] Die objektivierende Leistung der bewegungsdynamischen Kausalität wird in der Assimilation ihrerseits zum Objekt und darin als ein Anzueignendes und Bestimmendes gesetzt. Es werden also nicht etwa dem Stoffwechsel nur seine Stoffe entnommen, der Stoffwechsel als solcher wird zum passiven Medium und Mittel der organisierenden Gestaltung für ein Subjekt, welches dem an sich Ohnmächtigen und Substanzlosen der Stoffwechseltätigkeit seine Substanz aufprägt, indem es diese im Ganzen formt und bestimmt. Damit deutet sich die für den Begriff des autopoietischen Stoffwechsels charakteristische Trennung des bewegungsmechanischen Stoffwechsels und seiner Verarbeitung an. Mit der Transformation des Äußeren in das Innere ausdrücklich nicht gemeint ist, dass an sich unveränderliche Elemente lediglich von außen nach innen fließen, vielmehr wandelt sich eine qualitative Unterscheidung der Materie in der Assimilation um in eine formale, funktionale Differenzierung. Die reproduktive Vermittlung bedeutet demnach, dass nicht einfach schon fertige Stoffwechselprodukte in den Organismus integriert werden, sie vielmehr als Organe durch die reproduktive Vermittlung erst geschaffen werden: Das Element als Funktionsbestimmung des Organismus ist ein Produkt der Organisation und nicht der mechanischen Seite des Stoffwechsels. Hegel nimmt damit die beiden grundlegenden Bestimmungen des Lebens als eines autopoietischen Systems vorweg: Nach Maturana und Luhmann bedeutet die Autopoiese, dass ein System seine systemkon114 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

stituierenden Elemente einerseits selbst hervorbringt und andererseits die Umwelt keinen Einfluss auf die Selbstorganisation nimmt, das System mit ihr nur strukturell verkoppelt ist. Durch die Unterscheidung von Organisation und struktureller Kopplung wird deutlich, dass die Autopoiese nicht etwa als eine causa sui anzusehen ist. Die System­ organisation kann ihre Reproduktionsbedingungen systemintern definieren, verliert damit jedoch ihre Abhängigkeit von äußeren Umwelteinflüssen keineswegs, die zur strukturellen Kopplung gehören.70 Die Kybernetik liefert die moderne, informationstheoretische Variante des atomistisch-mechanistischen Modells des Stoffwechsels im Sinne eines Kreislaufs des Austauschs von Elementen, die zwischen der Umwelt und dem System gewissermaßen hin und her wandern. In einem kybernetischen Regelkreis reagiert das System auf kausale Veränderungen und ihre destabilisierenden Einflüsse mit einem Feedback von Informationen, indem es einen internen Abgleich von »Input« und »Output« vornimmt. Die Wiederherstellung von Stabilität garantiert dabei ein im Voraus definierter Zustand von Systemfunktionalität, der als Norm in dieser Abgleichung fungiert.71 Wird der Stoffwech70

Autopoietische Systeme sind autonom nicht in jeglicher Hinsicht, sondern lediglich durch ihre Fähigkeit der Organisation. Die selbstreferenzielle Ge­ schlossen­heit des Systems darf deshalb nicht verwechselt werden mit einem Solipsismus. Biologisch kann es keine Selbstorganisation ohne die Selbst­ verständlichkeit der Anpassung, d.  h. eine »strukturelle Kopplung«, geben, welche die Systemautonomie notwendig einschränkt. Die vom Bio­ logen Heinrich Pentzlin (Warum das Autopoiese-Konzept Maturanas die Organisation lebendiger Systeme unzutreffend beschreibt) geäußerte Kritik des Autopoiese-Konzeptes betrifft die Eigentümlichkeit von Maturanas Theorie, die Organisation nicht mehr als eine Form von Stoffwechsel zu interpretieren. Sie überzeugt deshalb nicht, weil sie den systematisch unauf‌­ löslichen Zusammenhang von Autopoiese und struktureller Kopplung nicht berücksichtigt. Damit bleibt nicht zuletzt das methodisch- kritische Potenzial von Maturanas Ansatz gängigen kybernetischen Modellen gegenüber un­ge­ nutzt, zu denen sich der Autor in – durchschaubarer – apologetischer Absicht bekennt. Die Autopoiese ist keineswegs »weltfremd« und »willkürlich« [Pentzlin, S. 79], sie muss die strukturelle Kopplung aufrecht erhalten, die aber deshalb kein interner Bestandteil der Organisation ist. In diesem Sinne gibt es nur eine Organisation aufgrund aber nicht durch Anpassung im Sinne von »Input« und »Output«. Die Grenzen von Maturanas Autonomiekonzept werden erst im Zusammenhang mit dem Problem der Restitution deutlich, wo die Geschlossenheit des Systems nicht mehr auf eine autopoietische Selbst­ reproduktion zurückzuführen ist, vielmehr bewegungsdynamische Prozessen der diakritischen Entwicklung garantiert wird. 71 Zu solchen maßgeblich auf Norbert Wiener (Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine) zurückgehenden kyber­

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sel dagegen als eine Autopoiese gedeutet, dann gibt es schlechterdings keinen Input und Output des Systems, wie dies die kybernetische Erklärung von Lebensprozessen unterstellt, denn in einem autonomen, autopoietischen System existiert »keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis« [Maturana / Varela, S. 56]. Andererseits bestreitet auch die Theorie der Autopoiese die äußeren Existenzbedingungen lebender Systeme nicht, wonach sie durch den Stoffwechsel Umwelteinflüssen notwendig ausgesetzt sind und sich einer Umwelt demnach anpassen müssen. Entscheidend ist jedoch, dass die Umwelteinflüsse das System mit der Umwelt nur strukturell verkoppeln und damit keinen bestimmenden Einfluss auf die Organisation gewinnen können. Es »determinieren die Perturbationen der Umwelt nicht, was dem Lebewesen geschieht; es ist vielmehr die Struktur des Lebewesens, die determiniert, zu welchem Wandel es infolge der Perturbation in ihm kommt. Eine solche Interaktion schreibt deshalb ihre Effekte nicht vor. Sie determiniert sie nicht und ist daher nicht ›instruierend‹, weshalb wir davon sprechen, dass eine Wirkung ›ausgelöst‹ wird« [ebd., S. 106]. Die strukturelle Kopplung als Außenseite der Autopoiese bringt die bewegungsdynamischen Prozesse als Erhaltungsbedingungen des lebenden Systems ins Spiel. Wie das Verhältnis von reproduktiver und mechanischer Kausalität hier zu denken ist, hat Maturana mit seiner Unterscheidung von instruierenden und auslösenden Ursachen angedeutet, deren theoretische Fundierung jedoch im Dunkeln bleibt. Licht in dieses Dunkel bringt wiederum Hegels begriff‌liche, konstitutionstheoretische Begründung der Autopoiese. Wie ist es überhaupt möglich, dass die Umwelt auf ein sich selbst produzierendes und erhaltendes System einwirkt? Hebt der Gedanke, dass die Objektivität die Subjektivität kausal beeinflusst, den Begriff einer autonomen, sich in der Selbstsetzung des Begriffs selbst verursachenden Subjektivität nicht einfach auf? Konsequent wird von der konstruktivistischen Systemtheorie die Möglichkeit einer nur relativen Autonomie des autopoietischen Systems ausgeschlossen.72 Hegels Deutung der Autopoiese netischen Modellen bemerkt Niklas Luhmann kritisch den normativen Sinn in einem solchen Regelsystem, der zu einer eingeschränkten Sichtweise auf die Leistungsfähigkeit der Systemorganisation führt, die das Problem der Komplexitätsreduktion einer nicht veränderlichen, sondern konstanten Umwelt gegenüber ausblendet. [Luhmann 1999, S. 157 ff] 72 »Die autopoietische Reproduktion der Operationen generiert zugleich die Einheit der Elemente, die Einheit des Systems, zu dem sie gehören, und die Grenze zwischen dem System und seiner Umwelt. Die Radikalität des Begriffs, wenn er so verstanden wird, schließt die Vorstellung einer ›relativen

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

von der Selbstkonstitution eines sich selbst bestimmenden Subjekts her erlaubt es dagegen, sowohl Entwicklungsstufen der autopoietischen Organisation zu unterscheiden als auch das Verhältnis von reproduktiver und mechanischer Kausalität positiv als die Verwirklichung einer Idee, mithin eine Form der Begriffs- und Konstitutionsbestimmung, zu denken: »Insofern das Objekt gegen das Lebendige zunächst als ein gleichgültiges Äußerliches ist, kann es mechanisch auf dasselbe einwirken, so aber wirkt es nicht als auf ein Lebendiges; insofern es sich zu diesem verhält, wirkt es nicht als Ursache, sondern erregt es. Weil das Lebendige Trieb ist, kommt die Äußerlichkeit an und in dasselbe, nur insofern sie schon an und für sich in ihm ist; die Einwirkung auf das Subjekt besteht daher nur darin, dass dieses die sich darbietende Äußerlichkeit entsprechend findet« [Hegel 1975, S. 425]. Zwischen Subjektivem und Objektivem, Reproduktivem und Mechanischem besteht ein Bestimmungsverhältnis der Konstitution, wodurch es möglich wird, zwei Formen der kausalen Verursachung zu unterscheiden: Außerhalb der Konstitutionsbestimmung hat die Bewegungsmechanik den Sinn einer erzeugenden, produktiven Wirk­ ursache. Innerhalb der Konstitutionsbestimmung verliert sie diesen generischen Sinn: Das »ohnmächtige« Objekt ist das, was in seiner kausalen Verursachung durch das sich selbst organisierende Subjekt bestimmt wird. Damit reduziert sich seine ursächliche Wirkung auf das, was Hegel »Erregung« nennt: die Auslösung einer Aktivität der Reproduktion. Weil die Selbstkonstitution und ihre Form des auto­ poietischen Stoffwechsels in der Reproduktion immer des ganzen Organismus – eines ideell geschlossenen Systems – besteht, welches die bewegungsdynamischen Zusammenhänge auf‌lösend unterbricht, muss sich die Bewegungsdynamik mit der Verwandlung des Äußeren in das Innere in eine Auslösungsdynamik notwendig umwandeln. Das verdeutlicht auch die teleologische und dialektische Auslegung des Lebens als ein Trieb, sich ein Objekt anzueignen. Der subjektive Trieb ist die selbsttätige Verwirklichung eines Vermögens, er realisiert eine Idee, wodurch das Objektive als passives Medium und Materie in der Übereinstimmung von Vorstellung (Subjektivem) und Sache (Objek­tivem) allein und ausschließlich von der Vorstellungsaktivität des Subjekts her seine Formbestimmung erfährt. Die Funktion der Autonomie‹ aus: Entweder ist ein System autopoietisch, oder es ist es nicht (und dann kann man nicht einmal von einem System sprechen).« [GLU, Artikel »Autopoiese«“, S. 32]

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mecha­nischen Kausalität muss sich deshalb im Rahmen einer solchen aktiven Konstitutionsbestimmung darauf beschränken, die Aktivität der Formgebung auslösend in Gang zu setzen und damit die kausale Anfangsbedingung der organischen Reproduktion und Entwicklung zu setzen. Die Auslösungsdynamik als externe Wirkursache hat damit in Hinblick auf das System keine Ordnungs- und Organisationsfunktion; sie gibt für die Fähigkeit des Systems, sich Kraft seiner Reproduk­ tions­fähigkeit ausschließlich intern selbst zu organisieren, lediglich den Bewegungsanstoß. Hegels Begriff der Autopoiese ist freilich nicht rein und »radikal« konstruktivistisch. Im Anschluss an Maturana definiert Luhmann auto­poietische Systeme als solche, »die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen.« [Luhmann 1997, Bd. 1, S. 65] So wird schließlich die Autopoiese von der Selbstorganisation dadurch unterschieden, dass sie nicht nur dem Inhalt eine Form gibt, vielmehr sowohl den Inhalt als auch die Form produziert.73 Der Stoffwechsel kann somit nicht als Mittel zum Zweck angesehen werden, welcher nur den Stoff für eine formbildende Tätigkeit der Selbstorganisation liefern würde. Er ist demnach generell kein Bestandteil der Organisation, sondern leistet nichts anderes als die strukturelle Kopplung des Systems mit seiner Umwelt. Bei Hegel dagegen gehört der Stoffwechsel als eine Außenseite mit zur autopoietischen Organisation der lebendigen Subjektivität. So erweist sich die Autopoiese selbst als entwicklungsfähig in ihrer diakritischen Funktion der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, von Mechanischem und Reproduktivem. In der Aneignungsdialektik von Subjekt und Objekt ergibt sich in Bezug auf das Hervorbringen der Elemente des Systems eine Unterscheidung von Vermittlungsstufen: Unmittelbar werden die Elemente durch den rezeptiven Stoffwechsel generiert, durch die reproduktive Vermittlung der Assimilation konstituieren sich schließlich die im eigentlichen Sinne funktional-integrierenden systembildenden Elemente als spontane, zur Rezeptivität des Stoffwechsels hinzukommende Leistungen der Autopoiese. Konstruktiv ist die Autopoiese demnach nur 73 Die Selbstorganisation unterscheidet von der Autopoiese, dass autopoietische Systeme nicht nur die Fähigkeit haben, »die eigenen Strukturen aufzubauen und zu modifizieren«. Man könne »jetzt behaupten, dass das System auch in der Konstitution seiner eigenen Elemente autonom operiert und damit alles, was es im System gibt (Elemente, Prozesse, Strukturen und das System selbst) intern generiert« [GLU, S. 33].

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

in Hinblick auf die spontane Leistung der Konstitution in Form der Begriffsbestimmung. Hier wird die Ordnung entsprechend als ein Organisationsprinzip in Anspruch genommen durch die Unterscheidung des abstrakten Begriffs von seiner konkreten Realisierung in einem Einzelding, das er organisiert. Es ist dieselbe Ordnung, die einmal im Zustand der Dynamis – einem dispositionellen Vermögen – und der Energeia – als Akt in der konkreten Organisation – existiert. In der autopoietischen Konstitution, der Selbstkonstitution subjektiven Lebens, fallen Produktion und Produkt der Begriffsbestimmung schließlich zusammen74, sodass es so aussieht, als könnte auch der Inhalt aus der Begriffsbestimmung vollständig abgeleitet werden und damit ein ausschließliches Produkt der Selbstorganisation gedacht werden. Die Kritik der konstruktivistischen Systemtheorie an Hegels Dia­lektik fällt hier auf sich selbst zurück. Die Systemtheorie versteht sich als »post«-hegelianisch durch ihre Betonung der Konstitution von Identität durch Differenz, wonach es die Möglichkeit von interner Systemorganisation nur geben kann durch den Ausschluss eines Anderen zum System, der Umwelt. »Alle posthegelianischen Theorien müssen deshalb nicht den Ausschluß des Ausschließens vorsehen, sondern den Einschluß des Ausschließens.« [Luhmann 1997, S. 423] Hegel betont zwar, dass es in der autopoietischen Begriffsbestimmung grundsätzlich nur selbstkonstituierte Differenzen gibt und geben kann. Das bedeutet aber keineswegs, dass diese Differenzbildung den Sinn eines Ausschließens nicht annehmen könnte. Das individuelle Leben als erste, unmittelbare Gestalt der Idee zeigt gerade, wie organisierende Subjektivität sich anfänglich selbst konstituiert, indem sie sich ein Objektives in Gestalt einer Umwelt gegenübersetzt, welches Äußere sie dann – in Gestalt solcher zur Rezeptivität des Stoffwechsels gehörender bewegungsmechanischer Prozesse – effektiv von sich ausschließt. Nicht der postmoderne Konstruktivismus, Hegel war es, der den philosophischen Versuch erstmals unternahm zu begründen, warum sich ein lebendiger Organismus nur durch autopoietische Differenzbildung, eine 74

Das Leben unterscheidet auch nach Hegel vom chemischen Prozess, dass Pro­ duktion und Produkt zusammenfallen. Das heraklitische Feuer kann sich nicht selbst wieder anfachen, im Prozess der Verdichtung und Auf‌lösung zerfällt »das sich Scheidende […] in gegeneinander gleichgültige Produkte, das Feuer und die Begeisterung erlischt im Neutralen und facht sich nicht selbst wieder an; der Anfang und das Ende des Prozesses sind voneinander verschieden; – dies macht seine Endlichkeit aus, welche ihn vom Leben abhält und unterscheidet« [Hegel 1969, § 335, S. 283].

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Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

Inklusion und Exklusion, konstituieren kann. Diese exkludierende Selbstkonstitution entfällt freilich auf der höheren Entwicklungsstufe des Geistes, wo sich das individuelle Leben schließlich auf‌löst und damit seine wahre Bestimmung erfährt: den Tod.75 Alles Einzelne und Vereinzelte geht hier verschwindend auf in das Allgemeine geistigen (Gattungs-)Lebens, sodass entsprechend die spezifischen Exklusionen wegfallen, welche zur Selbstkonstitution des Individuellen gehören, Differenzen so nur noch als innere Differenzen konstituiert werden. Entsprechend ist im geistigen Leben das Ausschließen zwar wiederum nicht absolut und generell, wohl aber als Erhaltungsbedingung des Systems dialektisch endgültig ausgeschlossen: Die Entwicklung des geistigen Systems besteht fortan in der fortwährenden integrierenden Aufhebung jedweder ausschließenden Begriffsbestimmung.76 Die konstruktivistische Systemtheorie erweist sich von daher als zutiefst »hegelianistisch«. Sie operiert mit einem Begriff der Autopoiese, welcher die höheren Vermittlungsstufen des Geistes gleichsam kappt und auf der Stufe natürlichen, individuellen Lebens stehenbleibt, einer notwendig exkludierenden Differenzbildung. Im Rückgriff auf Hegels konstitutionstheoretische Fundierung des Begriffs der Autopoiese ergibt sich zudem die methodische Klärung und zugleich dynamisch-entwicklungsgeschichtliche und nicht kategorische Fassung des Verhältnisses von autopoietischer Organisation und kausalgenetischer, struktureller Kopplung. Die Vermittlung des Stoffwechsels durch die Selbstkonstitution, die Fähigkeit der Subjektivität, sich selbst zu begreifen, bedeutet, dass die Systembildung grundsätzlich mit einer 75

76

»Der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit ist das Hervorgehen des Geistes.« [Hegel 1969, § 222, S. 187] Das Kapitel über die »organische Physik« endet entsprechend mit dem Abschnitt »Der Tod des Individuums aus sich selbst« [ebd., §§ 375–376]. Der Tod ist die Aufhebung der Unmittelbarkeit des Lebens und sein Aufgehen in die Vermittlungsgestalt eigentlichen Lebens, dem Gattungsleben des Geistes als der wahren, freien und vollendeten Lebens­ gestalt. Der Geist hat kein »Äußeres«, in ihm ist »die Natur verschwunden«, aus der einfachen Negation, der Ausgrenzung und Entgegensetzung des individuellen Lebens, ist im geistigen Leben absolute Negation geworden, welche das Andere in sich aufgehoben hat und so die äußere als eine innere Unterscheidung setzt. Diese Umwandlung der äußeren in eine innere Selbstunterscheidung vollzieht sich damit, dass in der geistigen Idee »deren Objekt ebensowohl als das Subjekt der Begriff ist. Dieses Identische ist absolute Negativität, weil in der Natur der Begriff seine vollkommene äußere Objektivität hat, diese seine Entäußerung aber aufgehoben und er in dieser sich identisch mit sich geworden ist« [Hegel 1969, § 381, S. 313].

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

Änderung des Sinnes von Kausalität einhergeht, welche sich von einer bewegungsdynamischen Verursachung in eine solche der bloßen Auslösung für einen Prozess der Selbstorganisation umwandelt. Diese nur der Begriffsbestimmung zugängliche Seite der Organisation zeigt sich damit, dass der rezeptive Stoffwechsel notwendig durch eine spontane Selbstreproduktion vermittelt ist, welche ihn schließlich der integrie­ renden Formgebung durch die Konstitutionsbestimmung unter­w irft. Die Autopoiese, gedacht als die bestimmende Formursache im Sinne der Selbstkonstitution, bedeutet deshalb nicht, dass ein System im konstruktivistischen Sinne seine Elemente faktisch-ontisch, d. h. gänzlich ohne jede Mithilfe äußerer, bewegungsmechanischer Ursachen durch das bloße Fungieren von Systemoperationen produzierte. Vielmehr zieht sich die subjektiv-lebendige Organisation durch ihre Aktivität autopoietischer Reproduktion und Entwicklung naturgeschichtlich mehr und mehr von der Produktivität des mechanischen Stoffwechsels zurück und beschränkt sich auf die originäre Leistung der Konstitutionsbestimmung, die integrierende Systembildung. Die »kritische« Unterscheidung von kausalen und teleologischen Ursachen, welche Kant in seiner Kritik der Urteilskraft vorgenommen hatte, wonach systematische, regulative Prinzipien systembildende Elemente niemals kausalgenetisch produzieren, bleibt somit auch in Hegels Umdeutung der Selbstorganisation in eine autopoietische Begriffs- und Konstitutionsbestimmung erhalten. Die mögliche Betrachtung des Werdens dem Begriffe und der Existenz nach [vgl. Hegel 1982 a, S. 390] kommt auch beim lebenden Organismus niemals vollständig zur Deckung. Diese »ontologische Differenz« von Begriff und Existenz, von Phaenomena und Noumena kann nicht einfach kurzschlüssig konstruktivistisch – durch eine exklusiv informationstheo­ retische Deutung von Prozessen autopoietischer Selbstorganisation – eliminiert werden.77 Das zeigt insbesondere Hegels naturgeschichtliche Unterscheidung des pflanzlichen vom tierischen Organismus, die im Rahmen der konstruktivistischen Systemtheorie schlicht nicht nachvollziehbar erscheint, weil hier die zum Leben gehörende Rezeptivität des Stoffwechsels generell nicht zur Organisation gehört, mit ihr eben nur »strukturell verkoppelt« ist. Beim pflanzlichen Organismus mangelt es der Reproduktion an der Fähigkeit zur Indivi77

Bei Luhmann heißt es trocken von den autopoietisch erzeugten Elementen des Systems: »Elemente sind Informationen und Unterschiede, die im System einen Unterschied machen.« [Luhmann 1997, Bd. 1, S. 66]

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duation, sie bleibt eine solche der allgemeinen Gattungsbestimmung. »Das Zusammennehmen der Selbsterhaltung in die Einheit ist nicht ein Zusammenschließen des Individuums mit sich selbst, sondern die Produktion eines neuen Pflanzenindividuums« [Hegel 1969, § 346, S. 289]. Durch die fehlende Individualisierung der Reproduktion ist es einem solchen Organismus nicht möglich, die rezeptive, mechanische Seite des Stoffwechsels von der Organisation völlig fernzuhalten. Die pflanzliche Organisation ist durch ihre räumliche Lokalisierung78 nicht »für sich gegen die physikalische Besonderung und Individua­ lisierung desselben [Ortes], hat daher keine sich unterbrechende Intussuszeption, sondern eine kontinuierlich strömende Ernährung und verhält sich nicht zu individualisiertem Unorganischem, sondern zu den allgemeinen Elementen« [ebd., § 344, S. 288]. Da sich die Reproduktion durch den pflanzlichen Stoffwechsel nicht wirklich individualisiert, geschieht eine solche Individualisierung auch nicht durch die Spontaneität der Autopoiese, vielmehr rezeptiv durch eine »physikalische Besonderung«, also die mechanischen, bewegungsdynamischen Prozesse. Zwar tritt auch bei der Pflanze nach Hegel schließlich »ein Punkt ein, wo die Verfolgung der Vermittlung, sei es in chemischer oder in Weise mechanischer All­ mählichkeit, abgebrochen und unmöglich wird.« [Hegel 1969, § 345, S. 289] Doch liegt dieser Punkt eben nicht außerhalb, sondern inner­ halb der Rezeptivität; die reproduktive Vermittlung des Stoffwechsels bleibt entsprechend eine unmittelbare, einfache Vermittlung, wo »die Assimilation wenige Vermittlungen durchgeht und die Veränderung als unmittelbare Infektion geschieht.« [Ebd., S. 288] Das pflanzliche Leben organisiert sich demnach in und durch seinen äußeren Stoffwechsel, was sich daran zeigt, dass die Kontinuität der Selbsterhaltung hier von der Erhaltung des Stoffwechselkreislaufs in der Rezeptivität unmittelbar abhängt. Die »Intussuszeption«, die Einlagerung von Stoffwechselteilchen, wird durch die Spontaneität der Reproduktion nicht wirklich unterbrochen, insofern stehen beim pflanzlichen Organismus »die Produkte ihres Prozesses den chemischen noch näher« [ebd., § 345, S. 288]. 78

Hegel folgt unverkennbar Aristoteles in der Unterscheidung des pflanzlichen vom tierischen Organismus durch das Kriterium der Selbstbewegung: »Die Pflanze, als gegen ihren an sich seienden Organismus (§ 342) noch nicht für sich seiende Subjektivität, determiniert weder aus sich ihren Ort, hat keine Bewegung vom Platze« [Hegel 1969, § 344, S. 288].

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

Die Einbindung der pflanzlichen Organisation in die Kontinuität des Stoffwechsels zeigt sich aber nicht nur damit, dass die Produkte des Stoffwechsels relativ unvermittelt in die Organisation eingehen, also die Inhalte, die Elemente des Systems, keineswegs voll und ganz auto­ poietisch erzeugt, sondern ihrer Existenz nach schlicht und einfach rezipiert werden. Der rezeptive Stoffwechsel der Pflanze bedeutet vor allem einen Mangel an integraler Einheit des Organismus. Auch dafür ist der Grund eine fehlende Individuation durch die Reproduktion: Der rezeptive, mechanische Stoffwechsel, in den sich die pflanzliche Organisation verwickelt, ist nicht wirklich integrierend, sondern ein bloßer Komplex vereinzelter, lokal begrenzter Ereignisse, weswegen »der Prozeß der Gliederung und der Selbsterhaltung des vegetabilischen Subjekts ein Außersichkommen und Zerfallen in mehrere Individuen ist« [Hegel 1969, § 343, S. 287]. Plessner und Driesch79 unterscheiden in diesem Sinne den pflanzlichen vom tierischen Organismus als eine offene bzw. geschlossene Form. Bei der offenen Form ist der »Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingegliedert«, was ihn »zum unselbständigen Abschnitt des ihn entsprechenden Lebenskreises macht« [Plessner, S. 219]. Die nach außen und nicht nach innen gewendete Organisation, das »ekstatische Wesen« der Pflanze, bedeutet ihre Involvierung in den Stoffwechsel, sodass Ernährung und Fortpflanzung das pflanzliche Leben charakterisieren.80 Wie Hegel kennzeichnet auch Plessner die offene Form des pflanzlichen Organismus durch eine Individualisierung nicht durch die innere Organisation, die vielmehr durch die Einbindung in die äußere Umgebung – die Umwelt – zustandekommt. Die Folge ist fehlende Geschlossenheit des Organismus im Sinne mangelnder Integrität. Der Pflanze fehlen die »Zentralorgane«.81 79 80

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Plessner bezieht sich ausdrücklich auf Driesch [Driesch, S. 39 f; vgl. Plessner, S. 221]. Die »Eingebautheit in das umgebende Medium«, welche »den Zwecken der Ernährung, Reizleitung und Sexualität« dient, bedeutet das »Sichverlieren und Aufgehen im Funktionskreis des Gattungslebens«. »Die bei Pflanzen dominierende Bedeutung der Fortpflanzung ist nichts anderes als der Ausdruck für den Durchgangssinn, das Übergangswesen der offenen Form«. In der Tradition von Aristoteles, der Pflanze und Tier durch die Fähigkeit zur Ortsbewegung unterscheidet, sieht Driesch den »Mangel der Ortsbewegung« als ein »Charakteristikum offener Form« [Plessner, S. 222 f]. »Morphologisch prägt sich das in der Tendenz zur äußeren, der Umgebung direkt zugewandten Flächenentwicklung aus, die wesensmäßig mit der Un­ nötigkeit einer Bildung irgendwelcher Zentren zusammenhängt. […] Infolge

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Wie ein keineswegs rein konstruktivistisches, sondern konstitu­ tionstheoretisches Verständnis der Autopoiese möglich ist, zeigt die naturgeschichtliche Entwicklung des pflanzlichen zum tierischen Organismus. Hegels »Geist« trägt unverkennbar konstruktivistische Züge, wie dies der Begriff der »spekulativen Entwicklung« aus der Wissenschaft der Logik offenbart. Die spekulative Entwicklung geht anders als die »natürliche Entwicklung« nicht aus von einer gegebenen Realität, deren Begriffsbestimmung sie abstrahierte82, in ihr sind vielmehr Begriff und Realität (Existenz), Form und Inhalt, Subjekt und Objekt in eins gesetzt, sodass die Realität dem Begriff schlechterdings nicht mehr als selbständige Entität gegenübertritt, sondern durch ihn erzeugt, d. h. konstruiert wird: »Die Herleitung des Reellen aus ihm […] besteht zunächst wesentlich darin, dass der Begriff […] durch die in ihm selbst gegründete Dialektik zur Realität übergeht, dass er sie aus sich selbst erzeugt, aber nicht, dass er zu einer fertigen, ihm gegenüber stehenden Realität wieder zurückfällt« [Hegel 1975, S. 230]. Mit dem tierischen Organismus entwickelt sich die Organisation allererst zu einer im wahren Sinne autopoietischen. Würde sich die Autopoiese des Lebens decken mit einer konstruktiven, spekulativen Entwicklung, dann wäre zu erwarten, dass ihre Form der Konstitution keineswegs »zurückfällt« in die Unterscheidung des Begriffs von einer Realität, die ihm als ein selbständiges Äußeres gegenübertritt. In diesem Sinne müsste sich der tierische Organismus also dadurch

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dieses Mangels irgendwelcher Zentralorgane, in denen der ganze Körper gebunden bzw. repräsentiert wäre, tritt die Individualität des pflanzlichen Individuums nicht selbst als konstitutives, sondern nur als äußeres, der Einzel­ heit des physischen Gebildes anhängendes Moment seiner Form in Erscheinung, bleibt faktisch in vielen Fällen die Selbständigkeit der Teile gegeneinander in hohem Grand gewahrt (Pfropfung, Stecklinge).« [Plessner, S. 219 f] Bei der natürlichen Entwicklung, welche die »Geschichte des sich bildenden Individuums« zum Ausgangspunkt nimmt [Hegel 1975, S. 226], ist nach Hegel das wahre Verhältnis von Begriff und Realität vertauscht: Der Begriff bezieht sich hier auf ein anschaulich Gegebenes, von dem er eine Formbestimmung abstrahiert. Dagegen kehrt sich in der spekulativen Entwicklung [ebd., S. 227] das Verhältnis von Begriff und Anschauung bzw. Realität um: Die Realität wird hier aus der Begriffsbestimmung konstruktiv entwickelt – sie ist also nicht das Erste, sondern das Letzte der Begriffsbestimmung: »Anschauung oder Sein sind wohl der Natur nach das Erste oder die Bedingung für den Begriff, aber sie sind darum nicht das an und für sich Unbedingte, im Begriffe hebt sich vielmehr ihre Realität und damit zugleich ihr Schein auf, den sie als das bedingende Reelle hatten.« [Ebd., S. 226]

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

auszeichnen, dass er den Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Form und Inhalt, Begriff und Existenz vollständig aufhebt, indem er den Stoffwechsel in die Organisation integriert. Genau dieser dialektische Schritt einer Aufhebung der äußeren Natur kann sich jedoch erst mit der Aufhebung des individuellen Lebens durch den Geist und nicht schon innerhalb des »natürlichen« Lebens vollziehen. Der autopoietische, tierische Organismus hebt deshalb die Entgegensetzung zu einer Realität außer ihm nicht etwa auf, er verschärft sie: Der tierische »Organismus ist ein Zusammengehen seiner mit sich selbst in seinem äußeren Prozeß« [Hegel 1969, § 365, S. 302], jedoch nicht im Sinne einer Integration, vielmehr einer differenzbildenden Diakrisis. Hegel spricht hier von einer »disjunktiven Tätigkeit« des Begriffs, der den ganzen Stoffwechselprozeß »von sich wegschafft, von seinem Zorne gegen das Objekt« [ebd.]. Die autopoietische Organisation auf der Stufe des Lebens besteht also gerade nicht in einer spekulativ-konstruktivistischen Vereinnahmung des Stoffwechsels, indem dessen Produkte nun aus dem organisierenden Begriff hervorgingen im Sinne eines ideell geschlossenen Systems, welches seine Elemente als Begriffsbestimmungen ausschließlich selbst hervorbringt. Die Autopoiese konstituiert sich vielmehr durch eine Internalisierung der Organisation, die mehr und mehr sich vervollständigende Trennung der Tätigkeit des »mechanischen« Stoffwechsels einerseits und der integrierenden Organisation andererseits. Was den tierischen dem pflanzlichen Organismus gegenüber auszeichnet, ist die nunmehr »unterbrochene Intussuszeption, als sich individualisierendes Verhalten zu einer individuellen unorganisierten Natur« [Hegel 1969, § 351, S. 291, 292]. Beim tierischen Organismus ist die »Einzelheit […] unmittelbar ausschließend und gegen eine unorganische Natur als gegen seine äußerliche Bedingung und Material sich spannend« [ebd., § 357, S. 295]. Das bedeutet, dass die Organisation in den Stoffwechsel nun nicht mehr involviert ist, diesen insgesamt als eine äußere Existenzbedingung von einem nunmehr rein autopoietischen Systematisieren und Integrieren trennt. Der tierische Stoffwechsel ist zwar immer noch rezeptiv, doch beruht seine organisierende Leistung auf der vollständigen Assimilation der Stoffwechselprodukte durch die reproduktive Vermittlung. In der Assimilation vollzieht sich das, was Hegel den Umschlag des Stoffwechsels »in den Prozeß der Organisation mit sich selbst« nennt [ebd., § 365, S. 302]. Die lebendige Subjektivität erscheint nunmehr als ein »Gestaltungsprozeß innerhalb ihrer selbst«. Insofern sich die autopoietisch geschlossene 125 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. I – Paradigmen der Entwicklung: Diakrisis und Konstitution

Form der Organisation als eine nicht mehr abstrakte, sondern individualisierende Reproduktion als eine Totalität setzt und damit »eben diese Totalität der Gliederung selbst produziert« [ebd., S. 295], wird der Stoffwechsel zum bloßen Medium und Mittel, welcher zwar die In­ halte vorgibt, auf die Form der Organisation jedoch keinen Einfluss mehr nimmt. Wie genau jedoch vollzieht sich dieser Umschlag? Wie schon beim pflanzlichen Organismus betont Hegel auch hier, dass es verschiedene Vermittlungsstufen der Assimilation gibt und diese mehrfache Vermittlung eine überschüssige Tätigkeit dem Stoffwechsel gegenüber ins Spiel bringt, eine Spontaneität in der Rezeptivität als »Überfluß«, den die Organisation zur Aktivität der Reproduktion und Entwicklung schließlich nutzt.83 Wie dieser »Überfluß« entsteht, kann Hegels Beispiel der Muttermilch verdeutlichen.84 Die Muttermilch wird verdaut – der Stoffwechsel bezieht sich hier freilich auf ein bereits vorver­ dautes Produkt, d.  h. die reproduktive Vermittlung des Stoffwechsels erscheint hier internalisiert, indem die zwecksetzende Reproduktion nicht auf den bloßen Stoff, sondern bereits einen geformten Stoff als Mittel rekurriert, ein Produkt, das durch einen solchen Reproduktionsprozess der Assimilation schon einmal durchgegangen ist. Es entfernt sich der organisierte Stoffwechsel also zunehmend von seinem Ausgangspunkt und erzeugt ein Produkt im Sinne der Vermittlung 83 »Der vermittelte Verdauungs-Prozeß, in den höhern Tierorganisationen, ist in Rücksicht auf sein eigentümliches Produkt ein ebensolcher Überfluß, als bei Pflanzen ihre durch sogenannte Geschlechts-Differenz vermittelte SamenErzeugung.« [Hegel 1969, § 365, S. 302] Auch Nicolai Hartmann führt die Orga­nisation auf eine »Überproduktion« des reproduktiven Stoffwechsels, der Assimilation, zurück. Die Überproduktion wirkt sich destabilisierend auf die Systemorganisation im ganzen aus. So entsteht ein Restitutionszusammenhang im Sinne der »Selbstwiederbildung«. Die Überproduktion kann so für die Fort­ pflanzung oder die Ausdifferenzierung von Systemstrukturen genutzt werden. [Hartmann, S. 113, 111] 84 Höherstufige Organismen weisen einen nicht einfachen, sondern mehrfach vermittelten Stoffwechsel auf, wie Hegel das am Beispiel des Wassers als Nahrung der Pflanze und der Muttermilch für den menschlichen Organismus verdeutlicht: »Für die niedrigern, zu keiner Differenz in sich gekommenen animalischen Gebilde ist nur das individualitätslose Neutrale, das Wasser, wie für die Pflanze, das Verdauliche; für Kinder ist das Verdauliche teils die ganz homogene animalische Lymphe, die Muttermilch, ein schon Verdautes oder vielmehr nur in Animalität unmittelbar und überhaupt Umgewandeltes und in ihr selbst weiter nicht Differentiiertes; – teils von den differenten Substanzen solche, die noch am wenigsten zur Individualität gereift sind.« [Hegel 1969, § 373, S. 307]

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4) Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels

einer Vermittlung, d. h. letztlich wird die Organisation rekursiv, reproduziert nur noch sich selbst. Hegel beruft sich hier auf Goethe: »»Das Gebildete wird immer selbst wieder zu Stoff […].« Die Materie, die gebildet ist, Form hat, ist wieder Materie für eine neue Form.« [Hegel 1982 a, S. 45] In diesem Vermittlungsprozess trennt sich demnach der Stoffwechsel von seiner Verarbeitung: Das, was Gegenstand der Organisation ist, ist eigentlich gar nicht mehr der Stoffwechsel, sondern wiederum seine Organisation. Die autopoietische Organisation kann so den Schein einer Selbstkonstruktion erzeugen, wonach sie ihre Elemente ausschließlich selbst erzeugt. Dieser Schein verfliegt jedoch, wenn man auf die Konstitutionsbedingungen der Autopoiese reflektiert, die in der Internalisierung liegen. Am Anfang steht der Stoffwechsel, welcher der Form ihren Inhalt gibt. Die Produkte des Stoffwechsels sind nicht Produkte einer integrierenden und konstituierenden, sondern mechanischen und diakritischen Entwicklung. Gegenstand einer konstituierenden und nicht konstruktiven Autopoiese ist also niemals der Inhalt, sondern ausschließlich die Form. Die Existenz­bedingungen dieser spontanen Autopoiese liegen deshalb auch nicht innerhalb, sondern notwendig außerhalb ihrer selbst: in der Re­ zeptivität des Stoffwechsels, den bewegungsdynamischen Prozessen. Das Beispiel des pflanzlichen Organismus zeigt, dass die Assimilation, die reproduktive Vermittlung des Stoffwechsels, allein nicht ausreicht, die Verwandlung der Bewegungs- in eine Auslösungsdynamik zu begründen. Erst die Internalisierung – also die nicht einfache, sondern mehrfache Vermittlung – führt zur autopoietischen Scheidung von Organisation und struktureller Kopplung.

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Kapitel II Restitutive Selbsterhaltung: Die diakritische Entwicklung als Form der mechanischen Reproduktion 1)

Hegel und Herbart: Das Problem der Restitution und die Destruktion des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung

Produktion, Reproduktion und Selbsterhaltung werden in der Idee autopoietischer Selbstorganisation zu Synonyma.85 Das bedeutet, dass solche durch die Reproduktion nicht vermittelten produktiven Leistungen wie die bewegungsdynamischen Prozesse des Stoffwechsels im Prinzip keine ordnende und organisierende Funktion in der Autopoiese ausüben können. Die Bewegungsmechanik gewinnt allerdings Einfluss auf die Organisation beim »Beginnen der Auf‌lösung des Lebendigen« [Hegel 1975, S. 426], dort, wo die Reproduktion nicht mehr in der Lage ist, die Geschlossenheit der Systembildung und damit die Trennung von Innerem (Subjekt) und Äußerem (Objekt), von Organisation und Stoffwechsel, aufrecht zu erhalten. Ein autopoietisches System, welches sich durch seine Reproduktion ausschließlich selbst produziert, kann sich zwar nicht Kraft seiner Organisation selbst auf‌lösen, wohl aber durch äußere Gewalt zerstört werden: Die Bewegungsdynamik wird damit zum destruktiven Faktor der Autopoiese. Durch die Fassung der Selbstorganisation als eine Autopoiese wird die Organisationstheorie zu einer Reproduktionstheorie und die Restitution damit wiederum zum methodischen Grenzfall. Voraussetzung für die Restitution ist eine partielle Auf‌lösung der integralen Einheit des Organismus, die möglich wird durch das Doppelgesicht des Lebensprozesses, zu dem sowohl gehören das Entstehen wie das Vergehen, das Leben und sein faktischer Tod. Vergänglichkeit in Bezug auf die autopoietische Selbstkonstitution eines lebenden Subjekts be­deutet, dass die Reproduktionsfähigkeit des lebenden Systems nicht mehr uneingeschränkt gewährleistet ist. Wie sich die Restitution in einer rein mechanistisch begriffenen Selbsterhaltung als Funktion des energetischen Stoffwechsels als methodische Achillesferse erweist, so um so mehr für die Reproduktionstheorie der Organisation: Wird die 85

In Bezug auf die individualisierende Reproduktion, welche den tierischen Organis­mus konstituiert, heißt es: »Diese Produktion seiner ist so Selbst­erhal­ tung oder Reproduktion« [Hegel 1969, § 366, S. 302].

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1) Hegel und Herbart

Möglichkeit der (Selbst-)Reproduktion eines lebenden Systems durch den Zerfall des Organismus aufgehoben, dann scheint damit entweder überhaupt die Möglichkeit zu entfallen, die Restitution durch die Autopoiese zu erklären, oder aber es wird die restituierende Leistung unmittelbar auf die bewegungsdynamischen Prozesse zurückgeführt, was die Idee der autopoietischen Organisation als solche aufheben würde. Hegels Betrachtung der Krankheit des Individuums [Hegel 1969, §§ 371–374] trägt dieser methodischen Komplikation durchaus Rechnung. Den Krankheitszustand fasst Hegel als einen, in dem die Möglichkeit der autopoietischen Reproduktion eingeschränkt ist, sodass die Diakrisis von Organisation und Stoffwechsel partiell aufgehoben ist: die Organisation wird durch die Krankheit »rezeptiv«, in die anorganischen, bewegungsdynamischen Prozesse verwickelt: »In der Krankheit ist das Tier mit einer unorganischen Potenz verwickelt und in einem seiner besondern Systeme oder Organe gegen die Einheit seiner Lebendigkeit festgehalten.« [Hegel 1969, § 374, S. 308] Krankheit als ein Zustand der Desorganisation bedeutet eine Vereinzelung: Indem die Trennung von System und Umwelt durch die mangelnde Geschlossenheit des Reproduktionszusammenhangs nicht mehr gewährleistet ist, geraten einzelne Systeme in die Abhängigkeit des lokalen Stoffwechsels und widersetzen sich damit der integrierenden Leistung der Reproduktion. Statt in das Ganze integriert zu werden, setzen sie sich als Fremdkörper im Organismus fest: Der Organismus »befindet sich im Zustande der Krankheit, insofern eines seiner Systeme oder Organe, im Konflikt mit der unorganischen Potenz erregt, sich für sich festsetzt und in seiner besondern Tätigkeit gegen die Tätigkeit des Ganzen beharrt, dessen Flüssigkeit und durch alle Momente hindurchgehender Prozeß hiemit gehemmt ist.« [Ebd., § 371, S. 306] Hegels Deutung der Krankheit erweist sich als eine konstitutions­ theoretische Idealisierung damit, dass sie ihre desintegrierende Wirkung versteht als einen Konflikt der Organisation im Ganzen mit den bewegungsdynamischen Prozessen, der zu einer partiellen Hemmung ihrer Funktionsfähigkeit führt. Die Alternative wäre, die Desintegration als eine dissoziierende Spaltung zu verstehen, wo die Reproduktion in lauter Reproduktionen zerfällt und damit ihre Fähigkeit verliert, ein funktional zusammenhängendes, geschlossenes System zu bilden. Offenbar geht es Hegel darum zu zeigen, dass die Fähigkeit zur autopoietischen Selbstreproduktion auch im Falle der Restitution sichergestellt ist. Das theoretische Modell, welches hier zum Zuge 129 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

kommt, ist das ontologische einer generellen Norm und ihrer individuellen Abweichung: Hegel nimmt die Reproduktion von vornherein als ein intelligibles Lebensprinzip in Anspruch, die von daher als die Reproduktion primär einer Gattungsbestimmung gedeutet wird. Beim tierischen Organismus entsteht im Unterschied zur Pflanze eine autopoietisch geschlossene Form der Organisation durch die Individu­ alisierung der Reproduktion. Die Krankheit betrifft nun diese indivi­ duelle Bestimmung, indem das Individuelle, statt die Reproduktion der Gattung näher zu bestimmen und weiter zu entwickeln, in Konflikt mit der Gattungsbestimmung gerät: »Der einzelne Organismus kann in jenem Verhältnisse der Äußerlichkeit seines Daseins seiner Gattung ebensowohl auch nicht entsprechend sein, als in ihr sich zurückkehrend erhalten« [Hegel 1969, § 371, S. 306]. Die Krankheit betrifft also das Konstitutionsverhältnis des rezeptiven Stoffwechsels und seiner reproduktiven Verarbeitung durch die spontane Autopoiese: Das Einzelne erscheint mit dem Allgemeinen nicht mehr vermittelt, indem sich die Reproduktion auf das Reproduzieren nur noch der Gattungsbestimmung gewissermaßen zurückzieht und die Individualisierung, statt dem Ideal der Konstitutionsbestimmung folgend das vorausgesetzte Allgemeine zu bestimmen und zu entwickeln, in Widerspruch mit der allgemeinen Gattungsbestimmung gerät. Die Restitution – die Heilung – hat entsprechend die Aufgabe, die Einheit von Individuum und Gattung in der Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Allgemeinen und damit die verlorene Möglichkeit einer konstituierenden Entwicklung überhaupt wiederzugewinnen. Den bewegungsdynamischen Prozessen kommt hier die eigentümliche Restitutionsfunktion zu, die Wiederherstellung der Geschlossenheit des Reproduktionszusammenhangs in der Individualisierung auslösend zu bewirken. Genau darin besteht die heilende Wirkung des Giftes: »Die Arzneimittel sind insofern negative Reize, Gifte; ein Erregendes und zugleich Unverdauliches wird dem in der Krankheit sich entfremdeten Organismus als ein ihm äußerliches Fremdes dar­ geboten, gegen welches er sich zusammennehmen und in Prozeß treten muss, durch den er zum Selbstgefühl und seiner Subjektivität wieder gelange.« [Hegel 1969, § 373, S. 307 f] Der Krankheitszustand als eine privative Entäußerung des lebenden Subjekts an das Objekt besteht in der Auslieferung des Organismus an seinen rezeptiven Stoffwechsel und der damit fehlenden Verarbeitung des Stoffwechsels durch seine reproduktive Vermittlung in der Assimilation. Das heilende Gift ist ein negativer Reiz, d. h. die rezeptive Wahrnehmung einer mechanischen 130 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Hegel und Herbart

Ursache wird hier zum Auslöser einer spontanen Handlung der Reflexion: das Subjekt kehrt aus einem Zustand der Entäußerung zu sich selbst zurück. In der Restitution wird also durch den rezeptiven Stoffwechsel und die in ihm wirksame Bewegungsmechanik eine Fähig­keit zur Selbsterhaltung und -reproduktion entwickelt, doch findet auch hier die Umwandlung der Bewegungs- in eine Auslösungs­dynamik statt, wie sie für die Konstitutionsbestimmung der Autopoiese wesentlich ist. Das Gift ist ein im absoluten Sinne Unverdauliches und damit Untaugliches für den Stoffwechsel. Dies ermöglicht es dem Subjekt, in der Abwehr und unveränderten Ausscheidung des Giftes sich dem ­Objekt schließlich exkludierend gegenüberzusetzen, sich als solches dem äußeren Stoff gegenüber zu behaupten. Da die Möglichkeit der entwickelnden Konstitutionsbestimmung beim individuellen Leben auf der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt beruht, eines Äußeren und Inneren der Organisation, kann sie letztlich nur dadurch anfänglich wiederhergestellt werden, indem zunächst die Fähigkeit zur Selbstunterscheidung des Subjekts von seinem Objekt restituiert wird. Hegels Modell einer autopoietischen Restitution setzt die Unauf‌löslichkeit des Reproduktionszusammenhangs zwar nicht im Besonderen, wohl aber im Allgemeinen voraus. Grundlegend dafür ist die konstitutionstheoretische Deutung der Reproduktion als eine Form der noumenalen Begriffsbestimmung: Die Krankheit betrifft niemals die Reproduktion der Gattungsbestimmung, sondern immer nur das Verhältnis von Individuum und Gattung. Deshalb ist dasjenige im Gattungsleben schlechterdings aufgehende Leben des Geistes der Krankheit prinzipiell unfähig.86 Die Restitution bedeutet letztlich das Vermögen der Durchsetzung des Allgemeinen gegen das Einzelne, die Überwindung einer Befangenheit durch das Einzelne, welche verhindert, dass dieses durch das sich reproduzierende Allgemeine bestimmt und entwickelt wird.87 Der Primat der Gattungsbestimmung zeigt das konstitutionstheoretische und metaphysische Fundament eines sol86

87

Das erläutert Hegel in der Anthropologie am Beispiel der Verrücktheit. Auch hier betrifft die Möglichkeit der Krankheit und Restitution nur die individuelle Besonderung, nicht aber den Geist selbst: »Der Geist ist frei und darum für sich dieser Krankheit nicht fähig.« [Hegel 1969, § 408, S. 337] Nach Hegel geht es darum »dazu beizutragen, die Ansicht des bloß Parti­k ularen und Spezifischen der Krankheiten als der Mittel zu erweitern und in beiden vielmehr das Allgemeine als das Wesentliche zu erkennen«. Der Organismus rea­g iert »wenigstens in den Endresultaten« auf eine »gleiche und daher allge­ meine Weise«, dass er »seine einfache Identität mit sich als die substantielle und wahrhaft wirksame Tätigkeit gegen eine partikuläre Befangenheit ein-

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

chen Verständnisses von Selbsterhaltung und Reproduktion: Der Reproduktion, gedacht als die einer nur dem Begriff zugänglichen allgemeinen Gattung, liegt die metaphysische Scheidung von Phaenomena und Noumena zugrunde, wonach die Autopoiese die bewegungsdynamischen Prozesse durch den Stoffwechsel als Mittel zum Zweck der Selbstorganisation lediglich gebraucht, ohne dabei in eine mechanische Kausalität verwickelt zu sein. Konstituiert sich die Reproduktion nicht als die des Einzelnen, sondern einer allgemeinen Gattung, dann wird methodisch der Stoffwechsel zum Normalfall und die Restitution zum Grenzfall der Organisation. Im Stoffwechsel zeigt sich nämlich die autopoietisch einseitige Vermittlung der bewegungsdynamischen Prozesse durch die Reproduktion und Selbsterhaltung, während in der Restitution die Selbsterhaltung durch die Bewegungsmechanik ursächlich mit bedingt ist – freilich nur als eine äußere Bedingung der Selbst­kon­sti­ tution und ihrer Form der Entwicklung: eine auslösende und nicht or­ ganisierende Ursache, welche die autopoietische Geschlossenheit des lebendigen Organismus daher keineswegs in Frage stellt. Als Form der Entwicklung in allen Erscheinungen enthüllt sich bei Hegel die com­ plicatio einer explicatio als die autonome Konstitutionsbestimmung einer als Subjekt gedachten Substanz88, der ihre Bestimmungen zunächst inhärieren, welche dann durch die subjektive Selbstentfaltung zu äußeren, gegenständlichen Bestimmungen werden. In der Entwicklung geschieht »nichts, als das, was innerlich, an sich ist, aus sich herauszuziehen und sich gegenständlich zu werden.« [Hegel 1982 a, S. 40] Daran ändert auch die diakritische Funktion des individuellen Lebens nichts, insofern das Objekt als Außenseite des Subjekts wiederum durch eine Selbstunterscheidung dieses Subjekts als Folge und nicht etwa Bedingung seiner Selbstbestimmung entwickelt wird. Herbarts Destruktion des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung und die sich daran anschließende mechanistische Interpretation der Reproduktion vollzieht hier schließlich den entscheidenden Paradigmenwechsel: Die Reproduktion ist nunmehr die eines Einzelnen,

zelner seiner Systeme in spezifischen Reizen sich beweist« [Hegel 1969, § 373, S. 308]. 88 »Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muss, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.« [Hegel 1971, Vorrede, S. 19]

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1) Hegel und Herbart

einer individuellen Konstellation mechanisch wirkender Kräfte, und entsprechend löst die Restitution den autopoietischen Stoffwechsel ab als erkenntnistheoretisches Modell der Selbsterhaltung und Selbst­organisation: Die Selbsterhaltung – die dynamische wie die organisch-reproduktive – ist stets die einer mechanischen Störung gegenüber. Herbarts Kritik führt keineswegs zu einer Destruktion des Entwicklungsdenkens überhaupt, sondern einer Neufassung des Begriffs der diakritischen Entwicklung, welche nunmehr als eine Form von Selbstorganisation – von mechanischer Reproduktion – gedacht wird. Während Herbert Spencer die auf Kants Allgemeine Naturge­ schichte und Theorie des Himmels zurückgehende Konzeption einer rein »mechanischen Entwicklung« zu einer universellen Theorie der bewegungsdynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung erweitert, ist für Herbart dieser methodische Weg von vornherein verbaut. Herbart erneuert nicht anders als Hegel die auf Aristoteles’ ­Physik zurückgehende Verwerfung des Atomismus als philosophisches Erklärungsprinzip des Werdens: »Wir dürfen als bekannt voraussetzen, dass jede Atomenlehre sich unfähig zeigt, die Verbindung der Dinge in der Natur zu erklären. Die Atomen können zwar ihre Lage und Mischung wechseln, sie können aber nicht ineinander eingreifen; man kann sie nicht zu Systemen verknüpfen, in denen etwas wirklich geschähe, sondern nur zu Summen, Haufen, Aggregaten, deren ganze Zusammensetzung nicht in ihnen selbst liegt, sondern bloss im zusammenfassenden Denken.« [Herbart 1828, § 129, S. 256 f] Die Atombewegung und ihre assoziativen Verdichtungen bringen demnach bloße Aggregate und keine geordneten Systeme hervor. Bewegungsdynamische Prozesse erweisen sich demnach als unfähig zur Organisation. Die Synthesis von Gegebenheiten der Erfahrung ist eine solche nicht der Wahrnehmung, sondern des zusammenfassenden Denkens, wodurch die ontologische Differenz von Phaenomena und Noumena ins Spiel gebracht wird. Das Werden ist nur zu begreifen, indem die wahrnehmbare Bewegung und Veränderung als bloße Erscheinung auf ein zugrunde liegendes Sein bezogen wird: ein nur dem reinen Denken zugängliches intelligibles Substrat als Grund und Ursprung der erscheinenden Realität. Die Naturphilosophie von Schelling und Hegel löst nun das Problem, wie die Phaenomena durch ein solches Noumenon organisiert werden können, durch den Konstitu­ tions­begriff der Entwicklung. Die Erscheinungen werden als inhärie­ rende Bestimmungen einer Substanz gedacht, sodass die Phaenomena aus dem noumenalen Substrat als dessen zu explizierende implizite 133 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Bestimmungen ursächlich hervorgehen in einem Prozess der systematisch geordneten, konstituierenden Entwicklung. Diese Lösung, die Phaenomena als implizite Konstitutionsbestimmungen eines intelligiblen Substrates aufzufassen, beruht nach Herbart jedoch auf mangelnder philosophischer Kritik, dem, was Kant eine »Amphibolie der Reflexionsbegriffe« genannt hat, die »Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen«.89 Die konstitutionstheoretische Amphibolie entsteht nach Herbart durch eine methodologische Totalisierung, welche »Identität in Totalität« setzt [Herbart 1828, § 136, S. 270]. Der ganze Komplex phänomenaler Gegebenheiten wird dadurch, dass er als Form der Begriffsbestimmung gedacht wird, in die an sich einfache noumenale Substanz verlegt. Eine solche totalisierende Ineinssetzung von Phaenomena und Noumena geschieht im Idealismus durch die Aufstellung eines obersten Begriffs als Systemprinzip, die als Subjekt gedachte Substanz, aus dem die Formen der Erfahrung in ihrer Totalität systematisch entfaltet werden. Die methodologische Totalisierung betrachtet die Prinzipien des Wissens nicht etwa als abstrakte Hypothesen, die sich im Durchgang durch die Erfahrung erst bewähren und konkretisieren müssten. Vielmehr werden sie aufgrund der Ineinssetzung des Begriff‌lichen mit dem Realen in der Selbstkonstitution eines Subjekts als synthetische Grundsätze a priori angesetzt und damit als konkrete Entwicklungseinheiten für eine begriff‌lich-deduzierende Systementfaltung beansprucht. Der ganze Reichtum der Erfahrung liegt so in einem intelligiblen, allgemeinen Grundsatz bereits beschlossen, der die »ganze Erkenntnis, wenigstens eingewickelt, wie die Blume in einer Knospe« [ebd., § 135, S. 268] enthält und deshalb nur der auseinanderwickelnden Reflexion bedarf, um in der Realität in Erscheinung zu treten. Der Keim der Pflanze besitzt nach Hegel den Trieb zur Entwicklung. Er verwirklicht die mannigfaltigen, ideellen Anlagen der Natur, indem er sie »in die Existenz« heraussetzt. [Hegel 1982 a, A. 41] Es kommt so »Vielfaches hervor; das ist aber alles im Keime schon enthalten, freilich nicht entwickelt, sondern eingehüllt und ideell.« [ebd.] Die autopoietische Geschlossenheit dieser Entwicklung ermöglicht die »Konkretheit« des konstituierenden Vermögens, die vollständige und durchgängige Bestimmung bereits der Wesensanlage, die alle Eigenschaften von 89 Vgl. Kant 1968, B 316 »Anhang. Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch die Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem trans­ zen­dentalen«.

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1) Hegel und Herbart

sich her schon mitbringt, die sich nur entfalten müssen wie die Blüte, deren einzelne Blätter sichtbar werden, indem sie sich öffnet.90 Das methodologische Dilemma dieser Totalisierung, welche aus einer autonom gesetzten begriff‌lichen Reflexion heraus den ganzen Komplex von Erfahrungsgegebenheiten als ideelle Konstitutionsbestimmung eines intelligiblen Substrates zunächst setzt und dann explizierend entwickelt, veranschaulicht Herbart mit einer Fabel: »Die Hauptstadt war reich; denn die Provinzen waren ausgesogen. Eine gefährliche Anhäufung des Reichthums, die sich selbst zu zerstören pflegt.« [Herbart 1828, § 135, S. 268] Die Metapher der souveränen Ausbeutung lebenserhaltender Resourcen, die sich in letzter Konsequenz gegen den Urheber selbst wendet, verdeutlicht nichts anderes als die »transzendentale Amphibolie« eines selbstherrlichen rationalistischen Verstandesdenkens, das Phaenomena und Noumena mit­ein­ ander verwechselt, sodass die qualitativen Unterschiede der schlechterdings vorlogischen, sinnlichen Erfahrung nur dazu benutzt werden, um in Differenzen eines logischen Begriffssystems aufgelöst zu werden. Wie schon Leibniz »intellektualisiert« das idealistische Entwicklungsdenken die Erscheinungen.91 Nach Kant erfordert die kritische Reflexion auf die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena, die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis zu beachten, in der die Synthesis des Gegebenen zu suchen ist: entweder in den Sinnen oder im Verstand [Kant 1968, B 316, A 260]. Die konstitutionstheoretische Auslegung des Werdens erkennt überhaupt nur ein Prinzip der Synthesis für die verschiedenen Erkenntnisquellen an: den vergegenständlichenden Begriff. Herbarts Methodologie löst deshalb diese totalisierende Methode auf dadurch, dass Phaenomena und Noumena als eigenständige Formen der Synthesis ernstgenommen werden: Zwar kann die Synthesis der Erfahrung nicht ohne die Beziehung der veränderlichen Erscheinungen auf eine gegenständliche Einheit – eine unveränderliche Substanz – gedacht werden, doch ist die Synthesis hier 90

91

Den autopoietischen Charakter dieser konstituierenden Entwicklung betont Hegel ausdrücklich: »Das höchste Außersichkommen, das vorherbestimmte Ende ist die Frucht, d. h. die Hervorbringung des Keimes, die Rückkehr zum ersten Zustande. Der Keim will sich selbst hervorbringen, zu sich selbst zurück­­ kehren.« [Hegel 1982 a, S. 41; Herv. d. Verf.] Kant spricht von »einer transzendentalen Amphibolie« als eine »Verwechslung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung«, »welche die kritische Ver­ nunft nicht anerkennen kann« [Kant 1968, B 326, A 270]. Die Kritik trifft insbesondere Leibniz: »Mit einem Worte: Leibniz intellektuierte die Er­ scheinungen« [ebd., B 327, A 271].

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

nicht integral, sondern analytisch zu denken im Sinne einer Vervielfältigung der Prinzipien. Dort wo die Konstitutionstheorie totalisierend das Heterogene homogenisiert, das Viele ineins setzt, trennt es Herbarts transzendental-kritische Methodologie: »der Schein der In­ härenz ist allemal die Anzeige eines mehrfachen Realen« [Herbart 1829, § 214, S. 76] Der von der Amphibolie bereinigte Substanzbegriff ist deshalb streng als ein einfacher zu denken. Das nur dem reinen Denken zugängliche Sein ist das unterschiedslose Eine, welches das Viele der Phänomene von sich ausschließt – diesem Grundsatz von Parmenides will Herbarts Ontologie und Methodologie uneingeschränkt Geltung verschaffen. Die »Stimme der Männer aus Elea« ist in den idealistischen Systementwürfen nach Kant verhallt [Herbart 1828, § 137, S. 271]. Durch die totalisierende Methodologie der Spekulation löst sich die an sich einfache Qualität der Substanz auf in ein komplexes System von Verbindungen der ontologischen »Unmöglichkeit« ungeachtet, »dem Realen eine ursprünglich vielfache Qualität beyzulegen« [ebd., § 129, S. 257]. Damit wird schließlich das »Werden dem Sein« eingepflanzt [ebd., § 138, S. 272] und die substanzielle Einheit begabt mit der Fähigkeit der kontinuierlichen Entwicklung. Mit Kant macht Herbart Leibniz für die methodologischen Verirrungen des idealistischen Systemdenkens verantwortlich, die Auffassung der komplexen Eigenschaften als nicht äußere, sondern innere Bestimmungen einer Substanz, indem er »den stetigen Fluß des Heraklit in das innere Leben seiner Monaden hineinlegt« [ebd., § 132, S. 262]. Auch Herbart hält freilich fest an der konstitutionstheoretischen Deutung des Werdens, wonach dieses nicht anders zu denken ist als die veränderliche Bestimmung einer unveränderlichen Substanz. Die methodologische Kritik der Amphibolie des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung führt nun allerdings dazu, dass die Konstitutionsbestimmung ihren dynamischen Entwicklungssinn verliert, das Werden entsprechend als eine Form nur noch der restitutiven Selbsterhaltung gedeutet wird, solchen von außen kommenden Veränderungen einen Widerstand entgegenzusetzen. Die Selbsterhaltung zeigt sich bei Herbart damit gleichsam konservativ, beschränkt sich auf die Fähigkeit entweder zur mechanischen Repulsion oder zur ebenso mechanischen, unveränderlichen Reproduktion, verliert demnach jeden produktiven Sinn eines autopoietischen Stoffwechsels, Grund und Ursache für einen Prozess der Veränderung und Entwicklung zu sein. Das Werden hat keine anderen als bewegungsmechanische Ursachen, die sich je136 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Hegel und Herbart

doch immer an einer Substanz abspielen, welcher in Bezug auf ihre akzidentellen Konstitutionsbestimmungen und deren Verwicklung in die bewegungsdynamische Veränderung der permanente Identitätsverlust droht, gegen den sie sich immer wieder zu behaupten hat. Das zeigt Herbarts Kritik an der naturphilosophischen, teleologi­ schen Interpretation der Kraft als Form der Selbstentfaltung und Ent­ wicklung einer zugrunde liegenden Kraftsubstanz. Der Widerspruch in einem solchen teleologischen Begriff der Kraft, den Herbarts transzendentale Methodologie aufzuklären und wegzuschaffen sucht, liegt in der Vermischung zweier Vorstellungen: dass lebendige, wirksame Kräfte einmal anderen Kräften gegenüber Widerstand leisten, sich im Kräftespiel aber vor allem dadurch behaupten können, dass sie über ein Vermögen zur tätigen Selbstveränderung verfügen. Die kausale Definition »Kraft ist das, was den Widerstand überwindet« wird so erläutert mit der teleologischen Erklärung »Kraft ist, was den Zustand eines Dinges zu ändern strebt« [Herbart 1829, § 235, S. 104]. Die Fähigkeit einer Kraft, sich einer anderen Kraft gegenüber durch einen Widerstand – ihr repulsives Vermögen – zu erhalten, wird hier teleologisch gedeutet als ein aktives Strebens nach Veränderung und somit umgedeutet zur Überwindung des inneren Widerstandes ein und der­ selben Kraftsubstanz, die damit zugleich als tätig und leidend gesetzt ist. Die spekulative Naturphilosophie beutet dies dahingehend aus, dass sie Kräfte mit dem »dialektischen« Bewegungsvermögen ausstattet, sich in Widerspruch mit sich selber setzend zu »entäußern« und so vom Sein ins Werden kontinuierlich überzugehen. Herbarts Methodologie kann hier einmal mehr den Verstoß gegen das Prinzip der Ontologie konstatieren, die ursprüngliche Setzung des Einfach-Gegebenen nicht unter allen Umständen des empirischen Wandels festgehalten zu haben. In der immer einfachen Kraftsubstanz liegen keinerlei »Tendenzen« oder »Triebe«, denn das parmenideische Eine ist in seiner Vollkommenheit jeglicher ergänzenden Bestimmung schlechterdings unbedürftig. So ist »keine Qualität eines realen Wesens […] mangelhaft, bedürftig, und in irgend einem Übergange begriffen.« [Herbart 1829, § 237, S. 107] Während die idealistische Naturphilosophie die Überwindung des Widerstandes durch eine Kraft »mehr in dem überwundenen Hindernis, als in der Wirkung« [Herbart 1829, § 235, S. 104] sucht und damit die Einfachheit der Setzung in die Relation zweier gegeneinander wirkender Prinzipien – einer zugleich tätigen und leidenden Kraftsubstanz – spaltet, gilt es für eine transzendentalkritische, Phaenomena 137 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

und Noumena scheidende methodologische Betrachtung, das Wirken der Kraftsubstanz rein affirmativ als eine nicht komplexe, sondern einfache Wirkung zu begreifen. Die methodologische Forderung lautet deshalb, die Wechselbestimmung von Tun und Leiden, der sich in der Erhaltung einer Kraft einem äußeren Widerstand gegenüber äußert, als ein übergangslos-einfaches Verhältnis zweier Realitäten zu denken und nicht totalisierend als ein gegensätzlich-übergängiges Verhältnis ein und derselben Realität: »Der Gegensatz ist zwischen beyden [Kräften, d. Verf.]; nicht aber in einem von beyden.« [Ebd.] Die Überwindung des Widerstandes bedeutet, dass immer zwei selbständige Wesen aufeinander wirken, »beyde zugleich« ein­ander widerstehen. Die kausale, verändernde Wirkung liegt so radikal »zwi­ schen den Wesen« [Herbart 1829, § 237, S. 107] und kann deshalb auch keiner teleologischen, konstituierenden Entwicklung einer Kraftsubstanz entspringen, welche ihre innere Komplexität »dialektisch« auseinanderlegte. Statt zu synthetisieren, elementarisiert Herbarts methodologische Trennung des Einen und des Vielen die kausalen Relationen. Das veränderliche Werden verliert so den Sinn einer kontinuierlichen Entwicklung und löst sich auf in eine nackte Sukzession stets anderer Störungen, denen die an sich einfache Selbsterhaltung immer wieder von Neuem widersteht. Diese restitutive Selbsterhaltung im Sinne des einfachen Bestehens einer ungeteilten Kraft »wider eine Negation« [ebd., § 236, S. 105] zerstört den Eindruck eines Kontinuums der Entwicklung und ersetzt ihn durch den eines diskret vervielfältigten, diskontinuierlichen Ablösungsgeschehens. So nährt die Metaphysik schließlich den Glauben, »die Natur sey eine Taschenspielerin im Großen; sie schiebe unsern Augen unvermerkt eins fürs andere unter, und es gebe keinen Übergang von der Knospe zur Blume, von der Blume zur Frucht, sondern unendlich vielemal verschwinde der Gegenstand, den augenblicklich ein ganz neuer, beynahe gleicher, wiederum ersetze« [ebd., § 228, S. 93]. Die Vertröstung, »dass ungeachtet der allmählichen Veränderungen […] dennoch ein identischer Gegenstand gegeben sey« [ebd.], schwächt diese geradezu postmodern anmutende Deutung des Werdens als eine diskontinuierliche Folge von Katastrophen keineswegs ab. Die gegenständliche Einheit fungiert zwar als die Erhaltungskonstante des Werdens, die sich allerdings als dieselbe lediglich restituiert, als im Sinne des autopoietischen Stoffwechsels die veränderlichen Eigenschaften zu einer immer umfassenderen Synthese zu integrieren.

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1) Hegel und Herbart

Herbart gibt die konstitutionstheoretische Deutung der Selbsterhaltung als die einer Substanz also keineswegs auf. Doch ändert die substanzielle Selbsterhaltung ihren Sinn, wie das am Beispiel der Erhaltung einer Kraft deutlich wird: Die Selbsterhaltung wird zu der einer einfachen Substanz und ihrer Fähigkeit, äußerer Veränderung zu widerstehen. Ein solcher Begriff setzt die Auf‌lösung der Konstitutionsbestimmung in ihrer dynamischen Fassung einer Entwicklungskontinuität voraus, insofern die Äußerung der Kraft nicht mehr als die Kontinuität der Verwirklichung eines Vermögens zur Objektbestimmung, vielmehr die reine Aktualität einer restitutiven Erhaltung einer Kraftsubstanz einer sich wiederholenden äußeren Störung gegen­über gedacht wird, die als solche nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich ist: Unendlich viele Male verschwindet der Gegenstand und wird durch einen neuen ersetzt. Konstitutionstheoretisch an Herbarts Begriff der Kraft bleibt, dass er die Erhaltung nicht – wie Herbart Spencers mechanistische Theorie der Organisation – auf die Bewegungsmechanik und ihre Kontinuität der Umverteilung von Energie zurückführt, sondern auf ein Noumenon, eine Kraftsubstanz jenseits der Synthesis der Erscheinungen. Die restitutive Selbsterhaltung besteht in einer »verletzten Identität« [Herbart 1828, § 127, S. 253]. Die Substanz ist zwar nur fassbar als ein an sich unveränderliches Noumenon, zu der allerdings die Phaenomena als veränderliche äußere Konstitutionsbestimmungen gehören, welche als Störungen die restitutive Erneuerung der Kraftsubstanz ursächlich auslösen. Auch in Herbarts Metaphysik setzt die Selbsterhaltung die konstitutionstheoretische Umwandlung der Bewegungs- in eine Auslösungsdynamik voraus. Die Restitution beruht damit wiederum auf einer Disposition zur Selbstkonstitution, freilich nicht zur Bestimmung und Assimi­ lation von Veränderungen wie in Hegels Modell des autopoietischen Stoffwechsels, vielmehr im Sinne einer ausschließlich repulsiven Kraft, Veränderungen immer wieder von sich abzuweisen – ein dispositionelles Beharrungsvermögen, welches durch die Beständigkeit der Störung und Auslösung freilich niemals inaktiv, sondern stets in actu verbleibt.

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2)

Herbarts Methodologie: Die diakritische Entwicklung als die Spaltung von Phaenomena und Noumena

Die kritische Auf‌lösung der Amphibolie in der Kritik der reinen Ver­ nunft fordert eine Untersuchung der Erkenntnisquellen, durch welche die Synthesis des Gegebenen jeweils erschlossen wird. Der Konstitu­ tionsbegriff der Organisation und Entwicklung erweist sich hier als im besonderen Maße anfällig für die Amphibolie, als er eine noumenale Synthesis und damit eine transzendentale Einheit als Organisationsprinzip auch für die Phaenomena annimmt. Methodisch entscheidend für die Gewinnung eines solchen Konstitutionsbegriffs ist, dass sich die Begriffsbildung keineswegs auf die Erfassung eines Gedankendings beschränkt, sondern darüber hinaus die radikale Umwandlung der Wahrnehmungs- in eine Erkenntnisorientierung als subjektive Erkenntnisbedingung im Sinne Kants zur Folge hat.92 Verdeutlichen lässt sich das wiederum in der Auseinandersetzung der Substanz­ ontologie und Konstitutionstheorie mit dem Atomismus. Atome sind als solche keine Phaenomena, sie gehören nicht zu den Erscheinungen, die sich wahrnehmen und beobachten lassen, resultieren also aus einer Begriffsbildung. Allerdings erstreckt sich die Leistung des Denkens, welche zum Begriff letzter atomarer Einheiten führt, gerade nicht auf die Synthesis der Erscheinungen. Die Vorstellung assoziativer Komplexe, die durch Verdichtung und Auf‌lösung entstehen und vergehen, ist selber nicht begriff‌l‌icher Natur, sondern entspringt letztlich der Wahrnehmung. Auch wenn die Atome als solche nicht unmittelbar erscheinende und damit keineswegs wahrnehmbare Einheiten ursprünglich gedacht werden, hebt dies die Wahrnehmungsorientierung als subjektiv leitende Erkenntnisquelle also nicht auf, insofern die Mehrheitserfassung und ihre assoziative Einheit diejenige Form der Synthesis ausmacht, welche die originäre Synthesis der Wahrneh­ mung auszeichnet. In der Konstitutionsbestimmung dagegen entsteht überhaupt erst der ausschließende Gegensatz von Phaenomena und Noumena, indem die assoziative Synthesis als eine solche vorgestellt wird, die durch eine solche nicht unmittelbar erscheinende gegenständliche Einheit geordnet und organisiert wird. Die Bildung des Gegenstands- und 92

Die Überlegung (reflexio) nach Kant hat die Aufgabe, »die subjektiven Be­ dingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können« [Kant 1968, B 316, A 260].

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2) Herbarts Methodologie

Substanzbegriffs durch das Urteil allein erweist sich zwar als notwendige Bedingung für die konstitutionstheoretische Deutung des Werdens, führt als solche aber noch zu keinem Konstitutionsbegriff der Organisation. Dazu ist es erforderlich, die Substanz als eine begriff‌liche Einheit vorzustellen, als deren Realisierung und Entwicklung die noch nicht begriff‌liche Synthesis der Wahrnehmung erscheint. In der Konstitutionsbestimmung wird entsprechend die aktuell erscheinende Synthesis transzendiert auf eine Potenz, ein dispositionelles Vermö­ gen als das zugrundliegende Ordnungs- und Organisationsprinzip. Die aktuelle Synthesis als Realisierung einer dispositionellen aufzufassen, setzt die Umwandlung der Wahrnehmungs- in eine Erkenntnisorientierung voraus: Als zugrunde liegendes Substrat der Konstitutionsbestimmung fungiert etwas, was nur einer solchen an die Wahrnehmung nicht gebundenen Erkenntniseinstellung – der begriff‌lichen Erfassung eines Möglichen und Potenziellen – überhaupt zugänglich ist. Seit Hegel und Herbart wird die zur Konstitutionsbestimmung gehörende Begriffsbildung nicht mehr nur transzendental, sondern zugleich auch genetisch betrachtet. So macht Hegel deutlich, dass die Gewinnung des Konstitutionsbegriffs der Organisation und Entwicklung, durch den die wirklichen Phaenomena als zu entwickelnde mögliche Bestimmungen eines Noumenon gedacht werden, die Aufhebung der vortranszendentalen Verwendung des Begriffs durch das natürliche Bewusstsein in eine transzendentale Erkenntnisorientierung voraussetzt. Steht der reine Begriff bei Kant als eine Disposition a priori zur Verfügung, um sich mit der Anschauung aktuell und spontan zur Erkenntnis eines Gegenstandes zu verbinden, so entsteht er bei Hegel infolge einer besonderen Bewusstseinsleistung, der Reflexion und Abstraktion. Was unser gewöhnliches Bewusstsein enthält, sind keine reinen, sondern versinnlichte Begriffe, die Hegel »Vorstellungen« nennt. Erst die philosophische Reflexion überwindet die Unfähigkeit des natürlichen Bewusstseins, abstrakt zu denken, d. h. Begriff und Anschauung zu trennen und auf diese Weise »reine Gedanken festzuhalten« [Hegel 1969, § 3, S. 36]. Die Versinnlichung des Begriffs interpretiert Hegel als eine Vereinzelung – dafür steht exemplarisch das empirisch-synthetische Urteil »dies Blatt ist grün« [ebd.]. Für das natürliche Bewusstsein ist entsprechend der Begriff etwas, was die Synthesis einer vereinzelten Anschauung ermöglicht und damit ihr konstitutiver Bestandteil. Deshalb ist es ihm auch versagt, die Anschauung als die Realisierung einer abstrakten Begriffsbestimmung zu denken, wie das in der Umwandlung der natürlichen in eine spekulative Ent141 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

wicklung geschieht.93 Auch Herbarts Methodologie liefert eine solche genetische Erklärung des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung. Gegenüber Hegel kehren sich jedoch die transzendentalen Vorzeichen um durch die Erklärung des Ursprungs der Amphibolie aus der Versinnlichung des Begriffs. Nach Kant zeigt sich die Amphibolie damit, dass die Synthesis des Phaenomenons in die eines Noumenons schlechterdings aufgeht, insofern sie die Form der Begriffsbestimmung annimmt. Herbarts genetische Herleitung stellt diese transzendentale Auslegung nun vom Kopf auf die Füße: Die Amphibolie entsteht, indem der Substanzbegriff durch seine Verquickung mit einer anschaulichen Vorstellung versinnlicht wird, das Noumenon damit die Form der Synthesis eines Phaenomenons annimmt. Während also Hegel die Auf‌lösung der Versinnlichung des Begriffs als die Grundlage für die Gewinnung eines Konstitutionsbegriffs der Organisation und Entwicklung annimmt, wird sie bei Herbart zu dessen Entstehungsbedingung. Entsprechend wandelt sich der Sinn der Gewinnung eines rei­ nen Begriffs: Der Konstitutionsbegriff der Entwicklung markiert nicht etwa das Ende, sondern den Anfang der Begriffsbildung. Das Ziel der Begriffsgenese bildet deshalb auch nicht die spekulative Entwicklung, die systematische Rekonstruktion der Phaenomena durch das Nou­ menon in einer reinen Begriffskonstruktion. Ihre Leistung besteht vielmehr darin, die Versinnlichung des Substanzbegriffs und damit die Möglichkeit der Konstitutionsbestimmung des Werdens transzendentalkritisch aufzulösen durch eine Spaltung der Phaenomena und Noumena. Damit wird die Begriffsbildung überhaupt zu einer Form der diakritischen Entwicklung, eine Diakrisis, welche besteht in einem Prozess der Ab- und Aussonderung der an sich einfachen Substanz von der Komplexität ihrer veränderlichen wie unveränderlichen Bestimmungen, welche ihr als erscheinende, äußere Bestimmungen anhaften. In seiner Kritik an Spinoza, Leibniz und Schelling hat Herbart indirekt die Klippe seiner Ontologie bezeichnet, die in einer Art »von qualitativer Atomistik« zu zerschellen droht.94 Die Methodologie be93 94

Vgl. dazu Teil A Kap. I,4, insbesondere Fußnote 82! Herbart 1828, § 129, S. 256: »Bey einiger Überlegung aber findet man […], dass alsdann aus der völlig einfachen Qualität auch keine Folgen können erwartet und abgeleitet werden. Findet nun dies bey Allem, was ist, auf gleiche Weise statt; so geraten wir, wie es scheint, in eine Art von qualitativer Atomistik hinein; und nun ist zu wünschen, dass der Leser unsre Verlegenheit recht deut­lich durchschauen, und uns deshalb nach Belieben bedauern oder belachen möge. Sonst möchte er wohl das Eigenthümliche der Frage, die wir im Sinne haben, nicht ganz empfinden, und daran ist doch für das Folgende viel gelegen.«

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2) Herbarts Methodologie

handelt in Parallelität zur Ontologie95 im Wesentlichen das Verhältnis des transzendental Gegebenen – der einfachen und unteilbaren Substanz – zum phänomenologisch Gegebenen – den mannigfaltigen, veränderlichen Bestimmungen der Erfahrung.96 Die beiden Quellen des Wissens – die intelligible und die phänomenologisch-empirische – treten in der methodologischen Betrachtung, die kein ursprünglich Gegebenes ausschließen darf97, in ein Konkurrenzverhältnis der Verdrängung zueinander: Die einfache Qualität der Substanz verträgt sich nicht mit der durch die Erfahrung gegebenen Vorstellung von den Dingen als Merkmalskomplexen – solcher von »Summen, Haufen, Aggregaten« [Herbart 1828, § 129, S. 256 f]. Die Substanz scheint so nur um den Preis des Verlustes ihrer atomaren Einheit eine Verbindung mit den mannigfaltigen, veränderlichen phänomenologischen Eigenschaften eingehen zu können: die »vielfache Qualität spaltet das We­ sen« [ebd., S. 257]. Den Ausweg aus diesem methodologischen Dilemma, wonach aus einfacher Qualität nichts werden kann, ohne dass sich das »Was des Dinges«, die »Essenz«, spaltet und die substanzielle Einheit verloren geht [ebd.], scheint nun das idealistische Systemdenken und sein Konstitutionsbegriff der Entwicklung zu bieten: Die Konstitutions­ bestimmung verlegt den phänomenalen Dingkomplex in die noumenale Substanz und setzt auf diese Weise die »Identität in Totalität« [Herbart 1828, § 136, S. 270]. Die »totalisierende« Methodologie des Idealismus denkt sich demnach das Reale nicht mehr als eine atomare Einheit, sondern ein ursprünglich trennendes Verhältnis.98 Für die einfache Qualität der intelligiblen Substanz folgt daraus die Möglichkeit einer Verbindung mit der vielfachen Qualität der veränderlichen 95

Die »erste Hälfte« der Metaphysik füllen »Methodologie und Ontologie«aus. »Zwischen diesen beyden Theilen des Ganzen gibt es einen besondern Paral­ lelis­mus, der nicht unbemerkt bleiben darf.« [Herbart 1828, § 134, S. 266] 96 Die ursprünglichen Aufgaben der Metaphysik liegen in der Betrachtung des Realen als des ontologisch »unmittelbar« Gegebenen oder derjenigen der Er­ fahrung. Methodologisch konstituiert sie sich, dass sie »Widersprüche aus den Formen der Erfahrung« hinwegschafft [Herbart 1828, § 127, S. 252]. 97 Die »Methodologie kann kein Gegebnes ausschließen« [Herbart 1828, § 136, S. 270]. 98 So laute Schellings »Entschuldigung«, die sich rechtfertigt durch die Ver­ meidung des ontologischen »Fehlers« der »qualitativen Atomistik«: »aus ein­ facher Qualität wird nichts; vielfache Qualität spaltet das Wesen; also muss man Einheit in Vielheit, – ein Band ursprünglich setzen –?« [Herbart 1828, § 129, S. 257]

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Erscheinung. Das Mannigfaltige der Erfahrung lässt sich aus der ontologischen Setzung des ursprünglichen Einen explizierend entwickeln, weil die Substanz den phänomenologischen Dingkomplex in der Form seiner Verbindungen nunmehr vollständig impliziert. Die empirische Vorstellung des Dingkomplexes wiederum verliert durch die totalisierende Ineinssetzung mit der substanziellen Einheit den Charakter der Zufälligkeit, indem die phänomenologischen Verbindungen als not­ wendige Verknüpfungen innerhalb einer umfassend entwickelnden Systembildung angesetzt werden. Die Amphibolie von Bestimmungen des Gegebenen und der Reflexion, die der totalisierenden Ineinssetzung des Realen und des Mannigfaltigen der Erscheinung zugrunde liegt, ist einerseits ein philosophiegeschichtlich aufklärbarer Irrtum, andererseits erscheint er aber angelegt im genetischen Ansatzpunkt einer jeden Metaphysik, welche damit beginnen muss, die »Widersprüche aus den Formen der Erfahrung« wegzuschaffen. [Herbart 1828, § 127, S. 252] Herbart unterscheidet ursprüngliche und nachgeborene Aufgaben der Meta­ physik. Die nachgeborenen Aufgaben entstehen dadurch, dass sich in der Philosophiegeschichte eine Verschiebung der metaphysischen Aufgabenstellung von der Gewinnung des ursprünglich Gegebenen hin zu Fragen der vergleichenden Reflexion, der kritischen Sicherung ontologischer Erkenntnisse, ergibt, wofür exemplarisch Kants Frage, ob synthetische Urteile a priori möglich sind, steht.99 Die Teilung der Aufgaben in solche das Gegebene analytisch herausstellende und systematisch vergleichende ist aber schon im Feld der ursprünglichen Aufgabenstellungen angelegt. Die metaphysische Spekulation erfährt ihre Antriebe zunächst nicht auf direkte Weise vom transzendental Gegebenen her, sondern vermittelt durch die empirische Erfahrung: Ursprünglich gilt die »Erfahrung für eine Kenntnis des Realen« [ebd., § 128, S. 254]. Dadurch vermischt sich von Anfang an die Frage nach dem Realen und unmittelbar Gegebenen mit derjenigen nach den grundlegenden Verhältnissen, in denen dieses Reale zur Erscheinung kommt. Die mit der Ontologie parallel gehende Methodologie

99

Herbart 1828, § 128, S. 253 ff. Die Frage nach den synthetischen Urteilen a priori entstand nach Herbart »in einer Vergleichung zwischen Mathematik und Metaphysik; die glücklichen Fortschritte der einen, die vergeblichen Be­ mühungen der anderen, gaben ihr eine völlig gerechte Veranlassung. Wollte man Metaphysik ernstlicher angreifen als bisher: so musste die Frage entschieden werden« [ebd., S. 254].

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2) Herbarts Methodologie

hat demnach immer die doppelte Aufgabe, das ursprünglich Gegebene einerseits von der Erscheinungsvielfalt als ein transzendentales Prinzip zu isolieren, es aber zugleich auch zu erweisen als den tragenden Grund für die phänomenalen Verhältnisbestimmungen. Die idealistische Konstitutionstheorie lässt sich die Lösung dieser methodologischen Doppelaufgabe von der Erfahrung vorgeben: Das Ding erscheint in der empirischen Vorstellung als ein Komplex von Eigenschaften und Merkmalen. Entsprechend löst der Idealismus die ursprünglich einfache Substanz auf in ein System von Relationen und setzt damit die einfache Identität aufgebend totalisierend »Vieles in Einem« [Herbart 1828, § 127, S. 253]. Das treibende Motiv der Konstitutionstheorie, die Widersprüche aus den Formen der Erfahrung wegzuschaffen, kehrt sich durch ihre totalisierende Methode schließlich gegen sie selbst. Dafür steht die Amphibolie von Bestimmungen der Reflexion und des Gegebenen, die dazu führt, dass die apriorische Setzung des einfachen Realen in der systematischen Entfaltung der konstituierenden Entwicklung nicht wirklich festgehalten, sondern ganz gleich dem mit Unstimmigkeiten, Widersprüchen und Enttäuschungen belasteten Lernprozess der Erfahrung von Kindheit an [vgl. Herbart 1828, § 136, S. 269] immer wieder suspendiert wird, was ihre Wiederherstellung a posteriori erforderlich macht. Mit der kritischen Nachfrage, »ob die Setzung nicht Gefahr laufe, zurück genommen zu werden« [Herbart 1828, § 136, S. 269], leitet Herbart die kritische Wende ein zu einer kritischen Metaphysik, die sich stützt auf eine analytisch die ursprünglich verschiedenen Prinzipien trennende und nicht das Viele systematisch in das Eine verlegende totalisierende Methodologie. Zuerst nimmt sie die Auf‌lösung der Amphibolie des Realen mit dem Komplex empirischer Verhältnisse in Angriff: In der spekulativen Systemtotalität haben die Sinnendinge die »absolute Position« der Substanz »occupiert«; nun müssen sie von diesem transzendentalen Ort »vertrieben werden« [ebd.]. Die »vesten Standpunkte« und das gesicherte Fortschreiten einer zukünftigen und wahren, »realistischen« Metaphysik [Herbart 1828, § 134, S. 266]100 knüpfen sich nach Herbart an eine Methodologie, die die Pluralität verschiedener »Anfangspunkte« als solche anerkennt 100 Die »wahre realistische Metaphysik« und ihr Verhältnis zur genetischen Psycho­­­logie thematisiert der § 170 der Allgemeinen Metaphysik [vgl. Herbart 1829, S. 21].

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und diese keineswegs mit Hilfe eines systematischen Grundsatzes als Teilmomente in einer komplexen Entwicklungstotalität spekulativ aufhebt. Ihre Verbindlichkeit liegt demnach nicht in der Fähigkeit zur umfassenden Synthese, sondern der analytischen Vollständigkeit, kein ontologisches Prinzip aufzustellen, was andere Prinzipien exklusiv ausschlösse: Die Methodologie »muss so viele Anfangspunkte der Untersuchung anerkennen, wie viele da sind« und sie darf dabei »kein Gegebenes ausschliessen« [ebd., § 136, S. 269 f]. Die erste analytische Scheidung betrifft die Auf‌ lösung der Amphi­bolie des phänomenalen und des intelligiblen Prinzips. Von der Ontologie und Methodologie, der es um die Herausstellung des ursprünglich Gegebenen geht, sind alle anderen metaphysischen Prinzipien abzusondern, die phänomenologische Verhältnisbestimmungen implizieren. So gliedert sich die »allgemeine Metaphysik« in vier selbständige Teile: Im strengen Sinne handelt nur die Ontologie vom Noumenon als dem unmittelbar Gegebenen, während sowohl in den Reflexionen der Methodologie, als auch denen der Synechologie und Eidologie, den Lehren vom Kontinuum und den Vorstellungen, Verhältnisbestimmungen der Phaenomena mit thematisch werden.101 Weil sie damit für die täuschende Amphibolie der Reflexionsbegriffe anfällig werden müssen, werden alle drei der – von den Widersprüchen aus den Formen der Erfahrung einzig und allein vollständig entlasteten – Ontologie methodologisch nachgeordnet. Herbarts analytische Destruktion des idealistischen Systemdenkens kann so ihre Amphibolie von Bestimmungen der Reflexion und des Gegebenen dreifach angreifen: als eine totalisierende Ineinssetzung der Prinzipien der Ontologie jeweils mit der Methodologie, der Synechologie und Eidologie. Die idealistische Methodologie und ihr Konstitutionsbegriff der Entwicklung setzt konkret die Vermengung von Prinzipien der Ontologie mit denen der Synechologie und Eidologie voraus, insofern sie die einfache Substanz durch das Kontinuum oder die subjektive Vorstellung jeweils als eine phänomenale Verhältnisbestimmung ansetzt. So tritt die totalisierende Methodologie in Herbarts historisch-kritischem Abriss vornehmlich in zwei Gestalten auf, die »Vieles in Einem« setzt entweder im absoluten Prinzip des »Ich« oder der »Materie« [Herbart 1828, § 127, S. 253]. Die Idee der Selbstkonstitution und der Kraftbegriff der Naturphilosophie stehen somit für die methodologische Amphibolie einer spekulativ synthetisierenden und systematisierenden und 101 Vgl. dazu Herbart 1828, §§ 126, S. 127, 231 ff.

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2) Herbarts Methodologie

damit noch nicht »positiven«, wissenschaftlichen Metaphysik, indem sie die einfache Qualität der Substanz in ein System von Verbindungen auf‌lösen der »Unmöglichkeit« ungeachtet, »dem Realen eine ursprünglich vielfache Qualität beyzulegen« [ebd., § 129, S. 257]. Grundbedingung alles philosophischen Verstehens ist nach Herbart die vorbehaltlose »Anerkennung der in den Erfahrungsformen gegebenen Widersprüche« [Herbart 1829, Vorrede, S. 6], weswegen sich diejenige, das Verhältnis der Phaenomena zu den Noumena untersuchende Methodologie nicht anders als ein geschichtliches Entwicklungsdenken darstellen kann, deren Aufgabe und Ziel es ist, die Widersprüche aus den Formen der Erfahrung nach und nach wegzuschaffen. Niemand anders als Hegel hat darauf – so die Vorrede Herbarts zum systematischen Teil seiner Allgemeinen Metaphysik – jemals ein »so helles, ja grelles Licht« geworfen: »Nur eins scheint der berühmte Mann zu vergessen: des Columbus Ey musste geknickt werden, wenn es stehen sollte.« [Ebd.] Das spekulative Ei des absoluten Geistes wird geknickt, d. h. es büßt seine Funktion der totalisierenden Konstitutionsbestimmung ein, wonach die Phaenomena keineswegs in eine noumenale Begriffskon­ struktion aufgelöst werden, das Noumenon als eine einfache, relationslose Einheit vielmehr durch die Relationsbestimmungen der Phaeno­ mena verletzt wird und damit seine Identität durch die amphibolische Vermengung immer wieder einzubüßen droht. Für die Entwicklung der Synthesis des Einen und des Vielen bedeutet dies eine Umkehrung der Verhältnisse: Während in Hegels Phänomenologie des Geistes der Erfahrungsprozess mit der Naivität des einfach Gegebenen – der »sinnlichen Gewissheit« – beginnt, um sich mehr und mehr in vermittelnde Begriffsbestimmungen dialektisch reflektierend aufzuheben, steht bei Herbart die totalisierende Ineinssetzung von Seins- und Verhältnisbestimmungen am Anfang, die es als einen psychologischen Schein aufzulösen und in den einfachen Begriff des Gegebenen zu überführen gilt. Dass der Psychologie die entscheidende Rolle bei der genetischen Aufklärung der Amphibolie zukommt, liegt nicht zuletzt daran, dass der Erfahrungsbegriff des Realen als Ursprung der Konstitutionsbestimmung des Werdens auf der Vorstellung einer Entwicklungskonti­ nuität beruht. Die Einmischung der Vorstellung des fließenden Kontinuums in die des Realen beruht nach Herbart auf dem trügerischen Orakel der Selbstbeobachtung [vgl. Herbart 1828, § 142, S. 279], und sie klärt sich auf aus den »Wirkungen des psychologischen Mechanis147 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

mus« [ebd.]. Die Vorstellung eines fließenden Kontinuums resultiert aus der Raumanschauung. Während die Metaphysik gegen die Psychologie ein im strengen Sinne unräumliches und diskontinuierliches Reales behauptet102, erzeugt die psychologische Raumanschauung durch ihre Vorstellungsmechanik das Bild eines Kontinuums, welche zur Grundlage für den in sich widersprüchlichen Erfahrungsbegriff des Gegebenen wird. Es obliegt deshalb der Psychologie, der gleichsam pubertierenden Vorliebe des Geistes »für das Schwimmende, Fließende, stets Gleitende«103 auf den Grund zu gehen. Den »psychologischen Mechanismus« zeichnet die metaphysische »Unfähigkeit« aus, das abstandlose »Aneinander« der linearen Sukzession »mit beharrlicher Treue darzustellen«, indem er von vornherein der Raumanschauung verfallen die »successive Theilung des vorgestellten Gegenstandes« als »ein allmähliges Zwischenschieben« vorstellt.104 Zwischen der psychologischen Genese der Raumanschauung und derjenigen des fließenden Kontinuums besteht demnach ein innerer Zusammenhang: Der »Fluß der psychologischen Reproduktion ist der ganze Grund aller Raumvorstellung« [Herbart 1829, § 243, S. 116]. Die räumlichen Distanzen werden durch graduell gehemmte und damit abgestufte105 »bestimmte Verschmelzungshilfen« vorgestellt, die sich zwischen die gesonderten Vorstellungen einschieben und dadurch die Anschauung der Distanz erzeugen [vgl. Herbart 1829, § 243, S. 116]. Was die Metaphysik ausschließt, die von einem ursprünglich diskontinuierlichen Realen ausgeht, behandelt die Psychologie als ihr ursprünglich Gegebenes: Der Bewusstseinsstrom des Vorstellens zeigt sich anders als das begriff‌lich Vorgestellte, welches Grundlage für die 102 Die Metaphysik liegt mit der Psychologie von Anfang an in Streit und fordert »ein unräumliches Reales« [Herbart 1828, § 142, S. 280]. Deshalb muss sich auch die Psychologie den Schluss gefallen lassen, dass »das Reale kein Con­ tinuum seyn kann« [ebd.]. 103 »Aus der Psychologie würde sich übrigens leicht genug die häufig geäußerte Vorliebe für das Schwimmende, Fließende, stets Gleitende, was man das Stetige nennt, erklären lassen, allein die Erklärung würde auf etwas Jugendliches hin­ weisen; sie könnte hart klingen, wir wollen sie daher unterdrücken.« [Herbart 1828, § 142, S. 280] 104 Herbart 1829, § 251, S. 132. Auch bei dieser der Selbstbeobachtung ent­ springen­den räumlichen Vorstellung des Kontinuums handelt es sich freilich um eine Illusion: Die sukzessive Vorstellungsreihe der assoziativen Kausalität bildet in Wahrheit ein abstandloses Aneinander, d. h. das Kontinuum der Vor­ stellungen ist raumlos. 105 Jede Raumvorstellung beruht »auf abgestuften Verschmelzungen« [Herbart 1828, § 251, S. 131].

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2) Herbarts Methodologie

Metaphysik ist106, primär als ein solcher verschmolzener und nicht diskret gesonderter Elemente: »Complexionen und Verschmelzungen in unerschöpf‌licher Mannigfaltigkeit abgestuft, verwebt und zur Wirksamkeit gereizt, geben unsern Vorstellungen theils erdichtete, theils erfahrungsmäßige Formen.«107 Die »metaphysische Ungereimtheit« des Erfahrungsbegriffs des Realen, die Vorstellung der Substanz als das gemeinschaftliche Sein einer Komplexion von Merkmalen [vgl. Herbart 1850, Bd. 2, §‌139, S. 264], erklärt sich somit genetisch-psychologisch aus der Voraussetzung des Kontinuums, welche der amphibolischen Ineinssetzung von Verhältnisbestimmungen der Phaenomena mit der relationslosen Einfachheit des Noumenons von Anfang an Vorschub leistet. Die psychologische Raumanschauung beruht auf »abgestuften Verschmelzungen«, einer kontinuierlichen Reihenbildung gleichartiger Empfindungen. Nach Herbart können nur »Merkmale aus einerley Klasse« – also Farben mit Farben, Töne mit Tönen, Gerüche mit Gerüchen usw. ein »qualitatives Kontinuum« bilden [ebd., S. 262 f]. So entsteht das Problem, dass zwar die differenzierten Merkmale, nicht aber auch die als Merkmalskomplexe gegebenen Dinge durch die kontinuierliche Verschmelzung der Empfindungen erklärt werden: Der Eindruck des »Aggregats« drängt sich so als eine notwendige Vorstellung auf, insofern »die Merkmale als zufällig beisammen erkannt werden« [ebd., S. 263]. Weil den erscheinenden Merkmalskomplexen somit eine kontinuierliche Synthesis mangelt, muss zu dieser empirischen Komplexion der Begriff der Substanz als Realitätsgrund hinzugedacht werden. Auf diese Weise kommt die Unterscheidung von Phaenomena und Nou­ mena ins Spiel, jedoch ursprünglich nicht im Sinne einer transzendentalen Entgegen-, sondern empirischen Ineinssetzung. Zwar stellt der Substanzbegriff eine aus der Wahrnehmung nicht ableitbare Setzung dar. Es kommt mit der Vorstellung des gemeinschaftlichen Seins eines Mehrfachen zu einem »durch die Erfahrung zwar nicht unmittelbar gegebene[n], aber nothwendig herbeigeführte[n], Begriff von der Substanz« [ebd., Bd. 2, S. 265]. Doch mit Locke und gegen Kant betont Herbart, »dass wirklich das Aggregat der Merkmale selbst die Substanz, und unsere Erkenntnis des einen auch, wenigstens verworrener Weise, 106 Zur »antipsychologistischen« Auffassung des Begriffs bei Herbart siehe das folgende Kap. II,3. 107 Herbart 1828, § 170, S. 21. So darf die »Mechanik des Geistes« nicht »beym Vorgestellten« stehen bleiben, sondern muss »in die Zustände des Vorstellens selbst« eindringen [ebd.].

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

die der anderen sei!« [Ebd., § 139, S. 268] Diese psychologisch-gene­ tisch unvermeidliche Ineinssetzung der Substanz mit dem erscheinenden Merkmalskomplex108 ist freilich metaphysisch »verworren«, was den untrüglichen Hinweis gibt auf die sich darin verbergende Amphibolie der Phaenomena und Noumena. Die verworrene Ineinssetzung der einfachen Substanz mit dem Merkmalskomplex verschulden die Gesetze der Vorstellungsmechanik, denn der Akt der assoziierenden Vorstellung eines sinnlichen Dinges ist ungeteilt und damit die Synthesis von den assoziativen Merkmalskomplexen der Phaenomena niemals verschieden zu produzieren. Die genetische Psychologie Herbarts und der ihm folgenden Herbartschule verzichtet deshalb auf Kants Annahme von Anschauung und Begriff, Rezeptivität und Spontaneität als zweier gesonderter Erkenntnisquellen.109 Der empirische Substanzbegriff des gemeinschaftlichen Seins eines Mehrfachen setzt also den synthetischen Vorstellungskomplex mit dem gegebenen Realen totalisierend ineins, weil das Kontinuum der Empfindungen nicht so weit reicht, verschiedene Merkmale zur komplexen Vorstellung eines Realen – eines Gegenstandes mit vielen Eigenschaften – synthetisch zu vereinigen. Die Widersprüchlichkeit einer solchen mit dem empirischen Anschauungskomplex identifizier­ ten Begriffs von der Substanz lässt so geschichtlich jeweils »eine Metaphysik zum Bedürfniss« [Herbart 1850, Bd. 2, S. 261] werden, welche psychologisch entspringt aus der Inkongruenz von Formen empirischen Auffassens« mit den »Formen des Gegebenen« [Herbart 1829, § 170, S. 20].110 Wie die Vermengung der Phaenomena und Nou­ 108 Herbart betont ausdrücklich die Identifizierung der Phaenomena und Nou­ mena. Mit Blick auf die noumenale Einheit der Substanz darf »nicht etwa die ganze Complexion der Merkmale für blosse Erscheinung gehalten« werden. [Herbart 1850, § 139, S. 264] 109 »Denn allerdings ist keine kantische Synthesis nöthig, um aus den einzel­ nen Merkmalen ein Aggregat zu machen; sondern die gleichzeitigen Wahr­ nehmungen compliciren sich ohne Weiteres in der Einen Seele, und es wird Ein ungetheilter Akt des Vorstellens, Eine Totalkraft, vermöge deren das sinnliche Ding als Ein Ding vorgestellt wird«. »Dieser Mechanismus der Com­plexionen wirkt im gemeinen Vorstellen der Dinge überall.« [Herbart 1850, § 139, S. 268] Zur genetischen Interpretation des Verhältnisses von Anschauung und Begriff in der Herbartschule vgl. das folgende Kap. II,3. 110 »Die Psychologie hat zwar eigentlich gar keine Stimme in der allgemeinen Metaphysik.« [Herbart 1829, § 170, S. 20] Kants Verfahren, »man müsse die Formen der Erfahrung aus ursprünglichen Formen des Erkenntnisvermögens ableiten« [ebd., S. 21], lehnt Herbart mit seiner antipsychologistischen Un­

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2) Herbarts Methodologie

mena in der Genese der Vorstellungen psychologisch angelegt ist, so auch ihre Auf‌lösung. Da »der Begriff der Substanz gänzlich zeitlos ist« [Herbart 1968, Bd. 2, § 139, S. 265], erwächst das psychologische Interesse, die gegenständliche Identität in der Verknüpfung der Anschauung mit dem Begriff unter allen veränderlichen Umständen festzuhalten: Die Erfahrung führt zu einem Prozess der Habitualisierung von Vorstellungskonstanten als ursprünglich begriffsbildender Lei­ stung, indem sie »die Zeit zu Hilfe ruft«, wodurch die »Substanz ein Beharrliches wird« [ebd.]. Das Erhaltungsinteresse, das aus der Setzung des zeitlosen Substanzbegriffs resultiert, setzt also einen Prozess der dia­kritischen Entwicklung in Gang, welche zur beharrlichen Absonderung des Merkmalskomplexes von der Substanz und damit einer transzendentalen Spaltung der Phaenomena und Noumena führt. Die »menschliche Auffassung der Welt« ist für Herbart stets »im Werden begriffen« [Herbart 1968, Bd. 2, § 140, S. 271], insofern in den wiederholten Versuchen, den Widerstreit der komplexen Formen des psychologischen Vorstellens mit dem ontologisch einfachen Inhalt des Vorgestellten metaphysisch zu bereinigen111, die transzendentale Amphibolie von phänomenalen Verhältnisbestimmungen und der nou­menalen Einfachheit der realen Substanz nicht sogleich beseitigt, sondern in einem langwierigen Prozess methodologischer Abschwächung erneuert wird. In psychologischer Perspektive stellt sich die diakritische Entwicklung des Substanzbegriffs dar als die sich wiederholende Erzeugung eines natürlichen und unvermeidlichen, täuschenden Scheins112 der Amphibolie und ihrer schrittweisen Auf‌lösung. Der menschliche Geist in seiner psychologisch motivierten metaphysischen Entwicklung bringt nach Herbart vor allem eine Kette von »Täuschungen« hervor, die »in diesem Werden nach einander entstehen« und denen die »verschiedenen Bildungsstufen« in der Geschichte der

ter­­­scheidung kausalgenetischer Gesetze des Vorstellens vom Inhalt des Vor­ gestellten ab. Die psychologische Ergründung der Genese der Vorstellungen ist zwar für eine »realistische Metaphysik« nicht unbedeutend, ist aber »kein Lehrsatz der Methodologie« [ebd.]. 111 Zu Herbarts antipsychologistischer Unterscheidung der Formen des subjektiven Vorstellens und des vorgestellten Gegebenen siehe das folgende Kap. II,3. 112 Die Unterscheidung eines natürlichen, transzendentalen Scheins als einer un­ vermeidlichen Illusion vom vermeidbaren, künstlichen Schein eines logi­schen Fehlers geht zurück auf Kants transzendentale Dialektik. Vgl. Kant 1968, B 355, A 298.

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Ontologie angemessen sind [ebd.]. Wissenschaft und Metaphysik gelangen auf diese Weise zur reflexiven Reife in einem Bildungsprozess der allmählichen, einfachen Auf‌lösung der Komplexität der Konstitutionsbestimmung und ihres methodologischen Scheins der Totalisierung. Die diakritische Entwicklung des Begriffs der einfachen Sub­stanz vollzieht sich in einer sukzessiven Reihe von Abstraktionsschritten113, in welcher sich die durch die Vorstellungsmechanik erzeugte Amphibolie durch eine immer striktere Scheidung der Phaenomena und Noumena schließlich verflüchtigt. Ursprünglich ist jede Wahrnehmung »rein positiv oder affirmativ« [Herbart 1968, Bd. 2, § 141, S. 271], d. h. ihre hemmungslose Verschmelzungstendenz erzeugt ein Kontinuum auch dort, wo ein Diskretum der Vorstellung aufrecht zu erhalten wäre. Um allerdings den gegenseitigen Hemmungen einander widerstreitender Erfahrungen, welche die mit dem Substanzbegriff verbundene Setzung eines Realen von Grund auf in Zweifel ziehen können, zu entkommen, vollzieht sich in der Vorstellung eine erste diakritisch relevante Abstraktion: Eine zur Setzung des Substanzbegriffs hinzukommende weitere Begriffsbildung verlegt nur noch die konstanten phänomenalen Eigenschaftsverhältnisse in die intelligible Vorstellung der Substanz als solche ihr inhärierende Konstitutionsbestimmungen, um damit die veränderlichen Merkmale kontingenter assoziativer Vorstellungen, welche die Identität der gegenständlichen Erfahrung im Ganzen gefährden könnten, von einem solchen Konstitutionsbegriff der Substanz abzusondern und abzuscheiden.114 Diese »Wanderung der Realität aus den Eigenschaften in die Sachen« ist aber nur »der erste Schritt zu einer weiteren Reise« [ebd., S. 272]. 113 Die Begriffsgenese lässt sich bei Herbart freilich nicht auf einen Akt der Abstraktion reduzieren. Die Möglichkeit der Abstraktion wird durch eine dynamische Veränderung der Reproduktionsbedingungen der Vorstellung ursprünglich geschaffen. Die Betrachtung nur der abstraktiven Leistung der diakritischen Entwicklung des Substanzbegriffs entspricht der metaphysischen, methodologischen Reflexion, welche sich nicht für die psychologische Genese an sich, sondern nur ihr Ergebnis interessiert. Zur Deutung der Abstraktion bei Kant, Hegel und Herbart vgl. das folgende Kapitel II,3. 114 »Auf den gegenseitigen Hemmungen der Vorstellungen unter einander beruhen die Negationen, und die Zweifel, ob auch das Wahrgenommene sei oder nicht sei; endlich die Unterscheidungen der Eigenschaften, denen nur ein inhärierendes Sein, und eben darum kein wahres Sein zugeschrieben wird, von den Sachen, in welche die Realität der Eigenschaften (des ersten Positiven) zurück verlegt wird.« [Herbart 1850, § 141, S. 272]

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2) Herbarts Methodologie

Wiederum ergibt sich mit einem solchen Schritt der diakritischen Entwicklung eine amphibolische Vermischung der Phaenomena und Noumena, die umwillen einer Scheidung veränderlicher und äußerer von den unveränderlichen und inneren Bestimmungen einer Substanz vollzogen wird. Auf jeder höheren Bildungsstufe der Entwicklung des Substanzbegriffs vollzieht sich deshalb ein Übergang vom Komplexen zum immer mehr Einfachen.115 Auf diese Weise »wandert der Begriff des Sein«; er »zieht sich immer tiefer hinter das sinnlich Gegebene zurück« [ebd.]. Die sich diakritisch entwickelnde Spaltung zwischen den Phaenomena und Noumena vergrößert sich also stetig, denn »immer weiter wird der Weg von diesem [sinnlichen, d. Verf.] Gegebenen bis zu dem Realen, wovon es getragen, woraus es erklärt wird« [ebd.]. Am Ende dieses Prozesses steht der »Begriff des unbekannten Substrats«, der von allen Relationsbestimmungen erscheinender Merkmalskomplexe abgezogen »im Grunde gänzlich leer« [ebd., S. 273] bleibt – eine metaphysische Konsequenz, welche die totalisierende Methodologie des Idealismus und ihr Konstitutionsbegriff der Kraft und Entwicklung gerade scheut, indem sie das einfache Reale in ein Relatives auf‌löst, und damit die Verhältnisse des Bedingenden (der einfachen Substanz) und des Bedingten (der relationalen phänomemalen Bestimmungen) amphibolisch vertauscht.116 Die diakritische Auf‌lösung der Amphibolie geht einher mit der Verwandlung des »Ist«-Urteils in ein »Hat«-Urteil. Das Phaenomena und Noumena ineins setzende psychologische, assoziierende Vorstellen urteilt: »A ist a«, etwa »der Schnee ist weiß«. Das rein-logische Urteil dagegen, welche die Auf‌ lösung des Erfahrungsbegriffs der Substanz zur Voraussetzung hat, trennt den empirischen »Begriff der 115 So etwa in Bezug auf die Merkmale die Bildung des Begriffs atomarer Ele­ mente: »Auf höhern Bildungsstufen entsteht die Frage nach der Einfachheit der Stoffe.« [Herbart 1850, § 141, S. 272] 116 Stellvertretend für diese totalisierende Methodologie stehen die »leibnizschen Monaden« [Herbart 1850, § 141, S. 273]. Der Konstitutionsbegriff der Kraft und Entwicklung gehört nicht nur zu »den ärgsten« unter den amphibolischen Irrtümern, er tritt auch noch als methodologische »Verbesserung« auf [ebd.]. »Dadurch verwandelt sich das reale nun gar in ein relatives, das schlechthin Gesetzte in ein Bedingtes; denn Thätigkeiten sind nichts ohne, von ihnen zu unterscheidende, Producte, und Kräfte nichts ohne leidende Objekte.« Die Idee der Selbstkonstituion verwirft Herbart als die Vermessenheit einer Causa suiHypothese: »Sollen Kräfte nicht nach aussen gehn, so kommen, als Extreme der Ungereimtheit, jene Wirbel zum Vorschein, worin sich die causa sui mit dem effectus sui herumdreht.« [Ebd.]

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Sache« – gemeint ist der des Dinges als eines Komplexes von Akzidenzien – vom intelligiblen »Begriff der Substanz« [Herbart 1968, S. 274]. Nunmehr erscheinen die komplexen Phaenomena – die sachhaltigen relationalen Bestimmungen – als solche, welche den einfachen Begriff der noumenalen Substanz lediglich darstellend repräsentieren. So lautet die Urteils­form des begriff‌lichen Denkens statt »A ist a« schließlich »A hat (besitzt) a« [ebd.]. Die Substanz als das unbestimmte X, das sich hinter das sinnlich Gegebene ganz und gar »zurückgezogen« hat, trägt alle phänomenalen Verhältnisse, ohne dass sie mit ihr ontologisch eins wären, ihr als »innere« Merkmale inhärierten. Durch diese Umwandlung des »Ist«-Urteils in ein »Hat«-Urteil löst sich schließlich der Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung auch sprachanalytisch nachvollziehbar auf.

3)

Herbart und die Herbartschule: Habituelle »Begriffsgenese«. Die Reproduktionstheorie der diakritischen Entwicklung

Die Zurückweisung der Erklärung von Organisation durch solche rein mechanischen, bewegungsdynamischen Prozesse bei Kant und Hegel führt zu einem transzendentalen Lebensbegriff, der die regenerative Leistung als die Unterbrechung von bewegungsdynamischen Prozessen versteht. Hegels Begriff des autopoietischen Stoffwechsels stützt entsprechend die Vorstellung der Diakrisis als eine durch die Reproduktion immer des ganzen Systems gesetzte Differenz darauf, dass die Reproduktion diejenige ausschließlich einer Begriffsbestimmung ist. Der Begriff als solcher verkörpert eine noumenale und nicht phänomenale Synthesis, sodass die reproduktive Leistung entsprechend die Diakrisis der Phaenomena und Noumena vollzieht: Bewegungsdynamische Prozesse sind demnach nicht reproduktiv und die Reproduktion des Systems und seiner Elemente entsprechend nicht involviert in die zum rezeptiven Stoffwechsel gehörende Bewegungsmechanik. Andererseits kann die Synthesis der Phaenomena durch das Noumenon nur gedacht werden, wenn sich die phänomenalen Eigenschaften durch die reproduktive Vermittlung des Stoffwechsels – die Assimilation – voll und ganz in ein System von Begriffs- und Konstitutionsbestimmungen auf‌lösen, dem als solches nichts Mechanisches mehr anhaftet. Wilhelm Wundts methodische Erörterungen über das Verhältnis von metaphysisch und erkenntnistheoretisch begründeter Begriffsbildung resümieren gleichsam den durch Herbart und die Herbartschule 154 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Herbart und die Herbartschule

vollzogenen Wandel der Reproduktionstheorie zu einer dynamischen und mechanistischen Konzeption. Die Reproduktion ist nun nicht mehr eine solche von Begriffen, sondern von Vorstellungen und die Begriffsbildung entsprechend nicht der ontologische Leitfaden, sondern nur noch ein Sonderfall der rein mechanischen Entwicklung von Vorstellungskomplexen. Während Hegels Metaphysik Begriffe »als ein fertig gegebenes Gerüste behandelt«, die ausschließlich nach begriffs­immanenten dialektischen Gesetzen bewegt werden, beantwortet »die Erkenntnistheorie die Frage nach dem Ursprung jener ordnenden Begriffe und der ihnen immanenten Gesetzmäßigkeit ihrer Entwicklung« [Wundt 1910, S. 231]. Diese »Begriffsgenese«117 unterscheidet von der Begriffsentwicklung im Hegelschen Sinne, dass sie als das Produkt einer reproduktiven, mechanischen Entwicklung eines noch vorbegriff‌lichen Vorstellungskomplexes herauskommt. Deshalb erklärt sich die eigentlich begriffsbildende Leistung, die Abstraktion, auch nicht mehr allein durch den Begriff. Die Leistung der begriff‌lichen Abstraktion erweist sich in der Begriffsgenese als »vorgebildet […] in den elementaren psychischen Vorgängen« [ebd., S. 235]. Die ­logische Abstraktion baut auf die diakritische Funktion und Leistung der allmählichen Ablösung eines relativ konstanten, dominierenden Vorstellungskomplexes in der wiederholten Reproduktion lediglich auf.118

117 Wundt spricht von der eigentlichen »Begriffsgenese« [Wundt 1910, S. 44 sowie 46] in Bezug auf den Begriff und seine psychologische Entwicklung überhaupt [ebd., S. 46]. 118 Unser »logisches Denken kann nur mit Vorstellungsmaterial operieren, welches ihm das Bewußtsein darbietet, wie es auch in dieser Gesetzmäßigkeit durchaus an die Beschaffenheit dieses Materials gebunden ist. Was aber die Vorstellung in festen Verbindungen enthält, das trennt die logische Abstrak­ tion […]. Keine Vorstellung ist eine erschöpfende Vergegenwärtigung der Empfin­dungen […], sondern die Apperzeption beschränkt sich auf gewisse dominierende Empfindungen; sie bahnt dadurch dem nachfolgenden logischen Abstraktionsverfahren den Weg. Ebenso ist der subjektive Verlauf der Vor­ stel­lungen kein rastloses stetiges Fließen […], sondern ein Wechsel mit Ruhe­ punkten, in welchem einzelne Momente ganz der Beobachtung entgehen, während andere als relativ bleibende sich fixieren, um für uns in den Wechsel der Vorstellungen die Maßpunkte abzugeben, nach denen wir den Verlauf der Zeit einteilen. In diesen Vorgängen liegen die psychischen Grundlagen für die logische Abstraktion des Bleibenden und des Vergänglichen, oder, wie diese Begriffe in ihrer abstrakten Fassung heißen, des Seins und des Werdens.« [(undt 1910, S. 236 f]

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Die Reproduktion ist in der mechanistischen Psychologie durch keine begriff‌liche Synthesis mehr vermittelt, welche sie als solche der bewegungsdynamischen Kausalität entziehen würde, sondern die eines Assoziationskomplexes elementarer Vorstellungen, welcher – nicht anders als Konstellationen physikalischer Kräfte – bewegungsdynamischen Gesetzen der Attraktion und Repulsion unterliegt, hier in Gestalt einer Vorstellungsmechanik der Verschmelzung und Hemmung. Die Grundlage für diese mechanistische Deutung der Reproduktion liegt wiederum in Herbarts Metaphysik. Das Unbedingte – das gilt gerade auch für die Psychologie – ist »sowohl innerlich als auch äusserlich absolut einfach« [Herbart 1968, Bd. 2, § 149, S. 339]. Entsprechend kann die Selbsterhaltung in Gestalt einer reproduzierbaren Einheit auch nur als ein Relationslos-Einfaches gedacht werden. Vorstellungen stellen demnach gestörte Selbsterhaltungen dar, welche an sich atomare Einheiten verkörpern. Durch die Störung entwickelt sich die einzelne Vorstellung jedoch sogleich zu einem ganzen Komplex von Vorstellungen, welcher die Einfachheit der Selbsterhaltung keineswegs aufhebt, insofern diese »Mannigfaltigkeit […] von äusseren Störungen« [ebd., § 138, S. 260] abhängt. Die Vorstellung erweitert sich zwar notwendig zu einem Komplex, indem das »gleichartige und gleichzeitige Vorstellen Eine Totalkraft ergiebt« [ebd.], allerdings setzt dies nicht etwa eine Begriffsbildung als vermittelnde Synthesis voraus. Gerade dadurch, dass die Relationen in keine begriff‌liche Synthese als »innere« Relationen und Konstitutionsbestimmungen eingehen können, wird die metaphysische Einfachheit jeder einzelnen Vorstellung gewahrt: Die Vorstellung als Totalkraft bleibt ein bloßes Aggregat, ein Komplex von solchen durch äußere Störungen entwickelter äußerer Relationen an sich relationslos-einfacher Selbsterhaltungen. Die einzelnen Vorstellungen – die Selbsterhaltungen – bilden demnach einen Wirkungszusammenhang, wo »deren mehrere unmittelbar zusammen oder wider einander wirken« [Herbart 1850, Bd. 1, § 32, S. 106 f], der durch ihre Fähigkeit, sich wechselseitig zu stören und in dieser Störung zu behaupten, aufrecht erhalten wird. Daraus erklärt sich schließlich die Vorstellungsmechanik der Verschmelzung und Hemmung. Einer hypothetischen, vollkommenen Störung entspräche eine vollkommene Verschmelzung und damit die völlige Auf‌lösung der einzelnen Vorstellung, welche die Vorstellung allerdings durch ihre Fähigkeit der Repulsion, der Verschmelzung eine Hemmung entgegenzusetzen, widersteht. Die vollkommene Störung und Selbsterhaltung bilden deshalb den idealen Limes, von dem her sich die realen 156 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Herbart und die Herbartschule

Bedingungen gestörter Selbsterhaltungen als graduelle Abweichungen bestimmen und damit die Verhältnisse der Verschmelzung und Hemmung mathematisch berechnen lassen.119 Die als solche noch vorbegriff‌liche Reproduktion wird deshalb von dem, was sie reproduziert – den im Vorstellungskomplex wirkenden bewegungsmechanischen Gesetzen – voll und ganz beherrscht. Die reproduktive Leistung zeigt ihre organisierende Funktion im Wesentlichen darin, dass sie zur Absonderung relativ konstanter von variablen Vorstellungskomplexen führt. Diese Diakrisis von Variablen und Konstanten resultiert anfänglich aus keiner begriff‌lichen Leistung der Abstraktion, sondern allein der unterschiedlichen Qualität der reproduzierten (Vorstellungs-)Verbindungen. Die wiederholte Reproduktion von gleichartigen, homogenen Verbindungen führt dazu, dass sich eine »Hauptvorstellung«, ein zentraler Vorstellungskomplex von solchen peripheren inhomogenen Vorstellungen, absondert und im Bewusstsein heraushebt.120 Die im Zentrum stehende Vorstellung erscheint »beinahe isoliert« [Herbart 1850, Bd. 1, § 101, S. 310] – diese nur annäherende, »Beinahe«-Isolierung weist schließlich auf die Vorbereitung einer abstraktiven Leistung der Begriffsbildung hin: Die Hauptvorstellung »ist also abgelöset von ihren zufälligen Verbindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstellungen dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen treten, die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem Vorgestellten, abhängen; kurz, sie können sich

119 »Dem vollkommenen Zusammen entspricht die vollkommene Störung und die vollkommene Selbsterhaltung, – welche letztere Hier eine Vorstellung im Maximum der Stärke sein würde, dergleichen sich in der Erfahrung nicht nachweisen lässt. Gleichwohl, indem die Grade des Zusammen auf Grade der Störung und auf Grade der Selbsterhaltung hindeuten, muss das Maximum der Stärke, die eine Vorstellung erhalten könnte, als die ideale Einheit an­ gesehn werden, wovon jedes wirkliche Vorstellen ein Bruch ist.« [Herbart 1850, § 94, S. 267] Die Selbsterhaltung besteht darin, der Störung gegenüber einen Widerstand entgegenzusetzen. Es rührt »die Mannigfaltigkeit der Vor­ stellungen von der Mannigfaltigkeit der Störungen« her, »welchen die Seele in jeder Selbsterhaltung wiedersteht« [ebd., S. 266]. 120 »Ist nämlich die Hauptvorstellung nur gehörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Verschmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft sie gegeben wurde […], so giebt ihr die häufige Wiederholung unter verschiedenen Umständen dennoch Kraft genug, um in der Mitte andrer Vor­ stellungen einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie nun beinahe isoliert, weil das Ablaufen der ihr anhängenden, sich unter einander hemmenden, Reihen nicht mehr merklich ist.« [Herbart 1850, § 101, S. 310]

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

nach ihrer Qualität verknüpfen. In so fern aber werden sie dem Ver­ stande zugeschrieben, und heissen Begriffe.« [Ebd.] Den Verstand definiert Herbart als »die Fähigkeit […], sich im Vorstellen [ausschließlich, d. Verf.] nach der Qualität des Vorgestellten zu richten« [Herbart 1968, Bd. 2, Vorrede, S. 52]. Herbarts Auffassung des Begriffs ist damit im Ansatz intentional und antipsychologistisch. Begriffe als solche sind für Herbart »gar nichts Psychologisches« [ebd., § 120, S. 161]. Die Fähigkeit, eine Vorstellung nur nach ihrem Inhalt zu apperzipieren, setzt nämlich ihre Loslösung aus dem Komplex der Assoziation und Reproduktion voraus, die Absonderung des Vorge­ stellten von seinen kontingenten kausalgenetischen Entstehungsbedingungen, den bewegungsmechanischen Gesetzen des Vorstellens.121 Herbart und nach ihm Bernhard Bolzano kennzeichnen die abstraktive Leistung der Begriffsbildung nicht primär durch die Absonderung einer Allgemeinvorstellung, vielmehr die intentionale Ausrichtung der Vorstellung, die Isolierung nur des Vorstellungsinhalts eines individuellen Vorstellungskomplexes122, die Bildung einer »Vorstellung an sich« [Bolzano, § 47, S. 215]123. Die Begründung einer solchen intentionalen Begriffsbildung geschieht bei Herbart jedoch nicht akttheoretisch durch eine reine Auffassungsaktivität der Intentionalität wie 121 Dem entspricht Herbarts Unterscheidung des Vorgestellten von den Zuständen des Vorstellens. Nur letztere erklärt die »Mechanik des Geistes« [Herbart 1829, § 170, S. 21]. Bei Herbart bereitet sich die antipsychologistische Unter­ scheidung von Genesis und Geltung vor, wenn es heißt: »wir schreiben uns Begriffe nur insofern zu, in wiefern wir abstrahieren von dem Eintritt unserer Vorstellungen ins Bewusstsein, und dagegen darauf reflectiren, dass sie sich darin befinden, und ihr Vorgestelltes (den Begriff im logischen Sinne) nun in der That erscheinen lassen.« [Herbart 1850, § 120, S. 162 f] 122 Jeder Vorstellungsinhalt kann zum Begriff erhoben werden, »die Vorstellung der rothen Farbe, ja selbst nur die einer bestimmten Nüance derselben mit einer bestimmten Gestalt des Gefärbten. Denn Allgemeinheit ist gar kein wesent­liches Erforderniss zu einem Begriffe« [Herbart 1850, § 120, S. 162]. Die Gewinnung von Allgemeinbegriffen vollzieht sich nach Herbart analog der der individuellen, welche eine »Totalvorstellung« bilden [vgl. ebd., § 121, S. 166 sowie § 122, S. 167 f]. Wundt stimmt dieser Auffassung Herbarts zu, kritisiert allerdings, dass im Falle der Bildung eines Gattungsbegriffs die logische Interpretation psychologischer Prozesse bestehen bleibe: »der Hemmungsprocess wird zum psychologischen Aequivalent des Abstrac­tions­ verfahrens gestempelt« [Wundt 1880, S. 39]. 123 Als Gewährsmann für seine Auffassung der Begriffe als »Vorstellungen an sich« führt Bolzano ausdrücklich Herbart an: »Doch niemand scheint den Begriff, von dem ich hier spreche, deutlicher erkannt, und länger festgehalten zu haben, als Hr. Prof. Herbart« [Bolzano, § 51, S. 227].

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3) Herbart und die Herbartschule

später bei Brentano und Husserl. Dieser methodische Weg ist Herbarts Psychologie grundsätzlich verschlossen durch ihre radikale Kritik der Vermögenspsychologie. Das, was die metaphysische Psychologie als einfache Vermögen und Akte beschreibt, versucht Herbart als das Produkt einer komplexen Vorstellungstätigkeit zu erweisen.124 Somit wird die Sonderung von Vorstellung und Vorgestelltem genetisch erklärt durch die Vorstellungsmechanik und ihre diakritische Funktion der Organisation, eine »Hauptvorstellung« in der wiederholten Reproduktion zu isolieren: Die »Hauptfrage, worauf die Untersuchung über den Ursprung der Begriffe zu reduzieren ist«, ist für Herbart »diese: wie kommen unsre Vorstellungen los von den Complicationen und Verschmelzungen, in welche sie bei ihrem Entstehen, und bei jedem Wiedererwachen unvermeidlich gerathen?« [Herbart 1968, S. 163] Die Begriffsbildung hat zwar eine an sich vorbegriff‌liche diakritische Entwicklung zur Voraussetzung, welche im Reproduktionszusammenhang der Vorstellung gründet und zur Ablösung eines homogenen Vorstellungskomplexes führt, sie kann durch diese aber nicht ausschließlich erklärt werden. Die abstraktive Leistung des Begriffs kommt zur vorbegriff‌lichen Diakrisis vielmehr hinzu. Der Verstand durch seine Fähigkeit des Urteils vermehrt und berichtigt das, was die Vorstellungsmechanik in ihrer Tendenz, die Vorstellungen zu einem Vorstellungskomplex zu verschmelzen, hervorbringt.125 Das Urteil bedeutet eine zusätzliche Hemmung in der Reproduktion der Vorstellungen, einen trennenden »Stoss«. Durch seine Sonderung von Substanz und Akzidens verhindert es, dass der Vorstellungskomplex mit dem zugrunde liegenden Substrat der Vorstellung zu einer unterschiedslosen Einheit verschmolzen wird: Wäre durch das Urteil »kein Stoss erfolgt, so würde die Vorstellung, welche das Prädikat ausmacht, 124 In diesem Sinne heißt es mit Blick auf Kant: »Vom Erkenntnisvermögen wissen wir als von einer Summe von Thatsachen des Bewusstseins.« [Herbart 1850, Bd. I, § 14, S. 39] Herbart lobt Leibniz’ Lehre der petites perceptions, er habe »nicht etwa erdichtete Seelenvermögen, sondern die wahren Kräfte« aufgesucht, »aus denen die sämmtliche Thätigkeit des Gemüths erklärt werden muss« [ebd., § 19, S. 55 f]. 125 »Der Verstand bezieht sich also auf die Zusammensetzung der Vor­ stel­ lungen, sammt den davon abhängenden Reproductionsgesetzen; und das Ver­ständigwerden bezieht sich auf die fortschreitende Vermehrung und Be­ richtigung der vorhandenen Vorstellungsreihen. Bei jeder solchen Berich­ tigung muss ein Stoss erfolgen, denn die ablaufende Reihe wird dadurch in dem Puncte gehemmt, wo die Berichtigung eintritt; sie wird genötigt, hier ein neues Glied aufzunehmen.« [Herbart 1850, Bd. II, Vorrede, S. 53]

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

ohne Weiteres mit der des Subjekts verschmolzen sein.« [Herbart 1968, Vorrede, S. 53] Faktisch wird also durch das Urteil und seine abstraktive Leistung die assoziative »Hauptvorstellung« zur begriff­ ‌lichen Vorstellung einer Substanz, die nunmehr als Träger des ganzen Komplexes von Vorstellungen in Form anhängender akzidenteller Bestimmung erscheint. Damit kommt schließlich die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena und mit ihr die Konstitutionsbestimmung ins Spiel: die Reproduktion der konstanten Vorstellung ist von nun an durch eine Begriffsbildung – die Setzung des Substanzbegriffs – vermittelt. Auf die Form der bewegungsdynamischen Organisation hätte diese begriff‌liche Vermittlung nun freilich keinen Einfluss, könnte die ursprüngliche Diakrisis, welche eine »Hauptvorstellung« isoliert, programmgemäß gänzlich ohne Inanspruchnahme des Urteils und seiner abstraktiven Begriffsbildung erklärt werden. Herbarts methodische Begründung erscheint hier jedoch zirkulär und nicht ohne Widersprüche. Die mechanistische Erklärung droht an dem Problem der wachsenden Komplexität peripherer Vorstellungsreihen zu scheitern. Herbart konstatiert die »eigenthümliche Schwierigkeit«, Gedanken und Begriffe wirklich dauerhaft festzuhalten126, die daraus resultiert, dass sich die Hauptvorstellung im Zentrum nicht wirklich halten kann: »Nämlich wenn die Hauptvorstellung mit vielen Reihen verbunden ist, diese Reihen aber unter einander entgegengesetzt sind, so muss die Wirksamkeit, womit sie einander widerstreben, nothwendig wach­ sen, indem die Zeit verläuft […].« So leidet schließlich »die Hauptvorstellung hiedurch einen wachsenden Widerstand; sie kann sich im Bewußtsein nicht lange halten, sondern erliegt gar leicht unter der Last ihrer Verbindungen.« [Herbart 1850, Bd. 1, § 101, S. 309] Diesem Prozess, in welchem die Hauptvorstellung durch das Anwachsen von peripheren Hemmungen aus dem Bewusstsein verdrängt wird, steht nun ihre Isolierung und zunehmende Ablösung durch die wiederholte Reproduktion gegenüber. Dies ist an sich noch kein Widerspruch, denn die Notwendigkeit der Reproduktion betrifft immer die »Totalkraft«, den ganzen Vorstellungskomplex, mithin die unbe126 Zum Problem der Hemmung der zentralen durch periphere Vorstellungen merkt Herbart an: »Dies ist die eigenthümliche Schwierigkeit, welche sich bei Menschen ohne wissenschaftliche Bildung dann äußert, wann sie allgemeine Begriffe vesthalten sollen. Die Gedanken vergehn ihnen; sie wissen gar bald nicht mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gähnen.« [Herbart 1850, Bd. I, § 101, S. 309 f]

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3) Herbart und die Herbartschule

wussten wie bewussten Vorstellungen gleichermaßen. Gleichwohl entsteht nun eine merkwürdige Inkongruenz zwischen der bewussten und unbewussten Reproduktion. Herbart erläutert die diakritische Funktion der Isolierung der Hauptvorstellung damit, dass die wachsende Komplexität peripherer Vorstellungen die Zunahme der Hemmungssumme zur Folge hat und damit die peripheren Vorstellungsreihen sich verkürzen, indem sie »unmerklich« werden, d. h. unter die Bewusstseinsschwelle rutschen.127 Einmal unterstellt Herbart, dass die peripheren Hemmungen einen mechanischen Einfluss auf die Hauptvorstellung ausüben, im anderen Fall sollen sie sich nur untereinan­ der hemmen und dadurch die Diakrisis des zentralen Vorstellungskomplexes mechanisch bewirken. Der Einwand eines Zirkels liegt hier nahe, wonach die Beschränkung der dynamischen Hemmung auf den peripheren Assoziationskomplex den trennenden »Stoss« des Urteils bereits voraussetzt, den sie genetisch begründen soll: In dem Moment, wo sich die Reproduktion der Hauptvorstellung mit der Vorstellung einer an sich einfachen und unveränderlichen, noumenalen Substanz begriff‌lich vermittelt, beschränkt sich die dynamische Hemmung auf die akzidentellen, veränderlichen Vorstellungskomplexe. In der Herbartschule, welche – nicht zuletzt durch ihren sprach­ theoretischen Ansatz128 – stärker als Herbart die begriff‌liche Vermittlung der Organisation betont, wird die Begriffsgenese schließlich zu einer Theorie der Habitualisierung. Die Vorstellungsmechanik ist nun primär dafür verantwortlich, eine faktisch gegebene konstante Vorstellung von ihren variablen Bestandteilen in der wiederholten Reproduktion zu isolieren und damit einen reinen und nicht mehr versinnlichten Begriff hervorzubringen: Begriff und Anschauung trennen sich in einem Prozess der abstraktiven, diakritischen Entwicklung, welcher die Reproduktion stabilisiert, indem die beweglichen Bestandteile der Vorstellung in den Habitus nicht mehr eingehen. Das Problem 127 Mit ausdrücklichem Verweis auf den § 101 gibt Herbart die folgende Erklärung: »Gehn wir aber zur zehnten, zur hunderten, zur tausenden jener wiederholten Wahrnehmungen: so ist offenbar, dass die verschiedenartigen Associationen aller vorhergehenden sich bei deren Reproductionen so gut als auslöschen müssen. […] Wenn zwei Reihen von gleichartigen Anfangspuncten zu ent­ gegen­­gesetzten Gliedern fortlaufen: so entsteht eine wachsende Hemmung; je öfter dies unter mehrern Reihen sich wiederholt, desto mehr verkürzen sich die Reihen, weil durch die Hemmung die hintern Glieder unmerklich werden; endlich geht die Verkürzung beinahe in Isolierung über, wenn sich die hintern Glieder so gut als ganz aufheben.« [Herbart 1850, Bd. II, § 121, S. 166] 128 Vgl. dazu Teil B, Kap. II, 8.

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

der habituellen Begriffsgenese veranschaulicht Steinthal durch das entwicklungspsychologische Beispiel des Kindes, »das bisher nur viereckige Tische gesehen hat« und schließlich auch einen runden Tisch als Tisch erkennt [Steinthal 1881, S. 173]. Steinthal interpretiert diesen Fall durch seine genetische Theorie der apperzeptiven Habitualisierung. Zur Apperzeption überhaupt gehört eine apperzipierende und eine apperzipierte Vorstellung, wobei der apperzipierenden die aktive Rolle zukommt, sich mit der apperzipierten zu verbinden. »Apperzep­ tion« definiert Steinthal als die »Bewegung zweier Vorstellungsmas­ sen gegen einander zur Erzeugung einer Erkenntnis« [ebd., S. 171]. Das Verhältnis von Apperzipierendem und Apperzipiertem wird in der Tradition Kants durch das Verhältnis von Begriff und Anschauung bestimmt, doch nicht im Sinne zweier voneinander unabhängiger Erkenntnisquellen, eine Unterscheidung, die – so Steinthal – einem »falschen Dualismus einer apriorischen und einer aposteriorischen Methode« entspringt [ebd.]. Damit würde nämlich unterstellt, dass Begriffe gar keinen genetischen Ursprung hätten in den Zusammenhängen der Assoziation und Reproduktion und ganz unpsychologisch als überhaupt ungewordene Vorstellungsinhalte angesehen werden müssten.129 Begriff und Anschauung können psychologisch-genetisch nur so unterschieden werden, insofern eine habituelle auf eine okka­ sionelle Vorstellung trifft. Die habituelle, begriff‌liche Vorstellung verfügt ihres der wiederholten Reproduktion geschuldeten höheren Entwicklungsgrades wegen stets über die größere »Masse« an assoziativen Verbindungen als die okkasionelle Wahrnehmung, weswegen von ihr die aktive Bewegung der Apperzeption ausgeht: Der Begriff nimmt einen neuen Anschauungsgehalt auf, indem die – aktive – habituelle Vorstellungsmasse die – passive – okkasionelle apperzipiert. Der einfachste denkbare Fall einer solchen apperzeptiven Habitualisierung ist die vollständige Assimilation der kleineren durch die größere Masse. Es gibt jedoch nicht nur diesen Fall der bruchlosen Verschmelzung, sondern auch solche, wo die Verschmelzung zweier Vorstellungsmassen nicht ohne Hemmungen zustande kommt130: »Der Process (die Reaction), welcher bei dem Zusammentreffen der beiden Momente ein129 Den Apriorismus trifft der methodische Einwand der Schöpfung aus dem Nichts: »Es gilt auch für die Psychologie, was für die Naturwissenschaft: aus nichts wird nichts, und zu nichts tritt nichts hinzu.« [Steinthal 1891, S. 171] 130 Verschmelzung und Hemmung bilden schon bei Herbart – dem ontologischen Modell der Vorstellung als einer gestörten Selbsterhaltung entsprechend – die beiden grundlegenden Möglichkeiten der assoziativen Verbindung.

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3) Herbart und die Herbartschule

tritt, kann einen sehr einfachen, kurzen Verlauf haben oder kann in vielfältigen Verbindungen und Trennungen bestehen, die sich allmählich vollziehen, unter Hemmungen und Widerstreit, und sogar mit Her­beiziehung andrer Vorstellungsgruppen, welche vermitteln sollen.« [Ebd., S. 175] Der Hemmung in der Verschmelzung kommt nun eine besondere Rolle bei der Begriffsgenese zu, worauf schon Herbarts Annahme einer bewegungsmechanischen, peripheren Selbsthemmung zielte, welche eine begriff‌liche Vorstellung »beinahe« isoliert als psychologisch-genetische Bedingung für ihre mögliche Abstraktion durch das Urteil. Die diakritische Funktion der Hemmung lässt sich am Beispiel des Tisches aus Steinthals Psychologie, der zunächst als eckig und dann als möglicherweise eckig oder auch rund apperzipiert wird, mit Hilfe seiner genetischen Theorie der apperzeptiven Habitualisierung besonders einleuchtend demonstrieren.131 Das scheinbar schlichte Ergebnis der Habitualisierung ist: »Zu den bisherigen Erkenntnissen vom Tische kommt auch die, dass er nicht bloß viereckig, sondern auch rund sein kann.« [Steinthal 1881, S. 173] Dessen Herleitung erweist sich allerdings als weitaus verwickel­ ter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die ursprüngliche Apperzeption lautete »runder Tisch« und nicht etwa »Tisch«; das anschauliche Merkmal »rund« gehörte offenbar mit zu der habituellen Vorstellungsmasse, welcher durch den begriff‌lichen Gehalt »Tisch« bestimmt wird. Der habitualisierte Begriff ist in diesem Sinne immer schon ein konkret-anschaulicher und nicht etwa ein »reiner« Begriff im Sinne der Kantischen Dichotomie von Begriff und Anschauung: »Der Kenner gewinnt beim Anblick eines Pferdes eine viel bestimmtere, reichere Erkenntnis von dem Tiere, als wer nichts von Pferden versteht, weil sein Art-Begriff Pferd reichhaltiger ist. Allerdings beruht die inhaltsvollere Erkenntnis, welche der Kenner augenblicklich erlangt, nicht bloß auf dem entwickeltern Denkprocesse, der in seinem Bewußtsein angeregt wird, sondern auch darauf, dass sein Auge wirklich mehr sieht als der Unkundige; aber dieses bessere Sehen, die größere Macht seines Auges ist eben die Folge von Übung und Denken.« [Ebd., S. 172] Hier wird noch einmal die Neu- und Uminterpretation von Kants apriorischen »Erkenntnisquellen« Begriff und Anschauung in Funktionen der apperzeptiven Habitualisierung in einem kausalge131 Eine explizite genetische Analyse dieses Beispiels findet sich bei Steinthal nicht, den hier nicht der spezielle Fall der Entwicklung von Begriffen interessiert, sondern die allgemeine Problematik der möglichen Umgestaltung des apper­zeptiven Systems von Erkenntnissen.

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netischen Zusammenhang der Assoziation und Reproduktion deutlich: Der Begriff ist nicht nur ein gedachter Begriff, der mit einer besonderen sinnlichen Anschauung nur äußerlich verbunden wird, das Auge »sieht« begriff‌lich, insofern die begriff‌liche Vorstellung den sich immer wieder reproduzierenden Habitus einer konkret-bestimmten wahrnehmungsmäßigen Erkenntnis im »Wiedererkennen« eines Gegenstandes verkörpert. Auch Hegel geht davon aus, dass Begriffe zunächst nicht als reine, sondern versinnlichte Vorstellungen gegeben werden.132 Doch hält Hegel mit Kant an der Annahme zweier unabhängiger Erkenntnisquellen fest. Demnach besteht die Versinnlichung in einer Vereinzelung, die sich dadurch auszeichnet, dass die Synthesis auch einer versinnlichten Vorstellung durch den Begriff als der Erkenntnisbedingung a priori gestiftet wird: Die begriff‌liche Synthesis wird zunächst äußerlich mit einer Anschauung verbunden, um dann in einem Akt der Abstraktion als eine reine Synthesis isoliert zu werden. Die Begriffsbildung bleibt so auch im Falle der Abstraktion autonom, eine solche durch den Begriff, indem das Abstrahierte eine wiederum begriff‌liche Synthesis ist. In der »Vorstellung« im Hegelschen Sinne verbindet sich der reine Begriff, der die Form der Allgemeinheit hat, nur äußerlich mit einer einzelnen Anschauung, und es bedarf daher lediglich eines spontanen Aktes der Reflexion auf den transzendentalen Ursprung des Begriffs, damit sich diese assoziative Vereinzelung auf‌löst. Streng genommen vollbringt demnach gar nicht die Abstraktion, sondern die Synthesis die ursprünglich begriffsbildende Leistung. Kants Logik ordnet entsprechend die Leistung der Abstraktion der begriff‌lichen Synthesis nicht etwa vor, sondern nach. Kant sieht in der Abstraktion »nur die negative Bedingung, unter welche allgemeingültige Vorstellungen erzeugt werden können, die positive ist die Komparation und Reflexion. Denn durch Abstrahieren wird kein Begriff; – die Abstraktion vollendet ihn nur und schließt ihn in seine bestimmten Grenzen ein« [Kant 1800, A 148]. In der genetischen Psychologie Herbarts und der Herbartschule dagegen erscheint die der Begriffsbildung zugrundliegende Synthesis als eine im eigentlichen Sinne vorbegriff‌liche, welche durch die Reproduktionsgesetze der Vorstellungsmechanik hervorgebracht wird. Die Versinnlichung des Begriffs in seiner assoziativen Verbindung mit einer Anschauung bedeutet demnach nicht nur die Vereinze­ lung einer begriff‌lichen Synthesis, sondern der Begriff wird zum Ele132 Vgl. dazu das vorige Kap. II,2.

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ment einer als solchen an sich nicht begriff‌lichen, sondern assoziativen Synthese, einer Verschmelzung. Entsprechend verliert die Begriffsbildung den Sinn der Synthesis und reduziert sich auf ihre diakritische Funktion, die Abstraktion. Was Kant und Hegel ausschließen, wird nun zum Entwicklungsgesetz der Begriffsgenese: Allein durch das – schrittweise habitualisierende – Abstrahieren wird ein Begriff. Psychologisch-genetisch betrachtet besteht die habituelle Vorstellungsmasse aus einer assoziativen Verschmelzung von begriff‌lichen mit anschaulichen Inhalten. Im Falle des runden und nun auch möglicherweise eckigen Tisches liegt zunächst einmal eine weitere Anreicherung des Begriffs mit einem neuen anschaulichen Merkmal vor, d. h. die Allgemeinvorstellung »Tisch« wird zuerst mit dem besonderen Inhalt »eckig« und dann auch »rund« verschmolzen. Diese Verschmelzung ist jedoch nicht ohne eine Hemmung denkbar: Es gibt keine Tische, die zugleich rund und eckig sind. Die anschaulichen Inhalte können also untereinander nicht verschmolzen werden, zwischen ihnen besteht vielmehr eine Hemmung und damit ein Widerstreit in der Apperzeption. Dieser Widerstreit zwischen den Anschauungsgehalten der Apperzeption führt nun – und das ist für die Begriffsgenese entscheidend – eine weitere Hemmung herbei: Bislang war die Vorstellung »Tisch« mit der Vorstellung »eckig« fest verschmolzen. Diese Verschmelzung wird nun ihrerseits gehemmt, insofern sich die Tischvorstellung auch mit dem Anschauungsgehalt »rund« verbinden muss. Damit vollzieht sich eine Spaltung von Phaenomenon und Noume­ non: Es gibt keinen »wirklichen« eckigen und runden Tisch, sondern nur einen Tisch, der möglicherweise eckig oder auch rund sein kann: Diese Modalisierung der Redeweise deutet an, dass sich der Begriffs­ inhalt vom Anschauungsgehalt nunmehr absondert. Zwar wird die Vorstellungsmasse in der apperzeptiven Habitualisierung durch die Verschmelzung des Begriffs mit immer neuen Anschauungen immer größer und reicher; ihr begriff‌licher Gehalt wird nichtsdestotrotz zugleich stets ärmer an solchen mit ihm wirklich fest verschmolzenen anschaulichen Bestimmungen: Die Vorstellung »Tisch« gerät im Verlaufe des Habitualisierungsprozesses zunehmend »abstrakter«. Die doppelte Hemmung sowohl zwischen den verschiedenen einzelnen Anschauungen als auch dem Begriff und dem ganzen Anschauungskomplex führt demnach die diakritische Vereinzelung des Begriffs­ inhalts eines apperzeptiven Vorstellungskomplexes herbei, indem er sich von solchen mit ihm anfänglich verschmolzenen anschaulichen Komponenten allmählich absondert. 165 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Erkenntnistheorie und Phänomenologie: Die Habitualisierung und das Problem einer rezeptiven, selektiven Organisation

Selbstorganisation und Autopoiese – der Lebensbegriff als Paradigma der Organisation enthüllt sein konstitutionstheoretisches Fundament mit der Rekonstruktion von Erhaltungskonstanten des Stoffwechsels am Leitfaden der Erkenntnisgewinnung und ihrer Form der reproduktiven Begriffsbildung. Ohne die Analogie der Konstitutions- mit der Begriffsbestimmung wäre der Gedanke der autopoietischen Organisation, wonach die Fähigkeit eines lebenden Systems, sich selbst zu reproduzieren, die kausalgenetischen, bewegungsdynamischen Prozesse unterbricht, gar nicht zu denken. So fungiert bei Hegel das Verhältnis von Wahrnehmen und Erkennen als methodologisches Modell, die Spontaneität der reproduktiven Selbsterhaltung eines lebenden Organismus mit der Rezeptivität seines Stoffwechsels zusammenzudenken. Die rezeptive Wahrnehmung bezieht sich auf das Einzelne, der Begriff auf das Allgemeine. Als reproduzierbar in der Erkenntnis erweist sich stets das, was gerade nicht rezeptiv vereinzelt, vielmehr in Form eines uneingeschränkt wiederholbaren Wissens – einer spontan erzeugten Begriffskonstante – gegeben ist.133 So wie die rezeptive Wahrnehmung ihre Reproduktionsfähigkeit allein und ausschließlich der Begriffsvermittlung verdankt, so kommt sie beim lebenden Organismus als Spontaneität einer autopoietischen Systembildung zur Rezeptivität des Stoffwechsels hinzu. Bei Hegel bleibt der rezeptive Stoffwechsel somit bloßes Mittel zum Zweck der Organisation und damit ohne bestimmenden Einfluss auf die Form der Reproduktion und Systembildung. Die Vermittlung von Rezeptivität (Stoffwechsel) und Spontaneität (autopoietische Reproduktion) erweist sich damit dem Verhältnis von Wahrnehmung und Begriff entsprechend als eine nur einseitige und nicht wechselseitige. Hegels Vorstellung, wonach die autopoietische Reproduktion die Produkte des Stoffwechsels assimiliert und in dieser Weise in das System aufnimmt, setzt eine von den Bedingungen der Rezeptivität schlechterdings unabhängige Reproduktion immer des ganzen Systems voraus. Damit unterliegt die Selbsterhaltung des le133 Im Falle des tierischen Organismus ist die Reproduktion zwar individualisiert, doch lediglich im Sinne der Besonderung eines zugrunde liegenden All­ gemeinen – also einer Konstitutionsbestimmung. Das offenbart nicht zuletzt Hegels Auslegung der Krankheit, welche als die irreguläre Abweichung des Individuellen von der Norm des reproduzierbaren Allgemeinen gedeutet wird. Vgl. Kap. II,1.

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4) Erkenntnistheorie und Phänomenologie

benden Organismus letztlich keinerlei selektiven, äußeren Bedingung durch die zur Umwelt des Systems gehörenden bewegungsdynamischen Prozesse. Die dem rezeptiven Stoffwechsel eignende Selektivität ist nichts, was für die Spontaneität und Reproduktivität des Organismus in irgendeiner Weise als einschränkende Bedingung fungieren könnte. Hier führt die auf Herbart zurückgehende erkenntnistheoretische Dichotomie von Psychologie und Logik mit ihrer methodischen Entkoppelung der ursprünglichen reproduktiven Begriffsgenese von der systematischen Begriffsbildung134 einen Paradigmenwechsel herbei. Erkenntnistheoretisch entsteht die für Hegels spekulative Logik niemals zu stellende Frage, unter welchen Bedingungen eine Begriffsbildung und die mit ihr verbundene Konstitutionsbestimmung in den Reproduktionszusammenhang der Vorstellung überhaupt eingehen kann. Die »spekulative Entwicklung« hat die Form der Besonderung eines Allgemeinen, der zufolge die Phaenomena als Noumena in einem Konstitutionszusammenhang der Begriffsbestimmung systematisch vollständig rekonstruiert werden. Die der systematischen Begriffsbildung zugrunde liegende abstraktive Leistung des Begriffs, welche die Reproduktionsfähigkeit eines solchen Systems aus Begriffen möglich macht, verkörpert bei Hegel wie schon bei Kant kein eigenständiges Organisationsproblem: Aus der bloßen Abstraktion allein wird noch kein Begriff; die abstraktive Begriffsgenese setzt eine synthetisierende Begriffsbildung demnach immer schon voraus. Entsprechend geschieht auch die Abstraktion autopoietisch durch das begriff‌liche System – die Begriffsbildung fundiert demnach die Begriffsgenese und nicht etwa umgekehrt. Indem sich auf diese Weise die Begriffsautonomie auch in der Begriffsgenese behauptet, scheidet selbst hier die rezeptive An­ schauung als eine mögliche Vermittlungsinstanz a priori aus. Im Falle des individuellen Lebens kann die Spontaneität der Reproduktion freilich nicht völlig ohne jeden Anteil der Rezeptivität gedacht werden, insofern diese die reproduktive Leistung ursächlich auslöst. Die durch den Stoffwechsel verursachte Auslösungsdynamik bewirkt im Prinzip gar keine, die rudimentäre bewegungsdynamische Rezeptivität – dort wo sie überhaupt vorhanden ist – eine niemals wirklich durchgehende rezeptive Vermittlung der Organisation. Die Rezeptivität des pflanzlichen Organismus bestimmt Hegel privativ als fehlende Vermittlung des Stoffwechsels durch die autopoietische 134 So die Systematik bei Wundt, vgl. Kap. II,3.

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Spontaneität, sodass von dieser rezeptiv-bewegungsdynamischen Seite der Organisation letztlich keine die Reproduktionsfähigkeit direkt und unmittelbar betreffende selektive Wirkung ausgehen kann. Eine selektive Einwirkung des rezeptiven Stoffwechsels auf die Reproduktion läge nur dann vor, wenn die Reproduktion ihre synthetisierende Leistung verlöre, sie also nicht mehr die eines ganzen Systems, sondern nur noch von dessen Bruchstücken wäre. Diesen denkbaren Fall einer gleichsam fragmentarischen Reproduktion berücksichtigt Hegels System zwar durchaus, er wird jedoch von vornherein methodisch restringiert. Die selektive Reproduktion verkörpert nicht den Normalfall des autopoietischen Stoffwechsels, sondern lediglich seinen Grenzfall: den privativen Modus eines sich in der Krankheit tendentiell auf‌lösenden Systems. Durch die erkenntnistheoretisch-kritische Sonderung von Bedingungen der systematischen Begriffskonstitution und solchen der Begriffsgenese wird der konstitutionstheoretische Grenzfall der selektiven und restitutiven Reproduktion schließlich zum methodischen Normalfall: Eine rein mechanische Reproduktion von Vorstellungen außerhalb der systematischen Begriffs- und Konstitutionsbestimmung erweist sich im Prinzip als rezeptiv vermittelt und damit selektiv. Weil die Reproduktion generell durch keine begriff‌liche Synthesis mehr vermittelt ist, vermag sie die bewegungsdynamischen Prozesse auch nicht mehr zu unterbrechen. Freilich bleibt auch in der Vorstellungsmechanik die Leistung der Reproduktion eine schlechterdings uneingeschränkte: Die mechanische Reproduktion als eine solche immer des ganzen Assoziationskomplexes ist als solche nicht selektiv. Für die mechanistische Psychologie der Herbartschule – bis hin zu Freuds Theorie des Unbewussten – gilt entsprechend der Grundsatz: In der Vorstellungsmechanik geht nichts verloren.135 Zwar kommt eine selek135 Steinthal stellt als Grundsatz der Selbsterhaltung auf: »Alles was ist, ist unvertilgbar.« So bleibt in »der Seele alles bestehen, was je in ihr bestanden hat« [Steinthal 1881, S. 114]. Das bezieht sich nicht nur auf die Elemente der Vorstellungsmechanik, die isolierbaren Vorstellungen, sondern vor allem auch auf ihre Verbindungen, die Ordnung der Sukzession: Es »behält jede Vorstellung vermöge des ihr eingebildeten Verbindungsmerkmales den Hinweis auf ihre Stelle im Verbande und verliert nicht ihren Zusammenhang, den sie im Verbande hat« [ebd., S. 141]. Freud folgt offenbar dieser Lehre der Herbartschule von der Selbsterhaltung der im Prinzip unbewussten Vorstellungsmechanik: »Es ist sogar eine hervorragende Besonderheit unbewußter Vorgänge, dass sie unzerstörbar bleiben. Im Unbewußten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts vergangen oder vergessen.« [Freud 2000, S. 567]

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tive Leistung nicht generell durch die Reproduktionsgesetze, wohl aber speziell durch die Unterscheidung des Bewussten vom Unbewussten ins Spiel in Verbindung mit der Habitualisierung eines mehr oder weniger konstanten Vorstellungskomplexes als Grundlage für die abstraktive Begriffsbildung. Der selektive Einfluss der Rezeptivität zeigt sich hier im Zusammenhang der Reproduktion und Wiederholung: Ein Vorstellungskomplex hält sich nur dann als ein Habitus im Bewusstsein, wenn er sich vermittels einer wiederholten Wahrnehmung beständig reproduziert. Die konkrete Verfügung über einen Habitus bedeutet: Es wird niemals alles, sondern immer nur einiges aktuell reproduziert – solcherlei Vorstellungen, welche aufgrund wiederholter Rezeption für den Eintritt in das Bewusstsein in Gestalt einer aktiven, »schwingenden Vorstellung« bereit stehen.136 Die nicht nur einfache, sondern doppelte Vermittlung von Begriff und Anschauung ergibt sich also letztlich aus der Fundierung der ab­ straktiven Begriffsgenese in einer solchen rezeptiven Habitualisierung. Die mechanistische Psychologie Herbarts und der Herbartschule verfährt in ihrer Methode jedoch nicht reduktionistisch in dem Sinne, dass sie jede mögliche Begriffsvermittlung der Reproduktion gene­ rell ausschließen würde. Schon bei Herbart taucht das systematische Problem auf, wonach die Sonderung von Variablen und Konstanten in der Reproduktion aus der Bewegungsmechanik der Vorstellungen und ihre assoziative Synthesis letztlich nicht allein, sondern nur mit der Einführung einer Begriffskonstante erklärt wird – die Konstitution eines Gegenstandsbegriffs und die mit ihr verbundene Sonderung von Substanz und Akzidens, welche zentrale und periphere Vorstellungskomplexe voneinander trennt. Geht die Bildung des Substanzbegriffs in den Reproduktionszusammenhang der Vorstellung ein, dann wandelt sich die zur rezeptiven Seite der Reproduktion gehörende Bewegungsdynamik in eine Auslösungsdynamik schließlich um. Dieser der Begriffsvermittlung geschuldete Wandel bewegungsdynamischer Kausalität in eine kausalgenetische Konstitutionsbedingung führt jedoch anders als in Hegels Konzeption des autopoietischen Stoffwechsels nicht zu einer Unterbrechung bewegungsdynamischer Prozesse durch die Reproduktion. Die Leistung der Auslösungsdynamik redu136 Zur Lehre von den schwingenden Vorstellungen als habituelle Vorstellungen an der Schwelle des Unbewussten zum Bewussten vgl. Teil B, Kap. II,6. Zur Kritik der Lehre von den »schwingenden Vorstellungen« bei Wundt vgl. Teil B, Kap. II,8.

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

ziert sich in der Autopoiese darauf, eine Disposition zu aktualisieren in Gestalt einer begriff‌lichen Ordnungskonstante für die rezeptive Anschauung. Mit Blick auf die Notwendigkeit der Habitualisierung zeigt sich jedoch, dass die Aktualisierung von dispositionellen Konstitutionsverhältnissen allein nicht ausreicht, die Erhaltungsfunktion der Organisation zu erklären. Voraussetzung für die habituelle Verfügung einer Ordnungsleistung ist eine über die singuläre Auslösung einer Reproduktion hinausgehende wiederholte Reproduktion. Zum Habitus wird eine – begriff‌liche oder vorbegriff‌liche – Vor­ stellung allein durch ihre nicht folgenlos einmalige, sondern folgen­ reich mehrfache Aktualisierung. Die wiederholte Reproduktion wiederum setzt eine Wahrnehmungskontinuität voraus und damit konstante Bedingungen der Rezeptivität. Nur solche Vorstellungskomplexe können sich im Bewusstsein wirklich dauerhaft halten, welche durch die rezeptive Wahrnehmung immer wieder aktualisiert werden. Die nicht nur einfache, sondern doppelte Vermittlung von Begriff und Anschauung, Rezeptivität und Spontaneität in der Habi­ tualisierung bekundet sich also darin, dass die Rezeptivität nicht nur dispositionelle Begriffskonstanten aktualisiert, sie vielmehr in dieser Aktualisierung durch wiederholte Rezeption selektiert als solche, die im Reproduktionszusammenhang verfügbar bleiben. In diesem Sinne verkörpert der Habitus eine aktive und nicht nur passive Disposition im Sinne der Bereitstellung eines Vorstellungskomplexes für die Reproduktion im Bewusstsein.137 Verliert die Rezeptivität ihre selektive Leistung durch die fehlende Möglichkeit wiederholter Wahrnehmung, dann büßen die begriff‌lichen Vorstellungskonstanten ihre bereits erlangte Fähigkeit der Ordnung und Organisation wieder ein, indem sie in den aktuellen Reproduktionszusammenhang nicht mehr eingehen. Bliebe nun die erkenntnistheoretische Betrachtung bei der Erörterung des bloßen Sachverhalts stehen, dann reduzierte sich die Bedeutung der Habitualisierung für die Organisation auf das bloße Sonderproblem empirischer Erkenntnisgewinnung, welche zu untersuchen der genetischen Psychologie zufiele. Über diese regionalontologische Dimension hinaus erweist sich die habituelle Begriffsgenese jedoch als methodologisch relevant für die allgemeine und universelle Begriffsbestimmung der Organisation als eine Form von sich selbst 137 Zu dieser Problematik vgl. Teil B, Kap. II,6 sowie in Bezug auf die genetische Ableitung des Wahrnehmungsinteresses als die dispositionelle Be­reit­schaft eines Komplexes »schwingender Vorstellungen« vgl. Teil C, Kap. III,1.

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organisierendem Leben. Die Begriffsvermittlung gehört im Falle der Vorstellung von Organisation als Selbstorganisation zum konstitutionstheoretischen Fundament sowohl der subjektiven Bedingungen der Erkenntnisgewinnung als auch des Objektes der Erkenntnis. Zweifellos hat die Rezeptivität – etwa des pflanzlichen Organismus – nicht den Sinn einer bewussten Wahrnehmung, wie dies die psychologische Betrachtung der Vorstellungsmechanik voraussetzt. Gleichwohl – das zeigt die konstitutionstheoretische Bestimmung des Verhältnisses von Rezeptivität und Spontaneität – wird auch hier das Verhältnis von Reproduktion und bewegungsdynamischer Organisation im Sinne des Sonderfalls eines Allgemeinen – einer Begriffsvermittlung – gedeutet. Bleibt die philosophische Reflexion konstitutionstheoretisch unbefangen, dann spricht nichts dagegen, die Besonderheit des pflanzlichen Organismus, dessen Organisation in den rezeptiven Stoffwechsel stets involviert bleibt, als Beispiel für eine selektive Reproduktion und restitutive Organisation nicht bloß als den methodischen Grenzfall, sondern Normalfall der Organisation überhaupt anzunehmen. Bezeichnend kann Hegels Konstitutionsbestimmung gar nicht anders als die rezeptiv vermittelte Organisation von vornherein als unvollkommenen Modus und bloße Vorstufe des autopoietischen Stoffwechsels methodologisch abzuwerten mit dem Ziel, die Unterbrechung bewegungsdynamischer Prozesse durch die begriff‌lich vermittelte Reproduktion als apriorische Bedingung der Organisation auch in diesem Fall zu rekonstruieren. Ein solcher Konstitutionsbegriff des Lebens gelangt entsprechend gar nicht zur Unterscheidung von aktiven und passiven Dispositionen, welche die rezeptive Vermittlung als eine ge­ nerelle Bedingung der Organisation erkennt und anerkennt. Das Beispiel der Krankheit reduziert sich konstitutionstheoretisch auf eine bloße Privation, hervorgerufen durch zufällige, äußere Bedingungen der Organisation eines desorganisierten, zerfallenden Organismus. Die scheinbar nur regionalontologisch bedeutsame Unterscheidung zwischen dem Habituellen und Unbewussten aus der genetischen Psychologie erweist sich hier als entscheidend für eine philosophischerkenntnistheoretische Revision des Begriffs der Selbstorganisation überhaupt, als sie nicht nur zur Anerkennung einer organisierenden Leistung schon der Rezeptivität führt, sondern auch zeigt, dass die Begriffsvermittlung der Reproduktion keineswegs ausreicht, um die Organisation aus der Konstitutionsbestimmung methodisch vollständig abzuleiten und damit die Möglichkeit einer bewegungsdynamischen Organisation metaphysisch auszuschließen. 171 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Die Theorie der Begriffsgenese, wie sie die Herbartschule entwickelt hat, reicht jedoch wiederum nicht weit genug, um einen voll­ ständigen Begriff der bewegungsdynamischen Organisation und diakritischen Entwicklung zu gewinnen. Herbarts Destruktion des Entwicklungsbegriffs der Konstitution beharrt auf der relationslosen Einfachheit der Selbsterhaltung, wodurch der Bewegungsmechanik letztlich die Funktion der Systembildung abhanden kommt. Die dynamische Kausalität der Verschmelzung und Hemmung macht nun zwar das »Leben« eines sich immer wieder selbst reproduzierenden Vorstellungskomplexes aus und die bewegungsdynamischen Prozesse werden damit zu Leistungen wirklicher Selbstorganisation. Was sie hervorbringen, beschränkt sich jedoch auf die Synthese eines assoziativen Komplexes. Die diakritische Funktion dieser bewegungsdynamischen Habitualisierung, welche in der Absonderung einer konstanten Vorstellungsmasse, einer reproduzierbaren »Hauptvorstellung«, besteht, kann letztlich ihre über die Erhaltungsfunktion hinausgehende Ord­ nungsfunktion nicht zureichend erklären. Zur Organisation im vollen Sinne gehört notwendig beides: eine Systembildung durch funktionale Differenzierung sowie deren Erhaltung in einem Reproduktionszusammenhang. Die Scheidung von peripheren und zentralen Vorstellungskomplexen bedeutet zwar eine funktionale Differenzierung, welche die Theorie der Begriffsgenese aus der Reproduktion assoziativer Vorstellungskomplexe jedoch nicht ableiten kann, sondern letztlich auf eine Begriffsbildung – die Unterscheidung von Substanz und Akzidens – als eine von außen in die Bewegungsdynamik eingreifende Konstitutionsbestimmung zurückführen muss. Zudem beschränkt sie sich – der Destruktion des System- und Entwicklungsbegriffs der Konstitution wegen – auf die bloß abstraktive Leistung, eine Begriffskonstante als an sich einfache Vorstellung von peripheren Assoziationskomplexen abzusondern. Als methodische Konsequenz aus Herbarts Destruktion des Konstitutionsbegriffs der Entwicklung ergibt sich die erkenntnistheoretische, antipsychologistische Sonderung von Genesis und Geltung, welche zu einer reduktionistischen Betrachtung der Organisation sowohl von der Seite der systematischen Konstitutionsbestimmung als auch der kausalgenetischen Reproduktionsbedingungen führt: Die begriff‌liche Vorstellung definieren Herbart und Bolzano als eine, sich ganz und gar nach dem Inhalt der Vorstellung zu richten. Der Vorstellungsinhalt weist eine Form der systematischen Organisation auf, der schließlich von der reinen, philosophischen Logik untersucht 172 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Erkenntnistheorie und Phänomenologie

wird. Diese vorstellungsimmanente Organisation hat letztlich keinen Einfluss mehr auf die der Konstitution des Inhalts gegenüber äußere Genese der Vorstellung in den Zusammenhängen der Assoziation und Reproduktion. Damit zerbricht schließlich der Lebensbegriff der Organisation, insofern Systembildung und Selbsterhaltung nicht mehr zwei Seiten ein und desselben Prozesses der Selbstorganisation verkörpern, sondern antipsychologistisch getrennt werden: Die Systembildung verkümmert nunmehr zum reinen Ordnungsproblem der Kon­ stitution ohne Beziehung auf die (Lebens-)Bedingungen der Erhaltung und Selbsterhaltung, und andererseits verliert die kausalgenetische Reproduktion ihren Sinn einer lebendigen, organischen Systembildung durch funktionale Differenzierung. Erst durch die genetische Phänomenologie Edmund Husserls werden diese beiden Seiten – Ordnung und Selbsterhaltung – zur Gewinnung eines Organisationsbegriffs im vollen Sinne eines Lebensbegriffs wieder zusammengeführt. Die phänomenologische Theorie der Konstitution folgt zunächst der erkenntnistheoretischen, antipsychologistischen Restriktion des Organisationsproblems auf ein reines Ordnungsproblem. Durch ihre Intentionalitätskonzeption und die Deutung der Gegenstandskonstitution durch das transzendentale Ideal gelingt es der Phänomenologie, die systematische Konstitutionsbestimmung als einen Phänomenbegriff zu fassen.138 Während Herbarts Methodologie den Konstitutionsbegriff der Entwicklung destruiert, restituiert ihn die phänomenologische Erkenntnistheorie. Für die genetisch-phänomenologische Betrachtung von Problemen der reproduktiven Habitualisierung bedeutet dies, dass die Kausalgenese der Vorstellung von vornherein durch die Intentionalität und die ihr anhängende Konstitutionsbestimmung vermittelt ist. Die mechanische Reproduktion erhält so ihren Sinn einer Systembildung zurück und andererseits stützt sich die konstituierende Entwicklung nun ursächlich auf den Reproduktionszusammenhang der Habitualisierung. Für die genetisch-phänomenologische Methode stellt die Vermittlung der kausalgenetischen Betrachtung mit der Konstitutionsbestimmung jedoch keine einfache Voraussetzung, vielmehr die Anzeige eines vielschichtigen Problems dar, welches nur durch ein aufwendiges Verfahren von konstruktiven, methodischen Idealisierungen lösbar erscheint. Hier wird einmal mehr das Problem der rezeptiven Selektivität zur Achillesferse des Konstitutionsbegriffs der Organisation und 138 Vgl. Teil B, Kap. I,3.

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

Entwicklung. Die Vermittlung der Habitualisierung durch die Konstitutionsbestimmung geschieht durch das systematische Erkenntnisinteresse, welches einen Prozess der Erkenntnisgewinnung motiviert, dessen Aufgabe und Ziel in einer Vervollständigung des unvollständigen Erkenntnisbesitzes a limine besteht. Die Erlangung von systematisch-vollständiger Erkenntnis erweist sich dabei als ein in der Unendlichkeit liegendes, unerreichbares Ideal, dem sich das Erkenntnisstreben immer nur annähern kann. Diese idealen Konstitutionsbedingungen geraten nun jedoch in Widerstreit mit den faktischen der kausalgenetischen Reproduktion. Die Fähigkeit, einen Vorstellungskomplex zu reproduzieren, erweist sich in ihrer Faktizität als endlich: Die Kapazitäten der Reproduktion einer nicht bloß einfachen, sondern systematisch-komplexen intentionalen Vorstellung im Bewusstsein sind letztlich nicht unbegrenzt, sondern begrenzt. Von daher erscheint es methodisch fragwürdig, ob die Habitualisierung überhaupt den Bedingungen der Konstitutionsbestimmung in ihrer idealen Unendlichkeit unterworfen werden kann. Auf dem Spiel steht nicht mehr und nicht weniger als der Konstitutionsbegriff der Organisation: Kann das systematische Erkenntnisinteresse und seine intentionale Teleologie nicht auch rückwärts gewandt durch die Habitualisierung von Erkenntniserwerben erfüllt werden, dann droht die Möglichkeit der syste­matischen Erkenntnisgewinnung überhaupt verloren zu gehen. Die Gewinnung immer neuer Erkenntnismöglichkeiten mag sich durch den Bezug auf das transzendentale Ideal der Gegenstandskonstitution mit Notwendigkeit systematisch geordnet vollziehen. Entspricht ihr jedoch keine eben solche systematische Form der Habitualisierung bereits erwor­ bener Erkenntnisse, dann bedeutet dies die Anknüpfung einer geordneten Konstitution an eine ungeordnete: Ein umfassendes System der Konstitution wäre somit genetisch nicht mehr zu begründen.139 Husserls Phänomenologie rückt diesem Problem durch die Unterscheidung verschiedener Stufen der Habitualisierung zu Leibe. An die primäre Habitualisierung von Erkenntnissen durch Wahrnehmungen und Begriffe schließt sich eine sekundäre Habitualisierung an, welche durch eine Substituierung vermittelt ist: Die komplexe wird hier ersetzt durch eine einfache Vorstellung; an die Stelle der ursprünglichen anschaulichen Erinnerung tritt ein Erinnerungsbild.140 Diese substi139 Vgl. Teil B, Kap. I,5. 140 Zu den Konstitutionsproblemen der sekundären Habitualisierung vgl. Teil B, Kap. II,6.

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4) Erkenntnistheorie und Phänomenologie

tuierende Verbildlichung ermöglicht es letztlich, dass die Habitualisierung ausnahmslos und generell der idealen, systematischen Konstitutionsbestimmung unterworfen bleibt durch die uneingeschränkte Möglichkeit einer »Wiederkonstitution«, in welcher diejenige der Substitution zugrunde liegende Anschauung wenn auch nicht faktisch, so doch grundsätzlich restituiert werden kann. Die Schwäche dieser Konzeption liegt in der Unableitbarkeit der selektiven Leistung der Reproduktion, resultierend aus ihrem genetischen Ursprung in der Rezeptivität. Die Substituierung und Verbildlichung ist mit einer Selektion verbunden, insofern niemals der ganze, sondern jeweils nur ein Teil der Anschauung durch eine Leervorstellung ersetzt wird als Grundlage der reproduktiven Verbildlichung. Diese Selektion ergibt sich wiederum aus der wiederholten Reproduktion und ihrer Auslösung durch eine assoziative Weckung: Es wird Weckungsenergie von einer Erinnerung auf die nächste übertragen, sodass der ganze Zusammenhang ins Bewusstsein gehoben und damit habituell verfügbar bleibt.141 Husserls Modell der assoziativen Weckung deutet die Kausalgenese von vornherein konstitutionstheoretisch als eine reine Aus­ lösungsdynamik. Sie kann als die rezeptive Bedingung der intentionalen Organisation in den systematischen Konstitutionszusammenhang jedoch nicht wirklich aufgelöst werden. Das intentionale, systematische Erkenntnisinteresse, welches auf die geordnete Vervollständigung von Teilen zu einem Ganzen teleologisch ausgerichtet ist, enthält als solches kein selektives Motiv.142 Die Selektion in der rezeptiven Auslösung der Reproduktion, welche der Substituierung und Verbildlichung zugrunde liegt, bleibt damit ein kontingentes Faktum ohne jede erkennbare Leistung der Ordnung und Organisation. Dies stellt sowohl die Aufrechterhaltung eines geschlossenen und geordneten Konstitutionszusammenhangs als auch die Möglichkeit der Restitution – die »Wiederkonstitution« – in Frage, welche die Erhaltung des Systems der Konstitution zumindest in Teilen der Anschauung und damit als ein im Bewusstsein verfügbarer Habitus zur Bedingung und Voraussetzung hat. Den systematischen Weg, die Erhaltung des Konstitutionszusammenhangs durch eine in der Rezeptivität wirksame bewegungsdynamische Organisation zu erklären, hat sich Husserl durch seinen Weg 141 Vgl. Teil B Kap. II,4 sowie Kap. II,5. 142 Mit dieser methodischen Beschränkung zusammen hängt die Unableitbarkeit eines selektiven Wahrnehmungsinteresse in der genetischen Phänomenologie, vgl. Teil C, Kap. III.

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Teil A · Kap. II – Restitutive Selbsterhaltung

der methodischen Idealisierung, die reproduktive Habitualisierung im Ganzen in das System der Konstitution aufzulösen, verbaut. Bewegungsdynamische Prozesse werden nach Husserl durch die Substituierung und Verbildlichung freigesetzt, insofern die Auslösungsdynamik nur noch selektiv und nicht mehr auf den ganzen intentionalen Vorstellungskomplex wirkt. Sie haben jedoch im Zusammenhang des geschlossenen Zusammenhangs der Konstitution und Wiederkonstitution keine organisierende, sondern eine lediglich desorganisierende Funktion: Es bilden sich willkürliche Assoziationszusammenhänge, welche die intentionale Ordnung gleichsam ignorieren und eine de­ struktive Fiktionalisierung reproduktiver Leistungen der Erinnerung heraufbeschwören.143 Methodisch ist die immanente Auf‌lösung des Konstitutionsbegriffs der Organisation nur dadurch aufzuhalten, dass ihre genetische Abkünftigkeit in einer sie fundierenden bewegungsdynamischen Organisation in der Rezeptivität aufgezeigt wird. Das setzt allerdings eine grundlegende Kritik des erkenntnistheoretischen Fundamentes der Konstitutionstheorie voraus, wonach Ordnung und Organisation allein und ausschließlich aus der Erkenntnisvermittlung der rezeptiven Wahrnehmung resultieren. Die Phänomenologie der Konstitution ist deshalb durch eine Phänomenologie der Orientierung weiterführend zu ergänzen, welche das Verhältnis von Wahrnehmungs- und Er­kenntnisorientierung in Bezug auf ihre mögliche intentional-orga­nisierende Leistung systematisch untersucht.144 Eine bewegungsdyna­mische Organisation gilt es hier als eigenständige, diakritisch relevante intentionale Leistung aufzuweisen, die ein originäres Wahrnehmungs­interesse als Grundlage einer umweltorientierten, habituellen Selbstbildung motiviert, auf welche wiederum das motivierende Erkenntnisinteresse als selektive Leistung und externe Bedingung für seine immanente Konstitution von Ordnung und Organisation zurückgreift.

143 Vgl. Teil B, Kap. III,1. 144 Vgl. dazu auch das Methodenkapitel Teil B, III,7.

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Teil B Phänomenologie der Konstitution

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Kapitel I »Bewusstwerdende Objektivität«. Die phänomeno­logische Konstitution als Form der Objekt­ bestimmung und Habitualisierung einer Objektbeziehung 1)

Intentionale Konstitution: Die restriktiv erkenntnistheoretische Fassung des phänomenologischen Konstitutionsbegriffs

»Konstitutiv« ist nach Kant der Gebrauch eines Begriffs, sofern er die Vorstellung eines Gegenstandes impliziert. Die systematische Verwendung des Konstitutionsbegriffs im Deutschen Idealismus und im Neukantianismus verbindet die definitionslogische, porphyrianische Bedeutung der Konstitution als Form der systematischen Begriffs­ bestimmung mit der auf Aristoteles zurückgehenden ontologischen Grundlegung am Leitfaden des Herstellens, welche die Konstitution als Form-Stoff-Einheit und damit als Organisationsprinzip der Dinge fasst. In ihrer ursprünglich transzendentalkritischen Verwendung wird die Konstitution weder idealistisch als begriff‌liche Leistung systematischer Selbstkonstitution, noch nachidealistisch als systematische Form der Objektbestimmung am Leitfaden eines transzendentalen Ideals in Anspruch genommen. Die Konstitution, wie sie die Kritik der reinen Vernunft versteht, verkörpert überhaupt keine systematische Form der Objektbestimmung, sie gibt lediglich die in der Subjektivität liegenden Bedingungen der Realisierung einer möglichen Objektbeziehung für den Begriff an.1 Der transzendental-kritische Gebrauch des Konsti­ tutionsbegriffs deutet demnach hin auf die Fähigkeit eines Subjekts, mit der Bezugnahme auf Gegenstände der Erfahrung eine Erkenntnis­ orientierung ausbilden zu können. Diese transzendentalkritische und nicht systematische Definition der Konstitution geht mit einer methodischen Restriktion einher: Die Konstitution verbindet sich mit keinem Organisationsbegriff. Die Funktion, eine Gegenstandsbeziehung und damit Erkenntnisorientie1

Von den systematischen »transzendentalen Ideen« heißt es bei Kant, dass sie »niemals von konstitutivem Gebrauche« sind, »so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden« [Kant 1968, B 673, A 645]. Zur idealistischen und nachidealistischen systematischen Fassung des Konstitutionsbegriffs vgl. Teil A, Kap. I, 3. Einen historischen Abriss der porphyrianischen und logischen sowie ontologischen Bedeutung der Konstitution gibt der Artikel »Konstitution« in HWPh, Bd. 4, S. 992 ff.

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1) Intentionale Konstitution

rung zu konstituieren, kommt nach Kant nur den Verstandesbegriffen, nicht aber den Vernunftbegriffen zu. Die Vernunftidee der Welt ordnet die durch den Verstand erworbenen Erkenntnisse zu einem System. Ihre Fähigkeit der Systembildung ist dabei niemals von konstitutivem, sondern lediglich regulativem Gebrauch, denn der Ordnung gegebener Erfahrungsbegriffe zu einem System entspricht keine mögliche Vorstellung eines Gegenstandes. Dass die phänomenologische Methode an diesen restriktiv-transzendentalen und nicht etwa von vornherein systematisch gefassten Konstitutionsbegriff anknüpft, zeigt ihre frühe, zunächst rein erkenntnistheoretische Fundierung. Husserl konzipiert eine die »Konstitution von Gegenständlichkeiten« behandelnde »Phänomenologie der Erkenntnisse« [Husserl, Hua II, S. 14[, welche die Konstitution verankert in der »wunderbare[n] Korrelation zwischen Erkenntnisphänomen und Erkenntnisobjekt« [ebd., S.  12]. Das phänomenologische Konstitutionsverhältnis bezeichnet demnach die mögliche Realisierung der Objektbeziehung, wodurch das Objekt im erkennenden Bewusstsein überhaupt erscheinen kann: Das »›bewußtseinsmäßig konstituiert‹ weist auf die Erlebnisseite, die Bewußtseinsseite hin, die eben das ist, was das Dastehen des Gegenstandes ausmacht« [Husserl, Hua XXVI, S. 15]. Der Phänomenologe meint mit der Konstitution das »Erkenntnisobjekt«, sofern es sich als ein »Erkenntnisphänomen« in der Vorstellung realisiert. Anders als die transzendentale stiftet die phänomenologische Konstitution nicht die Objektbeziehung – sie verlebendigt sie lediglich in einem Bewusstseinserlebnis. Nicht erst durch die Konstitution bezieht sich das Bewusstsein auf den Gegenstand – das »Erkenntnisobjekt« ist durch die intentionale Sinngebung dem konstituierenden Bewusstsein immer schon vorgegeben. Ohne das Konstitutionsverhältnis wäre die intentionale Beziehung freilich nicht »Phänomen«, das Objekt lediglich als ein Objektsinn vermeint, ein Gegebenes ohne Gegebenheitsweise, abgesehen von der ursprünglichen Form seiner Repräsentation im Bewusstsein, der anschaulichen und direkten Erfassung. Husserl betont ausdrücklich, dass die phänomenologische Konstitution die Form einer repräsentativen Vorstellung, einer darstellenden Konstitution, annimmt: In »Wahrnehmung, Phantasie, Erinnerung, Prädikation usw. […] sind nicht die Sachen etwa wie in einer Hülse oder einem Gefäß, sondern in ihnen konstituieren sich die Sachen, die reell in ihnen gar nicht zu finden sind. ›Gegebenheit der Sachen‹, das ist sich so und so [Herv. d. Verf.] in solchen Phänomenen darstellen (vorgestellt sein).« [Husserl, Hua II, S. 12] 179 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Die phänomenologische Analyse der Konstitutionsverhältnisse verfolgt zunächst den methodischen Zweck einer erkenntnistheoretischen Aufklärung der grundlegenden Erkenntnisbedingungen, d. h. der verschiedenen Formen, in denen sich eine gegebene Objektbeziehung in der Vorstellung jeweils realisiert. Diese phänomenologisch-erkenntnistheoretische Fragestellung teilt mit der transzendentalen Auffassung der Konstitution die methodische Ausschaltung aller Organisationsprobleme: In der konstitutionstheoretischen Betrachtung geht es um die originär erkenntnistheoretische Aufgabe einer apriorischen Begriffsklärung, welche der Phänomenologe nun allerdings universell und intentional versteht als die methodische Beseitigung von Äquivokationen in den Fundamenten nicht nur der im engeren Sinne begriff‌lichen Erkenntnis, sondern allen Vorstellungen, denen eine Erkenntnisfunktion zukommt und zukommen kann: den intentional-objektivierenden Akten überhaupt. Bei konstituierenden Erlebnissen handelt es sich demnach um diejenigen Formen des Bewusstseins, deren Struktur darauf hinweist, dass sich das Objekt im subjektiven Erleben tatsächlich spiegelt und damit Subjekt und Objekt wirklich korrelieren. Der Konstitutionsbegriff eignet sich deshalb vorzüglich als Instrument der Erkenntniskritik, im Sinne der Gewinnung einer phänomenologisch-evidenten, »immanenten« Transzendenz im Unterscheid zu solchen im Prinzip zweifelhaften Erkenntnissen einer mit Suppositionen und Substruktionen operierenden transzendenten Erklärung.2 Bliebe es allerdings bei einer solchen Methode, dann gelangte die Phänomenologie zu einem bloß operativen und nicht wirklich systematischen Begriff der Konstitution. Der erkenntnistheoretischen Restriktion des Organisati2

Husserl unterscheidet eine doppelte Transzendenz – innerhalb und außerhalb der phänomenologischen Sphäre. Die immanente Transzendenz meint das »Nicht-reel-enthaltensein des Erkenntnisgegenstandes« [Husserl, Hua II, S. 35], also die intentionale Bezugnahme auf einen Gegenstand, der kein Teil oder Stück des Erkenntniserlebnisses ist. Die Immanenz dieser Transzendenz bekundet sich im wesentlichen durch das Konstitutionsverhältnis: Die »Sachen, die nicht die Denkakte sind, sind doch in ihnen konstituiert, kommen in ihnen zur Gegebenheit, nur so konstituiert zeigen sie sich als das, was sie sind« [ebd., S. 72]. Dagegen transzendiert alles, »was ein uneigentliches Denken« in die Phänomene »erst hineinschafft und ohne Gegebenheitsgrund hineininterpretiert« [ebd., S. 73], »transzendente Präsuppositionen« [ebd., S. 48] wie metaphysische Begriffsbildungen oder die kausalgenetischen Erklärungen der Bewusstseinssphäre durch den Psychologismus nicht zum Bereich der immanenten Transzendenz, der phänomenologischen Konstitution.

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1) Intentionale Konstitution

onsproblems folgend wäre die Phänomenologie der Konstitution – mit den Begriffen Alois Riehls – keine philosophische Universal- sondern lediglich Allgemeinwissenschaft3 – Allgemeinheit hier verstanden als allgemeinverbindliche Begriffsklärung des intentionalen Sinnes von Transzendenz. Husserls frühe, noch rein erkenntnistheoretische Fassung der Konstitutionstheorie enthält zwar noch keine explizit systematische Ausprägung der Konstitutionsbestimmung wie später in den Ideen. Im Ansatz ist die spätere systematische Fassung des Konstitutionsbegriffs aber bereits zu erkennen. Es zeigt sich nämlich, dass die Konstitution nicht nur operativ verwendet werden kann zur Kritik solcher »objektiv« vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Methoden. Das Organon der phänomenologischen Erkenntnis, die Intentionalität, unterliegt selbst der klärenden Analyse durch den Konstitutionsbegriff und damit die Form der Gegenstandsbeziehung einer systematischen Aufklärung. Im Falle der phänomenologisch-erkenntnistheoretischen Kritik metaphysischer und naturalistischer Erkenntnisbegründungen bedarf es einer systematischen Durchdringung des Konstitutionsverhältnisses freilich nicht. Hier genügt der faktische Nachweis einer nicht vorliegenden intentionalen Konstitution – der fehlenden Korrelation von Erkenntnisgegenstand und Bewusstseinserlebnis. Anders sieht es jedoch aus im Falle des symbolischen Denkens, der indirekten Realisierung einer Gegenstandsbeziehung durch Substituierungen. Für Husserl stellen symbolische Erkenntnisse Surrogate einer zugrunde liegenden sinnlichen oder begriff‌lichen Anschauung dar, deren unkritischer Gebrauch zu lückenhaften und uneindeutigen Begriffsbildungen und infolgedessen Inkonsistenzen in den wissenschaftlichen Systembildungen führt.4 Die phänomenologische Erkenntniskritik kann sich in diesem Fall, wo es um die Begründung eines systematisch-voll­ ständigen Wissens geht, nicht einfach auf die Intentionalität und ihre 3 4

Riehl, S. 68; vgl. Teil A, Kap. I,3. So heißt es in der Philosophie der Arithmetik: »Demgemäß dient uns die symbolische Vorstellung als vorläufiges, in Fällen, wo das eigentliche Objekt unzugänglich ist, sogar als dauerndes Surrogat für die wirkliche Vorstellung.« [Husserl, Hua XII, S. 194] Es können grundsätzlich »nicht bloß anschauliche Gegenstände symbolisiert werden, sondern auch abstrakte und allgemeine Begriffe« [ebd.]. Husserls Kritik trifft so etwa – in den Prolegomena – eine psychologisch-denkökonomische Begründung der Logik, welche beansprucht, »mittels symbolischer Prozesse und unter Verzicht auf Anschaulichkeit, eigentliches Verständnis und Evidenz, Ergebnisse abzuleiten, die völlig sicher« erscheinen [Husserl, Hua XVIII, § 54, S. 202].

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Konstitution einer Korrelation von Erkenntnisphänomen und Gegenstand verlassen, insofern auch die direkte intentionale Bezugnahme durch eine unanschauliche »symbolische Leerintention« [Husserl, Hua II, S. 60] gestiftet wird, die einen ganzen Komplex anschaulich zu explizierender Gegenstandsbestimmungen impliziert.5 Die phänomenologische Sicherung der Evidenz des intentionalen Erlebnisses erfordert deshalb eine systematische Form der Konstitution, im Zuge der Ersetzung der zunächst nur »leer« meinenden durch eine »intuitive« Erfassung des Gegenstandes. In seiner Vorlesung über Bedeutungslehre von 1908 rekapituliert Husserl: »Das formallogische Denken […] ist nach meinen Logischen Untersuchungen ein Denken auf Grund bloßer Bedeutungen. Es bezieht sich auf alle und jede Gegenständlichkeit (mag sie eine reale sein oder nicht) darum, weil Gegenstände überhaupt Gegenstände nur sind durch sein Bedeuten« [Husserl, Hua XXVI, S. 4]. Nicht die Objektset­ zung durch einen konstituierenden Begriff stiftet die Objektbeziehung, sondern ein der Konstitution zuvorkommendes Meinen und Bedeuten, dessen hier durchaus wörtlich zu nehmender sprachanalytischer Sinn es ist, auf einen (vor-)gegebenen Gegenstand Bezug zu nehmen.6 In der reinen Bedeutungserfassung ist diese Gegenstandsbeziehung jedoch im strengen Sinne »nicht »realisiert«» [ebd., S. 15]. Mit »nicht realisiert« ist das Abzielen auf einen Gegenstand durch eine bloße Leerintention gemeint, das bloße »Meinen« von etwas, ohne dass es sich in einem Konstitutionsverhältnis mit einer Anschauung in Form einer veranschaulichenden Vorstellung verbindet. Für das bloße Zustandekommen der intentionalen Beziehung ist dieser Unterschied von realisierter (d. h. konstituierter) und unrealisierter Bedeutungserfassung zunächst unerheblich: »Bei gleichem unterliegendem Wortlautbewußtsein und bei immerfort bestehendem gleichsinnigen Bedeuten, also Sich-beziehen auf immerfort in gleichem Sinn gemeinte Gegenständlichkeit ist das Bewußtsein von dieser Gegenständlichkeit bald 5

6

Husserl hat in seiner Logikvorlesung von 1908 die Unanschaulichkeit der Leerintention noch schärfer betont durch ihre Unterscheidung von der symbolischen Vorstellung: »Ich habe in den Logischen Untersuchungen überall von signitiven oder symbolischen Vorstellungen gesprochen.« Es habe sich aber gezeigt, »daß das Gebundensein an sinnliche Anschauungen von Zeichen, Symbolen der leeren Intention nicht wesentlich ist. Demgemäß ist der Terminus symbolische Vorstellung als Terminus für die ganze Klasse Leervorstellungen eigentlich nicht passend.« [Husserl, Hua XXVI, S. 13] Zu dieser sprachanalytischen Konzeption des phänomenologischen Inten­tio­na­ li­täts­begriffs vgl. auch Teil A, Kap. I,3.

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2) Von der Objektkonstitution zur Selbstkonstitution

ein realisiertes, bald ein unrealisiertes, bald ein volles, bald ein leeres, oder mehr oder minder volles, mehr oder minder leeres.« [Ebd., S. 15 f] Nicht hinsichtlich der Intentionalität – der immer schon zustandegekommenen Objektbeziehung – wohl aber »hinsichtlich des konstituierenden Bewußtseins« gibt es »einen Unterschied« [ebd., S. 15]. Die graduellen Abstufungen der Fülle und Leere verbindet Husserl hier, wie schon in den Logischen Untersuchungen, mit der mehr oder weniger »vollständigen« Realisierung der Konstitution.7 Genau diese Möglichkeit der sukzessiven Vervollständigung des zur Bedeutungserfassung gehörenden Konstitutionsverhältnisses der Vorstellung werden die Ideen von 1913 durch eine in der intentionalen Konstitution implizit schon vorgegebene systematische Organisation erklären, die im Verlaufe der fortschreitenden Gegenstandsbestimmung durch Veranschaulichung lediglich zu explizieren und zu entwickeln ist.

2)

Von der Objektkonstitution zur Selbstkonstitution: Die Gewinnung des systematischen Begriffs der phäno­­meno­ logischen Konstitution

Das Organisationsproblem ist in Husserls früher, rein erkenntnis­theo­ retischer Fassung des Konstitutionsbegriffs zwar bereits angelegt, es kommt dort jedoch nicht zur Entfaltung. Von Anfang an bringt Husserl die phänomenologische Analyse der Konstitutionsverhältnisse in Zusammenhang mit der dadurch möglichen Wesensbestimmung: Von den »Gegebenheiten«, den im intentionalen Erlebnis zugänglichen Gegenständen, heißt es: »schauend können wir ihr Wesen, ihre Konstitution, ihren immanenten Charakter herausschauen und unsere Rede in reiner Anmessung an die geschaute Fülle der Klarheit anschmiegen« [Husserl, Hua II, S. 31]. Die Gleichsetzung von Wesens- und Konstitutionsbestimmung ergibt sich traditionell aus der porphyrianischen Definitionslehre, der synonymen Verwendung von differentia con­stitutiva und differentia specifica.8 Die Wesensbestimmung als Konstitutionsbestimmung impliziert demnach die Erweiterung eines Allgemeinbegriffs zu einem ganzen System ihm subordinierter Be7

8

Husserl kritisiert an dieser Stelle die terminologischen Unterscheidungen der Logischen Untersuchungen allerdings auch als insgesamt zu vage und unbestimmt und deshalb mit zu Missverständnissen führenden Mehrdeutigkeiten belastet. Vgl. Husserl, Hua XXVI, S. 16. Vgl. dazu den Artikel »Konstitution« in HWPh, Bd. 4, S. 992 ff.

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

griffsdifferenzierungen. Husserl erklärt die Möglichkeit der Wesensbestimmung damit, dass die Konstitution die Gegenstandsbeziehung nicht nur im Bewusstsein realisiert, sondern diese Realisierung zugleich mit einer Sinnenthüllung solcher zunächst noch nicht explizit veranschaulichter Sinnimplikationen verbunden ist. Solange diese Sinnenthüllungen jedoch als einseitig subjektive Gegebenheitsweisen – als »psychologisch« zu betrachtende, noetische Vollzüge – gedeutet werden, sind sie unmöglich als Differenzierungen des gegenständlichen Sinnes und damit Formen der »noematischen« Organisation zu verstehen. Der Schritt zu einem Organisationsbegriff der Konstitution vollzieht sich deshalb in Husserls Ideen von 1913, wo die einseitig noetische Auffassung von konstituierenden Gegebenheitsweisen wie auch die Verkürzung der Intentionalität auf eine bloße Aktintentionalität kritisiert wird. Die darstellende Konstitution erscheint hier schließlich als eine Form der systematischen Sinnenthüllung noematischer Bestimmungen, die als Horizontintentionen mit zum Gegenstand gehören. Husserl verwendet nun »konstituieren« synonym mit »differenzieren«.9 Ausdrücklich wird damit der systematische und somit organisierende Sinn der Konstitution betont: Die Konstitution eines jeden Gegenstandes enthält »eine bestimmte innere Organisation ihrer Verläufe« [Husserl, Hua III, 1, § 150, S. 350]. Diese Erweiterung des phänomenologischen Konstitutionsbegriffs zu einem Organisationsbegriff ist schließlich auch der Grund dafür, dass Husserls Phänomenologie genötigt wird, ein Subjekt der Konstitution ins Spiel zu bringen. In der intentional-erkenntnistheoretischen Begründung der Konstitution ist bezeichnend niemals vom konstituierenden Ich, sondern immer nur vom konstituierenden Bewusstsein die Rede. Das Konstitutionsverhältnis bezeichnet ursprünglich nichts anderes als eine cogi­ tatio, eine Vorstellung, d. h. die Form, in welcher der Gegenstand im Bewusstsein jeweils repräsentiert wird. Eine Theorie der Selbstkonstitution kann im Rahmen einer solchen restriktiv erkenntnistheoretischen Begründung der Phänomenologie deshalb gar nicht erst entstehen. Alle solchen Transzendenzen, die nicht zu den rein-intentionalen Erlebnissen gehören, betrachtet der Phänomenologe als »erkenntnis9

Von den intentionalen, beseelenden Auffassungen heißt es, dass sie durch ihre Beseelung von Erlebnismomenten »»Sinn« konstituieren, differenzieren« [Husserl, Hua III, 1, § 98, S. 231].

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2) Von der Objektkonstitution zur Selbstkonstitution

theoretisch Null« [Husserl, Hua II, S. 44], und das will meinen: null und nichtig. Zu diesen phänomenologischen Nichtigkeiten gehört insbesondere das »Icherlebnis«, die Tatsache, dass sich ein personales Subjekt seine Erlebnisse als eigene zuschreibt.10 In der systematischen Sinnenthüllung realisiert sich nun nicht mehr nur eine einzelne Vorstellung, sondern ein ganzer Komplex von Vorstellungen. So strittig und interpretationsbedürftig Husserls wiederholte Versuche auch sein mögen, auf ein »reines Ich« methodisch zu rekurrieren, so bleibt der ursprüngliche Sinn, eine solche letzte Konstitutionsbestimmung einzuführen, doch ein intentionaler und damit originär phänomenologischer. Denn davon, dass die Selbstkonstitution im phänomenologischen Verständnis nicht anders als bei Kant und im Deutschen Idealismus als bloße Reflexionsbedingung der »synthetischen Einheit der Apperzeption« fungierte, kann gar keine Rede sein. Darin sieht Husserl schließlich den Verweis auf ein kon­ sti­tuierendes »Ich« als dem einheitlichen Bewusstsein von den mannigfaltigen cogitationes. Formale und transzendentale Logik spricht vom »große[n] System der konstituierenden Subjektivität« [Husserl, Hua XVII, § 104, S. 277], und die Cartesianischen Meditationen begründen die Notwendigkeit, die Relation von cogito und cogitatum durch die umfassende ego–cogito–cogitatum zu erweitern.11 Streng genommen entwickelt sich der systematische Sinn einer solchen Selbstkonstitution in doppelter Hinsicht: Zu jeder einzelnen cogitatio – der Aktintentionalität – gehört ein ganzes System von Horizontintentionen als deren implizite Bestimmungen. Darüber hinaus bilden nun aber auch die verschiedenen cogitationes – die Gegenstandsbezie­ hungen – eine systematische Einheit: »Die transzendentale Subjektivität ist nicht ein Chaos intentionaler Erlebnisse. Sie ist aber auch nicht ein Chaos von konstitutiven Typen, deren jeder in sich organisiert ist durch Beziehung auf eine Art oder Form intentionaler Gegenstände.« [Husserl, Hua I, § 22, S. 90] Die Angst des Phänomenologen vor dem Chaos kommt nicht von ungefähr. Würde der systematische Sinn der 10 11

Vgl. dazu TeilA, Kap. I,4. Es entsteht »eine große Lücke« in der konstitutionstheoretischen Betrachtung [Husserl, Hua I, §  1, S. 100]. Die intentionale Konstitutionsbestimmung be­ schränkt sich zunächst auf die Analyse des Bewusstseins im Verhältnis zu seinem jeweiligen Gegenstand, die Korrelation von cogito und cogitatum. Was sie dabei ausblendet, ist »eine zweite Polarisierung«, welche »die besonderen Mannigfaltigkeiten von cogitationes alle insgesamt und in eigener Weise umgreift, nämlich als solche des identischen Ich« [ebd.].

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Konstitution erkenntnistheoretisch restringiert auf die Form nur der Objektbestimmung, dann zerstreute sich ihre organisierende Leistung gleichsam mit den Objekten. So viele Gegenstände es gibt, so viele Möglichkeiten ihrer Konstitution und Wesensbestimmung.12 Es ist keine Frage, dass sich auch mit einer Phänomenologie der Konstitution ein umfassender Systemanspruch verbindet. Es gilt, die mannigfaltigen intentionalen Beziehungen jeweils systematisch zu erforschen. Aber ein solches systematisches Vorgehen führt noch zu keinem System – System hier verstanden im Sinne eines leitenden Weltbegriffs, der es ermöglicht, nicht nur in der Objektbestimmung, sondern auch in Bezug auf die Erfassung der Einheit der mannigfaltigen Objektbeziehungen systematisch zu verfahren. Offenbar erfüllt die Einführung der Problematik der Selbstkonstitution den Zweck, der Auf‌lösung der Phänomenologie in eine bloße Ansammlung von Regionalontologien vorzubeugen, einem konstitutionstheoretischen Pluralismus, in dem nur noch die »material- und formalontologischen Regionen als Indizes transzendentaler Systeme von Evidenzen«13 genommen würden. Mit der Einführung des ego in die Korrelation von cogito und cogitatum »deutet sich eine ungeheure Aufgabe an, welche die der gesamten transzendentalen Phänomenologie ist, in der Einheit einer systematischen und allumspannenden Ordnung am beweglichen Leitfaden eines stufenweise herauszuarbeitenden Systems aller Gegenstände«. Auf diese Weise sind »alle phänomenologischen Untersuchungen als entsprechende konstitutive durchzuführen, also streng systematisch aufeinander gebaut, miteinander verknüpft.« [Husserl, Hua I, § 22, S. 90] In Formale und transzendentale Logik wird diese Systematik der Fundierung verschiedener Gegenstandsbeziehungen mit der Entwicklung eines Weltbegriffs in Verbindung gebracht: Die »systematische Aufwicklung der konstitutiven Problematik« erfolgt »gemäß der systematischen Stufenfolge«, in der »sich der Sinn Welt immanent aufgebaut hat und immerfort aufbaut« [Husserl, Hua XVII, § 96 b, S. 248]. Der »Sinn Welt« und das in ihm aufgehobene umfassende System nicht nur von Objektbestimmungen eines Gegenstandes, sondern 12

13

»Und überall handelt es sich nicht darum, beliebige Erscheinungen als gegeben festzustellen, sondern das Wesen der Gegebenheit und das Sich-konstituieren der verschiedenen [Herv. d. Verf.] Gegenständlichkeitsmodi zur Einsicht zu bringen.« [Husserl, Hua II, S. 73] So die Überschrift des § 29 der III. Cartesianischen Meditation [Husserl, Hua I, S. 97].

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2) Von der Objektkonstitution zur Selbstkonstitution

auch den Objektbeziehungen, konstituiert sich in einem »Ich«. Husserl spricht mit Blick auf die systematische Form der Selbstkonstitution von einem Ichpol oder zentrierenden Ich [vgl. Husserl, Hua I, § 33, S. 102; § 32, S. 100]. Erweckt wird so der Eindruck, als ob die Zentrierung durch ein Ich zur intentionalen Zentrierung einfach hinzukäme in der vollen Korrelation ego – cogito – cogitatum. Das würde bedeuten, dass im Falle der Objektbestimmung alle konstituierenden Erlebnisse auf den einen und selben Gegenstand als Identitätspol bezogen wären, während die verschiedenen Objektbeziehungen entsprechend auf das Icherlebnis als das sie insgesamt synthetisch Vereinigende verweisen würden. Heideggers Kritik hält einer solchen Konzeption von Konstitution als Form der Selbstkonstitution deshalb vor, dass ihr Verständnis von Subjektivität nicht »im Hinblick auf das Intentionale« gewonnen sei [Heidegger, GA 20, S. 146]. Die konstitutionstheoretische Bestimmung sei deshalb keine originär phänomenologische Methode, »nicht phänomenologisch im Rückgang auf die Sachen selbst gewonnen, sondern im Rückgang auf eine traditionelle Idee von Philosophie« [ebd., S. 147]. Letztlich markiert die Konstitution »die Stelle, wo der Idealismus und die idealistische Fragestellung, genauer der Idealismus im Sinne des Neukantianismus, in die Phänomenologie hereinbricht« [ebd., S. 146]. »Idealistisch« an Husserls konstitutionstheoretischer Auslegung der Subjektivität ist nach Heidegger der ontologische »Vorrang der Subjektivität vor jeder Objektivität« [Heidegger, GA 20, S. 145]. Dieses ontologische Fundierungsverhältnis ergibt sich für Heidegger zwingend aus der transzendentalphilosophischen Beanspruchung des »Ich« als eine alle Vorstellungen synthetisierende Einheit der Selbstvorstellung. Davon, dass die Selbstkonstitution auch im phänomenologischen Verstande als eine »synthetische Einheit der Apperzeption« im Sinne Kants und des Deutschen Idealismus fungiert, kann jedoch keine Rede sein. Für Husserl ist »dieses zentrierende Ich nicht ein leerer Identitätspol« [Husserl, Hua I, § 32, S. 100], d. h. eine bloß identische Reflexionsform in den mannigfaltigen Bewusstseinserlebnissen, die zur intentionalen Konstitution der einzelnen cogitationes als eine selber nicht intentionale Synthese einfach hinzukäme. Thema der IV. Cartesianischen Meditation ist die »Entfaltung der konstitutiven Probleme des transzendentalen Ego selbst« [ebd., Überschrift, S. 99]. Gleich zu Beginn betont Husserl, dass die Selbstkonstitution »kein Thema leerer Spekulationen« sein darf [ebd.]. Phänomenologisch konkret ist die »Entfaltung der konstitutiven Probleme« nur dann, wenn sie sich 187 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

mit einer Analyse des intentionalen Bewusstseins verbindet. Geradezu gegenläufig zu Heideggers ontologischer Interpretation betont Husserl die vorrangige Verankerung der Konstitution in der Intentionalität; in Formale und transzendentale Logik ist ausdrücklich von der »konstituierenden Intentionalität« [Husserl, Hua XVII, § 94, S. 241] die Rede. Das gilt nun insbesondere für das Konstitutionsproblem des transzendentalen Ego selbst. Nicht etwa erfährt die intentionale Beziehung durch ihre Aufhebung in der Selbstkonstitution ihre konsti­ tutionstheoretische Bestimmung, sondern umgekehrt gilt, »daß das transzendentale Ego […] nur ist, was es ist, in bezug auf intentionale Gegenständlichkeiten« [Husserl, Hua I, § 30, S. 99]. Die Thematisierung eines transzendentalen Ego ist nur dann keine leere Spekulation, wenn dieses ego cogito von den mannigfaltigen cogitationes her, den intentionalen Bezugnahmen auf verschiedene Gegenständlichkeiten, seine konstitutionstheoretische Bestimmung erfährt – und nicht etwa andersherum. Die Leistung der Sinnenthüllung setzt die Organisation – das System der Konstitution – als eine zum Gegenstand gehörende Sinn­ implikation und horizontintentionale Verweisung immer schon als idealiter gegeben voraus. Die Synthesis des Mannigfaltigen ist demnach auch der systematischen Selbstkonstitution vorgegeben als eine intentionale, gegenständliche Einheit. Das konstituierende Ego syn­ thetisiert die cogitationes also nicht, es repräsentiert eine wiederum intentionale Synthesis von cogitationes lediglich im Bewusstsein – durch die mitgängige Vorstellung eben seiner sinnenthüllenden Leistung. »Das Noematische sei das Feld der Einheiten, das Noetische das der ›konstituierenden‹ Mannigfaltigkeiten. Das Mannigfaltiges ›funktionell‹ einigende und zugleich Einheit konstituierende Bewußtsein zeigt in der Tat niemals Identität, wo im noematischen Korrelat Identität des ›Gegenstandes‹ gegeben ist.« [Husserl, Hua III, 1, § 98, S. 231] Diese strikte Trennung der Funktion der synthetisierenden Identifizie­ rung des Gegenstandes von derjenigen der sinnenthüllenden Konsti­ tution im eigentlichen Sinne verrät noch einmal die erkenntnistheoretische Anlage des phänomenologischen Konstitutionsbegriffs, in der die Objekt­konstitution stets den Vorrang hat. Auch die Selbstkonstitution als eine Leistung der systematischen Enthüllung eines ganzen Komplexes von Vorstellungen ist phänomenologisch und intentional von der Objektkonstitution her gedacht und somit keine idealistische Form der Objektsetzung durch ein identitätsstiftendes Subjekt, sondern eine Funktion der differenzierenden Objektbestimmung durch 188 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

verschiedenste – nichtidentische – Bewusstseinserlebnisse14: Eine intentional-identifizierende Synthesis im Subjekt zu konstituieren heißt eben nicht, sie durch das Subjekt zu erzeugen.15 Husserls »Ich« fungiert demnach nicht als eine alle Vorstellungen vereinigende transzendentale Synthesis, sondern lediglich als ein transzendentales Medium, in dem sämtliche Fäden der Konstitution zusammenlaufen, eine ihrer selbst bewusste Aktivität der systematischen Sinnenthüllung, welche allen Verweisungen auf solche noch gar nicht gegebenen Gegenständlichkeiten nachgeht. Entscheidend ist, dass eine solche intentionale Selbstkonstitution ihre Form der Organisation nicht etwa wie ein souveränes idealistisches Ich gleich selber mitbringt, sie vielmehr vom gegenständlich Gegebenen und seinen umgebenden Sinnhorizonten gleichsam ablesen muss, auf das sie intentional Bezug nimmt – dies sowohl im Hinblick auf die vorstellungsmäßige Realisierung eines Systems von Objektbestimmungen einer jeweiligen Objektbeziehung als auch des ganzen Komplexes der Objektbeziehungen in Gestalt vorgegebener, systematischer Verweisungs- und Fundierungszusammenhänge. In dieser intentionalen Orientierung der egologischen Leistung ist deshalb keineswegs auszugehen von einem »Vorrang der Subjektivität vor jeder Objektivität« (Heidegger), vielmehr – der intentionalen Orientierung der Selbstkonstitution entsprechend – einem Vorrang der Objektivität vor der Subjektivität.

3)

Das transzendentale Ideal der systematischen Objekt­ bestimmung: Die Entfaltung des Organisationsbegriffs der phänomenologischen Konstitution

Der systematische Anspruch der phänomenologischen Konstitutionstheorie ist universell. Das »große System der konstitutiven Subjek­ tivität«, von dem Formale und transzendentale Logik spricht [Husserl, Hua XVII, § 102, S. 277], ist nach Husserl nicht »spekulative Hypothese, sondern Ergebnis systematischer Besinnung über die 14

15

»[…] da ist der im Noema vorfindliche Gegenstand bewußt als identischer im wörtlichen Sinne, das Bewußtsein von ihm ist aber in den verschiedenen Abschnitten seiner immanenten Dauer ein nichtidentisches, ein nur ver­ bundenes, kontinuierlich einiges.« [Husserl, Hua III, 1, § 98, S. 231] Auch die genetische Konstitution erzeugt die Gegenstandsbeziehung in diesem idealistischen Sinne nicht, sondern lediglich ihre habituelle Verfügung im Be­ wusst­sein. Vgl. Teil A, Kap. I,4.

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Welt, die als »Phänomen […] systematisches Rückfragen« erlaubt [ebd., § 104, S. 282]. Weil sich das System der Konstitution in diesem mundanen Sinne umfassend zeigt, alle möglichen Gegenstandsbeziehungen umgreift, enthält jegliches Vorgegebene »einen intentionalen Index […] für ein System zu enthüllender konstitutiver Leistungen« [ebd., S. 283]. Phänomenologisch wird aus der die Gegenstände in systematischer Form vorgebenden »Welt« ein Konstitutionsbegriff und entsprechend aus dem Gegenstandsbegriff ein Welt- und damit System­ begriff. Die empirische »Dinggegebenheit« verkörpert den Ideen I zu­folge eine Kantische regulative Idee – also eine Welt, eine Vorstellungstotalität in der Form eines impliziten und zu explizierenden horizontintentionalen Systems. Hinter einer solchen idealisierenden Auffassung der Gegenstandskonstitution steht der Anspruch, auch die niemals vollständige und abzuschließende Erkenntnisgewinnung der Erfahrung als ein geschlossenes Ganzes, eine sich entwickelnde systematische Einheit und Ordnung, vollständig beschreiben zu können. Gegenstände der Erfahrung, die als »Realitäten« in der Welt existieren, sind vom konstituierenden Bewusstsein in ihrer »vollständigen Bestimmtheit« und »Anschaulichkeit« niemals zu realisieren [Husserl, Hua III, 1, § 142, S. 331]. Gleichwohl gehört zu ihrer Wahrnehmung die »Idee« einer solchen »abgeschlossene[n] Erscheinung«, die »adäquate Dinggegebenheit als Idee im Kantischen Sinne« [ebd. § 143, Überschrift, S. 330]. Ihre Funktion besteht darin, die »endlose[n] Prozesse kontinuierlichen Erscheinens« einer apriorischen Regelung und Ordnung zu unterwerfen. Die Idee des Gegenstandes zeichnet so als »Wesenstypus« ein »absolut bestimmtes System« [ebd., S. 331] in den Wahrnehmungsverläufen vor. Husserls Einführung der Kantischen Idee bedeutet eine methodische Engführung, in der die erkenntnistheoretische Restriktion des idealistischen Anspruchs, die Erfahrung als ein organisiertes System konstitutionstheoretisch zu erschließen, geradezu handgreif‌lich vorgeführt wird. Die »regulative Idee«, die »Welt« bei Kant, bedeutet einen Vernunftbegriff von nicht konstitutivem, sondern lediglich regulativem Gebrauch. Entsprechend sind die Verstandesbegriffe nur von konstitutivem Gebrauch, d. h. die Vorstellung von Gegenständen verbindet sich mit keiner systematischen Ordnung der Begriffe. Die Konstitution wird demnach zu einem systematischen Organisationsbegriff nicht schon bei Kant, sondern erst durch den selbstgesetzten Anspruch des Deutschen Idealismus, die Erfahrung als ein System zu konstruieren aus objektivierenden Leistungen des »Ich«. Dieser Weg des Idea­lismus, 190 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

die Vernunftidee der Welt von einem regulativen in einen konstitutiven Begriff umzuwandeln, stellt die spekulative Antwort auf das bei Kant im Grunde ungelöste Problem einer transzendentalen Deduktion der Vernunftidee dar. Die Vernunft bei Kant »schafft […] keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur« [Kant 1968, B 671 / A 643]. Der Systembegriff, durch den die durch Erfahrung erworbenen Erkenntnisse geordnet werden, ist zwar selbst kein Begriff von einem Gegenstand – und damit kein durch die transzendentale Deduktion gerechtfertigter Konstitutionsbegriff des Verstandes – er bezieht sich jedoch als einer, welcher Verstandesbegriffe nachträglich ordnet, auf einen Begriff, der von konstitutivem Gebrauch ist. Eine solche transzendentale Deduktion der regulativen Vernunftidee, die zwar selbst nicht von konstitutivem Gebrauch ist, sich auf einen solchen aber zumindest mittelbar bezieht durch dessen heuristische und regulative Erweiterung16, bleibt allerdings methodisch unzulänglich, denn der Anspruch einer systematischen Organisation der empirischen Erkenntnisgewinnung bezieht sich nicht nur auf die bereits erworbenen Erkenntnisse, sondern auch auf solche Erkenntnismöglichkeiten in der Zukunft. In Bezug auf zukünftige Erfahrungen ist nämlich – der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Erfahrungsprozesses wegen – a priori nicht ausgemacht, dass sie sich überhaupt zu einem System fügen werden, die systematische Erkenntnis nicht nur stetig »berichtigt« wird im Sinne der Kritik der reinen Vernunft [vgl. ebd., B 700], sondern einfach in sich zusammenbricht, d. h. die von Kant fraglos unterstellte Kontinuität der systematischen Erkenntnisgewinnung einmal endgültig abbricht. Die Philosophie nach Kant hat im Grunde drei Lösungsmöglichkeiten entwickelt, wie eine systematische Begründung von empirischer Erkenntnisgewinnung zu leisten ist. Die erste verkörpert die 16

Kant hält den empirischen Gebrauch der Vernunft für eine Merkwürdigkeit, der sich einer systematischen Erkenntnis asymptotisch, als unerreichbares Ideal immer nur annähert [vgl. Kant 1968, B 691, A 663] und deshalb nur heuristisch zu rechtfertigen scheint, indem die Erkenntnis hier auf gut Glück der empirischen Bewährung zu vertraut, »ohne daß man doch eine transzendentale Deduktion der selben zu Stande bringen kann« [ebd., B 692, S. 693 / A 664, S. 665]. Die notwendig geforderte transzendentale Deduktion auch der Vernunftideen [vgl. ebd., B 698 / A 670] besteht darin, dass die heuristische und regulative Erweiterung der Erkenntnis zu einer systematischen Erkenntnis »die Erfahrungserkenntnis jederzeit erweitern, niemals aber derselben zuwider sein kann«, indem sie »in ihren eigenen Grenzen« zugleich »angebauet und berichtigt wird« [ebd., B 700].

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

spekulative Deduktion des Deutschen Idealismus. Der Idealismus hält mit Kant an der Unterscheidung von Verstandes- und Vernunftbegriffen fest, wonach letztere die Möglichkeit der systematischen Ordnung von Begriffen enthalten, aber nicht von konstitutivem Gebrauch sind, insofern der Vernunftidee eines umfassenden Systems der Erfahrung keine Vorstellung von einem Gegenstand entspricht: »Die Idee selbst ist nicht zu nehmen als eine Idee von irgend Etwas.« [Hegel 1969, § 213, S. 182] Konstitutive Bedeutung bekommt die Idee durch die systematische Form der deduktiven Ableitung der Verstandesbegriffe aus der synthetischen Einheit der Apperzeption, dem transzendentalen Ich, die sich – gegen die ausdrückliche Verwahrung Kants – am Modell einer axiomatischen und konstruktiven mathematischen Erkenntnis orientiert.17 Das philosophische Systemdenken erfüllt nach Fichte das »Versprechen, die gesamte Erfahrung abzuleiten, und aus dem notwendigen Handeln der Intelligenz zu erklären« [Fichte 1797/98, S. 30]. Aus dem Selbstbewusstsein, gedacht als spekulative Identität von Subjekt und Objekt, werden die konstitutiven Verstandesbegriffe vollständig deduziert, sodass auf diese Weise ein erschöpfendes System der Erfahrung im reinen Denken entsteht. Diese Ableitung bleibt notwendig spekulativ, sofern die Idee des Selbstbewusstseins selber, aus welcher die Möglichkeit eines konstitutiven Gebrauchs der Begriffe – die Gegenstandsbeziehung mit ihren kategorialen Bestimmungen – als ein System entwickelt wird, das mit keiner Vorstellung von einem Gegenstand verbunden ist. Rein ideelle Prinzipien der Erkenntnis, denen keine vergegenständlichende Vorstellung entspricht, bekämpft die nachidealistische Philosophie als empirisch haltlose Spekulationen. Spekulative Ideen beziehen sich auf kein mögliches Objekt, wodurch sich das bloße Denken als die Erkenntnis von etwas Wirklichem und Gegebenem ausweisen ließe. Der Positivismus von Ernst Mach verzichtet deshalb auf 17

Der philosophische Vernunftgebrauch ist empirisch und von daher nicht der mathematisch-konstruktive, welcher Begriffe nicht nachträglich ordnet, sie vielmehr als ein System a priori konstruiert: »Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Kon­ struk­t ion der Begriffe.« [Kant 1968, B 741 / A 713] Bei Fichte dagegen wird die mathematische Konstruktion zum Leitfaden der Herstellung eines Systems von Grundsätzen der Erfahrung: »Die Philosophie antizipiert die gesamte Erfahrung, denkt sie sich nur als notwendig, und insofern ist sie, im Vergleich mit der wirklichen Erfahrung, a priori. A posteriori ist die Zahl, inwiefern sie als Produkt aus den Faktoren gezogen wird.« [Fichte 1797/98, S. 30]

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3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

den idealistischen Versuch einer transzendentalen Deduktion der systematischen Erkenntnis, die Umwandlung der bloß regulativen Vernunftidee in einen Konstitutionsbegriff der Erfahrung. Wie bei Kant bleibt für den Positivisten die Kontinuität der systematischen Erkenntnisgewinnung heuristisch und regulativ. Sie erlaubt letztlich keine transzendentale, sondern eine nur noch pragmatische Rechtfertigung durch die Arbeit des Wissenschaftlers. Weil nicht a priori geklärt werden kann, ob das System der Erkenntnis in der Wirklichkeit verankert ist, kann der Zusammenbruch wissenschaftlicher Systeme niemals ausgeschlossen werden. Der Wissenschaftler vertraut daher auf die Reproduktion seines bisherigen Erfolgs, die zwar ungewisse, aber doch begründete Erwartung, sich auf eine vielfach bewährte Praxis der syste­matischen Erkenntnisgewinnung auch in Zukunft verlassen zu können.18 Den anderen nachidealistischen Weg einer Begründung von systematischer Erkenntnis, welche auf eine transzendentale Rechtfer­ tigung nicht einfach positivistisch und pragmatisch verzichtet, geht die philosophische Erkenntnistheorie, vertreten im Wesentlichen durch den Neukantianismus als auch Husserls konstitutionstheoreti-

18

Naturgesetze sind nach Mach Regeln, welche die menschliche Erkenntnis der Natur vorschreibt und damit psychologisch begründet: »Ihrem Ursprunge nach sind die ›Naturgesetze‹ Einschränkungen, die wir unter Leitung der Erfahrung unserer Erwartung vorschreiben.« [Mach, S. 449] Die »Naturgesetze als bloße subjektive Vorschriften für die Erwartung des Beobachters« gelten deshalb, auch wenn die Wirklichkeit an sie »nicht gebunden« ist [ebd., S. 458]. Eine trans­ zendentale Deduktion, welche a priori die Übereinstimmung der Naturgesetze mit der Wirklichkeit erweisen wollte, erscheint unter der Voraussetzung einer solchen psychologischen Erkenntnisbegründung also überhaupt unmöglich. Psychologisch als eindeutig geregelte Erwartungshaltungen begriffene Naturgesetze sind deshalb aber keineswegs wertlos, sondern stützen pragmatisch durch ihre wiederholte Erfüllung und Bewährung in der Erfahrung das leitende »Postulat der Gleichförmigkeit der Natur«, welches die systematische Ordnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse fordert: »Denn, wenn auch der Erwartung nur innerhalb gewisser Grenzen von der sinnlichen Wirklichkeit entsprochen wird, so hat sich erstere doch vielfach als richtig bewährt, und bewährt sich täglich mehr. Wir haben mit dem Postulat der Gleichförmigkeit der Natur keinen Fehlgriff getan, wenn auch bei der Unerschöpf‌lichkeit der Erfahrung die absolute Anwendbarkeit des Postulates nach Schärfe, zeitlicher und räumlicher Unbeschränktheit sich nie wird dartun lassen, und wie jedes wissenschaftliche Hilfsmittel ein Ideal bleiben wird. […] Im Falle einer Enttäuschung der Erwartung hat man also stets die Freiheit, statt der erwarteten Gleichförmigkeiten neue zu suchen.« [Ebd., S. 458 f]

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

sche Begründung seiner Phänomenologie. Philosophie als Erkenntnistheorie zu betreiben bedeutet einen radikalen Verzicht: Aufgegeben wird nicht weniger als der enzyklopädische Anspruch einer jeden spekulativen Konstitutionstheorie, ein vollständiges und damit universelles System des Wissens hervorzubringen. So sieht Alois Riehl in den Begriffskonstruktionen des Deutschen Idealismus eine Rückkehr zur »Methode der alten Denker« in dem Anspruch, ein System des Wissens spekulativ zu konstruieren, welches für das Erfahrungswissen der Einzelwissenschaften nicht erreichbar ist [Riehl, S. 68]. Die erkenntnistheoretische Begründung der Philosophie legitimiert sich nun nicht mehr durch ein systematisches Erkenntnisinteresse, sie beansprucht nicht mehr »Gesamtwissenschaft«, sondern nur noch »Allgemeinwissenschaft« zu sein: »Die Philosophie ist nicht die Gesamtwissenschaft, wofür sie das Altertum, das noch jede theoretische Kenntnis zu ihr zählte, betrachtet hatte; wohl aber ist sie Allgemeinwissenschaft, oder die Wissenschaftslehre, die sich als solche von den Einzelwissenschaften bestimmt unterscheidet, ohne doch aus dem Zusammenhang mit diesen herauszutreten.« [Ebd., S. 65] Diese empirisch-wissenschaftlich orientierte Erkenntnistheorie erfindet demnach kein freischwebendes, spekulatives System von Begriffen, sondern entnimmt die Begriffe den Einzelwissenschaften mit dem Ziel ihrer transzendentalen Rechtfertigung, wodurch die wissenschaftlichen Denkoperationen schließlich ein sicheres Erkenntnisfundament erhalten. Ihr exklusives Thema ist die Subjekt-Objekt-­ Korrelation und ihre Aufgabe die apriorische »Begriffsklärung« grundlegender »Regeln für die Vorstellung der Objekte« [Riehl, S. 63]. Diese restriktiv erkenntnistheoretische Begründung der Philosophie mit ihrem Verzicht auf die universellen Ansprüche des idealistischen Systemdenkens erfährt nun ihrerseits eine kritische Revision, die zur Wiederbelebung des Systemanspruchs philosophischen Denkens führt. Heinrich Rickerts Thesen zum System der Philosophie zeigen eine gegenüber Riehls Kritizismus veränderte Ausgangslage der Philosophie. Der Verzicht der Erkenntnistheorie auf konstruktives, universelles Wissen führt dazu, dass das Vernunftinteresse an der »Erkenntnis der Welt in ihrer Totalität« [Rickert 1932, S. 174] nicht mehr durch »theoretische«, sondern »atheoretische« Motive gespeist wird: das philosophische Denken kapituliert vor den »Weltanschauungen«. Dem kann die Philosophie nur entgegenwirken, indem sie nicht einfach auf den Entwurf eines Systems verzichtet. Die Erfahrung ist demnach durch ein System von Begriffen in ihrer Einheit darzustellen – freilich »nicht 194 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

›konstruierend‹ oder ›spekulativ‹«, vielmehr gestützt »auf sachliche Untersuchung« [ebd., S. 175]. Für Rickert gibt es keinen Widerspruch mehr zwischen der erkenntnistheoretischen Grundlegung und dem vermeintlich metaphysischen Interesse der Vernunft, der »Forderung der Universalität« [ebd.], die mit der philosophischen Erkenntnis als solcher verbunden ist. Daraus resultiert der Versuch, den Systembegriff als einen Gegenstandsbegriff erkenntnis- und konstitutionstheoretisch zu fassen. Zum Leitfaden einer solchen nun nicht spekulativen, sondern erkenntnistheoretisch-realistischen Gewinnung eines Konstitutionsbegriffs der Erfahrung als ein System wird das »transzendentale Ideal«, insofern Kant selbst hier einen Weg vorzeichnet, wie die systematische Konstitutionsbestimmung in den Gegenstandsbegriff integriert werden kann. Aufgabe der Vernunft in ihrem Weltgebrauch ist es, das durch Erfahrung gewonnene Wissen in ein System zu bringen auf dem Wege der geordneten Vervollständigung von einzelnen Erkenntnissen zu einem umfassenden Ganzen. In der idealistischen Systemphilosophie wird daraus ein System der Konstitution, hervorgehend aus dem sich selbst und die Welt konstituierenden Subjekt. Die spekulative Subjekt-Objekt-Identität enthält implizite, d. h. als Anlage, die Totalität aller möglichen Formen der Welterfahrung in Gestalt bestimmter »Vorstellungen«, möglicher und zu verwirklichender Objektbeziehungen, die auf dem Wege der fortschreitenden, die Erfahrungen mehr und mehr ergreifenden Begriffsbestimmung als Formen einer sich zu einem System ausbildenden Selbstkonstitution entwickelt werden. Die Kritik der reinen Vernunft unterscheidet von der »Idee« als Form der systematischen Vervollständigung von Einzelerkenntnissen allerdings noch das »Ideal«, den Begriff einer Totalität der Erscheinungen »nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding« [Kant 1968, B 595, A 567]. Durch das »transzendentale Ideal« [ebd., B 600] entsteht der Begriff einer Einzelvorstellung als Totalität, des Dinges als Individuum, gedacht als der Inbegriff seiner wirklichen und möglichen prädikativen Bestimmungen. Mit Hilfe des transzendentalen Ideals wird das Gegebene der Erfahrung zugänglich gemacht zwar nicht durch die faktische Behauptung, wohl aber die Vorstellung und den Begriff seiner vollen Wirklichkeit und Existenz, sein in der Idee vollständig erfasstes Wesen: das principium individuationis eines jeden Dinges, erschlossen durch den schlechterdings überempirischen Begriff seiner vollständi195 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

gen und durchgängigen Bestimmung.19 Dieses Vernunftideal ist nach Kant »das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist: weil nur in diesem einzigen Fall ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt, und die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird.« [Ebd., B 604, A 576]. Hält sich die idealistische, spekulative Fassung des Konstitutionsbegriffs an Kants Weltbegriff, so die erkenntnistheoretische an seinen Gegenstandsbegriff: Aus der Subjekt und Objekt vereinigenden Selbst­ konstitution des Idealismus wird so restriktiv eine Form nur noch der Objektkonstitution. Husserls Formulierung der »Dinggegebenheit als Idee im Kantischen Sinne« verrät damit eine Identifizierung der Kantischen »Idee« mit dem »Ideal«, die offenbar so phänomenologisch selbstverständlich ist, dass eine ausdrückliche Methodenreflexion über diesen Sachverhalt schlicht unterbleibt. Die erkenntnistheoretische Fundierung der Phänomenologie lässt anscheinend keine andere Idee eines Systems der Konstitution mehr zu als diejenige einer im strengen Sinne objektbezogenen Vorstellung, einer »Dinggegebenheit«. Die Nähe dieser phänomenologischen Auffassung des transzendentalen Ideals zur Konstitutionstheorie des Neukantianismus ist hier insofern erhellend, als in ihr gerade die Unvereinbarkeiten zweier in ihrem Ansatz grundverschiedener Begründungen von nachidealistischem Systemdenken zum Vorschein kommen. Die konstitutionstheoretisch motivierte Rekonstruktion eines wirklich vollständigen Systems der Erfahrung durch die Erkenntnis wird auch bei Natorp von einem Begriff der Wirklichkeit geleitet, dem das Kantische »transzendentale Ideal« zugrunde liegt: »Etwas existiert, d.h. aber, dem logischen Sinn des Existenzurteils zufolge: Es ist allseitig bestimmt, so bestimmt, daß nichts unbestimmt bleibt.« [Natorp 1910, S. 331] Der Neukantianismus bleibt hiermit Kants ontologischer Bestimmung des transzendentalen Ideals als ein reines Noumenon verpflichtet, der kein Phaeno­ menon jemals zu entsprechen vermag. Das Ideal der Vernunft nach Kant ist eine Regel der Vernunft, durch die wir den Gegenstand als vollständig und durchgängig bestimmt denken, »obgleich dazu die hinreichenden Bedingungen in der Erfahrung mangeln und der Be19

Es gilt der »Satz: alles Existierende ist durchgängig bestimmt« [Kant 1968, B 206, A 574]. Durch das Ideal wird allerdings »lediglich die notwendige durchgängige Bestimmung der Dinge« vorgestellt, »nicht die Existenz eines solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist, sondern nur die Idee desselben«, behauptet [ebd., B 606, A 578].

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3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

griff selbst also transzendent ist« [Kant 1968 B 509, A 571]. Weil das Ideal ein transzendenter und kein transzendentaler Begriff ist, wird sein Gebrauch in Bezug auf die Erfahrung konstruierend und substi­ tuierend: Vom Begriff der Individualität, der vollständigen und durchgängigen Bestimmung eines Gegenstandes, gibt es keine mögliche Erfahrung, er entsteht vielmehr dadurch, dass die Erfahrung ihrerseits zum Objekt einer transzendenten Begriffsbestimmung wird, d. h. das jeweilige Phaenomenon, die unvollständige Vorstellung eines Dinges umgewandelt wird in ein Noumenon, den vollständigen Begriff eben dieses Dinges. Für Natorp kann ein System des Wissens deshalb nur unter der Bedingung entstehen, dass die unmittelbaren Vorstellungen und Erlebnisse mit Begriffen vermittelt, d. h. in Begriffsbestimmungen schlechterdings aufgelöst werden.20 Der systematischen Rekon­ struk­t ion von Erkenntnissen der Erfahrung geht so die Konstruktion der Erfahrung aus Begriffen stets voraus.21 Der Neukantianismus geht so nicht den methodischen Weg, das transzendentale Ideal als einen Konstitutionsbegriff des Gegebenen, d. h. einen wirklichen Phänomenbegriff, zu fassen. Der logische, intelligible Begriff der Konstitution, die systematische Form der Begriffsdefinition, ist nicht identisch mit dem transzendentalen, dem Erfah­ rungsbegriff der Konstitution als der anschaulichen Vorstellung eines bestimmten Gegenstandes, weswegen Natorps Methode der Konstruktion und Rekonstruktion das Phaenomenon, den Erfahrungsbegriff des Gegenstandes, durch ein Noumenon, den nicht phänomenologisch, sondern rein-logisch gefassten Begriff der Konstitution, restlos ersetzen muss. Husserls Phänomenologie dagegen fasst das transzendentale Ideal und damit den Organisationsbegriff der Konstitution von vornherein als eine phänomenale, intentionale und damit erfahrungs­ immanente Sinngebung auf. Als Limesbestimmung der intentionalen 20

»Vermittlung« im konstitutionstheoretischen Sinne, so wie sie der Neu­kantia­ nis­mus versteht, bedeutet die Ersetzung der unmittelbaren Anschauung durch einen Begriff, weil nur als Form einer »immanenten« Begriffsbestimmung die systematische Ordnung von Erkenntnissen überhaupt möglich ist. Heidegger hebt zu Recht diese Gleichsetzung von Vermittlung und Substitution hervor, das »Umschreiben« von Erlebnissen durch Begriffe, wie sie für Natorps Me­ thode der systematischen Rekonstruktion leitend ist: »Denn auch Be­ schrei­bung verfährt schon in Begriffen; sie ist ein Umschreiben eines Etwas in Allgemeinheiten, sie ist ›Subsumption‹ (Natorp); sie setzt eine gewisse Begriffs­bildung bereits voraus und damit ›Abstraktion‹ (Natorp) und Theorie, d. h. ›Vermittlung‹ (Natorp).« [Heidegger, GA 56/57, S. 101] 21 Vgl. Natorp 1912, S. 196.

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Sinnenthüllung gehört das Noumenon – das Ideal – mit zum Phänomengehalt eines wirklich wahrgenommenen Gegenstandes. Auch Husserl unterwirft freilich – nicht anders als Natorps Kon­ struk­ tion – die Erfahrung der Form der Begriffsbestimmung. Allerdings gehört diese Identität von empirischer und begriff‌licher Gegenstandsbestimmung nun zum Phaenomenon, zum Vollzug der Wahrnehmung selbst als der ihr eigenen Form der konstituierenden Entwicklung. Die systematische Begriffsbestimmung im phänomenologischen Kontext ist keine bloße Konstruktion des Denkens mehr, welche empirische Vorstellungen zu ihrem Objekt hat und damit Phaenomena in Noumena umwandelt, sondern eine Analogie der Konstitution, die besteht zwischen den Systemen der Wahrnehmung und des Begriffs. Zur Wahrnehmungskonstitution gehört ihre spezifische Möglichkeit der Entwicklung durch nähere Bestimmung. Die Auffassung des Gegenstandes, welche die Antizipation des weiteren Wahrnehmungsverlaufes regulierend bestimmt, ist zunächst einmal vage und unbestimmt und bedarf der Konkretisierung. In der phänomenologischen Analyse dieses Sachverhaltes wird die Unbestimmtheit und Bestimmung der Antizipation scheinbar fraglos selbstverständlich als eine unbestimmte Allgemeinheit ausgelegt, die eine bestimmende Besonderung erfährt. Husserl betont ausdrücklich, dass es sich bei diesem Sprachgebrauch um keine bloße Metapher handelt, der Phänomenologe vielmehr methodisch bewusst mit der Analogie von wahrnehmungsmäßiger und begriff‌licher Bestimmung operiert. Den analogen und nicht konstruktiven Sinn unterstreicht Husserls uneigentliche Rede in Anführungszeichen: nicht wirklich Begriff sondern nur »Begriff«: »Die Rede von ›unbestimmter Allgemeinheit‹, die ich soeben gebrauchte, weist allerdings über die Sphäre unserer Analyse hinaus. In der Tat gehört zu jeder Unbestimmtheit eine Allgemeinheit, ein durch einen ›Begriff‹ zu umgrenzender Umfang möglicher Determination; der Umfang bezeichnet in Form eines zu konstituierenden Gedankens die allgemeine Artung desjenigen, was als besondere Bestimmtheit hier fungieren kann. Und diesem logischen Subordinationsverhältnis entspricht das Verhältnis näherer Bestimmung und Bestimmbarkeit innerhalb einer Sphäre bloßer Wahrnehmung.« [Husserl, Hua XVI, § 29, S. 94] Dass die Konstitution den Sinn hat, die Gegenstandsbeziehung mit immer weiteren »Bestimmungen« anzureichern, liegt zunächst an der allgemeingültigen kategorialen Differenzierung von Substrat und Bestimmung, die mit dem Urteil und seiner prädikativen Struktur ur198 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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sprünglich verbunden ist. Die Wahrnehmung selbst enthält zwar noch keine Urteile, Wahrnehmungserkenntnisse werden aber nur durch ihre Artikulation in Urteilen explizit und für das Bewusstsein als solche Erkenntnisse verfügbar. Husserl betrachtet die Erfahrung deshalb nie losgelöst vom Urteil, sondern daraufhin, inwieweit in ihr die Be­ dingungen für die Urteilsevidenz liegen. Offenbar können Erfahrungen nur dann durch Urteile explizit erfasst werden, insofern in der Wahrnehmung die prädikative Struktur eines durch Bestimmungen explizierbaren Substrates bereits impliziert ist.22 Weshalb die Wahrnehmungskonstitution als eine Form der prädikativen Bestimmung ausgelegt wird, die letztlich zum transzendentalen Ideal hinführt, in der »nicht bloß Prädikate untereinander logisch, sondern das Ding selbst, mit dem Inbegriffe aller möglichen Prädikate, transzendental verglichen« wird [Kant 1968, B 602, A 574], ist das Ergebnis eines phänomenologischen Denkwegs, der in den Logischen Untersuchungen beginnt und mit der systematischen Fassung des Konstitutionsbegriffs in Husserls Ideen von 1913 seinen Abschluss findet. Warum auch im phänomenologisch-intentionalen Sinne die Wahr­nehmung diese durch das Ideal vorgegebene systematische Form der Begriffsbestimmung annimmt und notwendig annehmen muss, bleibt allerdings so lange unklar, als nicht gezeigt wird, wie die regulative Funktion des transzendentalen Ideals, durch die sich die Objekt- mit der Begriffsbestimmung überhaupt vereinigen lässt, mit zur intentionalen Sinngebung gehört. Die systematische Erkenntnis resultiert in der Phänomenologie nicht aus einer wahrnehmungsvorgängigen Begriffsvermittlung, d. h. sie entsteht nicht wie etwa bei Natorp aus einer die anschaulichen Erlebnisse in toto substituierenden Begriffskonstruktion. Das bedeutet aber nicht, dass das Problem einer Vermittlung von Wahrnehmungen durch eine im Prinzip wahrnehmungsvorgängige Erkenntnisorientierung im phänomenologischen Zugang zu den »Sachen selbst« einfach verloren ginge. Der Neukantianismus orientiert sich an den Vorgaben der Kritik der reinen Vernunft, wonach die Erkenntnis von Gegenständen nur möglich wird in der Vermittlung einer gegebenen einzelnen Anschauung durch einen allgemeinen Begriff. Setzt man bei der Lösung des Erkenntnisproblems in dieser Weise ganz auf die Begriffsvermittlung, dann erscheint die phänomenologische Methode nahezu zwangsläufig als ein naiver »Intuitionismus«, der auf unmittelbare Erfahrungsgegebenheiten zurück22

Zu dieser Problematik vgl. Kap. I,6.

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greift, ohne auf Fragen der methodischen Erkenntnisvermittlung einzugehen.23 Was die neukantianische Intuitionismuskritk übersieht, ist die fundamentale Gemeinsamkeit, welche auch eine phänomenologische Konstitutionstheorie mit der Kritik der reinen Vernunft teilt: Ihre Ordnung und Organisation erhält die Wahrnehmung dadurch, dass sich in ihr eine im Prinzip wahrnehmungsunabhängige Erkenntnis realisiert. In Husserls Phänomenologie verlagert sich die Problematik der Erkenntnisvermittlung lediglich von einer Frage der Begriffsbildung zu einer solchen ganz und gar unanschaulichen, reinen Bedeutungs­ erfassung. Grundlage dafür ist die ursprünglich alles andere als »intuitionistisch«, nämlich sprachanalytisch fundierte phänomenologische Intentionalitätskonzeption. Husserl gewinnt seinen Intentionalitätsbegriff keineswegs aus einer Analyse der Wahrnehmung. Die Intentionalität ist vielmehr von der Struktur des sprachlichen Ausdrucks her konzipiert, der etwas zu bedeuten gibt. Wie Husserls Vorlesung über Bedeutungslehre von 1908 rückblickend feststellt, formulieren die Logischen Untersuchungen »ein Denken auf Grund bloßer Bedeutungen« [Husserl, Hua XXVI, S. 4] Bloßer Bedeutungen – das will meinen bedeutungsverleihender Akte, die eine Objektbeziehung allein durch die sprachlich vermittelte Bezugnahme auf einen Gegenstand stiften, ohne dass damit notwendig auch eine bestimmte Wahrnehmung oder bildliche Vorstellung dieses Gegenstandes verbunden sein müsste. Dass Husserl vom intentionalen »Meinen« und »Vermeinen« redet, ist kein Zufall.24 Sprachliches Meinen als eine Form der nomi23

24

Eine Erneuerung und Erweiterung dieser neukantianischen Kritik vom geltungstheoretischen Standpunkt aus, ergänzt durch eine kritische Betrachtung des Gedankens der »Vorkonstitution« des Prädikativen bei Husserl, findet sich bei Krijnen. Der genetisch-phänomenologische Begriff der Vorkonstitution darf jedoch nicht mit dem statisch-geltungstheoretischen der Fundierung gleichgesetzt werden. Vgl. dazu Kap. I,6. In der Vorlesung über Bedeutungslehre von 1908 betont Husserl ausdrücklich den »Zusammenhang zwischen Wortlautbewußtsein und Bedeu­tungs­ bewußt­sein« [Husserl, Hua XXVI, § 4, S. 17]. Husserl ist sich bewusst, dass der Ausdruck »Intention« »das Fremdwort für Meinung darstellt« [ebd., § 3, S. 16], und das ist zunächst zu verstehen in einem durchaus originär sprachlichen Sinne, auch wenn Husserl an dieser Stelle die Äquivokationen des sprachlichen und vorstellungsmäßigen Gebrauchs kritisch anmerkt. »Wir pflegen auch zu sagen: ›Mit dem Ausdruck ist etwas gemeint‹ oder ›im Ausdrücken, im Nennen ist etwas gemeint, aber bald ist dieses bloß gemeint und bald wieder zugleich gemeint und anschaulich gegeben.‹« Entscheidend bleibt, dass das sprachlich im Ausdruck sich artikulierende Meinen eine Bezugnahme darstellt, die durch wahrnehmungsmäßige Zuwendung wiederum »er-

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3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

nalen Identifizierung hat die Funktion, auf einen Gegenstand Bezug zu nehmen, auch wenn er nicht unmittelbar »gegeben«, d. h. in keiner Weise wahrnehmbar oder anschaulich vorstellbar ist. Im lakonisch-prägnanten Stil der analytischen Philosophie hat diese intentionale Funktion sprachlicher Bezugnahmen John Searle zum Ausdruck gebracht: »Wir möchten wiederholt auf denselben Gegenstand Bezug nehmen, auch wenn er nicht da ist, und so geben wir ihm einen Namen. Von nun an wird dieser Name dazu benutzt, um über diesen Gegenstand zu sprechen, auf ihn Bezug zu nehmen.« [Searle, S. 288] Mit Husserls Worten: Die Benennung beinhaltet die Bezugnahme durch einen die Sache bloß meinenden und nicht wirklich konkret vorstellenden »bedeutungsverleihenden Akt«. Als eine bloß »signitive« Vorstellung »stellt [sie] nicht durch Analogie vor, sie ist ›eigentlich‹ garnicht ›Vorstellung‹, vom Gegenstande wird in ihr nichts lebendig« [Husserl, Hua XIX, 2, § 21, S. 607]. Aufgrund bloß signitiven Vermeinens wird zwar die Gegenstandsbeziehung ursprünglich gestiftet, sie kann sich so aber unmöglich in ihrer vollen Konstitutionsbestimmung realisieren. Dazu ist es erforderlich, dass sich die rein-intentionale Bezugnahme mit einer vorstellenden und veranschaulichenden Zuwendung zum Objekt – sei es nun ein Bild der Erinnerung oder der Phantasie oder letztlich die den Gegenstand selbst gebende Wahrnehmung25 – verbindet. Die Zuwendung geschieht durch einen »erfüllenden« oder »intuitiven« Akt, der sich mit dem signitiv-bezugnehmenden verbindet und damit die in der Vorstellung noch unrealisierte Gegenstandsbeziehung realisiert. Diese Verbindung der Bedeutung mit einer Vorstellung wird nun zunächst als eine Form der Identifizierung und Bewährung, mithin als Funktion der Evidenzgebung durch die identifizierende »Deckung« des Gegebenen mit dem Gemeinten bestimmt. »Erfüllung stellt sich, auf Grund erster Zuwendung einer Fülle überhaupt, in der identifizierenden Anpassung ›korrespondierender‹ Anschauung an eine signitive Intention ein. Der intuititve Akt ›gibt‹ dem signitiven im Deckungszusammenfüllt« werden kann, indem sich mit dieser Zuwendung die gegenständliche Beziehung mit ihrer Konstitutionsbestimmung realisiert: »Indem die zunächst leere Bedeutungsintention sich erfüllt, realisiert sich die gegenständliche Beziehung.« [Ebd.] 25 »Die Imagination erfüllt sich durch die eigenartige Synthesis der Bild­ ähnlichkeit, die Wahrnehmung durch die Synthesis der sachlichen Identität […].« »Gegenüber der Imagination ist die Wahrnehmung, wie wir es auszudrücken pflegen, dadurch charakterisiert, daß in ihr der Gegenstand ›selbst‹ und nicht bloß ›im Bilde‹ erscheint.« [Husserl, Hua, XIX, 2, § 14 a, S. 588]

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hang seine Fülle.« [Husserl, Hua XIX, 2, § 24, S. 615] »Fülle« bedeutet aber letztlich nicht nur die Möglichkeit, einen gegebenen Gegenstand in der Vorstellung verlässlich identifizieren, sondern auch in der ganzen Komplexität der ihn konstituierenden Bestimmungen realisieren zu können. Die Erwähnung von Napoleon in einer Rede bleibt so lange unbestimmt, als sie nicht durch eine ganze Reihe besonderer Einzelvorstellungen konkretisiert wird. Hier – in der VI. Logischen Untersu­ chung – findet sich bereits der Hinweis auf das »transzendentale Ideal«: »Die komplette Fülle als Ideal ist also die Fülle des Gegenstandes selbst, als Inbegriff der ihn konstituierenden Bestimmtheiten […] Das ›Ideal der Fülle‹ wäre demnach in einer Vorstellung erreicht, die ihren Gegenstand, den vollen und ganzen, in ihrem phänomenologischen Inhalt beschlösse.« [Ebd., § 21, S. 607 f] Die Einführung des Ideals wird offenbar notwendig durch die Besonderheit der Wahrnehmungskonstitution. Solange der »bedeutungsverleihende Akt« die Form einer sprachlichen Bezugnahme behält, beschränkt sich die Funktion der Veranschaulichung darauf, die Gegenstandsbeziehung durch eine der Bedeutung genau korrespondierenden Anschauung zu verifizieren wie in Husserls Beispiel der einfachen Wahrnehmungsaussage »eine Amsel fliegt auf« [Husserl, Hua XIX, 2, § 4, S. 550]. Die Erkenntniseinheit hat stets »den Charakter der Identifizierungseinheit« [ebd., § 13, S. 584]. Die Identifizierung durch Verifikation lässt nur zwei alternative Möglichkeiten zu: Der zunächst bloß bedeuteten Gegenstandsbeziehung entspricht eine anschauliche Vorstellung oder nicht, d. h. die sprachlich artikulierte Bezugnahme ist durch eine wahrnehmungsmäßige Zuwendung entweder realisierbar oder nicht realisierbar. Sämtliche objektivierenden Akte, also nicht nur solche von sprachlichen Bezugnahmen, haben nach Husserl die Struktur der Erkenntnis- und Identifizierungseinheit, in der sich eine Leerintention anschaulich erfüllt [vgl. ebd.,S. 582]. Dass dieser Begriff des objektivierenden Aktes einer methodischen Universalisierung derjenigen Verhältnisse entsprungen ist, welche ursprünglich an der Struktur des sprachlichen Ausdrucks als einer Form der Gegenstandsbeziehung durch Bezugnahmen abgelesen wurden, verrät nicht zuletzt der § 15 der VI. Logischen Untersuchung, der zu der Frage nötigt, ob signitive Intentionen überhaupt außerhalb der – zunächst immer sprachlich gebundenen – Bedeutungsfunktion möglich sind.26 Die 26

Die Überschrift von § 15 lautet »Signitive Intentionen außerhalb der Be­deu­ tungsfunktion« [Husserl, Hua XIX, 2, S. 592]. Dieselbe methodische Proble­

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Ablösung der intentionalen Struktur von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung von der sprachlichen Artikulation führt vor allem dazu, dass die Identifizierungseinheit nicht mehr nur als einfache Verifikation zu denken ist, sondern den Sinn eines komplexen Konstitutionsverhältnisses annimmt, der differenzierenden Entwicklung einer zunächst einfachen Gegenstandsbeziehung im Zuge fortschreitender Gegenstandsbestimmung, wodurch sich die das individuelle Ding ursprünglich gebende Wahrnehmung auszeichnet. Der Ausdruck »schlichte Wahrnehmung« täuscht allzu leicht über die Komplexität der mit ihr verbundenen intentionalen Struktur hinweg. Die Bezeichnung »schlicht« im Sinne von »einfach« zielt bei Husserl darauf, dass sich diese Konstitution in einer und nicht etwa verschiedenen Aktstufen vollzieht27, keineswegs aber auf eine »intuitionistische« Unmittelbarkeit, das schlechthinnige Fehlen von Vermittlungen. »Wir übersehen auch nicht die offenbare Komplexion, die sich im phänomenologischen Gehalt des schlichten Wahrnehmungsaktes und zumal in seiner einheitlichen Intention nachweisen läßt.« [Husserl, Hua XIX, 2, § 47, S. 676] Zur Wahrnehmung gehört eine Form der vorstellungsmäßigen Repräsentation, die Vorstellung und Bedeutung, Zuwendung und Bezugnahme in der Gegenstandsbeziehung vermittelt. Für den Wahrnehmungsgegenstand ist nach Husserl eine Repräsentationsform typisch, die er als »perzeptive Abschattung« bezeichnet [ebd., § 37, S. 646]. Was sich abschattet, ist die »Wahrnehmungsfülle«, also der anschauliche Gehalt, der als eine Folge von Einzelrepräsentationen gedacht ist in verschiedener Abstufung.28 Das weist einmal auf eine Repräsentationsform hin, die den matik behandelt in den Ideen I der § 124: »Die noetisch-noematische Schicht des ›Logos‹. Bedeuten und Bedeutung«. Auch hier geht es um die methodische Erweiterung des Sinnes von »Bedeuten« und »Bedeutung«, der ursprünglich »nur Beziehung auf die sprachliche Sphäre, auf die des ›Aus­drückens‹«, hat [Husserl, Hua III, 1, S. 284 f]. 27 Der phänomenologische Gegensatz zur »schlichten« Erfassung ist »Fun­ dierung«. Das exemplarische Beispiel für einen fundierten Akt ist das Urteil. In Bezug auf die Wahrnehmung kann von Fundierung nicht im Sinne von selbständigen, aufeinander aufbauenden Aktstufen gesprochen werden, sondern nur »in dem Sinne, in welchem ein Ganzes durch seine Teile fundiert ist« [Husserl, Hua XIX, 2, § 47, S. 678]. 28 »Wir bringen uns dabei zur Klarheit, daß sich über die Wahrnehmungsfülle ein Unterschied ausbreitet, dem wir durch die Rede von der perzeptiven Ab­ schattung gerecht zu werden versuchten, ein Unterschied, der […] eine abgestufte Ausbreitung ihres Charakters als ›Fülle‹, also des auffassenden Aktcharakters, bedeutet.« [Husserl, Hua XIX, 2, § 37, S. 646 f]

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Gegenstand notwendig inadäquat vorstellt. Sie gründet im intuitiven Akt der jeweiligen wahrnehmungsmäßigen Zuwendung, die immer nur zu bestimmten Seiten und Aspekten des Gegenstandes erfolgt, d. h. den Gegenstand niemals vollständig, sondern immer nur in einseitigen, wechselnden Orientierungen darstellt.29 Die Bezugnahme in Form der reinen Bedeutungserfassung – die intentionale Erkenntnis­ orientierung – verbindet sich mit einer Zuwendung, einer sie veranschaulichenden Wahrnehmungsorientierung.30 Die Zuwendung meint hier das, worauf wir konkret aufmerksam werden, was in unser Bewusstsein rückt und damit thematisch erfasst wird – keineswegs nur die sinnliche Wahrnehmung, die noch vorintentionale Empfindung, sondern Wahrnehmung hier allgemein und intentional verstanden als eine thematisierende Veranschaulichung, die Konstitution von Bestimmungen des Gegenstandes im wahrnehmenden Bewusstsein.31 Nicht alles, was zur intentionalen Bezugnahme gehört, kann gewissermaßen auf einen Schlag durch wahrnehmungsmäßige Zuwendungen 29 Vgl. Husserl, Hua III, 1, § 98, S. 231. Durch das transzendentale Ideal deutet sich bereits an, dass zur Ausführung einer Phänomenologie der Konstitution eine Phänomenologie der Orientierung gehört – der Gegenstand konsti­ tuiert sich in einer Erkenntnisorientierung, der sich notwendig durch wechselnde Wahrnehmungsorientierungen realisiert. Dass diese nicht einfache, son­dern doppelte Orientierung und damit die Intentionalität als Form der Orientierung nicht eigens thematisiert wird, hängt damit zusammen, dass in der idealen Konstitutionsbestimmung allein die Erkenntnisorientierung als Organisationsprinzip für die Wahrnehmungsorientierung fungiert. Zur notwendigen Erweiterung der Phänomenologie der Konstitution durch eine solche der Orientierung vgl. die methodischen Überlegungen in Kap. III,7. 30 Das Verhältnis von Bezugnahme und Zuwendung wird hier freilich nur aus der Form einer repräsentierenden, darstellenden Konstitution her betrachtet, also »statisch« und nicht »genetisch« als ein sich »immer nur relativ darstellender optimaler Erscheinungssinn« [Husserl, Hua XI, § 4, S. 24]. In genetischer Perspektive kehrt sich das Voraussetzungsverhältnis von Bezugnahme und Zuwendung um: Aus der Weckung von Aufmerksamkeit – der Passivität einer affektiv ausgelösten Zuwendung zum Gegenstand – wird die Weckung von Interesse, eine aktive, selbstvollzogene Bezugnahme. Vgl. dazu Teil C, Kap. III,3. 31 Konstitutionstheoretisch gesprochen ist die Zuwendung nicht nur Hyle, son­ dern Auffassung, insofern sie mit einer intentionalen Sinnenthüllung, der Thematisierung unthematischer Objektbestimmungen, verbunden ist. Auch diese Betrachtung der Wahrnehmung als der Konstitution eines Bewusst­ seinsphänomens bleibt »statisch«, insofern sie nur die systematische Form der Objektbestimmung, aber nicht die bewusstseinsmäßige Realisierung der sie tragenden Objektbeziehung beinhaltet.

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3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

realisiert werden. Sinnüberschüsse, fassbar in den Verweisungen auf die ungesehenen Rückseiten des Dinges, gehören notwendig mit zur perspektivischen Wahrnehmung. Aufgrund dieses Komplexes horizontintentionaler Verweisungen, der in der Konstitution thematisch erfasst und anschaulich bewusst wird, ist der Gegenstand als eine Totalität möglicher auf ihn bezogener repräsentativer Vorstellungen bewusst. Von diesen können sich aber faktisch immer nur diejenigen realisieren, die der jeweiligen Wahrnehmungsorientierung zugänglich sind. Die anderen Objektbestimmungen bleiben deshalb zunächst bloß signitiv »bedeutet« und damit unrealisiert, aber stets verbunden mit dem Bewusstsein ihrer stets möglichen Realisierung durch eine die Leerintention schließlich erfüllende Veranschaulichung. Zu diesem Bewusstsein gehört nun eine Teleologie der Erkenntnisgewinnung mit der Setzung eines abschließenden »Ziel[es] der Erfüllungssteigerung […], in dem die volle und gesamte Intention ihre Erfüllung und zwar nicht eine intermediäre und partielle, sondern eine endgültige und letzte Erfüllung erreicht hat« [ebd., S. 647]. An dieser entscheidenden Stelle der Einführung des transzendentalen Ideals als letztem Erfüllungsziel geht die phänomenologische Deskription geradezu fließend über in die Begriffsbestimmung einer systematisch-konstitutionstheoretischen Betrachtung. Intermediäre und partielle Erfüllungsziele können noch als solche der intentionalen Struktur von Bedeutungsintention und Bedeutungsserfüllung und damit dem Wahrnehmungsgegenstand als Phaenomenon immanent angesehen werden. Die Vorstellung eines absoluten Erfüllungszieles, das in keiner möglichen Wahrnehmung erreichbar ist, bedeutet jedoch die Bildung eines »transzendenten« Begriffs, eines Noumenon, für den zunächst nicht klar ist, wie er sich in den phänomenalen Wahrnehmungssinn einfügt. Wie kommt das Ding zu der in »seiner intentionalen Struktur angelegten Idee« in Form eines über die relativen Optima der Bedeutungserfüllung hinausweisenden ganzen »System[s] aller Optima, die durch Einzeichnung in die optimalen Rahmen gewonnen würden« [Husserl, Hua XI, § 4, S. 23]? Die VI. Logische Untersuchung entwirft ein Modell der Erkenntniseinheit als Identifizierungseinheit, wonach die Bedeutungsintention als solche auf Erfüllung in einer Anschauung tendiert. Aufgabe der erfüllenden Anschauung ist es nicht, das Bedeuten zu ersetzen, vielmehr die Bezugnahme auf den Gegenstand mit einer Zuwendung zu vermitteln, d. h. den bislang ungebundenen Akt des Bedeutens mit einer konkreten Vorstellung zu verbinden: In der Deckungseinheit 205 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

einer Bedeutungsintention und ihrer Erfüllung ist »die Bedeutungsintention, die früher eine ›freie‹ war, […] im Stadium der Deckung ›gebunden‹, zur ›Indifferenz‹ gebracht. Sie ist in dieser so eigentümlich eingewoben oder eingeschmolzen, dass ihr bedeutungsmäßiges Wesen darunter zwar nicht leidet, aber ihr Charakter in gewisser Weise doch eine Modifikation erfährt« [Husserl, Hua XIX, 2, § 9, S. 571] – nämlich die der anschaulichen Erfüllung der Leerintention. Diese Annahme einer »Indifferenz«, einer vollständigen Vermittlung von Signitivem (Bedeutung) und Intuitivem (Vorstellung) ist allerdings auch der Grund dafür, dass es Husserl in den Logischen Untersuchungen nicht wirklich gelingt, das ideale Erfüllungsziel in die intentionale Struktur von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung zu integrieren. Die Gegebenheit des idealen Ziels ist einerseits kein »intuitives« Erlebnis, weil es in der Wahrnehmung niemals wirklich gegeben, sondern immer nur aufgegeben ist. Andererseits kann sie aber auch nicht als »signitive« Leerintention interpretiert werden. Denn dann handelte es sich bei einem solchen Ziel gar nicht um die letzte Erfüllung, sondern eine, die in einem Regress in indefinitum nur immer weitere Erfüllungen forderte. Den Logischen Untersuchungen fehlt eine explizite Untersuchung der noematischen Konstitutionsverhältnisse. Der »natürliche Gang von der Psychologie zur Phänomenologie« [Husserl, Hua III, 1, § 128, S. 296] führt dazu, dass die Konstitution zunächst nur als eine Form angesehen wird, wie der Gegenstand in den mannigfaltigen subjektiven Erlebnissen repräsentiert wird. Damit unterbleibt eine Differenzierung der Gegenstandsbeziehung nicht nur in diesem »noeti­schen«, sondern auch denjenigen dem Gegenstand als solchen zugehörigen »noematischen Strukturen«. Die noematische Betrachtung der Konstitution in den Ideen I führt insbesondere zu einer Differenzierung und Klärung des phänomenologischen Begriffs der Erkenntnis als der erfüllenden Identifizierung einer Bedeutung mit einer Vorstellung. »Das phänomenologische Problem der Beziehung des Bewußtseins auf seine Gegenständlichkeit hat vor allem seine noematische Seite.« [Ebd.] Es zeigt sich somit, dass in Bezug auf den bedeuteten Sinngehalt ein weiteres Konstitutionsverhältnis besteht in der Unterscheidung von »Inhalt« und »Gegenstand«: »Jedes Noema hat seinen ›Inhalt‹, nämlich seinen ›Sinn‹, und bezieht sich durch ihn auf ›seinen‹ Gegenstand.« [Ebd., § 129, S. 297] Was damit konstitutions­ theoretisch eingeholt wird, ist Freges Distinktion von »Sinn« und »Bedeutung« – in Husserls Terminologie: »Bedeutung« und »Gegen206 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

stand«.32 Napoleon als der Sieger von Jena und Verlierer von Waaterloo – einem und demselben Gegenstand können offenbar nicht nur ganz verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden, sondern solche, die sich mit durchaus divergierenden Vorstellungen verbinden. Die inhaltliche Realisierung der Gegenstandsbeziehung weist also unter Umständen eine heterogene Struktur der Bedeutungserfüllung auf, von der die Bezugnahme auf den identischen Gegenstand aber nicht berührt wird. Diese Struktur der noematischen Konstitution, wonach die Gegenstandsbeziehung im Prinzip konstant bleibt in ihren wechselnden vorstellungsmäßigen Realisierungen, enthält im Ansatz die Lösung für das besondere Erkenntnisproblem der Wahrnehmungskonstitution, wie es möglich ist, dass das Erkenntnisziel der vollständigen Identifizierung von Bedeutung und Vorstellung niemals gegeben, sondern in einem Prozess der unendlichen Approximation immer nur aufgegeben ist. Die Wahrnehmung ist in ihrer Konstitution so verfasst, dass streng genommen immer nur ein Teil und nicht etwa die ganze Bedeutungsintention eine Verbindung mit einer Anschauung eingeht, sodass sie sich auf diese Weise von einer undifferenzierten in eine differenzierte Vorstellung von ihrem Objekt verwandelt. Napoleon als der Sieger von Jena und Verlierer von Waaterloo – bei »Napoleon« handelt es sich um einen identischen Gegenstand, der durch eine Mannigfaltig­ keit von Bedeutungen repräsentiert wird. Die noematische Betrachtung der Bedeutungskonstitution ergibt: Die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung und Gegenstandsbestimmung bezieht sich auf die mannigfaltigen Bedeutungen, die einen Gegenstand als das zugrunde liegende Identische nicht etwa selbst ausmachen, ihn vielmehr nur repräsentieren. Sie – und nicht der repräsentierte Gegenstand – unterliegen der Möglichkeit der Umwandlung in Vorstellungen durch Veranschaulichung und damit auch allen möglichen Veränderungen im Rahmen der Konstitution durch weitere Bestimmung und Differenzierung. Nach Husserl »scheidet sich als zentrales noematisches Moment

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Die Unterscheidung von Bedeutung und Gegenstand expliziert Husserl im § 12 der I. Logischen Untersuchung. Ganz im Fregeschen Sinne erläutert Husserl: »Zwei Namen können Verschiedenes bedeuten, aber dasselbe nennen. So z. B. der Sieger von Jena – der Besiegte von Waterloo; das gleichseitige Dreieck – das gleichwinklige Dreieck.« [Husserl, Hua XIX, 1, § 12, S. 53] Zu Freges Terminologie kritisch Stellung nimmt Husserl in § 15 mit ausdrücklichem Ver­ weis auf dessen Schrift Über Sinn und Bedeutung [ebd., § 15, S. 58].

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

aus: der ›Gegenstand‹, das ›Objekt‹, das ›Identische‹, das ›bestimmbare Subjekt seiner möglichen Prädikate‹ – das pure X in Abstraktion von allen Prädikaten – und es scheidet sich ab von diesen Prädikaten, oder genauer, von den Prädikatnoemen« [Husserl, Hua III, 1, § 131, S. 302]. Die Bezeichnung des identischen Gegenstandes als »X« deutet darauf hin, dass dieser zentrale Kern des Noema eine »abstrakte«, d. h. absolut unbestimmte und ungebundene Bedeutung verkörpert, der durch keinerlei Vorstellung direkt zu veranschaulichen und näher zu bestimmen ist. Von diesem noematischen »X« unterschieden sind alle vorstellungsmäßig konkretisierbaren Gegenstandsbeziehungen, die Husserl hier »Prädikatsnoemen« nennt. Sie bestehen aus »sachhaltig bestimmten oder auch ›unbestimmten‹ (›leer‹ vermeinten) ›Prädikaten‹, und diese in ihrer modifizierten Bedeutung bestimmen den ›Inhalt‹ des in Rede stehenden Gegenstandskernes des Noema« [ebd., § 130, S. 301]. Prädikatsnoemen sind solche gegenständlichen Bedeutungen, die prinzipiell durch veranschaulichende Vorstellungen inhaltlich und sachhaltig bestimmt werden. Ihre Bedeutungsintentionen enthalten somit Erfüllungsziele, die jeweils konkret erreichbar sind, aber mit Blick auf das absolute Erfüllungsziel unvollkommen bleiben. Dass der Gegenstand darüber hinaus so etwas wie »einen geschlossenen Inbegriff« [ebd.] aller möglichen vorstellungsmäßigen Inhalte enthält, ergibt sich aus der immer doppelten, noetischen und noematischen Repräsentation. Die zu den Prädikatsnoemen gehörende Konstitution ist die noetische einer Erfüllung von Bedeutungsintentionen durch konkrete Vorstellungserlebnisse, die den zunächst nur leer vermeinten Sinn mit Anschauungsgehalten anreichern. Noematisch dagegen kann die Identifizierung der Bedeutung mit der Vorstellung nicht wiederum durch ein solches veranschaulichendes Bewusstseinserlebnis erklärt werden: Der Gegenstand als noematisches X ist kein Objekt einer möglichen Vorstellung. Gleichwohl gehört es aber zu seiner Konstitution, dass er als Limesbestimmung in den Prozess der Vorstellung und Veranschaulichung integriert wird. Dazu ist es lediglich erforderlich, die Unbestimmtheit nicht nur abstraktiv, sondern im Hinblick auf den Erkenntnisprozess der Erfahrung zugleich konkret als uneingeschränkte Bestimmungsmöglichkeit zu denken: Jede bestimmte Erfüllung weist über sich hinaus auf weitere Bestimmungen und Erfüllungen – nicht etwa in indefinitum, sondern in infinitum, insofern die jeweilige Bestimmung mit Hilfe des transzendentalen Ideals im Sinne Kants als Einschränkung einer Totalität, einer absolut »einige[n] allbefassende[n] Erfahrung« [Kant 1968, B 610, A 582] gedacht wird. Das 208 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

Ideal der vollständigen und durchgängigen Bestimmung, phänomenologisch gefasst als eine Form der intentionalen Bedeutungserfüllung, versetzt diese insgesamt in den Konjunktiv einer faktisch unerreichbaren Idee und erscheint deshalb immer wieder formuliert in einem modalisierenden »Als-ob«: Die bedeutete Gegenstandsbeziehung, auch wenn sie faktisch niemals vollständig durch Vorstellungen repräsentiert wird, ist doch so gegeben, als ob sie dieses zumindest wäre: In der Vernunftthesis »wäre der Gegenstand nicht unvollständig, nicht bloß ›einseitig‹ gegeben. Der ihr als Materie unterliegende Sinn würde für das bestimmbare X nach keiner auffassungsmäßig vorgezeichneten Seite irgend etwas ›offen‹ lassen: keine Bestimmtheit, die noch nicht feste Bestimmtheit, kein Sinn, der nicht vollbestimmter, abgeschlossener wäre« [Husserl, Hua III,1, § 142, S. 329]. Der Gegenstand, auf diese Weise definiert in seiner »absoluten und vollständigen Bestimmtheit«, enthüllt sein transzendental-ideales »absolut individuelle[s] Wesen« [Husserl, Hua XI, § 4, S. 21], der phänomenologisch »all das ist, als was ihn der Prozeß der Wahrnehmung und alle weiteren möglichen Wahrnehmungsprozesse zur Bestimmung bringen würden. So gehört zu jeder äußeren Wahrnehmung eine im Unendlichen liegende Idee, die Idee des voll bestimmten Gegenstandes, der durch und durch bestimmter, durch und durch gekannter wäre und jede Bestimmung an ihm rein von aller Unbestimmtheit; und die volle Bestimmung selbst ohne jedes plus ultra an noch zu Bestimmendem, offen Verbleibendem« [ebd., S. 20]. Wird die Bedeutungserfüllung in dieser Weise von einem transzendentalen Ideal geleitet, dann nimmt sie notwendig auch diejenige Form der Konstitution an, die zu einem solchen Noumenon gehört: die systematische Begriffsbestimmung. Die Äquivalenz der Objekt- mit der Begriffsbestimmung, die den erkenntnistheoretischen Konstitutionsbegriff überhaupt auszeichnet, ist damit keineswegs nur historisch, sondern sachlich begründet. Das zeigt sich gerade auch in einer »Phänomenologie der Vernunft«33. Das Verhältnis des empirisch Gegebenen zu seinem Ideal ist das der Einschränkung einer Totalität. Verschiedene »Sinne beziehen sich auf denselben Gegenstand, eben sofern sie in Sinneseinheiten einzuordnen sind, in welchen die bestimmbaren X der geeinigten Sinne miteinander und mit dem X

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So die Überschrift des zweiten Kapitels des vierten Abschnitts der Ideen I mit dem Titel »Vernunft und Wirklichkeit« [§ 128 ff. bzw. § 136 ff].

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

des Gesamtsinnes der jeweiligen Sinneseinheit zu Deckung kommen« [Husserl, Hua III, 1, § 131, S. 303 f]. Bei der noematischen, durch das Ideal bestimmten Form der Repräsentation geht es um die Einordnung von Totalitäten, von einem »Gesamtsinn« in einen anderen, die nur in der Form einer Implikation von Bedeutungsumfängen, mithin der die Begriffsbestimmung auszeichnenden Ordnung durch Subordination, der Über- und Unterordnung von Bestimmungen, denkbar ist. In Bezug auf die noetischen Erfahrungsverläufe führt diese systematische Ordnung des Noemas dazu, dass »ein a priori bestimmtes Kontinuum von Erscheinungen« [ebd., § 143, S. 331] entsteht, die kontinuierlichen Verläufe »zusammenhängend geordnet« [ebd.] werden. Vielerlei Kontinua bilden so ein Kontinuum, sodass nun »jede beliebige Linie desselben in der stetigen Durchlaufung einen einstimmigen Erscheinungszusammenhang ergibt« [ebd.]. Das transzendentale Ideal organisiert also auch die Erlebnisse systematisch, indem es ein »lineares Kontinuum« entstehen lässt, dessen Geschlossenheit auf einer im strengen Sinne sukzessiven Ordnung aller Erscheinungen beruht.34 Die phänomenologische Fundierung des transzendentalen Ideals in einer Form von empirischer Erkenntnis, der Wahrnehmungskonstitution, wirft die Frage nach seinem ontologischen Status auf. »Das X ist nicht nur in voller Bestimmtheit gemeint, sondern in eben dieser originär gegeben.« [Husserl, Hua III, 1, § 142, S. 329] Das transzendentale Ideal ist nicht bloß gemeint, sondern gegeben – die Methode der Phänomenologie verlangt ihrem eigenen Anspruch nach auf gegebene Gegenständlichkeiten zurückzugreifen und nicht konstruktiv vorzugehen. Sie kann deshalb den Phaenomena ein Noumenon wie das Ideal der individuellen, vollständigen und durchgängigen Bestimmung nicht einfach überstülpen zum Zweck der Konstruktion und Rekon­ struktion eines Systems von Erkenntnissen, wie es in der rein begriff‌lichen Verwendung des Ideals etwa bei Natorp geschieht. Das Noume­ non gehört als eine Gegebenheit der Erfahrung zum Phaenomenon als dessen transzendentaler Limes. Es ermöglicht die Erkenntnis- und Identifizierungseinheit im Falle der inadäquaten Erscheinung, der un-

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Die Frage nach einem einheitlichen Zeitkontinuum beschäftigt Husserl in den Analysen zur passiven Synthesis, wo es um die Begründung einer alle zeitlichen Ereignisse umfassenden sukzessiven Ordnung geht. Es kann im »inneren Zeitbewußtsein« nur eine Zeit und nicht etwa verschiedene Zeiten geben: »Es ist nur eine Zeit, in der alle Zeitverläufe der Gegenstände verlaufen.« [Husserl, Hua XI, § 27, S. 127] Vgl. Teil B, Kap. III,4.

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3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

vollkommenen Bedeutungserfüllung, die auf ein absolutes Erfüllungsziel hin lediglich extrapoliert wird. Das transzendentale Ideal in die phänomenologische Konstitutionsbestimmung einzuführen, ist demnach keine bloß objektivierende Begriffskonstruktion auf der Grundlage von rein theoretischen Motiven der Erkenntnisgewinnung, die nicht wirklich in den »Phänomenen« gründen, wie das Heideggers in dieser Hinsicht allzu pauschale Kritik des Konstitutionsbegriffs unterstellt.35 Husserls Phänomenologie der Konstitution arbeitet vielmehr mit einer methodischen Idealisierung, die auf einer lebensweltlichen Idealisierung als deren Grundlage aufbaut. Nur wenn die in der Bedeutungsintention immer schon angelegte ideale Erfüllungstendenz – die angestrebte Identität von Bedeutung und Vorstellung – auf das transzendentale Ideal hin extrapoliert wird, verrennt sich das empirische Erkenntnisinteresse nicht in der Widersinnigkeit eines »voreiligen Skeptizismus« [Husserl, Hua XI, § 4, S. 21]. Zum Weltbegriff der Konstitution gehört freilich, dass nicht nur die in der cogitatio implizierten intentionalen Bestimmungen ein vollständiges System bilden, sondern auch die in der Selbstkonstitution systematisch vereinigten Objektbeziehungen. Auch das »große System der konstitutiven Subjektivität« [Husserl, Hua XVII, § 192, S. 277] unterliegt dem transzendentalen Ideal, als die Objektbeziehungen hier ein vollständig und durchgängig bestimmtes System von Fundie­ rungszusammenhängen bilden. Hier ist der Gegenstandsbestimmung analog »eine universale konstitutive Synthesis« in der Vorstellung als »gegeben« anzunehmen, insofern »alle Synthesen in bestimmt geordneter Weise zusammen fungieren« [Husserl, Hua I, § 22, S. 90]. Das »Zusammen fungieren« deutet hin auf solche die »mannigfaltigen, sich konstituierenden Gegenstandskategorien« »übergreifende[n] Funktionen« der Konstitution [Husserl, Hua XVII, § 107 c), S. 293 f], die auch bei Husserl durch das Kulturobjekt36 exemplarisch verdeut35 36

Vgl. dazu Teil B, Kap. I,2. Das philosophische System nach Heinrich Rickert ist »heterologisch«. Die Vielheit der Seinsarten kann deshalb nicht wie bei Hegel aus einem alles integrierenden spekulativen Einheitsprinzip konstruktiv abgeleitet werden. Das exemplarische Beispiel für ein heterologisch gegebenes und der Erfahrungswirklichkeit zu entnehmendes System ist deshalb bei Rickert – nicht anders als bei Husserl – das Kulturobjekt. In ihm steckt eine nicht nur eine einfache, sondern komplexe Objektbeziehung, eine Synthesis von Naturobjekt und Wertobjekt, was auf den Fundierungszusammenhang eines auf die Naturkausalität aufbauenden Systems der Werte hinweist. Vgl. Rickert 1932, S. 176 ff.

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

licht werden.37 Dass es eine phänomenologische Theorie nicht nötig hat, bei der näheren Erläuterung solcher »übergreifender Funktionen« der Konstitution auf ein Ich als abstraktes Beziehungszentrum38 und damit bloße Reflexionsbestimmungen zurückzugreifen, die keine wirklichen Objektbestimmungen ausmachen, liegt an der systematischen Interpretation der Fundierung durch die Struktur der Intentionalität. Husserl betont von Anfang an die systematischen Zusammenhänge der Konstitution, wonach die Erkenntnisakte keine »zusammenhanglose[n] Einzelheiten« darstellen, sondern sich in »Gruppen« zusammenschließen [Husserl, Hua II, S. 75]. Verantwortlich für solche lückenlosen Zusammenhänge der Fundierung sind »teleologische Zusammengehörigkeiten«, die entstehen durch die komplexen Verbindungen von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung [ebd.]. Verschiedene Konstitutionsstufen lassen sich einerseits unterscheiden und zugleich als auseinander hervorgehend denken als Modi der Abwandlung einer ursprünglichen Evidenz, wie etwa bei der Ablösung der Wahrnehmung durch eine frische Erinnerung [ebd., S. 74]. Daraus lässt sich das Grundmodell einer systematischen Konstitution auch der Fundierungszusammenhänge entwickeln, indem »kontinuierlich sich aneinanderschließende und abwandelnde Evidenzen zusammen fun­ gieren« [Husserl, Hua XVII, § 107 c, S. 293]. Das »Zusammen-fungieren« erläutert das Beispiel des Übergangs der Wahrnehmung in die Erinnerung. Erinnerungsbilder sind phänomenologisch betrachtet keine bloß abgeblassten Wahrnehmungen, wie es einer in der empirischen Psychologie durchaus gängigen Vorstellung entspricht.39 Die Erinnerung konstituiert ein eigenständiges Erinnerungsobjekt, das sich so auch durch eine eigene Form der Evi37

38

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»Jedes Kulturobjekt ist ein Beispiel. Die Idealität, die sein eigentümliches Sein ausmacht, ›verkörpert‹ sich in seiner materiellen (durch ihn ›ver­geistigten‹) Gegenständlichkeit, und danach ist die Evidenz der objektiven Kultur­ bestimmtheit fundiert in einer naturalen Evidenz, und mit ihr innig verflochten.« [Husserl, Hua XVII, § 107 c, S. 294] Exemplarisch hierfür Husserls Kritik an Natorps Begriff des »Ich als das sub­jektive Beziehungszentrum zu allen mir bewußten Inhalten« in der V. Logischen Untersuchung [Husserl, Hua XIX, 1, § 8, S. 372]: »So eindrucksvoll diese [Natorps, d. Verf.] Ausführungen auch sind, ich vermag sie bei genauer Erwägung nicht zu bestätigen.« [Ebd., S. 373] Eine systematische Kritik dieser Auffassung findet sich in Sartres phänomenologischer Studie Das Imaginäre. »Zweifellos hat es Psychologen gegeben, die bestritten, daß wir im Grenzfall einer intensive Vorstellung von einer schwachen Wahrnehmung unterscheiden könnten.« [Sartre, S. 43]

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3) Das transzendentale Ideal der systematischen Objektbestimmung

denzgebung auszeichnet. Gleichwohl ist die Erinnerung intentional betrachtet die Erinnerung an eine gewesene Wahrnehmung, d. h. ihre Evidenz ist nicht voraussetzungslos und damit stets verbunden mit der Wahrnehmungsevidenz. Was im Falle der Abwandlung der Wahrnehmung in eine erste, noch ganz »frische« Erinnerung geschehen ist, kann sich nun in der Erinnerung wiederholen: Es gibt Erinnerungen von Erinnerung usf., weiter können solche Erinnerungen wiederum die Grundlage dafür sein, dass sich noch ganz andersartige Vorstellungen wie Träume oder Fantasien entwickeln. Alle diese verschiedenen Vorstellungen haben ihr Objekt und bilden deshalb aufeinander unreduzierbare selbständige Konstitutionsstufen. Gleichwohl sind sie im Hinblick auf ihre Evidenz miteinander verflochten in einem Abwandlungskontinuum. Daraus lässt sich nun ein Begriff der Systembildung entwickeln im Sinne der Ordnungsrelation von Ursprung und Abgeleiteten: Die mannigfaltigen, möglichen Objektbeziehungen können als die systematische Entfaltungen einer ursprünglichen Objektkonstitution betrachtet werden, die sich durch solche aus ihr sich ableitenden Objektbeziehungen gewissermaßen selbst vervielfältigt. Die Gegenstandsbeziehung wird ursprünglich gestiftet durch die Wahrnehmung. Hier – und nur hier – hat die Gebung des Gegenstandes den Charakter der direkten Erfassung der »Sache selbst« in der Erfahrung.40 Die Gegebenheit eines individuellen Gegenstandes bildet als die »fundierende« unterste Stufe gleichsam die Quelle der Selbstund Evidenzgebung und gibt als eine solche letztfundierende Schicht für sämtliche höhere Konstitutionsstufen damit schließlich auch den intentionalen Fundierungszusammenhängen das »transzendentale Ideal« und seine systematische Form der Objektbestimmung als Erfüllungsziel vor.41 40

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Zur Problematik der Selbstgebung idealer Gegenstände und der Möglichkeit, die ontologische Differenz von Idealem und Realem, von Wesen und Faktum durch die Vorkonstitution auch von Erkenntnisgegenständen in der Wahr­ nehmung in Form einer differenzierenden diakritischen Entwicklung gene­ tisch zu erklären vgl. Teil B, Kap. II,1 und 2. Damit kommt letztlich zum Ausdruck die »Rückbeziehung aller Wahrheiten auf eine Welt von Individuen« [Husserl, Hua XVII, § 83, Überschrift, S. 212]. Diese Begründung auch des Systems der Fundierung durch das transzendentale Ideal hat Husserl freilich selbst nicht geleistet, sie kann hier aber bruchlos in die systematischen Betrachtungen zur Konstitution eingefügt werden. Zu beachten ist freilich, dass das transzendentale Ideal als ein solches der Wahr­nehmungskonstitution die Form der Evidenzgebung nur für die systematische Entwicklung von Fundierungszusammenhängen vorgibt, nicht für

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

4)

Die Erzeugung und reproduktive Aktualisierung eines Habitus: Der Konstitutionsbegriff der genetischen Phänomenologie

Die von Heidegger empfundene Peinlichkeit der Phänomenologie, wonach die Intentionalität einfach »vom Himmel« fällt42, weist hin auf den blinden Fleck ihrer konstitutionstheoretischen Grundlegung: »Konstitution« meint phänomenologisch-erkenntnistheoretisch gedacht die vorstellungsmäßige Realisierung einer Bedeutung. Sie setzt das Zustandekommen der Gegenstandsbeziehung durch die reine Bedeutungsintention und damit eine Erkenntnisorientierung des Bewusstseins immer schon voraus, fragt demnach niemals nach der Ent­ stehung des intentionalen Sinnes. In der Konstitutionsbestimmung scheint es deshalb nur um die Möglichkeit der Veranschaulichung gehen zu können, d. h. die intentional notwendig nachgängige Genese von solchen in der bedeuteten Gegenstandsbeziehung schon implizit enthaltenen Sinnmomenten. Damit erhebt sich die kritische Frage, ob eine genetische Betrachtung schließlich auch der intentionalen Beziehung selbst nicht den Sinn der Konstitutionsbestimmung überhaupt aufhebt. Verwandelt sich auf diese Weise nicht die Objektgebung in eine Konstruktion? Gibt die Phänomenologie ihr Fundament der intentionalen Erkenntnisbegründung damit nicht endgültig preis und verwandelt sich in eine idealistische Theorie der Selbstkonstitution mit der Annahme eines transzendentalen Ego, das sich selbst und seine Objektbeziehungen schlechthin selber setzt? In einem methodischen Entwurf von 1921 identifiziert Husserl wenig glücklich die statische Betrachtung mit der »konstitutiven Phänomenologie«, die dann durch eine »Phänomenologie der Genesis« fundiert wird, sodass der falsche Eindruck entstehen kann, als sprenge die genetische Analyse jeglichen intentional-konstitutionstheoretischen Rahmen.43 Die bei Hus-

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die ein­zel­nen Fundierungsebenen, sodass die geltungstheoretisch begründete Selb­ständigkeit der Konstitutionsstufen – der Wahrnehmung, Erinnerung, Fantasie als jeweils originäre Formen der Evidenzgebung – davon nicht berührt wird: Das imaginäre Objekt ist keineswegs vollständig und durchgängig bestimmt; es weist Lücken und »Unbestimmtheitsstellen« im Aufbau aus, wie das die phänomenologischen Untersuchungen von Jean-Paul Sartre [Sartre] und Roman Ingarden [Ingarden 1960 und 1968] gezeigt haben. »Was mich von jeher beunruhigt: Ist Intentionalität vom Himmel gefallen? Wenn ein Letztes: in welcher Letztheit hinzunehmen? Doch nicht gesichert in einer bestimmten theoretischen Auffindbarkeit und Erfahrbarkeit. Daß ich intentional leben und ›sein‹ muß, ›erklären‹!« [Heidegger, GA 61, S. 131] Die Abhandlung mit dem Titel Statische und genetische phänomenologische

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4) Die Erzeugung und reproduktive Aktualisierung eines Habitus

serl fehlende ausdrückliche Methodenreflexion auf die Wandlungen des Konstitutionsbegriffs führt dazu, dass die Rede von »generieren«, »erzeugen« eine oftmals verwirrende Vieldeutigkeit aufweist, die letztlich nicht systematisch und methodisch aufgeklärt wird. Husserl verwendet »Konstitution« im Sinne von Eugen Fink als einen lediglich operativen Begriff44, der ursprünglich als Form der intentionalen Objektbestimmung gedacht ist und sich entsprechend den Veränderungen der Intentionalitätskonzeption flexibel anpasst. In dem Moment, wo sich der genetische Sinn von Konstitution nun nicht mehr auf die Entwicklung von intentionalen Sinnimplikationen beschränkt, sondern das »Erzeugen« der intentionalen Beziehung selbst beinhaltet, muss die intentionale Fundierung der Konstitutionsbestimmung letztlich fraglich werden und damit die Möglichkeit einer phänomenologisch und nicht idealistisch begründeten Konstitutionstheorie überhaupt.45 Der entscheidende Hinweis auf den intentionalen Sinn auch der genetischen Konstitution lässt sich Husserls Bestimmung des »Ich als Substrat von Habitualitäten« [Husserl, Hua I, § 32, Überschrift, S. 100] entnehmen. Die genetische Phänomenologie ist eine Theorie der Habitualisierung, mit dem »Erzeugen« als einer Form der Objektsetzung ist demnach der Erwerb und die Erhaltung – also die Produktion und Reproduktion – der Gegenstandsbeziehung als ein habituell verfügbares Bewusstseinsobjekt gemeint. Die Grundbedeutung der phänomenologischen, intentionalen Konstitution, die Realisierung eiMethode findet sich in den ergänzenden Texten in Husserl, Hua XI, S. 336 ff. Husserl unterscheidet – in deutlicher Anknüpfung an Dilthey – zwischen »be­ schreibender« (statischer) und »erklärender« Phänomenologie [ebd., S. 340]. Die Phänomenologie überhaupt wird eingeteilt in »1) Universelle Phänomenologie der allgemeinen Bewußtseinsstrukturen 2) Konstitutive Phänomenologie 3) Phäno­menologie der Genesis« [ebd., Fußnote 1]. 44 Vgl. Fink, S. 231 ff. 45 Husserl reflektiert auf die Wandlungen der Intentionalitätskonzeption, wenn etwa in den Ideen I die Beschränkung der Logischen Untersuchungen auf die Akt­ intentionalität und Nichtberücksichtigung der Horizontintentionalität selbst­ kritisch betrachtet und die noematische Seite der Konstitutionsbestimmung be­tont wird. Die veränderte Auffassung der Konstitution folgt hier der sich wandelnden Intentionalitätskonzeption, die deshalb nicht eigens thematisiert wird. Solange die Konstitution lediglich als Form der Objektbestimmung begriffen wird, ist sie in der Tat ein bloßer Aspekt der Entwicklung einer intentionalen Beziehung. Zur Problematik der Konstitution im Zusammenhang der sich wandelnden Intentionalitätskonzeption vgl. Eliabeth Ströker: Inten­ tio­nalität und Konstitution. Wandlungen des Intentionalitätskonzepts in der Philosophie Husserls.

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

ner gegebenen Objektbeziehung im Bewusstsein, bleibt damit auch im genetisch-»schöpferischen« Sinn von Konstitution einer »erzeugenden Spontaneität« erhalten.46 Insofern sie das Erzeugen keineswegs als die voraussetzungslose Konstruktion eines Erkenntnisobjekts, sondern lediglich die Konstitution des Erkenntnisobjekts als ein habituell verfügbares Bewusstseinsobjekt versteht, erweist sich die genetische Betrachtung nicht als Bruch, sondern konsequente Erweiterung der statischen Analyse.47 Die statische Phänomenologie hat es im Grunde versäumt, für die Stiftung der intentionalen Beziehung ein Konstitutionsverhältnis auszuweisen, insofern sie die vorstellungsmäßige Realisierung der Objektbeziehung im Bewusstsein als die nachträgliche Veranschaulichung einer Leerintention versteht, die für ihr Zustandekommen keineswegs erforderlich ist. Die Bezugnahme auf einen Gegenstand ist jedoch kein schlechterdings voraussetzungsloser Akt, er beruht auf dem, was die genetische Phänomenologie eine »Vorkonstitution« nennt. Damit etwa der Gegenstand wahrnehmungsvorgängig identifiziert werden kann, muss sich eine reine Erkenntnisorientierung im Bewusstsein bereits vorkonstituiert haben, die Wahrnehmungs- und Erkenntnisorientierung, assoziative und gegenständliche Erfassung, voneinander trennt.48 Die Aufgabe, einen Gegenstand im Bewusstsein zu konstituieren, besteht demnach nicht bloß in der Sinnerfüllung, der Ergänzung eines Aktes (der bloßen Leermeinung) durch einen anderen (der Anschauung), vielmehr darin, die Disposition für einen solchen Aktvollzug durch einen vorbewussten Habitus bereitzustellen, der auf seine Aktualisierung im Bewusstsein hindrängt. Allein die Tatsache, dass die Habitualisierung nunmehr als ein Problem der phänomenologischen Konstitution begriffen wird, stellt einen methodischen Einschnitt dar, der nicht mehr und weniger als die antinaturalistische Grundlage der Phänomenologie – die Mög46 In Erfahrung und Urteil kennzeichnet Husserl die Konstitution von Ver­stan­ des­gegenständlichkeiten als eine »schöpferische, Gegenstände selbst erst erzeugende Spontaneität« [Husserl 1972, § 43 b, S. 233]. 47 Husserl fragt sich selbstkritisch, ob die bloße Gegenüberstellung von statischer und genetischer Betrachtung ausreichend ist, »man eine systematische Phänomenologie der statischen Zusammenhänge wie der von Noesis und Noema zustande bringen kann«, wobei »Genetisches dabei völlig auszuschalten ist« [Husserl, Hua XI, S. 344]. In diesem Sinne vertritt Don Welton die kon­sequente These einer Kontinuität des genetisch-phänomenologischen An­ satzes seit den Logischen Untersuchungen [vgl. Welton, Part I]. 48 In der »Vorkonstitution« prädikativer Leistungen verbirgt sich das Problem der Begriffsgenese. Vgl. dazu das folgende Kap. I,6.

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4) Die Erzeugung und reproduktive Aktualisierung eines Habitus

lichkeit einer schlechterdings irrelativen, antipsychologistischen Erkenntnisbegründung überhaupt – in Frage stellt. Der Habitus ist den Logischen Untersuchungen zufolge ein Vollzugs- und kein intentionaler Bezugssinn.49 Die Gegenstandsbeziehung als eine Erkenntnisbeziehung kommt auch nach Husserl durch einen Akt der Identifizierung zustande. Husserl charakterisiert die Klasse der objektivierenden Akte und ihre Synthesis des Erkennens insgesamt dadurch, dass sie »in Ansehung der Gegenstände Einheit der Identifizierung ist« [Husserl, Hua XIX,2, § 13, S. 82]. Die Identifizierungseinheit wird dabei ausschließlich vom singulären Aktvollzug her als die identifizierende Deckung zwischen Bedeutung und Vorstellung, einem signitiven, bedeutungsverleihenden und intuitiven, bedeutungserfüllenden Akt verstanden.50 Diese Auffassung der Erkenntniseinheit als Identifizierungseinheit gibt sich als konstitutionstheoretisch damit zu erkennen, dass sie das den Gegenstand identifizierende Erkennen rein funktional als die Form versteht, wie sich der Gegenstand als Bewusstseins­ inhalt jeweils vorstellungsmäßig repräsentiert. Gemäß der Grundbedeutung der intentionalen Konstitution, eine zunächst nur bedeutete Gegenstandsbeziehung vorstellungsmäßig zu realisieren, wird die Erkenntnisleistung der Identifizierung gedacht als eine die intentionale Beziehung überhaupt erfüllende und klärende Veranschaulichung und somit schließlich Wahrheit und Evidenz verbürgende adaequatio intellectus ad rem verstanden51 – die funktionale Entsprechung von signitiven und intuitiven Repräsentanten.52 Was eine solche intenti49 Die Unterscheidung von Bezugs- und Vollzugssinn stammt vom frühen Heidegger [Heidegger, GA 59, 60 und 75]. Vgl. dazu Teil C, Kap. I,3. 50 Es wandelt sich nicht nur der bedeutungsverleihende in einen bedeutungserfüllenden Akt, »beide sind eins im Charakter der identifizierenden Deckung« [Husserl, Hua XIX, 2, § 13, S. 583]. 51 Husserl spricht von der »Vergleichung von Bedeutungsintentionen und ihren korrelativen Anschauungen in der statischen und dynamischen Einheit der identifizierenden Deckung« [Husserl, Hua XIX, 2, § 25, S. 618]. Ziel dieser Angleichung ist »die adäquate Wahrnehmung [als] das Ideal«, als »Selbst­ erfassung des vollen und ganzen Objekts« [ebd, § 23, S. 614]. 52 Nach Husserl ist die intentionale Auffassung repräsentativ. »Wir nennen daher die phänomenologische Einheit zwischen Materie und Repräsentanten, sofern sie den letzteren den Charakter als Repräsentanten verleiht, die Form der Repräsentation, und das durch sie hergestellte Ganze jener beiden Momente Repräsentation schlechthin.« [Husserl, Hua XIX, 2, § 26, S. 621] Die Erkenntnisfunktion der Identifizierung ist mit dieser Repräsentationsfunktion der Auffassung verknüpft, von dem Anschauungsgehalt ist es »nur ihr reprä­ sentierender Inhalt […], was dem signitiven Akte wesentlich die Stütze ver-

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

onal-funktionale Betrachtung ausdrücklich ausblendet, ist der repro­ duktive Charakter des Erkennens als eine Form des Wiedererkennens. Reproduktives Wiedererkennen setzt voraus, dass sich die aktuelle Wahrnehmung oder Vorstellung mit einer Erinnerung verbindet: Das, was einmal Gegenstand der Erkenntnis in einem Aktvollzug war, wie­ derholt sich in anderen, diesem gleichenden oder zumindest ähnlichen Aktvollzügen. Den Logischen Untersuchungen zufolge gehört diese reproduktive, wiederholende Identifizierung im strengen Sinne nicht zur Konstitution, sondern zu den lediglich psychologisch wechselnden Bedingungen, wie sich eine Erkenntnis in den unterschiedlich­sten individuellen Erlebnissen jeweils realisiert. Die Grundlage für die Reproduktion ist die mögliche Vervielfältigung von Aktvollzügen, die nach Husserl dem psychologischen Gehalt von Erlebnissen eignet, die sich in der Zeit individualisieren, während die ideal-eine Bedeutung53 in dieser »unbegrenzten Mannigfaltigkeit individueller Erlebnisse […] überall ein Identisches, […] dasselbe im strengsten Sinne des Wortes« bleibt. [Husserl, Hua XIX,1, § 31, S. 105] Warum Husserl auf dieser strikten Trennung der Identifizierung als Form der Konstitution von der individualisierenden Reproduktion und Wiederholung beharrt, macht seine kritische Betrachtung der genetisch-psychologischen Herleitung gegenüber deutlich, wonach sich die Identität der Bedeutung aus der Möglichkeit der vollzugsmäßigen, identischen Reproduktion ursächlich ergibt. Demnach wäre die identische Bedeutung nichts anderes als »ein individueller, nur allzeit wiederkehrender Zug unseres Denkerlebnisses« [Husserl, Hua XIX,1, § 31, S. 104]. Diese genetische Erklärung scheitert nach Husserl daran, dass die Reproduktionsbedingungen im Prinzip nicht unveränderlich, sondern veränderlich sind und damit die ideale Bedeutungsidentität niemals garantieren können: »Denn zum psychologischen Gehalt gehört natürlich das von Fall zu Fall Gleiche ebenso, wie das gelegentlich Wechselnde.« [Ebd.] Die Reproduktion steht immer im Zusammenhang mit der Assoziation, d. h. sie bleibt gebunden an okkasionell-veränderliche Bestimmungen der Wahrnehmung, die sie als weckende

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leiht.« [ebd., § 25,S. 619] Entsprechend unterscheidet Husserl »zwischen signitiv und intuitiv repräsentierenden Inhalten (oder kurzweg: signitiven und intuitiven Repräsentanten)«, welche die Erkenntniseinheit als Identifizierungseinheit bilden [ebd., S. 620]. Die Überschrift des § 31 der Logischen Untersuchungen I lautet: »Der Akt­ charakter des Bedeutens und die ideal-eine Bedeutung« [Husserl, Hua XIX,1, S. 104].

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4) Die Erzeugung und reproduktive Aktualisierung eines Habitus

Erlebnisse ursächlich auslösen. Betrachtet man das identifizierende Erkennen also als wirkliches »Wieder«-Erkennen, eine Form von assoziativ-weckender Erinnerung im wiederholten Vollzug, dann erscheint es gar nicht möglich, das Veränderliche vom Unveränderlichen zu trennen. Hält man sich dagegen in der Auslegung der Identifizierung allein an den singulären Bewusstseinsakt und seine Funktion, einen ideal-identischen Bedeutungsgehalt im Bewusstsein repräsentieren zu können, dann lässt sich mit Blick auf die Anschauungsgehalte eine Unterscheidung vornehmen zwischen solchen die ideal-eine Bedeutung repräsentierenden unveränderlichen Konstitutionsbestimmungen und allen Veränderungen durch die Zusammenhänge der Assoziation und Reproduktion, die zwar im weitesten Sinne zur vorstellungsmäßigen Realisierung der Bedeutung gehören, aber als nur okkasionelle, veränderliche Erscheinungen im strengen Sinne nicht zur idealen Konstitutionsbestimmung gerechnet werden können. Es ist eben »nicht die fundierende Anschauung als Ganzes, sondern nur ihr repräsentie­ render Inhalt […], was dem signitiven Akte wesentlich die Stütze verleiht« [Husserl, Hua XIX,2, § 25, S. 619]. Husserls intentionale Erkenntnisbegründung sondert auf diese Weise durch die Dichotomie von Genesis und Geltung das schlicht bezugnehmende Erkennen vom reproduktiven Wiedererkennen: Der gegenständliche Sinn wird durch das Bezug nehmende »Meinen«, welches kein reproduktives »Erzeugen« ist54, als ein reiner Geltungssinn identifiziert und diese Geltung schließlich durch die veranschaulichende Vorstellung – die Konstitutionsbestimmung – spezifiziert. Diese Spe­ zifizierung der Geltungseinheit in der Konstitution ist als eine schlechterdings zeitenthobene, keineswegs mit dem Generieren und Regenerieren eines Habitus in der Reproduktion zu verwechseln, die als eine vollzugsmäßige Individualisierung der Erkenntnis in Raum und Zeit keinerlei Einfluß nimmt auf die Form der Konstitutionsbestimmung selbst.55 Dass Husserls frühe, rein erkenntnistheoretische Begründung 54 Gegenstände der Erkenntnis werden »im Denken gemeint, aber nicht im Denken erzeugt« [Husserl, Hua XVIII, Prol0g, § 39, S. 138]. 55 In der II. Logischen Untersuchung geht es vornehmlich um die »Verteidigung der Eigenberechtigung der spezifischen (oder idealen) Gegenstände neben der individuellen (oder realen)«, um damit »das Hauptfundament für die reine Logik und Erkenntnislehre zu sichern« [Husserl, Hua XIX,1, Einleitung, S. 112]. Das Ideal-Spezifische unterliegt anders als das Individuelle nicht der Individuation durch Raum und Zeit. Die raum-zeitliche Individuation ist für Husserl das nicht metaphysische, sondern phänomenologische Kriterium einer möglichen Unterscheidung von Idealem und Realem: »Real ist das Individuum

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

der Konstitution zunächst jede Selbstbezüglichkeit ausschließt und das Erkenntnisphänomen als Form lediglich der Objektbestimmung ansieht, erscheint deshalb nur konsequent: Für das Ich wird der Gegenstand zu einem Habitus, und weil Bezugs- und Vollzugssinn in der selbstbezüglichen habituellen Verfügung offenbar nicht zu trennen sind, verfällt das Subjekt schlechterdings der Ausschaltung durch die phänomenologische Reduktion: »Das Ich als Person, als Ding der Welt, und das Erlebnis als Erlebnis dieser Person […]: das alles sind Transzendenzen und sind als das erkenntnistheoretisch Null. Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänomenologische Reduk­ tion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Transzendenz mehr bietet. Stelle ich Ich und Welt und Icherlebnis als solches in Frage, so ergibt die einfach schauende Reflexion auf das Gegebene in der Apperzeption des betreffenden Erlebnisses, auf mein Ich, das Phänomen dieser Apperzeption« [Husserl, Hua II, S. 44]. Zum psychologischen Phänomen56 gehört, dass die Apperzeption eben nicht nur rein intentional, sondern als eine selbstbezüglich-ichliche, die Verfügung über das Erlebnis als ein mir zugehöriger Habitus aufgefasst wird, »indem ich wieder sage: ich habe dieses Phänomen, es ist das meine« [ebd.]. Das reine intentionale Phänomen »im Sinne der Phänomenologie« dagegen wird isoliert, indem sich die »reine cogita­ tio« herausstellt, insofern wir »rein schauend auf die Wahrnehmung hinblicken, auf sie selbst, wie sie da ist, und die Beziehung auf das Ich unterlassen oder von ihr abstrahieren« [ebd.]. Mit der Gewinnung eines Organisationsbegriffs der Konstitution in den Ideen von 1913 wird die Konstitution zwar als eine systematische Form der Selbstkonstitution gefasst. Die »funktionelle Phänomenologie«, die Husserl dort konzipiert, behält jedoch die erkenntnistheoretische Ausschaltung der Habitualisierung und der mit ihr verbundenen Reproduktionsprobleme bei. Auch hier werden weitermit all seinen Bestandstücken; es ist ein Hier und Jetzt. Als charakteristisches Merkmal der Realität genügt uns die Zeitlichkeit. Reales Sein und zeitliches Sein sind zwar nicht identische, aber umfangsgleiche Begriffe. […] Soll aber Metaphysisches ganz ausgeschlossen bleiben, so definiere man Realität geradezu durch Zeitlichkeit. Denn worauf es hier ankommt, das ist der Gegensatz zum unzeitlichen »Sein« des Idealen.« [Ebd., § 8, S. 129[ 56 Husserl warnt vor »der fundamentalen Verwechslung zwischen dem reinen Phänomen im Sinne der Phänomenologie und dem psychologischen Phänomen, dem Objekt der naturwissenschaftlichen Psychologie« [Husserl, Hua II, S. 43].

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4) Die Erzeugung und reproduktive Aktualisierung eines Habitus

hin systematische Spezifizierung und habituelle Individualisierung, Erkennen und Wiedererkennen, getrennt, insofern sich die Konstitution in der Korrelation von Noesis und Noema auf die Funktion beschränkt, das transzendentale Ideal der vollständigen Objektbestimmung a limine zu verwirklichen. So reduziert sich die Realisierung der Gegenstandsbeziehung im Bewusstsein wiederum auf die Leistung der nachträglichen Veranschaulichung einer bereits vorgegebenen Leer­ intention, also die Funktion der systematischen Sinnenthüllung, ohne dass Husserl hier das konstituierende Bewusstsein in seiner Rolle, die Objektbeziehung als einen Habitus vorzukonstituieren, überhaupt in Betracht ziehen würde. Die genetisch-phänomenologische Betrachtung der Selbstkonstitution geht hier den entscheidenden Schritt weiter, das vermeintlich schlichte, den Gegenstand direkt und unmittelbar identifizierende Erkennen von vornherein anzunehmen und anzuerkennen als eine Form des durch die Reproduktion eines Habitus vermittelten Wiedererkennens. In den Analysen zur passiven Synthesis betont Husserl demzufolge die Unmöglichkeit einer schlichten Wahrnehmung ohne die Möglichkeit »gleichzeitiger Wiedererinnerung«, sodass schon in der untersten Schicht der Rezeptivität von dem »in schlichtem Wiedererkennen« erfassten Ding gesprochen werden muss [vgl. Husserl, Hua XI, § 5, S. 27]. Erfahrung und Urteil führt entsprechend eine Theo­rie der »Vergegenständlichung« vor, welche davon ausgeht, dass die intentionale Identifizierung bereits in der »Urdoxa«, der erkenntnisfundierenden Schicht der schlichten Wahrnehmung, durch eine Leistung der Reproduktion ursprünglich vermittelt ist. »Alle Erfahrung […] ruht zuunterst auf der schlichten, letzte, schlicht erfaßbare Substrate vorgebenden Urdoxa.« [Husserl 1972, § 13, S. 60]. Die doxische Vorgegebenheit des Gegenstandes wandelt sich keineswegs erst durch die Urteilsaktivität, sondern schon in der Passivität der schlichten Wahrnehmung um in eine aktive, ichliche Leistung der »Vergegenständlichung«, wodurch der Gegenstand als das Identifizierbare in einem Reproduktionszusammenhang bewusst wird: Aus dem einfachen Vernehmen eines vorgegebenen Gegenstandes macht die an der Erkenntnishandlung notwendig beteiligte Ichaktivität eine Form von identifizierendem »Wiedererkennen«, verbunden mit dem Bewusstsein einer schlechterdings uneingeschränkten Wiederholbarkeit der Erkenntnishandlung: »Vergegenständlichung ist also immer eine ak­ tive Leistung des Ich, ein aktiv glaubendes Bewußthaben des bewußten Etwas […]. Es ist in gesonderten Akten, die zur Synthesis kommen, 221 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

als Identifiziertes, als synthetisch Dasselbe bewußt und immer wieder als Dasselbe wiederzuerkennend, darunter auch in frei wiederholbaren Wiedererinnerungen oder in frei erzeugbaren Wahrnehmungen (im Hingehen und Sich-noch-einmal-Ansehen).« [Ebd., § 13, S. 64] Was der Gegenstand konstitutionstheoretisch ist, definiert Husserl mit Blick auf diese ichliche, reproduktive Vergegenständlichung nunmehr neu: Gegenständliche Identität sichert nicht etwa die Erfassung einer von der »Genesis der Reproduktionen« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 118] schlechterdings unabhängigen Geltung, sondern die besondere Form der Reproduktion der intentionalen Bedeutungseinheit: Als Korrelat einer wiederholbaren Erkenntnishandlung ist der Gegenstand Substrat im Sinne einer idealiter unveränderlichen Wiederholungskonstante, konstituiert in einer schlechthin identischen Reproduktion: So macht »Identität als Korrelat einer in offen endloser und freier Wiederholung zu vollziehenden Identifizierung« nunmehr »den prägnanten Begriff des Gegenstandes aus.« [Ebd.] Die genetische Betrachtung hebt die geltungstheoretische Fundierung der Konstitutionsbestimmung jedoch keineswegs auf, sie ergänzt sie vielmehr. Mit Blick auf die »Vergegenständlichung«, die genetische Konstitution der Objektbeziehung, betont Husserl nun die besondere subjektrelative Form der Geltung, eine Geltung nur für mich. Die phänomenologische Reduktion erscheint so als die Beschränkung der intentionalen Geltung auf die exklusiv egologische einer subjektzentrierten Eigenheitssphäre. Zugelassen wird keine »Wirklichkeit oder Möglichkeit, es sei denn als mir geltend« [Husserl, Hua XVII, § 94, S. 241]. Der Akzent fällt nun darauf, dass die anonym fungierenden konstituierenden Intentionalitäten eine »Mannigfaltigkeit meiner [Herv. d. Verf.] wirklichen und möglichen Leistungen« verkörpern [ebd.], die Welt der Konstitution ursprünglich eine Welt nur für mich ist: »Zuerst und allem Erdenklichen voran bin Ich. Dieses ›Ich bin‹ ist für mich, der ich das sage und in rechtem Verstande sage, der inten­ tionale Urgrund für meine Welt« [ebd., § 95, S. 209].57 Hält man sich 57

Die Betrachtung der Welt infolge der Reduktion als »Welt nur für mich« [Husserl 1972, § 12, S. 59] ist freilich eine methodische Fiktion und keine »Realität«, die insbesondere von der intersubjektiven und sprachlichen Ver­ mittlung der Welterfahrung sowie den praktischen Handlungen und Inter­ essen absieht. Durch phänomenologische Reduktion entsteht »die Fiktion eines Subjektes, das sich bloß betrachtend verhält und von dem Seinenden, von dem es umweltlich affiziert wird, zu keiner praktischen Handlung veranlaßt wird« [ebd., § 14, S. 69].

222 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Erkenntnis und Interesse, Geltung und Genesis

an Husserls frühe erkenntnistheoretische Fassung der Reduktion, dann stellt diese Begründung einer Geltung für mich ein konstitutionstheoretisches Paradox dar: Die Erfassung der Bedeutung als reines »Geltungsphänomen« der Erkenntnis kommt durch die intentionale Bezugnahme zustande, welche gerade nicht selbstbezüglich ist, vielmehr den Sinn »an sich« als eine durch keine subjektive Individualisierung relativierbare absolute Idealität erfasst, während die habituelle Realisierung der Bedeutung nur für mich einen vorintentionalen Vollzugssinn der Assoziation und Reproduktion, mithin noch gar keinen Geltungssinn verkörpert. Es ist offensichtlich, dass Husserls subjektbezügliche Begründung der Geltung darauf zielt, den Vollzugssinn der Habitualisierung intentional zu fassen, um dadurch die Möglichkeit einer dauerhaften Identifizierung innerhalb und nicht außerhalb des Vollzugs der wiederholten Reproduktion sicherzustellen – eine methodische Möglichkeit, welche die antipsychologistische Dichotomie von Genesis und Geltung in den Logischen Untersuchungen definitiv ausgeschlossen hatte.

5)

Erkenntnis und Interesse, Geltung und Genesis: Vom Ordnungs- zum Erhaltungsbegriff der Organisation

Dass sich die genetische und geltungstheoretische Betrachtung des identifizierenden Erkennens überhaupt vermitteln lassen, gewährleistet letztlich der Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse. Die statische Beschreibung hebt den intentionalen Charakter der Erkenntnisgewinnung hervor: Die Leerintention beinhaltet ein Erfüllungsstreben, das die Motivationsgrundlage bietet für die in Gang kommende konsti­ tuierende Entwicklung in Form der systematischen Sinnenthüllung. Die genetische Analyse übernimmt diesen Ansatz, fügt jedoch das Moment der Selbstkonstitution hinzu, wodurch intentionales Streben als eine Form von selbstbezüglichem Interesse interpretiert wird. Das »Interesse am Wahrnehmungsgegenstand« zeigt sich nicht nur objektbezogen im Erfüllungsstreben, sondern in der zur Erkenntnisgewinnung gehörenden subjektbezüglichen Modalisierung, einer Objektsetzung, welche »kontinuierliche Glaubensgewißheit« gewährleistet in der »Einstimmigkeit kontinuierlicher Selbstbestätigung« [Husserl 1972, § 19, S. 87]. Husserls Theorie der Modalisierung differenziert mit Kant intentionale Bestimmungen, die als reine Objektbestimmungen gelten können, von den Seinsmodalitäten, welche die Beziehung des 223 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Objekts zum vorstellenden Subjekt zum Ausdruck bringen58. Dementsprechend stellt die genetisch-phänomenologische Reduktion, welche die Objektkonstitution in der Selbstkonstitution aufhebt, die Modalisierung methodisch in den Mittelpunkt.59 Die Behandlung von Problemen auch der veränderlichen Konstitutionsbestimmung, welchen die phänomenologische Theorie der Modalisierung Rechnung zu tragen versucht, ist freilich als solche noch kein genetisch-phänomenologisches Konzept, sondern gehört als eine Erweiterung mit zur statischen, »funktionellen Phänomenologie«.60 Genetisch wird die Modalisierung erst dann begriffen, wenn die Modalitäten der Seinssetzung als re­ flexive Formen der wiederholten »Selbst«-bestätigung und damit als aufgehoben im Vollzugs- und Wiederholungssinn eines sich artikulierenden habituellen Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresses gedeutet werden. Wird die Erkenntnisgewinnung nicht nur intentional, sondern zugleich durch ein selbstbezügliches habituelles Interesse motiviert, dann erweitert sich der Konstitutionsbegriff der Organisation von einem reinen Ordnungsbegriff zu einem Erhaltungsbegriff. Bezeichnend hält mit dem Übergang von der statischen zur genetischen Betrachtung der Lebensbegriff Einzug in die Phänomenologie. Aus dem »intentionalen Erlebnis« wird eine »lebendige Intentionalität« [Husserl, Hua XVII, § 94, S. 242]. In dieser genetisch revidierten Auffassung von Organisation als Form von intentional-interessiertem »Leben« verbindet sich der rein geltungstheoretische Begründungsansatz der Konstitutionsbestimmung mit der kausalgenetischen Dimension der Erhaltung und Selbsterhaltung, welche aus der Einbindung der Sinngebung in den Reproduktionszusammenhang der Habitualisierung resultiert. Der Organisationsbegriff, wie er dem rein funktionellen Verständnis von Konstitution entspricht, behandelt das Organisationsproblem im Prinzip abstrakt. Aus dem Leben wird ein intentionales Erlebnis und entsprechend Organisation auf das pure Ordnungsproblem reduziert, eine Mannigfaltigkeit hyletischer Inhalte durch eine intentionale Auf58

Zu Husserls Theorie der Modalisierung in ihrer genetischen Interpretation vgl. Teil B, Kap. II,2. 59 Vgl. Husserl, Hua XI, § 48, S. 219. 60 Die »funktionellen Probleme« behandelt § 86 der Ideen I [Husserl, Hua III,1, S. 196 ff]. Husserl spricht von der »noetischen und funktionellen Phäno­meno­ logie« [ebd., S. 199]. Die Probleme der Modalisierung – insbesondere des Zwei­ fels­­bewusstseins und der Andersbestimmung – behandelt Husserl dort auch nur vergleichsweise kurz in § 103 S. 238 ff und § 138 S. 319 ff.

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5) Erkenntnis und Interesse, Geltung und Genesis

fassungsaktivität zu ordnen. Die Konstitution als Form der dynamischen Entwicklung, der explizierenden Sinnenthüllung, bringt ein System hervor. Bei dieser Systembildung wird jedoch nur die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung berücksichtigt, wonach die Entwicklung immer neuer Bestimmungen sich notwendig organisieren, d. h. systematisch geordnet vollziehen muss. Methodisch ausgeblendet bleibt so die Frage, wie es überhaupt möglich ist, bereits erworbene Erkenntnisse in einer eben solchen systematischen Form nicht unorganisiert, sondern organisiert zu reproduzieren. Gemäß der Dichotomie von Genesis und Geltung werden die mit der Reproduktion zusammenhängenden Organisationsprobleme der Habitualisierung als empirisch-psychologische Fragen nach der Kausalgenese der Vorstellung von der Betrachtung der reinen Konstitutionsbestimmung und ihrer Organisation einfach ausgeschlossen. Warum es sich die funktional-geltungstheoretische Betrachtung aber überhaupt leisten kann, dort, wo es um die systematischen Konstitutionsprobleme der sukzessiv-zeitlichen Realisierung von Bedeutungen in Bewusstseinsvollzügen geht, die Erörterung von kausal­ genetischen Fragen der Erhaltung und Selbsterhaltung in dieser Weise methodisch zu unterlassen, beantwortet sich letztlich damit, dass sie eine ursprünglich konstituierende, den Ordnungszusammenhang erhaltende sukzessive Habitualisierung annimmt, die als eine rein-intentionale retentionale Wandlung in den Zusammenhang der Assoziation und Reproduktion gar nicht eingebunden ist, sich vielmehr vollständig losgelöst von ihm vollzieht. Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins unterscheidet zwischen primärer und sekundärer Erinnerung.61 Die sekundäre Erinnerung besteht in der ausdrücklichen Leistung einer reproduktiven Vergegenwärtigung, welche aber keineswegs als der genetische Ursprung der Habitualisierung anzusehen ist. Die Habitualisierung geht der Reproduktion vielmehr ermöglichend voraus in Gestalt einer rein-intentionalen primär-erinnernden Intentionalität, der retentionalen Wandlung, wo sich die aktuellen Vorstellungen umwandeln in Dispositionen für eine mögliche Reproduktion. Diese methodische Entkoppelung der Habitualisierung von der Reproduktion erlaubt es Husserl, gleichsam naiv davon auszugehen, dass sich die systematische Form der ursprünglichen Erkenntnisgewinnung in der Habitualisierung bruchlos fortsetzt, sodass dann mit Blick auf 61

Zur Revision dieser Unterscheidung durch die genetische Phänomenologie vgl. Teil B, Kap. II,4.

225 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

die sekundäre Erinnerung – die Reproduktion – eine einfache Spiegelung der Konstitution in einer mit ihr identischen »Wiederkonstitution«62 vorliegt. Das heißt, dass die veränderlichen Zusammenhänge der kausalgenetischen Assoziation und Reproduktion auf die reproduktive Form der systematischen Konstitution – die sie tautologisch wiederholende Wiederkonstitution – letztlich keinerlei Einfluss nehmen und nehmen können und demzufolge für die phänomenologisch-methodische Gewinnung eines Organisationsbegriffs der Konstitution keine Rolle spielen. Dass zur systematischen Erkenntnisgewinnung eine sie tautologisch spiegelnde systematisch organisierte Habitualisierung gehört, ist für die funktional-geltungstheoretische Betrachtung der Konstitution eine nicht weiter zu hinterfragende Selbstverständlichkeit. Die jeweils im Bewusstsein befindlichen Vorstellungen von einem Ding wie dem Tisch mögen als ephemere Ereignisse vorüberziehen, trotzdem meinen wir doch immer »derselbe unveränderliche Tisch steht da. Demnach sagen wir auch nicht, der Tisch gewinne Eigenschaften oder verliere sie, je nachdem sie speziell sichtlich werden oder unsichtlich« [Husserl, Hua IX, § 35, S. 180 f]. Zur bleibenden, wiederholten Identifizierung des Gegenstandes gehört demnach nicht nur die Gewinnung von immer neuen Erkenntnissen aufgrund der intentional entwickelnden Sinnenthüllung, sondern ebenso die habituelle Verfügung über solche bereits gewonnenen Erkenntnisgehalte. Diese Aussage ist genau dann nicht mehr bloß unverfänglich deskriptiv, als nicht nur die im Erlebnis unmittelbar erschlossene habituelle Verfügung über den Gegenstand mit allen bereits erworbenen Gegenstandsbestimmungen, sondern zugleich auch die systematisch organisierte Form eines solchen Erwerbs unterstellt wird. Methodisch stützt sich diese hypothetische Erweiterung, welche von der systematischen Konstitutionsbestimmung zurück schließt auf die systematische Form auch der Habitualisierung, auf die cartesianische Begründung der phänomenologischen Reduktion. Phänomen im phänomenologischen Sinne ist das reine Bewusstseinserlebnis, der intentionale Sinn demnach notwendig einer, der sich »bewußtseinsmäßig konstituiert« [Husserl, Hua XXVI, S. 5]. Die retentionale Wandlung eines Aktes der Vorstellung in eine Disposition vollzieht sich innerhalb und nicht etwa außerhalb des konstituierenden Bewusstseins, als ihr das Modell des intentionalen Horizontbewusstseins zugrunde liegt. Das Horizontbewusstsein be62

Zur Problematik der Konstitution und Wiederkonstitution vgl. Teil B, Kap. II,3.

226 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Erkenntnis und Interesse, Geltung und Genesis

steht in einer Leerintention, welche in sich die Disposition enthält für ihre Umwandlung in eine Anschauung, die sie schließlich intentional erfüllt. Die Umwandlung der leeren Vorstellung in eine anschaulich erfüllte vollzieht sich im Bewusstsein und kann hier offenbar in doppelter Richtung vor sich gehen: In der ursprünglich konstituierenden Erkenntnisgewinnung wird das Horizontbewusstsein als gegeben vor­ aus­gesetzt, dessen dispositionelle Anschaulichkeit durch die intendierte Bedeutungserfüllung schließlich aktualisiert wird. In der habitualisierenden retentionalen Wandlung, der zur Gewinnung immer neuer Erkenntnisse komplementär gehört, vollzieht sich dann der umgekehrte Prozess: Hier entsteht wiederum ein Horizontbewusstsein in der Verwandlung des ursprünglich Aktuellen und Anschaulichen in ein Dispositionelles und leer Vorstelliges. Weil diese doppelt mögliche Umwandlung des Aktuellen in das Dispositionelle einerseits nur eine Veränderung des Bewusstseinsmodus des Gegebenen und nicht das Gegebene selbst betrifft und sich zudem komplementär vollzieht, indem die Form der Entwicklung des gegebenen intentionalen Horizontbewusstseins die seiner (Wieder-)Entstehung in der retentionalen Habitualisierung spiegelbildlich nachvollzieht, kann methodisch davon ausgegangen werden, dass beiden Bewusstseinswandlungen dieselbe Form der systematischen Organisation zugrunde liegt. Die systematische Form der Habitualisierung wird genau dann zu einem originären und nicht bloß abgeleiteten Konstitutionsproblem, wenn das cartesianische Fundament der Konstitutionstheorie – das sinnbildende intentionale Bewusstsein – nun selbst einer genetischen Betrachtung unterzogen wird. In der genetischen Phänomenologie der Assoziation geht es um nicht weniger als »um das fundamentale Problem, die grundwesentlichen Bedingungen der Möglichkeit einer Subjektivität selbst aufzuklären« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 124]. Die Betrachtung der »Konstitution aller bewußtwerdenden Objektivität und der Subjektivität für sich selbst als seiend« [ebd., § 27, S. 125] verfolgt deshalb nicht nur die Klärung der Frage: Wie konstituiert sich eine Objektbeziehung jeweils in welchem Bewusstsein, sondern ob sich das Erkenntnisphänomen überhaupt als ein Bewusstseinsphänomen realisieren kann oder nicht. Bewusstsein entsteht und erhält sich genetisch durch eine reproduktive assoziative Weckung. Das bedeutet im Wesentlichen, dass das Verhältnis von Retention und Reproduktion nun nicht mehr als ein einseitiger Fundierungszusammenhang der primären und sekundären Erinnerung begriffen werden kann. Die Habitualisierung ist demnach nicht nur als eine rein intentionale re227 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

tentionale Wandlung zu verstehen, sie erscheint nun von vornherein eingebunden in den Reproduktionszusammenhang der assoziativen Weckung, dem das Retentionale seinen Bewusstseinsstatus einer habituellen Verfügung überhaupt verdankt. In genetischer Perspektive erweitert sich somit die mögliche Veränderung der Seinsmodalität des Bewusstseins entscheidend: Nicht nur wandelt sich Aktuelles in Dispositionelles, Akt- in Horizontintentionalität einfach um. Das Horizontbewusstsein löst sich darüber hinaus mit dem möglichen Übergang des Bewussten in das Unbewusste tendenziell auf, insofern die assoziative Weckung kontinuierlich schwächer wird, hervorgerufen durch den Verbrauch von Weckungsenergie in der wiederholten Reproduktion. Es droht damit nicht nur der Verlust der habituellen Verfügung der Objektbeziehung, sondern zugleich auch die Auf‌lösung der systematischen Organisation der retentionalen Wandlung. Die zentrale Rolle, welche die Weckung von Erkenntnisinteresse in der genetischen Konstitution einnimmt, wird letztlich nur von diesem Organisationsproblem der Habitualisierung in der assoziativen Weckung her verständlich. Husserls cartesianische Voraussetzung, wonach sich die Habitualisierung voll und ganz im Bewusstsein abspielt und damit die Organisation in Form der systematischen Erkenntnisgewinnung uneingeschränkt widerspiegelt, wird durch die Genesis des Bewusstseinsphänomens selber schließlich nicht mehr garantiert: Die assoziative Weckung von Bewusstsein in ihrer reproduktiven Weckungskraft ist nicht unendlich, sondern endlich. Die durch das transzendentale Ideal vorgegebene, idealiter unabschließbare Form der systematischen Erkenntnisgewinnung findet demnach keine ebenso unendliche Fortsetzung in der assoziativ-reproduktiven Habitualisierung.63 Genau damit enthüllt sich schließlich die Unzulänglichkeit einer ausschließlich geltungstheoretischen Betrachtung der Konstitution: Organisation lässt sich nicht auf das bloße Ordnungsproblem einer systematischen Sinnenthüllung immer neuer und anderer Bestimmungen ein und desselben Gegenstandes reduzieren, welche alle Probleme der Erhaltung und Selbsterhaltung, die mit der Individualisierung der Erkenntnisgewinnung im kausalgenetischen Reproduktionszusammenhang der Vorstellung verbunden sind, anti­psychologistisch motiviert einfach ausblendet. Wenn die in das 63

Die retentionale Wandlung bildet keinen quasi unendlichen »Komentenschweif«, sie bricht ab im Abtauchen des Habituell-Bewussten in das Unbewusste, wie Husserls genetisch vertiefte Zeitanalysen nun einräumen müssen. Vgl. dazu Teil B, Kap. II,6 sowie Kap. II,7.

228 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Erkenntnis und Interesse, Geltung und Genesis

Weckungs­kontinuum eingebundene und damit notwendig reproduktiv vermittelte retentionale Habitualisierung ihre systematische Organisation tendenziell verliert, dann ist eine wiederum systematische Anknüpfung der neu entwickelten Erkenntnisse an die bisherigen Erwerbe nicht von vornherein garantiert: Die Erkenntnisgewinnung im Ganzen droht so ihre Form der systematischen Organisation einzubüßen, welche die intentionale Bezugnahme auf eine ideale Sinn- und Geltungseinheit als Ordnungsprinzip allein nicht zu gewährleisten vermag. So füllt schließlich die Weckung von Erkenntnisinteresse die entstehende Lücke, indem sie sowohl die Möglichkeit der systematischen Konstitution der Objektgeltung als auch ihrer zugehörigen Ge­ nesis einer reproduktiven Habitualisierung erworbener Erkenntnisse im Bewusstsein garantiert. Das Bewusstsein verdankt seine Entstehung der Weckung von Aufmerksamkeit, die nach Husserl eine Form der noch nicht ichlichen, kausalgenetisch motivierten »passiven Synthesis« darstellt. Diese »urassoziative« Weckung bildet die Grundlage auch aller reproduktiven Bewusstseinsleistungen, sodass das Wiedererkennen genetisch betrachtet den veränderlichen, das Bewusstsein immer wieder auf‌lösenden und neu generierenden Bedingungen der assoziativen Reproduktion ausgeliefert wird.64 Wie ist also unter diesen Umständen eine wirklich identische und verlustfreie Reproduktion von Erkenntnissen überhaupt möglich? Husserl geht davon aus, dass sich die Weckung von Aufmerksamkeit zu einer solchen von Erkenntnisinteresse sogleich auswirkt. Das Interesse bringt die intentionale Bezugnahme auf eine gegenständliche, ideale Bedeutungseinheit ins Spiel mit der damit einhergehenden Strebungstendenz, die Leerintention durch erfüllende Veranschaulichung immer weiter zu entwickeln.65 Wäre das Interesse nun schlicht gleichbedeutend mit einer solchen intentionalen Erfüllungstendenz, dann ergäbe sich keine Möglichkeit, dass die Geltung Einfluss nähme auf die assoziative Genesis. Die Konstitution von Interesse ist jedoch die einer ursprünglichen Ichaktivität; die passive Synthesis der assoziativen Weckung wandelt sich mit der Weckung von Interesse in eine aktive Synthesis notwendig um. Die ichliche Aktivität zeigt sich dabei in der besonderen Form einer nicht einfachen, sondern reflexiven thematischen Objektivierung. Die Rede von »Thematisieren« bei Husserl ist doppeldeutig: Sie kann einmal die sukzessive Sin64 65

Systematisch dargestellt ist dieser Zusammenhang in Teil B, Kap. II,5. So etwa die Darstellung in Husserl 1972, § 18, S. 84 ff.

229 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

nenthüllung und entwickelnde Objektbestimmung meinen oder aber die aktive Erfassung einer zuvor passiv vorkonstituierten gegenständlichen Einheit.66 Die habitualisierende Funktion dieser ursprünglich vergegenständlichenden Thematisierung wird deutlich etwa am Beispiel des Noch-im-Griff-Behaltens. Ursprünglich generiert wird der Habitus in der retentionalen Wandlung, die Husserl nun allerdings als eine lediglich vorkonstituierende passive Synthesis begreift als Grundlage für die Konstitution eines Habitus durch das ichliche Interesse, welche das Objekt als ein thematisches Objekt aktiv festhält und damit vor dem Versinken in das ganz und gar Unbewusste bewahrt. Schon in der Passivität zeigt sich damit: Die Habitualisierung stellt eine Form der nicht einfachen, sondern vermittelten thematischen Objektivierung dar, wie es dem Verhältnis von Vorkonstitution und Konstitution, der Umwandlung von Passivität in Aktivität, entspricht.67 Die Genesis in Form einer genetischen Konstitution erzeugt die Objektbeziehung demnach nicht schlechthin im Sinne einer nominalistischen oder idealistischen Konstruktion; sie ist in Form einer vorkonstituierenden Passivität bereits vorgegeben. Was sie aktiv leistet, ist die Setzung eines thematischen Objektes, eine konstituierende Thematisierung und d. h. Realisierung einer gegebenen Objektbeziehung im Bewusstsein, wodurch schließlich die Selbstverfügung des Ich in der Verfügung über das Objekt erlangt wird, indem sich das Objekt hier konstituiert als »mein Objekt, Objekt meines Betrachtens« [Husserl 1972, § 19, S. 90]. Auf diese Weise wird die thematische Objektivierung freilich von vornherein subjektiviert in einem Verhältnis der darstellenden Konstitution: Das thematische Objekt repräsentiert einen immer schon vorgegebenen, intentionalen Geltungsbezug. Diese Subjektivierung der Genesis stellt zweifellos eine methodische Einschränkung der Phäno­ menologie der Konstitution dar. Sie lässt sich nur überwinden in einer 66

67

Das zeigt das Beispiel der »abstraktiven Blickwendung«, durch die die rezeptiv erfassten Einheiten zu »thematischen Gegenständen« werden. [Husserl 1972, § 16, S. 75] Es gibt einerseits die retentionale Wandlung »als Passivität des ursprünglich konstituierenden, aber nur vorkonstituierenden Zeitflusses«, sondern noch vor der ausdrücklich reproduktiven Aktivität als deren Grundlage das aktive Noch-im-Griff-Behalten als eine »eigentlich vergegenständlichende, nämlich Gegenstände thematisierende oder mit-thematisierende Passivität« [Husserl 1972, § 23, S. 119]. Die Vermittlung der Retention mit der Reproduktion kommt freilich nicht erst durch die Mitwirkung des ichlichen Interesses zustande, sondern ist bereits kausalgenetisch gegeben durch die Einbindung der retentionalen Wandlung in das Weckungskontinuum. Vgl. dazu Teil B, Kap. II, 4.

230 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Konstitution und Vorkonstitution

Phänomenologie der Orientierung, wo der Ursprung einer solchen habitualisierenden, thematischen Objektivierung in der Artikulation einer noch unartikulierten Objektbeziehung gesehen wird. Damit entfällt die Vorkonstitution der Objektbeziehung als ein Geltungsbezug. Die ursprünglich thematisierende Artikulation realisiert nicht nur, sie stiftet die intentionale Bezugnahme in der Aktualisierung von dispositionellem Wahrnehmungs- und Erkenntnis­interesse, in Form einer Wahrnehmungs- oder Erkenntnisorientierung, einer exponierenden oder referierenden Bezugnahme.68

6)

Konstitution und Vorkonstitution: Das habitualisierende Erkenntnisinteresse und sein intentionaler Wiederholungssinn

Dem kontinuierlichen Streben nach systematischer Sinnenthüllung korrespondiert in der Reproduktion ein Erhaltungsmotiv, gestiftet durch das aktive Erkenntnisinteresse, dem es an einem bleibenden Erkenntniserwerb gelegen ist, weswegen es an der identischen Reproduktion festhält gegen die Tendenzen der passiven Reproduktion einer kausalgenetischen assoziativen Weckung, deren Reproduktionsbedingungen veränderlich sind und deshalb das fortwährende Entgleiten des Bewusstseins und damit den Verlust der Möglichkeit von identischer Reproduktion nicht aufhalten können. Geltung und Genesis werden in der genetischen Konstitution der Objektbeziehung also keineswegs »psychologistisch« gleichgesetzt. Das ist allein schon durch die Form der vermittelten, thematischen Objektivierung ausgeschlossen, die das habituelle Erkenntnisobjekt als einen Vollzugs- und Wiederholungssinn auszeichnet. Die ideale Geltung wird durch die einfache Bezugnahme auf das gegenständlich Gegebene erfasst, während das Erkenntnisinteresse das unwiederholbare, einmalig Geltende als einen Wiederholungssinn konstituiert: Aus dem anonymen, subjektlosen Gelten wird so schließlich ein subjektbezügliches Mir-Gelten, Bezugsund Vollzugssinn entsprechen einander. In Husserls genetischer Analyse von Erkenntnis und Interesse bleibt jedoch unklar, woher die Erkenntnisaktivität ihr Erhaltungs­ motiv gewinnt. Die thematische Objektivierung, die »Vergegen68

Zur Unterscheidung von referierenden und exponierenden Bezugnahme vgl. die programmatischen Hinweise auf meine Phänomenologie musikalischästhetischen Erlebens, Teil C, Kap. III,7.

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Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

ständlichung« als eine aktive, ichliche Leistung [vgl. Husserl 1972, § 13, S. 64] wird von Husserl nicht eigenständig, sondern immer nur im Zusammenhang mit der thematisierenden Objektbestimmung gedacht. Von daher sieht es so aus, als resultiere das Erhaltungsinteresse letztlich aus der Endlosigkeit einer nach immer weiteren Erfüllungen strebenden intentionalen Sinnenthüllung. Die Folge davon ist, dass Husserl nicht eigens darauf reflektiert, inwieweit sich durch die genetische Konstitution ihre Form, d. h. ihr Sinn von Organisation, ändert. Die explikative Sinnenthüllung leitet das transzendentale Ideal der vollständigen Objektbestimmung, sodass als Form der Organisation die integrale Systembildung vorgegeben ist, das Einzelne in ein vorgegebenes und zugleich entwicklungsfähiges Ganzes einzuordnen. Wird das Generieren der Objektbeziehung von der Form der sich in der Sinn­ enthüllung regenerierenden Objektbestimmung her bestimmt, dann kommt es zur methodischen Gleichsetzung des Verhältnisses von Vorkonstitution und Konstitution mit einer Fundierung. Fundierungszusammenhänge stellen wiederum eine Form der integralen Konstitutionsbestimmung dar, insofern hier eine Objektbeziehung durch eine andere in der Form eines systematisch geregelten Aufbaus von Seinsschichten ergänzt wird. Die Idee der Fundierung modifiziert auf diese Weise zwar den Konstitutionsbegriff, verändert ihn aber nicht wirklich: Auch der Vorstellung eines Schichtenaufbaus von Objektbeziehungen liegt der funktional-geltungstheoretische Organisationsbegriff der statisch-phänomenologischen Analyse zugrunde: das transzendentale Ideal einer sich kontinuierlich vervollständigenden, systematisch-integrativen Form der Objektbestimmung. Die bei Husserl nicht konsequent ausgeschlossene Gleichsetzung der Vorkonstitution mit einer Fundierung ist jedoch methodisch verfänglich und verwirrend. Das zeigt geradezu exemplarisch die genetisch-phänomenologische Interpretation des Verhältnisses von Erfahrung und Urteil als eine vorprädikativ vorkonstituierte Prädikation. Statisch und funktional-geltungstheoretisch betrachtet bedeutet die Konstitution eines Fundierungsverhältnisses das Hinzutreten einer neuen Aktstufe, die in ihrer Sinngebung autonom ist und in keiner Weise aus der fundierenden Schicht irgendwie abgeleitet, als eine intentionale Sinnimplikation expliziert werden kann. Völlig undenkbar ist deshalb, dass sich eine Aktstufe ihre Evidenz und Geltung von einer anderen gleichsam ausborgt und somit der Ordnung der Fundierung entsprechend der Wahrnehmung die Rolle der Evidenzgebung auch für alle höherstufigen Akte wie den Urteilen und Begriffen oder auch den 232 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Konstitution und Vorkonstitution

Wertsetzungen zukäme.69 In diesem Sinne betont Husserl, dass die kategorialen Geltungen ursprünglich durch das Urteil, also prädikativ und nicht etwa schon vorprädikativ durch die schlichte Wahrnehmung konstituiert werden, die als solche schlechterdings vor- und außerkategorial ist.70 Wird die fundierende Schicht der Wahrnehmung nun genetisch als eine »passive« Vorkonstitution von konstituierender Urteilsaktivität begriffen, dann sieht es so aus, als wiederhole und expliziere die Konstitution lediglich einen bereits vorkonstituierten Sinn, was die geltungstheoretisch begründete Selbständigkeit der Aktstufen letztlich aufheben würde. Den entscheidenden Hinweis darauf, dass sich Fundierung und Vorkonstitution keineswegs decken, hat Husserl im Grunde selbst gegeben: Die Notwendigkeit der passiven Vor­kon­ sti­tution einer aktiven Synthesis bezieht sich im Prinzip gar nicht auf verschiedene Aktstufen und damit die Fundierungsebenen, sondern verbleibt im Rahmen ein und derselben Aktstufe. Als »eine Art Passi­ vität in der Aktivität« gehört die Vorkonstitution »zum Akt nicht als

69 Die Aktstufen werden spontan erzeugt, und als solche sind sie in ihrer Konstitution und Evidenzgebung ursprünglich und unreduzierbar. Husserl bringt das mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck am Beispiel der kategorialen Gegenständlichkeiten in der theoretischen wie auch den Wertsetzungen in der praktischen Sphäre. Die Evidenz und Geltung von solchen fundierten Akten er­schließt sich phänomenologisch nur dann, wenn man von den Verhältnissen der Fundierung ausdrücklich absieht und einzig und allein hinsieht auf die Form der Repräsentation des Vorstellungsinhalts der jeweiligen Aktstufe, die spontan erzeugt wird: Bei kategorialen Gegenständlichkeiten und wertenden Akten »haben wir es mit einer Klasse von Gegenständlichkeiten zu tun, die sich konstituieren als spontane Erzeugnisse, als polythetische Bildungen sie erzeugender polythetisch geeinigter (zur Einheit eines konstituierenden Aktes verbundener) Akte. Es sind nicht nur überhaupt fundierte Gegenständlichkeiten und in diesem Sinn Gegenständlichkeiten höherer Stufe, sondern eben als spontane Erzeugnisse sich ursprünglich konstituierende und nur als solche zu möglicher originärer Gegebenheit kommende Gegenständlichkeiten.« [Husserl, Hua IX, § 4, S.7 f] 70 Besonders klar betont das Husserls Logikvorlesung vom Sommersemester 1908. Das Urteil konstituiert durch seine Form der Prädikation und nominalen Identifizierung des Gegenstands ursprünglich den Sachverhalt und die in ihm enthaltenen kategorialen Geltungen, nicht schon die schlechterdings »außerkategoriale« schlichte Wahrnehmung: »Wie immer ein Gegenstand sich außer-kategorial konstituieren mag (was natürlich nur eine Möglichkeit der sinnlichen Gegenstände ist), Gegenstand-worüber ist er nur innerhalb eines kategorialen Bewußtseins als nominal vorgestellter und im Urteilsbewußtsein als kategorial gesetzter.« [Husserl, Hua XXVI, § 30, Ergänzungen, S. 94]

233 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

Unterlage, sondern als Akt« [Husserl 1972, § 23 a, S. 119]. Zwar ist die prädikative Struktur des Urteils als solche schon in der vorprädikativen Erfahrung »innerhalb der rezeptiven Aktivität passiv vorkonstituiert« [ebd., § 50 a, S. 245],71 doch sind die »Verstandes­gegenständlichkeiten«, zu denen Sachverhalte und Allgemeinbegriffe gehören, keineswegs schon vorgegeben »in einem bloßen Rezipieren; sie sind nicht vorkonstituiert in purer Passivität […] sondern vorkonstituiert in der prädikativen Spontaneität« [ebd., § 63, S. 300] – d. h. die Urteilsaktivität selbst und nicht etwa die das Urteil fundierende »schlichte Wahrnehmung« konstituiert die nicht bloß sinnliche, sondern »kategoriale« Anschauung passiv vor, über welche die aktiv erzeugende Konstitution von Sachverhalten und Begriffen habituell immer schon verfügt. Die mögliche Verwechslung der Vorkonstitution mit einer Fundierung und die daraus resultierende methodische Verwirrung von Problemen der Genesis mit denen der Geltung entsteht letztlich dadurch, dass Husserl die Funktion der Erkenntnisfeststellung des Urteils, »die Fixierung des Ergebnisses der betrachtenden Wahrnehmung »ein für allemal«» [Husserl 1972, § 47, S. 232] von der prädikativen wie vorpädikativen Enthüllung von intentionalen Sinnimplikationen nicht entkoppelt hat. Zwar wird ein intentionales Interesse am Festhalten des Gegenstandes in seiner Reproduktion, das Ziel seiner »Selbsthabe als eines dauernd wieder Identifizierbaren« [ebd., § 48, S. 235], ausdrücklich benannt, es bleibt jedoch systematisch merkwürdig ortlos. Husserls antinaturalistische Erkenntnisbegründung lässt grundsätzlich kein originäres Erhaltungsinteresse zu, das sich allein auf die thematische Objektsetzung unabhängig von der systematischen Form der thematisierenden Objektbestimmung gründen ließe. Denn nur so scheint gewährleistet, dass sich das Interesse überhaupt über die blinde Mechanik der Reproduktion hinaus als ein sinnhaftes, intentionales Erfüllungsstreben darstellt.72 Genau ein solches aus der Kontinuität der Sinnenthüllung nicht unmittelbar ableitbares Erhal71

72

Husserl spricht entsprechend von einem »weitesten Urteilsbegriff«, der sowohl das prädikative Urteil im engeren Sinne als auch das vorprädikative Urteil enthält [vgl. Husserl 1972, § 13, S. 62]. Die Sinnenthüllung der Wahrnehmung enthält bereits die prädikative Struktur durch das Konstitutionsverhältnis von Substrat und Bestimmung. Die ursprüngliche Weckung von Aufmerksamkeit durch die Affektion setzt sich sogleich fort in der Weckung von Interesse als einem intentionalen »Streben nach selbstgebender, das gegenständliche Selbst immer mehr enthüllender Anschauung« [Husserl, Hua XI, § 32, S. 148 f]. Entsprechend betont Erfahrung und Urteil, dass das »Interesse am Wahrnehmungsgegenstand« be-

234 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Konstitution und Vorkonstitution

tungsinteresse am Gegenstand und der ganzen Gegenstandsbeziehung ist aber letztlich die Bedingung dafür, dass die Vorkonstitution die geltungstheoretisch begründete Selbständigkeit von Fundierungsebenen nicht einfach suspendiert. Zu einer Einebnung der Ebenen kommt es genau dann, wenn die Passivität der Vorkonstitution die Form der systematischen Objektbestimmung für die auf sie aufbauende aktive Konstitution irgendwie implizit vorzeichnet. Betrachtet man – Husserls intentionale Analysen hierin systematisch korrigierend und ergänzend – die Selbsterhaltung von Sinn als ein eigenständiges Konstitutionsproblem des Erkenntnisinteresses, dann wird schließlich die organisierende Leistung der genetischen Konstitution in ihrer nicht nur systematischen und integrativen, sondern diakritischen Funktion sichtbar. Das Fundierungsverhältnis von Erfahrung und Urteil kann als die Vorkonstitution einer Konstitution gedeutet werden, insofern es als eine sich kontinuierlich entwickelnde Begriffsbildung verstanden wird. Wo die geltungstheoretische Betrachtung von Fundierungsebenen die Konstitutionsstufen trennt, verbindet sie die genetische in einem gleichsam übergreifenden Aktvollzug einer sich wiederholenden Entwicklung. Zum reproduktiven Erhaltungsinteresse gehört, dass sich sein Vollzugssinn als ein Wiederholungssinn konstituiert. Somit kann das, was in geltungstheoretischer Betrachtung als wiederholungslos einmalige Sinngebung erscheinen muss – zwei aufeinander aufbauende singuläre Aktvollzüge, eine neue Sinngebung kommt zu einer bestehenden hinzu – als ein und derselbe Aktvollzug gedeutet werden: Das konstituierende Urteil wiederholt die vorkonstituierende Sinngebung der Wahrnehmung, jedoch keineswegs im Sinne einer tautologischen Reproduktion, sondern einer solchen, welche die diakritische Entwicklung der Gegenstandsbeziehung einschließt: Die Begriffsbildung isoliert das Erkenntnisobjekt in einer Weise, welche die Wahrnehmungskontinuität schlechterdings aufhebt. Auf diese Weise lässt sich eine genetisch-phänomenologische Theorie der Begriffsbildung rekonstruieren, welche als eine intentionale Variante der antihegelianischen, naturalistischen Konzeption der Begriffsgenese gedeutet werden kann, wie sie die genetische Psychologie Herbarts und der Herbartschule theoretisch entwickelt hat. Im Prozess der Habitualisierung von Erkenntnissen, zu dem der Übergang von der Vorkonstitution zur Konstitution eines prädikativen Urteils steht in einer »Tendenz der Zuwendung«, die sich sogleich weiter auswirkt »als Tendenz auf vollkommene Erfüllung« [Husserl 1972, § 19, S. 87].

235 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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und Begriffs gehört, sondert sich schließlich die intentionale Erkenntnisorientierung aus ihrer Verwicklung mit der Wahrnehmungsorientierung, welche die zunächst vorbegriff‌liche Erkenntnisgewinnung der vorprädikativen Erfahrung auszeichnet. Es entsteht auf diese Weise ein unveränderlicher, von der Möglichkeit jedweder Modalisierung der Erkenntnisfeststellung befreiter Habitus, als die modalisierenden Veränderungen der Seinssetzung, die zur präsumptiven Wahrnehmungserkenntnis gehören, in den Begriff nicht mehr eingehen. Die gleichsam »endgültige« Erkenntnisfeststellung durch das Urteil kommt also zustande durch die nicht integrierende, vielmehr desintegrierende, dia­ kri­t ische Funktion der Ab- und Aussonderung der unveränderlichen von der veränderlichen Konstitutionsbestimmung. Das integrative Sys­­tem der Konstitution wird hier zum Objekt einer diakritischen Ent­w icklung; die generierende »Entwicklung des Systems« ist somit nicht als genetivus subiectivus, vielmehr genitivus obiectivus zu verstehen.

7)

Erkenntnisgewinnung als Orientierungsproblem: Die ­gene­t ische Phänomenologie der Organisation und ihre Themenfelder

Das Beispiel der Begriffsbildung zeigt exemplarisch, dass sich das Organisationsproblem im Übergang von der statischen zur genetischen Phänomenologie verlagert hat von der Systementwicklung in einer intentionalen Erkenntnisorientierung zur diakritischen Entwicklung dieser Erkenntnisorientierung selbst. Die Erkenntnisorientierung und ihr Ordnungsbezug werden nun nicht mehr einfach vorausgesetzt. Hat sich die Bezugnahme auf ein Erkenntnisobjekt im Bewusstsein bereits realisiert, dann beschränkt sich die Leistung der Organisation auf die systematische Konstitutionsbestimmung, d. h. darauf, eine Ordnungsdisposition zu aktualisieren sowohl im Hinblick auf die Gewinnung immer neuer Erkenntnismöglichkeiten als auch die Reproduktion habituell verfügbarer Erwerbe. Diese einseitige genetische Betrachtung nur der Objektbestimmung blendet allerdings das Zustandekommen der die Objektbestimmung tragenden Objektbeziehung methodisch aus. Die Fähigkeit, einen Gegenstand durch intentionale Bezugnahme identifizieren zu können, setzt im Reproduktionszusammenhang die Vorkonstitution dieser Leistung voraus. Das Erkenntnisinteresse ist hier vornehmlich daran interessiert, die auf Erkenntnisgewinnung 236 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Erkenntnisgewinnung als Orientierungsproblem

ausgerichtete intentionale Orientierung zu stabilisieren, insofern die Bedingungen der Reproduktion veränderlich und nicht unveränderlich sind. Daraus resultiert eine nicht konstituierende, sondern diakritische Entwicklung, welche das Erhaltungsinteresse leitet, die Möglichkeit der identischen Reproduktion dauerhaft zu gewährleisten. In dieser Genese der Erkenntnisorientierung geht es also nicht nur darum, solche durch die intentionale Bezugnahme vorgegebenen gegenständlichen Ordnungen lediglich im Bewusstsein zu konstituieren, sondern denjenigen, die Konstitutionsbestimmung ursprünglich ermöglichenden Ordnungsbezug zu generieren in der Entwicklung und Erhaltung der habituellen Verfügung eines Erkenntnisobjektes. Es sind vornehmlich drei Themenkomplexe, in denen sich der genetisch-phänomenologische Wandel des Organisationsproblems von einem solchen der Gegenstandsbestimmung zu dem der Gegenstandsorientierung vollzieht: Begriffsbildung, restitutive Wiederkonstitution und explizite Mehrheitserfassung. In der statischen Analyse reduziert sich die Begriffsbildung auf die Leistung der ideiernden Abstraktion, das »Wesen« eines individuellen Gegenstandes durch das Absehen vom Einzelnen und Hinsehen auf das Allgemeine zu gewinnen. Die Begriffsbildung vollzieht sich dort im Rahmen einer durch die intentionale Bezugnahme schon vorgegebenen Erkenntnisorientierung als die Gewinnung einer lediglich neuen Konstitutionsstufe: Was sich ändert, ist nicht die auf Erfassung eines Erkenntnisobjektes ausgerichtete intentionale Orientierung, sondern das ihr zugehörende Konstitutionsverhältnis, die Form der Vorstellung und Repräsentation: Aus der individuellen, perspektivisch-darstellenden Konstitution wird ein Verhältnis der Subsumption; die einzelne Wahrnehmung zum beliebig austauschbaren Beispiel einer Allgemeinvorstellung der Erkenntnis. Genetisch gehört zur Begriffsbildung jedoch nicht nur der Fundierungszusammenhang eines Aktes der individuellen Wahrnehmung und der ideierenden Abstraktion. Zur einfachen und direkten Erfassung des Gegenstandes kommt die Vermittlung durch eine habituelle, thematische Objektivierung hinzu: die Vorkonstitution des Erkenntnisobjekts als ein habituell verfügbares Bewusstseinsobjekt als Grundlage für die Reproduktion. Im Reproduktionszusammenhang der Begriffsgenese wandelt sich so schließlich das statische Fundierungsverhältnis von Wahrnehmung und Begriff zur dynamischen, diakritischen Entwicklung einer »reinen« Erkenntnisorientierung. Die begriff‌liche Abstraktion bedeutet nun, dass veränderliche Bestimmungen, die zur Wahrnehmungsorientierung gehören, nicht mehr 237 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

mit habitualisiert werden und damit in den Reproduktionszusammenhang der Erkenntnis nicht mehr eingehen. Diese Form der diakritischen Entwicklung einer reinen, mit der Wahrnehmungsorientierung unvermischten Erkenntnisorientierung bleibt jedoch insofern an der Oberfläche, als sie die habituelle Verfügung über die Erkenntnisorientierung im vorstellenden Bewusstsein und damit ein wirksames, organisierendes Konstitutionsverhältnis immer schon voraussetzt. Die Begriffsbildung beschränkt sich so letztlich auf die Konstitutionsprobleme der primären und nicht der sekun­ dären Habitualisierung. Die sekundäre Habitualisierung beinhaltet Sub­stituierungen durch verbildlichende Leistungen, die nötig werden, weil das Bewusstsein seiner begrenzten Kapazität reproduktiver Leistungsfähigkeit wegen außerstande ist, das Erkenntnisobjekt als ein Sys­tem von Objektbestimmungen in seiner ganzen Komplexität verfügbar zu halten. Die sich daraus ergebenden Organisationsprobleme untersucht die genetische Phänomenologie der Assoziation. Anders als bei der Begriffsgenese als Form der primären, durch Substituierungen noch unvermittelten Habitualisierung wird hier die Genese nicht nur des Erkenntnisphänomens, sondern auch des Bewusstseinsphänomens zum Thema. Mit dem Abgleiten des Bewussten in das Unbewusste, wel­ches sich in der reproduktiven Erinnerung unaufhaltsam vollzieht, droht der Verlust der habituellen Verfügung über ein mögliches Erkenntnisobjekt und damit der die Konstitution organisierenden Erkenntnisorientierung überhaupt. In der sekundären Habitualisierung richtet sich das Erkenntnisinteresse deshalb vornehmlich darauf, die Erkenntnisorientierung zu erhalten in einem Restitutionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution. Die Unmöglichkeit, den Gegenstand des Bewusstseins mit seinem System von Objekt­ be­stimmungen im Bewusstsein vollständig präsent zu halten, moti­ viert die Substituierung, die Ersetzung der ursprünglich direkten, anschaulichen Erfassung des Gegenstandes durch eine sie indirekt repräsentierende Vorstellung, ein Bild. Die mit der Verbildlichung verbundene Komplexitätsreduktion führt zwar einerseits dazu, dass die Objektbe­ziehung im Bewusstsein habituell verfügbar bleibt, das Abgleiten des geordneten Konstitutionszusammenhangs ins Unbewusste damit wirksam aufgehalten wird. Andererseits bewirkt die Substituierung des Erkenntnisobjekts durch das Bild die Dynamisierung der Reproduktion durch bewegungsdynamische Prozesse, in welcher sich die Erkenntnisorientierung tendenziell auf‌löst, indem das Objekt in einen Assoziationskomplex zerfällt, d. h. die ursprünglich zusammen238 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Erkenntnisgewinnung als Orientierungsproblem

hängende und geordnete intentionale Einheits- sich in eine unzusammenhängende und ungeordnete Mehrheitserfassung verwandelt. Dem Erkenntnisinteresse ist deshalb an einer Wiederkonstitution des geordneten Konstitutionszusammenhangs und damit verbunden einer restitutiven Erneuerung der sich in der Fernerinnerung auf‌lösenden intentional-einheitlichen Erkenntnisorientierung gelegen. Auch diese restitutive genetische Konstitution hat die Form einer diakritischen Entwicklung: Es geht darum, das Erkenntnisobjekt aus dem bewegungsdynamischen Kontinuum produktiver, fiktionaler assoziativer Synthesen zu lösen durch die Auf‌lösung des Bildbewusstseins und seiner ungeordneten Mehrheitserfassung. In der Wiederkonstitution stellt sich die ursprüngliche Anschauung, die gegenständliche Einheit und Ordnung, wieder her in einer ausnahmslos reproduktiven Erinnerung. Während sich die diakritische Entwicklung in der Begriffsbildung auf das reproduktive Generieren einer reinen, mit keiner Wahrnehmung mehr vermischten Erkenntnisorientierung beschränkt im Rahmen einer bestehenden Ordnung der Konstitution, bekommt sie in der restitutiven Wiederkonstitution den Sinn einer reproduktiven Genese von Ordnung aus der Unordnung heraus. Auch hier wird allerdings eine aktiv organisierende Erkenntnisorientierung und damit wirksame intentionale Konstitutionsbestimmung in der Genese vorausgesetzt: Die Wiederkonstitution kommt zustande durch eine reproduktive Ordnungsleistung und die sich mit ihr vollziehende Auf‌­ lösung eines assoziativ-produktiven, bewegungsdynamischen Kontinuums. Bezeichnend stellt die bewegungsdynamische Umwandlung der inten­tionalen Einheits- in die assoziative Mehrheitserfassung im konstitution­ stheoretischen Rahmen der sekundären Habitualisierung kein eigenständiges Organisationsproblem dar. Sie zeigt sich als ein Phänomen nicht der Organisation, sondern Desorganisation, als die Fiktionalisierung und Auf‌lösung des geordneten Systems der Konstitution in das ungeordnete Chaos solcher – im konstitutions­ theoretischen Verstande – vorintentionaler Synthesen schwankender Erinnerungsassoziationen. Dass die Mehrheitserfassung schließlich zum dritten sys­tematisch zu betrachtenden Fall organisierter, genetischer Konstitu­tion wird, liegt wiederum daran, dass sich die intentionale, schlichte Erfassung des Erkenntnisobjektes in der statischen und geltungstheoretischen Betrachtung genetisch durch eine habitualisierende, thematische Objektivierung vermittelt. Husserls lapidare Auskunft, wonach es sich im Normalfall der Wahrnehmung handelt »um 239 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

eine Mehrheit von Gegenständen, die in einem vorgegebenen Bewußtsein beisammen sein müssen« [Husserl 1972, § 34, S. 174], täuscht allzu leicht darüber hinweg, dass sowohl in der statischen als auch genetischen Konstitutionsbestimmung die Mehrheitserfassung reduktionistisch betrachtet wird. Das Bewusstsein einer Mehrheit von Gegenständen ist nicht als solches intentional, sondern nur dadurch, dass diese Mehrheit in einer zugrunde liegenden intentionalen Einheit fundiert wird. Grundlage für diese Reduktion ist Husserls Konzeption des Horizontbewusstseins. Dem Innenhorizont möglicher Bestimmungen eines Gegenstandes korrespondiert der Außenhorizont möglicher anderer Gegenstände, die in den Fokus des Bewusstseins treten können. Die Reduktion der Mehrheits- auf eine intentionale Einheitserfahrung garantiert die intentionale Struktur des Horizontes, wo die Mehrheit immer als eine implizite Mehrheit in Form einer bloßen Leerintention gegeben ist, die durch nachträgliche Veranschaulichung lediglich expliziert wird. Durch die Explikation eines horizontintentional Impliziten wird die explizte Mehrheit letztlich zur abhängigen Variable einer zugrundlegenden gegenständlichen Einheit. Diese in der statischen Analyse bereits angelegte horizontintentionale Reduktion der Mehrheits- auf die intentionale Einheitserfassung wird jedoch in genetischer Perspektive fragwürdig. Zwar ist die Mehrheitserfassung mit der Explikation grundsätzlich verwandt, doch von ihrer Synthesis her von dieser »streng zu scheiden«73. Durch das Erkenntnisinteresse und seine thematische Objektivierung wandelt sich nämlich die implizite Mehrheit des Horizontbewusstseins in eine explizite. Viele Gegenstände zugleich können nur dann von Interesse sein, wenn jeder einzelne von ihnen thematisch explizit erfasst und damit als eine reproduktive Einheit für sich gegeben wird. Dies setzt im Prinzip die Auf‌lösung des Horizontbewusstseins als eine Form von Verweisungsbewusstsein und damit unthematischer Intentionalität voraus. Die genetische Phänomenologie der Konstitution weiß sich hier systematisch nicht anders zu helfen, als die intentionale Einheit nicht durch das aktive Interesse und seine assoziative Mehrheit, sondern eine zugrunde liegende passive Synthesis zu begründen. Durch die Fundierung aller Bewusstseinsaktivität in der Passivität des inneren Zeitbewusstseins lässt sich dann auch in genetischer Perspektive Vielheit auf gegenständliche Einheit reduzieren: die Konstitution einer

73

Husserl 1972, § 24 d »Explikation und Mehrheitserfassung«, S. 134.

240 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Erkenntnisgewinnung als Orientierungsproblem

Mehrheit von Individuen erscheint der eines einzelnen Individuums völlig analog.74 Dieser konstitutionstheoretische Reduktionismus gehört zu den methodisch schwächsten Kapiteln der genetischen Phänomenologie überhaupt. Das »innere Zeitbewußtsein« als Urform der passiven Synthesis ist eine Form von Horizontintentionalität und enthält als solche keine thematische Objektivierung und deshalb auch nicht eine intentional explizite, sondern nur implizite Mehrheit von Objekten. Damit wird die Mehrheitserfassung genetisch schließlich doch zum bloßen Sonderfall der Explikation, was Husserl mit Blick auf die aktive Synthesis des Erkenntnisinteresses zunächst ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Die Folge davon ist einmal, dass mit Blick auf die Wieder­kon­sti­ tution die organisierende Funktion der assoziativen Mehrheitserfassung nicht eingesehen wird. Die Restitution der Erkenntnisorientierung als ein Zusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution kann genetisch durch die bloße Passivität der assoziativen Weckung und das von ihr gespeiste Weckungskontinuum nicht vollständig erklärt werden. Notwendig ist hier ein wirksames selektives Wahrnehmungsinteresse und damit eine Vermittlung der passiven Synthese durch eine aktive. In Bezug auf die Konstitutionsprobleme der sekundären Habitualisierung deutet sich damit die Umkehrung der Fundierungsverhältnisse von Aktivität und Passivität an.75 Zum anderen führt der konstitutionstheoretische Reduktionismus, die intentionale Organisation der assoziativen Mehrheit genetisch nicht auf ein aktives Wahrnehmungsinteresse, sondern eine passive Wahrnehmung und das durch sie affektiv ausgelöste aktive Erkenntisinteresse zurückzuführen, zu einer abstrakten Logifizierung solcher Organisationsprobleme. Die genetische Phänomenologie entdeckt die Organisation umweltlicher Wahrnehmungsorientierung, das »Bewusstseinsfeld«, welche darin besteht, eine Vielheit von Gegenständen als Peripherie einem thematischen Zentrum zuzuordnen. Husserl unterscheidet entsprechend das »Hauptthema« von den »Beziehungsthemen« des Interesses.76 Doch bezeichnend kommt heraus: »Eine feste Ordnung ist hier 74 Vgl. Husserl 1972, § 36 »Die passive (zeitliche) Einheit der Wahrnehmung«, S. 181. 75 Vgl. dazu das abschließende Methodenkapitel III,7. 76 Die Gegenstände werden nicht bloß assoziativ kolligiert, sondern durch das Interesse intentional auf ein Beziehungszentrum hin ausgerichtet. Dies ist die Grundlage des »beziehenden Betrachtens«. Es kommt nicht nur »das Bewußtsein einer durchlaufenen Mehrheit von Gegenständen zustande«. Viel­

241 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. I – »Bewusstwerdende Objektivität«

nicht vorgezeichnet, wie es bei der inneren Explikation der Fall war, wo wesensmäßig Gegenstände als ursprüngliche Substrate anderen vorangingen, die nur als Bestimmungen ursprünglich auftreten können.« [Husserl 1972, § 34 b, S. 177]. Der Grund dafür liegt in der prinzipiellen »Umkehrbarkeit des beziehenden Betrachtens« [ebd., Überschrift]: a kann logisch ebenso als Beziehungsgegenstand zu b, wie b als Beziehungsobjekt zu a gedacht werden. Diese logische Reziprozität macht eine genetische Erklärung, wie die Habitualisierung einer solchen Feldstruktur in der Wahrnehmung überhaupt möglich ist, letztlich zunichte, die darauf beruht, ein »Hauptthema« im Zen­trum zu halten und gerade nicht beliebig gegen Beziehungsthemen aus der Peripherie auszutauschen. Husserls genetische Begründung kann sich hier wiederum nur so helfen, die Habitualisierung konfigurativer Mehrheiten in der Wahrnehmung auf die Explikation einer zugrunde liegenden Einheit in der Erkenntnis zurückzuführen. Die thematische Fixierung erscheint so als die Folge des systematischen Erkenntnis­interesses an der Gegenstandsbestimmung – ein letztlich aporetisches, methodisch nicht haltbares Konzept.77 Husserl selbst weist auf den Tatbestand hin, dass sich »das Ich mehreren Gegenständen hintereinander zuwendet, die miteinander nichts zu tun haben, und von denen jeder für sich sein Interesse erweckt, aber so, dass die Interessen zusammenhanglos sind.« [Husserl 1972, § 23 b, S. 120] Diese gleichsam zerstreute Interessenlage der umweltlichen Wahrnehmung offenbart die unüberwindlichen methodischen Grenzen der Phänomenologie der Konstitution überhaupt. In der Zusammenhanglosigkeit ihres Orientierungswechsels kann die interessierte Wahrnehmung nicht mehr als a priori geordnet und organisiert durch eine Erkenntnisorientierung gedacht werden in Form eines vorgegebenen Außenhorizontes, der das im Wechsel der Orientierung Unzusammenhängende von vornherein in einen Zusammenhang bringen würde in Gestalt eines horizontintentional implizierten und lediglich zu explizierenden Systems der Gegenstandskonstitution. Die phänomenologische Feldtheorie offenbart so schließlich das Dilemma der exklusiv-konstitutionstheoretischen Begründung von Organisation überhaupt: Das Erkenntnisinteresse wird vom transzendentalen Ideal der systematischen Objektbestimmung geleitet. In seiner teleo-

77

mehr fasst das Interesse in »der Betrachtung eines dieser Gegenstände […] ihn als Hauptthema ins Auge.« [Husserl 1972, § 34 a, S. 175] Vgl. dazu die kritische Erörterung Teil C, Kap.  I,5.

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7) Erkenntnisgewinnung als Orientierungsproblem

logischen Ausrichtung zielt es deshalb auf die approximative Vervollständigung unvollständiger Erkenntnisse und damit die immer wieder mögliche Überschreitung des notwendig begrenzten Wahrnehmungsdurch einen unbegrenzten Erkenntnishorizont. Ein Selektions­motiv, welches Ordnung und Organisation nicht nur einschränkt, sondern selber aktiv organisierend wirkt durch die Fixierung der Wahrnehmung auf ein intentionales Beziehungszentrum, ist aus dem systematischen Erkenntnisinteresse deshalb prinzipiell nicht ableitbar und demzufolge ein originäres selektives Wahrnehmungsinteresse, welches seine Organisation zu gewinnen vermöchte nicht erst aus der Vermittlung der Wahrnehmung durch eine wahrnehmungsvorgängige Erkenntnisorientierung, sondern der bewegungsdynamischen Organisation der Wahrnehmungsorientierung selbst, genetisch unausweisbar.78 Somit können von den Themenfeldern der genetischen Phänomenologie der Organisation nur die originären Konstitutionsprobleme der primären und sekundären Habitualisierung, nicht aber auch die mit der expliziten Mehrheitserfassung zusammenhängenden Fragen der Ordnung und Organisation erschöpfend behandelt werden. Sie haben ihren systematischen Ort in einer nicht mehr konstitutionstheoretisch fundierten Phänomenologie der Orientierung, welche die bewegungsdynamische Wahrnehmungsorientierung nicht mehr nur reduziert auf eine Rolle der Konstitution, die bloß repräsentierende Darstellung einer Erkenntnisorientierung und ihrer transzendentalen Ordnungsfunktion, sondern vor und außerhalb jeder möglichen Konstitutionsbestimmung als eine Leistung autonomer Selbstorganisation zu erweisen sucht.

78

Vgl. dazu Teil C, Kap. III,1.

243 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Kapitel II Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution: Primäre und sekundäre Habitualisierung (Begriffs­bildung und restitutive Wiederkonstitution) 1)

Abstraktion und reproduktive Habitualisierung. Die phäno­meno­logische Wiederentdeckung der dynamischen Begriffsgenese

Zunächst sieht es also so aus, als mache die phänomenologische Intentionalitätskonzeption eine genetische Erklärung der Begriffsbildung, wie sie Herbart und die Herbartschule mit ihrer Theorie der diakritischen Entwicklung ausgebildet haben, von vornherein überflüssig. Herbarts erkenntnistheoretischer Begründungsansatz ist so wenig wie der von Husserls Phänomenologie »psychologistisch«. Erkenntnisse erlangen wir nach Herbart durch Begriffe, die durchaus »nichts Psychologisches« darstellen [Herbart 1968, Bd.2, § 120, S. 161]. Das heißt aber nicht, dass die Möglichkeit, begriff‌liche Erkenntnisse überhaupt gewinnen zu können, einer genetisch-psychologischen Erklärung unbedürftig wäre, denn die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung überhaupt gründet in einem dynamischen Reproduktionszusammenhang der Habitualisierung. Die untrennbare Einheit von Erkennen und Wiedererkennen, von Identifizierung und Reproduktion verlangt eine erkenntnistheoretische Grundlegung, die sicherstellt, dass die Möglichkeit, ein Objekt in der Vorstellung identisch immer wieder reproduzieren zu können, angesichts von veränderlichen Assoziationszusammenhängen in der Reproduktion gewahrt werden kann. Es gibt assoziative Vorstellungen, die veränderlich sind und solche ein Objekt in der Erkenntnis unveränderlich repräsentierenden Vorstellungen, die Herbart im weitesten Sinne Begriffe nennt.79 Die Fähigkeit zur »reinen«, begriff‌lich-unveränderlichen Erkenntnis kann und darf im Reproduktionszusammenhang nicht einfach vorausgesetzt werden, sie ist vielmehr das genetische Produkt einer allmählichen Loslösung der objektivierenden Leistung der Vorstellung von den assoziativen Synthesen. Diese Absonderung vollzieht sich im wesentlichen in einem Prozess der Habitualisierung mit der Stabilisierung der Reproduktionsbedingungen der Vorstellung. Begriffe entstehen demnach nicht 79

Vgl. dazu Teil A, Kap. II,3.

244 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Abstraktion und reproduktive Habitualisierung

einfach durch spontane Abstraktion, sondern in einem dynamischen Prozess der diakritischen Entwicklung, denn es sind die Bedingungen für die begriff‌liche Abstraktion, die Lösung der intentional-objekt­ bezüglichen Vorstellung aus ihrer Verwicklung mit veränderlichen Assoziationskomplexen, im Reproduktionszusammenhang gerade nicht von vornherein gegeben, sondern allererst zu schaffen. Husserls Phänomenologie schaltet die Notwendigkeit einer solchen kausalgenetischen und dynamischen Erklärung der intentionalen Erkenntnisorientierung von vornherein aus durch ihre geltungstheoretische Verschärfung der antipsychologistischen Erkenntnisbegründung. Demnach resultiert die Möglichkeit der Identifizierung von Gegenständen aus einer intentionalen Bedeutungserfassung, der Bezugnahme auf eine ideale Seinsgeltung, welche im Prinzip kein rea­ ler Bestandteil des Reproduktionszusammenhangs der Vorstellung ist und somit auch der möglichen kausalgenetischen Veränderung durch die Assoziationszusammenhänge nicht unterliegt. Die »Anknüpfungen an Herbart und Lotze« in den »Prolegomena«80 vereinnahmen zwar deren im Ansatz intentionale Auffassung des Begriffs, eliminieren aber zugleich ihren genetischen und dynamischen Aspekt. Husserl sieht in Herbart den Vorläufer einer rein geltungstheoretischen Erkenntnisbegründung, insofern er gezeigt habe, dass der Inhalt des Begriffs nur in völliger Abstraktion davon zu gewinnen ist, »wie wir den Gedanken empfangen, produzieren und reproduzieren mögen« [Husserl, Hua XVIII, § 59, S. 220]81. Herbart gelingt nach Husserl die Isolierung des reinen Geltungsphänomens letztlich nicht, »Ideales und Reales durch eine unüberbrückbare Kluft zu scheiden« des fehlenden intentional-sprachanalytischen Begründungsansatzes seiner Theorie der Begriffsbildung wegen: »Das einzig klärende Wort in der Bestimmung des Begriffs vom Begriff hat Herbart, soweit ich sehe, nicht gesprochen, nämlich daß Begriff oder Vorstellung im logischen Sinne nichts anderes ist, als die identische Bedeutung der entsprechenden Ausdrücke.« [Ebd.] Intentional und konstitutionstheoretisch tritt an die Stelle von Herbarts dynamisch-kausalgenetischer Begründung der begriffsbildenden Diakrisis so schließlich eine ganz und gar nicht dynamische, sondern statische, ontologische Differenz: die Dichotomie von Wesen und Faktum, von Idealem und Realem. 80 81

So die Überschrift des § 59 [Husserl, Hua XVIII, S. 218]. Husserl zitiert hier Herbarts Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, vgl. Husserl, Hua XVIII, S. 219.

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

Dass durch intentionale Vorstellungen und Begriffe Objekte der Erkenntnis im strengen Sinne nicht nur identifizierbar, sondern Erkenntnisse auch reproduzierbar werden, bestreitet allerdings auch der Phänomenologe nicht. Entscheidend für den geltungstheoretischen Begründungsansatz ist, dass nicht nur die aktuelle Identifizierung, sondern auch die zur Erkenntnisgewinnung gehörende Habitualisie­ rung rein intentional und damit als eine schlechterdings konstante Erhaltungsbedingung zu verstehen ist, welche den Reproduktionszusammenhang im Ganzen fundiert. Die retentionale Wandlung liegt Husserls frühen Überlegungen zur Zeitkonstitution zufolge als eine rein passive, primäre Erinnerung der reproduktiv aktualisierenden sekundären Erinnerung als ein Habitus zugrunde – die retentionale Habitualisierung vollzieht sich als solche ohne jede Vermittlung der Reproduktion. Methodisch bedeutet das: Die Habitualisierung ist zum einen nicht eingebundenen in die kausalgenetische Reproduktion, und zum anderen nehmen die veränderlichen Bedingungen der Reproduktion keinen Einfluss auf die Form der Habitualisierung, die sich reduziert auf die bloße Modalisierung eines an ihm selber unveränderlichen Sinnes, die Umwandlung der Erkenntnisorientierung und der mit ihr verbundenen systematischen Konstitutionsbestimmung von einem Akt in eine Disposition und umgekehrt. Geltungstheoretisch – und d. h. statisch-phänomenologisch – begriffen ist die Reproduktion demnach durch eine rein-intentionale Habitualisierung stets vermittelt, aber nicht umgekehrt diese Habitualisierung einer intentionalen Gel­ tung wiederum vermittelt durch eine Genesis – die kausalgenetischen Zusammenhänge der Assoziation und Reproduktion. Im Wandel der statischen zur genetisch-phänomenologischen Betrachtung offenbart sich schließlich, dass diese ontologisch und geltungstheoretisch begründete Entkoppelung der intentionalen Habi­ tualisierung von der Reproduktion generell nicht zu halten ist. Organisation lässt sich nicht auf das bloße Ordnungsproblem der systematischen Erkenntnisgewinnung reduzieren, und entsprechend beschränkt sich die Leistung der Reproduktion nicht darauf, eine immer schon habituell vorgegebene Erkenntnisorientierung im vorstellenden Bewusstsein lediglich zu aktualisieren. Die Reproduktion aktualisiert nicht nur, sie entwickelt den Habitus ursprünglich mit. Das kommt zum Vorschein nicht erst in der Phänomenologie der Assoziation. Vor dem Hintergrund der Probleme des Unbewussten – des möglichen Abgleitens und Entgleitens der Gegenstandsbeziehung aus dem Horizont des Bewusstseins – gelangt die phänomenologische Analyse zur 246 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Abstraktion und reproduktive Habitualisierung

notwendigen Unterscheidung des Habituellen vom Unbewussten. Der Habitus verkörpert demnach ein Bewusstseinsphänomen im Sinne einer nicht bloß passiven, sondern aktiven Disposition. Um die Erkenntnisorientierung und ihre Ordnungsleistung im Bewusstsein lebendig zu erhalten, erscheint es letztlich unumgänglich, dass auch die primäre Erinnerung, die retentionale Wandlung, durch eine Leistung der reproduktiven Erinnerung gleichsam wach gehalten wird: Genetisch zeigt sich die Retention nun eingebunden in ein Kontinuum der assoziativen Weckung.82 Die reproduktive Vorkonstitution eines Habitus als einer aktiven Disposition für die aktuell konstituierende Erkenntnisgewinnung spielt sich jedoch nicht nur ab in den Tiefenschichten der Konstitution – der »passiven Synthesis« – in Form einer gleichsam anonymen, kausalgenetischen assoziativen Weckung. Die reproduktive Entwicklung der habituellen Erkenntnisorientierung vollzieht sich bereits durch die »aktive Synthesis«, die genetische Motivation der Erkenntnisgewinnung durch das aktive, ichliche Interesse. Die Vermittlung von Erkenntnis und Interesse bedeutet, dass die habituelle Erkenntnisverfügung eine aktive Disposition im Sinne einer ganz konkreten, intentionalen Erwartungshaltung verkörpert, welche ihrerseits durch die Veränderung der Reproduktionsbedingungen auf die Form der Reproduktion Einfluss nimmt: aus der einfachen Vermittlung von intentionaler Habitualisierung und Reproduktion wird nun eine doppelte. Die genetische Phänomenologie impliziert demnach eine Theorie der Begriffsbildung, welche die Frage nach der möglichen Entstehung eines Begriffs nun nicht mehr nur ontologisch und geltungstheoretisch auf ein bloßes Abstraktionsproblem reduzieren kann. Mit dem Übergang von der statischen in die genetische Betrachtung wird schließlich deutlich, dass eine systematische Verbindung besteht zwischen der abstraktiven Leistung der gleichsam endgültigen Erkenntnisfeststellung, der Konstitution eines begriff‌lichen Sachverhalts durch das Urteil, sowie der ihr vorausgehenden Erkenntnisgewinnung der vorprädikativen Erfahrung in ihrer Offenheit eines niemals endgültigen und abschließenden, vielmehr der Veränderung und Modalisierung unterliegenden Sinngebung. Die statische Betrachtung hat zwar die diakritische Funktion der Modalisierung hervorgehoben: Die Erfahrungskorrektur beinhaltet die restitutive Leistung einer Wiederherstellung der Kontinuität von systematischer Erkenntnisgewinnung in der Trennung der 82

Dieser Problematik widmet sich vor allem Teil B, Kap. II,4.

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

unveränderlichen Konstitutionsbestimmung von den veränderlichen Wahrnehmungsgehalten. Die Modalisierung und Restitution ist zwar eine notwendige Bedingung für die Erhaltung der Erkenntnisorientierung der Wahrnehmung mit ihrer eingeschlossenen Bezugnahme auf das die Konstitution leitende transzendentale Ideal, sie verändert und entwickelt sie aber nicht. Das die Erkenntnisgewinnung generierende Erkenntnisinteresse bringt zu dieser Bezugnahme auf das Ideal nun zugleich eine solche auf die Begriffsbildung ins Spiel: Das Interesse leitet das Erhaltungsmotiv, die einmal gewonnene Erkenntnis ein für allemal festzuhalten, und diese Intention erfüllt sich letztlich in der Erkenntnisfeststellung des Urteils, mit der sich ein Sachverhalt und Begriff konstituiert. Indem die prädikative Erkenntnisfeststellung nun aber ihrerseits auf die vorprädikative, noch im Fluss befindliche, ungesicherte Erkenntnisgewinnung der Wahrnehmung aufbaut, erscheint die Modalisierung und Restitution nicht nur als eine bloße Erhaltungsbedingung des Systems der aktuellen Wahrnehmungskonstitution, sondern zugleich die Vorkonstitution einer potentiellen Begriffsbildung: Im Interesse, das Resultat der Erkenntnisgewinnung begriff‌lich zu fixieren, wird so die diakritische Entwicklung der die Konstitutionsbestimmung fundierenden Erkenntnisorientierung sichtbar: Bedingung der Möglichkeit für die im Urteil sich vollziehende Trennung von Anschauung und Begriff ist die in der Wahrnehmung sich vorbereitende Ausschaltung der veränderlichen Anschauung aus dem Reproduktionszusammenhang der Habitualisierung. Husserl hat diese Umwandlung seiner Theorie der vorprädikativen Modalisierung in eine solche der Begriffsgenese und diakritischen Entwicklung freilich nicht eigens systematisch erfasst, sodass sie hier im Wesentlichen als eine nicht naturalistische, sondern intentionale Variante der durch Herbart und die Herbartschule entwickelten Konzeption rekonstruiert werden muss. Der Grund für diese empfindliche systematische Lücke der genetischen Phänomenologie liegt allgemein in der bei Husserl fehlenden Reflexion auf die Wandlungen des Konstitutionsbegriffs, die sich hier speziell auswirkt in der methodisch ungeklärten Frage, wie sich die intentionale Funktion zur Erhaltungsfunktion des Interesses verhält.83 Husserl unterscheidet die Konsti83 In Erfahrung und Urteil sieht es nur so aus, dass sich das Erhaltungsmotiv des Erkenntnisinteresses auf die Objektsetzung bezieht. Denn der »Erkenntnis­ besitz« ist letztlich das Ergebnis eines Prozesses der Objektbestimmung, der »Fixierung des Ergebnisses der betrachtenden Wahrnehmung ›ein für alle­

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1) Abstraktion und reproduktive Habitualisierung

tution von kategorialen Verstandesgegenständlichkeiten durch das Urteil von der von Allgemeingegenständlichkeiten im engeren Sinne, wobei beide »zumeist schon untrennbar miteinander verflochten sind« [Husserl 1972, § 80, S. 381]. Hier kommt der bei Herbart erstmals auftauchende Doppelsinn von »Begriff« zum Vorschein: als Allgemeinbegriff sowie als intentionale Begriffsbildung im Sinne der Ausbildung einer intentionalen Erkenntnisorientierung überhaupt, in der sich eine Vorstellung ausschließlich nach dem Inhalt des Vorgestellten richtet. Beiden eignet der Grundzug, die »Objektivität des Denkens« zu befördern in der »Loslösung [der begriff‌lichen Bedeutung] vom Jetzt und Hier der Erfahrungssituation« [ebd., S. 384], wobei die intentionale Begriffsbildung die abstraktive Gewinnung des Allgemeinbegriffs fundiert, als die Verfügung über den Erkenntnisgegenstand durch das Urteil »Identifizierbares über die Zeit seiner anschaulichen Gegebenheit hinaus« gewährt, also eine reine intentionale Erkenntnisorientierung entwickelt, die sich von der Wahrnehmungsorientierung ablöst, mit der sie in der vorprädikativen Erkenntnisgewinnung verflochten ist. Die Re­inter­pretation der Erfahrungskorrektur und ihrer Form der restitutiven, modalisierenden Sinngebung als die Vorkonstitution einer solchen ursprünglichen, intentionalen Begriffsbildung, zu der Husserls Analysen in wesentlichen Ansätzen den Leitfaden durchaus geben, kann auf die Frage nach einer vorprädikativen Begriffsgenese so schließlich eine systematisch fundierte Antwort geben. Das Erhaltungsinteresse bezieht sich nicht auf die systematische Konstitution – die durch das transzendentale Ideal vorgegebene Kontinuität der Objektbestimmung – sondern die diakritische Funktion der Entwicklung einer »reinen« Erkenntnisorientierung durch die Trennung von An-

mal‹« [Husserl 1972, § 47, S. 232]. Durch die Objektbestimmung ist einerseits – antipsychologistisch – die Vermittlung dieses Erhaltungsinteresses durch eine der kausalgenetischen Reproduktion vorgängige intentionale Sinn­gebung gesichert. Andererseits wird genetisch nicht klar, warum sich das Interesse an unbedingtem, bleibendem Besitz aus der empirischen Erkenntnisgewinnung ableiten lässt, die sich gerade immer wieder als unbeständig erweist. Das Wahr ­­­­nehmungsinteresse als uneigentliche Vorstufe eigentlichen Erkenntnis­ interesses ist eben primär an der systematischen Vervollständigung von Einzel­erkenntnissen interessiert, zu der veränderliche wie unveränderliche Bestimmungen gleichermaßen gehören, sodass sich der nach uneingeschränkter Objektverfügung strebende »Wille zur Erkenntnis« [ebd.] letztlich nur durch ein reproduktives Erhaltungsinteresse am Objekt als solchen erklären lässt.

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schauung und Begriff, wie sie sich durch das prädikative Urteil konstituiert und durch die Trennung von Sinngehalt und Seinsmodalität vorprädikativ vorkonstituiert.

2)

Modalisierung und Begriffsbildung: Die diakritische Entwicklung der intentionalen Erkenntnisorientierung

Wahrnehmung und intentionale Begriffsbildung sieht die genetische Betrachtung in einer Kontinuität der Erkenntnisgewinnung, als der Konstitution des Allgemeinbegriffs im Urteil die Diakrisis einer reinen Erkenntnisorientierung ermöglichend vorausgeht. Es ist ein und dasselbe Erkenntnisinteresse an der habituellen Verfügung aller erworbenen Erkenntnisse, welches sowohl die vorprädikative Erfahrung als auch das prädikative Urteil leitet. Im wahrnehmenden Bewusstsein ist »nichts, was so einmal in der Erfahrung und speziell der Anschauung gegeben war, verloren« [Husserl 1972, § 47, S. 231], doch zum wirklichen Besitz einer jederzeit wiederholbaren Erkenntnisleistung wird diese empirische Habitualisierung erst in der endgültigen Erkenntnisfeststellung durch das Urteil, der »Fixierung des Ergebnisses der betrachtenden Wahrnehmung »ein für allemal«» [ebd., S. 232], welche somit als Telos diesen ganzen Erkenntnisprozess abschließt. Unterstrichen wird diese intentionale Teleologie der Habitualisierung noch dadurch, dass Husserl vom Urteil und seiner Leistung der abschließenden Erkenntnisfeststellung her das Wahrnehmungsinteresse als »Vorstufe des eigentlichen Erkenntnisinteresses« [ebd.] bestimmt. Durch das prädikative Urteil konstituiert sich das, was Husserl die kategorialen Gegenständlichkeiten oder Verstandesgegenständlichkeiten nennt, die als ein fester und bleibender Besitz des einsamen Ego zugleich intersubjektiv vermittelbar, d. h. durch Artikulation kommunizierbar werden.84 Woraus resultiert jedoch diese Möglichkeit der Umwandlung des uneigentlichen in das »eigentliche« Erkenntnisinteresse, 84

In den kategorialen Gegenständlichkeiten oder Verstandesgegenständlichkeiten »ist die Erkenntnis so niedergeschlagen, daß sie erst wirklich zum bleibenden Besitz werden kann, zum Gegenstand, über den als identischen ich nicht nur selbst verfügen kann, sondern der als solches intersubjektiv konstituiert ist in einer Weise, daß auf Grund der mit den logischen Leistungen verbundenen Ausdrücke und ihrer Indikation das, was zunächst in meiner Anschauung gegeben war, als Identisches auch vom Anderen angeschaut werden kann.« [Husserl 1972, § 47, S. 233 f]

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2) Modalisierung und Begriffsbildung

wodurch das Subjekt vom Erkenntnisobjekt schließlich »endgültig« Besitz ergreift und es für die Kommunikation mit Anderen bereithält? Die Antwort heißt: Mit dem Urteil und seiner Fähigkeit der Begriffsbildung bricht die Kontinuität empirischer Erkenntnisgewinnung endgültig ab. Der Hinweis auf eine solche begriffsbildende Leistung der Urteilsaktivität liegt in einer einschneidenden Veränderung, welche die Habitualisierung der Anschauungsgehalte betrifft: Das Urteil als Form der thematischen Vergegenständlichung zeichnet aus, dass hier »Identisches und Identifizierbares über die Zeit seiner anschaulichen Gegebenheit hinaus« [ebd., S.  232 f] gegeben ist. Anders als die vergegenständlichende Leistung der Wahrnehmung erscheint diejenige des Urteils nicht situativ gebunden und in ihrer Seinsfeststellung relativ, insofern »Kennzeichen aller Erkenntnisintention, aller urteilenden Vergegenständlichung ist, dass es über die augenblickliche Situation hinaus einen Besitz an Erkenntnis zu schaffen strebt, der mittelbar und künftig verwertbar ist« [ebd., § 13, S. 65 f]. Im Kontrast dazu wird nun die Erkenntnisgewinnung der Wahrnehmung als »ein Bereich des Fließenden« [Husserl 1972, § 47, S. 60] charakterisiert, deren Seinsfeststellung sich noch nicht endgültig verfestigt hat, weil die zur augenblicklichen Wahrnehmungssituation gehörenden Anschauungsgehalte mit habitualisiert werden. Zwar ist auch das Wahrnehmungsinteresse auf die Zukunft ausgerichtet: erwartet wird, dass sich die Erkenntnis ein und desselben Objektes im Prozess kontinuierlicher Objektbestimmung wiederholt. Doch bleibt diese Zukunftserwartung notwendig unsicher weil ausgehend von einer jeweiligen »Anschauung«, eine zur Erkenntnisorientierung gehörende Wahrnehmungsorientierung. Es ist offensichtlich, dass Husserl die Leistung des Urteils nach dem Modell der Begriffsbildung interpretiert als die Trennung von Begriff und Anschauung: Aus der un­ mittelbaren Anschauung, die in der Wahrnehmung mit zur Intention gehört, wird nun eine vermittelte und repräsentative Anschauung. Die veränderlichen Anschauungsgehalte, welche die Erkenntnisfeststellung der Wahrnehmung im Fluss halten, werden auf diese Weise aus dem Zusammenhang der Habitualisierung und Reproduktion überhaupt ausgeschieden: Während Wahrnehmungs- und Erkenntnisorientierung in der perspektivischen Wahrnehmung eines Gegenstandes eine unverbrüchliche Einheit bilden, trennt sie die prädikative Sinnfeststellung. Damit wird schließlich eine »reine« Erkenntnisorientierung habituell verfügbar, die an keine konkrete Wahrnehmungssituation mehr gebunden ist, eine Allgemeinvorstellung, welcher in251 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

dividuelle Wahrnehmungen und ihre anschaulichen Sinngehalte nun nicht mehr inhärieren, vielmehr als zum Begriffsumfang gehörende variable und im Prinzip beliebig ersetzbare Anschauungen lediglich subordiniert werden.85 In dem Moment, wo die Konstitution von Verstandesgegenständlichkeiten nicht mehr nur statisch eine auf die Wahrnehmungskonsti­ tution lediglich aufbauende Fundierungsebene verkörpert, sondern genetisch vereinigt wird durch eine Erfahrung und Urteil überspannende Teleologie prozessualen, intentionalen Erkenntnisinteresses, fungiert die vorprädikativ-empirische Erkenntnisgewinnung als die »Vorkonstitution« der prädikativen Unterscheidung von Begriff und Anschauung. In der sich wiederholenden Absonderung der Wahrnehmungs- von der Erkenntnisorientierung enthüllt sich die Wahrnehmungserkenntnis nun selbst als die genetisch ursprüngliche Form einer Begriffsbildung. Es ist deshalb kein Zufall, dass die zum Wahrnehmungssinn gehörende Modalisierung ins Zentrum der genetischen Analysen rückt. Die genetische Betrachtung stellt die Infragestellung und restitutive Erneuerung von intentionalen Sinngebungen, die auch schon die statische Analyse beschäftigt hatte, in den Mittelpunkt. Das bringt unmißverständlich Husserls programmatische Ankündigung zum Ausdruck: »Die bevorzugte Betrachtung einstimmiger Erfahrungs­zusammenhänge muß abgelöst werden durch die Betrachtung der möglichen Vorkommnisse der Modalisierung, des Zwiespältigwerdens, der Negation und dann der Vorkommnisse der Bewährung.« [Husserl, Hua XI, § 48, S. 219] Die Modalisierung zeigt nicht nur, dass die Seinssetzung der Wahrnehmung keine Endgültigkeit besitzt, »im Fluss« bleibt, sondern sich zugleich immer wieder herstellt. Für die genetische Betrachtung entscheidend wird die mit der resti85

In der vorprädikativen Erfahrung ist die Habitualisierung der »habituelle Niederschlag einer Explikation« [vgl. Husserl 1972, § 25, Überschrift, S. 136], d. h. eine solche der explizierenden Veranschaulichung einer Leerintention. Im Urteil und seiner Habitualisierung von Verstandesgegenständlichkeiten wird daraus bezeichnend eine Habitualisierung nur noch einer Leerintention, die nachträglich die Möglichkeit einer Veranschaulichung bietet, wodurch angezeigt ist, dass der Anschauungsgehalt nicht mehr zum habituellen Er­ kennt­nis­besitz gehört: Das Ergebnis des Erkenntnisbesitzes ist das, was »als bleibender Besitz muß aufbewahrt werden können; und zwar an Gebilden [den Verstandesgegenständlichkeiten, d. Verf.] die durch zunächst leere Indi­ kationen wieder zur Veranschaulichung des Identischen hinführen können – zu einer Veranschaulichung sei es durch Ver­gegenwärtigungen, sei es durch erneute Selbstgebung« [ebd., § 47, S. 233].

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2) Modalisierung und Begriffsbildung

tutiven Modalisierung verbundene diakritische Funktion: Es trennen sich Sinngehalt und Seinmodalität und damit die veränderliche von der unveränderlichen Konstitutionsbestimmung. In der Erkenntnisgewinnung der Wahrnehmung zeigt sich so bereits das Erkenntnisinteresse, das Identische festzuhalten gegenüber allen möglichen veränderlichen Erscheinungen, eine Entwicklung, die schließlich in der Erkenntnisfeststellung des Urteils kulminiert. Husserls Theorie der Modalisierung ist zwar als solche nicht genetisch konzipiert, erlangt jedoch für die genetisch-phänomenologische Erklärung der Begriffsbildung entscheidende Bedeutung. Die Theorie einer restitutiven Modalisierung, welche Husserl für die Wahrnehmungskonstitution entworfen hat, will letztlich sicherstellen, dass auch die veränderliche Objektbestimmung in die durch das transzendentale Ideal geleitete systematische Konstitution integriert werden kann. Zur konstituierenden Entwicklung eines Wahrnehmungsgegenstandes gehört nicht nur die Möglichkeit der explizierenden Näherbestimmung einer idealiter unveränderlichen Gegenstandserfassung, sondern auch die Umbestimmung oder Andersbestimmung, welche zu einer Korrektur der erkenntnisleitenden Auffassung nötigt. Aus diesem Grund greift Husserl die systematische Möglichkeit einer Subjektivierung der Seinsmodalitäten aus der Kritik der reinen Ver­ nunft auf, verengt sie jedoch von vornherein auf solche die intentionale Seinssetzung verändernden Seinsmodalitäten. Modalkategorien weisen nach Kant die Besonderheit auf, dass sie grundsätzlich nichts zur Objektbestimmung beitragen, die »Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken« [Kant 1968, B 266, A 219]. Es ist offensichtlich, dass Husserl an Kant anknüpft86 mit seiner Unterscheidung von »ontischen« Gegebenheitsweisen »nach intentionalen Objekten« und »modalen« nach Bewusstseinsweisen. Während die ontischen Modifikationen dem intentionalen Gegenstand »neue gegenständliche Zuwächse« verleihen, beschränken sich die Modalisierungen darauf, ihn »in dem »subjektiven Wie seiner Gegebenheitsweise«» vorzustellen [Husserl, Hua IX, Beilage XIV, S. 425]. Der phänomenologische Sinn von »Modalisierung« enthält damit jedoch über Kants Abhebung zweier grundverschiedener Richtungen der kategorialen Bestimmung 86

Übereinstimmungen und Differenzen in der Auffassung der modalen Bestim­ mungen bei Kant und Husserl erörtert ausführlich Antonio Aguirre [Aguirre 1991, S. 150 ff].

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

– entweder objekt- oder subjektbezogen – hinaus eine konstitutionstheoretisch motivierte Einschränkung. Für Kant wäre auch das eine Modalisierung, was Husserl als »ontische Modifikation« von der modalen Wandlung ausdrücklich abhebt – die intentionale Sinnenthüllung in Form einer explikativen Näherbestimmung –, insofern sie auf der modal-kategorialen Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit beruht. Offensichtlich beschränkt Husserl die Reichweite der Modalisierung und damit die ausschließlich subjektbezogene Gegenstandsbestimmung auf veränderliche Auffassungen wie die Andersbestimmung oder das Zweifelsbewusstsein, sodass die modale Wandlung auf diese Weise in der Näherbestimmung als objektbezüglicher »ontischer« Modifikation einerseits fundiert und andererseits von deren durch das transzendentale Ideal gesicherten Unveränderlichkeit einer ausschließlich explizierenden Sinnenthüllung zugleich ferngehalten wird. Die Subjektivität der modalen Wandlung kommt damit zum Ausdruck, dass sie nicht den noematischen Sinn, sondern Satz, d. h. den Setzungscharakter der Intention, betrifft.87 Modalisierungen bedeuten im wesentlichen »Auffassungsänderungen«, »eigenartige thetische Vorkommnisse, die Umwertungen und Entwertungen des früher Aufgefaßten« [Husserl, Hua III, 1, § 151, S. 353]. Sie führen dazu, dass aufgrund einer veränderten Wahrnehmungsorientierung die leitende Erkenntnisorientierung die Möglichkeit ihrer anschaulichen Erfüllung und Evidenzgebung verliert und damit die ursprüngliche Seinssetzung in Frage gestellt wird. Die intentionale Auffassung büßt ihre Bedeutung einer unzweifelhaften Wirklichkeitsmeinung ein und enthüllt sich so schließlich »als »Schein«, »Illusion«» [ebd.]. Mit der subjektbezüglichen Modalisierung ist also die Wandlung der ursprünglichen Evidenzgebung des Gegenstandes und die damit verbundene Veränderung des Setzungscharakters der Objektbeziehung gemeint: Sein stellt sich subjektiv immer wieder als Schein, Wirklichkeit als Illusion heraus. Im Falle des Zweifels etwa liegt eine Zwiespältigkeit in der Gegenstandsmeinung als solcher vor. Wir zweifeln beispielsweise daran, ob es sich bei dem Gegenstand, den wir aus der Ferne in einem Schaufenster erblicken können, wirklich um einen Menschen oder doch nur eine Puppe handelt [Husserl, Hua XI, § 8, S. 33]. Husserl 87

Zwischen noematischem Sinn und Satz unterscheidet Husserl in den Ideen I. Der »Satz« enthält die modalisierenden Setzungscharaktäre, die »thetischen Momente«. Vgl. Husserl, Hua III, 1, § 133, S. 305.

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2) Modalisierung und Begriffsbildung

unterscheidet als mögliche Gestalten der Modalisierung das Zweifelsbewusstsein, die Andersbestimmung sowie die Formen der problematischen, anmutlichen und offenen Möglichkeit.88 In allen diesen Fällen zeigt das Bewusstsein der Modalisierung die identische Struktur einer »Wandlung des Geltungsmodus der Gewißheit, wodurch sie aufhört Gewißheit zu sein« mit der daran anschließenden wenn nicht wirklichen so doch immer möglichen »Wiederherstellung der Gewißheit« [Husserl 1972, § 21 d, S. 110]. Die Analyse der »Umbestimmung« oder »Andersbestimmung« – Husserls immer wieder behandeltes Beispiel einer scheinbar »idealen«, homogenen Kugelgestalt, die im Verlaufe des Wahrnehmungsprozesses von diesem Ideal abweichende, inhomo­ gene Bestimmungen erhält – ist von exemplarischer Bedeutung für die methodische Erfassung der Wahrnehmungskonstitution, als sie mit dem »Normalfall der Wahrnehmung« [Husserl, Hua XI, § 5, S. 25] unmittelbar verknüpft ist, der konstituierenden Entwicklung des Wahrnehmungsgegenstandes durch veranschaulichende, nähere Bestimmung. Hier beschränkt sich die Möglichkeit der Modalisierung nicht wie beim Zweifelsbewusstsein auf Unzulänglichkeiten, die aus der Zufälligkeit einer subjektiven Wahrnehmungslage entstehen und die ideale Konstitutionsbestimmung des Gegenstandes im Grunde nichts angehen. Die Erfüllung der Wahrnehmungsintention als solche ist präsumptiv, d. h. die Erkenntnisorientierung wird von Antizipatio­ nen und Erwartungen bestimmt, die von einer okkasionellen Wahrnehmungsorientierung ausgehen, die auf das Konstitutionsverhältnis deshalb einen bestimmenden Einfluss hat. Durch die Interpretation der Auffassungsänderung als lediglich subjektive Modalisierung einer objektiv gegebenen, unveränderlichen Konstitutionsbestimmung gelingt es Husserl schließlich, die okkasionelle Veränderung der Sinngebung in die Konstitutionsbestimmung aufzunehmen durch die Habitualisierung einer Diakrisis: die Absonderung des unveränderlichen vom veränderlichen Sinn. Die Andersbestimmung im Rahmen der Näherbestimmung ist zunächst eine Enttäuschungserfahrung. Das kontinuierlich Einstimmige der konstituierenden Entwicklung wird unstimmig, die zuvor eindeutige Seinssetzung damit durchstrichen und modalisiert, wie das Husserl immer wieder exemplarisch demonstriert mit seinem Beispiel einer 88

Vgl. dazu Husserls ausführliche Darstellung der Modalisierung in den Ana­ lysen zur passiven Synthesis [Husserl, Hua XI, § 5 ff, S. 25 ff] und in Er ­fah­ rung und Urteil [Husserl 1972, § 21, 93 ff].

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homogen geformten und gefärbten Kugel, die in der Erkundung durch die wechselnde Wahrnehmungsorientierung Flecken und Beulen bekommt. Die Auffassung der idealen Kugelgestalt ist präsumptiv und sichert zunächst die Kontinuität der »ontischen« Modifikation, der Näherbestimmung, die schließlich jäh unterbrochen wird durch solche vom Ideal der Homogenität abweichenden Inhomogenitäten. Husserls Analyse der Andersbestimmung ist in ihrem methodischen Ansatz darum bemüht, die Vereinbarkeit der veränderlichen mit der unveränderlichen Konstitutionsbestimmung aufzuzeigen und von daher unverkennbar idealisierend. Das zeigt die veränderliche Auffassung der idealen Kugelgestalt, die in ihrer modalisierenden Wirkung von vornherein methodisch entschärft wird dadurch, dass sie sich keineswegs destruktiv auf die Möglichkeit der systematischen Konstitutionsbestimmung auswirkt. Sie reduziert sich auf ein lokal beschränktes okkasionelles Ereignis gleich in mehrfacher Hinsicht: Anders als beim Zweifelsbewusstsein bedeutet die Durchstreichung der Seinssetzung bei der Andersbestimmung eine nur partielle Negation89, d. h. sie ist eine genau lokalisierte und in ihrer Reichweite von vornherein begrenzte Störung, eine unstimmige Teilauffassung im Rahmen einer ansonsten sich einstimmig durchhaltenden Gesamtauffassung des Gegen­standes. Die Interpretation der Modalisierung durch das Konstitutionsverhältnis von Teil und Ganzem erlaubt es nun, die Habitualisierung dieser okkasionellen, veränderlichen Auffassungen zu erklären, ohne dass sie in das System der Konstitution integriert werden müsste. Die Modalisierung geht nach Husserl einher mit einem Widerstreit in der Auffassung des Gegenstandes. Dieser besteht zwischen der einerseits habituellen, sich einstimmig durchhaltenden systematischen Gesamt­ erfassung und der andererseits okkasionellen, nur eine Teilbestimmung des Systems betreffenden Durchstreichung der einstimmigen Auffassung. Die Korrektur und Wiederherstellung der ursprünglichen Einstimmigkeit wird möglich dadurch, dass sich die in der intentionalen Sinngebung und ihrer Konstitution »objektiv« immer schon vorgezeichnete Trennung von habituellen und okkasionellen Bestimmungen nun auch »subjektiv« im individuellen, wahrnehmenden Bewusstsein 89

Die Andersbestimmung als Form der negierenden Auffassung »ist immer partielle Durchstreichung auf dem Boden einer sich dabei durchhaltenden Glaubensgewißheit« [Husserl 1972, § 21 a, S. 98].

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2) Modalisierung und Begriffsbildung

realisiert: »Finde ich beim Sichtlichwerden der Rückseite unserer roten Kugel einen im Sehen der Vorderseite nicht mit vorausgesetzten Fleck und war die rote Kugel im ersten Wahrnehmungsschritt als gleichmäßig rot aufgefaßt, so stimmt doch dies, dass es eine Kugel ist, überdeckt mit einer einheitlichen Färbung, im allgemeinen rot, ›bis auf‹ den Fleck. Dieser fügt sich immerhin der Einheit einer Gesamtfärbung, die zur Auffassung notwendig gehört, ein.« [Husserl, Hua XVI, § 29, S. 97] Die Kugel ist und bleibt »im allgemeinen rot, ›bis auf‹ den Fleck«, d. h. zur unveränderlichen, idealen Konstitutionsbestimmung kommt die okkasionelle Veränderung einfach hinzu, ohne dass sich an ihrer habituell verfügbaren, bleibenden Geltung irgend etwas Wesentliches änderte. Die Modalisierung und Restitution erklärt sich letztlich durch die unvollständige Entwicklung und mangelnde Bestimmung der die Wahrnehmung leitenden Antizipation, die dazu führt, dass zunächst nur die ideale Konstitutionsbestimmung bewusstseinsmäßig realisiert wird, indem die Möglichkeit solcher vom Ideal abweichenden Veränderungen in die Intention nicht aufgenommen wird, sodass sie zu irritierenden Okkasionalitäten werden, welche als unvorhersehbare Störungen und Unterbrechungen dem System der Konstitutionsbestimmung gewissermaßen von außen widerfahren. Die Möglichkeit, die veränderliche Auffassung bei Erhaltung ihres unveränderlichen Sinnes zu korrigieren, ergibt sich letztlich daraus, dass die in der Konstitution immer schon angelegte Unterscheidung von unveränderlichem Sinngehalt und veränderlicher Seinsmodalität nun als solche habitualisiert wird: Die Wahrnehmungsintention realisiert, dass zum Wahrnehmungssinn nicht nur die durch das transzendentale Ideal geleitete systematische Objektbestimmung gehört, sondern auch die »offene Möglichkeit«, d. h. eine für Veränderungen offene, schematische und unspezifische Intention, die keiner intentionalen Regulation unterliegt. Die Restitution begründet die mögliche Scheidung von Sinngehalt und Seinsmodalität, die sich in der Modalisierung der Intention schon vorbereitet, indem die unstimmige Erfahrung nicht nur die einfache Durchstreichung der einstimmigen Auffassung bedeutet, vielmehr ihre Spaltung in zwei einander widerstreitende Auffassungen über denselben Gegenstand herbeiführt. Die Enttäuschungserfahrung als die Negierung einer Auffassung ist keineswegs der Grund dafür, dass diese aufgehoben wird. Sie bleibt statt dessen bestehen und modalisiert sich gleichsam selber in dem ersten Schritt einer »Verdoppelung im Sinngehalt« [Husserl, Hua XI, 257 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

§ 7, S. 30]. Durch das Durchstreichungserlebnis ausgelöst wird also ein Widerstreit in der Wahrnehmungsauffassung dergestalt, dass sich die zunächst einfache Apperzeption des Gegenstandes in zwei Apperzep­ tionen spaltet. Es liegen nun zwei Auffassungen vor, die miteinander im Streit liegen. In diesem Streit geht es wahrlich »ums Ganze«, insofern die neue, veränderte Apperzeption der alten, auf unveränderliche Entwicklung von immer neuen Gegenstandsbestimmungen ausgerichteten ihr Recht nicht nur streitig macht, sondern gleichsam überwältigt: »Der neu konstituierte Sinn in seiner Leibhaftigkeit wirft seinen Gegner gleichsam aus dem Sattel.« (Ebd., § 6, S. 30] In dieser Überwältigung der einen Auffassung durch die andere liegt die Modalisierung, denn sie führt zur Aufhebung der Seinssetzung durch den entstehenden paradoxen Widerspruch im Geltungsbewusstsein: Die ursprüngliche Intention wird suspendiert und damit zu einer ungültigen; sie hat nun »den modalen Charakter des ›nichtig‹. Im Kontrast dazu hat das neu Wahrgenommene, aber die Intention Enttäuschende den Charakter des ›gültig‹.« [Ebd., S. 32 f] Das modalisierte »Geltungsbewußtsein« [Husserl, Hua XI, § 7, S. 32 f] enthält also das Paradox, dass nun nicht mehr die kontinuierliche Erfüllung, sondern das Diskontinuierliche einer einmaligen Enttäuschung zur Grundlage der Wirklichkeitsgeltung wird und sich damit die ursprüngliche Geltung in eine ungültige und nichtige verwandelt. Diese Modalisierung hat nun Folgen über das aktuelle Erlebnis hinaus, indem sie sich auswirkt auch auf alle bereits habitualisierten Sinngebungen. Der »Wahrnehmungssinn ändert sich nicht bloß in der momentanen urimpressionalen Wahrnehmungsstrecke. Die noematische Wandlung strahlt in Form einer rückwirkenden Durchstreichung zurück in die retentionale Sphäre und wandelt ihre aus den früheren Wahrnehmungen stammende Sinnesleistung« [ebd., S. 30]. Genau an dieser Stelle würde eine mechanistische und kausalgenetische Erklärung der Habitualisierung im Stile der Herbartschule auf die Wirkungszusammenhänge der assoziativen Verschmelzung und Hemmung zurückgreifen und die Modalisierung als die Destabilisierung eines vormals stabilen Reproduktionszusammenhangs begreifen.90 Die Habitualisierung geschieht bei Husserl aber durch eine der Reproduktion vorgelagerte retentionale Wandlung und damit

90

So in Steinthals Erklärung der Erfahrungskorrektur als die reproduktive Habi­ tua­lisierung einer Begriffsbildung. Vgl. dazu Teil A, Kap. II,5.

258 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Modalisierung und Begriffsbildung

eine Modifikation ausschließlich von intentionalem Sinn, sodass sich auch die Modalisierung ausschließlich in der Sinngebung abspielt. In Husserls phäno­ menologisch-antipsychologistischer Erklärung eines solchen Wandels der Auffassung gibt es deshalb keine rückwirkende Veränderung, s­ ondern lediglich eine rückwirkende Durchstreichung, die sich im Sinne der Dichotomie von Genesis und Geltung beschränkt auf die Modalisierung eben nur des Geltungsmodus einer intentionalen Sinngebung. Der möglichen Habitualisierung von veränderlichen Auffassungen geht bei Husserl die Modalisierung und Restitution einer Sinngebung stets voraus. Ihre Entstehungsbedingungen sind demnach keine solchen der Kausalgenese, sondern erklären sich konstitutionstheoretisch aus der Funktion der Sinngebung, der aus dem Verhältnis von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung resultierenden Geltung. Der Streit der Auffassungen in der Modalisierung rührt daher, dass die Geltung der ursprünglich unmodalisierten Apperzeption zwar faktisch ungültig geworden, aber gleichwohl ihr Geltungsanspruch weiter besteht: Die Tendenz auf Erfüllung einer Intention wird nicht einfach dadurch beseitigt, dass sie in einer Enttäuschungserfahrung durchstrichen wird. Es muss vielmehr die ganze Intention in ihrem Streben nach Erfüllung auf diese neue Erfahrung eingestellt werden, sodass Geltung und Erfüllungstendenz wieder zusammenfallen. Husserls Erklärung hierfür ist eine »Negation und Substitution eines neuen erfüllenden Sinnes für den intendierten« [Husserl, Hua XI, § 7, S. 32]. »Substitution« ist das entscheidende Stichwort: Die neue Sinngebung substituiert nun vollständig die alte, wodurch der Widerstreit in der doppelten Sinngebung, der für das modalisierte Setzungsbewusstsein konstitutiv ist, beseitigt wird, nicht aber diese »Verdoppelung im Sinngehalt« ­selber; sie »gehört wesentlich zu der gesamten phänome­ nalen Sachlage« [ebd., S. 30]. Ohne ihre Erhaltung wäre nämlich die Scheidung von Sinngehalt und Seinsmodalität überhaupt und damit die Annahme eines identischen Sinnes in aller Veränderung der Auffassung nicht mehr aufrecht zu erhalten – die für Husserl im Prinzip unbestreitbare Seinsetzung des Gegenstandes in ihrer ursprünglichen Gewissheit, die es zu restituieren gilt: »Vergleichen wir aber das ungeänderte und andererseits das vermöge eintretender Durchstreichung geänderte Bewußtsein hinsichtlich des Sinnesgehaltes, so sehen wir, daß die Intention sich zwar umgewandelt hat, aber der gegenständliche Sinn selbst bleibt identisch erhalten. Der gegenständliche Sinn bleibt nach der Durchstreichung noch derselbe, nur als durchstrichener, es 259 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

scheidet sich also der Sinngehalt und seine Seinsmodalität: auf der ­einen Seite hat er den Modus schlichter, unbestrittener Einstimmigkeit, auf der anderen der Bestrittenheit und Durchstreichung.« [Ebd., S. 33] Die Identität und Einstimmigkeit der Gegenstandserfahrung bleibt also gewahrt, nur der Modus ihrer Repräsentation im Bewusstsein ändert sich: Das Bewusstsein der prinzipiellen Substituierbarkeit einer veränderlichen Sinngebung durch eine andere macht den modalisierten Sinn überhaupt zu einem wandelbaren subjektiven Sinn, der sich grundsätzlich abscheidet von seinem wandellosen Sinnes- und Geltungsfundament: der nicht modalen, sondern ontischen Modifikation eines objektiven Sinngehalts, der sich immer nur näher, aber niemals anders bestimmt in Gestalt der übergeordneten, allgemeinen sich durchhaltenden intentionalen Gegenstandsmeinung in ihrer unangreifbaren Seinsetzung. Modalisierungen durch veränderliche andere Bestimmungen in Folge der kontinuierlichen näheren Bestimmung des Gegenstandes, welche in der Konstitution immer nur subordinierte Bestimmungen betreffen, bleiben eben wie diese »bloß Momente eines einheitlichen und in fester Einheitlichkeit organisierten Sinnes« [Husserl, Hua XI, § 7, S. 31]. Husserls Deutung der Erfahrungskorrektur als ein Restitutionszusammenhang der Modalisierung ist weder kausalgenetisch wie in der Herbartschule, noch ist sie dialektisch im Stile einer spekulativen Phänomenologie des Geistes. Hegels dialektischer Interpretation von empirischer Erkenntnisgewinnung liegt zwar auch das konstitutionstheoretische Modell der Begriffsbestimmung zugrunde. Die Veränderung der Auffassung und ihre Habitualisierung wird hier jedoch nicht als eine die Funktionsfähigkeit der Organisation wiederherstellende Restitution beschrieben, sondern – nach dem ontologischen Modell des autopoietischen Stoffwechsels91 – von variabler Anpassung, welche eine schlechterdings ungestörte und damit uneingeschränkt funktionsfähige Organisation zur Voraussetzung hat. Eine Restitutionsproblematik entsteht in Hegels Dialektik nicht und kann auch nicht entstehen, insofern die Negation das wirkende Organisationsprinzip nicht in Frage stellt, sondern vielmehr geradezu herausfordert, indem sie es beständig motiviert: Der Widerspruch bei Hegel ist keine funktionale Störung oder Hemmung in der Systembildung

91

Vgl. dazu Teil A, Kap. I,4.

260 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Modalisierung und Begriffsbildung

wie in Husserls Beschreibung der Habitualisierung als eine restitutive Näher- und Anders­bestimmung, sodass die Entwicklungskontinuität schlechterdings unterbrochen und jede weitere Entwicklungsmöglichkeit damit zweifelhaft würde. Ganz im Gegenteil: Die »Arbeit des Negativen« (Hegel 1952, S. 20] macht überhaupt die Kontinuität der Entwicklung durch immer neue Begriffsbildungen aus. Der negierende Widerspruch beschreibt begriff‌lich-dialektisch den äußeren Konflikt zwischen einem organisierten System von Begriffen und einzelnen noch unbegriffenen Erfahrungsinhalten, die noch gar keine integralen Bestandteile dieses Systems sind. Das System »arbeitet« mit diesem Negativen, indem es sich weiter entwickelt und die negierende Erfahrung durch assimilierende Integration immer wieder zum Verschwinden bringt: Die dialektische Anpassung ist damit geradezu das Gegenbeispiel zur modalisierenden Restitution im Sinne der Husserlschen Phänomenologie, einer diakritischen und nicht systematisch-integra­ tiven Entwicklung, welche die Wirksamkeit einer Organisation durch Aussonderung, also nicht Integration, sondern Desintegration von solchen den Erfahrungsverlauf hemmenden Wahrnehmungsinhalten wiederherstellt. Wäre die Phänomenologie der Wahrnehmung wirklich identisch mit einer dialektischen Phänomenologie des Geistes, dann bestände die Erwartung, dass in Folge des »Anderswerdens« [Hegel 1952, S. 21] eines Begriffs die Begriffsbestimmung an Umfang zunimmt, d. h. die dialektische Vermittlung eine Synthese schafft, die sich in ihrer Allgemeinheit als die universellere und zugleich an systematischer Totalität umfassendere der ursprünglich unvermittelten gegenüber ausnimmt. In Husserls Konzeption der modalisierten Gegenstandserfahrung ist die Umbestimmung oder Andersbestimmung zwar grundsätzlich mit einer Näherbestimmung und damit einer systematischen Erkenntnis­ erweiterung verknüpft. Die modalisierende Restitution erweitert jedoch den Horizont der Begriffsbestimmung nicht, sie schränkt ihn vielmehr ein. Gegenüber der unmodalisierten Erfahrung und ihrer unbestimmten Antizipation des Erfahrungsverlaufs ist die korrigierte Auffassung bestimmt und d. h. hier: weniger unbegrenzt als begrenzt. Sie deckt nur noch einen Teilbereich dessen ab, was die Totalität der Wahrnehmung an möglichen Bestimmungen bietet. Ausgangspunkt für die Modalisierung der Auffassung ist eine Antizipation des Erfahrungsverlaufs, die in ihrer Vorwegnahme gleichsam zu weit geht. Wir glauben, eine vollständig homogene Kugel vor uns zu haben und werden mit unserer pauschalen Annahme nun 261 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

enttäuscht. Die Leermeinung hat sich ursprünglich »vergriffen« wie Husserl sagt; sie muss ihren zu weit reichenden Vorgriff schließlich zurücknehmen: »Nun gehört zu jeder Dingwahrnehmung ein gewisses Hinausgreifen über das in eigentliche Erscheinung Fallende, und dieses Hinausgreifen kann sehr wohl ein sich Vergreifen sein. Im ersten Schritt stellt sich eine Vorderseite in eigentlicher Erscheinung dar, die Rückseite wird in uneigentlicher Weise mitgefasst, sie deutet den Gegenstand in den miterregten uneigentlichen Intentionen mancherlei zu, was von ihm nicht eigentlich gegeben ist. In den nächsten Wahrnehmungsschritten kommen die anderen Seiten des Gegenstandes, diese oder jene, zu eigentlicher Erscheinung, aber es stellt sich heraus, dass der Gegenstand hier doch ›anders‹ ist, als er im ersten Schritt ›angesehen‹ war.« [Husserl, Hua XVI, § 29, S. 96] Am Ende steht die ernüchternde Erfahrung, dass die ursprüngliche Antizipation zwar im Großen und Ganzen stimmig ist, von ihrem Geltungsanspruch jedoch bestimmte Regionen des Gegenstandes ausgenommen werden müssen: »Finde ich beim Sichtlichwerden der Rückseite unserer roten Kugel einem im Sehen der Vorderseite nicht mit vorausgesetzten Fleck und war die rote Kugel im ersten Wahrnehmungsschritt als gleichmäßig rot aufgefaßt, so stimmt doch dies, daß es eine Kugel ist, überdeckt mit einer einheitlichen Färbung, im allgemeinen rot, ›bis auf‹ den Fleck.« [Ebd., S. 97] Im »allgemeinen rot, ›bis auf‹ den Fleck« – die restitutive Modalisierung und Erfahrungskorrektur beruht auf einer Diakrisis, welche offenbar das Allgemeine vom Besonderen, die reine Bedeutung von der Anschauung trennt, aber bei all dem eben keine wirkliche Begriffsbildung verkörpert. Die Konstitution als eine systematische Objektbestimmung hat zwar die Form der Begriffsbestimmung und insofern sieht es so aus, als stelle die phänomenologische Theorie der Modalisierung eine intentional und nicht naturalistisch begründete Variante der Theorie der Begriffsgenese und diakritischen Entwicklung dar, wie sie Herbart und die Herbartschule entwickelt haben. Herbarts Auffassung der empirischen Erkenntnisgewinnung ist jedoch weder systematisch noch konstitutionstheoretisch. Die konstitutionstheoretische Interpretation des Werdens schließt Herbart durch die Kritik ihrer ontologischen Grundlagen aus, welche hier mit Kants Kritik der reinen Vernunft eine Verwechslung von phaenomena und noumena, eine Amphibolie der Reflexionsbegriffe, konstatiert: Die Substanz bleibt für Herbart eine einfache Substanz, der kein Komplex von Bestimmungen und damit auch kein in der Konstitution zu realisierendes Sys­ 262 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Modalisierung und Begriffsbildung

tem inhäriert. Die diakritische Entwicklung eines Allgemeinbegriffs92 verkörpert demnach ihrer Form nach die schlichte Umkehrung eines Konstitutionsverhältnisses der Begriffsbestimmung: die Begriffsbildung geht nicht vermittelnd und integrierend vom Allgemeinen zum Besonderen über, sondern trennt das Allgemeine vom Besonderen ab. In Husserls konstitutionstheoretischer und systematischer Auslegung der Erkenntnisgewinnung wird bezeichnend die diakritische Ablösung des Allgemeinen vom Besonderen zu einer bloßen Binnenerscheinung im Rahmen einer ansonsten integralen Form der Begriffsbestimmung, in der es geht um die Besonderung des Allgemeinen, die immer weitere systematische Differenzierung einer noch undifferenzierten Allgemeinvorstellung in Gestalt einer zunächst vagen und unbestimmten Antizipation des Wahrnehmungsverlaufs, die sich in ihrer Veranschaulichung und Erfüllung mehr und mehr konkretisiert durch besondere Inhalte. Anders als bei einer begriffsbildenden diakritischen Entwicklung kommt es im Rahmen einer solchen veränderlichen Konstitutionsbestimmung zu keiner wirklichen Absonderung einer Allgemeinvorstellung von wirklich allen besonderen Wahrnehmungsgehalten. Die Möglichkeit der diakritisch entwickelnden Andersbestimmung gehört in der phänomenologischen Konstitution mit zur intentionalen Näherbestimmung, die ihrerseits durch das transzendentale Ideal der systematisch vollständigen Objektbestimmung geleitet ist. Dieses schreibt eine Regel für die Veranschaulichung der Leerintentionen verbindlich vor, d. h. die Form der Spezifizierung, in der sich die unbestimmte Intention jeweils bestimmt. Dass diese Spezifizierung nun nicht nur unveränderliche, sondern auch veränderliche Bestimmungen enthüllt, die schließlich von der systematischen Konstitutionsbestimmung diakritisch ausgenommen werden, ändert nichts daran, dass die Organisation der Wahrnehmung grundsätzlich die Intention der Sinnenthüllung leitet und deshalb im ganzen das 92

Herbart versteht den Begriff freilich nicht primär als eine Allgemeinvorstellung, sondern eine intentionale Vorstellung, die sich ausschließlich nach dem Inhalt des Vorgestellten richtet, dessen diakritische Funktion deshalb in der Absonderung des gegenständlichen Inhalts von allen assoziativen Synthesen besteht. Allgemeinbegriffe stellen deshalb nur einen Sonderfall dieser dia­ kritischen Begriffsbildung dar. Anders als Herbart halten Lazarus und Stein­ thal fest an Kants Deutung der Erfahrung als einer Synthesis von Begriff und Anschauung, von Allgemeinem und Einzelnem, sodass die diakritische Be­griffs­bildung im Ganzen als die Isolierung einer Allgemeinvorstellung im Zusammenhang der Reproduktion und Habitualisierung interpretiert wird. Vgl. dazu Teil A, Kap. II,3.

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

­Telos der Besonderung des allgemeinen Bedeutungsrahmens und nicht seiner abstraktiven Absonderung verfolgt. Im Rahmen der systematischen Konstitutionsbestimmung ist die Andersbestimmung mit ihrer Trennung des Allgemeinen vom Besonderen letztlich nicht intentionaler Selbstzweck, sondern lediglich Mittel zum Zweck, einen vorübergehend unterbrochenen Prozess der Näherbestimmung – also die kontinuierliche Veranschaulichung einer Leerintention in Form der Begriffsbestimmung, der Besonderung des Allgemeinen –, wieder in Gang zu setzen. Auf das Ganze des Konstitutionsverhältnisses – die Erkenntnisorientierung der Wahrnehmung und das ihr anhängende System der Konstitution – gesehen kommt es demnach nachhaltig zu keiner Begriffsbildung, insofern nicht die desintegrative, diakritische Andersbestimmung, sondern die systematische und integrative Näherbestimmung das letzte, ideale Erfüllungsziel der Erkenntnisgewinnung vorgibt. Funktional, vom intentionalen Konstitutionsverhältnis der Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung her betrachtet, beruht die Organisation der Wahrnehmung auf einer reinen Erkenntnisorien­ tierung, die sich mit einem Anschauungsgehalt immer nur nachträg­ lich verbindet. Durch diese statische und funktionelle Betrachtung der Wahrnehmungskonstitution ist deshalb prinzipiell nicht einsehbar, wie die Wahrnehmung die Begriffsbildung im Sinne einer entwickelnden Genesis »vor«-konstituiert. Die Erkenntnisgewinnung der Wahrnehmung regelt eine antizipatorische Leermeinung, welche von vornherein mit keiner konkreten Anschauung verbunden ist. Dem entspricht mit Blick auf das Zeitbewusstsein Husserls Abhebung einer ursprünglich fundierenden, intentional unbestimmten Protention, die als eine antizipatorische Leervorstellung noch keine intentional-bestimmte Erwartung enthält, welche mit einer konkreten Veranschaulichung des Kommenden verbunden ist, die aus der reproduktiven Erinnerung resultiert.93 Es ist nun bezeichnend, dass in der genetischen Betrachtung der Modalisierung diese in der Zeitkonstitution angelegte Unterscheidung der protentionalen Antizipation von der durch die 93

Protentionen sind Intentionen, »die das Kommende als solches leer konstituieren […].« Erst vermittels der Wiedererinnerung wird aus der unbestimmten Antizipation der Protention eine bestimmte Erwartung in Gestalt einer (Vor-) Erinnerung: Wenn »die ursprüngliche Protention der Ereigniswahrnehmung unbestimmt war und das Anderssein oder Nichtsein offen ließ, so haben wir in der Wiedererinnerung eine vorgerichtete Erwartung, die all das nicht offen läßt« [Husserl, Hua X, § 24, S. 53].

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2) Modalisierung und Begriffsbildung

reproduktive Vorerinnerung vermittelten Erwartung schließlich bedeutungslos wird. Husserl redet nun scheinbar nivellierend von apperzipierenden Auffassungen und ihren intentionalen Systemen, die »den Charakter aktueller oder potentieller Erwartungen« haben. »Alle Erfüllung im Fortgang vollzieht sich also im Normalfall als Erfüllung von Erwartungen. Es sind systematische Erwartungen, Strahlensysteme von Erwartungen, die, sich erfüllend, sich bereichern, d. h., der leere Sinn wird reicher an Sinn, der sich in die Sinnesvorzeichnung einfügt.« [Husserl, Hua XI, § 5, S. 26] Hätte Husserl hier nicht, wo es um die explizierende Sinnenthüllung und ihre intentionale Funktion der Ausfüllung eines zunächst gänzlich leeren Rahmens einer unbestimmt-allgemeinen Sinnesvorzeichnung geht, präzise von der Erfüllung von Antizipationen sprechen müssen? Diese Gleichsetzung der Antizipation mit einer Erwartung geschieht jedoch nicht einfach methodisch fahrlässig, wenn man den genetisch-phänomenologischen Kontext berücksichtigt, in dem er steht. Genetisch ist die Erkenntnisgewinnung durch ein reproduktives Erkenntnisinteresse vermittelt, und diese Vermittelung bedeutet die Verbindung der Antizipation mit der konkreten Erwartung, dass sich die bereits gemachte Erkenntnis in Zukunft wiederholen wird. Wird die Erkenntnis durch das Interesse an der wiederholten Identifizierung des Gegenstandes bestimmt94, dann lassen sich die Intention und ihre Veranschaulichung nicht mehr im Sinne eines einfachen Verhältnisses von Bedingung und Bedingten, eines Vorher und Nachher, bestimmen. Die mögliche Wiederholung einer Wahrnehmungserkenntnis setzt voraus, dass ein Habitus reproduziert wird, zu dem die schon erworbenen anschaulichen Bestimmungen ebenso gehören wie die ursprüngliche Leervorstellung des gegebenen Gegenstandes. Es ist deshalb kein Zufall, dass die genetische Analyse das intentionale Horizontbewusstsein mit seiner Möglichkeit einer explizierenden Näherund modalisierenden Andersbestimmung als Urform der empirischen, induktiven Verallgemeinerung ansieht.95 94 95

Vgl. dazu Erfahrung und Urteil [Husserl 1972, § 13, S. 64] sowie die syste­ matische Interpretation in Teil B, Kap. II, 2. »So hat jede Erfahrung von einem einzelnen Ding ihren Innenhorizont; und ›Horizont‹ bedeutet hierbei die wesensmäßig zu jeder Erfahrung gehörige und von ihr untrennbare Induktion in jeder Erfahrung selbst. Das Wort ist nützlich, da es vordeutet (selbst eine ›Induktion‹) auf die Induktion im gewöhnlichen Sinne einer Schlußweise und darauf, daß diese letztlich bei ihrer verstehenden Aufklärung zurückgeführt wird auf die originale und ursprüngliche

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

Husserls zunächst ausschließlich funktionale Betrachtung der Zeitkonstitution sieht Erinnerung und Erwartung als gleichursprüngliche Phänomene an. So wie die sekundäre, reproduktive Erinnerung in der primären Erinnerung, der Retention, fundiert ist, so die Erwartung in der Protention. Die Gleichursprünglichkeit von Erinnerung und Erwartung zeigt sich darin, dass Erwartungen eine Offenheit und Unbestimmtheit aufweisen, während Erinnerungen immer bestimmt sind.96 Der Grund dafür ist die Festlegung einer sukzessiven Zeitordnung, die in der Retention, aber nicht im selben Maße auch in der Protention stattfindet. Wenn Protentionen allerdings im Rahmen der Wiedererinnerung, einer »vorgerichteten« Erwartung, auftauchen [Husserl, Hua X, § 24, S. 53], verschwindet die Unbestimmtheit der Erwartungshorizonte. Dieser phänomenologische Sachverhalt, wonach eine Erinnerung der Erwartung intentionale Bestimmtheit verleihen kann, sieht Husserl in seinen frühen Vorlesungen zur Phänomeno­ logie des inneren Zeitbewußtseins noch als bloßes Epiphänomen der nachträglichen Veranschaulichung von Protentionen und Erwartungen in der ausdrücklichen Wiedererinnerung an.97 In genetisch-phänomenologischer Betrachtung wird aus diesem Epiphänomen schließlich ein Fundierungsverhältnis im Sinne einer reproduktiv vermittelten Konstitutionsbestimmung. Die Bildung einer Erwartungshaltung in genetischer Betrachtung ist kein mit der Erinnerung gleichursprüngliches Phänomen mehr, sie »schafft nicht mit Erfahrungseinheiten im ursprünglichen Sinn, sie setzt sie voraus« – und zwar »als eine Vorstellung zweiter Stufe, als Nachbildung der ursprünglichen Vergangenheitsvorstellung« [Husserl, Hua XI, § 40, S. 185 f]. Dass sich Husserl bei seinen Hörern dafür entschuldigt, im Verlauf der Vorlesung über die passive Synthesis »das altbekannte Phänomen der Protention und Erwartung […] sozusagen totgeschwiegen« zu haben [ebd., S.5 185], ist

96

97

Antizipation. Von dieser aus muß eine wirkliche ›Theorie der Induktion‹ […] aufgebaut werden.« [Husserl 1972, § 8, S. 28] Vgl. dazu den § 26 von Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins mit der Überschrift »Unterschiede zwischen Erinnerung und Erwartung« [Husserl, Hua X, S. 55]. »Jeder ursprünglich konstituierende Prozeß ist beseelt von Protentionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auffangen, zur Erfüllung bringen. […] Sie waren nicht nur anfangend da, sie haben sich erfüllt, und dessen sind wir uns in der Wiedererinnerung bewußt. Die Erfüllung im wieder­ erinnerten Bewußtsein ist Wieder-Erfüllung (eben in der Modifikation der Erinnerungssetzung)« [Husserl 1972, § 24, S.52 f].

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2) Modalisierung und Begriffsbildung

nur der Ausdruck dafür, dass in genetisch-phänomenologischer Perspektive die Erwartung ihre Originalität einer nur in der Protention verankerten Konstitution verloren hat und nurmehr als Epiphänomen der reproduktiven Wiedererinnerung in Betracht gezogen wird. In der präsumptiven Erwartung ist also genetisch betrachtet immer schon eine habituelle Erinnerung wirksam, welche Moment eines veränderlichen Reproduktionszusammenhangs ist und deshalb dem empirischen Werden unterliegt. Die Präsumptionen der Wahrnehmung sind durch ihre habituelle Konstitution induktiv, sie schließen von einer ganz bestimmten, schon bekannten Erfahrungssituation aus auf das, was in der Zukunft eintreten kann. »Ich schließe ›induktiv‹ in vollkommener Evidenz aus dem Gekommen-sein unter früheren, ähnlichen Umständen auf das nunmehrige ähnliche Kommen.« [Husserl, Hua XI, § 40, S. 188] Der kontinuierliche Erfahrungsverlauf, so wie er durch die Projektion einer Erinnerung in die Zukunft98 in der Reproduktion gestiftet wird, erweist sich damit als ein durch und durch von einer habituellen, individualisierten Wahrnehmungsorientierung gelenkter Prozess, »ein Fortwerden in Analogie mit dem bisherigen Werden« [ebd., S. 186]. Habitualisiert wird stets eine konkret-anschauliche, durch die jeweilige Wahrnehmungsorientierung bestimmte Erkenntnis, von der dann auf die Gleichartigkeit zukünftiger Wahrnehmungssituationen gleichsam geschlossen wird. Von daher wird schließlich auch die Charakterisierung der Wahrnehmungserkenntnis als ein Mangel an Identität, eine noch »fließende« Seinsfeststellung [vgl. Husserl 1972, § 13, S. 60], verständlich. Das konstituierende Bewusstsein macht die Erfahrung, dass zur Erkenntnis nicht nur die unveränderliche Näherbestimmung, sondern auch die veränderliche Andersbestimmung gehört. Die Modalisierung ist somit kein völlig unerwartetes Ereignis post factum wie in der statischen Analyse. Statt völlig unvorbereitet enttäuscht zu werden, gehört die Möglichkeit der Enttäuschung notwendig mit zum Wiederholungssinn der Erwartung. Weil das Subjekt in der Vergangenheit immer wieder die Erfahrung der Unzuverlässigkeit seiner Seinsfeststellungen gemacht hat, projiziert sich dies nun induktiv-verallgemeinernd auf die Zukunft als eine nicht zu eliminierende Unsicherheit der Erwartung: Nicht erst die nachträgliche Bedeu98

Es »projiziert sich jede vereinheitlicht konstituierte Vergangenheit, also jede einheitlich abfließende Sukzession, möge sie auch schon leer vorstellig geworden sein, als Erwartung in die Zukunft« [Husserl, Hua XI, § 40, S. 186].

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

tungserfüllung, bereits die ihr vorgängige Bedeutungsintention, die konkret-anschauliche Zukunftserwartung als Ausdruck eines reproduktiven Erkenntnisinteresses, erscheint von vornherein als ein modalisierter Vollzugs- und Wiederholungssinn. Aus dieser Modalisierung schon der Erwartung ist nunmehr auch das ursprüngliche Motiv für das Interesse an einer Begriffsbildung bereits in der Wahrnehmung zu gewinnen: Der Erwartung, dass sich Erkenntnisleistungen frei und uneingeschränkt reproduzieren lassen, lässt sich die Unsicherheit offenbar dann mit Sicherheit nehmen, wenn der Zukunftserwartung ihr empirischer und »anschaulicher« Charakter der induktiven Verallgemeinerung genommen wird, welcher von ihrem Ausgangspunkt einer singulären Wahrnehmungssituation herrührt, der Realisierung der Erkenntnis- in einer Wahrnehmungsorientierung, wie sie die Wahrnehmungskonstitution als solche auszeichnet. Das geschieht mit dem Urteil als der Manifestation des um Erkenntnissicherung schlechthin besorgten Erkenntnisinteresses, welches Erkenntnis und Wahrnehmung, Intention und Anschauung durch die begriff‌liche Fixierung des Erkenntnisobjekts schließlich trennt, sodass die veränderlichen Anschauungsgehalte als »Quelle« der Modalisierung aus dem Umkreis dessen, was sich konkret erwarten lässt – dem Reproduktionszusammenhang der Habitualisierung – endgültig ausgeschieden werden. Husserls rein konstitutionstheoretische Erklärung einer solchen empirischen Genese begriff‌licher Erkenntnis provoziert jedoch unausweichlich den ernsten Einwand: Die Habitualisierung von Erkenntnissen in der Wahrnehmung bleibt ein im Prinzip unabschließbarer Prozess, in dem die Möglichkeit der nachträglichen Modalisierung der Erkenntnisfeststellung niemals aufzuheben ist. Kann das Urteil so etwa nur »Ergebnisse« einer empirischen Erkenntnisgewinnung fixie­ren, die vorübergehend und nicht wirklich endgültig sind? Bleibt die begriff‌liche Abstraktion damit nicht ihrerseits an die empirischen Bedingungen der veränderlichen Wahrnehmung gebunden? Husserls konstitutionstheoretische Erklärung kann diese Frage letztlich systematisch nicht beantworten, weil sie die Habitualisierung lediglich als den »Niederschlag der Explikation« [Husserl 1972, § 25, Überschrift, S. 136] versteht, d. h. die vorprädikative wie die prädikative Erkenntnisgewinnung von der Objektbestimmung her begreift als die Entwicklung eines Substrates durch seine prädikativen Bestimmungen. Wird der genetische Entwicklungszusammenhang von Erfahrung und Urteil lediglich als ein Verhältnis der Vorkonstitution und Konstitution 268 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Modalisierung und Begriffsbildung

des vorprädikativen und prädikativen Urteils99 begriffen, dann bleibt letztlich ungeklärt, worauf das Urteil die Endgültigkeit seiner Seinsfeststellung eigentlich stützt, wenn es nur eine vorübergehende Etappe im unabschließbaren Prozess der vorprädikativen Erkenntnisgewinnung fixiert. Die endgültige, begriff‌liche Fixierung einer vorgängigen Wahrnehmungserkenntnis kann von der prädikativen Struktur der Objektbestimmung her nicht begriffen werden, insofern dieser keine diakritische Funktion der Habitualisierung zukommt. Diakritisch relevant ist nicht die »ontische« Modifikation der Näherbestimmung, sondern allein die modalisierende Andersbestimmung. Nur hier – in Bezug auf die Modalisierung der Seinssetzung und ihre Wiederherstellung in der Restitution –, macht es überhaupt Sinn, von einem unaufhebbaren und damit endgültigen »Ergebnis« der empirischen Erkenntnisgewinnung zu sprechen. Die prädikative Objektbestimmung bleibt im Rahmen der empirischen Habitualisierung als ein im Prinzip unabschließbarer Prozess ergebnislos, nicht aber die Modalisierung und Restitution: In der Durchstreichung und Wiederherstellung einer systematisch-einstimmigen Konstitutionsbestimmung vollzieht sich letztlich eine nicht mehr zurückzunehmende Subjekt-Objekt-Spaltung mit der Trennung des objektiv-unveränderlichen Sinngehalts von seiner subjektiv veränderlichen Seinsmodalität. Durch die Andersbestimmung und die mit ihr verbundene Enttäuschung einer Erwartung entsteht eine Hemmung der wiederholten Erkenntnishandlung: Was der Gegenstand eigentlich ist, lässt sich somit nicht mehr eindeutig feststellen. Die Möglichkeit der wiederholten Identifizierung des Gegenstandes wird damit aber nicht wirklich aufgehoben, sie stellt sich durch Restitution immer wieder her. Es wiederholt sich demnach das einmal entstandene Bewusstsein einer »doppelten« Sinngebung: Die Unterscheidung des identischen Sinngehalts von seiner wandelbaren Seinsmodalität erweist sich damit als eine beständige Konstitutionsbedingung. Jeder einzelne Schritt der wahrnehmungsmäßigen Habitualisierung führt immer wieder zum selben Ergebnis der Absonderung derjenigen auf Kontinuität der Objektbestimmung ausgerichteten wiederholten Erkenntnishandlung 99

Die Vorkonstitution des Urteils in der Wahrnehmung setzt eine Erweiterung des Urteilsbegriffs voraus. Husserl unterscheidet deshalb vom prädikativen Urteil im engeren und eigentlichen Sinne »einem weitesten Urteilsbegriff«, wonach »auch schon bei der vorprädikativen vergegenständlichenden Zu­ wen­dung zu einem Seienden im weiteren Sinne von einem Urteilen gespro­ chen werden muß« [Husserl 1972, § 13, S. 62].

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

von allen diskontinuierlichen Veränderungen der Wahrnehmung als deren »subjektive« Modalisierungen. Damit bereitet sich schon in der vorprädikativen Erkenntnisgewinnung durch den Prozess einer nicht konstituierenden, sondern diakritischen Entwicklung, deren Objekt und nicht Subjekt die systematische Konstitutionsbestimmung ist, die dauerhafte Absonderung der Erkenntnisorientierung von der situativ veränderlichen Wahrnehmungsorientierung vor infolge der Ablösung des objektiven Sinngehalts von der subjektiven Seinsmodalität, der schließlich reproduzierbar habitualisiert wird. Das Urteil greift demnach zurück auf die zunächst modalisierte und dann restituierte Erkenntnisfeststellung als das sich stetig wiederholende »Ergebnis« der Wahrnehmungskonstitution. Indem das prädikative Urteil den unmodalisierten Sinngehalt der Erkenntnisorientierung von allen veränderlichen Seinsmodalitäten der Wahrnehmungsorientierung abstraktiv isoliert und diese diakritische Abstraktion von da an »in alle Reproduktion modifiziert mit eingeht« [Husserl 1972, § 13, S. 63], »fixiert« es schließlich die Möglichkeit der wiederholten Identifizierung und damit eindeutigen Objektbestimmung frei von jedem Zweifel »ein für allemal«.

3)

Phänomenologie der Assoziation: Identische Reproduktion und »Wiederkonstitution« durch die kausalgenetische Habitualisierung

Keine Konstitution ohne Vorkonstitution – das reproduktive Wiedererkennen besteht nicht nur in einem isolierten Akt, sondern dem wiederholten Vollzug, einer Identifizierung, in der die Gegenwart als die Bestätigung einer Vergangenheit erscheint, mithin das aktuelle Erkennen die Aktualisierung eines habituellen Erkenntnisbesitzes beinhaltet. Diese reproduktive Leistung thematisiert die genetische Phänomenologie zunächst einmal durch den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse. Zum Erkenntnisinteresse als ein Selbsterhaltungsinteresse gehört die Intention, die einmal gemachten Erkenntnisse in der Zukunft uneingeschränkt wiederholen zu können. Damit wird die Erkenntnisgewinnung zwar einerseits genetisch betrachtet aus dem Zusammenhang von Erkenntnis und Reproduktion, dieser aber zunächst einmal von jeglicher kausalgenetischen Fundierung entkoppelt. Das Interesse ist eine Form der aktiven Synthese durch eine intentionale Sinngebung. Die reproduktive Genesis wird so im Sinne der »distinc270 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Phänomenologie der Assoziation

tio phaenomenologica«, welche die Naturkausalität als eine nicht zum Phänomen gehörende transzendente Setzung ausschaltet100, als ein reines Bewusstseinserlebnis gefasst, ein Wiederholungssinn, der zum intentionalen Erlebnis gehört, insofern sich in ihm das ursprüngliche Interesse bekundet, den Erkenntniserwerb für alle Zeiten festzuhalten. Dem entspricht die Begriffsgenese mit ihrer Entwicklung eines eigentlichen Erkenntnisinteresses, welche darauf aus ist, das Erkenntnis­ objekt als ein durch keine Wahrnehmungssituation mehr Modalisierbares, Unveränderliches zu fixieren. Es scheint zunächst so, als wäre damit wieder einmal die rigorose phänomenologische Reduktion der Kausalgenese auf eine solche der intentionalen Sinngenese vollzogen, indem nämlich das Erhaltungsinteresse in der aktiven begriffsbildenden Leistung seine intentionale Erfüllung zu finden scheint, muss es so aussehen, als sei auf diese Weise die Vermittlung von Erkenntnis und Reproduktion vollständig beschrieben, als die reproduktive Leistung in einer solchen Sinngebung teleologisch aufgeht. Verfügt die Reproduktion von Erkenntnissen über Begriffe, dann stabilisieren diese die induktive Erwartung, sodass solche bereits gemachten durch zukünf­ tige Erfahrungen nicht durchstrichen und modalisiert werden können, weil die Begriffsbildung die Trennung von Erkenntnis- und Wahrnehmungsorientierung in der Vorstellung sicherstellt und damit die Entwicklung und Habitualisierung ausschließlich von solchen Inhalten ermöglicht, die in der ideal-unveränderlichen Konstitutionsbestimmung angelegt sind. Die durch das Urteil eingeleitete Begriffsbildung hat schließlich zur Folge, dass veränderliche Wahrnehmungsgehalte in den Prozess der Habitualisierung überhaupt nicht mehr eingehen, das Bewusstsein also nur noch über Begriffskonstanten als Habitualitäten verfügt, sodass die »Quelle« für eine empirisch verursachte Modalisierung des Reproduktionszusammenhangs gleichsam verstopft zu sein scheint. Damit sieht es so aus, als sei die Geschlossenheit und Unauf‌löslichkeit des Konstitutionszusammenhangs der Erkenntnis auch in Bezug auf ihre Genese in der Reproduktion gesichert. Genau diese phänomenologische Reduktion von Erkenntnis und Reproduktion auf ein nicht kausalgenetisch vermitteltes intentionales Erlebnis – das aktive Erkenntnisinteresse und seine Stufen der Ent100 In seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie von 1910/11 spricht Husserl mit Blick auf die Leistung der Reduktion von einer gewissen »distinc­ tio phaenomenologica« , d. h. »jede natürliche Setzung (Setzung von Natur­ dasein)« auszuschalten und nur den Geltungssinn zu behalten [Husserl, Hua XIII, S. 144].

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

wicklung – erweist sich jedoch in der »Phänomenologie der Assoziation« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 118], die Husserl als »Lehre von der Genesis der Reproduktionen« [ebd., S, 119] versteht, als revisionsbedürftig. Das reproduktive Erkenntnisinteresse stellt keineswegs einen autonomen und selbstgenügsamen Konstitutionszusammenhang dar, insofern jede aktive Synthesis genetisch auf eine passive ihrerseits aufbaut. Die Begriffsgenese enthält somit keine wirklich vollständige »Genesis der Reproduktionen«, als zur apperzeptiven »Genesis der Vor­griffsphänomene« nach Husserl die »induktiven Schlußweisen« als »Unterstufe der aktiv-logischen Prozesse« gehören [ebd., S. 119, 129]. Husserls systematische Einordnung sieht die »Genesis der Erwartungen« und die »Genesis der Vorgriffsphänomene« als eine »höhere Stufe« apperzeptiver Leistungen der Reproduktion an, welche auf die assoziativen Reproduktionen ihrerseits aufbaut [ebd., S. 119]. So ergibt sich methodisch, dass die reproduktive Leistung der induktiven Apperzeption letztlich nicht aus ihr selbst, sondern von der Urassoziation und der sie kontinuierlich erweiternden reproduktiven assoziativen Weckung her genetisch verständlich wird.101 Der Weckung von Interesse geht die Weckung von Aufmerksamkeit stets voraus. Die Entstehungsbedingungen der aktiven Synthesis – der Weckung von Erkenntnisinteresse – liegen in der intentionalen Sinngebung, während die passiven Synthesen letztlich kausalgenetisch bedingt sind. Da die Habitualisierung ursprünglich eine Leistung der passiven Synthesis ist, d. h. der durch die assoziative Weckung reproduktiv vermittelten retentionalen Wandlung, reicht das intentionale Interesse an der Wiederholbarkeit von Erkenntnissen als solches nicht aus, die faktische Realisierbarkeit der identischen Reproduktion und damit die Geschlossenheit des Zusammenhangs der Konstitution und Wiederkonstitution zu begründen. Assoziative Erinnerungen enthalten bewegungsdynamische Prozesse, welche die reproduzierten Inhalte nicht unverändert lassen, vielmehr in immer wieder neue und andere Bezüge stellen. Da die apperzeptive Reproduktion auf solche veränderlichen Zusammenhänge der Assoziation und Reproduktion als weckende Erlebnisse ihrerseits aufbaut, entsteht die methodische Frage, wie die Möglichkeit der identischen Reproduktion und damit einer »wieder«-konstituierenden Erinnerung in der kausalgenetischen 101 »Wir könnten diese Assoziation auch die induktive nennen. Denn es handelt sich hier um die zur Passivität gehörige Unterstufe all der aktiv-logischen Prozesse, die unter dem Titel der induktiven Schlußweisen behandelt werden.« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 119 f]

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3) Phänomenologie der Assoziation

assoziativen Weckung gesichert werden kann. Es muss so schließlich der methodische Nachweis geführt werden, dass das apperzeptive Erkenntnisinteresse einem wirklich erreichbaren und keinem bloß fiktiven Telos der uneingeschränkten Erkenntnisverfügung nachjagt. Husserls Rekapitulation hebt entsprechend die systematische Bedeutung der »Phänomenologie der Assoziation« hervor im Sinne der konstitutionstheoretischen Fundierung der Erkenntnisbegründung über­haupt. Demnach liefert die Behandlung von Konstitutionsproblemen der Assoziation dem Phänomenologen »nicht bloß Spezialitäten für eine Theorie der Wiedererinnerung« [Husserl, Hua XI, § 45, S. 207]. Es geht vielmehr um den grundsätzlichen Nachweis, dass die habituelle Verfügung über das erworbene System von Erkenntnissen unter allen Umständen – also auch solchen veränderlichen Bedingungen der Reproduktion – erhalten bleibt.102 Die Erkenntnis im genetisch-phänomenologischen Sinne ist als die Aktualisierung eines bereits vorkonstituierten Habitus notwendig durch eine sowohl intentionale als auch kausalgenetische Reproduktion vermittelt, d. h. die Möglichkeit der Identifizierung kann nicht mehr allein durch den aktuellen Vollzug – das, was im intentionalen Erlebnis aktuell reprä­ sentiert wird – begründet werden. Das Vorgegebene der Erkenntnis ist eben »nicht nur vorhanden in aktueller Erfahrung, sondern als ein stehendes und bleibendes Ansich« – d. h. ein identisch-verharrender Habi­tus, der in wechselnden Reproduktion jeweils aktualisiert wird –, dem deshalb aber nicht anders als dem aktuellen Vollzug »das wirkliche Erfahren-werden in gewisser Weise zufällig ist« [ebd., S. 207]. Husserl hält offenbar auch dort, wo der intentionale Gegenstand nicht mehr als schlechterdings unveränderliche ideale Geltung gänzlich außerhalb kausalgenetisch veränderlicher Entstehungsbedingungen des Aktvollzugs gegeben wird, daran fest, dass eine Abhebung der Erkenntnisfunktion der Repräsentation und Identifizierung von den variablen Vollzugscharaktären grundsätzlich möglich ist. Worum es der »Phänomenologie der Assoziation« also letztlich geht, ist der Nachweis einer ursprünglich rein reproduktiven und in keiner Weise produktiven Erinnerung, welche die Form ausschließ102 »Wesensmäßig, und aus apriorischen Gesetzen der Genesis verständlich, birgt das lebendig strömende Bewußtsein in sich ein sich stetig bereicherndes, aber nach der Urstiftung in steter Identität mit sich selbst verbleibendes Reich wahren Seins, ein Reich von Gegenständlichkeiten an sich, die für das Ich und sein aktives Herausfassen, Identifizieren, Bewähren und Entwähren vorgegeben sind« [Husserl, Hua XI, § 45, S. 207].

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

lich einer repräsentativen Vorstellung, einer intentionalen Vergegen­ wärtigung, hat. Dazu ist eine idealisierende konstitutionstheoretische Betrachtung nötig, welche mit Blick auf die Kausalgenese eine rein reproduktive Auslösungsdynamik isoliert, welche als solche nicht eingebunden ist in veränderliche, bewegungsdynamische Prozesse der Assoziation. Husserl selbst bezeichnet diese methodische Aufgabenstellung als das »Problem der Konstitution eines Ansich der Wieder­erinnerung«, die zur Beantwortung der Frage führt, »wie sich Wiedererinnerung rechtfertigt und inwiefern sie eine Quelle für Endgültigkeit« der Erkenntnis werden kann [Husserl, Hua XI, § 24, S. 111]. Begnügte sich die statische Betrachtung in ihrer Erkenntnisbegründung damit, dass intentionale Bezugnahmen auf ideale Geltungen möglich sind, so muss sich die genetische Phänomenologie Erkenntnissen durch die Verbürgung ihrer in keiner Weise eingeschränkten Reproduktionsfähigkeit versichern. Das, was funktional-geltungstheo­ retisch die Möglichkeit der Erkenntnis garantiert, die Repräsentation einer idealen Bedeutungseinheit im jeweiligen Aktvollzug, hat gene­ tisch betrachtet keinen Bestand und taugt damit auch nicht dafür, gegenständliche Erkenntnis als das »in steter Identität mit sich selbst verbleibendes Reich wahren Seins« [ebd., § 45, S. 207] zu sichern – gemeint ist das wahre Sein eines nicht etwa einmaligen und einfachen, sondern mit sich selbst identischen wiederholten Vollzugs, der die selbstbezügliche Form einer Selbsterhaltung hat. Erkenntnisse weisen sich als unverlierbare und damit wirklich bleibende Bestände – mit Husserls Worten »endgültige« Wahrheiten und Evidenzen – nur in solchen Aktvollzügen aus, die entweder faktisch in ihrer Wiederholung als dieselben reproduziert werden oder zumindest der Möglichkeit nach reproduziert werden können.103 Im Falle der apperzeptiven Reproduktion – des Erkenntnisinteresses – ergibt sich die Möglichkeit einer solchen Idealisierung durch die intentionale Sinngebung und ihr Erfüllungsstreben, welches geleitet wird durch das transzendentale Ideal, die Bezugnahme auf eine ide­ aliter unveränderliche Konstitutionsbestimmung. Kausalgenetische 103 »Das Immanente verfließt und ist dahin. Wo wir aber von einem wahren Selbst sprechen und von einer Vorstellung, die sich endgültig bewährt, da greifen wir über das momentane Bewußtsein durch Wiedererinnerungen hinaus, in denen wir wiederholt auf dieselbe Vorstellung zurückkommen und auf ihren selbigen vermeinten Gegenstand; und in denen wir uns andererseits des bewährenden Selbst als eines identischen und undurchstreichbaren wiederholt versichern können und eventuell versichern.« [Husserl, Hua XI, § 24, S. 110]

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3) Phänomenologie der Assoziation

Faktizitäten, wie sie Zusammenhänge der Assoziation und Reproduktion darstellen, weisen dagegen eine Veränderlichkeit auf, die durch keine idealisierende Betrachtung in nuce zu eliminieren ist. Die genetische Phänomenologie verschließt sich dieser Problematik durchaus nicht, sondern begegnet ihr mit einer Verwandlung ihrer idealisierenden Methode der systematischen Konstitutionsbestimmung: aus der intentionalen Analyse wird so schließlich eine Rekonstruktion: Kann sich die statische und funktional-geltungstheoretische Betrachtung auf die Gegebenheit der idealen Bedeutungsidentität in einem Akt verlassen, so muss sie die genetische in den faktisch keineswegs identischen Vollzügen der assoziativen Reproduktion eigens rekonstruieren. Die genetische Phänomenologie der Assoziation verfährt damit in ihrer Analyse der Bewusstseinsphänomene kaum noch deskriptiv, sondern in methodischer Absicht der Herausstellung eines »An-sich« der Wiedererinnerung – der Möglichkeit einer streng identischen Reproduktion und Wiederholung – in hohem Maße konstruktiv. Das zeigt sich schon im Ansatz in Husserls reduktionistischer Auffassung der Ähnlichkeitsassoziation als Form der diskontinuierlich-unvollständigen sukzessiven assoziativen Weckung.104 Die Phänomenologie der Assoziation scheint von vornherein in dem methodischen Dilemma zu stecken, dass in der faktischen Genesis, der kausalgenetischen Reproduktion, die Möglichkeit der identifizierenden Erkenntnis überhaupt verloren zu gehen scheint: »Eine Wiedererinnerung, konkret genommen, ist ein Werden, in dem eine Zeitgegenständlichkeit wieder anschaulich wird und in dieser Weise selbstgegeben wird als Vergangenheit. Keine Wiedererinnerung kann zwei völlig wesensgleiche Wiedererinnerungen als Stücke enthalten, jede Wiedererinnerung von demselben Wesen gibt eine Vergangenheit und jedes Wiedererinnerungsstück eine andere Vergangenheit. Jede Erinnerung hat ihre Horizonte, die zu ihrem Wesen mitgehören. Und die Horizonte der Erinnerungen, die Teile einer Erinnerung sind, sind notwendig verschieden.« [Husserl, Hua XI, Beilage XXVI zu § 45, S. 429 f] Reproduktive Erinnerungen sind zwar grundsätzlich wiederholbar, aber diese Wiederholung impliziert keine wirkliche Identität, wie es für die Begründung einer identifizierenden Erkenntnis in der Reproduktion erforderlich wäre. Damit wird nach Husserl die identische

104 Vgl. dazu Teil B, Kap. III,2.

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

Reproduktion aber nicht einfach unmöglich. Es muss lediglich von den faktisch-zufälligen, veränderlichen Reproduktionsbedingungen abgesehen und auf ihre ideale Konstitutionsform hingesehen werden. Die Wiederholung der Erkenntnis ist letztlich keine wirkliche, sondern nur die einer Idee. Nur im Konjunktiv der regulativen Idee ist die iden­ tische Reproduktion überhaupt möglich, d. h. im Lichte dieser idealen Bedingung die nichtidentische als eine lediglich der Klarheit und Evidenz ermangelnde unvollständige Vergegenwärtigung des idealiter immer vollständig habitualisierten Systems der Erkenntnis zu rekonstruieren: »Die Wiederholung einer klaren Wiedererinnerung ist die Wiederholung einer Idee, sofern jede abgesehen von ihrer Zufälligkeit als Erlebnis völlig gleich wäre [Herv. d. Verf.] und völlig gleich darin, dass darin dasselbe Selbst gegeben wäre [Herv. d. Verf.], dieselbe Bewußtseinsvergangenheit und derselbe intentionale Sinn, der in dieser konstituiert war. Die Idee einer vollständigen Wiedererinnerung des gewesenen Bewußtseins und seiner intentionalen Gegenständlichkeiten –.« [Husserl, Hua XI, Beilage XXVI zu § 45, S. 429] Die »Konstitution eines Ansich der Wiedererinnerung« oder einer »Identitätssynthese« der Wiedererinnerung [Husserl, Hua XI, § 45, S. 209], wie Husserl sie auch nennt, ist also streng genommen keine Gegebenheit, die sich im Vollzug der Reproduktion auch wirk­ lich realisierte, sondern – auch hier kommt wiederum das die Konstitutionsbestimmung im Ganzen leitende transzendentale Ideal zum Zuge – eine bloße Wesensmöglichkeit. Als eine solche ideale Konstitutionsbestimmung kann »wesensmäßig das verknüpfende Identitätsbewußtsein nicht aufgehoben werden« [ebd.], insofern die identische der nichtidentischen Reproduktion als eine wirksame Limesbestimmung der intentionalen Erfüllung und Bewährung – »in stetiger Annäherung an den Limes in kontinuierlicher Identität« [ebd.] – immer zugrunde liegt. Diese teleologische Limesbestimmung ist letztlich die Antwort auf die Frage, woher der Phänomenologe eigentlich weiß von der »Möglichkeit von Tatsachen, die an sich sind, die […] beliebig oft wieder erfahren werden können, wieder identifiziert als dieselben und demgemäß wieder beschrieben und in identischer Weise und in identischer Wahrheit beliebig oft beschrieben werden können« [ebd., Beilage VIII, S. 370] – und damit die Unterstellung einer solchen Wiederholungsreihe der Erinnerung, wonach Gegenständliches »eben immer wieder als absolut dasselbe reproduzierbar und wiedererkennbar ist, und zwar »wieder«-erfahrbar« [ebd., S. 374] nicht etwa bloß »ein kon­ struktives Märchen ist« [ebd., S. 373]. 276 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Phänomenologie der Assoziation

Wodurch ist aber eine solche konstruktive Idealisierung eigentlich phänomenologisch gerechtfertigt, wenn sie sich auf kein gegenständlich Gegebenes mehr bezieht? Die Antwort liegt in der möglichen Rekonstruierbarkeit eines Restitutionszusammenhangs der Konstitution und Wiederkonstitution. Husserl bestreitet durchaus nicht, dass sich der identische Sinn durch bewegungsdynamische Prozesse der assoziativen Erinnerung auf‌löst und die Bedingungen der identischen Reproduktion damit faktisch aufgehoben werden. Die Rekonstruktion des Restitutionszusammenhangs der Wiederkonstitution will jedoch zeigen, dass die identische Reproduktion als ideale und zugleich r­ eale Möglichkeit weiter besteht, die Habitualisierung des vollständigen Systems der Erkenntnis in der passiven Synthesis also a priori gesichert ist. Das Restitutionsproblem in der passiven Synthesis der assoziativen Weckung ergibt sich aus der Verschiebung der Konstitutionsproblematik von der Genese des Erkenntnisphänomens hin zu der des Bewusstseinsphänomens. Im erkenntnistheoretischen Rahmen der Konstitutionsbestimmung wird das Bewusstsein zunächst nur in seiner Funktion betrachtet, eine gegebene Gegenstandsbeziehung in der Vorstellung zu realisieren. Das Vorstellungsverhältnis und seine verschiedenen Modi gehören mit zum Erkenntnisphänomen: Ein und dieselbe Erkenntnis kann entweder in einer bloßen Leervorstellung vermeint, oder aber durch einen intuitiven Akt anschaulich erfüllt werden. Entsprechend wird die Habitualisierung von Erkenntnissen durch die retentionale Wandlung zunächst als eine Veränderung des Modus der Vorstellung im Bewusstsein beschrieben: Mit dem Übergang von der urimpressionalen Empfindung in die Retention – also dem, was bei Husserl der primären Erinnerung entspricht – kommt es zunächst zu einem Anschauungsverlust und damit der Verwandlung des intuitiven und anschaulich erfüllten zu einem signitiven, den Gegenstand nur noch leer vorstellenden Akt. Die Verwandlung des Aktuellen und Habituellen betrifft so eigentlich nicht das Bewusstsein, sondern lediglich seine repräsentative Funktion der Vorstellung. In der Phänomenologie der Assoziation wird die Habitualisierung nun nicht mehr nur in der Funktion untersucht, wie das Erkenntnisobjekt als ein Erkenntnisphänomen der Vorstellung erhalten bleibt. Es geht nunmehr um die Genese des Habitus als solchen, die Entstehung und Erhaltung des Bewusstseinsphänomens. Das Bewusstsein wird demnach nicht mehr bloß in seiner Funktion thematisiert, ein Objekt der Erkenntnis aktuell oder habituell vorzustellen, sondern – insofern sich 277 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

das Bewusstseinserlebnis als ein intentionales Erlebnis konstituiert – daraufhin betrachtet, inwieweit sich die Gegenstandsbeziehung überhaupt und damit eine Erkenntnisorientierung entwickeln und erhalten kann. Der Wandel des assoziativ Bewussten in das ganz und gar Unbewusste schließt die Möglichkeit »vergehender und schließlich verschwindender Gegenstände« [Husserl, Hua XI, § 36, S. 174] ausschließlich ein. Indem solche verschwindenden Gegenstände der intentionalen Wahrnehmungs- und Erkenntnisorientierung nicht mehr zur Verfügung stehen, löst sich zugleich das Bewusstsein auf. Husserl selbst verbindet mit der Aufklärung von genetischen Bedingungen der assoziativen Weckung die Entstehung des Bewusstseins als der transzendentalen Urbedingung der Konstitution: »Wir erkennen also, dass es sich eigentlich um nichts anderes handelt als um das fundamentale Problem, die grundwesentlichen Bedingungen der Möglichkeit einer Subjektivität selbst aufzuklären.« [Ebd., § 26, S. 124] Die Konstitution von transzendentaler Subjektivität ist letztlich genetisch identisch mit der Konstitution des Bewusstseinsphänomens, der »bewußtwerdenden Objektivität« in der assoziativen Weckung, »der Konstitution aller bewußtwerdenden Objektivität und der Subjektivität für sich selbst als seiend« [ebd., § 27, S. 125]. Hier stellt sich nicht etwa nur die Frage: Wie konstituiert sich eine Objektbeziehung jeweils in welchem Bewusstsein, sondern ob sie sich überhaupt als ein Bewusstseinsphänomen realisieren kann oder nicht. Die »Subjektivität« dieser Konstitution des Bewusstseinsphänomens liegt in ihrer Form der aktuellen und habituellen Verfügung. Sie zeigt sich damit, dass eine selbstbezügliche Orientierung auf das Objekt hin zustande kommt durch die Weckung von Aufmerksamkeit und Interesse und sich darin zugleich als erhaltungsfähig erweist. Eine solche Vertiefung der Konstitutionsproblematik stellt jedoch den cartesianischen Ausgangspunkt der phänomenologischen Methode überhaupt in Frage. Die phänomenologische Reduktion beschränkt Sinn und Reichweite dessen, was als »Phänomen« zu gelten hat, auf den einer Bewusstseinsgegebenheit im strengen Sinne. Das »Unbewußte« kann jedoch vordergründig betrachtet unmöglich als eine Form von Bewusstsein im Stile der einfachen Verwandlung des bloßen Vorstellungsmodus eines gegebenen Bewusstseinsphänomens beschrieben werden, wie dies der intentionalen Modifikation der aktuellen in eine habituelle Sinngebung entspricht. An dieser Stelle erschließt sich der methodische Sinn der Rekonstruktion eines Res278 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Phänomenologie der Assoziation

titutionszusammenhangs der Wiederkonstitution an der Schwelle des Bewussten zum Unbewussten: Mit einer solchen Methode wird schließlich nicht nur das Habituelle, sondern auch das Unbewusste als eine Form von vorstellungsmäßiger Abwandlung und damit ein mög­ liches Bewusstsein fassbar, wodurch der Cartesianismus der phänomenologischen Reduktion gerettet wird: Das Unbewusste geht für das Bewusstsein nicht etwa völlig verloren in einer das Phänomen auf‌lösenden Nacht des Bewusstlosen, sondern bleibt auf der Bewusstseinsschwelle als ein zwar nicht unmittelbar gegebener, aber zu restituierender Habitus präsent, wodurch die Möglichkeit einer verlustfreien, identischen Reproduktion des ganzen Systems der Erkenntnis und damit die Geschlossenheit des Konstitutionszusammenhangs zwar nicht realiter, aber idealiter gewährleistet ist. Die »Wiederkonstitution« gehört nach Husserl zur »Leistung der anschaulichen Wiedererinnerung« [Husserl, Hua XI, § 38, S. 182]. Anschaulichkeit gewährleistet hier die vollständige Widerspiegelung des ursprünglichen Konstitutionsverhältnisses in der reproduktiven, sekundären Erinnerung, so wie es sich in der primären Erinnerung, der Retention, ursprünglich habitualisiert hat. Zwischen die retentional habitualisierte Konstitution und ihre reproduktive Aktualisierung in einer apperzipierenden Erinnerung tritt nun genetisch die Leistung der reproduktiven, assoziativen Weckung ein. Sie hebt das retentional Habitualisierte ins Bewusstsein und gibt damit den Anreiz für seine Aktualisierung in der Reproduktion. Die assoziative Weckung ist genetisch betrachtet die Urform der »bewußtwerdenden Objektivität« und sie schafft so überhaupt die Bedingung der Möglichkeit für die Reproduzierbarkeit der Vorstellung. Im Blick auf die assoziative W ­ eckung spricht Husserl davon, dass der Habitus »den Charakter einer Intention« [ebd., § 24, S. 111] bekommt – gemeint ist ein intentionaler Reiz zu seiner vollzugsmäßigen Aktualisierung durch die Reproduktion. Die reproduktive Wiedererinnerung tritt auf diese Weise ein stets »im Anschluß an eine so eben Reiz in sich bergende Retention« [ebd.]. Nur ein Habitus, der durch die Mitwirkung der assoziativen Weckung an der retentionalen Wandlung als ein Bewusstseinsphänomen konstituiert ist, geht demnach in den Reproduktionszusammenhang der Vorstellung ein. Damit wird die Wiederkonstitution zu einem eigenständigen Konstitutionsproblem, die nicht einfach nur eine Verdoppelung der ursprünglichen Konstitution des Erkenntnisphänomens darstellt. Zunächst sieht es so aus, dass der reproduktive Charakter der Wiederkonstitution dafür verantwortlich ist, dass sich die Form der Konstitu279 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

tion einer Erkenntnis in der Wahrnehmung in der Erinnerung lediglich wiederholt. So kann Husserl die Wiedererinnerung zunächst als »eine Art von Wiederwahrnehmung« [ebd.] bezeichnen – zwar nicht in Hinblick auf den Vollzug (Wahrnehmungen sind als Wahrnehmungen nicht wiederholbar, sie modifizieren sich notwendig in eine Erinnerung) – wohl aber in Hinblick auf ihre Konstitutionsbestimmung. Die Wiedererinnerung bedeutet »ein von neuem Sich-konstituieren […] aber eben im Modus der Reproduktion« [ebd.]. Wenn somit für die Erinnerung letztlich keine anderen Konstitutionsbedingungen gelten als für die ihr zugrunde liegende Wahrnehmung, die sie identisch reproduziert, dann gilt das auch für alle Probleme der Rechtfertigung der Erkenntnis angesichts von solchen in der Konstitution auftretenden Unstimmigkeiten und Modalisierungen. Können also in der Erinnerung überhaupt Fragen der Modalisierung und Restitution neu auftauchen, die nicht bereits solche der zugrunde liegenden Wahrnehmung waren? »Derselbe eben verklingende oder versunkene Ton erscheint noch einmal auf dem Plan, und ich durchlebe sein Sein noch einmal. Das kann sich wiederholen, noch einmal reproduziere ich willkürlich oder unwillkürlich den Ton oder eine ganze Tonphase, ja eine ganze Melodie. Wie steht es hier mit der Durchstreichbarkeit der Wiedererinnerung? Ist sie vorweg abzulehnen?« (Ebd., S. 112] Dass solche Konstitutionsprobleme der Modalisierung und Restitution in Bezug auf die reproduktive Erinnerung eben nicht im Voraus abzulehnen sind, liegt an der Eigenständigkeit der Konstitution des Bewusstseinsphänomens gegenüber der eines Erkenntnisphänomens. In der Wiedererinnerung wiederholt sich nicht nur gleichsam spiegelbildlich die Konstitution des Erkenntnisphänomens in der Wahrnehmung und Begriffsbildung, und zwar deshalb, weil die Reproduktion einer Vorstellung und Erkenntnis die Konstitution des Bewusstseins durch die assoziative Weckung immer schon voraussetzt, die letztlich nicht nur den idealen Erkenntnisbedingungen, sondern den kausalge­ netischen Faktoren der dynamischen Selbsterhaltung eines Systems der Reproduktion unterworfen ist. Die Konstitution des reinen Erkenntnisphänomens unterliegt anders als die des Bewusstseinsphänomens keinerlei Beschränkung durch die faktischen Reproduktionsbedingungen der Habitualisierung. Die Verfolgung des systematischen Erkenntnisinteresses geschieht mit Blick auf die Verwirklichung des transzendentalen Ideals, dessen Idealität der vollständigen und durchgängigen Bestimmung des Gegenstandes eine von der Konstitution nicht erreichbare Limesbildung darstellt. Damit bleibt der Erkenntnis280 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Phänomenologie der Assoziation

prozess – die Objektkonstitution in der Selbstkonstitution – prinzipiell unabgeschlossen und in der Gewinnung neuer Erkenntnismöglichkeiten unendlich.105 Die intentionale Teleologie des transzendentalen Ideals schreibt deshalb als verbindliche Regel vor, die faktischen Beschränkungen der Erkenntniswirklichkeit und damit die Endlichkeit der habituellen Selbstkonstitution immer wieder aufzuheben durch die Aneignung neuer Möglichkeiten der Erkenntnis.106 Bei der Konstitution des Bewusstseinsphänomens sind die Verhältnisse jedoch anders gelagert: Die durch das universelle Erkenntnisinteresse sich vollziehende Transzendierung des Faktischen und Wirklichen auf ein Ideal-Mögliches hin vermag hier die Endlichkeit in Gestalt kausalgenetischer Reproduktionsbedingungen der Erkenntnis nicht einfach aufzuheben – die Wirkungskraft der assoziativen Weckung, das System der Erkenntnis im Bewusstsein habituell präsent zu halten, ist schließlich nicht unbegrenzt, sondern notwendig begrenzt. Das transzendentale Ideal als intentionales Organisationsprinzip scheint demnach zwar ohne weiteres begründen zu können, wie immer neue Erkenntnisse durch das aktuelle Bewusstsein in systematisch-­ geordneter Form entwickelt werden, nicht aber, wie auch das bereits erworbene System von Erkenntnissen, das durch die aktuell erworbenen Erkenntnisleistungen schließlich ergänzt und immer weiter ausgebaut werden soll – der »Fond von Prämissen« für den »unendlichen Aufgabenhorizont«, also die schon »erledigten«, aber gleichwohl 105 Für Husserl steht es außer Frage, dass die »Fortführung des Wahr­nehmungs­ prozesses eine nie abgeschlossene ist. Diese Leistung besteht nicht nur darin, immer Neues vom fest vorgegebenen Sinn anschaulich zu machen, als ob der Sinn von Anfang an schon fertig vorgezeichnet wäre, sondern im Wahrnehmen baut sich der Sinn selbst weiter aus und ist so eigentlich in beständigem Wandel und läßt immerfort neuen Wandel offen. […] Der Sinn ist fließend, er ist in jeder Phase ein neuer.« [Husserl, Hua XI, § 4, S. 20] 106 Ihre Verwirklichung und Vollendung durch die ideale Zielsetzung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses führt deshalb dazu, dass solche durch das Individuum erworbenen Erkenntnisse prinzipiell »als Material dienlich [werden] für mögliche Erkenntnis von Idealitäten höherer Stufe, und so immer von neuem. Im entwickelten theoretischen Interesse erhält nun jedes im voraus den Sinn eines bloß relativen Endzieles, es wird Durchgang zu immer neuen, immer höherstufigen Zielen in einer als universales Arbeitsfeld, als ›Gebiet‹ der Wissenschaft vorgezeichneten Unendlichkeit. Wissenschaft bezeichnet also die Idee einer Unendlichkeit von Aufgaben, von denen jederzeit eine Endlichkeit schon erledigt und als bleibende Geltung aufbewahrt ist. Diese bildet zugleich den Fond von Prämissen für einen unendlichen Aufgabenhorizont als Einheit einer allumgreifenden Aufgabe« (Husserl 1935, S. 323 f].

281 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

bleibend aufbewahrten Geltungen, von dem Husserls rationalistisches Pathos so selbstsicher spricht107 – dem Bewusstsein wirklich ohne Einschränkung habituell verfügbar bleiben kann. Nicht der aktuelle Erwerb, wohl aber die mit ihm notwendig einhergehende Habitualisierung von Erkenntnissen unterliegt den Bedingungen der Reproduktion und Selbsterhaltung und damit der Endlichkeit der Selbstkonstitution. Auf die reproduktive Leistung der assoziativen Weckung und damit die Konstitution des Erkenntnisphänomens als ein endliches Bewusstseinsphänomen kann jedoch nicht verzichtet werden, indem diese das Abgleiten von Vorstellungen ins Unbewusste verhindert und auf diese Weise die Mitwirkung des nicht mehr aktuell Bewussten an der Organisation des Bewusstseins garantiert. Auch diese Leistung unterliegt schließlich dem transzendentalen Ideal durch den methodisch rekonstruierbaren Restitutionszusammenhang des Habituellen und Unbewussten. Das eine Ergebnis, welches eine genetische Phänomenologie der Assoziation zur Lösung des Organisationsproblems der Erkenntnis beisteuert, ist deshalb die Unterscheidung des Habituellen vom Unbewussten, von aktiven und passiven Dispositionen für die Weckung des Bewusstseins in der Reproduktion. Sie wird wiederum zur Grundlage für die eigentliche Bewährung der erkenntnistheoretischen Fundierung der Phänomenologie durch eine sie erweiternde und überholende Theorie der sekundären Habitualisierung: Vermittels der primär habitualisierenden assoziativen Weckung ist es niemals möglich, alle jemals konstituierten Erkenntnisse vollständig ins Bewusstsein zu heben. Die Habitualisierung des kompletten Systems von Erkenntnissen geschieht deshalb nicht ohne eine Substitution und Verdichtung der intentionalen Vorstellung, die zwar selber nicht mehr die Form einer systematischen Erkenntnis aufweist, wohl aber ihre Erkenntnisfunktion behält durch die mögliche restitutive Wiederkonstitution des ins Unbewusste abgleitenden Systems der Konstitution.

107 Vgl. Husserl 1935, dazu Zitat in der Fußnote 106.

282 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Retention und assoziative Weckung

4)

Retention und assoziative Weckung. Die Dynamisierung der intentionalen Zeitkonstitution

Die konstruktive Wandlung des Konstitutionsbegriffs zu einem Restitutionsbegriff, die sich mit der Thematisierung kausalgenetischer Bedingungen der Reproduktion in der Phänomenologie der Assoziation vollzieht, geht methodisch einher mit einer Dynamisierung der grundlegenden Fundamente der Zeitkonstitution. Die Notwendigkeit, die primäre Habitualisierung nur der Erkenntnisorientierung durch eine sekundäre Habitualisierung zu ergänzen, welche das Erkenntnisobjekt durch eine assoziativ verdichtete Vorstellung substituiert, hebt nur dann die Möglichkeit systematischer Erkenntnisgewinnung nicht auf, wenn diese Verdichtung die Restituierbarkeit derjenigen Erkenntnis­ leistung, welche sie substituiert, unaufhebbar impliziert. Die Voraussetzungen dafür hat Husserl geschaffen durch eine grundlegende Revision seiner Überlegungen zur Zeitkonstitution. Die erste Korrektur betrifft die Auffassung der retentionalen Wandlung. Sie wird nun nicht mehr als eine der reproduktiven Erinnerung schlechterdings vorgelagerte rein-intentionale Modalisierung verstanden – die Verwandlung des Aktes in eine Disposition, des aktuellen Bewusst­seinserlebnisses in ein habituelles Horizontbewusstsein. Die retentionale Habitualisierung erscheint nun eingebettet in ein Weckungskontinuum, d. h. kommt nicht zustande ohne Beteiligung einer kausalgenetischen, reproduktiven Assoziation. Daraus resultiert die grundsätzliche methodische Frage, wie kausalgenetische Prozesse der phänomenologischen Reduktion unterworfen werden können. Sie können nun nicht mehr einfach als transzendente Setzungen – eine »Natur« außerhalb des Bewusstseinsphänomens – betrachtet und durch die Reduktion gänzlich ausgeschaltet werden. Damit hängt eine zweite methodisch notwendige Korrektur zusammen, die zu einer spezifisch phänomenologischen Theorie des Unbewussten führt. Husserls Überlegungen zur Zeitkonstitution behandeln das Unbewusste zunächst nicht als eigenständiges Konstitutionsproblem, insofern es mit dem habituellen Bewusstsein – dem retentionalen Horizontbewusstsein – gleichgesetzt wird. Durch die reproduktive Vermittlung der im Weckungskontinuum aufgehobenen retentionalen Habitualisierung ergibt sich schließlich eine klare Scheidung des Habituellen und Unbewussten. Habituell bewusst ist nur das, was durch die assoziative Weckung in den Reproduktionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution eingeht. Erlebnisse, auf 283 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

die keine Weckungsenergie übertragen wird, verbleiben entsprechend außerhalb des Bewusstseins: das retentionale Horizontbewusstsein löst sich an seinen Grenzen auf. Das Zugeständnis, dass sich Habituell-Bewusstes in Unbewusstes tendenziell auf‌löst, stellt allerdings die cartesianische Prämisse der Phänomenologie der Konstitution überhaupt in Frage: die Bestimmung des Phänomens als ein Bewusstseins­ phänomen. Aus diesem Grund interpretiert die Phänomenologie der Assoziation die Möglichkeit einer durch keine Reproduktion vermittelten, rein-intentionalen retentionalen Wandlung nun als die Überschreitung derjenigen Retention, welche als Moment des Weckungskontinuums als ein habituelles Bewusstsein verfügbar bleibt auf das Schwellenphänomen des Unbewussten hin: Das Unbewusste erscheint auf diese Weise als eine intentionale Modifikation des Habituell-Bewussten. Diese Deutung des Unbewussten als Schwellenphänomen des Bewusstseins in den Tiefen einer sich in der Reproduktion von Reproduktionen allmählich verlierenden Erinnerung stellt letztlich die Restituierbarkeit der Erkenntnis sicher und damit die Geschlossenheit des Zusammenhangs der Konstitution und Wiederkonstitution. Eine solche Phänomenologie des Unbewussten stützt sich allerdings auf eine kausalgenetische Bedingung: die Unauf‌löslichkeit des Weckungs­ kontinuums. An der Unableitbarkeit dieser Voraussetzung wird letztlich die Phänomenologie der Konstitution scheitern: Die Geschlossenheit der Organisation kann aus dem Reproduktionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution nicht abgeleitet werden, sie verlangt eine über die Auslösungsdynamik der assoziativen Weckung hinausgehende bewegungsdynamische Organisation der assoziativen Verdichtung. Die genetisch-phänomenologische Dynamisierung der Zeitkon­ stitution verrät sich im Wesentlichen dadurch, dass die reproduktiven Leistungen keine bloß »sekundären« Erinnerungen mehr verkörpern, welche in die »primäre« Erinnerung – die retentionale Habitualisierung – nicht eingehen, den Habitus vielmehr ursprünglich mit konstituieren. Reproduktive Leistungen sind dafür verantwortlich, dass sich das Erkenntnisphänomen zugleich als Bewusstseinsphänomen zu realisieren vermag: Das Habituelle bekommt in der Phänomenologie der Assoziation den Sinn der Erhaltung nicht nur des gegenständlichen Sinnes, sondern des sinnkonstituierenden Bewusstseins überhaupt. Intentionalität und kausalgenetische Reproduktion stehen nunmehr im Verhältnis einer nicht einfachen, sondern doppelten Vermittlung zu­ ein­ander, woraus die Möglichkeit eines Ordnungsverlustes und die sich 284 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Retention und assoziative Weckung

daran anknüpfende Restitutionsproblematik resultiert. Bei Husserl ist einerseits das Bemühen zu erkennen, die Möglichkeit der identischen Reproduktion und damit die systematisch-geordnete Habi­tualisierung von Erkenntnissen sicherzustellen dadurch, dass die veränderlichen Zusammenhänge der Assoziation und Reproduktion mit der retentionalen Wandlung verkoppelt werden. Methodisch gefordert ist die »Verknüpfung einer phänomenologischen Betrachtung der Assoziation mit der Lehre der Intention« [Husserl, Hua XI, § 22, S. 98]. Die Assoziation intentional zu vermitteln heißt, sie in der retentionalen Wandlung zu fundieren. Die retentional fundierte Assoziation beschränkt ihre Leistung auf die einer »Weckung«, einer Hebung von tendenziell Unbewusstem ins Bewusstsein. Das bedeutet zum einen, dass diese intentionale Assoziation ihren Sinn einer produktiv-veränderlichen synthetisierenden Leistung, einer bewegungsdynamischen Kausalität der assoziativen Verdichtung, verliert. Die Erinnerung als ein Weckungserlebnis stiftet keine neuen Zusammenhänge der Erinnerung, sie hebt einen bereits retentional vorkonstituierten Zusammenhang lediglich ins Bewusstsein. Damit erhält sie schließlich den Sinn einer identifizierenden Wiederkonstitution, auf den sie sich in der Vermittlung der Reproduktion durch die intentionale Identifizierung beschränkt. Die Ausschaltung und phänomenologische Reduktion der bewegungsdynamischen Kausalität in der Konstitution eines solchen durch die retentionale Intentionalität vermittelten Weckungskontinuums ist jedoch nur die eine Seite. So wie die Reproduktion durch die intentionale Sinngebung vermittelt ist, so umgekehrt der intentionale Sinn durch die reproduktive, assoziative Weckung: Ohne die assoziative Weckung vermag sich die Gegenstandsbeziehung nicht dauerhaft im Bewusstsein zu konstituieren, das Habituelle würde versinken in das ganz und gar Unbewusste. Mit dieser reproduktiven Vermittlung der Konstitution des Bewusstseins geht nun allerdings einher, dass die mit der Reproduktion verbundene Modalisierung der Sinngebung und damit der kausalgenetischen Veränderung von Sinn mit der dazu gehörenden Möglichkeit des Sinnverlustes in den vermeintlich geschlossenen Sinnzusammenhang intentionaler Habitualisierung eindringt: Im assoziativ-reproduktiven Weckungskontinuum können nun solche zur sekundären Erinnerung gehörenden Probleme der Modalisierung von der primären Erinnerung – einer nur scheinbar »rein«-intentionalen retentionalen Wandlung als der ursprünglichen Konstitution eines Habitus – nicht mehr ferngehalten werden. Psychologisch und naturalistisch betrachtet ist die Erinnerung ein 285 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

Akt der »Wieder«-Erinnerung und damit vollständig kausalgenetisch erklärbar durch empirische Gesetzmäßigkeiten der Reproduktion. Für die statisch-phänomenologische Analyse in ihrer antipsychologistischen Ausrichtung ist diese reproduktive Wiedererinnerung gar nicht die primäre, sondern nur eine sekundäre Erinnerung.108 Reproduktive, sekundäre Erinnerungen sind in der okkasionellen Verbindung mit einer Assoziation veränderlich, nicht aber die primäre Erinnerung als die ursprünglich intentionale Form der Habitualisierung, die von Husserl so genannte »Retention«. Sie sichert die Idealität der Konstitutionsbestimmung durch ihre bruchlose Identität und Unveränderlichkeit: Retentionale Abwandlungen tasten den intentionalen Gehalt in keiner Weise an. Die »gegenständliche Intention verbleibt« – in der »retentionalen Abwandlung« – »als absolut dieselbe und identische.« [Husserl, Hua X, § 30, S. 62]109 Als solche wird sie zur Bedingung der Evidenz­ gebung auch für die Reproduktion, insofern die sekundäre Erinnerung die primäre bewusstseinsmäßig repräsentiert. Die Reproduktion hat nach Husserl verschiedene »Klarheitsstufen« [ebd., § 21, Überschrift, S. 48] je nachdem, ob sie die sukzessive Ordnung der abgelaufenen Zeit vollständig oder unvollständig vergegenwärtigt. Unsere »Wahrnehmung von Zeitobjekten« ist daher durchaus mit »Irrtümern« belastet, einzelne Zeitauffassungen »können falsche sein, solche, denen keine Wirklichkeit entspricht« [ebd., § 22, S. 49]. Ihre Evidenz gewinnt die sekundäre, reproduktive Erinnerung deshalb nicht aus sich selbst, sondern aus einer »Deckung« mit der primären Erinnerung [ebd., S. 50], deren immer vollständige Erfassung der Zeitfolge keiner solchen Modalisierung unterliegt, vielmehr »absolut gewiß« ist [ebd., S. 49]. Die primäre Erinnerung beschreibt Husserl als eine Form des Gedächtnisses, eine habituelle Verfügung über die sukzessive Ordnung des Zeitverlaufs, die genetisch entsteht durch eine Modifikation nur der intentionalen Sinngebung: Aus dem aktuellen Erlebnis, der ur­impressionalen Zeitempfindung, wird durch kontinuierliche retentionale Wandlung ein dispositionelles. Es wandelt sich also eine Anschauung beständig um in eine Leerintention, die dann ihrerseits als habituelle Disposition fungiert für ihre mögliche Aktualisierung in 108 Vgl. dazu den § 14 von Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins mit der Überschrift »Reproduktion von Zeitobjekten (sekundäre Erinnerung)« [Husserl, Hua X, S. 35]. 109 Die Kapitelüberschrift des § 30 von Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins lautet bezeichnend: »Erhaltung der gegenständlichen Intention in der retentionalen Abwandlung« [Husserl, Hua X, S. 35].

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4) Retention und assoziative Weckung

den Akten der Reproduktion. Diese statische Betrachtung der Zeitkonstitution charakterisiert, dass sie die intentional-modifizierende Genesis, durch die ein habituell verfügbares System der Konstitution entsteht, vollständig entkoppelt von der veranschaulichenden Reproduktion im Sinne einer einseitigen, transzendentalen Bedingung der notwendig nachträglichen Realisierung einer vorgegeben intentionalen Geltung: Zwischen der primären und sekundären Erinnerung besteht von daher eine keineswegs doppelte, sondern lediglich einfache Vermittlung. Das retentionale Gedächtnis verleiht den Akten reproduktiver Wiedererinnerung als apriorische, intentionale Geltungsbedingung der Genesis die Evidenz einer wirklichen Wiederholung der Erkenntnis, der »Wiederkonstitution«. Erweitert sich nun genetisch mit der Idee eines dynamischen Weckungskontinuums die einfache Vermittlung von Intention und Reproduktion zu einer doppelten, dann ist die Möglichkeit einer solchen systematischen Wiederkonstitution nicht mehr a priori gesichert dadurch, dass die Habitualisierung als eine retentionale »ontische« Modifikation von der veränderlichen Modalisierung im eigentlichen Sinne110 unberührt bliebe durch den einseitigen Fundierungszusammenhang von primärer und sekundärer Erinnerung. Die Möglichkeit der Wiederkonstitution des habituellen Systems der Erkenntnis kann jetzt nicht mehr rein intentional, sie muss ebenso durch die reproduktive Leistung – die Auslösungsdynamik des Weckungskontinuums – auch kausalgenetisch begründet werden. Die kausalgenetische assoziative Weckung als ursprüngliches Phänomen der »bewußtwerdenden Objektivität« [Husserl, Hua XI, § 25, S. 125] – Husserl löst mit dieser phänomenologischen Konzeption einer originär intentionalen Kausalität das bis dahin unlösbare Problem, wie eine habituelle Vorstellung, die kein Bestandteil der aktuellen Wahrnehmung mehr ist, nicht einfach ins Dunkel des ganz und gar Unbewussten verschwindet und damit den Status eines wirklichen Be­ wusstseinsphänomens der Erinnerung verliert. Wird die Zeitkonstitution funktional-geltungs- und erkenntnistheoretisch als die ursprüngliche Form der Konstitution einer Objektbeziehung verstanden, dann kommt es zunächst zur Abhebung der ursprünglichen intentionalen Leistung der Habitualisierung von der Reproduktion – die Habitualisierung als Form der retentionalen Wandlung muss in dieser funk110 Zu Husserls Einschränkung des Sinnes von Modalisierung auf den der veränderlichen Konstitutionsbestimmung vgl. Kap. II,2.

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tionellen, statischen Betrachtung als primäre Erinnerung der sekundären, ausdrücklich reproduktiven Wiedererinnerung ermöglichend vorausgehen, denn sie verkörpert eine rein passive Synthesis ohne jede aktive Ichbeteiligung, die in Gestalt einer höherstufigen aktiven Synthesis der Reproduktion zu der fundierenden Konstitution des Habitus in der Retention erst nachträglich hinzutritt. Diese Erklärung der retentionalen Habitualisierung als eine schlechterdings reproduktiv inaktive passive Synthesis reicht jedoch streng genommen nur für die retentionale Wandlung im Rahmen der »lebendigen Gegenwart«111 eines wahrnehmungsmäßigen Erlebnisses aus, wie es Husserls Beispiel der Melodie immer wieder demonstriert. Wir haben nicht nur die einzelne urimpressionale Empfindung – den Ton, der gerade erklingt – im Bewusstsein, sondern retentional und habituell auch die ganze bislang abgelaufene Strecke der Tonreihe. Ohne dies zerfiele die Wahrnehmung der zusammenhängenden Melodie in lauter einzelne Bruchstücke der Empfindung – die Tonfolge wäre so gar nicht mehr als intentionale Sinneinheit gegeben, wo die einzelnen Töne die Teile eines Ganzen bilden, das sich im Prozess einer einheitlichen Hörerfahrung sukzessiv vervollständigt. Husserls Modell des intentionalen Horizont­bewusstseins stellt hier sicher, dass zur Erklärung der habituellen Verfügung einer solchen Tonfolge die Annahme einer reproduktiven, ichlichen Aktivität nicht erforderlich ist. Die »lebendige Gegenwart« enthält nicht nur die gleichsam punktuelle Urimpression, sie dehnt sich durch Retention und Protention zu einer Simultanerfassung der Sukzession aus. Die Melodie als ganze Tonfolge ist damit in Form eines Horizontbewusstseins, das über die Präsenz der Tonempfindung hinaus auch Vergangenes (Habituelles) und Zukünftiges (Antizipiertes) simultan präsent hält, in der wahrnehmungsmäßigen Auffassung als ein Bewusstseinsphänomen vollständig konstituiert. Die Form der Zeitkonstitution ändert sich jedoch grundlegend im Falle der habituellen Präsenz eines ganzen Musikstücks wie der Symphonie. Hier geht es phänomenologisch um die Beantwortung der Frage, wie wir auch eine solche fernere Erinnerung, die nicht mehr zum Horizont einer Wahrnehmungsgegenwart gehört, gleichwohl mit dieser im Bewusstsein simultan präsent halten können. Eine einfache 111 Die exklusive Darstellung von Husserls Zeittheorie als Theorie der »lebendigen Gegenwart« findet sich in der klassischen Untersuchung von Klaus Held: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik [Held 1966].

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4) Retention und assoziative Weckung

und kurze Tonfolge – die Melodie als Form der achttaktigen Periode – mögen wir noch ohne Leistungen der Reproduktion im Gedächtnis behalten können, nicht aber den Verlauf einer ganzen Symphonie. Bezeichnend gehören zur Form eines solchen Musikstücks Reprisen, was den deutlichen Hinweis darauf gibt, dass sich die Sukzession hier nicht anders als in einer Wiederholungsstruktur und damit auch nicht mehr völlig ohne Leistungen von reproduktiver Erinnerung als Bewusstseinsphänomen konstituieren kann. Die Loslösung von den methodischen Beschränkungen der erkenntnistheoretischen Fragestellung in einer Phänomenologie der Assoziation, der Betrachtung der Konstitution des Habitus als solchen – führt schließlich dazu, dass solche Fragen nach der Beteiligung von reproduktiver Ichaktivität an den Prozessen der Habitualisierung nunmehr explizit gestellt werden. Die Passivität der retentionalen Wandlung ist für Husserl jetzt nur noch eine Erklärung des »allerersten Anfang[s]« [Husserl, Hua XI, § 27, S. 125], wie sich ein Habitus als Bewusstseinsphänomen im inneren Zeitbewusstsein konstituieren kann: in der lebendigen Gegenwart einer wirklichen Wahrnehmung. »In der jeweiligen konkret vollen, strömenden Lebensgegenwart haben wir schon in einem gewissen Gegebenheitsmodus vereint Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Aber diese Art, wie die Subjektivität ihres vergangenen und künftigen Lebens mit den darin liegenden intentionalen Gehalten bewußt wird, ist eine unvollkommene. Sie wäre für das Ich eine bedeutungslose, wenn es keine Weckung gäbe, denn die Retentionen sind leer und versinken sogar in den unterschiedslosen retentionalen Hintergrund.« [Ebd.] Die zunächst in der lebendigen Gegenwart einer Wahrnehmung noch »urlebendige« Retention wandelt sich notwendig um in eine bloße Leerretention, d. h. der Habitus verschwindet überhaupt aus dem Horizont des ursprünglich durch die Grenzen der Wahrnehmungsmöglichkeit bestimmten Bewusstseins. Solche durch Leistungen der Reproduktion noch unvermittelten retentionalen Habitualisierungen versinken schließlich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle in einen »unterschiedslosen retentionalen Hintergrund«, womit Husserl andeutet, dass sich das zur Wahrnehmung gehörende gegliederte Horizontbewusstsein in der puren Passivität der retentionalen Wandlung überhaupt verflüchtigt, indem das in diesem Horizont Gegebene gar nicht mehr zur Abhebung kommt und damit kein mögliches Objekt für das Bewusstsein mehr sein kann. Das Habituelle als intentionaler Horizont konstituiert sich vollständig in der Objektbeziehung der Vorstellung und darf damit für das Ich »bedeutungslos« bleiben, nicht aber 289 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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auch das Habituelle unterhalb der Schwelle beteiligten Bewusstseins: Hier müsste sich die intentionale Objektbeziehung letztlich auf‌lösen, wäre sie nicht zugleich für das ichliche Bewusstsein realisiert: Das Habituelle als ein Bewusstseins­phänomen kann sich demnach unmöglich unter völligem Ausschluss jeglicher Ichaktivität als rein passive Synthesis konstituieren. Das an dieser entscheidenden Stelle drohende Scheitern einer ausschließlich erkenntnistheoretisch orientierten Konstitutionstheorie, welche von der Konstitution nur die Objektbeziehung mit all ihren komplexen (horizont-)intentionalen Implikationen berücksichtigt und nur so überhaupt imstande ist, die Habitualisierung als Form einer in keiner Weise ichlich »aktiven«, sondern ganz und gar »passiven« Synthesis theoretisch zu fassen, wendet Husserl nun erfolgreich ab, indem er Reproduktion und Ichaktivität in Gestalt einer ursprünglichen assoziativen Weckung bereits in der »primären« Erinnerung und damit im Prozess der Habitualisierung selbst verankert. Die assoziative ­Weckung ist zwar anders als das sich artikulierende Interesse keine ak­ tive Synthesis, welche die Zuwendung zum Gegenstand ausschließlich im Selbstvollzug realisiert.112 Im Weckungserlebnis geht die Aktivität vom Objekt aus, welches das Bewusstsein affiziert. Insofern bleibt die assoziative Weckung eine passive Synthese, aber eine solche, welche die Ichaktivität durch die Weckung von Aufmerksamkeit und Interesse ursprünglich ins Spiel bringt.113 Was nicht im Rahmen der schlichten Wahrnehmung schon von sich her habituell präsent ist, muss durch stetige Erneuerung und Wiederholung, geleistet durch Akte der repro­ duktiven Erinnerung, habituell präsent gehalten werden. Das Hori­ zontbewusstsein, was die Simultaneität des Wahrgenommenen mit dem Erinnerten und auf diese Weise die Mitwirkung des Habituellen an der Konstitution des Bewusstseins garantiert, ist so letztlich keine einfache Gegebenheit der Anschauung mehr. Es ist bereits in seinem intentionalen Entstehen bedingt durch reproduktive Vermittlung: Der Horizont konstituiert sich als ein bewusster Horizont nur mit Hilfe der assoziativen Weckung von ichlicher Aktivität.

112 Das passive Weckungserlebnis wandelt sich um in aktives Interesse durch die selbstvollzogene Wiederholung der Zuwendung. Vgl. dazu Teil C, Kap. III,5. 113 Da Husserl selbst nicht zwischen Selbst- und Ichbildung unterscheidet, bleiben wir hier bei seiner Terminologie.

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5) Das dynamische Weckungskontinuum

5)

Das dynamische Weckungskontinuum. Passivität als Form von responsiver Ichaktivität

Husserls Phänomenologie beansprucht nicht weniger »das Rätsel der Assoziation und damit alle Rätsel des »Unbewußten« und des wechselnden »Bewußtwerdens« lösen« zu können [Husserl, Hua XI, § 34, S. 165]. Wie kann die Hebung und Senkung der Vorstellungen aber wirklich phänomenologisch anders als naturalistisch beschrieben werden – also nicht nur in Form einer anonymen Vorstellungsmechanik, welche gegenüber allen Modifikationen des Bewussten und Unbewussten gleichgültig sich ganz und gar im Dunkel der Bewusstlosigkeit abspielt? Die assoziative Weckung interpretiert Husserl als die ursprüngliche Form der Konstitution von Bewusstsein und damit verbunden der Subjektbeziehung überhaupt. Die »Konstitution aller bewußtwerdenden Objektivtät und der Subjektivität für sich selbst als seiend« [ebd., § 27, S. 125] liegt in der Assoziation, insofern sie eine Modifikation der Affektion darstellt. Zum Phänomen der Affektion gehört, dass sie Aufmerksamkeit weckt und damit gewissermaßen die Quelle bildet für alle Leistungen des Bewusstseins als Formen von ursprünglicher Ichaktivität, indem sie »zur Aufmerksamkeit, zur Erfassung, Kenntnisnahme, Explikation sich auswirkt« [ebd., § 33, S. 151]. Die Affektion ist ursprünglich verbunden mit der Empfindung und als solche noch kein Phänomen von assoziativer Erinnerung. Mit der Annahme eines Weckungskontinuums wird es jedoch möglich, die Affektion auch als Quelle der reproduktiven Assoziation aufzuweisen und damit die Verwandlung der Wahrnehmung in eine Erinnerung mit allen ihren Modifikationen des Habituellen und Unbewussten als bewusstseinsimmanentes Phänomen zu betrachten. Das Weckungskontinuum entsteht zunächst aus der assoziativen Verbindung einer aktuellen Wahrnehmung mit einer einzelnen Erinnerung, die sich aber sogleich iterierend fortsetzt in der Weckung von Erinnerungen durch Erinnerungen.114 114 »Das gegenwärtige erinnert an das Vergangene. Ebenso kann, während eine Wiedererinnerung abläuft, eine zweite Wiedererinnerung auftreten«, sodass »der erste erinnerte Vorgang an den zweiten erinnerten erinnert. Ein wahrnehmendes, also originär konstituierendes Bewußtsein kann danach charak­terisiert sein als weckendes Bewußtsein, weckend ein reproduktives Bewußtsein, und dieses kann abermals in ebensolcher Weise als weckend, als eine Bewußtseinsvergangenheit gleichsam heranholend fungieren« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 118].

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Das Bewusstsein, wie es sich originär konstituiert, entsteht ursprünglich mit der auslösenden Affektion der Empfindung, die Aufmerksamkeit und damit Bewusstsein erregt. In der Weckung einer Erinnerung, die stets vom aktuell-lebendigen Bewusstsein einer Wahr­ nehmungsgegenwart ausgeht, wird die auslösende Affektion nun aber über das unmittelbar empfindende Bewusstsein hinaus zum Entstehungsgrund des Bewusstseins auch dieser Erinnerung und damit zum Ursprung der Assoziation. Assoziatives Bewusstsein entsteht durch »die weckende Übertragung von Affektion« [Husserl, Hua XI, § 33, S. 153], d. h. durch ein Übergehen von affektiver Energie, die ursprünglich von einem urimpressionalen Datum herrührt, auf die retentionalen Gehalte. Der Habitus wird also im Bewusstsein lebendig erhalten, indem »beständig Affektionen über sich hinauswirken« [ebd., S. 157 f], d. h. hinauswirken über das mit der Empfindung verknüpfte gegenwärtige Bewusstsein als »affektive Weckungen, also Assoziationen« [ebd., S. 158]. Die Assoziation verdankt ihre Leistung der »bewußtwerdenden Objektivität« also letztlich der Affektion, die in ihrer originären Struktur deshalb auch an ihrer Quelle der Wahrnehmung und Empfindung, »dem konkreten Aufbau der lebendigen Gegenwart« [Husserl, Hua XI, § 34, S. 165] abzulesen ist. Sie enthält bereits eine »Gradualität« der Affektion115, die als Grund und Ursprung für die Hebung und Senkung der Vorstellung und damit die verschiedenen Grade entstehender und vergehender Bewusstheit und Ichaktivität auch in der retentionalen Habitualisierung anzusehen ist. Die Affektivität der Empfindung beinhaltet »jene wechselnde Lebendigkeit eines Erlebnisses, eines Bewußtseinsdatums, von deren relativer Höhe es abhängt, ob das Datum merklich im besonderen Sinn ist und dann eventuell wirklich aufgemerktes und erfaßtes ist« [ebd., § 35, S. 166]. Husserl spricht hier von der »relativen Höhe« eines Erlebnisses als Bewusstseinsdatum sowie einem affektiven »Merklichkeitsrelief«, einem »Relief der Bemerksamkeit und Aufmerksamkeit« [ebd., S. 167], was darauf hindeutet, dass sich in der Affektion Hebungen und Senkungen als Grade und Stufen der Bewusstheit und der ichlichen Aktivität ursprünglich konstituieren. Den »passenden Ausdruck affektives Relief« verwendet Husserl nach eigenem Bekunden, um damit »einerseits die Einheit an[zudeu115 Die Überschrift des § 35 von Analysen zur passiven Synthesis lautet: »Die Gradualität der Affektion in lebendiger Gegenwart und retentionalem Prozeß« [Husserl, Hua XI, S. 166].

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5) Das dynamische Weckungskontinuum

ten], andererseits Höhenunterschiede für die verschiedenen einzelnen Momente, endlich auch die Möglichkeit von Gesamterhöhungen oder -erniedrigungen, sofern das affektive Relief sich je nachdem im Wandel der lebendigen Gegenwart stärker herauswölben kann oder mehr abflachen« [ebd., S. 168]. Die ursprünglich affektive Konstitution des Bewusstseins vollzieht sich in zwei Stufen, was Husserl am Beispiel eines kontinuierlich sich verstärkenden Geräusches, das sich dem Bewusstsein immer mehr aufdrängt [Husserl, Hua XI, § 35, S. 166], exemplarisch verdeutlicht. Mit wachsender Affektivität nimmt auch die »Bewußtseinslebendigkeit« zu, sie bleibt jedoch zunächst noch gewissermaßen »im Vor­zimmer des Ich« [ebd.]. Mit Blick auf Freuds Unterscheidung des Bewussten, Vorbewussten und Unbewussten116 kann man diesen Zustand der Entstehung des Bewusstseins als den eines Vorbewussten bezeichnen, insofern ihm noch die für die Konstitution des expliziten Bewusstseins erforderliche aufmerkende Erfassung, die ausdrückliche Ichzuwendung, fehlt. Überschreitet die affektive Hebung im Merklichkeitsrelief eine bestimmte Schwelle, dann wird das Ich auf das Erlebnis aufmerksam. Nun ist im »Ich eine positive Tendenz, sich dem Gegenstand zuzuwenden, geweckt, sein »Interesse« ist erregt« [ebd.]. Die Affektion bewirkt also letztlich durch Auslösung die Ichzuwendung; sie bewirkt Interesse an dem betreffenden Datum und weckt so ursprünglich das ichliche Bewusstsein. Husserl beschreibt diesen Vorgang der Auslösung der Ichzuwendung in der Affektion als »eine auf den gegenständlichen Reiz antwortende Tendenz« [ebd.], die wiederum verschiedene Grade und Stufen der lebendigen Ichaktivität aufweist, je nachdem, wie weit diese »antwortende Tendenz« zum »Ichpol« jeweils vordringt. Im Merklichkeitsrelief »scheidet sich da also Hintergrund und Vordergrund. Der Vordergrund ist das im weitesten Sinne Thematische. Das Null der Merklichkeit liegt in einer eventuell beträchtlichen Lebendigkeit des Bewußthabens, die aber keine besondere antwortende Tendenz im Ich erregt, bis zum Ichpol nicht vordringt« [ebd., S. 167]. Diese Abhebung eines Vordergrundes und Hintergrundes des Bewusstseins, des Vorbewussten und Bewussten durch eine bereits erfolgte oder nicht erfolgte Ichzuwendung modifiziert schließlich die 116 Was weder vollständig unbewusst und verdrängt noch wirklich aktuell bewusst, vielmehr »noch nicht bewußt, wohl aber bewußtseinsfähig« ist, nennt Freud »vorbewusst«. »Mit Rücksicht auf diese Bewußtseinsfähigkeit heißen wir das System Bw auch das ›Vorbewußte‹.« [Freud 1915, S. 133]

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genetisch-phänomenologische Unterscheidung der aktiven von der passiven Synthesis entscheidend. Die »passive Synthesis« kann nicht mehr zureichend als ein Bewusstsein völlig ohne aktive Ichbeteiligung charakterisiert werden, wie das am Leitfaden der erkenntnistheoretischen Unterscheidung einer retentionalen Habitualisierung als Form der primären Erinnerung von der Reproduktion als sekundärer Erinnerung noch völlig ausreichend scheint. Nicht nur, dass die »Retention« im Rahmen einer Phänomenologie der Assoziation schließlich ein durch die Reproduktion prinzipiell vermitteltes dynamisches Weckungs­kontinuum verkörpert; durch den affektiven Ursprung der assoziativen Weckung kommt bereits in der Passivität der Empfindung und der sich ihr anschließenden retentionalen Wandlung ichliche Aktivität ins Spiel. Die »reine« Passivität kennzeichnet in der Wahrneh­ mung nur noch den Grenzfall des Vorbewussten, wo das Bewusstsein gewissermaßen bereits auf dem Sprung ist in der Auslösung ausdrücklicher Ichzuwendung, in der Erinnerung entsprechend die Schwelle des Bewussten zum Unbewussten. Das heißt aber, dass aktive und passive Synthesis nun nicht mehr schlechterdings durch die Vorhandenheit oder Nichtvorhandenheit von ichlicher Aktivität unterschieden werden können, vielmehr die Art und Weise, wie solche Aktivität ursprünglich ins Spiel kommt. Husserl kennzeichnet die assoziative Weckung auch als eine erste Konstitutionsstufe der reproduktiven Erinnerung in Form einer »Urassoziation« im Unterschied zur höher­ stufigen apperzeptiven Reproduktion der ausdrücklichen Wieder­ erinnerung.117 In der Apperzeption geht die reproduktive Ichaktivität als reine Form von Spontaneität voll und ganz vom beteiligten Ichpol aus. In der assoziativen Weckung bleibt sie dagegen stets eingebunden in eine Reflexbewegung: ein antwortendes, »responsives« Verhalten, indem die Aktivität der Ichzuwendung stets ausgelöst wird von ursprünglicher Passivität in Gestalt eines Reizes der Affektion. Die »passive Synthesis« im nicht nur ab­strakten Sinne des bloß Vorbewussten, sondern eines konkreten, ichlichen Bewusstseins, definiert demnach ihre Struktur einer responsiven Intentionalität.118 Auf diese Weise ist 117 Vgl. dazu das Stufenschema in Husserl, Hua XI, § 38, S. 180 f. 118 Maurice Merleau-Ponty hat solche Ansätze der genetischen Phänomenologie aufnehmend die Intentionalität als Form der responsiven Sinngebung gefasst. Er fasst sie als »fungierende Intentionalität« eines »Sinnes als ein­nehmender Sinn«, einer ursprünglichen, reaktiv-antwortenden Sinngebung [Mer­leauPonty 1986, S. 300]. Bernhard Waldenfels knüpft hier an mit ­seiner Theorie der »responsiven Rationalität«, die sich »als Transformation der phänomenolo-

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5) Das dynamische Weckungskontinuum

das Ichbewusstsein als Form der  passiven Synthesis keine Form von reflexivem Selbstbewusstsein im idealistischen Sinne, sondern ein – mit Sartre gesprochen – wahrlich »präreflexives« Cogito, ein ausschließlich intentionales Bewusstsein von, welches ein Bewusstsein für notwendig einschließt in Form der durch eigene Aktivität vermittelten selbstvollzogenen Zuwendung zu seinem Gegebenen. An der »lebendigen Gegenwart« des wahrnehmenden Bewusstseins kann bereits das affektive Relief einer Gradualität von Hebungen und Senkungen des Bewusstseins abgelesen werden. Diese erstreckt sich jedoch nur auf die mögliche Unterscheidung des Bewussten und Vorbewussten im Rahmen einer urimpressionalen Bewusstseinsgegenwart, der Empfindung. Die Problematik der Konstitution von verschiedenen Stufen des Habituellen einschließlich des Unbewussten kommt erst mit der Affektion in Gestalt der urassoziativen Weckung ins Spiel. Weil die Urassoziation als Form der übertragenen Affektion lediglich eine Abwandlung des affektiven Merklichkeitsreliefs der »lebendigen Gegenwart« darstellt, können letztlich die Gestalten auch des habituellen Bewusstseins als Wandlungen eines sich in der Affektion ursprünglich konstituierenden Ichbewusstseins beschrieben werden. Auf dieser Grundlage ergibt sich zunächst eine analoge Struktur der Stufung des Vorbewussten und Bewussten in Bezug auf die Gegebenheiten der Wahrnehmung und der Erinnerung. Das Habituelle verkörpert eine Gestalt des weckenden Vorbewussten nun zwar nicht mehr für das originäre Wahrnehmungsbewusstsein der Empfindung, wohl aber für einen Bewusstseinsakt der reproduktiven Wiedererinnerung, insofern das Vorbewusste hier wirksam wird als aktive Disposition für die Reproduktion. Von der assoziativ vorbewussten Erinnerung, dem habituellen Bewusstsein, geht stets ein aktiver Weckungsreiz aus: Die Retention erhält »vermöge einer assoziativen Weckung […] den Charakter einer Intention« und wird damit zu einer »Reiz in sich bergenden Retention« [Husserl, Hua XI, § 24, S. 111] – also in einer der Empfindung analogen Reflexbewegung zum Reiz für eine antwortende, gischen Konzeption der Intentionalität« versteht »unter Be­nutzung kommunikationstheoretischer Einsichten« [Waldenfels 1994, S. 332]. Vgl. dazu meinen Artikel »Intentionalität«, S. 296. Die Grenzen des Responsivitätsmodells der Intentionalität liegen darin, dass sie weder die Habitualisierung der Objekt­ beziehung noch ihre organisierende Leistung erklärt, die herrührt von der Artikulation von Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresse und der sich damit vollziehenden Umwandlung der passiven in eine aktive Synthesis, einer Zuwendung zum Objekt von mir aus.

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aktive Ichzuwendung in einer assoziativ vermittelten Reproduktion. Im Weckungskontinuum kommt es durch die iterative Übertragung der affektiven Weckungsenergie von einer Erinnerung auf die nächste jedoch unaufhaltsam zu einer Senkung des affektiven Reliefs und damit zu einer Schwächung dieser responsiven Intentionalität. Das Habituell-Vorbewusste wandelt sich so letztlich in das Unbewusste. Das Unbewusste bezeichnet den Grenzfall der Auf‌lösung der habituellen Verfügung in ihren verschiedenen affektiven Bewusstseinsgraden als »Null dieser Bewußtseinslebendigkeit« – allerdings nicht in Form einer schlechthinnigen Vernichtung des Bewusstseinsinhalts, sondern ein »Nichts nur an affektiver Kraft und damit an denjenigen Leistungen, die eben eine positiv wertige Affektivität (über dem Nullpunkt) voraussetzen« [ebd., § 35, S. 167]. Vom Unbewussten kann man demnach nicht einfach sagen, dass es »nichts« ist, vielmehr als Grenzfall habi­tueller Bewusstseinsaktivität eigentlich nur »passiv« geworden ist, d. h. nicht mehr aktiv mitwirkt an der Konstitution eines Reproduktionszusammenhangs der Erinnerung. Vom Unbewussten in Gestalt einer nur noch passiven Disposition geht im Unterschied zur aktiven Disposition des Habituellen und Vorbewussten keinerlei Weckungsreiz für die Reproduktion eines Bewusstseins in Form der Erinnerung mehr aus. Damit wird allerdings die methodische Klärung notwendig, wie auch dieses Unbewusste in die Konstitution des Bewusstseins mit hineingehört und damit diejenigen durch die phänomenologische Reduktion gesetzten Grenzen der Bewusstseinsimmanenz mit dem Übergang des Habituellen als einer aktiven Disposition für die Reproduktion in die passive Disposition des Unbewussten nicht einfach gesprengt werden.

6) Exkurs I. Husserl und die Herbartschule: Die konstitutions­theoretische Differenz des Habituellen und Unbewussten Die Habitualisierung fasst Husserl als Form der Zeitkonstitution von immanenten Bewusstseinserlebnissen auf, welche er in seinen frühen Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein zunächst als rein intentionales Erkenntnisphänomen behandelt. Was als retentionale Wandlung und primäre Erinnerung vom Phänomenologen beschrieben wird, ist so ausschließlich »die Weise, wie das immanent zeitliche Objekt [Herv. d. Verf.]. in einem beständigen Fluß ›erscheint‹, wie es ›gegeben‹ 296 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Exkurs I. Husserl und die Herbartschule

ist« [Husserl, Hua X, § 8, S. 25]. Die Retention sichert die Verfügung über den Gegenstand der Erkenntnis auch über die Grenzen der aktuellen Wahrnehmungsgegenwart hinaus, und zwar unabhängig von dem sich dabei wandelnden Bewusstseinsmodus. Das macht Husserl an seinem exemplarischen Beispiel einer habitualisierten Tonempfindung klar. Der einzelne erklingende Ton wird zunächst einmal im Bewusstsein realisiert durch die Empfindung. Doch nehmen wir den empfundenen Ton kaum jemals isoliert wahr, sondern als Teil einer sukzessiven Tonfolge wie der Melodie. Um die ganze Melodie im Bewusstsein zu behalten, ist es also nötig, dass auch die bereits ver­k lungenen Töne bewusstseinsmäßig präsent bleiben – und genau das leistet die reten­ tionale Habitualisierung der Empfindung: »›Nachher‹ ist er [der Ton, d. Verf.] ›eine Zeitlang‹ in der ›Retention‹ als gewesener ›noch‹ bewußt, er kann festgehalten und im fixierten Blick stehend bzw. bleibend sein.« [Ebd., S. 24] Die Empfindung des Tons und ihre Umwandlung in einen Habitus der Retention vollzieht sich demnach ursprünglich im Bewusstsein. Aber nach Husserl bleibt es nicht dabei; die retentionale Habitualisierung geht über die Bewusstseinsschwelle letztlich hinaus: »Die ganze Dauerstrecke des Tones oder ›der‹ Ton in seiner Erstreckung steht dann als ein s. z. s. Totes, sich nicht mehr lebendig Erzeugendes da, ein von keinem Erzeugungspunkt des Jetzt beseeltes Gebilde, das aber stetig sich modifiziert und ins ›Leere‹ zurücksinkt.« [Ebd., S. 24 f] Die Melodie verschwindet allmählich aus dem Bewusstsein, das bedeutet aber keineswegs einen Verlust der habituellen Verfügung. Im Gegenteil. Der Habitus selbst macht eine Modifikation durch, er verliert die Lebendigkeit des Bewusstseins und sinkt letztlich ins Unbewusste ab. In der Phänomenologie der Assoziation wird dieser Vorgang einer stetigen Verwandlung der anschaulich-bewussten »frischen Retention« »in eine Strecke leerer Retentionen« [Husserl, Hua XI, § 35, S. 169] schließlich zum Gegenstand ausführlicher phänomenologischer Analysen, während er dagegen in Husserls frühen, in ihrer Konstitutionsproblematik noch ausschließlich erkenntnistheoretisch orientierten Vorlesungen zur Problematik des »inneren Zeitbewusstseins« noch keine methodische Beachtung findet. Denn für die Betrachtung der Habitualisierung im Rahmen der Konstitution eines Erkenntnisphänomens ist allein der Nachweis entscheidend, dass sich die Objektbeziehung wirklich dauerhaft konstituieren kann; sie also letztlich unberührt von allen Wandlungen des Bewusstseins in unveränderter Form einer habitualisierten Ordnung der Sukzession, einer gleichsam »starren« Flussform im fließenden Fluss des innern Zeitbe297 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

wusstseins, erhalten bleibt.119 Aufgrund dieser »starre[n] Form«, einer »Zeitlosigkeit der Form, in der sich Zeit konstituiert« [ebd, Beilage XIV, S. 392], unterstreicht Husserl die vollständige Analogie der auf eine Zeitstrecke begrenzten lebendig-bewussten mit der auf den ganzen Bewusstseinsstrom bezogenen unbewussten Retention: »Die Modifikation der ganzen Strecke ist dann eine analoge, wesentlich identische mit derjenigen, die während der Aktualitätsperiode das abgelaufene Stück der Dauer im Übergang des Bewußtseins zu immer neuen Erzeugungen erfährt.« [Husserl, Hua X, § 8, S. 25] Als Erkenntnisphänomen betrachtet ist das Bewusstsein ein rein intentionales Bewusstsein von einem Gegenstand. Konstitutionstheoretisch geht es hier um den Nachweis, dass auch mit der Umwandlung des bewussten in einen unbewussten Habitus die Möglichkeit der Realisierung einer Objektbeziehung weiterhin gegeben ist. Diese Bedingung ist nun grundsätzlich damit erfüllt, dass sich das intentionale »Bewusstsein von« im Falle der unbewussten und leeren Retention zwar nicht schon in der Retention als Form der »primären« Erinnerung tatsächlich realisiert, dafür aber vermittels einer »sekundären« Erinnerung realisieren kann: durch einen Akt der ausdrücklichen, reproduktiven Wiedererinnerung. Im Unterschied zum lebendigen und noch nicht entleerten retentionalen Bewusstsein fungiert der Habitus hier nicht als impliziter Bestandteil eines Bewusstseinsaktes im Sinne eines die Präsenz der unmittelbaren Wahrnehmung und Empfindung erweiternden Horizontbewusstseins der Erinnerung, sondern als eine Disposition außerhalb des Bewusst­ seins für die Wiederbelebung eines Bewusstseinsaktes in der Reproduktion. Genau hier aber zeigt sich konstitutionstheoretisch die Unzulänglichkeit dieser Betrachtung des Zeitbewusstseins ausschließlich als Erkenntnisphänomen, als intentionale Gegebenheit von. Weil das Bewusstsein nur im Rahmen der Konstitution einer Objektbeziehung betrachtet wird und nicht als Form der reproduktiven, ichlichen Habi­ tualisierung, der Gegebenheit für ein beteiligtes mehr oder weniger 119 Zwar kann im Fluss der Zeit »prinzipiell kein Stück Nicht-Fluß auftreten«. Aber in Form eines durch die Retention fest habitualisierten Sukzessionsschemas hat der »Fluß in gewisser Weise etwas Verbleibendes«, das Husserl »die formale Struktur des Flusses, die Form des Flusses« nennt [Husserl, Hua X, Beilage VI, S. 114]. Die Festlegung der Ordnung der Sukzession im Prozess der retentionalen Habitualisierung (»Der Ton und jeder Zeitpunkt in der Einheit des dauernden Tones hat ja seine absolut feste Stelle in der ›objektiven‹ (sei es auch die immanente) Zeit« [ebd., § 31, S. 64]) führt so zu der paradoxen Formulierung: »Die Zeit ist starr, und doch fließt die Zeit.« [Ebd.]

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6) Exkurs I. Husserl und die Herbartschule

aktives (Weckungs-)Bewusstsein, kann die Verwandlung des bewuss­ ten Habitus in eine Form des Unbewussten, die zugleich als Disposition für die reproduktive Erneuerung eines Bewusstseins fungiert, nur privativ als Verlust von Bewusstsein beschrieben werden. Der Phänomenologie droht so einmal ein Verstoß gegen ihr cartesianisches Prinzip der »phänomenologischen Reduktion«, der Ausschaltung aller transzendenten Setzungen, die über die Konstitution eines im strengen Sinne immanenten Bewusstseinsphänomens hinausgehen. Die zum erheblichen Teil unbewusste retentionale Habitualisierung kann phänomenologisch demnach nicht mehr wie bei Herbart als anonyme Vorstellungsmechanik verstanden werden, die mit oder ohne Beteiligung des Bewusstseins abläuft: Das sogenannte Unbewusste muss letztlich als Schwellenphänomen des Bewusstseins ausgewiesen werden. Zum anderen enthält die rein mechanistische Erklärung der Habitualisierung bereits das immanente Problem, dass das Unbewusste im Zusammenhang der assoziativen Weckung einer Reproduktion nicht wirklich habituell verfügbar ist, insofern es in der Mechanik der Hebung und Senkung der Vorstellung lediglich die Rolle einer passi­ ven und nicht aktiven Disposition für das Erwachen des Bewusstseins spielen kann. Diese für Husserls genetische Phänomenologie grundlegende Unterscheidung des Habituellen vom Unbewussten ist freilich keine originär phänomenologische Erfindung, sondern gehört zu den zweifellos theoretisch bedeutendsten und rezeptionsgeschichtlich wirksamsten Errungenschaften der Herbartschule. Überaus erhellend ist in diesem Kontext die exemplarische Kritik, die Moritz Lazarus an Herbarts Deutung der habituellen Verfügung als Form der nicht bewussten, sondern unbewussten Reproduktion einer Vorstellung geübt hat. Lazarus’ Beispiel des Mathematikers, der seine Wissenschaft nicht aktiv ausübt, weil er gerade im Theater sitzt und von dem dort aufgeführten Schauspiel ganz eingenommen ist [vgl. Lazarus 1878, S. 222 f], führt zunächst zur methodischen Bestimmung des Habituellen durch die alternative Unterscheidung von (Bewusstseins-)Aktivität und Passivität, Bewegung und Ruhe. Das Habituelle ist das, womit das Bewusstsein gerade nicht aktuell beschäftigt ist, ein Wissen im Status der bloßen Disposition, von dem wir im Moment keinen aktiven Gebrauch machen, über das wir aber trotzdem weiterhin verfügen, als sich passives, dispositionelles Wissen grundsätzlich bewusstseinsmäßig aktualisiert und auf diese Weise immer wieder aktiviert werden kann. Demnach gilt: Ist eine Vorstellung habituell, dann findet sie sich 299 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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als ein dispositionelles Bewusstsein nicht mehr wirklich im Bewusstsein und auch umgekehrt: »Immerhin bleibt das früher erworbene Wissen von dem gegenwärtigen Denkact, der ausgebildete Charakter von der momentanen Handlung verschieden. Diese Verschiedenheit nun kann man so bezeichnen, daß man sagt: das Frühere ist außerhalb, das gegenwärtige aber ist innerhalb des Bewußtseins.« [Ebd., S. 223] Diese schlichte Gleichsetzung des Habituellen mit dem Unbewussten greift jedoch zu kurz, weil das habituelle Wissen nicht nur passiv und untätig bleibt, indem es an der Bewusstseinstätigkeit einfach nicht teilnimmt. Lazarus demonstriert das am Beispiel einer ästhetischen Erfahrung, der Lektüre eines Gedichtes. Die Reproduktionsfähigkeit des Bewusstseins ist prinzipiell begrenzt. Lazarus bezeichnet diesen Sachverhalt als die »Enge des Bewußtseins«, welche dazu führt, dass sich immer nur »eine geringe Anzahl von Vorstellungen gleichzeitig in demselben [Bewusstsein]« [ebd., S. 236] befinden kann.120 Die Enge des Bewusstseins führt dazu, dass ein Großteil der Vorstellungen nicht aktuell im Bewusstsein verbleibt, sondern lediglich habituell und unbewusst verfügbar ist. Bei der Lektüre des Gedichts ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, dass das ästhetische Bewusstsein verlangt, das ganze Gedicht im Bewusstsein zu behalten (wir beurteilen das Gedicht in seiner Gesamtheit als »schön«, und nicht nur Teile von ihm wie einzelne Worte oder Verse), wo doch in der Sukzession der Vorstellung immer nur einige Vorstellungen im aktuellen Bewusstsein enthalten sind. »Wir lesen ein Gedicht. Der Inhalt desselben, die Reihe der Worte, also Vorstellungen, aus denen es besteht, bilden ein Ganzes; die Bewegung des Gemüths, die ästhetische Befriedigung, sie beruhen auf allen ein­ zelnen Theilen und den bestimmten Beziehungen derselben, auf ihrer Verbindung zur Einheit des Ganzen.« [Ebd., S. 225] Doch sind wir »weit davon entfernt, dass nun auch wirklich das Ganze mit allen seinen 120 Lazarus grenzt sich mit dieser Annahme, dass durchaus eine Mehrheit von Vorstellungen gleichzeitig im Bewusstsein gegeben sein, von der Auffassung von Waitz und Steinthal ab, denen zufolge die »Enge des Bewußtseins« bedeutet, dass »bloß Eine Vorstellung gleichzeitig im Bewußtsein sich befinden könne« [Lazarus 1878, S. 236, Anmerkung]. Hintergrund dieser Diskussion ist die Prämisse der mechanistischen Psychologie Herbarts, wonach die Vor­ stellungen ausschließlich nach dem Prinzip der Kausalität und Sukzession geordnet werden. Demnach ist eine Simultanerfassung in der Sukzession streng genommen nicht denkbar. Steinthals rigoristische Auffassung erscheint von daher methodisch nur konsequent, während Lazarus’ Aufweichung dieses starren Prinzips zweifellos phänomenologisch – aber eben nicht auch theore­ tisch – »richtiger« ist.

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Theilen gleichzeitig und gegenwärtig im Bewußtsein wäre, […] kaum eine ganze Zeile können wir als gleichzeitig in deutlichem Bewußtsein gegenwärtig antreffen. Von dem gesammten Inhalte unseres geistigen Lebens, von Allem, was jemals unsere Seele erfüllt und beschäftigt; ist in jedem einzelnen Moment immer nur eine ganz kurze Reihe von psychischen Momenten gegenwärtig in unserem Bewußtsein, d. h. in jenem eigenthümlichen schwer definierbaren, aber für unsere unmittelbare Erfahrung deutlich bestimmten Zustande der Helligkeit und der Energie des Denkens, den wir Bewußtsein nennen« [ebd.]. Wie ist dieses Dilemma also zu lösen? Die Auf‌lösung geht in die Richtung zu zeigen, wie das Habituelle als das Unbewusste zugleich an der Organisation des Bewusstseins aktiv mitwirkt. »Der gegenwärtige Act also wird vollzogen, indem die Elemente der früheren Acte mehr oder weniger mitwirken, oder die gegenwärtigen auf frühere sich beziehen.« [Lazarus 1878, S. 223] Der Habitus verkörpert demnach keine bloß passive, sondern eine aktive Disposition, die eine Organisationsfunktion gerade auch für das Bewusstsein erfüllt: das habituell Unbewusste konstituiert mit das Bewusstsein. Genau das aber ist streng genommen auf der Grundlage von Herbarts Vorstellungsmechanik nicht denkbar. Die einfache Gleichsetzung des Habituellen mit dem Unbewussten führt vielmehr dazu, dass eine solche aktive Mitwirkung des Unbewussten an der bewussten Vorstellungstätigkeit im Prinzip ausgeschlossen ist. Genau auf diesen entscheidenden Schwachpunkt der mechanistischen Psychologie verweist die Kritik, die Lazarus an Herbarts Modell der Hebung und Senkung der Vorstellung geübt hat. Es enthält den Versuch einer genetischen Erklärung der habituellen Vorstellung durch den Nachweis ihrer Entstehung und Erhaltung in der Umwandlung des Bewussten in das Unbewusste, der aktuellen und aktiven Vorstellungstätigkeit in die Passivität einer unbewussten, nur noch dispositionell verfügbaren Bewusstseinsaktivität. Lazarus hält Herbart nun vor, »Wesen und Werth des psychischen Prozesses auf die Vorstellungen innerhalb des Bewußtseins und auf ihre Bewegungen aus demselben und in dasselbe beschränkt« zu haben [ebd., S. 228, S. 2., Anmerkung]. Diese Beschränkung führt letztlich zu einer von Grund auf verfehlten Konstitutionsbestimmung der habituellen Vorstellung. Lazarus macht das klar mit Blick auf ein Zitat aus dem Lehrbuch der Psychologie als Naturwis­ senschaft von Theodor Waitz: »Denn alle die Vorstellungen, welche, wie wir zu sagen pflegen, das Gedächtnis aufbewahrt, und von denen wir wohl wissen, daß sie sich bei der leichtesten Veranlassung repro301 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

duzieren lassen, – sind im unaufhörlichem Aufstreben begriffen, jedoch leidet der Zustand des Bewußtseins von ihnen gar nichts.« (Ebd., S. 228 f] Waitz versucht die aktive Leistung der habituell-unbewussten Vorstellung, als Grundlage für die Reproduktion einer bewussten Vorstellung zu wirken, aus der Vorstellungsdynamik der Hebung und Senkung abzuleiten. Doch scheitert dieser Versuch einer Erklärung der Mitwirkung des Unbewussten an der Konstitution des Bewusstseins letztlich daran, dass der Zustand des Bewusstseins vom Unbewussten unmöglich etwas erleiden kann. Die Vorstellungsmechanik wird nach Herbart durch die Gesetze der Verschmelzung und Hemmung bestimmt. Vorstellungen können entweder miteinander zu einer Einheit verschmelzen oder aber sich wechselseitig hemmen, wodurch eine verschmelzende Synthesis verhindert wird. Dafür, dass Vorstellungen unter die Bewusstseinsschwelle gedrückt werden, ist letztlich eine dynamische Hemmung verantwortlich. Weil das Unbewusste und Bewusste stets durch Hemmungen auseinandergehalten wird, kann das Bewusstsein von den sie umgebenden unbewussten Vorstellungen auch nichts erleiden – was nun nichts anderes bedeutet, als dass habituell Unbewusstes an der Konstitution des aktuell Bewussten niemals aktiv mitwirken kann. Das Unbewusste bleibt in dieser Vorstellungsmechanik notwendig eine bloß passive Disposition für entstehendes Bewusstsein. Die theoretisch gegenteilige Annahme würde nämlich auf den Widersinn hinauslaufen, dass über die Hemmung hinaus auch eine Verschmelzung der bewussten mit der unbewussten Vorstellung zu denken wäre, was in letzter Konsequenz die psychologische Annahme einer Bewusstseinsschwelle überhaupt und mit ihr schließlich jede mögliche Unterscheidung des Bewussten vom Unbewussten schlechterdings aufheben würde. Die Lösung von Lazarus ist seine Hypothese, dass habituelle Vorstellungen als solche nicht bloß unbewusst bleiben, sondern zugleich als wirkende, aktive Dispositionen in Form von schwingenden Vorstellungen an der Schwelle vom Unbewussten zum Bewussten auftauchen. »Wir haben […] angedeutet, daß auch die außerhalb des Bewußtseins befindlichen Elemente in denjenigen Processen mitwirken, welche innerhalb des Bewußtseins sich vollziehen; auch die unbewußten Vorstellungen also befinden sich in einem Zustande, welchen wir als den der Mitschwingung bezeichnen können. Nicht gegenwärtig im Bewußtsein, aber in mitschwingender Thätigkeit befindet sich die ganze Vorstellungsreihe des Gedichtes, wenn wir ein ästhetisches Ur­ theil über dasselbe fällen, wenn unser Gemüth von dem innerlich zu302 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Exkurs I. Husserl und die Herbartschule

sammenhängenden Ganzen auf bestimmte Weise erregt wird.« [Vgl. Lazarus 1878, S. 227] Im Rahmen der mechanistischen Psychologie ist damit eine erste Unterscheidung des Habituellen und Unbewussten vollzogen. Das Habituelle ist mit dem Unbewussten nicht einfach gleichzusetzen, sondern ein Schwellenphänomen des Bewusstseins. Die Schwingung ist eine Art Hin- und Herpendeln der Vorstellung, die mal bewusst, mal unbewusst durch ihre Fluktuation auf der Bewusstseinsschwelle gleichsam verharrt und damit die passive in eine aktive Disposition, das Unbewusste in werdendes Bewusstsein immer wieder umwandelt. Die habituelle Vorstellung konstituiert sich damit in einer Art Schwebezustand zwischen Bewusstsein und Bewusst­ losigkeit und kann deshalb weder mit einem Zustand der Hebung der Vorstellung ins Bewusstsein, noch ihrer bloßen Senkung unter die Bewusstseinsschelle gleichgesetzt werden. Husserls genetische Phänomenologie hat diese Theorie der schwingenden Vorstellung einerseits übernommen zur Charakterisierung der Fernerinnerung als Schwellenphänomen einer in die »Null«-Sphäre des affektiven Bewusstseins – dem ganz und gar Unbewussten – abgeglittenen retentionalen Habitualisierung, die aber an der Grenze des Bewusstseins in diesem noch präsent ist.121 Die unbewusste Habitualisierung als Schwellenphänomen des Bewusstseins ist für Husserl aber nur noch der äußerste Grenzfall und nicht etwa der Normalfall der Konstitution des Habituellen. Die habituelle Verfügung über eine Vorstellung wird im Rahmen der Phänomenologie der Assoziation grundsätzlich nicht mehr als Form des Unbewussten oder Zwischenraum des Bewussten und Unbewussten, sondern als reines Bewusstseinsphänomen gedacht. Möglich wird das durch Husserls cartesianisch-antinaturalistische Auffassung der kausalgenetischen Reproduktion. Im Rahmen einer streng mechanistischen Psychologie kann das Habituelle nur als Form des Unbewussten (Herbart) oder der Vermittlung des Bewussten mit dem Unbewussten (Lazarus und Steinthal) gedacht werden, insofern seine Genesis durch Gesetze der Verschmelzung und Hemmung geschieht, die als reine Naturgesetze ihre Wirkung in einer Vorstellungsmechanik ohne Beteiligung des Bewusstseins entfalten. Husserl dagegen interpretiert die kausalgenetisch wirksame assoziative Weckung als immanentes Bewusstseins­ phänomen, sodass schließlich nicht nur die aktuell wahrgenommene,

121 Vgl. dazu Teil B, Kap. III,5.

303 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

sondern auch die habituelle Vorstellung als Form von Bewusstsein, von »Gedächtnis«, interpretierbar wird.

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Verdichtung und Verbildlichung. Die Konstitutionsprobleme der sekundären Habitualisierung

Seine Unterscheidung einer ausschließlich reproduktiven Nah- von der nur noch eingeschränkt reproduktiven Fernerinnerung erläutert Husserl am Beispiel der Habitualisierung einer einzelnen Melodie und eines ganzen Musikstücks [Husserl, Hua XI, § 25, S. 112]. In einer Nah­erinnerung, wie sie für Husserl exemplarisch die Wiederholung einer Melodie in der Erinnerung verkörpert, ist die retentional habitualisierte ursprüngliche Konstitution eine »noch urlebendige« [ebd.] – d. h. die Weckungskraft reicht hier noch aus, um den Konstitutionszusammenhang in seiner ganzen systematischen Komplexität ohne jeden Verlust an Anschaulichkeit und Differenzierung der Objektbeziehung vollständig im Bewusstsein zu halten und damit effektiv »wieder« zu konstituieren. Anders sieht es jedoch bei der Fernerinnerung aus. Wir können unmöglich die konkrete Fülle an thematischen Entwicklungen einer ganzen Symphonie oder alle musikalischen Ereignisse eines Wagnerschen Musikdramas, das sich über mehrere Stunden erstreckt, im wachen Bewusstsein behalten. Bei »Wiedererinnerungen, die wie bei solchen von einem ganzen Musikstück, in den retentionalen Fernhorizont hineingreifen« [ebd.], kommt es notwendig zu Ausfallerscheinungen des Bewusstseins: Der retentional habitualisierte Zusammenhang ist nicht mehr »urlebendig« in der assoziativen Weckung, er wird damit nur noch lückenhaft und unvollständig als wirkliches Bewusstseinsphänomen konstituiert und in der Erinnerung reproduziert, was bedeutet, dass ganze Zusammenhänge der ursprünglichen Konstitution mitsamt der ihr zugehörigen Form der retentionalen Habitualisierung ins Unbewusste abgeglitten sind. Die Reproduktion als Phänomen der Konstitution ist eine Reproduktion von intentionalen Vorstellungen und damit von Erkenntnissen, die nach Husserl ihre Identität auch im System der Wiedererinnerung in seiner umfassendsten Ausdehnung letztlich nicht verlieren können. Weil allerdings die Möglichkeit einer streng identischen Reproduktion, eines »Ansich« der Wiedererinnerung in der »Wiederkonstitution«, streng genommen nur in der Naherinnerung besteht, setzt der Übergang von der Nah- in die Fernerinnerung nicht weni304 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Verdichtung und Verbildlichung

ger als die transzendentale Erkenntnisbegründung selbst aufs Spiel, den Nachweis, dass überhaupt und in welcher Form sich das Erkenntnisphänomen in seiner systematischen Vollständigkeit als ein habituell verfügbares Bewusstseinsphänomen konstituieren und ausweisen kann. Dass die Konstitution der Erinnerung kein bloßes Spiegelbild der Konstitution einer Wahrnehmung ist, mithin die Konstitution des Bewusstseinsphänomens methodisch wirklich mehr als nur eine Wiederholung der Konstitutionsprobleme des Erkenntnisphänomens zu Tage fördert – dafür steht letztlich das Problem einer gesonderten Rechtfertigung der Erkenntnis auch für die Fernerinnerung. Die »Rechtfertigung der Naherinnerung« durch den Zusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution, in der die Konstitution des Bewusstseinsphänomens diejenige des Erkenntnisphänomens noch voll und ganz zu spiegeln scheint, ergibt nach Husserls Einsicht »noch keine Aufklärung der Möglichkeit der Erkenntnis eines immanenten Gegenstandes als an sich seiend. […] Erst wenn wir die Fernerinnerung gerechtfertigt haben, haben wir die Möglichkeit, einen immanenten Zeitgegenstand jederzeit wiederzuerkennen als seiend« [Husserl, Hua XI, § 25, S. 113, Fußnote 1]. In der Fernerinnerung scheint es ohne Weiteres nicht mehr möglich zu sein, dass sich das Erkenntnisphänomen als ein Bewusstseinsphänomen konstituiert oder andersherum betrachtet die Erinnerung als Form von Bewusstsein die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt garantieren kann. Husserl führt den Verlust an Erkenntnis in der Fernerinnerung auf einen Bruch der Erinnerungskonti­nuität zurück. Die Naherinnerung behält ihre Evidenz und Möglichkeit der identifizierenden Erkenntnis, insofern der Zusammenhang mit der Konstitution der Wahrnehmung und damit die mögliche und wirkliche Erneuerung der Konstitution in einer Wiederkonstitution durch das Weckungskontinuum gewahrt ist. Naherinnerungen bleiben »noch gebunden an die Kette der Wiedererinnerungen, die an einer lebendigen Retention hängen, von ihr einen Ausgang hatten und von ihrer selbstgebenden Evidenz getragen waren« [ebd.] – und genau dieses lebendige Band löst sich in der Fernerinnerung auf. Die Fernerinnerung stützt sich nicht mehr auf einen habitualisierten Konstitutionszusammenhang, den die assoziative Weckung für die Reproduktion dem Bewusstsein bereithält, und öffnet deshalb der Modalisierung der Erinnerung Tür und Tor. Fernerinnerungen verlieren mit dem Sinn der identifizierenden Reproduktion modale Unzweifelhaftigkeit und Undurchstreichbarkeit, büßen dabei aber nicht nur ihre Klarheit und Deutlichkeit der Evidenz ein, sondern spalten 305 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

den einheitlichen Zusammenhang der Erinnerung in lauter Bruchstücke auf, die wiederum zu neuen – rein fiktionalen – Synthesen der Erinnerung verbunden werden, was zu einem Prozess der heillosen Vermengung und Vermischung der Vorstellungen führt – dem von Husserl so genannten »Durcheinanderwerden von Diskretionen« [vgl. Husserl, Hua XI, § 25, S. 115]. Das Gespenst der Zweifelhaftigkeit122, in der Naherinnerung ausgetrieben, richtet es sich in der Fernerinnerung also schließlich häuslich ein? Während die Naherinnerung durch ihre Aktualisierung der habitualisierten retentionalen Ordnung den Sinn der Reproduktion einer ursprünglich erworbenen Erkenntnis und damit ihre Organisationsfunktion behält, drohen sich Ordnung und Organisation in der Fernerinnerung in einem Chaos der Fiktionalisierung aufzulösen: Die Auslösungsdynamik der reproduktiven assoziativen Weckung wandelt sich mit dem Verlust der Reproduktionsfähigkeit in bewegungsdynamische Prozesse um, welche durch Verdichtung und Auf‌lösung assoziative Synthesen der Erinnerung produktiv generieren. Die methodisch geforderte Sicherung der Möglichkeit von Erkenntnis nicht durch eine von den Bewusstseinsvollzügen unabhängige Geltung, sondern in und aus der Organisation des Bewusstseins, gelingt aber nur dann, wenn die Reproduktionsfähigkeit von Erkenntnissen in der Erinnerung wirklich uneingeschränkt ist und sich damit auch auf solche ungeordneten Synthesen der Fern­ erinnerung erstreckt. Das »Geltenlassen der Vergegenwärtigungen« muss wirklich das ganze Bewusstseinsleben in seiner Endlosigkeit erfassen, es darf nicht nur auf den engen Bereich der geordneten Nah­ erinnerung beschränkt bleiben. Husserls Lösung ist eine Erweiterung des Sinnes von Habitualisierung. Der Naherinnerung entspricht eine Form der Habitualisierung, welche die Wiederkonstitution und damit die Reproduktion der ursprünglich konstituierten Erkenntnis möglich macht. Die Erinnerung gewährleistet hier die Erkenntnis durch die identifizierende Deckung der Reproduktion mit der habitualisierten Retention. Solange allerdings die Evidenz und damit Erkenntnisfunk122 Reproduktionen sind keine ursprünglichen Anschauungen, sondern nur Ver­­ gegen­wärtigungen von Anschauungen. Als solche nicht originären Gegeben­ heits­ weisen unterliegen sie deshalb auch der Möglichkeit der subjektiven Täuschung. Wiedererinnerungen können täuschen, und das »gilt auch für die transzendentale Wiedererinnerung, diejenige in der transzendental reduzierten Sphäre« [Husserl, Hua XI, Beilage VIII, S. 371]. So aber taucht »ein skeptisches Gespenst […] auf und wächst immer bedrohender, das der Zweifelhaftigkeit der Erinnerung« [ebd., 365].

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7) Verdichtung und Verbildlichung

tion der Wiedererinnerung durch eine solche unmittelbare, spiegelnde Übereinstimmung der primären Erinnerung (der retentionalen Habi­ tualisierung) mit der sekundären Erinnerung (der aktualisierenden Reproduktion) begründet wird, gibt es keinen Anhaltspunkt für das, was Husserl als die zu leistende konstitutionstheoretische Rechtfertigung der Fernerinnerung einfordert, denn in der Ferne der Erinnerung verliert sich schlechterdings die Möglichkeit der reproduzierenden Wiederkonstitution: »Der konstituierte Gegenstand, das Identische ist nicht mehr konstitutiv lebendig.« [Ebd., § 37, S. 177] Versteht man diese Auskunft wörtlich als ein nur negatives Urteil, dann heißt das: In der Fernerinnerung löst sich der Konstitutionszusammenhang überhaupt auf, indem die Erinnerung den Sinn der reproduktiven Identifizierung und damit Erkenntnis einbüßt, wenn die der Reproduktion zugrunde liegende assoziative Weckung die Kraft verliert, den geordneten Konstitutionszusammenhang in Gestalt der Retention im Bewusstsein zu habitualisieren. Husserl versteht die Auf‌lösung des Konstitutionszusammenhangs der Erkenntnis in der Fernerinnerung jedoch nicht bloß privativ, sondern als Hinweis darauf, dass die primäre Habitualisierung der Naherinnerung, welche unmittelbar eine Wiederkonstitution ermöglicht, durch eine Form der sekundären Habitualisierung, eine substituierende Verdichtung, ergänzt wird.123 Verdichtungen werden konstitutionstheoretisch nicht nur als bewegungsdynamische Prozesse verstanden, die neue assoziative Synthesen schaffen und damit die reproduktive Erinnerung produktiv verändern und damit fiktionalisieren. Die assoziative Verdichtung ist stets verbunden mit einem Wandel des Konstitutionsverhältnisses: Es ändert sich der Modus der Vorstellung, indem die ursprünglich geordnete Anschauung durch ein ungeordnetes Bild ersetzt wird. Insofern die bewegungsdynamischen Prozesse der assoziativen Verdichtung mit einer solchen Substituierung einhergehen, bedeutet die Entstehung eines Fiktums nicht einfach die Auf‌lösung des Zusammenhangs der Konstitution und Wiederkonstitution, sondern lediglich, dass sich dieser vermittels eines Restitutionszusammenhangs herstellt. Bildliche Verdichtungen gehen in den Konstitutionszusammenhang ein als Formen der sekundären Habitualisierung, die anders als die primäre Habitualisierung keine Erkenntnisse unmittelbar konstituieren durch 123 Primäre und sekundäre Habitualisierung – die Terminologie stammt nicht von Husserl selbst. Sie wird vom Verfasser eingeführt aufgrund der systematischen Rekonstruktion einer Theorie der Verbildlichung durch Verdichtung in den Analysen zur passiven Synthesis.

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ihre Form der geordneten, identischen Reproduktion, wohl aber mit­ telbar eine Erkenntnisfunktion behalten durch die in der Substitution angelegte Möglichkeit der Restitution, einer Wiederherstellung derjenigen Konstitutionsverhältnisse, wie sie in der Naherinnerung und der ihr zugrunde liegenden primären Habitualisierung ursprünglich bestanden haben. Der Übergang von der reinen Reproduktionstheorie der Erinnerung zur Theorie der Verbildlichung und Verdichtung manifestiert sich bei Husserl in einer Selbstkorrektur, welche seine Auffassung der retentionalen Habitualisierung betrifft: »Früher meinte ich, daß dieses retentionale Strömen und Vergangensein-Konstituieren auch im vollen Dunkel unaufhörlich fortgehe. Es will mir aber scheinen, daß man diese Hypothese entbehren kann. Der Prozeß hört auf.«124 [Husserl, Hua XI, § 37, S. 177] Die Unaufhörlichkeit der retentionalen Habitualisierung anzunehmen ist so lange konstitutionstheoretisch unverzichtbar, als die Wiedererinnerung ausschließlich als eine Form der reproduktiven Wiederkonstitution und damit Vergegenwärtigung einer Erkenntnis angesehen wird. Denn ohne Fundament in der primären Erinnerung, der Retention, verliert die sekundäre Erinnerung, die Reproduktion, ihre Funktion der identifizierenden Erkenntnis. Diese Annahme eines unauf‌löslichen Zusammenhangs von Retention und Reproduktion wird nun zur entbehrlichen Hypothese angesichts einer möglichen sekundären Habitualisierung in Form der Verdichtung. Genetisch resultiert die bildliche Verdichtung aus dem dynamischen Wirkungszusammenhang der assoziativen Weckung. Die Weckung verdankt ihre Auslösungsdynamik der Affektion, die ursprünglich von einer Wahrnehmung und Empfindung herstammt und auf die Erinnerung assoziativ übertragen wird. Durch diese »Fortpflanzung« der Affektion [Husserl, Hua XI, § 33, S. 151], die in einer Weitergabe von Weckungsenergie von einer Vorstellung auf die andere besteht, konstituiert sich schließlich ein ganzes Weckungskontinuum. Husserl verdeutlicht die Wirkungsweise dieses Kontinuums der Weckung durch die Metaphern der Kommunikation und Resonanz: »Die affektive Kommunikation sagte: Jeder Zuschuß affektiver Kraft irgendeines 124 »Es kann auch sein, daß momentan eine Wiedererinnerung als Anschauung aufblitzt, daß aber alsbald, also nach einer minimalen Strecke anschaulicher Konstitution wieder abbricht, indem sie eben blitzartig im Dunkel verschwindet. In diesem Dunkel aber spinnt sie sich nicht etwa weiter fort, als ob der konstitutive Prozeß unmerklich fortfiele. Dergleichen anzunehmen, wäre eine völlig leere Hypothese.« [Husserl, Hua XI, Beilage X, S. 385]

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7) Verdichtung und Verbildlichung

Gliedes der in Distanz durch Homogenität und Abhebung Verbundenen erhöht die Kraft aller Genossen.« [Ebd., § 36, 175] Die Übertragung von Weckungsenergie überbrückt Distanzen und stellt auf diese Weise Kontinuität der Erinnerung auch von solchen weiter auseinanderliegenden Vergangenheiten her. Wie eine kräftige Resonanz über die ursprünglich punktuelle Erregung hinaus immer größere Kreise von Gegenständen in Erregung versetzt, so führt die Weckung einer einzelnen Wahrnehmung oder analog die einer besonderen Erinnerung schließlich dazu, dass mit ihr ein ganzer Zusammenhang von – gegenwärtigen oder vergangenen – Bewusstseinserlebnissen geweckt wird: Die einzelnen Vorstellungen in einer Gruppe »stehen im Verhältnis der ›Resonanz‹, eine hebt das andere, d. h. der affektive Reiz des einen auf das Ich hebt den affektiven Reiz des anderen und umgekehrt, aber so, dass diese affektiven Reize nicht gesondert bleiben, vielmehr zur Einheit eines mehrstrahligen affektiven Reizes zusammengehen, in dem die erhöhten affektiven Reize vereinigt sind und in dieser Vereinigung jeder den Charakter wechselseitig sich fördernder und miteinander resonierender (aneinander ›erinnernder‹) tragen.« [Ebd., Beilage XXI, S. 421] Die assoziative Resonanz führt also dazu, dass einzelne Empfindungen und Vorstellungen zu einer Gruppe verschmolzen und so in ihrer Gesamtheit aufmerksam erfasst werden können – aber so, dass sie in ihrer Sonderheit dabei bewusst bleiben, insoweit sie miteinander »kommunizieren«, durch die Übertragung von Weckungsenergie ihre Abgehobenheit in der Synthesis wechselseitig garantieren. Die Verschmelzung durch eine solche affektive Resonanz in der Erinnerung unterscheidet sich von derjenigen einer unmittelbaren Wahrnehmung und Empfindung aber dadurch, dass der Verschmelzungsgrad von der Zeitdistanz abhängig ist. Die Resonanzfähigkeit nimmt mit dem Übergang von der Nah- in die Fernerinnerung kontinuierlich ab. So kommt es zu einem Verdichtungseffekt, der bewirkt, dass nur noch ein Teil der Erinnerungen zu einem gegliederten Ganzen verschmolzen wird und sich dadurch im Bewusstsein als ein gegenständlich Gegebenes abhebt, während andere Erinnerungen von dieser affektiven Kommunikation nun überhaupt nicht mehr erfasst werden. Elemente der Erinnerung, in denen andere nicht mehr resonieren, verlieren in der Verschmelzung ihre Sonderung. Alle »Sonderaffektionen« sind hier – wie Husserl sagt – »in eine ungeschiedene Gesamtaffektion übergegangen« in ein »Nullstadium« der Weckung, wo schließlich »alles in eins zusammen« fließt [Husserl, Hua XI, § 35, S. 171]. Dieser Sonderungs- und 309 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

Dif­ferenzierungsverlust schreitet mit zunehmender Ferne der Erinnerung kontinuierlich fort, sodass sich mit Blick auf die sich erhaltende Gesamtaffektion und die sich in ihr zugleich mehr und mehr verlierenden gesonderten Affektionen der Verdichtungseffekt ergibt, das von Husserl so bezeichnete perspektivische Zusammenrücken der Erscheinungen: »Damit erklärt sich das Phänomen des perspektivischen Zusammenrückens im Rückgang von der mannigfaltig gegliederten impressionalen Gegenwart in die immer weniger gegliederte, immer mehr zusammenrückende und verfließende Vergangenheit.« [Ebd., S. 171 f] Die Verdichtung bedeutet deskriptiv eine dynamische Konzentration des komplexen Anschauungsgehalts der Erinnerung durch das Schwinden von affektiver Sonderung und Differenzierung als Folge des Verlustes an übertragbarer Weckungsenergie: »Noch immer ist dem Sinn nach Selbiges bewußt, nämlich affektiv. Aber unaufhaltsam geht diese affektive Kraft zurück, unaufhaltsam verarmt der gegenständliche Sinn an inneren Unterschieden, entleert sich also in gewisser Weise. Das Ende ist eine Leervorstellung, die ihr Vorgestelltes völlig unterschiedslos vorstellt, das den ganzen Reichtum innerlich abgehobener Eigenschaften verloren hat, den die Urimpression gestiftet hatte.« [Husserl, Hua XI, § 35, S. 170] Dieser Verdichtungsprozess in der assoziativen Weckung reduziert die Komplexität, das heißt aber nicht, dass sich damit der habitualisierte gegenständliche Sinn auf‌löste. Das perspektivische Phänomen der Verdichtung ist »nicht als ein Phänomen wirklichen Verlustes an gegenständlichen Unterschieden, sondern in erster Linie affektiv« zu verstehen [ebd., S. 172]. Der Verlust nur an affektiver Sonderung deutet einmal darauf hin, dass sich lediglich die Modalität der Vorstellung ändert, die subjektive Gege­ benheitsweise des Gegenstandes, indem die vorgestellten Inhalte vom Zustand des affektiv Bewussten in den des affektionslos Unbewussten übergehen. Das Abgleiten von Inhalten der Vorstellung ins ganz und gar Unbewusste könnte aber letztlich als die Auf‌lösung des Reproduktionszusammenhangs der assoziativen Weckung überhaupt missverstanden werden, durch den sich eine anschaulich gegliederte, differenzierte Vorstellung als habituell bewusste nur konstituieren kann. Entscheidend ist deshalb, dass die Verdichtung über den Wandel des Bewussten zum Unbewussten hinaus als eine Form der sekundären Habitualisierung durch Substitution bestimmt wird. Das geschieht bei Husserl durch eine Auslegung, welche den Differenzierungsverlust in der affektiven Kommunikation mit der Ersetzung des retentionalen 310 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Verdichtung und Verbildlichung

Bewusstseins durch eine Leervorstellung verknüpft. Husserl erweitert in diesem Kontext seinen Begriff des Horizontbewusstseins, um das Unbewusste schließlich phänomenologisch als die Form eines intentio­ nalen Leerhorizonts fassen zu können. Der Horizont ist zunächst als eine intentional bestimmt ausgerichtete Leervorstellung gedacht, die mit einer Anschauung verflochten ist, etwa in Gestalt der zur aktuellen Wahrnehmung gehörenden Antizipation von solchen noch nicht wahrgenommenen Seiten des Gegenstandes. Anschauungen können sich grundsätzlich in Leervorstellungen umwandeln und umgekehrt, aber genau diese Möglichkeit scheint – wie es zunächst aussieht – in der Erinnerung gar nicht zu bestehen. Denn die Retention ist bereits eine Form der Leervorstellung, als sie den anschaulichen Inhalt einer Urimpression durch die Habitualisierung der leeren Form ersetzt, mit deren Hilfe er sich in der Erinnerung reproduzieren lässt: in einer Vergegenwärtigung der Ordnung der Sukzession. Weil die Retention jedoch zu einem Weckungskontinuum gehört, verbindet sich die Habi­ tualisierung ursprünglich mit einer Reproduktion und damit der Hebung der retentionalen Ordnung ins Bewusstsein. Diese reproduktive Vergegenwärtigung der Sukzession, die für das retentionale Horizontbewusstsein in seiner assoziativen Weckung konstitutiv ist, gibt ihm eine besondere intentionale Ausrichtung und inhaltliche Differenzierung seines gegenständlichen Sinnes, sodass der habituelle Horizont wiederum als eine Form der anschaulichen und bewussten Erinnerung begriffen werden kann, der schließlich durch einen völlig unanschaulichen, undifferenzierten und intentional-richtungslosen Leerhorizont als der intentionalen Form des Unbewussten ersetzt wird.125 »Wir pflegen gegenüberzustellen anschauliche Vorstellungen und Leervorstellungen. Zu beiden gehören Horizonte. Die Leerhorizonte entbehren eines erscheinenden Gehaltes, sie sind Potentialitäten von Erscheinungen.« [Husserl, Hua XI, Beilage V, S. 361] Ein solcher »Leerhorizont, [der] das Retentionale immerfort verschlingt, daß jedes schließlich in ihn versinkt« [ebd., Beilage XXII, S. 422], entsteht durch die dynamischen Prozesse der Verdichtung und Substitution in der assoziativen Weckung. Hier wird eine aktuelle Erscheinung, die Vergegenwärtigung der Sukzession im retentionalen Bewusstsein, in 125 Von den Leerhorizonten als Abwandlungen von Leervorstellungen unterscheidet Husserl die Leervorstellungen, die zu einer Anschauung gehören. Sie sind »bestimmt gerichtete Leervorstellungen. Sie haben ihren differenzierten, mehr oder minder reich gestalteten gegenständlichen Sinn« [Husserl, Hua XI, Beilage V, S. 361].

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

eine potenzielle Erscheinung umgewandelt – und diese Umwandlung der Anschauung in eine Leervorstellung bedingt wiederum die umgekehrte Möglichkeit der restitutiven Substitution. Diese Genese von Leervorstellungen126 in der Verdichtung impliziert, weil sie auf einer reziproken Substituierung von anschaulichen durch leere Horizonte beruht, stets die Wiederherstellung der ursprünglichen, anschaulichen Vergegenwärtigung – im Falle der Erinnerung die Restitution der retentionalen Habitualisierung als Form der primären Habitualisierung: Die »Intention gibt sich selbst als auftauchende aus dem Leerhorizont (und damit als different gewordene eines Indifferenten, und zwar eines Indifferenten, in das differente Retentionen übergegangen waren), als auftauchende aus der Nacht der Vergessenheit« [ebd., Beilage VIII, S. 377]. Leerhorizonte sind demnach nicht wirklich leer, sondern enthalten den kompletten Inhalt der Vorstellung als »analytisch explikabler Sinn« [ebd., Beilage VI, S. 362]. Durch eine den Sinngehalt restituierende Analyse kann also die substituierende Verdichtung aufgelöst werden, indem ihre verworrene Vorstellung »in die Form der analytisch explizierten Vorstellung übergeführt« wird [ebd., Beilage V, S. 362]. Das »Unbewusste« ist deshalb genetisch-phänomenologisch keine eigenständige Instanz gleichsam neben der Aktivität des Bewusstseins, sondern lediglich eine zum Leerhorizont verdichtete retentionale Habitualisierung und damit der Grenzfall einer Passivität in der Bewusstseinsaktivität. Es bezeichnet den Bewusstseinszustand einer ungesonderten Gesamterfassung des assoziativen Zusammenhangs in seiner Affektionslosigkeit und Indifferenz, welche die Verwandlung gesonderter Inhalte von vormals aktiven in passive Dispositionen voraussetzt, die als nur »potentielle« Erscheinungen nicht mehr zu dem gehören, was im Bewusstsein explizit reproduziert und damit aktiv konstituiert wird, sondern nur noch implizit in ihm stecken als eine zur aktiven Konstitution gehörende intentionale Verweisung der »Aufweckung des Horizonts«, die zur möglichen »»Wiederselbstgebung«» [ebd., Beilage XIII, S. 389] durch eine restituierende assoziative Weckung führt: »Hinsichtlich der Urgegenwart ist zu sagen, dass das ›Unbewußtsein‹ in ihr Bewsstsein ist; das unbewusste sinnliche Objekt ist mit allen anderen unbewussten sinnlichen Objekten in ei126 Das Abgleiten in die affektive Nullsphäre versteht Husserl so, dass »die Strecke der frischen Retention stetig über[geht] in eine Strecke leerer Retention. Man kann sie als die genetische Urform von Leervorstellungen bezeichnen« [Husserl, Hua XI, § 35, S. 169 f].

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7) Verdichtung und Verbildlichung

nem Nullbewusstsein ununterschieden ›bewusst‹. Die sämtlichen Retentionen, die vorher in der Urgegenwart noch unterschieden waren, fließen zusammen, und so, dass die Identitätslinien sich nicht mehr unterscheiden, geschweige denn einen innerlich unterschiedenen Gegenstandssinn noch bieten. Das einzige, was nun übrig ist, ist ein Horizontbewusstsein, Bewusstsein von einer unbestimmten, unterschiedslosen und völlig dunklen Gesamtvergangenheit. Es ist also immer noch Bewusstsein, Leerbewusstsein, dessen Gegenständliches affektionslos, ununterschieden alles und jedes umfaßt, was da war, in der ebenfalls ununterschiedenen Form der einen, endlosen Vergangenheit.« [Ebd., Beilage XIII, S. 388] Verdichtungsprozesse als Formen der »passiven Synthesis« spielen sich ursprünglich im retentionalen Bewusstsein ab und gehören deshalb zur assoziativen Habitualisierung, die der apperzeptiven, aktualisierenden Reproduktion durch Bewusstseinsakte der ausdrücklichen Wiedererinnerung mit ihrer aktiven Verdichtungsleistung der substituierenden Verbildlichung ermöglichend vorausgehen. Ein solcher Fundierungszusammenhang der Verdichtung ist denkbar, weil nicht erst die verbildlichende Apperzeption, sondern bereits die assoziative Weckung eine Form von reproduktiver Bewusstseinsaktivität verkörpert, welche Substituierungen von Anschauungen durch Leervorstellungen möglich macht. Die erste Substituierung in der assoziativen Habitualisierung, eine rein reproduktive Verdichtung, bildet demnach die Grundlage für solche auf sie aufbauende zugleich produktive und reproduktive apperzeptive Verdichtungen, deren synthetisierende Leistung zur Ersetzung der anschaulichen Wiedererinnerung durch ein Scheinbild führt. Die aktualisierende »Wieder«-Erinnerung greift auf den Habitus retentionalen Bewusstseins notwendig zurück, deren Ordnung der Sukzession sie apperzeptiv reproduziert und auf diese Weise »wieder«-veranschaulicht. Was der Vergegenwärtigung durch die aktuelle Erinnerung aber überhaupt zugänglich ist, darüber entscheidet die Auslösungsdynamik der assoziativen Weckung. Ist im Falle der Fernerinnerung und ihrer Form der sekundären Habitualisierung die Retention zu einem Leerhorizont verdichtet, dann kann die aktualisierende Reproduktion auf keine sukzessive Ordnung mehr zurückgreifen. Die apperzeptive Erinnerung wird in ihrer Leistung der Veranschaulichung damit diskontinuierlich und sprunghaft, vergegenwärtigt Einzelnes ohne Zusammenhang und muss daher die fehlende Möglichkeit der reproduktiven Veranschaulichung einer gegebenen Synthesis durch eine produktive Aktivität kompensieren, welche die 313 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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vereinzelten, aus verschiedenen Quellen herstammenden Erinnerungen zu einem einzigen, heterogenen Erinnerungsbild synthetisiert.127 Das Fiktionalisierungsgeschehen der Fernerinnerung beruht auf der Substitution der ursprünglich anschaulichen Erinnerung durch ein Bild: Fiktionalisierung bedeutet, dass sich Wiedererinnerungen »zu einer kombinierten Wiedererinnerung verbinden, die in anschaulich einstimmigem Bild die Stücke verschiedener Erinnerungen verbunden hat«, wodurch ein solches Geschehen schließlich »die Verschmelzung zu einem Scheinbild erwirkt« [Husserl, Hua XI, § 43, S. 199]. Die destruktive Seite der Fiktionalisierung, das habitualisierte System der Retention durch ihre produktive Aktivität aufzulösen, wird erkenntnistheoretisch letztlich entschärft durch den Nachweis, dass ihr ein Verdichtungsprozess zugrunde liegt, welcher nicht zur Vernichtung, sondern eben nur zur Verdichtung und Substituierung der in der Anschauung ursprünglich gegebenen unauf‌ löslichen Ordnung der Retention führt als »einem starren System, das immer fertig da ist« [ebd., Beilage XIII, S. 388]. Mit der genetisch-phänomenologischen Rekonstruktion einer doppelten Substitution in der Erinnerung – in der Habitualisierung durch die assoziative Verdichtung und in ihrer Ak­ tualisierung durch eine produktive, apperzeptive Verbildlichung – ist es letztlich möglich, die Fiktionalisierung als Produktion von Schein und die Restitution als Wiederherstellung des Seins des ursprünglichen Zusammenhangs der Konstitution und Wiederkonstitution zu interpretieren. Husserl ist diese theoretisch offenkundig nicht mehr zu umgehende Annahme von Substituierungen an der Quelle der Konstitution, dem transzendentalen Ursprung des Bewusstseins und der Subjektivität, alles andere als leicht gefallen. Sie ist ein gegen die Grundhaltung des Phänomenologen, stets auf die »originär gebende Anschauung« als Rechtsquelle der Erkenntnis zurückzugehen, wie es etwa die Ideen I als »Prinzip aller Prinzipien« der phänomenologischen Forschung verbindlich formuliert haben [vgl. Husserl, Hua III, 1, § 24, S. 51], schwer erkämpftes Zugeständnis. Husserls Einsicht, dass sich die Substituie-

127 »Ja, es kann sich herausstellen, daß in der Einheit eines Wiedererinnerungsbildes zur Verschmelzung gekommen ist, was aus verschiedenen Vergangenheiten herstammt und was als solches zunächst nicht merklich geworden ist, weil die leere Retention sehr indifferent ist und die voreilende Veranschaulichung durch ›Assoziation‹ in eine andere Vergangenheitssphäre hineingeraten war.« [Husserl, Hua XI, Beilage VIII, S. 373]

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7) Verdichtung und Verbildlichung

rung der Anschauung durch ein bloßes Bild und mit ihr Schein und Modalisierung in die ursprüngliche Konstitution der »bewußtwerdenden Objektivität« nunmehr eingeschlichen haben, steht die Entrüstung geradezu ins Gesicht geschrieben: »Diese ursprüngliche Konstitution kann doch nicht, da sie ursprünglich Sinn schafft, ihren Sinn verfälschen. Was sollte das für einen Sinn haben?« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 193] Husserls Phänomenologie hat seit ihren Anfängen in der Philosophie der Arithmetik Substituierungen wie die Symbolbildung kritisiert als Quelle systematischer Unstimmigkeiten und damit des Evidenzverlustes in der Erkenntnis. Die Substituierung bedeutet die Ersetzung einer direkten Erfassung des Gegenstandes, die Husserl mit Leibniz als »Anschauung« bezeichnet, durch eine nur indirekte Vorstellung.128 Die phänomenologische Haltung fordert entsprechend, in der Begründung der Erkenntnis stets auf das reine Phänomen, eine »originär gebende Anschauung«, zurückzugehen. Dieser »Intuitionismus« der Phänomenologie stützt sich darauf, dass Substituierungen als Formen der indirekten Vorstellung immer nur nachträgliche Modifikationen einer ursprünglich in der direkten Vorstellung – der Anschauung – erworbenen Erkenntnis darstellen. Das reine Erkenntnisphänomen ist ein Anschauungsphänomen, das der Phänomenologe zwar nicht als eine Vorgegebenheit vorfindet, wohl aber methodisch rekonstruieren kann, indem er von den Formen des operativen Gebrauchs der Erkenntnis – den denkökonomisch motivierten Substituierungen – absieht und auf die Formen ihres ursprünglichen Erwerbs hinsieht. Die Phänomeno­logie der Assoziation enthüllt diesen erkenntnistheoretischen Intui­tionismus schließlich als transzendentalphilosophische Naivi­tät. Ihr entscheidender Erkenntnisgewinn ist, dass sie das vermeintlich Schlichte und Einfache der Intuition als eine Mehrheitserfas128 Die Philosophie der Arithmetik charakterisiert die symbolische, uneigentliche Vorstellung im Unterschied zur anschaulichen und eigentlichen durch ihre nicht direkte, sondern indirekte Erfassung, die durch eine Substitution durch Zeichen vermittelt ist. [Vgl. Husserl, Hua XII, S. 193 f] Husserl folgt hier Leibniz, der ebenso am Leitfaden der Arithmetik zwischen der symbolischen und intuitiven Erkenntnis eines Begriffs [!] unterscheidet [Leibniz 1987, S. 13 f]. Gerade hier zeigt sich der historische Irrtum der neukantianischen Intuitionismus-Kritik: »Anschauung« meint phänomenologisch gerade nicht im Sinne von Kant das Andere zum Begriff, eine sinnliche Wahr­ nehmung, sondern das, was dem »Symbolisch-Signitiven« eines bloßen Aktes der Bezeichnung entgegensteht – die anschauliche Gegebenheit eines Nichtsinnlichen zwar nicht in Form des Begriffs, aber einer Bedeutung.

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

sung durchschaut. In der »Analyse der assoziativen Phänomene« wird »ein neues Problem empfindlich, wie ein Einzelheitsbewußtsein und wie ein Bewußtsein von expliziten Einzelheiten als Mehrheitsbewußtsein und Ganzheitsbewußtsein möglich wird« – aber vor allem auch, »daß in einem Bewußtsein vieles, ja kontinuierlich Mannigfaltiges zu einer Einheit verschmolzen ist, implicite derart, daß das Bewußtsein kein Bewußtsein von einer Mehrheit ist, das gesonderte Einzelheiten einheitlich und doch gesondert bewußtmacht« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 120]. Erinnerungen sind nur scheinbar schlicht reproduktive Vergegenwärtigungen, sie implizieren immer schon eine Mehrheitserfassung in Gestalt von vielfachen Substituierungen. Sie entstehen bereits im Prozess der Habitualisierung einer Urstiftung und gehören damit zum Erwerb der Erkenntnis im erweiterten Sinne. Husserl sucht nun nach einer »Sinnesquelle für solch einen Begriff wie Schein, Irrtum, Nichtigkeit« in der ursprünglichen Konstitution des Bewusstseins, der assoziativen Weckung, und das ist nicht etwa ein »Fehler der Theorie« [ebd., § 42, S. 193]. Die unspektakuläre und gewissermaßen schleichende Emanzipation der phänomenologischen Konstitutionstheorie von ihren erkenntnistheoretischen Ursprüngen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Genese des Bewusstseins anders als die der Erkenntnis kein »reines« Phänomen, kein bloßes »Anschauungs«-phänomen, verkörpert. Die unaufhaltsame Verwandlung der Nah- in eine Fernerinnerung nötigt zur Einsicht des transzendentalen Ursprungs der Sub­ sti­tution: Ohne Substituierung und Anschauungsverlust in Folge einer Verdichtung von Erinnerungen ist im Bewusstsein keine Habitualisierung von Erkenntnissen in ihrer Unaufhörlichkeit und Vollständigkeit möglich.

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Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung (M. Lazarus, R. Wagner, W. Wundt und S. Freud)

Die Begleitung und Mitwirkung der unbewussten an der bewussten Geistestätigkeit ist nach Moritz Lazarus das Mittel, wie der Geist die »Enge« seines Bewusstseins überwindet [vgl. Lazarus 1878, S. 228 und 229]. Mit der Enge des Bewusstseins ist dessen eingeschränkte Reproduktionsfähigkeit gemeint, die dazu führt, dass immer nur eine begrenzte Anzahl von Vorstellungen simultan apperzipiert werden kann. Die Mitwirkung des Unbewussten an der Konstitution des Bewusstseins stellt demnach sicher, dass die Apperzeption von Vorstellungs316 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

totalitäten nicht grundsätzlich unmöglich wird129, wie Lazaras das am Beispiel des ästhetischen Urteils demonstriert, das sich immer auf das ganze Gedicht und nicht nur den jeweiligen Vers bezieht, der sich gerade aktuell im Bewusstsein befindet [ebd., S. 225 und 227].130 Diese Mitwirkung des Unbewussten geschieht nicht nur durch eine einzige, sondern verschiedene Formen der Vorstellung131, von denen Lazarus die schwingende Vorstellung, die Verdichtung und die Repräsentation hervorhebt und in ihrer unterschiedlichen Leistung untersucht. Der Betrachtung von Verdichtungsprozessen kommt eine zentrale Bedeutung zu, als sie das ausgezeichnete Vermögen der Sprache verkörpern, die habituelle Verfügung über die Totalität solcher bereits erworbenen Vorstellungen und Erkenntnisse zu sichern. Die »Gedanken vergangener Zeiten, die Schätze des historischen Geistes [sind] in der Form der Sprache niedergelegt« [ebd., S. 218], eine Einsicht, die allerdings nur möglich ist, wenn man die Sprache »nicht bloß [als] ein Mitthei­ lungsmittel«, sondern als »das Bildungsmittel« begreift, »um einen gedachten Gedanken zu empfangen […] um ihn zu erfassen und zu begreifen; die Sprachform des eigenen Geistes enthält nicht bloß Mit­ tel und Gelegenheit den fremden Gedanken zu vernehmen, sondern die Fähigkeit ihn zu denken und zu verstehen« [ebd.]. Diese Distinktion zwischen der Kommunikationsfunktion und der hermeneutischen Dimension der Sprache schließt mit dem historischen Verstehen die Aktualisierung von erworbenen Habitualitäten mit ein, die aber keine gleichsam nackte Reproduktion darstellt, sondern immer auch einen produktiven Idealisierungsprozess in Gestalt der Verdichtung enthält: 129 »Wie aber mag es geschehen, daß sich die Einheit unseres inneren Lebens, der durchgehende Zusammenhang erhält, daß er nicht zerfällt und zerspellt wird, da doch alles Bewußtsein nur aus kurzen und flüchtigen Reihen besteht? Welchen Werth und welche Wirkung haben jene großen Massen psychischer Elemente, welche dem Bewußtsein entzogen sind? Mag es sein, daß frühere Vorstellungen aufbewahrt bleiben und gelegentlich wieder ins Bewußtsein zurück­kehren; wie vergeblich wäre auch dies, wenn doch das ganze innere Leben des Menschen immer nur in den wenigen, flüchtigen Vorstellungen sich zuspitzt, die in den einzelnen Zeitmomenten im Bewußtsein auftauchen? [Lazarus 1878, S. 226] 130 Vgl. dazu Teil B, Kap. II,6. 131 »Dadurch also [die Mitwirkung der unbewussten Geistestätigkeit an der bewußten, d. Verf.] überwindet der Geist die Enge seines Bewußtseins. Dies geschieht auf mehrere Arten, von denen wir hier nur diejenigen und nur in so fern hervorheben wollen, welche und in so fern sie auf die Erkenntnis der Vorgänge einflußreich sind, die uns in diesem Zusammenhang beschäftigen.« [Lazarus 1878, S. 229]

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

»Diese Form und Methode des Denkens, welche in der Sprache enthalten ist, ist das Produkt der langen Entwicklung vom Urmenschen bis zum historischen Menschen; sie schließt eine Veredelung, Idealisierung und Abkürzung des Processes der Gedankenbildung ein, deren Größe und Werth nach der Dauer und Arbeit jener Entwicklung zu ermessen ist.« [Ebd., S. 219] Was leistet also die sprachliche Verdichtung? Durch die sprachliche Bildung und Habitualisierung der Vorstellungen geschieht es, »daß solche Vorstellungen, welche uns heute als ganz einfache und ursprüngliche, als unmittelbare Anschauungen erscheinen, wie ›rufen und machen‹ in der That zusammengesetzt und abgeleitet sind. Indem diese Ableitung oder der historische in den verschiedenen Sprachstufen vollzogene Bildungsprozeß der Vorstellungen vergessen wird, verdichtet sich der Vorstellungsinhalt, und es wird für die Nachgebornen zum Einfachen, was den Urahnen verwickelt, es wird ursprünglich, was ehedem abgeleitet war; es erscheint als mit Einem Schlage fertig, was sich vormals allmählich und langsam gestaltet hat. In allen menschlichen Vorstellungen aber ist dieser Prozeß der Verdichtung und Geläufigkeit für die ganzen Geschlechter wie für jeden Einzelnen durch die Sprache vollzogen« [Lazarus 1878, S. 213 f]. In der Sprache manifestiert sich der komplette historische Bildungs- und Entwicklungsprozess, aber so, dass er nicht einfach in allen seinen Schritten der Entwicklung noch einmal zu durchlaufen wäre. Die Sprache verdichtet, d. h. sie setzt an die Stelle des Nachvollzugs des ursprünglichen Erwerbs einer Vorstellung und Erkenntnis die Verfü­ gung über sein fertiges Produkt. Sie verkürzt damit gewissermaßen den Entwicklungsprozess in seiner immensen Ausdehnung und Komplexität; ersetzt somit die komplexe durch eine einfache Vorstellung und macht ihn auf diese Weise für das Bewusstsein überhaupt verfügbar. Die Verdichtung ist demnach ein Prozess der Substitution, die Ersetzung des Ursprünglichen durch ein Abgeleitetes, welches nun seinerseits als ursprünglich erfahren wird: Die Komplexität des Werdens, wie sie in der ursprünglichen Anschauung, dem allmählichen Entstehungsprozess der Vorstellung, noch unmittelbar präsent und direkt erfasst wurde, ist in der sprachlichen Habitualisierung gar nicht mehr selbst gegenwärtig, sondern wird vertreten durch ein esse rei extra causas: das Wort als das auf einen Schlag erfassbare einfache Produkt des vollendeten und abgeschlossenen Prozesses der Entstehung einer komplexen Vorstellung. Die Leistung der Verdichtung in rein psychologischer Hinsicht zeigt sich deshalb in ihrem denkökonomischen Ef318 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

fekt; die Komplexitätsreduktion in der Habitualisierung erleichtert die Reproduktion durch die Ersparung von Kraft und Energie: »In allem seelischen wie leiblichen Geschehen haben wir zweierlei Maß zu beachten; die Zeit und die Kraft oder Energie. Auch jeder geistige Prozeß hat, wie die Erfahrung lehrt, eine gewisse Dauer und erfordert einen bestimmten Aufwand an Kraft, Energie. Schnell und spielend wiederholen wir den gewohnten, den uns geläufigen Gedankeninhalt; den neuen werden wir langsam und mit Anstrengung erfassen; das Einfache zu denken wird uns leicht, das Zusammengesetzte und Beziehungsreiche schwer und langsam. Die Verdichtung des Denkens nun besteht darin, daß wir den gleichen Inhalt in kürzerer Zeit und mit geringerer Anspannung von Kraft erfassen.« [Lazarus 1878, S. 238 ff] Schon Leibniz hatte die operativ-denkökonomische Funktion von Substituierungen wie der Symbolbildung andeutungsweise hervorgehoben. Es ist nicht immer möglich, Begriffsbestimmungen vollständig »intuitiv«, d. h. in einer durch Substituierungen unvermittelten direk­ ten Vorstellung zu erfassen, wenn sie einen gewissen Grad an Komplexität und damit die Repräsentations- und Auffassungsfähigkeit des Bewusstseins übersteigen. Doch qualifiziert Leibniz die symbolische Erkenntnis als eine »blinde« letztlich ab, die, weil sie über keinen in einer intuitiven Erkenntnis erworbenen ursprünglichen Begriff verfügt, ihre Deutlichkeit und damit Fähigkeit zur eindeutigen Definition der Begriffe einbüßt.132 Die Theorie der Verdichtung führt hier zu einer erkenntnistheoretischen Umwertung der Werte: Die Vorstellung, dass Erkenntnisse in Form von »unmittelbaren Anschauungen« ursprünglich verfügbar sind, erscheint nun als eine Naivität des natürlichen, hermeneutisch noch nicht aufgeklärten Bewusstseins, der es überhaupt an der Reflexion über die prinzipielle sprachliche Vermittlung 132 »In den meisten Fällen aber, besonders bei einer längeren Analyse, überschauen wir das ganze Wesen des Gegenstandes nicht auf einmal, sondern wir verwenden an Stelle der Gegenstände Zeichen, deren Erklärung wir beim Denken für den Augenblick der Kürze halber zu unterlassen pflegen, wobei wir wissen oder glauben, daß wir sie beherrschen […]. Eine solche Erkenntnis pflege ich blind oder symbolisch zu nennen; wir bedienen uns derselben in Algebra und Arithmetik, ja fast überall. In der Tat können wir, wenn der Begriff sehr zusammengesetzt ist, nicht alle in ihn eingehenden Merkmale zugleich denken; wo doch möglich ist, oder wenigstens insofern es möglich ist, nenne ich die Erkenntnis intuitiv. Von einem deutlichen, ursprünglichen Begriff gibt es keine andere als eine intuitive Erkenntnis, während die Erkenntnis der meisten zusammengesetzten Begriffe wenn schon nicht intuitiv so wenigstens eine symbolische ist.« [Leibniz 1987, S. 11 f]

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

der Vorstellungen mangelt. Zur Sprache als Leistung der Habitualisierung gehört untrennbar die Verdichtung, sodass jede vermeintlich direkte Vorstellung und anschauliche Erkenntnis mit indirekten Vorstellungen – den Substituierungen – immer schon durchsetzt ist. Wird die Erkenntnis wie bei Leibniz ausschließlich als eine Form des Bewusstseins verstanden, dann trifft die Symbolbildung der prinzipielle Einwand des Evidenzverlustes: Die denkökonomische Leistung der Komplexitätsreduktion geht wegen des mit ihr verbundenen Anschauungs- und Differenzierungsverlustes zu Lasten der Begriffs­ definition. Dass solche rationalistischen Vorbehalte in Lazarus’ Theorie der Verdichtung letztlich wegfallen, liegt an der Mitwirkung des Unbewussten an der Konstitution des Bewusstseins. Die Substituierung bedeutet nicht einfach, dass Bestimmungen und Differenzierungen, die in direkter Vorstellung ursprünglich anschaulich gegeben waren, aus dem Bewusstsein verschwinden und damit als Gegenstände der Erkenntnis verloren gehen. Lazarus interpretiert aus dem Blickwinkel der Theorie des Unbewussten denselben Sachverhalt der mathematischen Erkenntnis wie Leibniz, gibt ihm aber eine erkenntnistheoretisch letztlich entgegengesetzte Bewertung. Der Schüler, der versucht, den pythagoräischen Lehrsatz erstmalig zu verstehen, muss sich seiner komplexen Genese und Begründung versichern, er muss »um seinen Inhalt klar und begründet zu denken, sich aller voraufgegangenen Sätze erinnern und ihn selbst in allen Theilen genau sich vergegenwärtigen; für den gelehrten Mathematiker aber ist der Satz so einfach, die Anwendung desselben so leicht, der Inhalt desselben streicht durch seine Seele so flüchtig und so sicher wie beim Anfänger kaum das erste Axiom, daß es zwischen zwei Punkten nur Eine gerade Linie gibt.« [Lazarus 1878, S. 229 f] Leibniz würde den operativen Umgang mit dem pythagoräischen Lehrsatz zwar denkökonomisch rechtfertigen, aber hier gerade nicht die erworbene Sicherheit der habituellen Verfügung, sondern die Unsicherheit einer letztlich »blinden« nur mit bloßen Zeichen umgehenden Erkenntnis betonen: den Verlust an intuitiver Erkenntnis. Für Leibniz verliert die Erkenntnis in der Substitution durch das Symbol an inhaltlicher Bestimmung; symbolische und intuitive Begriffsbildung sind demnach ihrem Inhalt nach verschieden. Lazarus dagegen betont den absolut gleichbleibenden Inhalt der ursprünglich anschaulichen und verdichteten Vorstellung: »Der Gedankeninhalt ist in beiden, im Schüler und im Lehrer genau der gleiche, sie können und sie dürfen denselben nicht verschieden denken, wenn sie die glei320 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

che Wahrheit erfassen sollen, aber im Lehrer ist er verdichtet. ­Logisch oder wissenschaftlich, also inhaltlich sind ihre Gedanken gleich; psychologisch oder in ihrer Form des Prozesses sind sie verschieden.« [Lazarus 1878, S. 230] Verdichtungen löschen die ursprünglichen Vorstellungen, die sie substituieren, nicht einfach aus, sie modalisieren die Form der Vorstellung lediglich durch die Verlagerung des komplexen Vorstellungsinhalts ins Unbewusste, die Verwandlung des aktuellen in ein dis­positio­nelles Bewusstsein. Auch das wäre freilich ein Verlust, würde sich das Unbewusste nun nicht in Form eines Habitus konstituieren, der an der Organisation der bewussten Vorstellung aktiv mitwirkt. Dass die Substituierung eine Form der vollständigen habituellen Verfügung in der Mitwirkung des Unbewussten an der Konstitution des Bewusstseins darstellt und damit keinen Erkenntnisverlust, sondern uneingeschränkten Erkenntnisgewinn durch die Erlangung von habitueller Verfügung über ein dem »engen« Bewusstsein im Prinzip Unverfügbares bedeutet, erläutert Lazarus durch eine psychologische Analyse der zur Substitution gehörenden Vorstellung. Nicht nur wird die ursprüngliche Anschauung durch das Substitut ersetzt. Die sub­ sti­tuierende Vorstellung ist eine Form der Repräsentation, welche ein Bewusstsein von der Substitution enthält im Sinne einer Verweisung der substituierenden auf die substituierte Vorstellung. Diese Verweisung besteht in der Verflechtung des Bewussten mit dem Habituell-­ Unbewussten, das als eine aktive und nicht nur passive Disposition gleichsam immer auf dem Sprung ist, ins Bewusstsein zu treten und das Substitut damit zu verdrängen. Wir verfügen demnach auch in der Verdichtung stets über den vollständigen Vorstellungsgehalt – freilich nicht in einer unmittelbar-anschaulichen Erkenntnis, sondern nur vermittels einer substituierenden einfachen Vorstellung und ihrer zeichenhaften Verweisung, welche den komplexen Anschauungsgehalt enthält in der modalisierten Form eines »Als-ob«-Bewusstseins: »Wirkliche Vertretung aber von Vorstellungsreihen […] tritt dann ein, wenn zwar jene in diesen nicht wirklich enthalten sind, wohl aber von ihnen im psychischen Prozeß mit Sicherheit vorausgesetzt werden, dergestalt daß, wenn die vertretenden Vorstellungen im Bewußtsein erscheinen, durch sie verbürgt ist, es würden auch die vertretenen Massen, wenn es nöthig wäre, ebenfalls ins Bewußtsein eintreten. Dadurch nun wird es möglich, mit den vertretenden Vorstellungen so zu operieren, als ob die vertretenen Massen gegenwärtig gegeben wären [Herv. d. Verf.] […].« [Lazarus 1878, S. 246] 321 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Das Operieren mit Substituierungen ist also keine nur »blinde« Erkenntnis, wie der rationalistische Intuitionismus unterstellt. Die Komplexität der Anschauung wird durch die Verweisung des Bewussten auf das Habituell-Unbewusste verbürgt in einem Bewusstsein der prinzipiellen Restituierbarkeit – und in diesem Sinne einer immer möglichen Restitution modalisiert sich die Gegebenheit der anschaulichen Erkenntnis zu einer »Als-ob«-Verfügung. Es sieht zunächst so aus, als sei diese Theorie der Verdichtung letztlich durch eine psychologische Interpretation der symbolischen Begriffsbildung gewonnen, der operativen Substituierung komplex-anschaulicher Erkenntnisse durch einfache Zeichen, deren grundlegende denkökonomische Bewusstseinsleistung auf diese Weise erschlossen werden kann. Doch wird die Verdichtung im psychologischen Kontext durchaus nicht synonym mit einer Symbolbildung verwendet. So konstatiert etwa Wundt in der »Verkettung der Apperzeptionen eine fortschreitende Verdichtung des Denkens, die zugleich eine eminente Ersparung und Konservierung der Gedankenarbeit darstellt. Ein Begriffswort wie Erkenntnis gleicht einer Banknote, die einen fast nicht zu erschöpfenden Wert an barer Münze repräsentiert. Hier trifft vollkommen zu, was Mephisto zum Schüler sagt, daß ›ein Schlag tausend Verbindungen regt‹« [Wundt 1918 a, S. 83]. Doch geht es hier nicht etwa um ein Begriffssymbol, was die zugrunde liegende Anschauung schlechterdings ersetzt, sondern das Anschaulichkeit stets verbürgende Begriffswort – wie Wundt es auch ausdrücklich klarstellt: »Dennoch bleibt, so weit mit Hilfe dieser Bedeutungsentwicklung der Wortvorstellung das Denken von seiner ursprünglichen sinnlichen Grundlage sich entfernen mag, dieses in seinem wirklichen Verlauf immer wieder sinnlich anschaulich. Denn, um mit Mephisto fortzufahren, ›eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein‹. Nur hat das Wort hier seine durchaus ernste Bedeutung. Das Wort ist das wirkliche Vorstellungsäquivalent des unvorstellbaren Begriffs. Es verwandelt den abstrakten Gedanken in einen anschaulichen, hör- und sichtbaren Vorstellungsprozeß.« [Ebd., S. 83 f] Die Unterscheidung von Substituierungen als Formen der Verdichtung einer Vorstellung von der Symbolbildung im eigentlichen Sinne geht auf Moritz Lazarus zurück.133 Lazarus sondert Verdich­ 133 Wundt bezieht sich in seiner eigenen theoretischen Begründung der Ver­ dichtung ausdrücklich auf Lazarus, so in seiner Erkenntnislehre (vgl. Wundt 1880, S. 36, Anmerkung].

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8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

tung und Repräsentation nach dem Kriterium, ob die Substitution im Rahmen einer Anschauung verbleibt, oder aber diese durch eine völlig unanschauliche Vorstellung ersetzt wird. Es ist nicht ganz leicht, Verdichtung und Repräsentation als eigenständige Leistungen der Habitualisierung voneinander abzuheben, weil sie im Prozess der Reproduktion nicht nur zumeist zusammen vorkommen, sondern ineinander übergehen und sich in ihrer Leistung ergänzen. Sie bilden nach Lazarus zwei Extreme ein und desselben Vorganges der Substi­ tution, die letztlich nur in der methodischen Analyse und Rekonstruk­ tion als eigenständige Phänomene zu isolieren sind [vgl. Lazarus 1878, S. 245]. Als Ergebnis der Analyse kommt heraus: »In der Verdichtung erscheint der momentane Denkakt erfüllt und gesättigt von dem ganzen Inhalt, welcher zur Schöpfung des gegenwärtigen Gedankens ins Spiel kommt; in der Repräsentation erscheint der Denkact von dem wirklichen Inhalt vollkommen entleert und durch eine bloße Beziehung oder Hindeutung auf denselben ersetzt.« [Ebd.] Dieser Definition der Repräsentation entspricht die klassische des Symbols: die vollständige Ersetzung einer Anschauung durch ein bloßes Zeichen, das selber nichts mehr von dem ursprünglichen Anschauungsgehalt an sich hat. Ist die Symbolbildung also mit dem vollständigen Anschauungsverlust gleichbedeutend, so modifiziert die Verdichtung den Anschauungsgehalt. Die Verdichtung bedeutet sowohl einen Verlust an anschaulicher Präsenz als auch eine Konzentration der Vorstellungsgehalte. Es ist der »Enge des Bewußtseins« wegen unmöglich, einen Vorstellungsinhalt von hohem Komplexitätsgrad ohne Reduktion dieser Komplexität in seiner ursprünglich lebendigen Anschaulichkeit zu reproduzieren. Die Reproduktion verändert deshalb den Modus der Vorstellung im Sinne einer Verminderung ihrer Klarheit und Deutlichkeit, indem »der Inhalt nur flüchtig und schwebend gedacht wird« [ebd., S. 240]. Die »schwebende« Vorstellung, die so entsteht, beinhaltet einen Verlust an inhaltlicher Differenzierung, was aber nicht etwa zu ihrer Auf‌lösung führt, sondern die Möglichkeit beinhaltet, im Zuge dieser Komplexitätsreduktion den Vorstellungsinhalt durch Verdichtung auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es kommt auf diese Weise durch die Verdichtung zu einer Selektion, »entweder wenige Vorstellungen klar und energisch, oder viele unbestimmt und flüchtig im Bewußtsein [zu] haben« [ebd., S. 240]. Heymann Steinthal unterscheidet systematisch drei Formen der Bildung komplexer Verbände von Vorstellungen: Zwischen der ersten, der losen und ungeordneten Assoziation und der letzten, der durch das Urteil vermittelten syntak323 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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tischen Systembildung, findet sich noch eine mittlere, welche der von Lazarus als solche bezeichneten »Verdichtung« entspricht, in der »innerhalb einer Vorstellungsmasse irgendeiner Erkenntnis, ein Gedanke, einen Mittelpunkt bildet, um welchen sich andere Vorstellungen in näherm und weitem Abstande lagern« [Steinthal 1881, S. 244]. Zieht man diese Ausführungen Steinthals zur genaueren Bestimmung der Form schematisierender Verbildlichung einer anschaulich substituierenden Verdichtung heran, dann besteht ihre organisierende Leistung darin, eine Feldstruktur von Zentrum und Peripherie auszubilden: Es entsteht ein thematisches Zentrum der »klaren und energischen«, also anschaulich differenzierten Vorstellung, um welches sich ein Komplex »unbestimmt und flüchtig« bewusster peripherer Vorstellungen von geringerer Anschaulichkeit gleichsam herumlagert. Verdichtungen sind also nicht nur ein Mittel der Komplexitätsreduktion, das anschauliche Differenzierungen nur pauschal nivellierte, sondern sie nehmen in dieser Nivellierung zugleich selektiv eine Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen vor. Genau in dieser Reduktion auf das Wesentliche und Erhaltungswürdige für die Reproduktion liegt ihre eigentümlich »idealisierende« Leistung, eine unüberschaubare Vorstellungsmannigfaltigkeit in ein überschaubares Bild zusammenzudrängen wie in der Darstellung der Geschichte durch den Historiker, der »aus vielen zerstreuten Notizen über die Anlagen, Erlebnisse und Handlungen eines Mannes ein scharf geprägtes Bild seines Charakters; […] aus unzähligen Daten, welche vereinzeltes Geschehene anzeigen, das gedrängte und doch treue Bild eines Krieges, einer Revolution, eines Systemwechsels […] in wenigen Zügen anschaulich macht« [ebd., S. 245]. Solche jeweils Einheit der Vorstellung schaffenden Verdichtungen in den Wissenschaften oder etwa auch in einer dramatischen Dichtung gestatten »den umspannenden Blick« über eine ansonsten unübersehbar vielgestaltige Vorstellungsmasse, welche das Bewusstsein in der Reproduktion niemals »in der ausgedehnten Breite wiederholen« kann [Lazarus 1878, S. 232].134 Anders als bei der Repräsentation und 134 »Aber nicht bloß in so geschlossenen Gedankenreihen, wie die Wissenschaft sie darbietet, ereignet sich dieser Prozeß. Auf gleiche Art gewinnen wir von einer Dichtung, etwa von einem Drama die Anschauung seiner Einheit, seines Zusammenhangs, seines Aufbaus. Nicht über das Ganze, über die Theile und ihre Beziehung, etwa über die Charaktäre und ihre innere Folgerichtigkeit könnten wir je nachdenken, ein Urtheil fällen, wenn wir Alles in der ausgedehnten Breite wiederholen müßten; vielmehr im Dichter bei seinem Entwurf,

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8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

Symbolbildung hat die Substituierung im Falle der Verdichtung den Sinn einer schematisierenden Verbildlichung, welche das Unzusammenhängende überhaupt zusammenhängend vorstellbar, den unübersehbar komplexen Anschauungsgehalt auf diese Weise überschaubar und so in komprimierter Form dem reproduzierenden Bewusstsein verfügbar macht. Während die symbolische Substitution in dem Sinne begriff‌lich ist, dass sie von allen Gehalten der Anschauung schlechterdings abstrahiert, besteht die Verdichtung so gerade »nicht in einer Abstraktion des Allgemeinen, von welchem das Besondere methodisch und streng abgestreift ist; vielmehr wird hier das Ganze als Gesammtdenkinhalt gedacht und ist von allen Besonderheiten fließend und schwebend umspielt« [ebd, S. 234]. Die Leistung der symbolischen Repräsentation ist abstrahierend, d. h. als eine Form der Begriffsbildung beschränkt sie sich darauf, eine immer schon einheitliche Vorstellung lediglich weiter zu vereinfachen in der vollständigen Ersetzung des Zusammengesetzten durch das Einfache. Im Unterschied dazu verein­ facht die Verdichtung nicht bloß, ihre Form der Substitution ist immer auch schematisierend, d. h. sie stellt einen Zusammenhang des Unzusammenhängenden und damit eine einheitliche Vorstellung allererst her.135 Diese zur Verdichtung gehörende Leistung assoziativer Dynamisierung und schematisierender Verbildlichung hatte im ästhetischen und nicht konstitutionstheoretischen Kontext bereits die romantische Musikphilosophie hervorgehoben. So wird bei Wackenroder und Tieck die Musik als eine Sprache des Gefühls verstanden, die anders als der analytische Verstand komplexe Sinnzusammenhänge nicht isolierend in elementare Einzelheiten zerlegt, sondern assoziativ verdichtet: beim Fortschritt seines Schaffens, im Zuschauer bei der Auffassung treten überall Verdichtungen ein, welche den umspannenden Blick gestatten.« [Lazarus 1878, S. 232] 135 In der konstitutionstheoretischen Auslegung wird der Sinn der Verdichtung doppeldeutig. Ihre Funktion der Schematisierung wird nicht von der assoziativen Leistung der Verdichtung her gedeutet, sondern als die Veränderung eines Konstitutionsverhältnisses, der repräsentativen Funktion einer Vorstellung: die Substitution eines Anschauungskomplexes durch ein Bild und Zeichen, der die Funktion der Komplexitätsreduktion zukommt. Dadurch beschränkt sich die Leistung der Verdichtung konstitutionstheoretisch auf die einer bloß sekundären Habitualisierung. Die Verdichtung als eine primär habitualisierende Form der bewegungsdynamischen Organisation zu verstehen heißt daher, ihre Leistung der schematisierenden Verbildlichung gerade nicht mit der Substitution einer Vorstellung durch eine andere mit der teleologischen Funktion der Komplexitätsreduktion gleichzusetzen.

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»Keine Kunst [gemeint ist die Musik, d. Verf.] schildert die Empfin­dungen auf eine so künstliche, kühne, so dichterische, und eben darum für kalte Gemüter so erzwungene Weise. Das Verdichten der im wirklichen Leben verloren herumirrenden Gefühle in mannigfaltige, feste Massen, ist das Wesen aller Dichtung; sie trennt das vereinte, vereint fest das getrennte, und in den engeren, schärferen Grenzen schlagen höhere, empörtere Wellen. Und wo sind die Grenzen und Sprünge schärfer, wo schlagen die Wellen höher als in der Tonkunst?« [Wackenroder / Tieck, S. 149] Die Empfindungsmannigfaltigkeit musikalisch-ästhetischen Erlebens ist demnach keine solche einer natürlichen Wahrnehmung, sie hat den Kunstcharakter von Verdichtungen. Es handelt sich dabei um verdichtete Empfindungen im Sinne einer festen Masse, einer asso­ ziativen Synthese, welche die zerstreuten einzelnen Empfindungen zusammenfasst zu einem Ganzen. Der in diesem romantischen Kontext noch primär sensualistisch verstandene Sinn dieser Verdichtung ist der einer dynamischen Affektverstärkung, solcher insofern etwas Künstliches und Gewaltsames anhaftet, als die assoziierende Verdichtung das bereits Verbundene auseinanderreißt und das Auseinanderliegende zusammenschweißt, was jedoch nur dem Verstand, nicht aber dem Gefühl unnatürlich vorkommt, denn das Fühlen beruht auf dem Prinzip sympathetischer Einfühlung: Das in der Wirklichkeit nur schwach Verbundene, was von Natur aus gar nicht zusammengehört, gehört für das dichterische Gefühl getrennt, während die Poesie das in der Welt unglücklich Getrennte, welches eine geheime Wahlverwandtschaft verbindet, schließlich verdichtend zusammenführt. Es ist demnach kein Zufall, dass Lazarus dort, wo er den Gegensatz von symbolischer und verdichtender Substitution betont, diesen durch Beispiele vornehmlich ästhetischer Erfahrung erläutert. Lazarus’ Beispiel einer verdichteten dramatischen Handlung findet sich denn auch ausgeführt in einer ganzen Theorie dramatischer Dichtung als Verdichtung in Richard Wagners Schrift Oper und Drama. Das »Wunder« der Verdichtung besteht nach Wagner darin, dass der Dichter, »um einen großen Zusammenhang gegenseitig sich bedingender Handlungen zu vollständigem Überblicke darstellen zu können, diese Handlungen in sich selbst zu einem Maaße zusammendrängen muß, in welchem sie bei leichtester Übersichtlichkeit dennoch nichts von der Fülle des Inhalts verlieren« [Wagner, S. 83]. Wagners Theorie der Verdichtung rationalisiert den Sensualismus romantischer Gefühlsästhetik der dramaturgischen Notwendig326 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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keit einer verbildlichenden Vorstellung der Handlungsmotive wegen, so wie es der Dramentheorie seit Aristoteles entspricht, welche die Überschaubarkeit und Verständlichkeit des »Mythos« – des Handlungszusammenhangs – fordert.136 Damit steht eine solche Konzeption gleichsam zwischen dem bewegungsdynamischen Sensualismus der Romantik und einer Konstitutionstheorie der Verdichtung, welche die objektivierende Darstellung durch eine die Wahrnehmungskomplexität reduzierende, substituierende Verbildlichung betont. Wagners dramentheoretische Erörterung der Verdichtung scheint geradezu exemplarisch Lazarus’ grundlegende Bestimmung der Verdichtung als eine anschaulich-konkrete und nicht unanschaulich abstrakte, symbolische Substitution zu bewähren. Der dramatische Dichter ist bestrebt, »die Momente der Handlung so zu beschränken, daß er den nöthigen Raum für die volle Motivierung der beibehaltenen gewinne«, und dieses Streben leitet das »Interesse der Verständlichkeit« [Wagner, S. 83]. Anders als der Klassizismus kann sich Wagners Dramaturgie jedoch nicht damit begnügen, Verständlichkeit nur durch die Ausschaltung von epischer Komplexität herzustellen, indem eine Haupthandlung selektiv abstra­hiert und von den mit ihr assoziierten Nebenhandlungen getrennt wird. Der handelnde Mensch kann nur »aus seiner Umgebung begriffen werden« [ebd., S. 45] Somit wird eine Handlung nie isoliert verständlich, insofern sich ihre eigentlichen Beweggründe in dem komplexen Handlungsmilieu finden, in das sie verflochten ist. Entsprechend verbirgt sich bei Wagner nicht in der Haupt-, sondern in den Nebenhandlungen das eigentliche Drama. »Ein bloßes Kürzen oder Ausscheiden geringerer Handlungsmomente würde an sich die beibehaltenen Momente nur entstellen, da diese stärkeren Momente der Handlung für das Gefühl einzig als Steigerung aus ihren geringeren Momenten gerechtfertigt werden können.« [Ebd., S. 83] Hier kommt zum einen das sensualistische Moment einer dynamischen Affektsteigerung zum Vorschein 136 Zu den sechs Konstituentien der Tragödie gehört nach Aristoteles neben den Mythos, den Charakteren, der Sprache und der Inszenierung auch die ›Erkenntnisfähigkeit‹ (griech. διάνοια) [Aristoteles 1982, Poet. 1450 a, S. 20 f]. Mit der Erkenntnisfähigkeit wird das rhetorische Vermögen bezeichnet, »das Sachgemäße und das Angemessene« aussprechen zu können. [ebd., 1450 b, S. 23]. Dem Geschichtsschreiber und Tragödiendichter gemeinsam ist, dass sie sich an die Wirklichkeit halten müssen. Nach Aristoteles teilt der Historiker mit, was geschehen ist, der Dichter das, was geschehen könnte. Von daher hat er sich den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit (τὸ εἰχὸς ἢ τὸ ἀναγχαῑον) [ebd., 1451 a, S. 28 f] zu unterwerfen.

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im Sinne der dramatischen Zuspitzung, die aus der Konzentration der Handlungsmotive entsteht, der Verstärkung eines zentralen Handlungsmotivs durch die künstliche Verdichtung seiner Peripherie. Kierkegaard sprach in Entweder – Oder mit Blick auf solche dynamischen Verdichtungen der »ästhetischen Darstellung« von einer »Konzentration im Moment«, wo sich »das Extensive ins Intensive« konzentriert. [Kierkegaard 2000, S. 678 f] Eine solche nicht nur affektsteigernde, sondern zugleich auch die Vorstellung konzentrierende Verdichtung setzt aber zum anderen wiederum die Leistung der schematisierenden Verbildlichung voraus. Sie gibt letztlich die Antwort auf die dramaturgische Frage, wie die periphere Motivationskomplexität einer Handlung so in den Zusammenhang der Haupthandlung aufgenommen werden kann, dass ihr Verstehen in lauter assoziierte Einzelmotive nicht gleichsam zerfällt, vielmehr als ein Einheitliches und Zusammenhängendes vorstellbar bleibt. Die scheinbar unüberschaubare Komplexität peripherer Handlungsmotive wird in Wagners Dramaturgie der Verdichtung zu einem fasslichen Anschauungsgehalt, indem die einzelnen Motive ihre Selbständigkeit von isolierten Motivationsquellen verlieren und als unselbständige Bewegungsmomente in den großen Strom der Haupthandlung einfließen, sodass sie dann als dynamisch-verstärkende Motive des zentralen Hauptmotivs der Handlung wirken. Genau das ist die doppelte – dynamisierende und schematisierend-verbildlichende – Leistung dramatischer Verdichtung: »Der Dichter, der sowohl diese Handlungen, wie diese Raum- und Zeitausdehnung, zu Gunsten eines übersichtlichen Verständnisses zusammendrängte, hatte dieß Alles nicht etwa nur zu beschneiden, sondern seinen ganzen wesentlichen Inhalt zu verdichten: die verdichtete Gestalt des wirklichen Lebens ist von diesem aber nur so zu begreifen, wenn sie ihm – sich gegenübergehalten – vergrößert, verstärkt, ungewöhnlich erscheint.« [Wagner, S. 84] Die Verdichtung vollzieht sich bei Wagner in zwei Stufen, wodurch die anthropologische Fundierung seiner romantischen Kunst-Ästhetik des »Wunderbaren« deutlich wird137: Mit Ludwig Feuerbach gründet Wagner die Vorstellungsleistung schematisierender Verbildlichung in 137 Das Wunderbare im religiösen Sinne eines »Übernatürlichen« lehnt Wagner ab, aufgeklärt durch Ludwig Feuerbachs Religionskritik, welche Theologie in Anthropologie verwandeln will, und fasst es statt dessen anthropologisch-ästhetisch als die dramatisch-künstlerische Wirkung und Darstellung, welche durch die übernatürliche Verdichtung einer natürlichen Wahrnehmung ent-

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der perspektivischen leiblichen Wahrnehmung, der Notwendigkeit, das Unüberschaubare der Wahrnehmungskomplexität überschaubar zu machen, indem sich das im Prinzip Unfassliche in einem fasslichen Bild verdichtet. Diese »natürliche Dichtungsgabe« erzeugt bereits eine Feldstruktur von Zentrum und Peripherie, welche die Wahrnehmung gliedert.138 Die ästhetische Verdichtung als eine originäre Leistung von »Kunst« baut darauf wiederum auf, indem sie diese erste natürliche und gewöhnliche Verdichtung in der leiblichen Wahrnehmung ein weiteres Mal auf ungewöhnliche Weise dramatisch zuspitzt durch eine im eigentlichen Sinne künstlerische und künstliche Substitution pars pro toto: Die Verdichtung als romantische Ästhetik des Wunderbaren hat somit – anthropologisch fundiert – den Sinn einer doppelten Substitution, welche eine ursprünglich anschauliche Komplexität reduziert. Sie führt zu dem Ergebnis, dass die Haupthandlung den ganzen Handlungszusammenhang schließlich auf unnatürlich »wunderbare« Weise alleine repräsentiert ohne irgendwelche mit ihr assoziierten Nebenhandlungen. Gleichwohl ist diese Ersetzung der unmittelbaren Anschauung durch eine repräsentierende Vorstellung der Kunst keine symbolische Substitution, welche den komplexen Anschauungsgehalt überhaupt verlieren würde in der abstrakten und einfachen Vorstellung, welche an seine Stelle tritt. Eine solche abstraktive Auffassung würde dem klassizistischen Drama entsprechen, dessen Mythos die epische Komplexität reduziert auf eine einfache und überschaubare Handlung. Bei Wagner dagegen wird der komplette Anschauungsgehalt, der ursprünglich in den Nebenhandlungen liegt, durch seine dramatische Verdichtung schließlich in den Haupthandlungsstrang aufgenommen: »Die um des dichterisch übersichtlichen Raumes wegen steht, wo das Übernatürliche stets das (Leiblich-)Natürliche ist, indem es nur vermittels der Kunst übernatürlich erscheint. 138 »Im Mythos« – schreibt Wagner – »erfaßt die gemeinsame Dichtungskraft des Volkes die Erscheinungen gerade nur noch so, wie sie das leibliche Auge zu sehen vermag, nicht wie sie an sich wirklich sind.« [Wagner, S. 31] So äußern sich im »gewöhnlichen Leben« die Motive nicht nur »in vielen Handlungsmomenten«, »das gewöhnliche Leben« bringt in leiblich-perspektivischer Wahrnehmung dichtend-verdichtend bereits eine Einheit der Handlung hervor, »in welchem ganz dieselbe Handlung sich nur im Zusammenhange mit vielen Nebenhandlungen in einem ausgebreiteten Raume und in einer größeren Zeitausdehnung zutrug« [ebd., S. 84]. Den Hinweis, dass diese Feldstruktur bereits eine Leistung der Verdichtung und Verbildlichung voraussetzt, gibt Wagner zwar nicht selbst, er ergibt sich aber systematisch folgerichtig aus seinem Schema, wonach die »künstlerische« auf eine »natürliche« Dichtungsgabe notwendig aufbaut.

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ausgeschiedenen Momente müssen daher in die beibehaltenen Hauptmomente selbst mit übertragen werden, d. h. sie müssen in ihnen auf irgend welche, für das Gefühl kenntliche Weise mitenthalten sein.« [Wagner, S. 83] Es ist letztlich Lazarus’ Analyse der Verdichtung im Rahmen der Begriffsbildung, welche die methodische Reduktion solcher asso­zia­tiv-­ bewegungsdynamischer Züge ästhetischer Verdichtung zur Folge hat. Denn so wird die Leistung der Verdichtung – nunmehr ausschließlich konstitutionstheoretisch – von der Vorstellungsfunktion symbolischer Substitution und der mit ihr korrespondierenden Veranschaulichung her bestimmt. Der einerseits bildliche, andererseits begriff‌liche Charakter der Substitution ist schließlich auch der sachliche Grund, warum sich die Leistungen symbolischer Repräsentation und Verdichtung funktional ergänzen. Die begriff‌lich-symbolische Repräsentation kann zum einen als die denkökonomisch vorteilhafte Fortsetzung der Konzentration und Schematisierung des Anschauungsgehalts durch seine vollständige Ersetzung durch ein einfaches Zeichen aufgefasst werden und so für die höherstufigen theoretisch-wissenschaftlichen, ästhetischen oder ethischen Denkprozesse letztlich einen »besseren Dienst leisten, als die breite Masse« der Vorstellungen in der Verdichtung [Lazarus 1878, S. 247]. Zum anderen bekommt die Verdichtung und ihre Leistung der schematisierenden Verbildlichung für die Repräsentation aber auch die positive Funktion, ihr den verlorenen Anschauungsgehalt gleichsam zurückerstatten zu können in einer Form, welche die Einfachheit der substituierenden Vorstellung nicht etwa aufheben muss. Diese Rolle der Verdichtung wird geradezu unerlässlich im Falle der Analyse der Vorstellungen durch das Urteil und die sich daran anschließende systematische Begriffsbildung. Mit der Repräsentation vollzieht sich der Übergang von der unmittelbaren An­ schauung zur begriff‌lich vermittelten Vorstellung, indem die komplexe Anschauung durch ein einfaches Wort vertreten wird, welche den Inhalt lediglich bedeutet: »›Vorstellungen‹ sind Repräsentationen, Vertretungen eines in unserer Seele vorhandenen Gedankeninhalts, und Wörter sind Lautkomplexe, welche Vorstellungen bedeuten. […] Demnach werden wir die erste, allgemeinste und allen übrigen zu Grunde liegende Form der bedeutsamen Einwirkung, welche die Sprache auf die Thätigkeit der Seele ausübt, kurz und bestimmt als die Entwicklung einer neuen Stufe der Seelentätigkeit bezeichnen; von der Anschauung gelangt sie zur Vorstellung.« [Ebd., S. 249] Durch die sprachliche Vermittlung wird die ursprüngliche rezeptive Anschauung 330 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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in eine spontane Eigentätigkeit der Apperzeption umgewandelt.139 Die Entwicklung der Vorstellung durch die Sprache ist so der Ursprung der Habitualisierung überhaupt, insofern die singuläre rezeptive Erfassung durch eine spontane Leistung der Wiederholung und Reproduktion vermittelt wird. Vorstellungen können, indem sie ursprünglich sprachlich artikuliert werden, als Wiederholungen von Anschauungen, und damit jeweils als »Anschauung der Anschauungen«, »eine innerlich wiederholte und dadurch fixierte Auffassung des Objekts« [ebd. S. 250], charakterisiert werden. Die sprachliche Wiederholung einer vorsprachlichen Anschauung habitualisiert, indem sie »fixiert«, die aktuelle Anschauung in eine habituelle Vorstellung umwandelt. Der Habitualisierungsprozess, der jeweils beginnt mit der Konstitution der Vorstellung als der »durch das Wort bewirkte[n] Apperception« [ebd., S. 251], vollzieht sich in zwei Stufen: Die erste bildet das, was Lazarus die »Fixierung« der Anschauung in einer Vorstellung nennt, den ursprünglichen Erwerb eines Habitus durch die Umwandlung von Rezeptivität in Spontaneität im Zuge der Wiederholung der Anschauung in ihrer sprachlichen Artikulation. Das ist aber nur der erste Schritt der Habitualisierung: »Eben so wird die erworbene Anschauung dadurch, daß sie mit dem Laut verbunden ist, fixiert, in der Seele als ihr specifisches Eigenthum befestigt; sie hat nun nicht mehr bloß jenen Inhalt, welcher dem Gegenstand entnommen ist, sondern zugleich ist das Zeichen der eigenen Thätigkeit ein psychologisch gleichstehendes, mit jenem sich gleichmäßig reproduzierendes Merkmal desselben.« [Ebd., S. 251] Die Artikulation, durch die eine habituelle Vorstellung erworben wird, macht diese zugleich immer wieder reproduzierbar. Erst wenn die Wiederholung die Form der Reproduktion annimmt, wird der Habitus wirklich zum dauerhaften, Stabilität garantierenden Organisationsprinzip einer Apperzeptionstätigkeit, welche ihr »Eigentum« der Vorstellung durch die Fähigkeit zur spontan vollzogenen, reproduktiven Selbsterhaltung sichert. 139 »Indem die Seele nunmehr nicht bloß mit dem durch eine (von außen oder innen gegebene) objektive Anregung erzeugten Denkinhalt beschäftigt ist, sondern mit dem gänzlich ihrer eigenen Thätigkeit entstammenden geistigen Gebilde, welches jenen Inhalt vertritt, ersteigt sie eine höhere Stufe, vollzieht sich eine neue nach der Seite ihrer Subjektivität potenzierte Art von psychischen Prozessen.« [Lazarus 1878, S. 249] Diese höhere Stufe ist die Kon­sti­ tution der apperzeptiven Vorstellung durch die Artikulation der ursprünglichen Anschauung, indem sich »das Wort als ausgesprochener Laut« und damit die »Bedeutung des Wortes« mit »den empfangenen Eindrücken (den innerlich gewordenen Empfindungen)« verbindet [ebd., S. 250].

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Zur Reproduktion, in der die Vorstellung als bleibender Habitus konstituiert wird, gehört aber nicht nur die Repräsentation, die Sub­ sti­tution der ursprünglich rezeptiven Anschauung durch die spontane Vorstellung, sondern immer auch die Verdichtung, insofern sich komplexe Vorstellungen darstellen, die sich zu einem System verbinden. So enthält beispielsweise ein Begriffswort wie der Name einer Pflanzengattung, den der Botaniker gebraucht, ein ganzes System der Klassifikation von Begriffen, das ihn nach seinem Umfang bestimmt, aber in seiner operativen Verwendung nicht explizit anschaulich gegeben, sondern durch eine Verdichtung vertreten wird.140 Die Apperzeption hat immer auch eine Ordnungsfunktion in Bezug auf den komplexen Vorstellungsinhalt, die letztlich durch das Interesse an aufklärender Analyse, der »Zerlegung der allgemeinen Apperzeption in ihre Theile« [Lazarus 1878, S. 255] verwirklicht wird, weil die Verdichtung den Anschauungsgehalt nicht anders als in schematischer Unbestimmtheit und d. h. mit mangelnder Klarheit und Deutlichkeit repräsentieren kann. Das Ziel der apperzeptiven Analyse ist die Entwicklung der Vorstellungen »vom Chaos zum Kosmos« in der Errichtung eines »System[s] von stufenweise zu Ganzen verbundenen Theilen« [ebd., S. 261 und 260]. Das geschieht zunächst auf dem Wege der wiederum sprachlich vermittelten Analyse der Verdichtung durch »die Zerlegung der Anschauung in ihre Elemente« [ebd., S. 289], wobei die systematische Ordnung dadurch entsteht, dass der analytische Prozess nach dem Prinzip der Ausbildung von Gegensätzen und ihrer funktionalen Ergänzung vor sich geht aufgrund der grammatischen Struktur der Sprache: des jeweils einem Subjekt ein Prädikat gegenüberstellenden Urteils.141 140 »Der durch methodisch aufsteigende Abstraktion gebildete Begriff etwa einer Pflanzengattung, wie ihn der Botaniker denkt, ist eine Verdichtung seines ganzen Umfangs in seinem Inhalt, der alltägliche Gebrauch dieses Gattungs­ namens ist eine bloße Vertretung.« [Lazarus 1878, S. 248] 141 »Die Theilung des Ganzen der Anschauung ist sodann, auf die allmähliche Aussonderung und Festhaltung der einzelnen Substanzen oder Personen, Eigen­­ schaften und Thätigkeiten, Verhältnisse und Beziehungen gerichtet. Am sichersten nun wird dieser Zerlegungsprozeß da eintreten, wo nach einander folgende Anschauungen denselben Gegenstand in verschiedenen ganz besonders entgegengesetzten Eigenschaften oder Thätigkeiten zeigen.« [Lazarus 1878, S. 289] Das weist auf das Urteil und seiner Form der Ergänzung von Subjekt und Prädikat als diejenige, die sprachliche Analyse leitende Organisationsstruktur hin. Die Anschauung enthält nach Lazarus schon implizit die Struktur der Prädikation, die dann in der Analyse in Form der syste­matisch geordneten Vorstellung, welche sie substituiert, schließlich ex-

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Für eine wirklich vollständige Analyse der Vorstellung und damit die Errichtung eines Systems von Begriffen durch ihre Realdefinition reicht diese zunächst rein sprachliche Analyse von Verdichtungen des Anschauungsgehalts durch Urteile jedoch nicht aus.142 Denn die Vorstellungen, insofern sie Substituierungen sowohl in Form von Repräsentationen als auch Verdichtungen enthalten, schwanken stets »zwischen der Fülle einer mannigfaltigen Anschauung und der Leerheit einer bloßen Andeutung derselben oder einer bloßen Beziehung des Bewußtseins auf sie« [Lazarus 1878, S. 282]. Damit also eine Analyse auch von symbolischen Leervorstellungen wie den Repräsentationen und damit des vollständigen Vorstellungsgehaltes möglich wird, müssen sie zunächst durch die Verdichtung mit einem schematisierten Anschauungsgehalt versehen werden. Die systematische Begriffsbildung vollzieht sich auf diese Weise in einer Rekonstruktion des ursprünglich unschematisierten und ausdifferenzierten, vollen Anschauungsgehaltes der Vorstellung in den zwei Stufen der Nominal- und Realdefinition: zunächst sprachlich und nominal durch die Verdichtung und d. h. noch im Rahmen einer indirekten, durch Substituierungen vermittelten Vorstellung, und schließlich begriff‌lich und real mit der Wiedergewinnung der ursprünglichen, direkten Erfassung des anschaulich Gegebenen: »Die Bildung der Begriffe ist nur dadurch möglich, daß von der Vorstellung auf die Anschauung, d. h. von der verdichtenden Vorstellung auf die in ihr verdichteten Anschauungen zurückgegangen wird; daß die Vorstellung, in welcher alle Prädikate der Dinge gleichsam verwischt und ausgelöscht sind, wiederum mit denselben bereichert wird, daß die ineinander geschobene Reihe der plizit wird: »Die Vorstellung haben wir gesehen, ist jederzeit Vorstellung eines Subjects oder eines Prädicats, während die Anschauung stets die Einheit von Subject und Prädicat ist. Es lässt sich nun zeigen, wie die Scheidung von beiden schon einzig und allein dadurch, daß die Anschauung in ein Wort gefaßt wurde, zu Stande kommt.« [Ebd., S. 291] 142 »Eine wirkliche logisch geordnete Realdefinition oder sachliche Erklärung eines gegebenen Denkinhalts zu suchen, geht über die Grenze der bloßen Sprache und der sprachlichen Verständigung hinaus; jene bezeichnet vielmehr den wesentlichen Fortschritt von dem vulgären, schwankenden Vorstellen zum wissenschaftlichen Begreifen der Dinge […]. Sie, die Realdefinition, ist der Fort­schritt von der Vorstellung zum Begriff; sie ist eine That der Wissenschaft und nicht mehr der Sprache. Vielmehr ist es der eigenthümliche Charakter des sprachlichen oder des allgemeinen Volksbewußtseins, daß seine Vorstellungen weder nach der Seite der Totalität noch nach Seite der Specialität vollendet sind […]. Der Begriff aber ist auf vollständige Sammlung und Trennung der Elemente gerichtet.« [Lazarus 1878, S. 299 f]

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angeschauten Merkmale wieder entfaltet und anstatt als implicirtes, verschwommenes Conglomerat, als explicirte, gesonderte Ordnung des Inhalts gedacht wird.« [Ebd., S. 305] Diese Hervorhebung der Rolle der Verdichtung für die Begriffsbildung ist in methodischer und systematischer Hinsicht alles andere als marginal und damit unproblematisch, weil letztlich entscheidend für ihre mögliche konstitutionstheoretische Vereinnahmung. Die analytische Begriffsbildung hat den Sinn der restitutiven Veranschauli­ chung und Differenzierung einer unanschaulich-leeren und undifferenzierten Vorstellung. Die Verdichtung, die ursprünglich als Form der schematisierenden Verbildlichung und damit als generierende, verein­ heitlichende Synthese einer Vorstellung gedacht war, wird im Kontext der Begriffsbildung reduziert auf ein Schwinden von anschaulicher Präsenz noch in der Anschauung und so zur bloßen Vereinfachung einer bereits gegebenen Synthese der Vorstellung als Vorstufe der symbolischen Repräsentation, die diesen Entleerungsprozess schließlich zum Abschluss bringt. Hebt man bei der Verdichtung nur den Differenzierungsverlust und damit zugleich die nicht wirklich, sondern nur scheinbar verlorene Fülle und Unmittelbarkeit einer zugrunde liegenden Anschauung hervor, welche die analytische Begriffsbildung aus dem Unbewussten ins Bewusstsein schließlich wieder hervorholt, dann wird damit die deskriptiv so einleuchtende Abhebung der Verdichtung von der Repräsentation theoretisch unterlaufen und der Verdichtungsprozess letztlich doch analog einer begriff‌lichen Symbolbildung143 bestimmt: Die originäre, für die erkenntnistheoretische Bewertung schließlich allein entscheidende Funktion der Verdichtung ist so nicht positiv die Herstellung von etwas Neuem, die Produktion und Synthese eines bildlichen Schemas, die überhaupt so etwas wie eine Orientierung in der ursprünglich orientierungslos-zerstreuten Anschauung stiftet, sondern wiederum eine Form von Komplexitäts­ reduktion in der Reproduktion einer Erkenntnis in der zwar nicht totalen, aber doch zumindest partiellen Ersetzung von anschaulichen 143 Solche nicht theoretischen, sondern »praktisch-idealen Apperceptionen«, die Lazarus auch »symbolische Apperceptionen« nennt, wie etwa Gleichnisse, Parabeln, Allegorien, mythische Vorstellungen, interpretiert er konsequent als Unanschauliches veranschaulichende bildliche Vorstellungen [Lazarus 1878, S. 265 f] und damit »verdichtete Gedanken« [ebd., S. 267], während die »Repräsentationen« im Unterschied zu solchen Formen der Verdichtung nichts veranschaulichen, sondern umgekehrt eine komplex-anschauliche durch eine unanschauliche, einfache Vorstellung ersetzen.

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durch unanschauliche Vorstellungen. So, »gleichsam [als] eine Abbreviatur der Anschauung, ein verkürztes und zusammengezogenes Bild« [ebd., S. 281], wird die Leistung der verdichtenden Vorstellung allein und ausschließlich in der Konstitution eines Zusammenhangs der Erkenntnis gesehen und damit auch nur negativ fassbar durch ihren Erkenntnismangel: einen komplexen Zusammenhang der Vorstellung des Verlustes an Anschaulichkeit und Differenzierung wegen lediglich unvollständig im Bewusstsein repräsentieren zu können. Dieses konstitutionstheoretische Auslegungsschema, wonach die Verdichtung als eine Form von symbolischer Repräsentation gedeutet wird, bleibt letztlich auch für ihre dynamische Auslegung in Wilhelm Wundts Theorie der Verdichtung und Verschiebung und der ihr verpflichteten Freudschen Analyse der Traumarbeit bestimmend. Wundt hebt von Anfang an den Restitutionszusammenhang der Verdichtung und veranschaulichenden Analyse hervor, der sich aus der Genese der Verdichtung ergibt, der Verwandlung einer sukzessiven in eine simultane Vorstellung. Mit seiner Annahme simultaner Assoziationen und Apperzeptionen korrigiert Wundt die Herbartschule an einem entscheidenden Punkt. Herbarts Vorstellungsmechanik unterstellt, dass die Vorstellungen die ursprünglichen Elemente des Bewusstseins ausmachen, die in vielfältigster Weise in höchst wandlungsfähige assoziative Verbindungen eingehen, in ihrer elementaren Qualität dabei aber nicht verändert werden. Die Identität der Vorstellungen garantiert die sukzessive Verbindung der Assoziation und Reproduktion, die sicherstellt, dass die reproduzierende von der reproduzierten Vorstellung getrennt wird. Nach Herbart sind zwar simultane Vorstellungen durchaus denkbar, aber niemals in der Sukzession, sondern jeweils aufbauend auf eine sukzessive Verbindung, was seine Theorie der Genese der Raumvorstellung als eine Identifizierung zweier reziproker sukzessiver Bewegungen in der Reproduktion exemplarisch demon­ striert.144 In der Herbartschule war dieser atomistische Denkansatz 144 Herbart unterscheidet »zwischen dem successiven Vorstellen und dem Vor­ stellen des Successiven« [Herbart 1968, Bd. 2, § 110, S. 118]. Nicht jede Vor­ stellung ist die Vorstellung einer Sukzession, aber ihre Genese ist immer die eines sukzessiven Vorstellens, was sowohl für den Raum als auch die Zeit gilt. Deshalb – mit Blick auf die Genesis – kann Herbart betonen: »das wirkliche psychologische Ereigniss des räumlichen Vorstellens ist etwas völlig Unräumliches« [ebd.]. Genetisch wird die Raumanschauung erklärt aus der Identifizierung zweier reziproker sukzessiver Vorstellungen. Das Auge erfasst den Abstand zwischen zwei Punkten (a und f) im Raum ursprünglich nicht in einer ruhenden Simultanerfassung, sondern einer Bewegung des Blicks: Es

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Herbarts bereits in die Krise geraten durch ihren sprachtheoretischen Ansatz. Die Habitualisierung der Vorstellungen ist grundsätzlich durch die sprachliche Artikulation und die dadurch erworbene Reproduktionsfähigkeit vermittelt. Die Artikulation verändert dabei nicht nur die Verbindungen, sondern auch die Elemente der Vorstellung, wie es besonders am Problem eines durch die Lautverschiebung verursachten Bedeutungswandels deutlich wird. Vorstellungen verlieren ihre atomare Identität in der »Kontaktwirkung« der Laute, indem sie entweder andere assimilieren oder aber selbst assimiliert werden. Damit solche dynamischen Wechselwirkungen zwischen den Vorstellungen überhaupt zustande kommen, dürfen sie also nicht durch die Sukzession getrennt werden, sondern müssen dem Bewusstsein simultan gegeben sein. Zur Erklärung dynamischer Prozesse der Lautverschiebung wurde Steinthal deshalb zur hypothetischen Annahme von schwingenden Vorstellungen gezwungen, auf deren fragwürdige theoretische Prämisse, wonach sich der sukzessiven Verbindung wegen letztlich nur eine Vorstellung im Bewusstsein befinden kann, Wundt in seiner Kritik hinweist.145 Damit eine Kontaktwirkung zustande kommt, ist es nach Wundt erforderlich, dass sich nicht nur ein einzelner Laut, sondern immer die ganze Sukzession der Lautfolge im aktuellen Bewusstsein befindet in Form sowohl einer progressiven »vorauseilenden Vorstellungsbewegung« [Wundt 1911, S. 428], einer Antizipation, als auch einer rückwärts gewandten, regressiven Vorstellung – also eine simultane Erfassung der Sukzession ermöglicht durch wirkliche Tatbestände des Bewusstseins, wogegen sich die Hypothese der schwingenden Vorstellungen als psychologisch nicht ausweisbar und im Grunde überflüssig erweist.146 Die Unzulänglichkeit von Steinthals Hypothese läuft zunächst in der sukzessiven Bewegung von a nach f und dann in umgekehrter Bewegungsrichtung zurück von f nach a. Diese zweite Bewegung kehrt die sukzessive Bewegungsrichtung nicht nur um, sondern reproduziert die erste Bewegung, wodurch also die Simultanerfassung des Raumes schließlich durch die Identifizierung zweier reziproker sukzessiver Vorstellungen und damit ausschließlich durch die Gesetze der sukzessiven Reproduktion erzeugt wird [vgl. ebd., § 113, S. 126 ff]. 145 Die Kritik an Steinthal findet sich in Wundts Völkerpsychologie im Kapitel über die »Theorie der Kontaktwirkungen« (»Ästhetische, teleologische und psycho­logische Deutungen«) [Wundt 1911, S. 426 ff.] 146 »In dem Augenblick, in dem ich einen Satz auszusprechen beginne, steht das Ganze des Gedankens schon in allgemeinen Umrissen, mit etwas deutlicherer Ausprägung einzelner Hauptvorstellungen, vor mir; und in dem Augenblick, in dem ich den Satz vollendet habe, überblicke ich meist noch einmal dieses

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liegt jedoch nicht nur darin, dass sie die Präsenz des Bewusstseins gewissermaßen zu einer punktuellen Enge verkürzt, sondern dass die Schwingungen keine wirklich simultanen, sondern nur quasi-simultane sukzessive Vorstellungen verkörpern, welche die atomare Identität der Elemente und damit ihre Unauf‌löslichkeit in der assoziativen Verbindung im Prinzip nicht antasten können. Um die Phänomene des Laut- und Bedeutungswandels wirklich zu erklären, ist letztlich der Nachweis nötig, dass sich in der Assoziation nicht nur ein Ordnungs­ zusammenhang – die sukzessive Verbindung in der Reproduktion – sondern auch ein Wirkungszusammenhang bewegungsdynamischer Kausalität entwickeln kann, welcher die Identität der Vorstellungselemente angreift. Erst Wundt gelingt hier eine im Ansatz überzeugende genetische Erklärung, indem er – den Reduktionismus von Herbarts atomistischer Vorstellungsmechanik hierin korrigierend und ergänzend – neben den elementaren sukzessiven auch simultane Assoziationen als gleichursprüngliche psychologische Verbindungen zulässt und im weiteren komplexere Einheiten der Apperzeption, die sich nicht aufgrund einer sukzessiven assoziativen Verbindung, sondern simultan wirkender bewegungsdynamischer Prozesse der Verschmelzung und Assimilation in der Reproduktion ursprünglich gebildet haben.147 Ganze, während sich oft gleichzeitig schon der folgende Gedanke unbestimmt ankündet. Dabei ist von einem Hin- und Herschwingen abwechselnd über die Schwelle des Bewußtseins tretender und unter sie sinkender Vorstellungen absolut nichts zu bemerken, sondern der ganze Vorgang spielt sich in der Regel vollkommen stetig und ruhig ab, und als besonders charakteristisches Symptom der dunkler bewußten Inhalte tritt überall nur ihr Einfluß auf die Gefühlslage hervor.« [Wundt 1911, S. 431] 147 Herbart hatte sich auf Leibniz’ Annahme von petites perceptions berufen, mit deren Hilfe sich das psychische Geschehen als ein Kontinuum der Verschmelzung und Hemmung elementarer Vorstellungseinheiten begreifen lässt und statt »erdichteter Seelenvermögen« somit die »wahren Kräfte« der Vorstellungsmechanik sichtbar werden [vgl. Herbart 1850, Bd. I, § 18, S. 52 ff]. Wundt kritisiert grundsätzlich den Ansatz der Assoziationspsychologie, »den Begriff der Assoziation auf die Verbindungen zwischen Vorstellungen« einzuschränken [Wundt 1918 b, S. 271]. Die damit verbundene Restriktion auf sukzessive Verbindungen der Reproduktion [ebd., S. 272] führt letztlich dazu, »diejenigen elementaren Verbindungen, deren Produkte nicht sukzessive, sondern simultane Vorstellungen sind, von dem Begriff der Assoziation auszuschließen« [ebd., S. 274]. Wundts Kritik an Herbart zeigt den methodischen Zusammenhang dieser Kritik. Herbarts »Psychomechanik« begeht den Fehler »der falschen Verdinglichung der Vorstellungen« [ebd., S. 14] dadurch, dass sie die Vorstellungen ausschließlich von ihrer Funktion der Repräsentation eines Objektes im Bewusstsein her betrachtet und so die Eigenschaft des Vor­

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Zum Kriterium der Unterscheidung zwischen simultanen und sukzessiven Vorstellungsverbindungen wird so generell die Veränderlichkeit bzw. Unveränderlichkeit ihrer Elemente: »Während bei den Formen der simultanen Association die Vorstellungen, die sich verbinden, zugleich mehr oder minder verändernd auf einander einwirken, behält bei der successiven Association im allgemeinen jede einzelne Vorstellung diejenige Beschaffenheit, die sie auch im isolirten Zustande besitzen würde. Durch diese Integrität, welche die Glieder einer Associationskette bewahren, unterscheidet sich die letztere wesentlich von allen bisher betrachteten Formen associativer Verbindung. Der Grund hierzu liegt offenbar darin, dass die successive Association immer in einer Reihe zeitlich getrennter Apperceptionsacte besteht, so dass die Bedingung zu einer verändernden Wechselwirkung der Vorstellungen, ihre simultane Apperception, hier fehlt.« [Wundt 1880, S. 19] In dem Moment also, wo die assoziative Verbindung in einen Reproduktionszusammenhang eingeht, wird sie aus dem Kontinuum bewegungsdynamischer Wechselwirkungen herausgelöst und gewinnt so die Integrität einer in der sukzessiven Ordnung schlechterdings beharrenden identischen Vorstellung. Diese durch die Reproduktion verursachte Diakrisis in Gestalt der Aussonderung eines wandellosen Ordnungszusammenhangs der Vorstellung aus dem Wirkungszusammenhang veränderlicher bewegungsdynamischer Assoziationsprozesse wird schließlich entscheidend für die Interpretation der Rolle von Verdichtungen in der Vorstellung und ihre Auf‌lösung durch die analytische Begriffsbildung. Assoziative Vorgänge sind nach Wundt prinzipiell nicht ohne Mitwirkung der Apperzeption denkbar.148 Die apperzeptive Leistung ist schließlich dafür verantwortlich, dass aus der gestellten – seine Identität – auf die Form des Vorstellens fälschlich überträgt: »Indem man nämlich die Vorstellungen als die Bilder der Objekte selbst betrachtet, ist man geneigt, die Eigenschaften dieser auf die Vorstellungen zu über­tragen. Man nimmt also an, diese seien, gerade so wie Außendinge, auf die sie von uns bezogen werden, relativ beharrende Gegenstände, die aus dem Bewußtsein verschwinden und unverändert wieder in dasselbe eintreten können.« [Ebd.] 148 Die Reproduktionsfähigkeit, »frühere Erregungen beim Eintritt verwandter Ursachen zu erneuern« [Wundt 1880, S. 23], wird durch die assoziativen Vorgänge nicht vollständig erklärt. »Aber in jedem dieser Fälle bleibt ein Punkt übrig, welcher durch die Wirksamkeit der psycho-physischen Associationen nicht erklärt wird, sondern den Hinzutritt einer apperzeptiven Thätigkeit verlangt, durch welche daher jedesmal die eigenthümliche Form der associativen Verbindung wesentlich mitbedingt ist.« [Ebd.]

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Masse unbewusster assoziativer Verbindungen bestimmte Assoziationen ausgesondert werden und ins Bewusstsein treten.149 Die Leistung der Apperzeption ist sowohl selektiv als auch produktiv.150 Sie hebt die Gesetze der Assoziation nicht etwa auf, sondern führt durch die selektive Hebung von assoziativen Verbindungen ins Bewusstsein dazu, dass sie als habituelle Vorstellungen für die Reproduktion dauerhaft zur Verfügung stehen. »Diese [die Assoziation, d. Verf.] versieht unser Bewußtsein fortwährend mit neuem Stoff; jene [die Apperzeption, d. Verf.] hat die wichtige Eigenschaft die vergängliche Einwirkung der Sinneseindrücke dauernd zu machen, indem sie dieselben fortwährend zu erneuerter Verwendung bereit hält.« [Wundt 1880, S. 23] Die Apperzeption hebt Unbewusstes ins Bewusstsein, verwandelt ephemere Assoziationen in dauerhafte habituelle Vorstellungen und schafft damit zugleich neue Verbindungen dadurch, indem sie die vorliegenden assoziativen Verknüpfungen gleichsam als flüssiges Material benutzt, um daraus feste Vorstellungen für die Reproduktion zu gewinnen. Die begrenzte Reproduktionsfähigkeit, die »Enge« des Bewusstseins, führt dazu, dass nicht alle Vorstellungen gesondert reproduziert werden können. Die Apperzeption wandelt deshalb die sukzessiven assoziativen Verbindungen in simultane um, sodass nur noch der ganze Komplex, aber nicht jedes einzelne Element in der bewussten Reproduktion gegenwärtig ist. Agglutinationen, Verschmelzungen und begriff‌liche Symbole, die auf diese Weise entstehen [ebd., S. 27], bedeuten Sub­sti­ tuierungen, symbolische Repräsentationen, welche die ursprünglich anschauliche sukzessive Verbindung durch eine Leervorstellung ersetzen, denn in »Wahrheit sind ihre Theilvorstellungen successiv gege­ 149 Wundt unterscheidet »passive« und »active« Assoziationen danach, ob ihre selektive Hebung von Vorstellungen ins Bewusstsein von einer assoziativen Weckung mitbedingt ist oder allein von der apperzeptiven Tätigkeit ausgeht [vgl. Wundt 1880, S. 26]. Bei der »passiven« Apperzeption, der Mitwirkung der Apperzeption an der Herstellung einer assoziativen Verbindung, beschränkt sich die Apperzeptionstätigkeit »darauf, dass sie aus dem ganzen Empfindungskomplex herrschende Empfindungen aussondert, welche allein in den Blickpunkt des Bewusstseins gehoben werden, während die übrigen Elemente als dunklere Bestandtheile der Vorstellungen nur jenen beherrschenden eine eigenthümliche Färbung verleihen oder ihre wechselseitige Beziehung bestimmen« [ebd., S. 23]. 150 Wundt spricht von der apperzeptiven »Auswahl unter den durch die Assoziation dargebotenen Vorstellungen« [Wundt 1880, S. 25], gemeint ist eine selektive Hebung von unbewussten Vorstellungsbestandteilen ins Bewusstsein, eine Aus­­ sonderung von dominierenden »herrschenden« Empfindungen, welche »allein in den Blickpunkt des Bewußtseins gehoben werden« [ebd., S. 23].

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ben [Herv. d. Verf.], aber die neue Vorstellung kann nur entstehen, wenn die zuerst successiv verlaufenden Vorstellungen dann zu einem simultanen Denkacte zusammengefasst werden« [ebd., S. 27]. Der psychologische Grund und die Funktion der Entwicklung von solchen apperzeptiven Simultanvorstellungen besonders durch die Sprache ist bei Wundt nicht anders als bei Lazarus der denkönomische Effekt der Komplexitätsreduktion und die Ersparnis von Gedankenarbeit in der Ersetzung der komplexen Genesis durch ihr einfaches habituelles Produkt: »Auf eine Anzahl einfacher Vorstellungen, welche die Sinne ihm [dem Bewusstsein, d. Verf.] zuführen, ist das Bewusstsein anfänglich beschränkt. Sein Horizont ist schon darum ein enger, weil es diese einfachen Vorstellungen immer nach einander sich vergegenwärtigen muss, um sie zu Totalbildern zusammenzufügen. Aber je häufiger bestimmte Vorstellungen sich vereinigt finden, um so rascher überfliegt die Apperception dieselben, bis sie endlich in einem simultanen Vorstellungsacte erfasst, was vorher in eine grössere Zahl successiver Vorstellungen getrennt war.« (Ebd., S. 33] Gegenüber Lazarus setzt Wundt hier den neuen Akzent, dass die Leistung der Verdichtung, den mühsamen Prozess des Erwerbs einer Vorstellung durch die spontane Verfügung über den fertigen Habitus zu ersetzen, mit der Umwandlung der sukzessiven in eine simultane Apperzeption, eine Verschmelzung der Vorstellungen, verbunden ist. Damit bedeutet die Verdichtung eine Dynamisierung der Vorstellungstätigkeit überhaupt, insofern sich die Diakrisis der Reproduktion, die Scheidung des Ordnungs- vom Wirkungszusammenhang der Vorstellung im apperzeptiven Bewusstsein, auf‌löst: Die Elemente der Vorstellung verlieren ihre Integrität, die ihnen bedingt durch die sukzessive Sonderung garantiert war, und werden nivelliert in einem bewegungsdynamischen Kontinuum, das sie durch Prozesse der Assimilation schließlich entweder ganz aus dem Horizont des Bewusstseins verschwinden lässt oder aber durch eine an die Verdichtung sich anschließende Bedeutungsverschiebung nachhaltig verändert. Die Verschmelzung von sukzessiven Vorstellungen kann entweder in Form einer Verdichtung oder Verschiebungen oder aber – wie faktisch zumeist – in einer Wechselwirkung beider Vorgänge vor sich gehen. Die Verdichtung ist eine Form der Akkumulation von Elementen, die in eine Verbindung aufgenommen werden, so dass »die früheren Elemente erhalten bleiben, wenn neue hinzutreten«, während bei der Verschiebung »in der fortschreitenden Verschmelzung jedesmal bei der Aufnahme neuer Elemente frühere eliminirt« werden [Wundt 1880, 340 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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S. 35]. Insofern die Verschiebung durch eine neu entstehende assoziative Verbindung bewirkt wird, geht ihr eine Verdichtung stets voraus [ebd.]. Das Zusammenspiel der Verdichtung und Verschiebung erläutert Wundt psychologisch-genetisch in dem Zusammenhang der »Verdich­ tung, der Verdunkelung und der Verschiebung der Vorstellungen« [Wundt 1918 b, S. 382]. Zunächst entsteht eine Verdichtung durch die Verschmelzung von Vorstellungselementen infolge einer starken Affektion oder der akkumulierten, wiederholten Reproduktion: »Die Vorstellungen verdichten sich, indem mehrere ursprünglich gesonderte infolge wiederholter oder durch starke Gefühlskomponenten gehobener Assoziationen vereinigt und zuletzt in der Apperzeption zu einem einheitlichen Ganzen verbunden werden.« [Ebd.] Wie schon Lazarus hebt Wundt die selektive Leistung der Verdichtung hervor, welche sich darin manifestiert, dass sie sich auf bestimmte Elemente gewissermaßen konzentriert, die klar und deutlich erfasst werden im Unterschied zu anderen, die ihre Deutlichkeit und Distinktheit verlieren. So entsteht eine Feldstruktur in der Verdichtung, eine distinkte und herausgehobene Vorstellung als Mittelpunkt, die von einer Peri­ pherie verschwommener und nur noch dunkel bewusster Vorstellungsmassen umgeben wird: Es finden »Verdichtungen […] dort ihre Stelle, wo sich an einen festen Mittelpunkt fortwährend neue Beziehungen anknüpfen« [Wundt 1880, S. 36]. Dieser Verlust an anschaulicher Distinktheit und Bewusstheit in der Peripherie der verdichteten Vorstellung bezeichnet Wundt als »Verdunkelung«, und diese ist letztlich die genetische Bedingung für die Verschiebung: »Da bei diesem Vorgang [der Verdichtung, d. Verf.] einzelne Bestandteile wiederum zumeist infolge ihrer intensiven Gefühlswirkung klarer als andere apperzipiert werden, so verdunkeln sich diese letzteren und können endlich ganz aus dem komplexen Produkt verschwinden. Auf diesem Weg ereignen sich dann von selbst Verschiebungen der Vorstellungen, deren Endprodukte namentlich dann, wenn die Prozesse der Verdichtung und der Verdunkelung mehrmals nacheinander eingetreten sind und wechselnde Bestandteile ergriffen haben, gänzlich von der Anfangsvorstellung verschieden sein können.« [Wundt 1918 b, S. 382] Diese genetische Herleitung der Verschiebung aus einer fluktuierenden, selektiven Verdichtung ist insofern bezeichnend, als sich mit ihr gewissermaßen schleichend die konstitutionstheoretische Erklärung in die Erläuterung des Faktums der Bedeutungsverschiebung einschiebt. Das wird offensichtlich etwa am Beispiel von Wundts Ana341 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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lyse des Bedeutungswandels von lat. pecunia. Ursprünglich bezeichnet pecunia bei den Römern die Viehherde, wird später aber zur allgemeinen Bedeutung für das Geld.151 Die Verdrängung der ursprünglichen Bedeutung weist zunächst einmal hin auf einen sozial- und kulturgeschichtlichen Wandel, das Entstehen von Geldwirtschaft, und den mit ihm verbundenen Wechsel der Wahrnehmungsorientierung: eine Nebenbedeutung (das Vieh als im Grunde unveräußerlicher Privatbesitz einer Familie, den man vererbt, wird nur in besonderen Ausnahmefällen als Tauschmittel benutzt) wird zur Grundbedeutung erhoben (das Geld ist nichts anderes als ein ausgezeichnetes Tauschmittel, wodurch zugleich angezeigt ist, dass der durch das Geld zu erwerbende Besitz zum beweglichen, im Prinzip veräußerlichen Tauschmittel geworden ist152) und allein das Resultat dieses Orientierungswechsels wird schließlich habitualisiert, sodass sich daraus die Bedeutungsver151 Dieser in der Sprachwissenschaft immer noch vorherrschenden Auffassung hat Emile Benveniste zu widersprechen versucht: »Alle Sprachwissenschaftler stimmen darin überein, daß ›pecu‹ als indoeuropäischer Name für ›Vieh‹ betrachtet und durch die Wurzel pek ›scheren‹ erklärt werden muß.« [Benveniste, S. 40] Mit pecu werde jedoch ursprünglich allgemein jegliches Vermögen im Sinne eines beweglichen Eigentums bezeichnet. In Bezug auf den Bedeutungswandel von lat. pecunia kehrt Benveniste dementsprechend das Begründungsverhältnis um: Die Grundbedeutung von pecunia sei zuerst »Vermögen« »Geld«, und erst später durch einen »anderen, gänzlich pragmatischen und sekundären Prozeß« sei diese zur konkreten Bedeutung »Vieh« verkürzt worden [ebd., S. 45]. Die Vor­aussetzung der Argumentation von Benveniste ist jedoch in kulturgeschichtlicher Hinsicht äußerst fragwürdig. Benveniste unterstellt etwa mit Bezug auf das Vedische, dass die Grundbedeutung von pas´u als Vermögen bzw. Geld »das Indiz für eine Hirtengesellschaft« darstelle, »deren beweglicher Reichtum aus Menschen und Tieren bestand. Daher konnte pas´u-, das zuerst und gerade diesen beweglichen Reichtum bezeichnete, sowohl für die ›Zwei­füßler‹, als auch für die ›Vierfüßler‹ eintreten« [ebd., S. 41]. Menschen und Tiere sind in der Tat beweglich, als sie sich im Raum bewegen, aber gerade nicht als Formen von Eigentum und Besitz. Hannah Arendt hat hier zu Recht darauf hingewiesen, dass der Verlust des unveräußerlichen Eigentums in solchen noch vorkapitalistischen Gesellschaften mit dem Verlust des Schutzes der Gesetze und nicht zuletzt der Menschenwürde verbunden war [vgl. Arendt, S. 60 f]. 152 Hannah Arendt hat auf diesen Wandel des Verständnisses von Eigentum von einem unbeweglichen und unveräußerlichen privaten zu einem beweglichen, durch das Geld öffentlich zu veräußernden und zu erwerbenden Besitz, der die unerlässliche Voraussetzung nicht zuletzt für das Entstehen des modernen Kapitalismus ist, hingewiesen. »Eigentum war ursprünglich an einen bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur ›unbeweglich‹, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm.« [Arendt, S. 60]

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schiebung ergibt: »Nachdem das Wort pecunia sowohl seine Grundbedeutung Viehherde wie die erste Abzweigung aus dieser, ›Vieh als Tauschmittel‹, neben der zuletzt entstandenen ›Geld‹ eine Zeitlang beibehalten hatte, schwanden die beiden ersten naturgemäß um so mehr aus dem Gebrauch, je mehr Rom aufhörte, ein Ackerbaustaat zu sein und zur Geldwirtschaft überging.« [Wundt 1911, S. 470 f] Hält man sich allein an das Phänomen des kulturgeschichtlichen Wandels, dann bedeutet die Verschiebung, dass eine Bedeutung schlicht elimi­ niert wird und auch eliminiert werden kann, weil sie nichts mehr zur Wahrnehmungsorientierung beiträgt und dieser Nutzlosigkeit wegen aus dem Reproduktionszusammenhang der Vorstellung letztlich ausgeschieden wird. Die mit der Verschiebung verbundene Substitution interpretiert Wundt nun allerdings psychologisch und genetisch als hervorgehend aus einer »Verdunkelung« infolge einer ursprünglichen Verdichtung, d. h. als Veränderung des Vorstellungsmodus, einem Verlust an Klarheit und Deutlichkeit, dem in der Vorstellungsmechanik eine Senkung von Elementen der Vorstellung unter die Bewusstseinsschwelle entspricht. Wenn die Eliminierung der Bedeutung aber als die Verschiebung einer bewussten Vorstellung ins Unbewusste interpretiert wird, dann wird aus der zur Bedeutungsverschiebung gehörenden Substitution ein Konstitutionsverhältnis: die Vertretung einer ursprünglich anschaulichen Gegebenheit durch eine Leervorstellung, eine symbolische Repräsentation. Dieser Eindruck, dass in Wundts psychologischer Erklärung den bewegungsdynamischen Prozessen der Verdichtung und Verschiebung eine konstitutionstheoretische Bestimmung schließlich untergeschoben wird, bestätigt sich schließlich voll und ganz in Bezug auf die Verdichtung als der eigentlichen Grundlage der Bedeutungsverschiebung. Nach Wundt geht mit der Verdichtung, welche aus der Verschmelzung von sukzessiv getrennten Einzelvorstellungen zu einer simultan ungeschiedenen Gesamtvorstellung resultiert, in den meisten Fällen der genau umgekehrte Prozess einher, den er als das »Zerfliessen der Vorstellungen« [Wundt 1880, S. 36] bezeichnet. Damit gemeint ist »die Zerlegung nämlich der entstandenen Gesammtvorstellung in eine Reihe successiver Vorstellungen« [ebd.]. Verdichtung und Zerlegung gehören demnach zusammen, und das findet schließlich seine Begründung in einem Restitutionszusammenhang der Konstitution, wie Wundt das wiederum am Beispiel der Sprachentwicklung demonstriert: »In der Zerlegung der Flexionsformen tritt der Zerfliessungsprocess in dem Moment, wie es scheint, hervor, wo die Verschmelzung 343 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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der ursprünglich bloss agglutinirten Vorstellungselemente so innig geworden ist, dass keines derselben mehr deutlich empfunden wird. Nun regt sich das Bedürfnis, jene Elemente wieder klarer zu vergegenwärtigen in dem Bewusstsein.« [Ebd.] Die Verschmelzung ist zu »innig« geworden – die Verdichtung beinhaltet demnach einen Differenzierungsverlust, der aber keineswegs irreversibel ist, sondern durch die Analyse der simultanen Vorstellung, welche sie in ihre sukzessiven Elemente zerlegt, kompensiert wird. Das heißt aber nichts anderes, als dass in der assimilierenden Verschmelzung die ursprünglich trennende sukzessive Verbindung nicht wirklich verloren geht, sondern erhalten bleibt, insofern die Verdichtung und simultane Vorstellung überhaupt als eine Leervorstellung angesehen wird, welche eine sukzessive Vorstellung als die ihr zugrunde liegende ursprüngliche Anschauung ersetzt: der Differenzierungsverlust in der Verschmelzung bedeutet so nur einen Anschauungsverlust. Die Möglichkeit der Restitution wird damit sichergestellt, dass sich in der Ersetzung der sukzessiven durch die simultane Vorstellung nur ihre Form der Konstitution im Bewusstsein ändert. Die sukzessiven Verbindungen und die mit ihnen verknüpften anschaulichen Differenzierungen gleiten tendenziell vom Bewussten ins Unbewusste ab, doch kann das vollständige Abgleiten und damit der Verlust ihrer Verfügung im Bewusstsein durch die veranschaulichende Analyse letztlich erfolgreich abgewendet werden. Das »Zerfließen« ist zwar eine Metapher für einen dynamischen Prozess, der Lockerung einer allzu sehr verfestigten, verdichteten Verbindung, doch wird diese Lockerung von Wundt von vornherein als das Resultat einer apperzeptiven Analysetätigkeit, der Zerlegung der Vorstellung in der (Wieder)-Veranschaulichung der sukzessiven in einer simultanen Verbindung und damit konstitutionstheoretisch bestimmt: »Wo die Sprache in ihrer Entwicklung auf dieser Stufe angelangt ist, da greift darum nun jener früher geschilderte Zerfliessungsprocess der Vorstellungen Platz, der sich äusserlich an der Zerlegung der ursprünglich einheitlichen Verbalformen zu erkennen giebt. Die ursprüngliche Vereinigung des Gedankens lockert sich dadurch allmählig, wogegen die Bestandtheile schärfer geschieden und feiner gegliedert werden.« [Wundt 1880, S. 51] Diese Lockerung wäre ein rein bewegungsdynamischer Prozess, wenn sie wirklich der voraussetzungslose Ursprung der angedeuteten Differenzierungsleistung wäre, indem sie diese produzierte. Nach Wundt ist die analytische Differenzierung jedoch letztlich reproduktiv und aktualisierend und so als eine Disposition der sukzessiven Sonde344 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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rung in der simultanen Verdichtung – die sie zudem gar nicht realiter enthält, sondern als ein Substitut lediglich hinweisend auf sie verweist – immer schon angelegt. »Der Vorgang [der Zerlegung, d. Verf.] […] muss aber nothwendig in dem Verhältniss der Bestandtheile desselben schon vorgebildet sein« [ebd.]. Genau damit, in der analytischen Reproduktion und ihrer Leistung, eine dispositionelle Ordnung restitutiv zu aktualisieren und auf diese Weise die Vermittlung der Vorstellung durch eine Substituierung wieder rückgängig zu machen und die unmittelbare Anschauung wiederherstellen zu können, enthüllt sich die »Zerlegung« insgesamt als ein Vorgang der Konstitution, der Veränderung nur des Bewusstseinsmodus eines ansonsten unveränderlich Gegebenen: Distinktion und Differenzierung als Explikation eines Impliziten, als Hebung eines Habituell-Unbewussten ins Bewusstsein. Es ist so auch nicht verwunderlich, dass diese Möglichkeit einer – mit Husserl gesprochen – reproduktiv-veranschaulichenden »Wiederkonstitution« der ursprünglich distinkten sukzessiven Verbindung in der Auf‌lösung der simultanen Verdichtung ihre entscheidende Rolle auch in der systematischen Begriffsbildung spielt. Hier zerlegt das Urteil nach dem »Prinzip der Dualität oder der binären Verbindung« [Wundt 1880, S. 54] die zu Symbolen und Begriffsbildern verdichteten Vorstellungen, die zwar in logischer Hinsicht der Abstraktion die vollkommensten sind, denen so aber »die lebendige Anschaulichkeit verloren ging« [ebd., S. 52]153, in ihre sukzessiven Elemente, und entwickelt auf diese Weise das der vollen Anschaulichkeit ermangelnde und deshalb undifferenzierte Begriffsbild zu einem anschaulichen, vollständig ausdifferenzierten System von Begriffen. »Die analytische Natur des psychologischen Processes, welcher dem Gedankenverlauf zu Grunde liegt, tritt endlich besonders noch darin hervor, dass derselbe nicht selten unmittelbar aus jenem früher besprochenen Zerfliessungsprocesse besteht, der an die Verschmelzung und Verdichtung der Gedankengebilde sich anschliesst. In dem durch diesen Process ein Begriff in seine Elemente zerlegt wird, nehmen die Producte einer solchen Zerlegung die Form von Urtheilen an, und der Begriff selbst spielt dabei die Rolle der Gesammtvorstellung, welche den Gedankenverlauf zusammenhält.« [Ebd., S. 52 f] 153 Die Verdichtung der Vorstellungen zu Begriffen ist »in logischer Beziehung die vollkommenste, wenn ihr auch die lebendige Anschaulichkeit verloren ging, die gerade durch die unmittelbare Zusammenfassung aller Theile einer Vorstellung in ein Bild zu Stande kommt« [Wundt 1880, S. 52].

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Wundts ursprünglich dynamisch gefasste Theorie der Verdichtung erfährt ihre entscheidende systematische Bestimmung zuletzt doch wieder aus einem Restitutionszusammenhang der Konstitution und enthüllt damit ihre erkenntnistheoretischen Prämissen: Es geht angesichts des möglichen Gewinns oder Verlusts von identifizieren­ den Vorstellungen, also von Erkenntnissen in der Reproduktion, um den Nachweis einer Leistung der Habitualisierung, die sie letztlich zu unverlierbaren Konstitutionsbeständen macht. Erkenntnisse erhalten sich nur in der Form von distinkten Vorstellungen in einer sukzessiven Verbindung, die sich in ihrer Substituierung durch die simultanen Apper­zeptionen in einem bewegungsdynamischen Kontinuum allerdings aufzulösen droht. Das auch bei Wundt dominierende erkenntnistheoretische Interesse, eine absolut beständige Möglichkeit der Identifizierung durch den versuchten Nachweis eines a priori geschlossenen Reproduktionszusammenhangs der Vorstellungen zu sichern, führt letztlich dazu, dass die Frage nach einer originär bewegungsdynamischen Organisation nicht gestellt wird. Die Verdichtung ist zwar selbst keine identifizierende Erkenntnis, sondern eine dynamisch die Inhalte der Vorstellung verändernde apperzeptive Bewusstseinsleistung, doch behält sie gleichwohl die Erkenntnisfunktion durch ihre Form der indirekten Vorstellung, der Substitution. Werden Verdichtungen als symbolische Repräsentationen verstanden, dann bewahren sie stets den Verweis auf die mögliche Erkenntnis in Gestalt der realiter oder idealiter möglichen Restitution der ihr zugrunde liegenden direkten Vorstellung, einer ursprünglichen, die Gegenstände identifizierenden »Anschauung«. Produktive und reproduktive Habitualisierungen bleiben so voneinander getrennt in der Diakrisis eines Ordnungszusammenhangs der Reproduktion, der in solche die Identität der Vorstellungen auf‌ lösenden assoziativen Wirkungszusammenhänge prinzipiell nicht involviert ist. Die diakritisch relevante Geschlossenheit des Reproduktionszusammenhangs und damit die Konstitution als exklusives Organisationsprinzip der Vorstellung wird zwar nicht mehr durch das Bewusstsein, dafür aber durch die Mitwirkung des Unbewussten an der Konstitution des Bewusstseins garantiert. In der Substitution bleibt die Möglichkeit der Erkenntnis durch ihre Habitualisierung im Unbewussten dauerhaft erhalten, d. h. die Geschlossenheit einer Systembildung durch die sukzessiven Verbindungen der Reproduktion, welche das Bewusstsein durch die bewegungsdynamischen Prozesse der Verdichtung einbüßt, wird letztlich durch die unbewusste Habi­ tualisierung garantiert, die aber an der Konstitution der bewussten 346 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

Vorstellung mitwirkt wiederum in dem Bewusstsein der immer möglichen Restituierbarkeit der ursprünglichen Erkenntnis. Freuds Entdeckung von Verdichtungen und Verschiebungen als Formen einer im ganz und gar Unbewussten sich abspielenden Traumarbeit lässt eigentlich erwarten, dass sie nicht mehr wie bei Wundt als vermittelt durch das apperzeptive Bewusstsein und seine Leistungen der Konstitution, sondern vielmehr als rein bewegungsdynamische Prozesse aufgefasst werden. Doch trennt Freuds Analyse von vornherein die Deskription solcher dynamischer Phänomene von ihrer psychologisch-genetischen Erklärung. Die dynamisch wirksamen Vorgänge der Assimilation und Verschmelzung gehören zum phä­ nomenalen Gehalt der Verdichtung und Verschiebung, ihre Prinzipien der Organisation liegen jedoch nicht in dieser vordergründigen Produktivität der Vorstellungen, sondern den in ihnen hintergründig wirkenden reproduktiven Leistungen: »Halten wir an der Begriffsbestimmung fest, daß ›Traumarbeit‹ die Überführung der Traumgedanken in den Trauminhalt bezeichnet, so müssen wir uns sagen, die Traumarbeit sei nicht schöpferisch, sie entwickle keine ihr eigentümliche Phantasie, sie urteilt nicht, schließt nicht, sie leistet überhaupt nichts anderes als das Material zu verdichten, verschieben und auf Anschaulichkeit umzuarbeiten, wozu noch das inkonstante letzte Stückchen deutender Bearbeitung hinzukommt.« [Freud 1901, S. 101] Die Analysearbeit als Gegenstück zur Traumarbeit [ebd., S. 84] enthüllt den »latenten Traumgedanken« [ebd.] in seinem ganzen Beziehungsreichtum und seiner komplexen Bedeutungsfülle. Dieser höchst komplexe Traumgedanke, den die Traumanalyse zum Vorschein bringt, ist jedoch nicht der Traum, wie er faktisch geträumt wird. Das Träumen ist eine Form des Bewusstseins und dessen reproduktive Kapazität, wie die aller Bewusstseinsleistungen, notwendig beschränkt. Deshalb ist es im Prinzip unmöglich, dass der komplexe latente Traumgedanke völlig unbearbeitet in den geträumten Traum eingeht, vielmehr wird er in seiner Reproduktion durch den manifesten Trauminhalt ersetzt. Die Analysearbeit entdeckt diese Substituierung, indem sie als die Umkehrung des Prozesses der Traumarbeit wiederum »den manifesten Traum durch den latenten Gedankeninhalt ersetzt« [ebd., S. 85]. Der Trauminhalt reproduziert den Traumgedanken eingeschlossen einer Substitution und der damit möglichen Komplexitätsreduktion. Den daraus resultierenden »Eindruck von Unähnlichkeit zwischen Trauminhalt und Traumgedanken« führt Freud auf eine Leistung der »Verdichtung und Dramatisierung« [Freud 1901, S. 92] der Vorstel347 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

lungen zurück. »Das erste, was dem Untersucher bei der Vergleichung von Trauminhalt und Traumgedanken klar wird, ist, daß hier eine großartige Verdichtungsarbeit geleistet wurde. Der Traum ist knapp, armselig, lakonisch im Vergleich zu dem Umfang und zur Reichhaltigkeit der Traumgedanken.« [Freud 2000, S. 285] Die Verdichtung bedeutet also eine Art »Kompression« [ebd.] des ausschweifenden Beziehungsreichtums und der Bedeutungsfülle des Traumgedankens; Freud spricht auch von einer »Auslassung« [ebd., S. 288] oder »Abkürzung als Vertretung« [ebd., S. 290] bzw. den Traumgedanken verkürzendem »Ersatz«154, d. h. die Substitution als Leistung der Verdichtung wird auf diese Weise als die Ersetzung von explizit anschaulicher Komplexität der Sinngebung durch eine vereinfachende Vorstellung und damit als Form der symbolischen Repräsentation bestimmt. Die Analyse muss sich diesen symbolischen Charakter des zum manifesten Trauminhalt verdichteten latenten Trauminhalts ausdrücklich bewusst machen, denn sonst »unterschätzt man das Maß der statthabenden Kompression, indem man die ans Licht gebrachten Traumgedanken für das vollständige Material hält, während weitere Deutungsarbeit neue hinter dem Traum versteckte Gedanken enthüllen kann.« [Ebd., S. 285] Die zum manifesten Trauminhalt gehörende Verschiebung erfährt in der Analyse der Traumarbeit einerseits eine Aufwertung gegenüber der Verdichtung, wird aber andererseits in ihrer Funktion der symbolisch-vereinfachenden Repräsentation des komplexen Traumgedankens auf eine Verdichtungsleistung reduziert: die »Verschiebung dient den Zwecken der Verdichtung« [Freud 2000, S. 300]. Der Grund dafür liegt in der die Traumarbeit organisierenden teleologischen Struktur, einer kompensatorischen Wunscherfüllung. Freud unterscheidet die kurzen und einfachen, sinnvollen Wunschträume von den befremdlichen oder völlig sinnlos erscheinenden Träumen [vgl. Freud 1901, S. 84]. Auch die letzteren vermeintlich sinnlosen Träume können nun durch den Nachweis der Traumarbeit der Verdichtung und Verschiebung als komplikative Erweiterungen von einfachen Wunschträumen begriffen werden.155 Dabei klärt sich das vermeintli154 »Die Auffassung, die sich mir schon jetzt aufdrängt, geht dahin, daß der Traum eine Art Ersatz ist für jene affektvollen und sinnreichen Gedankengänge, zu denen ich nach vollendeter Analyse gelangt bin.« [Freud 1901, S. 83] Weiter merkt Freud an »daß der Trauminhalt sehr viel kürzer ist als die Gedanken, für deren Ersatz ich ihn erkläre« [ebd.]. 155 Einfache und sinnvolle Wunschträume als die erste Gruppe der Träume enthalten streng genommen noch keine Traumarbeit im Unterschied zur zwei-

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8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

che Fehlen von Sinn als eine Sinnverschiebung in der Verdichtung als Folge der kompensatorischen Wunscherfüllung auf. Im Traum wird das, was an Wünschen im Wachzustand des Bewusstseins unerfüllt bleiben musste, durch die Triebstruktur der Verdrängung schließlich erfüllt. Das führt bei komplizierteren Träumen zu den Prozessen der Verschiebung in der Traumarbeit, eine Art »Umwertung der psychi­ schen Wertigkeiten« [ebd., S. 92 f]. Gegenüber dem Traumgedanken erscheint der ihn reproduzierende Trauminhalt so »gleichsam anders zentriert, sein Inhalt um andere Elemente als Mittelpunkt geordnet als die Traumgedanken« [Freud 2000, S. 309 f]. Dieser Orientierungswechsel zeigt sich darin, dass das vermeintlich Nebensächliche und Unbedeutende des Traumgedankens im substituierenden Trauminhalt mit Bedeutung gewissermaßen aufgeladen erscheint oder aber umgekehrt dessen »wesentliche, mit intensivem Interesse betonten Elemente nun so behandelt werden, als ob sie minderwertig wären, und an ihre Stelle treten im Traum anderer Elemente, die in den Traumgedanken sicherlich minderwertig waren« [ebd., S. 311]. Deskriptiv lässt sich die Verdichtung und Verschiebung als eine Form der assimilierenden Verschmelzung fassen. So entsteht in Freuds berühmten Beispiel der Trauminhalt »Propylen« als eine Art Kompromiss- bzw. »Mittelvorstellung zwischen Amylen und Propylären« [Freud 1901, S. 94 f]. Letztlich ist für die Erklärung dieser Verschiebung aber nicht diese Verschmelzung und der sich in ihr bekundende Orientierungswechsel der Bedeutung entscheidend, wie er sich in der Wahrnehmung des Trauminhalts manifestiert. Die Verschiebung ist genetisch betrachtet eine Form der aktualisierenden Reproduktion, der Umsetzung des latenten Traumgedankens in den manifesten Trauminhalt vermittels einer verdichtenden Substitution und kann deshalb auch nicht aus den Gegebenheiten allein des Trauminhalts erklärt werden. Genau das wäre aber der Fall, wenn man den Wechsel der Wahrnehmungsorientierung im Übergang vom Wachen zum Träumen zur Grundlage der Erklärung der Bedeutungsverschiebung machte, die somit durch solche im unmittelbaren Traumbewusstsein sich manifestierenden produktiven bewegungsdynamischen Prozesse der Assimilation und Verschmelzung hervorgerufen würde. Freud sucht stattdessen die der Verdichtung und Verschiebung zugrunde liegenden dynamischen Gesetzmäten und dritten Gruppe, den befremdlichen und verworrenen Träumen: »Der Gegensatz von manifestem und latentem Trauminhalt hat offenbar nur für die Träume der zweiten und noch eigentlicher für die der dritten Kategorie Bedeutung.« [Freud 1901, S. 83]

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Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

ßigkeiten in demjenigen Reproduktionszusammenhang, der für die Substituierung des latenten Traumgedankens durch den manifesten Trauminhalt verantwortlich ist. Und da die Substitution als Form der Reproduktion die ursprüngliche Form einer sukzessiven assoziativen Verbindung darstellt, kann ihre Dynamik der Verdichtung auch nicht wie bei den simultanen Assoziationen durch produktive bewegungs­ dynamische Prozesse, sondern nur als eine besondere Form von sukzessive wirkender Auslösungsdynamik der assoziativen W ­ eckung erklärt werden, der Konzentration von affektiver Weckungsenergie in der Übertragung dieser Energie von einer reproduzierten Vorstellung auf die nächste. Die Verdichtung und Verschiebung wird bei Freud schließlich vollständig verständlich aus der die Traumarbeit im ganzen organisierenden Triebmechanik. Das Unbewusste ist nach Freud eine Art Reservoir von aufgestauter libidinöser Energie, das auf seine affektive Übertragung auf einzelne Vorstellungen in der Reproduktion gewissermaßen wartet. »Der Kern des Ubw besteht aus Triebrepräsentanzen, die ihre Besetzung abführen wollen, also aus Wunschregungen.« [Freud 1915, S. 143] Wunschregungen führen zu »Besetzungen« von bestimmten Vorstellungen mit Energie in dem Sinne, dass sie in der Reproduktion unaufhörlich mit Weckungsenergie versorgt werden und diese anderen Vorstellungen damit entziehen. Diese »Besetzungsenergie« ist nach Freud nicht an einen bestimmten Vorstellungsinhalt gebunden, sondern frei verfügbar und deshalb unbegrenzt auf alle möglichen Vorstellungen übertragbar. »Sagen wir auch frei heraus, in welcher Weise wir uns den Vorstellungsablauf veranschaulichen. Wir glauben, daß von einer Zielvorstellung aus eine gewisse Erregungsgröße, die wir ›Besetzungsenergie‹ heißen, längs der durch diese Zielvorstellung ausgewählten Assoziationswege verschoben wird.« [Freud 2000, S. 581] In der Verdichtung akkumuliert sich nun diese Besetzung dadurch, dass sie nicht nur einmalig, sondern in der Reproduktion wiederholt erfolgt. Es ist überaus bemerkenswert, dass Freuds rein »energetische« Erklärung der Verdichtung auf bewegungsdynamische Prozesse der Assimilation und Verschmelzung im Sinne von Wundt überhaupt nicht mehr zurückgreifen muss. Die Substitution wird schließlich durch ein Reproduktionsprinzip des pars pro toto erklärt: Eine bestimmte Vorstellung nimmt Intensitäten in Gestalt von quantifizierbarer Weckungsenergie von anderen Vorstellungen auf, mit der sie assoziativ verbunden ist, was zur selektiven Hebung dieser Vorstellung ins Bewusstsein führt, sodass diese einzelne Vorstellung den 350 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

8) Exkurs II. Konstitutionstheorie und ästhetische Theorie der Verdichtung

ganzen mit ihr verbundenen Vorstellungskomplex, dessen Weckungsenergie sie gleichsam aufgesaugt hat und der seines Energieverlustes wegen insgesamt ins Unbewusste abgeglitten ist, im Bewusstsein nun exklusiv vertritt: »Die Intensitäten der einzelnen Vorstellungen werden nach ihrem ganzen Betrage abflußfähig und übergehen von einer Vorstellung auf die andere, so daß einzelne mit großer Intensität versehene Vorstellungen gebildet werden. Indem sich dieser Vorgang mehrmals wiederholt, kann die Intensität eines ganzen Gedankenzugs schließlich in einem einzigen Vorstellungselement gesammelt sein. Dies ist die Tatsache der Kompression oder Verdichtung, die wir während der Traumarbeit kennen gelernt haben.« [Ebd., S. 583] Voraussetzung dieses Denkmodells ist die auf Herbart zurückgehende Annahme eines Atomismus in der Vorstellungsmechanik, wonach im Wandel des Bewussten und Unbewussten lediglich die komplexen Vorstellungsverbindungen verändert werden, nicht aber die sukzessiven Vorstellungen selbst als ihre integren Elemente. Die über die Schwelle des Vorbewussten verlaufende Verlagerung von Elementen der Vorstellung vom Bewussten ins Unbewusste und wieder zurück ins Bewusstsein über das Vorbewusste wird dabei allerdings nur metaphorisch als eine Bewegung von Atomen im Vorstellungsraum beschrieben. Nach Freud ist hier »jede Idee einer Ortsveränderung« [Freud 2000, S. 596] sorgfältig fernzuhalten. Mit dem Bewussten, Vorbewussten und Unbewussten werden letztlich nur verschiedene Energieniveaus der Vorstellungen in ihrer reproduktiven, assoziativen Weckung bezeichnet: »Für diese [räumlichen, d. Verf.] Gleichnisse setzen wir ein, was dem realen Sachverhalt besser zu entsprechen scheint, daß eine Energiebesetzung auf eine bestimmte Anordnung verlegt oder von ihr zurückgezogen wird, so daß das psychische Gebilde unter die Herrschaft einer Instanz gerät oder ihr entzogen ist. Wir ersetzen hier wiederum eine topische Vorstellungsweise durch eine dynamische: nicht das psychische Gebilde erscheint uns als das Bewegliche, sondern dessen Innervation.« [Ebd., S. 596 f] Damit bleibt die Dynamik der Verdichtung auch bei Freud eine Form der Konstitution: Elementare Einheiten der Vorstellung werden in der dynamischen Verdichtung nicht wirklich produziert, sie verändern durch die Energiebesetzung in der Reproduktion lediglich ihre affektive Intensität und d. h. Seinsmodalität des Bewussten und Unbewussten im Sinne einer besonderen Erregung von Aufmerksamkeit, wodurch sich ganze Vorstellungskomplexe vertreten durch eine einzelne besonders erregende Vorstellung ins Bewusstsein drängen. Letztlich wird der durch 351 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. II – Die Organisationsprobleme der genetischen Konsti­tution

die Wunschregung »zielbesetzte Gedankengang […] unter gewissen Bedingungen fähig, die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich zu ziehen« [ebd., S. 582].

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Kapitel III Ordnungszusammenhang und Wirkungs­zusammenhang. Die dynamischen Erhaltungs­bedingungen des Systems der Konstitution 1)

Bewegungsdynamische Fiktionalisierung und Restitution. Die Rekonstruktion eines Reproduktionszusammenhangs der Erkenntnis in der assoziativen Fernerinnerung

Nicht nur, dass die originär sinngebende »ursprüngliche Konstitution« ihren Sinn nicht verfälschen kann, auch die wiederkonstituierende »Wiedererinnerung als bloße Reproduktion kann das nicht tun. Sie wäre dann ja sonderlich produktiv, in einer zunächst unverständlichen Weise« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 193]. Das Fiktionalisierungsgeschehen stellt die konstitutionstheoretische Erklärung vor ihre eigentliche Bewährungsprobe: Nur dann behalten auch die produktiven Fernerinnerungen ihre Erkenntnisfunktion, wenn sie als Formen der Reproduktion von ursprünglich erworbenen Erkenntnissen gedeutet werden können. Von vornherein muss deshalb geklärt werden, wie das Synthetisieren von Scheinbildern in seiner Produktivität in den Reproduktionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution überhaupt hineingehört. Husserls Rekonstruktion trennt aus diesem Grund die produktive von der reproduktiven Leistung, um damit schließlich zu zeigen, dass selbst die assoziative Synthese von Erinnerungsbildern genetisch in einer lediglich mangelhaften reproduktiven Vergegenwärtigung ihren Ursprung hat. Auf diese Weise kann auch die Fernerinnerung gedeutet werden als eine allerdings zweifelhafte reproduktive Wiedererinnerung, eine nur noch nicht vollständig ausgebildete Wiederkonstitution im Zustand der Modalisierung. Prinzipiell ist die Produktion von Scheinbildern nach Husserl durch die »Tatsachen wirklicher und möglicher Reproduktionen« notwendig bedingt und zwar konkret und belegbar durch die »Phänomene der Spaltung von Wiedererinnerungen in Wiedererinnerungen, die sich, wie wir uns ausdrücken, durcheinander geschoben haben, derart, daß sich die Erinnerungsbilder von getrennten Vergangenheiten zur Einheit eines Scheinbildes verschmolzen haben« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 119]. Damit ergibt sich der Hinweis auf einen Zusammenhang der Analyse und Synthese in der Fiktionalisierung: Die Synthetisierung von Scheinbildern ist zwar ein produktiver bewegungsdynami353 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

scher Prozess der assoziativen Verdichtung und als solche kein Phänomen reproduktiver »Wiederkonstitution«. Die assoziative Synthese der Verdichtung setzt aber wiederum eine Analyse in der Reproduktion von Erinnerungsbildern voraus, die aus einem durch die assoziative Weckung verursachten dynamischen Spaltungs- und Zerlegungsprozess resultiert, der zu einem heillosen Durcheinander, einer Vermengung und Vermischung der Erinnerungen, führt und damit verhindert, dass die Synthesis von Erinnerungsbildern in der Fernsphäre der ursprünglichen Konstitution entsprechend die Form eines geordneten Systems annimmt. Diese Rekonstruktion eines Konstitutionszusammenhangs in der bewegungsdynamischen Fiktionalisierung ist nicht etwa deskriptiv, sondern schon in ihrem Ansatz restriktiv und idealisierend: Das Auslegungsschema, wonach in der Fernerinnerung der ursprünglich geordnete Konstitutionszusammenhang in Unordnung gebracht wird, setzt voraus, dass die willkürliche Spaltung und Verschmelzung von Erinnerungen zu Scheinbildern nicht etwa die Reproduktionsfähigkeit als solche aufhebt. Die Vorstellung einer Vermengung und Vermischung impliziert, dass lediglich die Synthesis ihren Ordnungscharakter einbüßt – ein »System« der Konstitution also nicht mehr erinnert wird. Die Elemente dieser fiktionalen Synthesis verlieren jedoch in der »Verschmelzung« keineswegs ihre Identität, indem sie sich in der Reproduktion unverändert erhalten.156 Die ursprünglich konstituierten Synthesen der Naherinnerung werden durch Spaltung in ihre einzelnen Elemente zerlegt und dann neu kombiniert, sodass zwar die entstehenden fiktionalen Verbindungen ihre Evidenz und Funktion der Wiederkonstitution einbüßen, nicht aber auch die einzelnen Erinnerungen, die zu solchen Scheinbildern synthetisiert werden: So gesehen gilt, dass »der Inhalt jeder als falsch charakterisierten Erinnerung nur falsch ist hinsichtlich der Einheit des verbundenen Ganzen, aber richtig bleibt hinsichtlich seiner Teile. Was durchstrichen ist, ist immer das durch Vermengung erwachsene Ganze, aber die Stücke, die zur Vermengung kamen, bleiben selbstgegeben, nur gehören sie anderen Zusammenhängen an« [Husserl, 156 Husserl bekennt diese methodische Restriktion ganz offen: »Mein leitender Gedanke ist dabei der folgende: Eine anschauliche Fernerinnerung, wenn sie nicht eine flüchtig aufblitzende, sondern eine standhaltende und synthetisch wiederholbare und identifizierbare ist, hat wesensmäßig hinsichtlich ihrer Gegenständlichkeit nur eine mögliche Art, in Zweifel überzugehen und sich dann als nichtig herauszustellen: nämlich die der Durcheinanderschiebung von Wiedererinnerungen.« [Husserl, Hua XI, § 25, S. 114]

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1) Bewegungsdynamische Fiktionalisierung und Restitution

Hua XI, § 25, S. 115]. Husserls Phänomenologie folgt hier offensichtlich den spekulativen Prämissen der genetischen Psychologie Herbarts, wonach die einzelnen reproduzierbaren Vorstellungen Selbsterhaltungen der Seele verkörpern und damit in den wechselnden Verbindungen, die sie eingehen, als beharrende Elemente identifiziert werden können. Das geschieht offenbar in Verfolgung der methodischen Absicht, die Fiktionalisierung in ihrer Zwangsläufigkeit nicht als schlechterdings irreversiblen Prozess einer Zerstörung des systematischen Konstitutionszusammenhangs hinnehmen zu müssen, sondern in ihr den umgekehrten Vorgang der Restitution als bleibende Möglichkeit der Wiederkonstitution zweifelsfrei nachzuweisen. Auch die bewegungsdynamische Fiktionalisierung folgt den Gesetzmäßigkeiten der Analyse und Synthese, die jedoch den rationalen Prinzipien der systematischen Konstitution nicht genügen, weil sie mit keiner direkten Veranschaulichung der retentionalen Ordnung – also der sukzessiven Verbindung der Elemente, die eine identifizierende Reproduktion und damit Evidenz verbürgende Erkenntnis ermöglicht – verbunden ist. Statt eines geordneten Systems entsteht so eine regellose Vermengung und Vermischung der Vorstellungen, die aber gleichwohl die Intention auf die Wiederherstellung des geordneten Konstitutionszusammenhangs behält. Die ungeordnete Analyse ist ein Spaltungsprozess, der »nicht in infinitum fortgehen« kann, »es ist ein Durcheinanderwerfen von Diskretionen, und es muß ein Ende geben« [ebd.]. Die Vorzeichnung eines solchen Endes ergibt sich daraus, dass die Fiktionalisierung nicht nur auf einer einfachen, sondern doppelten Substitution durch die Apperzeption wie auch die Assoziation beruht. Berücksichtigt man nur die apperzeptive Verbildlichung, dann scheint die fortschreitende Auf‌lösung der geordneten und einheitlichen Erinnerung in der Fernsphäre, die »Spaltung, in welchen die betreffende Fernerinnerung auseinandergeht in mehrere Fernerinnerungen« [ebd., § 25, S. 114], keinerlei Grenzen zu kennen. Ihr liegt jedoch eine assoziative Verdichtung schon in der Passivität, die Umwandlung der anschaulich bewussten, wachen und »lebendigen« Retention in den eingeschlafenen Leerhorizont des Unbewussten, zugrunde. Die Substitution des Habituellen durch das Unbewusste kann nun niemals vollständig sein, insofern gilt, dass Leerhorizonte in der Form eines intentionalen Verweisungsbewusstseins gegeben sind, das sich nur innerhalb einer gegebenen Anschauung konstituieren kann. Deshalb genügt dem Phänomenologen hier die prinzipielle Einsicht, »daß wesensmäßig, was in einer Erinnerung auftritt, als Erinnertes nicht völlig leer sein kann« 355 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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[ebd.]. Aber nicht nur das. Auch schon zu diesem retentionalen Leer­ horizont der Verweisung gehört die anschauliche Erfüllung als ideale Limesbestimmung, weswegen die Möglichkeit einer rein reproduktiven, systematisch-geordneten Wiederkonstitution nicht erst in der Nah-, sondern bereits in der Fernerinnerung »vor«-konstituiert wird. Die Fernerinnerung ist demnach assoziativ-produktiv und intentional-reproduktiv zugleich. Sie synthetisiert ein Scheinbild, doch setzt ihre produktive Synthese wiederum die aufspaltende Analyse des in der Naherinnerung ursprünglich einheitlichen Zusammenhangs von Erinnerungsbildern voraus. Als intentionale Ursache für das Entstehen bewegungsdynamischer, assoziativer Produktivität enthüllt sich die grundlegende Veränderung der Reproduktionsbedingungen im Übergang vom Nah- in den Fernbereich der Erinnerung. Der Spaltungsprozess in der ungeordneten assoziativen Weckung wird deshalb zum Sein in Schein verwandelnden Fiktionalisierungsprozess, weil die Evidenz verbürgende identifizierende Reproduktion nur noch die von vereinzelten Inhalten und Elementen der Vorstellung, nicht aber auch die ihrer ursprünglich konstituierten Synthesis ist. In dem Moment, wo vermittelt durch die Apperzeption nicht nur die Inhalte, sondern mit ihnen der retentionale Zusammenhang und damit auch die systematische Form der Konstitution reproduziert wird, nimmt die Spaltung der Erinnerung die Form einer den Konstitutionszusammenhang restituierenden und damit den Schein Auf‌lösenden, systematisch aufklärenden Analyse durch die Ichaktivität an: »Demnach geht das Ich darauf aus, seine Erinnerungen bis in die Nieren zu prüfen, sie willkürlich zu klären, die intentionalen Zusammenhänge ihrer Teile zu untersuchen, durch Spaltung [der fiktionalen Synthesen, d. Verf.] die Illusion herauszustellen und so zum wahren Selbst vorzudringen.« [Ebd.] Die Restitution geschieht durch »das aktive Ich und seine freie Tätigkeit« [Husserl, Hua XI, § 25, S. 114], sodass diese Genesis nicht wie diejenige des ungeordneten Spaltungs- und Zerlegungsprozesses in der Passivität an die ganz »realen« Reproduktionsbedingungen des Bewusstseins gebunden bleibt – solche durch eine Affektion ausgelösten assoziativen Weckungen –, vielmehr in der Realisierung einer »ideale[n] Norm« besteht, die »im Bewußtsein implicite beschlossen« ist, der sich »das Ich nachher in seiner Freiheit bemächtigen« kann [ebd., § 45, S. 208]. Die sich hier vor- und aufdrängende idealisierende Betrachtung täuscht jedoch allzu leicht darüber hinweg, dass diese normativ geregelte Analyse die Funktion einer restituierenden Ent356 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Bewegungsdynamische Fiktionalisierung und Restitution

wicklung hat und damit sehr wohl auch von den faktischen Bedingungen der Reproduktion – der assoziativen Weckung – abhängt. Die Restitution als Form der Organisation ist eine Konstitution, die einen bereits vorkonstituierten Habitus aktualisierend reproduziert, sodass die aufklärende Analyse selbst zwar keine passive Synthesis verkörpert, deren reproduktive Leistung aber sehr wohl in Anspruch nehmen muss. Die ichliche Analyse entwickelt, indem sie auf einen »analytisch explikable[n] Sinn« [Husserl, Hua XI, Beilage V, S. 362] in Gestalt des »Unbewußten«, eines Leerhorizontes der assoziativen Weckung, zurückgreift. Eine aktualisierende Veranschaulichung des Leerhorizontes allein durch die aktive Synthesis ohne jede Beteiligung der assoziativen Weckung ist jedoch streng genommen gar nicht denkbar. Das Unbewusste ist nach Husserl ein gleichsam eingeschlafenes Bewusstsein, das durch eine Bewusstseinsaktivität wieder aufgeweckt wird. Letztlich gilt: »Vom Schlaf weiß man nur durch Aufwachen« [ebd., § 37, S. 178] – die Möglichkeit des Aufwachens gibt es aber überhaupt nur dann, wenn das Unbewusste nicht einfach ein Zustand völligen »Vergessens« ist, sondern als ein Schwellenphänomen des Bewusstseins konstituiert wird. Die Präsenz des Unbewussten an der Schwelle des Bewusstseins wird letztlich dadurch garantiert, dass sich der Leerhorizont phänomenologisch als ein Bewusstsein der Verweisung auf das Unbewusste, demnach als zu erfüllende Leerintention in unauf‌löslicher Verbindung mit einer Anschauung, konstituiert – und genau das erfordert eine ursprüngliche Leistung der Veranschaulichung durch die passive Synthesis der assoziativen Weckung, eine zumindest partielle Hebung des Unbewussten ins Bewusstsein, ohne welche der Leerhorizont gar keine Form von Intentionalität verkörpern und damit auch nicht die »ideale Norm« der Selbstgebung für die Analyse bereithalten könnte. »Ein fest konstituierter, nur eingeschlafener gegenständlicher Zusammenhang ist an einer Stelle geweckt« [ebd., § 38, S. 182] – und diese punktuelle Veranschaulichung durch die assoziative Weckung wird dann zum Anhalts- und Ausgangspunkt für die weitergehende aktive »Leistung der anschaulichen Wiedererinnerung […], der Wiederkonstitution des Gegenständlichen« mit dem ihr zugehörigen »Idealfall vollkommen anschaulicher Wiedererinnerung« [ebd.]. Die systematische Analyse der Fernerinnerung erfüllt die methodisch doppelte Funktion der aufklärenden Erkenntnis und Wiederherstellung der ursprünglichen Konstitution wie auch die dadurch mögliche Rekonstruktion derjenigen verborgenen Reproduktionsbe357 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

dingungen, welche für das Entstehen der Produktion von Scheinbildern verantwortlich sind. Das bewegungsdynamische Fiktionalisierungsgeschehen in seiner vordergründigen Produktivität enthält nach Husserl immer auch den – allerdings nur vagen – Hinweis auf solche in ihm hintergründig wirkenden Reproduktionszusammenhänge. Diesen Andeutungen geht schließlich die verdeutlichende Analyse nach durch die Enthüllung derjenigen Leistungen der Assoziation und Reproduktion, welche die Substituierung der Anschauung durch das Fiktum in den beiden möglichen Richtungen der Fiktionalisierung und Restitution vollbringen. Ähnlich wie bei Freud die »Analyse­ arbeit« die Gesetzmäßigkeiten der »Traumarbeit« widerspiegelt, indem sie die verborgenen Konstitutionsbedingungen enthüllt, die in der Umsetzung des nur der theoretischen Rekonstruktion überhaupt zugänglichen »Traumgedankens« in den wirklich erlebten »Trauminhalt« liegen, führt bei Husserl die Restitution des Erkenntnisphänomens in der Analyse von Synthesen der Fernerinnerung zur Rekonstruktion einer Form der wenn auch mangelhaften und unvollständigen »Wiederkonstitution« in der Fiktionalisierung. Die bewegungsdynamische Produktivität der Fernerinnerung enthüllt sich genau deshalb als bloß vordergründiger und damit im Prinzip aufzulösender Schein, als die Entstehung dieses Scheins auf eine nur lückenhafte und im Prinzip systematisch zu vervollständigende Reproduktion des ursprünglichen Konstitutionszusammenhangs der Naherinnerung zurückzuführen ist. »So wie die ursprüngliche Konstitution als solche ein vorwärts in die Zukunft gerichteter Prozeß ist, so auch die Wiederkonstitution.« [Husserl, Hua XI, § 39, S. 183] Die Konstitution ist eine Form dynamischen Werdens, welche die Gegenwart auf die Zukunft hin überschreitet im Sinne einer Entwicklungskontinuität, der systematischen Explikation eines in der Antizipation vorgezeichneten Gegenständlich-Ganzen157. Die sich in der Naherinnerung vollziehende Wiederkonstitution spiegelt diese Entwicklungskontinuität und ihre antizipatorische Ausrichtung dadurch, dass sie den »Werdensprozeß« der Konstitution »wiederherzustellen strebt« durch »das Feld kontinuierlicher Weckung« [ebd.]. Die kontinuierliche Weckung verlebendigt 157 »Der Gegenstand ist nicht in der Gegenwart als ein Starres und Totes, sondern er wird im lebendigen konstitutiven Zusammenhang, indem er zudem nicht isoliert wird, sondern in Verflechtungen des Werdens und Sich-verwandelns, als werdendes Glied eines fortschreitend sich gestaltenden GegenständlichGanzen ist.« [Husserl, Hua XI, § 39, S. 183]

358 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Bewegungsdynamische Fiktionalisierung und Restitution

den »konstitutiven Zusammenhang« [ebd.] in seiner systematisch vollständigen Form. Deshalb ist die durch diese Weckung erwirkte apperzeptive Wiedererinnerung als ein Akt der Wiederkonstitution nicht anders als die ursprüngliche Konstitution, die sie in der Reproduktion spiegelt, »tendentiös vorwärts« gerichtet in der kontinuierlich-anschaulichen Erfüllung der ihren Verlauf vorzeichnenden Leerintention des retentionalen Bewusstseins. Doch enthält die assoziative Weckung den Verdichtungsprozess der Verwandlung der bestimmt gerichteten in eine unbestimmte und ungerichtete Leervorstellung – die Retention verschwindet im Leerhorizont des Unbewussten –, der sich schließlich auch auf die Form der apperzeptiven Reproduktion auswirkt: »Geht der reproduktive Prozeß tendentiös vorwärts, so wiederholt sich in ihm reproduktiv das Verarmen und Versinken in die alte Nullsphäre, der nun die rückstrahlende diskrete Weckung abermals etwas abgewinnen kann, in abermaligen reproduktiven Tendenzen. Sprungweise kann die Weckung und ohne bestimmte Ordnung aus einer Sedimentschicht in eine andere, bald höhere, bald tiefere überspringen. So erwachsen mannigfaltige Möglichkeiten für aufeinander folgende und unmittelbar ganz zusammenhanglose Wiedererinnerungen.« [Ebd.] Auffallend ist, dass Husserl in dieser Ablösung der kontinuierlichen durch eine diskontinuierliche Weckung infolge des Verdichtungsprozesses die Kontinuität des Reproduktionszusammenhangs in der Diskontinuität betont. Das Abgleiten in die »Nullsphäre« der Affektion und Versinken der retentionalen Ordnung ins Unbewusste bedeutet zunächst, dass die Weckung keine Sukzession mehr veranschaulicht. Sie wird auf diese Weise intentional richtungslos und damit sprunghaft und diskontinuierlich, sodass die apperzeptive Reproduktion, welche durch sie schließlich geweckt wird, keinen Zusammenhang der Erinnerung mehr »wieder«-konstituierend entwickeln kann. Das führt dazu, dass Erinnerungen nun isoliert und völlig »zusammenhanglos« auftreten, »wie abgerissene Fetzen aus einer verlebendigten früheren Gesamterfahrung« [Husserl, Hua XI, § 39, S. 184]. Genetisch ist damit eine Erklärung für die »analytischen« Spaltungsprozesse der Fernerinnerung gegeben, ohne welche die Produktion von fiktionalen Synthesen gar nicht möglich wäre. Letztlich ist der Verdichtungsprozess in der assoziativen Weckung für die Zerlegung der Erinnerung in ihre Elemente verantwortlich, die sich als unmittelbare Folge einer diskontinuierlichen Weckung ergibt, die keine retentionale Sukzession mehr veranschaulicht und deshalb zur apperzeptiven Reproduktion nur noch von Inhalten der Erinnerung führt ohne die 359 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

Möglichkeit einer Vergegenwärtigung des Zusammenhangs, in dem sie ursprünglich konstituiert waren. Husserls idealisierende Rekonstruktion betont nun, dass auch schon die diskontinuierliche »bloße Fernweckung« eine modalisierende Abwandlung der kontinuierlichen Weckung in der Naherinnerung darstellt und somit auch in ihr eine »Tendenz zur Wieder­kon­sti­ tution« [Husserl, Hua XI, § 39, S. 183] lebendig bleibt. Die »diskrete Weckung« interpretiert Husserl von seiner Annahme eines reproduktiven, auslösungsdynamischen Weckungskontinuums her als Erinnerung der Erinnerung und demnach eine Wiederholung der kontinuierlichen Weckung »in abermaligen reproduktiven Tendenzen« [ebd.], in der zwar die sukzessive Ordnung verloren geht, nicht aber ihre intentionale Ausrichtung der tendenziös vorwärts gerichteten Wiederkonstitution. Die Tendenz auf eine sukzessive und kontinuierliche Reproduktion des systematischen Zusammenhangs der Konstitution bleibt also bestehen, auch wenn sie sich faktisch nicht mehr realisiert. Das impliziert wiederum methodisch, dass die der Fernerinnerung zugrunde liegende Reproduktion eine solche nur von isolierten Inhalten der Vorstellung ohne jeden Zusammenhang ist, wie dies dem gebräuchlichen deskriptiven Begriff einer durch die Sukzession nicht gebundenen Ähnlichkeitsassoziation entspricht, die von der genetischen Phänomenologie der Konstitution dann reduktionistisch als Form der lediglich unvollständig konstituierten sukzessiven Assoziation und Reproduktion interpretiert wird.

2)

Husserl, Herbart und Hume: Die reduktionistische ­Betrach­t ung der Ähnlichkeitsassoziation durch die genetische Phäno­menologie

Die genetische Analyse und ihr Reduktionismus, welcher der Ähnlichkeitsassoziation ihre deskriptiv ausgewiesene Eigenständigkeit raubt, ergibt sich als unvermeidliche Konsequenz aus ihrer idealen Zielsetzung, dem Nachweis eines »Ansich« der Wiedererinnerung – der identischen und vollständigen Reproduktion – auch schon für die Fernerinnerung. Als eine in der Konstitution wirksame Idealität der Wiedererinnerung kann dieses Ansich nur die normativ geregelte systematische Analyse und Rekonstruktion, aber niemals die schlichte Hinnahme des faktisch Erscheinenden und »Gegebenen« einholen. Die idealisierende und reduktionistische Auslegung der Ähnlichkeits­ 360 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Husserl, Herbart und Hume

assoziation als Form der sukzessiven Reproduktion ist dabei nur der erste und systematisch grundlegende Schritt in dem phänomenologisch umfassenden Vorhaben einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung sowohl der Nah- als auch der Fernerinnerung. Liegt der Produktion des Scheinbildes lediglich eine ganz und gar zusammenhanglose Reproduktion von Erinnerungsfetzen zugrunde, dann gibt es letztlich gar kein in der Kontinuität des Reproduktionszusammenhangs wirksames Motiv für die Wiederherstellung der Ordnung der Konstitution. Die Rekonstruktion bedarf also eines fundamentum in re in Gestalt eines wirklichen Organisationsprinzips und deshalb der Aufweisung einer nicht nur ideal-impliziten, sondern wirklich expliziten, kausalgenetisch wirksamen realen Möglichkeit, an eine reproduzierende Wiederkonstitution wiederholend anzuknüpfen. Nur auf diese Weise lässt sich die in der Fernerinnerung zunächst ungeordnete in eine systematisch geordnete Analyse schließlich überführen. So ist es der faktisch existierende Restitutionszusammenhang zwischen dem Bewussten und Unbewussten, der verbürgt, dass solche philosophischen Rekonstruktionen nicht nur ein bloßes Gedankengebilde bleiben, sondern einer methodischen Idealisierung von Tatsachen des Bewusstseins einsichtig folgen, mit deren Hilfe der Philosoph hinter die Oberfläche »erscheinenden« Bewusstseinslebens blickend zu dessen verborgenen Quellen vorzudringen vermag. Die Übereinstimmung ihrer Rekonstruktion mit der Wirklichkeit versucht die genetische Phänomenologie so mit dem Nachweis einer reproduktiven, schwingenden Vorstellung in der Verbildlichung zu demonstrieren, welche die veranschaulichende Wiederkonstitution in der phänomenologisch uneigentlichen Form der Modalisierung enthält, eines gespaltenen, zwiespältigen Bewusstseins, dessen innerer Widerstreit von sich her zur Wiederherstellung der Einstimmigkeit durch die klärende Analyse gewissermaßen auffordert. Nach Husserl bilden Assoziation und Apperzeption zwei Konstitutionsstufen der reproduktiven Erinnerung. In der apperzeptiven Wiedererinnerung kommt es erst eigentlich zur Konstitution einer »Gegenständlichkeit als identisch immer wieder selbst zu erfassende und sich ausweisende« [Husserl, Hua XI, § 37, S. 180], während die assoziative Weckung als deren vorbereitende Vorkonstitution »noch keine eigentliche Konstitution von Gegenständlichkeit, sondern nur ein Grundstück derselben« [ebd.] zustande bringt. Die Weckung führt demnach nicht unmittelbar zur Wiederkonstitution; sie konstituiert sie lediglich vor durch das »vage Assoziationsprinzip von Ähnlichkeit und Kontrast« [ebd.]. Erst die analytische Apperzeption verbürgt 361 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

demnach Evidenz und identifizierende Erkenntnis mit ihrer Aufklärung von Scheinbildern der Erinnerung in der vollständigen Veranschaulichung des habitualisierten Konstitutionszusammenhangs, der gegenüber die vorausgehende Assoziation als eine Gestalt der lediglich minder deutlichen, unklaren Vergegenwärtigung genau desselben Konstitutionsverhältnisses erscheint. Schon mit diesem methodischen Ansatz wird klar, dass die assoziative Weckung erkenntnistheoretisch mit den Maßstäben der Apperzeption gemessen und infolge dessen als ein privativer Modus der systematischen Konstitution bestimmt wird. Dieser konstitutionstheoretische Weg öffnet sich aber nur dann, wenn die Ähnlichkeitsassoziation selbst als eine Form der gegenständlichen, sukzessiven assoziativen Verbindung gedeutet werden kann. Das ist nun alles andere als selbstverständlich, wenn man nur der phänomenologischen Deskription des Weckungskontinuums folgt, welche die Wirkungsweise der assoziativen Kausalität enthüllt. Die assoziative Weckung verkörpert nach Husserl eine »erste Synthese«, die der »eigentlichen« Konstitution vorhergeht.158 Das Weckungskontinuum wird aufrecht erhalten durch die »affektive Kommunikation«. Sie beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeitsassoziation, insofern die Kausalität der Weckung grundsätzlich in der Übertragung von Weckungsenergie besteht, welche von ihrer Quelle, einem urimpressionalen Inhalt und seiner Kraft der Affektion, ausgeht und in der erinnernden, »rückstrahlenden« assoziativen Weckung auf andere Vorstellungsinhalte übergeht. Die durch die assoziative Weckung und ihre Kausalität gestiftete Synthese sieht demnach im Prinzip so aus, dass von einem urimpressionalen oder erinnerten Datum her ein mit ihm inhaltlich mehr oder weniger gleichartiges anderes Datum affiziert wird. »Von dessen affektiver Kraft geht nun, dieser Gemeinschaft [des Weckenden mit dem Geweckten, d. Verf.] zufolge, eine affektive Weckung zurück auf das Sinnesgleiche.« [Ebd., § 36, S. 176] Diese Struktur einer Synthesis des Weckenden und Geweckten nicht durch die Form der Sukzession, sondern die Inhalte – die Erinnerung wendet sich an das gehaltlich »Sinnesgleiche« – entspricht offenkundig der seit dem Empirismus geläufigen deskriptiven Klassifikation der Ähnlichkeitsassoziation als eine an die Ordnung der Sukzession 158 »Die erste Synthese, die durch die mit der Übertragung der affektiven Kraft gewonnene affektive Kommunikation ermöglicht ist, ist natürlich eben die der aktuell bewußt gewordenen Ähnlichkeit des Weckenden und Leervorstelligen, Geweckten, diese Ähnlichkeit in dem wesentlichen noematischen Modus des ›aneinander Erinnerns‹.« [Husserl, Hua XI, § 37, S. 180]

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2) Husserl, Herbart und Hume

nicht gebundene inhaltliche Verbindung.159 Husserl unterstreicht diese deskriptive Bestimmung noch dadurch, indem er unterstellt, dass die Assoziation durch Ähnlichkeit in der Übereinstimmung von vereinzelten inhaltlichen Merkmalen, kongruierenden »Brückengliedern«160 von ansonsten im Ganzen inkongruenten Synthesen der Erinnerung, besteht. Bliebe es nun bei dieser Definition, dann wäre die Ähnlichkeitsassoziation eine Form der ganz und gar freien und produktiven, weil durch keine geordnete und vergegenständlichende Konstitution gebundenen Metaphernbildung, die selbst für eine noch vage und undeutliche »Vorkonstitution« der apperzeptiven Wiederkonstitution untauglich wäre, eben weil sie überhaupt nur Inhalte, nicht aber auch die Form der Sukzession, wie sie retentional habitualisiert ist, in ihre Synthese von affektiv Weckendem und Geweckten einbringt. In der konstitutionstheoretischen Bestimmung geht es aber letztlich darum zu zeigen, wie diese durch die Weckung gestiftete inhaltliche Verbindung eine sukzessive Assoziation immer schon impliziert. Husserl setzt für den Nachweis eines solchen sukzessiven Sinnes zunächst bei dem deskriptiven Tatbestand an, wonach zur Synthese durch Ähnlichkeit eine Gradualität gehört: Die geweckten Erinnerungen können mehr oder weniger ähnlich oder unähnlich sein, und das wiederum lässt auf den Grad ihrer Verbundenheit, ihre Innigkeit und Festigkeit, schließen.161 Dieser Gedanke als solcher scheint zunächst einmal unverfänglich, insoweit er den Rahmen einer rein deskriptiven Analyse 159 Hume klassifiziert drei Prinzipien der Assoziation: durch Ähnlichkeit, Berührung sowie Ursache und Wirkung. Die Ähnlichkeit stiftet Einheit der Assoziation vornehmlich dort, wo ein Band der Sukzession wie bei der Berührung und der Kausalität zu fehlen scheint, wie in der sprunghaften, märchenhaften Erzählung, die aus einer Aneinanderreihung von lauter scheinbar völlig unzusammenhängenden wundersamen Ereignissen besteht, wie das Hume an verschiedenen Beispielen epischer Poesie wie etwa Ovids Metamorphosen oder Miltons Paradise Lost demonstriert. Vgl. Hume 1993, S. 24 ff. 160 »Jede Weckung geht von einer impressionalen oder schon unanschaulich oder anschaulich reproduzierten Gegenwart auf eine andere reproduktive Gegenwart. Diese Beziehung oder, wie wir sogleich sagen können, diese Syn­ these setzt ein ›Brückenglied‹ voraus, ein Ähnliches; von da aus wölbt sich die Brücke als eine spezielle Synthese durch Ähnlichkeit.« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 123] 161 Sowohl in Hinblick auf die Wahrnehmung wie auch die Erinnerung gilt: »Die stärkere Ähnlichkeit der Glieder bestimmt nämlich auch die Innigkeit, mit der die Paare selbst sich miteinander verschmelzen zur Einheit, der Einheit der Gruppe und der Gruppe der Gruppen.« [Husserl, Hua XI, § 28, S. 133]

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

nicht überschreitet. Das gilt allerdings nicht mehr für die konstitutionstheoretische, reduktionistische Auslegung, die sich bei Husserl an die Beschreibung des Sachverhalts anschließt. Dass die assoziativen Verknüpfungen graduell verschieden sind, was die Innigkeit der Verbindungen angeht, hebt schon Hume hervor. Die drei möglichen Formen der Assoziation – Ähnlichkeit, Berührung und Kausalität [Hume 1993, S. 25] – weisen durchaus nicht dieselbe verbindende Kraft auf. So zeichnet sich die kausale Assozia­tion mit der Stiftung einer Sukzession durch ihre größere Einheit und Geschlossenheit der Ähnlichkeitsassoziation gegenüber aus, was Hume beispielhaft durch den Vorzug der Prosa (der kausalen, sukzessiven und damit lücken­losen Verknüpfung der Ereignisse in der empirischen Geschichtsschreibung) vor der Poesie (der phantastischen Sprunghaftigkeit der epischen Dichtung) [vgl. ebd., S. 33] demonstriert. Es ist auch möglich, dass sich die verschiedenen Formen der Assoziation mit­ein­ander verflechten und auf diese Weise die Einheitlichkeit der ganzen Verbindung sich erhöhen oder ihre Auf‌lösung verhindert werden kann, wie im Fall von »Kontrast oder Widerstreit«, den Hume nicht als das Fehlen von Verbindung überhaupt, sondern »eine Verknüpfung zwischen Vorstellungen«, hervorgehend aus der »Mischung von Verursachung und Ähnlichkeit«, betrachtet [ebd., S. 25, Anmerkung]. In diesem Sinne kann Hume durchaus fordern, dass sowohl die Geschichtsschreibung wie auch die epische Dichtung auf die Leistung der kausalen assoziativen Verknüpfung nicht verzichten dürfen.162 Humes systematischer Ansatz bleibt jedoch deskriptiv und klassifikatorisch163, der die Verschiedenheit und damit unreduzierbare Eigenständigkeit der assoziativen Formen betont. Was ihm fern liegt, ist genau diejenige reduktionistische Interpretation der Fälle von Kontrast und Widerstreit, die auf das Fehlen sukzessiver Kontinuität in der assoziativen Verknüpfung hindeuten, wie sie schließlich Herbarts konstitutionstheoretische, genetische Erklärung vornimmt. Eine streng mechanistische Psychologie ist in ihrer Methode monis162 »Um zu dem Vergleich der Geschichte mit der epischen Dichtung zurückzukehren, so können wir […] schließen, daß eine gewisse in allen Schöpfungen erforderte Einheit in der Geschichte so wenig wie in jeder anderen fehlen darf; daß in der Geschichte die Verknüpfung der einzelnen Ereignisse, wodurch sie zu einem Ganzen vereinigt werden, die Beziehung von Ursache und Wirkung ist, die nämliche, welche die epische Dichtung beherrscht« [Hume 1993, S. 32]. 163 Hume geht es darum, »alle Prinzipien der Assoziation aufzuführen und zu ordnen« und den Nachweis, dass »diese Aufzählung vollständig sei und weiter keine Prinzipien der Assoziation beständen« [Hume 1993, S. 25].

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2) Husserl, Herbart und Hume

tisch, d. h. sie versucht die assoziative Kausalität und ihre Form der sukzessiven Synthesis als das ausnahmslose Wirkungsprinzip aller assoziativen Verbindungen nachzuweisen. Der mögliche Widerstreit in der assoziativen Verknüpfung, welcher auf eine Inhomogenität und zugleich fehlende sukzessiven Geschlossenheit hinweist, wird deshalb nicht mehr wie bei Hume als inhomogene Mischung zweier grundverschiedener Assoziationsprinzipien – Kausalität und Ähnlichkeit – deskriptiv analysiert, sondern als ein Mangel an Homogenität und Kontinuität zurückgeführt auf ein und dieselbe kausale Verknüpfung, die sich entweder vollständig oder unvollständig im Bewusstsein konstituiert. Wo Hume de­skribiert, rekonstruiert Herbarts Psychologie gemäß ihrer Methode der Aufweisung von »Beziehungen« in der Absicht, die »Mangelhaftigkeit der empirischen Auffassung« aufzubessern durch ihre »Ergänzung auf spekulativem Wege« [Herbart 1850, Bd. I, § 11, S. 31]. Diese spekulative Ergänzung besteht darin, die deskriptiv ausgewiesene Inhomogenität assoziativer Verknüpfungen mit dem Nachweis einer in ihnen lediglich verborgenen Homogenität der sukzessiven Verbindung aus der Mechanik der Hebung und Senkung der Vorstellungen vollständig zu erklären. In gegensätzlichen Vorstellungen kommen nach Herbart ihre einander widerstrebenden Kräfte zum Vorschein und somit eine kausalgenetisch wirksame dynamische Hemmung, die wiederum Ursache ist für die »Verdunkelung des Objekts, und Verwandlung der Vorstellung in ein Streben vorzustellen« [ebd., § 39, S. 136 f]. In Herbarts genetischer Rekonstruktion wird das Bewusstsein des Widerstreits zum Zeichen für eine »Lücke« in der Sukzession, die es zu schließen gilt, insofern sie den Hinweis gibt auf eine Hemmung in der Verschmelzung und damit einen dynamischen Prozess der »Verdunkelung« der Vorstellung, einer Verdrängung von Elementen der Sukzession ins »Dunkel« des Unbewussten, die als verdrängte Vorstellungen wiederum danach streben, ans »Licht« zu kommen, indem sie zur Schwelle des Bewusstseins vordringen und sie schließlich auch übertreten, wenn diejenige die Verdrängung verursachende Hemmung mehr und mehr nachlässt und schließlich ganz verschwindet. Husserls Auslegung der Ähnlichkeitsassoziation folgt hier ganz offensichtlich nicht Humes Deskription, sondern Herbarts reduktionistischer und genetisch-dynamischer Interpretation in der erkenntnistheoretisch motivierten Absicht, im inneren Zeitbewusstsein die retentional habitualisierte Sukzession als universelles Prinzip der Konstitution, als »die Urstätte der Konstitution von Identitätseinheit 365 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

oder Gegenständlichkeit« [Husserl, Hua XI, § 27, S. 128] generell auch für alle assoziativen Synthesen nachzuweisen. Die assoziativen Verbindungen werden vor diesem Hintergrund als Synthesen der Identi­ tät gedeutet und infolgedessen die Ähnlichkeit als eine Form der graduell abgestuften, unvollkommenen Gleichheit. Ähnlichkeit bedeutet eine Form von Heterogenität in einer an sich homogenen Verbindung, eine Verwandtschaft »in geringerem Grade, eine Ähnlichkeit, die hinter der Gleichheit zurückbleibt« [ebd., § 28, S. 130]. Diese Betrachtung der Ähnlichkeit als eine Form von unvollkommener Gleichheit unterstellt bereits, dass ihre Synthesis durch eine Form der vergegenständlichenden, identifizierenden Reproduktion zustande kommt. Die Identifizierung geschieht in der assoziativen Weckung zwar mit Hilfe eines »Brückengliedes«, also durch ein einzelnes Erinnerungsmerkmal. Doch ist nicht diese synthetisierende Metaphernbildung das Konstitutionsprinzip der Assoziation, sondern eine intentionale Vergegenständlichung. Husserl interpretiert die Verbindung durch Ähnlichkeit als eine Deckung nicht nur von Einzelheiten, sondern zweier auf das Gegenständlich-Ganze ausgerichteten Intentionen, die nur unvollständig und nicht etwa – wie bei der idealen Gleichheitsdeckung – vollständig kongruieren. Demnach kann die Synthesis durch Ähnlichkeit über die bloße Metaphernbildung hinaus als ein Gegenstände konstituierendes Bewusstsein rekonstruiert werden, so, als käme sie durch einen Gleichheit herstellenden Vergleich, eine »Überschiebung« der ihr zugrunde liegenden gegenständlich ausgerichteten Inten­tio­ nen, zustande164, der im Falle der bloßen Ähnlichkeit lediglich eine Ungleichheit in der Gleichheit, eine Inkongruenz, enthüllt: »Im Vergleichen findet eine Art Überschiebung des einen Bewußtseins über das andere statt, […] als Bewußtsein vom selben ersten Gegenstand […] kommt [es] mit dem zweiten Bewußtsein, dem von dem zweiten Gegenstand, zu einer Deckung, im Fall der Gleichheit zu einer Kongruenz.« [Ebd.] Im anderen Falle »bloßer Ähnlichkeit« wird diese kongruente »Überschiebung« und »Synthese durch Homogenität« lediglich »gehemmt […] durch eine Auseinanderhaltung, Kontrastierung« [ebd., S. 131], und dieser Hemmung entspricht einerseits im intentiona164 Husserl betont zwar, dass genetisch die Synthesen der Gleichheit »schon vor der Vergleichung« [Husserl, Hua XI, § 28, S. 132] gegeben sind. Doch ist die Vergleichung eine »explizierende Vergleichung« [ebd.], die demnach die Funktion einer – explizierenden – Entwicklung hat und somit methodisch die Form enthüllt, in der die Synthese der Homogenität, Gleichheit und Ähn­lich­ keit ursprünglich konstituiert wird.

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len Bewusstseinserlebnis ein »Widerstreit« und andererseits im rekonstruierten Konstitutionszusammenhang der assoziativen Weckung ein dynamisches Verdrängungsgeschehen: »In der Vergleichung von Ähnlichen finden wir zweierlei sich abhebend, synthetische Deckung in einem Gemeinsamen, also Selben, und doch synthetischen Widerstreit der sich in der Überdeckung wechselseitig verdrängenden Besonderungen dieses Gemeinsamen. Das Verdrängen besagt, daß eins das andere verdeckt, daß das Verdeckte zur Aufdeckung tendiert, durchbrechend dann das vordem Aufgedeckte verdeckt usw.« (Ebd., S. 130] Die statische Betrachtung in den Logischen Untersuchungen hatte fiktionale Gegenstände als Synthesen bestimmt, die eine »Unverträglichkeit« enthalten in Form eines Widerstreites in der komplementären Ergänzung der Vorstellungen.165 In der genetischen Phänomenologie der Assoziation wird daraus eine »sozusagen kinetische Betrachtung« [ebd.], welche die unverträgliche Synthesis kausalgenetisch durch eine Auslösungsdynamik der assoziativen Weckung dynamisch reinterpretiert. Die Übereinstimmungen mit Herbarts genetischer Psychologie zeigen sich hier geradezu überdeutlich. Widerstreit und Kontrast werden genetisch-phänomenologisch auf eine Hemmung der assoziativen Verbindung166 zurückgeführt, die wiederum mit einer Verdrängung von Vorstellungselementen aus dem Bewusstsein verknüpft ist mit der dazu gehörenden entgegengesetzten Tendenz, wonach die ins Unbewusste abgedrängten Elemente wiederum ein Streben entwickeln, sich erneut ins Bewusstsein zu drängen. Husserl ersetzt lediglich das, was bei Herbart dem anonymen Geschehen einer »Verdunkelung« der Vorstellungen und der ihm korrespondierenden Strebungstendenz zur Wiederkonstitution entspricht, durch eine dem Bewusstsein selber präsente und durchsichtige Form der perspektivischen »Verdeckung« und Aufdeckung des Verdeckten. Damit wird dem strikten Cartesianismus der phänomenologischen Reduktion Rechnung tragend die Bewusstseinsimmanenz der kausalen, assoziativen Verdichtung herausgestellt – wiederum mit einer Bestimmung des Unbewussten als Schwellenphänomen des Bewusstseins, gestützt auf eine konstitutiv entwicklungsfähige intentionale Verweisung. 165 Vgl. dazu das vierte Kapitel der VI. Logischen Untersuchung mit dem Titel »Verträglichkeit und Unverträglichkeit«, § 30 ff [Husserl, Hua XIX, 2, S. 632 ff]. 166 »Die weckenden Kräfte können sich wechselseitig verbinden, aber auch hemmen«. Die »Frage der Verstärkung und Hemmung assoziativer Weckungen« erfordert deshalb eine phänomenologisch »natürlich grundlegende Unter­ suchung« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 192].

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

In dieser dynamisch-konstitutionstheoretischen, »kinetischen« Betrachtung ändert sich die Auffassung der Assoziation grundlegend gegenüber den Deskriptionen und Klassifikationen des Empirismus. Rein deskriptiv vollbringt die Ähnlichkeitsassoziation eine Synthesis der Vorstellungen durch ihren Vollzug, die an der entstandenen Verbindung gleichsam abzulesen ist als eine Form der produktiven Metaphernbildung. Wird die Assoziation nun nicht bewegungsdynamisch und produktiv, sondern intentional und reproduktiv-auslösungsdy­ namisch in einem Konstitutionsverhältnis aufgehoben, dann bringt sie die Synthesis nicht wirklich vollzugsmäßig hervor, sondern nimmt auf sie als ein gegenständlich Gegebenes lediglich vergegenwärtigend Bezug in Gestalt einer immer schon vorgegebenen Ordnung, die sie durch einen Vollzug der Konstitution, eine wenn auch noch so vage intentionale Veranschaulichung eines zunächst Unanschaulichen und leer Vermeinten, ursprünglich bewusst macht. Entscheidend für den Konstitutionstheoretiker ist, dass in der Assoziation »die konkrete Ordnung als schon vorliegend [zu] beschreiben« ist [Husserl, Hua XI, § 29, S. 134]. Die der assoziativen Weckung zugrunde liegenden Ordnungsverhältnisse zu rekonstruieren, um zu zeigen, wie sie sich jeweils als Bewusstseinsphänomene konstituieren, wird nicht zuletzt deshalb zur methodischen Leitidee, als dieser Vollzug der Konstitution einmal mehr den idealen Limes der vollständigen Veranschaulichung des gegebenen Gegenstandes – hier der kongruenten Gleichheit in der inkongruenten Ähnlichkeitsdeckung – und damit die Möglichkeit einer Restitution der identifizierenden Erkenntnis impliziert. Husserl unterscheidet als grundlegende Ordnungsprinzipien der reproduktiven assoziativen Weckung die Koexistenz, die simultane Synthesis der Wahrnehmungsassoziation, sowie die in der assoziativen Erinnerung wirksame Sukzession.167 Sukzession und Koexistenz unterliegen jedoch im Prinzip denselben Gesetzen assoziativer und reproduktiver Kausalität, einer auslösenden »Weckung« durch die sukzessive Übertragung von affektiver Weckungsenergie von einer Vorstellung auf die andere, sodass sie von Husserl als analoge Ordnungen der Konstitu-

167 Auf die noch nicht reproduktive Retention als ein Horizontbewusstsein der Simultaneität baut sich die reproduktive assoziative Weckung als »eine höher­ stufige Synthese« auf. »Was durch diese Synthesen universal konstituiert ist, ist bekannt unter dem Titel Koexistenz und Sukzession aller immanenten Gegenstände in Beziehung aufeinander.« [Husserl, Hua XI, § 27, S. 125]

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2) Husserl, Herbart und Hume

tion betrachtet werden, die sich in ihrer Wirkungsweise wechselseitig erklären können.168 Was »statisch vorliegt als Gleichheits- und bloß Ähnlichkeitsverbindung«, rekonstruiert die genetische Betrachtung als »Deckung par distance« und im besonderen Fall der Ähnlichkeitsassoziation gehemmte »Verschmelzung in Distanz« [Husserl, Hua XI, § 28, S. 131], was auf eine im Kontinuum der assoziativen Weckung und Verschmelzung immer schon wirksame sukzessive Sonderung durch die Reproduktion, »die kinetische Form eines Übergangs von Glied zu Glied« [ebd.], hinweist. Die Ähnlichkeitsdeckung als eine Form von Ungleichheit in der Gleichheit ist dem entsprechend eine »Ähnlichkeit unter Abstand« [ebd., S. 132], eine Überschiebung im Sinne der »bloßen Ferndeckung« [ebd., § 33, S. 157] – also eine gehemmte Verschmelzung in dem Sinne, dass die Ordnung der Sukzession und Koexistenz, so wie sie im Bewusstsein konstituiert ist, hier keine Distanzen durch ein Kontinuum der Verschmelzung mehr überbrückt, vielmehr intermittierend169 unausgefüllte Abstände – »Lücken« – aufweist. Die Sprunghaftigkeit der diskontinuierlichen assoziativen Weckung in der Fern­ erinnerung wird so schließlich infolge der Konstitutionsbestimmung und ihres Ordnungsbezugs durch das »Urphänomen« der Unordnung in der Ordnung170 begriffen und damit als eine Form der mangelhaft geschlossenen, nur lückenhaften sukzessiven Verbindung rekonstruiert. Das »Problem der Ordnungseinheit« und damit zusammenhängend »das Problem der Kontinuität als kontinuierlicher Ordnung« [ebd., § 29, S. 133] und seine Klärung bildet somit das Fundament einer 168 Auf die analogen Konstitutionsverhältnisse von Koexistenz und Sukzession rekurriert Husserl mehrfach: »Was wir [für die Koexistenz solcher im Bewusst­ sein abgehobener Komplexe von Sinnesdaten, d. Verf.]} ausgeführt haben, gilt auch, wo in der Einheit der strömenden Lebensgegenwart sich Sukzessionen gesonderter Gegenstände konstituiert haben, und zwar als Sukzessionen gleicher oder ähnlicher Gegenstände bzw. Vorgänge.« [Husserl, Hua XI, § 28, S. 131] »So wie in der Koexistenz Anschauung mit Anschauung […] nicht nur in stetiger lokaler Angrenzung einig wird, sondern auch eine Synthese der Deckung in Distanz wesensmäßig statthat […], so auch, wenn wir in die Sukzession übergehen« [Husserl, Hua XI, § 36, S. 175]. 169 Mit Blick auf die Modalisierung der Evidenz in der Fernerinnerung bemerkt Husserl: »Denn wir wissen ja, daß die Wiedererinnerung wesensmäßig in ihrer Klarheit schwanken, auch intermittieren kann.« [Husserl, Hua XI, § 25, S. 112] 170 Nicht nur die Ordnung als »ein Homogenitätsphänomen« ist ein »Urphänomen« der Konstitution, sondern auch die Unordnung wie schließlich auch die Stei­ gerungs­reihe der zunehmenden Ordnung, durch die sich die Unordnung in der assoziativen Verbindung auf‌löst. Vgl. dazu Husserl, Hua XI, § 29, S. 134.

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

Phänomenologie der Assoziation, deren höchst verwickelte Analysen und Rekonstruktionen letztlich dem einen und selben idealen Ziel der Erkenntnisbegründung dienen, dem Nachweis einer Möglichkeit der »Wiederkonstitution« auch in der Fernerinnerung, die sich zwar erst in der apperzeptiven Analyse durch die Akte der ausdrücklichen Wiedererinnerung konkret entwickelt, sich aber bereits durch die assoziative Weckung »vor«-konstituiert. Die Rekonstruktion des im eigentlichen Sinne apperzeptiven Restitutionszusammenhangs gründet sich so ursprünglich auf die idealisierende und reduktionistische Betrachtung der Ähnlichkeitsassoziation. Ausgehend von Sukzession und Koexistenz als den idealen Ordnungseinheiten der Konstitution werden die Gradualitäten der Ähnlichkeit, die zunächst einmal rein inhaltliche Beziehungen der Verwandtschaft verkörpern, nun formal bestimmt als mehr oder weniger geordnete oder ungeordnete Verbindungen. Schon in der VI. Logischen Untersuchung hatte Husserl die »statische« Deckung der Identifizierung durch die dynamische interpretiert, um zu zeigen, dass sie keine ungeschiedene Einheit, sondern wirklich eine Deckungssynthese, die »auseinandertretende Zweiheit« [Husserl, Hua XIX,2, § 9, S. 71] eines Aktes der Intention und seiner veranschaulichenden Erfüllung171, enthält. Entsprechend wird die Ähnlichkeit nun als eine assoziative Paarbildung verstanden, welche die auf Gleichheit ausgerichtete Intention in einer kontinuierlichen Steigerungsreihe des sich immer mehr angleichenden Ähnlichen annähernd erfüllt. Das Erfüllungsziel der Gleichheit besteht darin, die Deckung vollständig kongruent zu machen dadurch, dass ausnahmslos alle Elemente zu Teilen der geordneten Synthesis werden und nicht wie bei der inkongruenten Ähnlichkeitsdeckung einige außerhalb der Ordnung verbleiben. Zur Ähnlichkeit als einer dynamischen ­Deckung der Annäherung an die ideale Gleichheit172 »gehört nicht bloß überhaupt Paarbildung durch Ähnlichkeit, sondern eine besondere Ähnlichkeit, die da Steigerung heißt« [Husserl, Hua XI, § 29, S. 134]. Nimmt die Ähnlichkeit in der Deckungssynthese zu, so bedeutet das eine Steigerung der »bindende[n] Kraft in der aufsteigenden Verkettung« [ebd.]. Rein deskriptiv liegt darin zunächst nicht mehr, als dass 171 Vgl. Husserl, Hua XIX,2, § 10, S. 572. 172 »Man kann bemerken, daß die Deckung in einer Steigerung, obschon sie keine Gleichheit ist, doch eine besondere Innigkeit hat« [Husserl, Hua XI, § 29, S. 134] – eben die der kontinuierlichen Annäherung an den idealen Limes der Gleichheit.

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eine Ähnlichkeitsassoziation durch eine andere ersetzt wird, die sich durch ihre Qualität der Verbindung – die größere Verwandtschaft des inhaltlich Assoziierten – unterscheidet. Diese Ersetzung impliziert als solche noch keinerlei Kontinuität einer sukzessiven Steigerungsreihe, die in der Synthesis verankert wäre. Die ergibt sich erst aus Husserls idealisierender konstitutionstheoretischer Auslegung, welche die größere Verwandtschaft formal und quantitativ und nicht inhaltlich und qualitativ bestimmt als eine »Mehrung« der Steigerung173 im Sinne einer sukzessiven Vermehrung von geordneten Verbindungen gegenüber den ungeordneten in der sich wiederholenden identifizierenden Reproduktion immer derselben gegenständlich gegebenen Synthesis – mit Husserls Worten einer kontinuierlichen, sukzessiven »Verkettung von Steigerungspaaren in der Einheit einer sich in der Wiederholung erhöhenden Steigerung« ([ebd. S. 135]. Damit wird es schließlich möglich, die diskontinuierliche assoziative Weckung in der Fernerinnerung als eine Vorstufe und damit Vorkonstitution der apperzeptiven »Wiederkonstitution« und ihrer Form der kontinuierlichen Entwicklung anzunehmen durch ihre lediglich unvollständige und im Prinzip zu vervollständigende Veranschaulichung von geordneten Verbindungen der habitualisierten Retention, jenes »Urphänomen[s] der Sukzession« als der »urordnende[n] Leistung des Zeit konstituierenden Bewußtseins« [ebd.].

3)

Schwingende Vorstellungen an der Bewusstseinsschwelle. Apperzeptive Restitution als sukzessive Auf‌lösung simultaner Assoziationen

Für Husserl gilt »das Gesetz: Wiedererinnerungen können nur durch Weckung von Leervorstellungen entspringen« und sich so überhaupt nur »als Folgen von Leervorstellungen einstellen« [Husserl, Hua XI, § 38, S. 180]. Die assoziative Weckung unterscheidet von der apperzeptiven Erinnerung, dass sie nicht bloß Leervorstellungen weckt, sondern den Charakter einer Leervorstellung der Sukzession ihrerseits behält, eine Leere, die wiederum von der Apperzeption in die Fülle einer Anschauung umgewandelt wird, wodurch sich eigentlich erst eine Gegenständlichkeit im Bewusstsein intentional »wieder«-kons173 »In der Mehrung, der Steigerung liegt aber offenbar eine besonders bindende Kraft in der aufsteigenden Verkettung« [Husserl, Hua XI, § 29, S. 134].

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tituieren kann. Im Falle nicht der idealen Gleichheit, sondern der in der realen Wirklichkeit der Erinnerung in der Regel vorfindlichen inkongruenten Ähnlichkeitsdeckung führt die Weckung nur zu einem privativen Modus der Veranschaulichung, dem es noch an der Leistung der vergegenständlichenden Wiederkonstitution mangelt, einen Zustand, den Husserl metaphorisch als »Entnebelung« bezeichnet.174 Der durchsichtig gewordene undurchsichtige Nebel deutet sowohl hin auf einen Modus der minder klaren und deutlichen Evidenz als auch eine nicht direkte Veranschaulichung der retentional habitualisierten Sukzession wie im Falle der Apperzeption, sondern die nur indirekte Vergegenwärtigung der sukzessiven Verbindung in einer Simultan­ erfassung durch die assoziative Weckung. Die Weckung interpretiert Husserl als eine, die nicht nur zwei isolierte Vorstellungen – das Weckende und das ihm ähnliche Geweckte – zusammenbringt, sondern mit ihr den ganzen Zusammenhang der Erinnerung: »Wir bemerken aber, daß dieses Ähnliche nicht isoliert bleibt; in gewisser Weise ist das ganze Vergangenheitsbewusstsein mitgeweckt, aus dem sich die besonders geweckte und reproduzierte Einzelheit abhebt.« [Ebd., § 26, S. 122] Das heißt aber, dass auch diejenige, den Zusammenhang aller einzelnen Erinnerungen ursprünglich konstituierende Ordnung der Sukzession assoziativ immer schon mit reproduziert wird, wenn auch zumeist nur in Form einer bloßen Leervorstellung im Sinne des bestimmt gerichteten intentionalen Verweisungs- und Horizontbewusstseins.175 Das Weckungsbewusstsein ist zwar reproduktiv, doch bildet sich seine Synthesis affektiv. Einheitlich affizieren kann die assoziative Paarung aber nur dann, wenn sie gleichzeitig in einer Simultanerfassung der reproduzierten Glieder gegeben ist.176 Deshalb ist die retentionale Sukzession in der assoziativen Weckung zunächst gegeben in einer Verbindung, welche »die Gleichzeitigkeit der Gegen174 In der Fernsphäre der Erinnerung geht zwar die »affektive Weckung zurück in das Sinnesgleiche«, bringt es nach Husserl jedoch »nicht etwa zur Anschauung, aber doch zu einer Entnebelung« [Husserl, Hua XI, § 36, S. 176]. 175 »Wir finden allerdings, daß die Weckung oft nicht zu anschaulicher Erin­ nerung führt, aber dann zu einer Leervorstellung, die bestimmt gerichtet ist« [Husserl, Hua XI, § 26, S. 122]. 176 Diese Simultanerfassung wird von Husserl wiederum nicht als eine pro­ duktive Synthesis verstanden, sondern im Sinne der Konstitution als eine, die ein Vorgegebenes, Gegenständliches vergegenwärtigt: »Das gleichzeitig Gesonderte affiziert eventuell einheitlich oder kann einheitlich affizieren, weil es verbunden ist, und es ist nicht verbunden, weil es zusammen affiziert.« [Husserl, Hua XI, Beilage XIV, S. 390]

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stände konstituiert«, einer von Husserl ausdrücklich so genannten »Gleichzeitigkeitsassoziation« [ebd., Beilage XIV, S. 390]. Das ist nun kein Widerspruch zum reproduktiven und sukzessiven Charakter der assoziativen Verbindung, als sich die Sukzession hier nicht in einer reproduzierenden Anschauung konstituiert, was die Simultanerfassung in der Tat aufheben würde, sondern im »Nebel« einer Leervorstellung, einem Horizontbewusstsein der bestimmt gerichteten intentionalen Verweisung, das mit den jeweils sukzessiv reproduzierten, anschaulich gegebenen Inhalten simultan verknüpft ist. Mit dem Übergang von der assoziativen zur apperzeptiven Erinnerung kommt es deshalb zur Auf‌lösung des »Nebels« einer undeutlichen und vagen Simultanerfassung der Sukzession durch ihre direkte Veranschaulichung in der sukzessiven Reproduktion. In der Wiederkonstitution gibt es demnach nur noch eine sukzessiv gesonderte und damit die Identifizierung und Reproduktion von Erkenntnissen sicherstellende geordnete Verbindung der Vorstellungen. Sie setzt allerdings die vollständige Auf‌lösung der assoziativen Simultanerfassung voraus, die sich in dieser Form aber nur im begrenzten Bereich der Naherinnerung vollziehen kann. In der Fernerinnerung beinhaltet die assoziative Weckung die Verdichtung des Anschauungsgehalts und damit verbunden die Umwandlung der im intentional gerichteten Horizontbewusstsein implizit enthaltenen Sukzession in einen völlig ungerichteten Leerhorizont des Unbewussten. Die Apperzeption und Wiederkonstitution, die in der Fernsphäre der Erinnerung auf eine solche Leerweckung zurückgreifen muss, sodass sie eine assoziativ vorkonstituierte Sukzession nicht mehr direkt reproduzieren und veranschaulichen kann, muss deshalb den Charakter der Simultanerfassung, der die assoziative Reproduktion auszeichnet, behalten. So bildet sich in der veranschaulichenden Reproduktion der Fernerinnerung eine zwar nicht gegenständlich erfassbare, aber dafür in der »kinetischen Form« einer Bewegung, einer quasi-simultanen schwingenden Vorstellung, zum Vorschein kommende Sukzession, weswegen die apperzeptive Wiederkonstitution der ursprünglich gegenständlich konstituierten sukzessiven Ordnung hier gleichsam den Umweg machen muss über die Auf‌lösung dieser schwingenden Vorstellung mit Hilfe einer aufklärenden Analyse und restituierenden Entwicklung. Die Grenzen, die dem menschlichen Geist nach John Locke gesetzt sind, zeigen sich nicht zuletzt in der Form seines Gedächtnisses. Aus der Allwissenheit Gottes lässt sich schließen, dass er alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Gedanken simultan im Geiste 373 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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präsent zu halten vermag. Der menschliche Geist sieht sich gern als Abbild des göttlichen und verweist deshalb auf das außergewöhnliche Genie von Pascal, der mit einer solchen göttlichen Gabe der Allwissenheit in menschlich möglicher Gestalt einer simultanen Gedächtnisleistung gesegnet scheint. Pascal sagte man nach, auf wunderbare Weise »nichts von alledem vergessen [zu] habe[n], was er irgendeinmal in seinem verständigen Alter getan, gelesen oder gedacht hatte«. Doch bleibt auch das Gedächtnis Pascals letztlich »in die Schranken gebannt, die nun einmal dem Menschengeist auf Erden gesetzt sind und die darin bestehen, daß er eine große Fülle verschiedener Ideen nur nacheinander, nicht nebeneinander haben kann« [Locke, Bd. 1, S. 175]. In ihrer Rekonstruktion der nicht einfachen, sondern gestuften Genese der Wiederkonstitution vollzieht die genetische Phänomenologie Lockes metaphysische Einsicht nun konstitutionstheoretisch fundiert gewissermaßen nach. Die Simultanerfassung des Zusammenhangs der Erinnerungen, die in der assoziativen Reproduktion noch möglich ist, vermag sich in der Apperzeption nicht einfach fortzusetzen, wo sie sich vielmehr in eine sukzessive Reihe von einzelnen Akten der reproduzierenden Wiedererinnerung notwendig auf‌löst. Husserls differenziertes Stufenschema der »Genesis der Reproduktionen«, der urimpressionalen affektiven Weckung, als erster Stufe, der »rückstrahlenden«, reproduktiven assoziativen Weckung als ihre fortsetzende zweite und schließlich der apperzeptiven, reproduktiven Wiedererinnerung als dritter Stufe [Husserl, Hua XI, § 38, S. 180 f] ist als leitende Idee für die Rekonstruktion des vollständigen Konstitutionszusammenhangs in den konkret durchgeführten Analysen allerdings nicht immer in der Weise präsent, wie es eigentlich wünschenswert und methodisch erforderlich wäre. Besonders die zweite und dritte Stufe der im engeren Sinne reproduktiven Leistungen der genetischen Konstitution werden von Husserl zumeist als eine zusammenhängende Einheit betrachtet. Der sachliche Grund dafür ist, dass Husserls ausgeführte Analysen die assoziativen Weckung, »welche verdunkelte Leervorstellungen wieder verdeutlicht« und den »Übergang solcher geweckten Leervorstellungen in reproduktive Anschauungen« [ebd.] in der Apperzeption als kontinuierliche Abwandlungen ein und derselben Leistung der reproduktiven Veranschaulichung betrachten, die sich nur graduell in ihrer Klarheit und Deutlichkeit unterscheiden, dabei aber nicht auf ihre grundverschiedene Form der intentionalen Vergegenwärtigung Rücksicht nehmen. Die Folge davon ist eine fehlende eindeutige systematische Zuordnung des Ursprungs der schwingenden 374 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Vorstellung in der genetischen Rekonstruktion. Husserl macht nicht wirklich klar, ob die »schwingende« Dynamik der Verdrängung und des Durchbruchs der Assoziation oder der Apperzeption zuzurechnen ist.177 Die Eindeutigkeit der systematischen Zuordnung in der »Genesis der Reproduktionen« kann hier aber erreicht werden, wenn die asso­zia­tive »Entnebelung« von der eigentlichen »Veranschaulichung« durch die Apperzeption intentional unterschieden und damit – wie bereits angezeigt – nicht ihre Kontinuität, sondern Diskontinuität unterstrichen wird im Sinne verschiedener Stufen der Umwandlung der simultanen in eine sukzessive Erfassung des retentionalen Zusammenhangs. Husserls Rekonstruktion der schwingenden Vorstellung leitet zunächst der Versuch der Wiedergewinnung einer ursprünglichen intentionalen Sinngebung. Es geht um die Klärung der Frage, wie »Schein, Irrtum, Nichtigkeit« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 193] in der Konstitution entstehen durch die Verwandlung von Einstimmigkeit in Unstimmigkeit des Sinnes. Die Fiktionalität von Scheinbildern der Fernerinnerung wird deshalb zunächst einmal rein intentional als eine Synthesis der »Unverträglichkeit« [ebd., S. 197] bestimmt, die auf einem Widerstreit in der Sinngebung beruht, der immer schon die Intention seiner Aufhebung in eine mögliche einstimmige Erfassung impliziert. Das, was hier generiert wird, ist zwar ein intentionaler Sinn, die Genese selbst aber eine Form der kausalgenetischen Reproduktion. Entsprechend werden Widerstreit und Unverträglichkeit in ihrer Entstehung nun »kinetisch« betrachtet als beruhend auf einer dynamischen Hemmung und der sich daran anschließenden Verdrängung von bewussten Vorstellungen in das Unbewusste. Die schwingende Vorstellung wird 177 Husserl rekonstruiert die schwingende Vorstellung zunächst in der asso­zia­ tiven Weckung, konstatiert dann aber eine Analogie mit der apperzeptiven Ver­­an­schaulichung, so als unterschieden sich Assoziation und Apperzeption lediglich durch die größere oder geringere Deutlichkeit der Strukturen, nicht aber die Form ihrer Verbindung. So heißt es mit Blick auf den Wettstreit von Verdrängung und Durchbruch: »In noch höherem Maße gilt dasselbe, wo von vornherein zwei Reproduktionen in Frage stehen.« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 194] Die Rekapitulation in der folgenden Vor­lesung [ebd., S. 195 ff] be­g innt dann gleich so, als handele es sich bei der Schwingung von vornherein nicht um ein assoziatives, sondern apperzeptives Bewusstsein der aus­­drücklichen Wiedererinnerung im Sinne der dritten Stufe der »Genesis der Reproduktionen«, einer »reproduktiven Anschauung«, hier ver­ wickelt in den Streit zweier Wiedererinnerungen, von »Anschauung« und »Gegenanschauung« [ebd., S. 198].

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von Husserl rekonstruiert in der methodischen Absicht, wie die auf der Ebene der reinen Sinngebung im Rahmen der »statischen« Betrachtung im Voraus festgestellte Unverträglichkeit genetisch zustande kommt, weswegen Husserl unterstellt, dass die für die Entstehung der Schwingung verantwortlichen Reproduktionsbedingungen bereits eine Inkonsistenz enthalten müssen. Diese kausalgenetische Inkonsistenz ergibt sich aus der simultanen Reproduktion eines ursprünglich sukzessiven Reproduktionszusammenhangs der Vorstellungen. Ihre Ursache ist die Ähnlichkeitsassoziation, die der mangelnden Veranschaulichung des retentional habitualisierten Zusammenhangs der Erinnerungen wegen das in der Sukzession Getrennte und weit Ausein­ anderliegende zusammen erfasst, indem »mehrere zu verschiedenen Stellen dieser Ordnung gehörige Retentionen vermöge Gemeinsamkeiten zusammen geweckt werden« [ebd., S. 194]. Das, was sich ursprünglich im Nacheinander konstituiert hat, wird demnach gleichzeitig geweckt, was nicht nur die Möglichkeit der eindeutigen Identifizierung des Gegebenen in der Ordnung der Sukzession aufhebt, sondern überhaupt mit den Konstitutionsbedingungen der Reproduktion nicht im Einklang zu stehen scheint. Die Reproduktion und Wiederkonstitution veranschaulicht die Retention, deren Form der Konstitution in der kontinuierlichen Abwandlung des ursprünglich anschaulichen urimpressionalen Datums in eine Leervorstellung besteht. Diese zunehmende Entleerung der Anschauung muss die reproduzierende Wiederkonstitution letztlich nachvollziehen: Diejenige Erinnerung, die durch eine größere Zeitdistanz von der aktuellen Wahrnehmungsgegenwart getrennt ist, kann nicht mit derselben Lebendigkeit der Anschauung in der Erinnerung reproduziert werden. Die simultane assoziative Weckung nivelliert nun genau diese Unterschiede der Zeitdistanz, indem solche in der Sukzession getrennten Objekte nicht in verschiedener, sondern »in gleicher Kraft« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 193 der Anschauung zur Abhebung gelangen. Das aber widerspricht der Individuation, die mit der retentionalen Habitualisierung als der ursprünglichen Form der Konstitution verbunden ist. Die Individuation ist einmalig und unwie­ derholbar, im »starren Formensystem« der Retention kann jedes Datum überhaupt »nur einmal konstitutiv fungieren«, das System immer »nur einmal ausgefüllt sein, nämlich in voll anschaulicher, wirklicher Konstitution« und damit auch im Bewusstsein »nur einmal ursprünglich erlebnismäßig gegeben« sein [ebd., S. 194]. In der Reproduktion spiegelt sich diese Individuation, insofern der Grad der anschaulichen 376 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Präsenz mit zunehmendem Abstand des retentional Habitualisierten von seinem Ursprung, der »Urstiftung« des Bewusstseinserlebnisses in der urimpressionalen Gegenwart, abnimmt. Deshalb können in der Reproduktion zwei verschiedene retentionale Abwandlungen, die durch die Sukzession getrennt sind, »nie zugleich zu voll anschaulicher Wiedererinnerung kommen« [ebd.], weil sonst der Unterschied von Ursprünglichem und Abgeleitetem im konstituierenden Erlebnis nicht mehr nachzuvollziehen und damit die strenge Individuation der im Prinzip einmaligen und unwiederholbaren Konstitution in der Wiederkonstitution aufgehoben wäre: Das Unwiederholbare würde in der Aufhebung jeglicher Zeitdistanz in einer simultanen Reproduktion des Sukzessiven wiederholbar. Dass sich die retentional habitualisierte Sukzession auch in der Fernerinnerung unmöglich auf‌lösen kann, belegt schließlich die Konstitution der nicht wirklich simultanen, sondern nur quasi-simultanen schwingenden Vorstellung. Haben zwei »Erinnerungen von vorn­ herein die gleiche affektive Kraft, so tritt ein Wettstreit ein« zwischen den Reproduktionen [ebd.]. Es werden nicht wirklich zwei Anschauungen gleichzeitig reproduziert, sondern in »einem Wechsel, Umspringen der einen in die andere Anschauung« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 196] machen sich die Reproduktionen ihren Platz im Bewusstsein gegenseitig streitig. Die Simultaneität besteht also keineswegs in einer Verschmelzung der Anschauungen zu einer gegenständlichen Einheit, die vollständig im Bewusstsein präsent wäre, sondern dem unaufhörlichen Hin und Her einer schwingenden Vorstellung, der Verbindung einer »Anschauung« mit einer »Gegenanschauung« annähernd gleicher Kraft, welche, indem sie ins Bewusstsein durchbricht, die Gegenanschauung hemmt und unter die Bewusstseinsschwelle drückt: Es genügt »der mindeste Vorzug reproduktiver Kraft, die der einen oder vielmehr ihrer Vorstufe, der erweckten Retention, zuteil wird, sie zur wirklichen Anschauung durchbrechen lassen, wodurch die Gegenanschauung unterbunden und heruntergedrückt wird« [ebd.]. Verlagert sich in der Wiederholung der Reproduktion die minimal stärkere Energie der Weckung auf die Gegenanschauung, dann kommt es zu jenem »Wechsel« und sukzessiven »Umspringen«, welche die schwingende Vorstellung in Gang setzt. Husserl scheint davon auszugehen, dass sich diese Schwingung zuerst in der assoziativen Weckung konstituiert. Die »weckenden Kräfte« unterliegen den dynamischen Gesetzen der Verschmelzung und Hemmung [Husserl, Hua XI, § 42, S. 192]. So betrachtet Husserl 377 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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die »Ähnlichkeitsüberschiebung« nicht nur als »reine Verschmelzung und Einheitsbildung, sondern Einheit als Voraussetzung, als Boden einer Verdeckung, und damit von Verdrängung und Durchbruch« [ebd., § 28, S. 131]. Es ist aber nicht wirklich einleuchtend, warum es bereits in der Erinnerung von Ähnlichem als Form der diskontinuierlichen assoziativen Fernweckung zur Konstitution einer schwingenden Vorstellung kommen kann. Zwar mögen wiederholte assoziative Weckungen der Grund dafür sein, dass bestimmte assoziative Verbindungen ins Bewusstsein gehoben werden und andere vormals bewusste dadurch eine Hemmung erfahren und unter die Bewusstseinsschwelle absinken. Für die Konstitution einer Schwingung ist es jedoch erforderlich, dass sich die in der Assoziation ursprünglich gegebene einheitliche Simultanerfassung in zwei Reproduktionen spaltet, die sich in der Sukzession berühren und damit letztlich kontinuierliche Reproduktionen sind, denn nur so können sie sich wirklich wechselseitig verdrängen. Nun ist diese assoziative Kontinuität allerdings eine rein fiktionale und damit noch keine Veranschaulichung der retentionalen Sukzession im Sinne der Wiederkonstitution, als die Berührung hier nur eine scheinbare darstellt durch die ihr zugrunde liegende diskontinuierliche Weckung der Ähnlichkeitsassoziation. Sukzessiv aufgelöst wird ja eine Simultanerfassung der Assoziation, die solche weit auseinanderliegenden Retentionen, die in der systematischen Ordnung der Konstitution ursprünglich gar nicht zusammenhängen, durch ihre gemeinsame Weckung erst zusammenbringt. Gleichwohl kann diese nur fiktionale Kontinuität der Reproduktion nicht schon in der Assoziation entstehen, welche die retentional habitualisierte Sukzession nur minder deutlich veranschaulichte – im Husserlschen Sinne im Nebel belassend aufhellend »entnebeln« würde. Die wiederholte Reproduktion der »sprunghaften« assoziativen Fernweckung ist nicht sukzessiv und kontinuierlich. Zur Entwicklung einer fiktionalen Sukzession durch die Wiederholung kann es erst kommen aufgrund der analytischen Leistung der apperzeptiven Veranschaulichung der assoziativen Verbindung, durch die sich die ungeschiedene Simultanerfassung des sukzessive Weckenden und Geweckten in eine geschlossene Reihe gesonderter Reproduktionen verwandelt. Darüber hinaus ist die apperzeptive Vermittlung der Assoziation für den Nachweis des Restitutionszusammenhangs der Wiederkonstitution in der schwingenden Vorstellung unerlässlich. Wenn die Substitution der ursprünglich in der Anschauung konstituierten geordneten Sukzession durch die fiktional produzierte ungeordnete wirklich voll­ 378 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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ständig wäre, dann gäbe es keinen Weg mehr zu ihr zurück. Konstitutionstheoretisch muss die Produktion der fiktionalen und »falschen« Sukzession als die lediglich unvollständige Veranschaulichung einer bereits vorkonstituierten realen und »richtigen« ausgewiesen werden – anderenfalls wäre die Unordnung und Verwirrung stiftende Fiktionalisierung in der Fernsphäre der Erinnerung unauf‌löslich und endgültig. Die Apperzeption ist ohne eine Funktion der Wiederkonstitution nicht denkbar, eine Reproduktion des ursprünglichen Konstitutionszusammenhangs wenn auch nur in Gestalt einer intentional bestimmten Leervorstellung als der ersten Vorgestalt einer direkten Veranschaulichung. Nur vermittels der apperzeptiven Reproduktion enthält die schwingende Vorstellung den Verweis auf die von der fiktionalen Synthese unterdrückten und verdrängten sukzessiven Elemente, die nach Husserl vom Untergrund des Unbewussten her gegen ihre Verdrängung gewissermaßen »protestieren« [Husserl, Hua XI, § 43, S. 199]. Husserls Rekonstruktion räumt diese notwendige apperzeptive Vermittlung der Assoziation in der Genese der schwingenden Vorstellung zumindest indirekt ein, wenn es heißt, dass die Konkurrenzsituation zweier gleichwertiger Anschauungen, die um ihre Reproduktion in der Sukzession streiten, erst entsteht, wenn die inhomogene und inkongruente Ähnlichkeitsdeckung in die im Grunde gar nicht realisierbare ideale Gleichheitsdeckung näherungsweise übergeht, sich also in gewissem Sinne als eine Form der assoziativen Reproduktion selber aufhebt.178 Die reproduktiv einheitliche »Gleichzeitigkeitsassoziation« der Weckung spaltet sich in der Apperzeption auf in zwei im Nacheinander der Sukzession voneinander gesonderte Reproduktionen, die nun auf der Schwelle des Bewussten zum Unbewussten hin- und herschwingen. Wird bei Steinthal die »Enge des Bewußtseins«, wonach immer nur eine einzige Vorstellung im Bewusstsein gegeben sein kann, zum systematischen Grund dafür, dass in ihm keine wirkliche Simultan­ apperzeption, sondern nur die Quasi-Simultaneität einer Schwingung 178 »Wo aber die Ähnlichkeit sehr groß ist, wo insbesondere eine Sinnesidentität konstituiert ist, welche die Ähnlichkeitsglieder […] in sich tragen, da besteht eine Tendenz zur vollen Verschmelzung. Die beiden Reproduktionen stehen durch die einander deckenden und miteinander sich verschmelzenden Ähnlichkeitsglieder nach ihren Zeitfeldern in einer Überschiebung. Was über die sich im Sinne einer Kongruenz deckenden Ähnlichkeitsglieder hinausgeht, steht auch in einer gewissen negativen Deckung, im Verhältnis des Widerstreits« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 195].

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entstehen kann179, so führt bei Husserl entsprechend das Prinzip der Individuation, der strikten Einmaligkeit der Konstitution und Wiederkonstitution, demzufolge niemals zwei gleiche Anschauungen in ein und demselben reproduzierenden Bewusstsein auftauchen können, zur phänomenologischen Rekonstruktion einer schwingenden Vorstellung. Sie stellt in der Repoduktion eine Simultaneität des Sukzessiven her, die der Produktion von Scheinbildern ermöglichend vorausgeht und zugleich das Fiktionalisierungsgeschehen im Ganzen als eine Erinnerungstäuschung erklärt. Die Fiktionalisierung ignoriert gewissermaßen alle Unterschiede der Zeitdistanz, die durch die retentionale Habitualisierung ursprünglich konstituiert wird, indem sie Glieder in der Sukzession überspringt, sodass die Inhalte deshalb auch nicht in ihrem Grad der anschaulichen Lebendigkeit unterschieden werden, sondern in der Weckung als gleich lebendig erscheinen. Das heißt aber, dass solche in der Sukzession einander berührenden Erinnerungen von annähernd gleicher anschaulicher Präsenz auseinandergehalten werden, während über diese sukzessiven Verbindungen hinweg assoziative Berührung von solchem entsteht, was in der Konstitution eigentlich durch die Kluft der Zeitdistanz getrennt ist. Solange es noch keine wirkliche »Wiederkonstitution« in Gestalt einer apperzeptiven Wiederveranschaulichung der Sukzession gibt, bleibt die mit der Produktion von simultanen Scheinbildern verbundene Verdrängung von Elementen der Sukzession in den Leerhorizont des Unbewussten vom Bewusstsein im Grunde unbemerkt. Das ändert sich jedoch mit der Konstitution der schwingenden Vorstellung. Die Sukzession wird hier zwar noch nicht im eigentlichen Sinne anschaulich gegeben, wohl aber veranschaulicht im Sinne der Umwandlung des intentional richtungslosen Leerhorizontes des Unbewussten in eine bestimmt gerichtete Leervorstellung. Wenn die Sukzession im Sinne eines simultanen Horizontbewusstseins präsent ist, das sich zudem noch in zwei suk179 Die »Enge des Bewußtseins« besagt, dass von den Vorstellungen »nicht zwei gleichzeitig bewusst sein können« [Steinthal 1881, S. 135]. Vorstellungen laufen deshalb »immer reihenweise, linear« durch das Bewusstsein, indem jeweils eine bewusste Vorstellung eine andere aus dem Bewusstsein verdrängt [ebd., S. 137]. Schwingende Vorstellungen ermöglichen nun eine Simultan­ apperzeption, wie z. B. »eine gleichzeitige Doppel-Apperzeption« beim Lesen. [Ebd., S. 240] Entscheidend ist jedoch, dass es sich hier um eine Simultaneität zwischen einer bewussten und einer unbewussten Vorstellung handelt und damit einer Quasi-Simultaneität: Auch wenn in der Schwingung mehrere Reihen gleichzeitig erfasst werden, so ist doch nur »eine von diesen Reihen […] im Bewusstsein« [ebd., S. 240].

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zessiv gesonderte Apperzeptionen – des Anschaulichen und des leer Bewussten – spaltet, dann wird die Verdrängung als Verdrängung im Bewusstsein auffällig: Verdrängendes und Verdrängtes erscheinen nun wie »Stücke von einem intentionalen Ganzen«. Zu jedem anschaulichen Scheinbild gehören nun »verdrängte Ergänzungsstücke, welche gegen die im Scheinbild […] gerichteten Forderungen und vor allem gegen ihre wechselseitigen Erfüllungen vom Untergrund her protestieren« [Husserl, Hua XI, § 43, S. 199]. Mit den »wechselseitigen Erfüllungen« sind die in »abwechselnde[n] Siegen« [ebd., S. 198] miteinander streitenden Veranschaulichungen der schwingenden Vorstellung gemeint, gegen die sich nun als solche »Protest« regt. Genau in diesem untergründigen Protest des durch die Fiktionalisierung Verdrängten liegt das Restitutionsmotiv für die aufklärende Analyse, welche »zur reproduktiven Entwicklung und Auseinanderwicklung führt, und nun die beiden Situationen und ihre gesonderten Zeitfelder anschaulich auseinandergehen und sich jede zu Vollständigkeit und Klarheit entwickelt, [sodass …] der Schein als Schein enthüllt [wird]. Das Scheinbild erweist sich in diesen Übergängen eben als Vermengung und Verschmelzung verschiedener in sich einstimmiger Erinnerungsbilder, und hinter der Verschmelzung wird das in ihr Unterdrückte und seine Glaubenskraft lebendig.« [Ebd., S. 199] Die Fiktionalisierung und Produktion von Scheinbildern versteht Husserl grundsätzlich als eine »falsche« Verbindung von an sich unveränderlichen Elementen der Vorstellung in der Erinnerung. Sie werden kombiniert ohne Rücksicht auf die systematische Ordnung der Konstitution, wie sie durch die retentionale Habitualisierung dem Bewusstsein vorgegeben ist. Das signifikante Beispiel dafür ist die Versetzung einer Vorstellung in einen falschen Kontext, wie wenn wir uns »wie es heißt, »in der Phantasie«, ein erinnerungsmäßig vorstelliges Haus in eine andere Straße versetzt denken« [Husserl, Hua XI, § 45, S. 207]. Die Entstehung der schwingenden Vorstellung beruht auf einer solchen Versetzung, indem zwei Erinnerungen, die in einen ganz anderen Kontext gehören, gleichwohl um denselben Platz im Bewusstsein streiten. Indem diese Versetzung durch den »Protest« des sukzes­ siv Verdrängten aus dem Bewusstseinshintergrund auffällig wird, ent­ hüllt sich das Scheinbild selber als Schein und enthält so bereits die Intention zu seiner Auf‌lösung in sich. Die Wiederkonstitution durch die apperzeptive Analyse wird somit über die bloß identifizierende Reproduktion hinaus zu einer restituierenden Entwicklung, indem sie die Erinnerungen wieder an ihren scheinbar verlorenen Platz des Systems 381 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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der Konstitution stellt, das geordnete gegenständliche Bewusstsein auf diese Weise zurück entwickelt durch die Substitution des Scheins durch das Sein, des bloßen Bildes durch die ursprüngliche Anschauung. Die Aufweisung des Restitutionsmotivs in der schwingenden Vorstellungen stellt sich jedoch komplexer dar, als es auf den ersten Blick aussehen mag. Es ist nämlich keineswegs so, dass die »Unverträglichkeit« des Fiktums nur ein bewusstseinsimmanentes Problem der intentionalen Sinngebung und seiner »Modalisierung« verkörpert. Das Verdrängte protestiert gegen seine Verdrängung, »obschon die Proteste hier zu schwach sind, zu wenig hörbar sind, um zu einem klaren Zweifel und einer Negation zu führen« [Husserl, Hua XI, § 43, S. 199]. Das Fiktum weckt im Bewusstsein keinen eindeutigen Zweifel, der unwiderstehlich nach Aufklärung verlangte: Die Unverträglichkeit in der Kausalgenese der assoziativen Weckung und apperzeptiven Reproduktion spiegelt sich durchaus nicht immer auch in der Sinn­ gebung, sodass sich das Restitutionsmotiv aus der Immanenz des Sinn konstituierenden Bewusstseins, eines unaufgeklärten Sinnes, der Aufklärung fordert durch seine systematische Analyse und Entwicklung, auch nicht vollständig erklärt. Zur »reproduktiven Entwicklung und Auseinanderwicklung« kommt es erst dann, »wenn die affektive Kraft der Unterdrückten lebendiger wird und nun gar siegt« [ebd.]. Damit enthüllt sich, dass die aufklärende apperzeptive Analyse als eine Form der restituierend entwickelnden aktiven Synthesis auf einen Restitutionszusammenhang in der Passivität der assoziativen Weckung ihrerseits aufbaut, ohne welchen sie gar nicht zustande käme.

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Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«. Die kon­sti­t u­t ions­ theoretische Diakrisis eines Ordnungs- und Wirkungs­­zusam­ men­­hangs in der assoziativen Weckung

Die methodischen Idealisierungen der Konstitutionstheorie bringen das Kontinuitätsprinzip in der Diskontinuität des faktisch Gegebenen zur Geltung. Das gilt nicht nur für Husserls Annahme der Homogenität der Sinnesfelder180, sondern im besonderen Maße für die 180 »Schon die Homogenität des Feldes ist eine Idealisierung. Denn das wirkliche visuelle Feld ist nicht überall in gleicher Weise von scharfen Linien und selbst annähernd scharfen zu durchziehen etc. Aber in der Ausgestaltung der

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4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«

zeitliche Homogenität. Nur dann ist »das Zeitbewußtsein die Urstätte der Konstitution von Identitätseinheit oder Gegenständlichkeit« [Husserl, Hua XI, § 27, S. 128], wenn die retentionale Wandlung ein Kontinuum bildet in Form einer einzigen und einheitlichen Ordnung der Sukzession, einer »universale[n] Synthese im konstituierenden Leben, wodurch die verlaufenden Gegenwarten als eine Einheit der Folge bewußt werden« [ebd., S. 127]. Die Analyse des Zeitbewusstseins wird deshalb geleitet von dem Imperativ, die ungeordnete Mannigfaltigkeit verschiedener Zeitkonstitutionen nicht etwa gelten zu lassen, sondern in ihr eine verborgene Einheit und Ordnung aufzusuchen. Das Ideal der Homogenität des inneren Zeitbewusstseins fordert, »daß alle Sonder­ impressionen in einem absolut identischen Tempo verströmen müssen. Das macht es, daß nicht vielen Gegenständen viele Zeiten entsprechen, sondern der Satz gilt: Es ist nur eine Zeit, in der alle Zeitverläufe der Gegenstände verlaufen« [ebd.]. Die unauf‌lösliche Kontinuität der sukzessiven Ordnung betonend spricht Husserl sogar von einer quasi-­metaphysischen »»Unsterblichkeit« jedes retentionalen Flusses«, der »ewigen zeitlichen Wandlung« der Zeitkonstitution [ebd., Beilage XXII, S. 422]. Nun konstituiert sich die retentionale Sukzession aber nur dann wirklich im Bewusstsein, wenn sie ihrerseits aufgehoben ist in einem Kontinuum der assoziativen Weckung. Auch die Annahme eines Weckungskontinuums beruht auf einer Idealisierung, doch scheint der Wirkungszusammenhang der Assoziation den Ordnungszusammenhang der Retention durchaus nicht widerzuspiegeln. Wenn »zu jeder [Herv. d. Verf.] Wiedererinnerung ideell eine mögliche Weckungskontinuität gehört« [ebd., § 42, S. 193], dann wird damit die unauf‌lösliche Verbindung der Erinnerung zu einer jeweiligen Wahrnehmungsgegenwart betont, von der die Weckung ihren Ausgang nimmt.181 Das scheint aber darauf hinauszulaufen, dass es so viele Kontinua wie geweckte Erinnerungen gibt. Im dynamischen Wirkungszusammenhang der assoziativen Weckung entwickelt sich demnach keine einheitliche Ordnung der Sukzession, sodass es von vornherein fragwürdig ist, ob dem Weckungskontinuum überhaupt eine Funktion der Wiederkonstitution zukommen kann. Idealisierung zeichnet das Feld doch Möglichkeiten vor.« [Husserl, Hua XI, § 31, S. 148] 181 Die ideelle Weckungskontinuität bedeutet »eine Kontinuität von möglichen Wiedererinnerungen, die zur lebendigen Gegenwart, in der wir gerade stehen, hinführt« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 193].

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

Diese Problematik behandelt Husserl unter dem Stichwort eines drohenden »Relativismus der affektiven Tendenzen« [Husserl, Hua XI, § 32, S. 150]. Die Relativität weist einmal hin auf eine Mannigfaltigkeit konkurrierender Kausalitäten. Affektive Kontrastierungen können durch andere Affektionen verstärkt werden, oder aber sich auch wechselseitig hemmen. Diese »mögliche Konkurrenz« der Kräfte führt nicht nur zu Verdeckungseffekten etwa durch »Kontrast­ extreme« [ebd., S. 149], sondern vor allem dazu, dass solche durch affektive Kontrastierungen sich abhebenden gegenständlichen Einheiten nur »relativ dauernde Gruppenkoexistenzen« bilden, die einem »Werdensprozeß« des fortwährenden »Entstehens und Vergehens« ausgeliefert sind, indem in die Verbindungen »neue Glieder eintreten, andere ausscheiden« [ebd., § 33, S. 152]. Dieser Wirkungszusammenhang schon in der urimpressionalen Affektion, der sich in der assoziativen Weckung nur weiter fortpflanzt, offenbart Züge einer nicht bloß konstituierend auslösungsdynamischen, sondern bewegungsdynamischen Kausalität, welche Verbindungen durch Synthese ursprünglich herstellt und auch wieder auf‌lösen kann. Kontinuität wird hier gestiftet allein durch die Konstanz der bewegenden Kräfte, nicht aber die Verbindungen, die an sich selber diskontinuierlich entstehen und vergehen. Das unterscheidet das Weckungskontinuum grundlegend von der retentionalen Wandlung. Hier entsteht die Kontinuität durch die Form der Verbindung in der Idealgestalt einer schlechterdings beharrenden und unauf‌löslichen Ordnung der Sukzession. Die Retention ist »eine kontinuierliche Modifikation, in einem starren System, das immer fertig da ist« [ebd., Beilage XIII, S. 388]. In der »passiven Synthesis« sind demnach zwei verschiedene Kontinuitätsprinzipien im Spiel, die sich jeweils der objekt- und der subjektbezogenen Seite der Konstitution zuordnen lassen. Die Kontinuität der retentionalen Wandlung ist die ursprüngliche Bedingung der Objektkonstitution, welche die Identifizierung von Gegenständen und damit die Konstitution des Erkenntnisphänomens möglich macht. Das Weckungskontinuum wiederum bildet die Voraussetzung dafür, dass sich das Erkenntnisphänomen – die identisch reproduzierbare Objektbeziehung – überhaupt als ein Bewusstseins­ phänomen konstituieren kann. In Bezug auf die Genesis stellt sich so die Frage nach dem Fundierungsverhältnis: Ist die Konstitution des Bewusstseinsphänomens ursprünglicher als die des Erkenntnisphänomens oder aber umgekehrt? Weil in der Betrachtung ausschließlich von Phänomenen der Affektion und Assoziation jegliche intentional objektivierenden apperzeptiven Vermittlungen methodisch ausge384 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«

schaltet sind, muss es so aussehen, als ob die subjektiven Bedingungen, welche die Objektbeziehung als ein Bewusstseinsphänomen konstituieren, genetisch als die ursprünglichen angesehen werden müssen: »So erwächst uns die Frage: Machen nicht erst Affektion und Assoziation […] die Konstitution von für sich seienden Gegenständen möglich?« [Ebd., § 33, S. 153] Mit Blick auf die retentionale Wandlung würde dies bedeuten, dass das Zustandekommen eines Weckungskontinuums die Ursache für die Stiftung einer kontinuierlichen Sukzession wäre. »Für die Sukzession liegt es nahe, zu sagen: Erst wenn sie sich affektiv gebildet haben, erst wenn die Affektion von einem oder mehreren Punkten aus als wirkliche Affektion sich fortgepflanzt hat, unter Bedingungen der Kongreszenz und des Kontrastes und unter eventuellen Gemütsbedingungen – erst dann kommt neue Einheitsbildung wirklich zustande.« [Ebd., S. 152] Diese naheliegende Erklärung, die Konstitution des Ordnungs­ zusammenhangs der Konstitution aus dem Wirkungszusammenhang der Affektion und Assoziation genetisch herzuleiten, unterhöhlt jedoch die erkenntnistheoretischen Fundamente der Konstitutions­ ­ theorie überhaupt. Husserls Anspruch einer phänomenologischen Recht­­fertigung der Nah- wie auch der Fernerinnerung ist geleitet von dem Ziel, die Möglichkeit der identifizierenden Erkenntnis als in jeder ­Hinsicht uneingeschränkte Konstitutionsbedingung nachzuweisen. Das setzt voraus, dass die Konstitution des Objektes der ­Erkenntnis als das schlechterdings Bleibende und Unveränderliche im Prinzip un­ abhängig ist von den veränderlichen subjektiven Bedingungen der Konstitution. In dem Moment, wo der retentionale Ordnungs­ zusammenhang im Kontinuum der assoziativen Weckung aufge­hoben wird, muss die Konstitution deshalb ihre erkenntnis­ theoretische Unbedingtheit verlieren: Der Wirkungszusammenhang lässt den Ordnungs­zusammenhang der Konstitution nicht nur ent­stehen, er kann ihn ebenso auch wieder auf‌lösen, »das Zustandekommen für sich bestehender [gegenständlicher, d. Verf.] Einheiten unmöglich ­machen« [Husserl, Hua XI, S. 153]. Das hieße aber, die »unsterb­ liche« Kon­stitution des Erkenntnisphänomens der Vergänglichkeit der Konstitution des Bewusstseinsphänomens und damit dem Entstehen und Vergehen auszuliefern. Programmatisch liefe das darauf hinaus, die Möglichkeit der Objektivierung auf den engen Bereich der Nah­ erinnerung zu beschränken und entsprechend wäre Husserls Versuch einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der ganzen Erinnerung gescheitert: Erkenntnisse könnten durch das Bewusstsein nicht mehr 385 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

uneingeschränkt, sondern nur noch eingeschränkt reproduziert werden. Der »Relativismus der affektiven Tendenzen« droht sich also zu einem erkenntnistheoretischen Relativismus auszuweiten und damit alle Probleme des naturalistischen »Psychologismus« mit seinen skeptischen Konsequenzen, welche die Logischen Untersuchungen mit ihrer geltungstheoretischen Begründung der Erkenntnis scheinbar besiegt hatten, in genetisch-phänomenologischer Perspektive gewissermaßen wiederzubeleben. Dass die genetische Phänomenologie ihrer grundlegenden Einsicht der prinzipiellen Vermittlung der objektivierenden Erkenntnis durch die subjektiven Vollzüge der Reproduktion wegen auf die Dichotomie von Genesis und Geltung allein nicht mehr verlassen kann, heißt aber nicht, dass sie deshalb dem erkenntnistheoretischen Relativismus hilf‌los ausgeliefert wäre. Zwar ist die Möglichkeit, über Erkenntnisse im Bewusstsein faktisch zu verfügen, notwendig beschränkt durch die subjektiven Bedingungen der Reproduktion. Das heißt aber nicht, dass die ideale Verfügung über das vollständige System der Erkenntnis davon betroffen wäre. Diese wird jetzt nicht mehr nur statisch, sondern auch genetisch-phänomenologisch sichergestellt nicht mehr bloß durch den Bezug auf eine ideale Geltung au­ ßerhalb aller Bewusstseinsvollzüge, sondern gerade auch im Vollzug der Reproduktion durch einen faktisch existierenden Restitutionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution. Im Falle der Affektion und assoziativen Weckung ist eine solche Möglichkeit der Restitution durch den Konstitutionszusammenhang allerdings nur denkbar, wenn die objektive Seite der Konstitution genetisch als die Bedingung der subjektiven angenommen werden kann: Was im Wirkungszusammenhang der assoziativen Weckung vergeht, kann durch eine Leistung der Konstitution nur dann restituiert werden, wenn es Konstitutionsbedingungen gibt – die Ordnungszusammenhänge der Sukzession und Koexistenz – die als Erhaltungskonstanten in das Weckungs­kontinuum und seine bewegungsdynamischen Prozesse des Entstehens und Vergehens nicht involviert sind. Die Sukzession ist nach Husserl kein Assoziationsprinzip.182 Die passive Synthesis vermag sich deshalb als ein unauf‌löslicher Konstitutionszusammenhang zu entwickeln und zu erhalten, weil in ihr eine Diakrisis wirksam ist: die Konstitution von Ordnungszusammenhängen der urimpres182 »Aber nicht etwa als ob Sukzession als solche ein Assoziationsprinzip wäre.« [Husserl, Hua XI, § 33, S. 153]

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4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«

sionalen Koexistenz und retentionalen Sukzession ursprünglich losgelöst vom Wirkungszusammenhang der Affektion und assoziativen Weckung. Gegen die naheliegende Annahme, dass in der Passivität »durch Einheit der Affektion allererst Verschmelzung erzeugt sein soll« [Husserl, Hua XI, § 34, S. 161], betont Husserl, dass sich die Ordnung sowohl der Koexistenz als auch der Sukzession183 »konstituiert ohne alle Affektion« [ebd., S. 160]. Von zu behandelnden Konstitutionsproblemen »in Abstraktion von Fragen der Affektion« [ebd., § 33, S. 152] ist die Rede, von schlechthin »voraffektiven Gesetzmäßigkeiten der Einheitsbildung« [ebd., S. 154], dem Studium einer »unzerbrechliche[n] gegenständliche[n] Struktur der impressionalen lebendigen Gegenwart […] ohne Rücksicht auf Unterschiede der Affektion« [ebd., § 34, S. 163]. Die Grundlage dieser Annahme von voraffektiv konstituierten Ordnungsstrukturen schon in der Affektion ist nun wiederum keine phänomenologische Deskription, sondern eine methodische Rekon­ struk­tion, geleitet von einer konstitutionstheoretischen Analogie: Die Erfassung von gegenständlichen Einheiten unabhängig von den Modalitäten der subjektiven Empfindung setzt das konstitutionstheoretische Schema von Hyle und Auffassung voraus und demgemäß die mögliche Unterscheidung eines vorintentionalen vom eigentlich intentionalen Gehalt des Bewusstseinserlebnisses. Nun handelt es sich bei der phänomenologischen Analyse von Strukturen der Affektion jedoch um die Klärung »von Bedingungen der Möglichkeit hyletischer Einheitsbildungen« [Husserl, Hua XI, § 33, S.  152] – d. h. sie bewegt sich voll und ganz im Bereich des Hyletischen, ohne die apperzeptiven Vermittlungen einzubeziehen. Daraus resultiert die grundlegende methodische Schwierigkeit, wie eine intentionale Struktur schon in der Affektion, in einer noch gänzlich vorapperzeptiven hyletischen Einheitsbildung, überhaupt ausgewiesen werden kann. Husserl ist sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst. Einer Konstitution von intentionalen Einheiten des Sinnlichen unabhängig davon, dass sie affizieren, entspricht kein mögliches Bewusstseinserlebnis: »Sosehr es nun richtig ist, daß der Gang der Affektion […] von den Zusammenhangs- und Verlaufs­ typen der Gegenständlichkeiten abhängt, so ist damit nicht gesagt, daß diese Gegenständlichkeiten ihrerseits vor aller Affektion schon sind.« 183 Husserl führt diese Diakrisis konkret durch am Beispiel der Koexistenz, fügt aber hinzu: »Ebenso könnte man die Sachlage zu interpretieren versuchen im Fall der Sukzession und ihrer Konfigurationen, wie Melodien u. dgl.« [Husserl, Hua XI, § 33, S. 161]

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

[Husserl, Hua XI, § 34, S. 164] Es ist somit gar nicht zu bestreiten, »daß Affektion schon in der Konstitution aller Gegenständlichkeiten ihre wesensmäßige Rolle spiele, so daß ohne sie überhaupt keine Gegenstände und keine gegenständlich gegliederte Gegenwart wären« [ebd.]. Was vielmehr im unmittelbaren Erlebnis eine ungeschiedene Einheit darstellt – der intentionale und der affektive Gehalt – wird in der phänomenologischen Rekonstruktion analog dem Schema von Hyle und Auffassung nun lediglich insoweit aufgelöst, als sich dadurch ein Fundierungszusammenhang enthüllt, wonach eine immer schon vorgegebene intentionale Einheit genetisch als die »Bedingung der Möglichkeit« für das Zustandekommen der Affektion angesetzt und damit die geordnete Objektkonstitution als ursprüngliche Voraussetzung für die Konstitution des Bewusstseinsphänomens und die mit ihm verbundene Subjektivität angenommen werden kann. Die erste Rekonstruktion eines solchen Fundierungszusammenhangs bezieht sich auf das Kontinuum der assoziativen Weckung. Zu jeder Erinnerung gehört eine ideale Weckungskontinuität, die von der ursprünglichen Affektion durch eine Empfindung ihren Ausgang nimmt. Nicht nur, dass sich diese erste Affektion in der assoziativen Weckung fortpflanzt und in der Übertragung von einer Vorstellung auf die andere kontinuierlich abschwächt. Das Weckungskontinuum kann infolge der in ihm möglichen wiederholten Assoziation eine Verstärkung oder auch Schwächung von affektiven Kontrastierungen bewirken.184 In einem solchen nachträglich verursachten »Relativismus der Affektion, wonach Merkliches unmerklich und Unmerkliches merklich werden kann« [Husserl, Hua XI, § 34, S. 163], wird es für das Erlebnis letztlich unmöglich, zwischen Affektionen, die von einer Wahrnehmungsgegenwart herrühren und solchen, die durch das Kontinuum der assoziativen Weckung entstehen, zu unterscheiden. Die prinzipielle Einsicht, dass »nicht alle Affektion durch Weckung von anderer Affektion her entsprungen sein kann« [ebd., § 33, S. 154], ist aber nötig, um sich der intentionalen Struktur der Affektion zu versichern. Die phänomenologische Analyse trennt also das, was im Erlebnis der Weckung untrennbar miteinander verschmolzen ist – die Weckung durch eine Urimpression und diejenige durch die Assoziation – mit dem versuchten Nachweis eines Bedingungsverhältnisses 184 »Durch Einstrahlen einer weckenden Affektion wird eine schon vorhandene schwache stark. Umgekehrt kann eine starke Affektion schwach werden, wenn die Bedingungen, an denen diese starke hängt, sich entsprechend ändern.« [Husserl, Hua XI, § 34, S. 163]

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4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«

des Ursprünglichen und Abgeleiteten. Nicht dem Weckungskontinuum der assoziativen Erinnerung, sondern der ihm ermöglichend vorausgehenden »Urassoziation« durch die lebendige Gegenwart der Wahrnehmung und Empfindung185 verdankt die Affektion ihre intentionale Ordnung, insofern die Affektion hier verursacht wird von dem »bewußtseinsmäßigen Reiz, den eigentümlichen Zug, den ein bewußter Gegenstand auf das Ich übt« [ebd., § 32, S. 148]. Das ist aber nur der erste Schritt für den Nachweis einer Diakrisis im Kontinuum der assoziativen Weckung, der Konstitution der gegenständlichen Ordnung unabhängig vom dynamischen Wirkungszusammenhang der affektiven Kräfte. Das Weckungskontinuum scheidet nun zwar aus als Ursprung der Konstitution von gegenständlicher Einheit in der Affektion, doch wiederholt sich die Problematik, dass für das Zustandekommen von hyletischen Einheitsbildungen keine Apperzeptionen in Anspruch genommen werden können, nun in Bezug auf die urimpressionale »Urassoziation«. Die Rede, dass unser Bewusstsein nicht anders als von einem Gegenstand affiziert werden kann, scheint ihrerseits die volle intentionale Struktur von Hyle und Auffassung und damit die apperzeptive Transzendierung der Sphäre des Sinnlichen und Affektiven vorauszusetzen. Beruht diese ganze methodisch äußerst aufwendige Rekonstruktion einer intentionalen Struktur schon in der Affektion also letztlich doch auf einer Metabasis, der bloßen Unterschiebung des vorintentionalen durch ein intentionales Bewusstsein? Husserls Rekonstruktion stützt sich auf den Zusammenhang von Affektion, Abhebung und Kontrastierung. Die Affektion ist »in gewisser Weise Funktion des Kontrastes« [Husserl, Hua XI, § 32, S. 149]. Die affektiven Kräfte bewirken, dass sich gegenständliche Einheiten im Bewusstsein abheben dadurch, dass sie mit anderen kontrastieren. Diesen Zusammenhang von Abhebung und Kontrastierung deutet Husserl nun intentional: Nicht etwa ist die Abhebung die Folge einer dynamisch erzeugten Kontrastierung, sondern gerade umgekehrt: Der Phänomenologe schreibt »jedem für sich abgehobenen Datum einen affektiven Reiz auf das Ich zu« [ebd., § 34, S. 163]. Demnach müssen sich also zunächst einmal intentionale Einheiten voraffektiv gebildet haben, die sich deshalb als solche abheben und erst infolgedessen im Bewusstsein eine Kontrastierung durch den Weckungsreiz, den sie 185 Vgl. dazu das Stufenschema in § 38, wo Husserl zwischen der urimpressionalen affektiven Weckung als erster Stufe und der assoziativen, rückstrahlenden Weckung als zweiter Stufe der Konstitution unterscheidet [Husserl, Hua XI, S. 180 f].

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auslösen, bewirken. Das bedeutet, dass die ursprünglich urimpressionale »Urassoziation« als Form des repräsentativen, intentionalen Bewusstseins konstitutionstheoretisch bestimmt wird. Ausdrücklich heißt es: »Natürlich, die in der Besonderheit der Gehalte gründenden Verhältnisse macht die Affektion nicht.« [Ebd., S. 161] Affektive Kontrastierungen »machen« nichts, sie erzeugen keine gegenständlichen Einheiten, sondern veranschaulichen solche Gegebenheiten nur und konstituieren sie damit im Bewusstsein, die durch die »voraffektiven« Gesetzmäßigkeiten der Einheitsbildung immer schon vorgegeben sind. Husserl bestreitet nicht, dass es Synthesen der Affektion gibt, die durch bewegungsdynamische Prozesse erzeugt werden, solche »Verschmelzungen, Einheitsbildungen, die erst der Affektion zu verdanken sind« [ebd., S. 160]. Doch unterliegen diese dem »Relativismus der affektiven Tendenzen« und sind in ihrer Unbeständigkeit grundsätzlich zu unterscheiden von solchen Leistungen, die eine Funktion der dauerhaften Konstitution besitzen. Von den Synthesen der Affektion zu unterscheiden sind die »unbedingt notwendigen Verschmelzungen, die sich in starrer Gesetzmäßigkeit unter allen Umständen vollziehen« [ebd., S. 159]. Das bedeutet, dass die bewegungsdynamischen Prozesse letztlich keinerlei Ordnungs- und Organisationsfunktion haben, weil sie überhaupt nicht in den ursprünglichen Konstitutionszusammenhang hineingehören. Nur weil solche von der dynamischen Kausalität unberührbaren »notwendigen Verknüpfungen« existieren, sodass »alle assoziative Weckung nur den gesetzmäßigen Formen von Verbindungen entlanglaufen kann« [ebd.], entsteht Ordnung in der Affektion. Das »Entlanglaufen« umschreibt die mit der Konstitution verbundene Leistung der Veranschaulichung von vorgegebenen gegenständlichen Einheiten. Auch diese Gegenstände im Bewusstsein konstituierende Weckung ist dynamisch, jedoch nicht im Sinne einer produktiven Bewegungs-, sondern rein reproduktiven Auslösungsdynamik. Die Unterscheidung von intentionalen und vorintentionalen Gehalten der Affektion erlaubt es Husserl letztlich, auch die bewegungsdynamische Kausalität als ein Bewusstseinsphänomen zuzulassen, freilich nur im eingeschränkten Sinne als ein Epiphänomen der ursprünglich konstituierten Auslösungsdynamik. Die Synthesis der Affektion ist niemals ausschließlich produktiv, sondern infolge der Diakrisis, die sie enthält, der Konstitution von Ordnungszusammenhängen der Koexistenz und Sukzession unabhängig vom Wirkungszusammenhang der affektiven und assoziativen Weckung, notwendig verbunden mit einer reproduktiven Leistung der Veranschaulichung des gegenständlich Gegebenen. 390 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«

Damit bestreitet die genetische Phänomenologie die ausnahmslose Wirksamkeit des Kausalitätsprinzips in der passiven Synthesis keineswegs. Anders als eine naturalistische, rein mechanistische Erklärung betont sie jedoch die Notwendigkeit der Einbindung der dynamischen Kausalität in eine intentionale Struktur und damit die Vermittlung des Wirkungszusammenhangs der Affektion und Assoziation durch den Konstitutionszusammenhang. Würde das Bewusstsein oder das Unbewusste rein kausalgenetisch entstehen und vergehen, dann wäre dies konstitutionstheoretisch eine Schöpfung aus dem Nichts. Hinter der real wirksamen Kausalität muss ein in der intentionalen Beziehung verankertes ideales Konstitutionsverhältnis stehen, wodurch die Umwandlung des Bewussten in das Unbewusste und umgekehrt als die Veränderung nur der Seinsmodalität einer im Prinzip unveränderlichen, vorgegebenen Gegenstandsbeziehung und damit als Restitutionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution rekon­struiert werden kann: »Das ›Vergessene‹ in dem ursprünglichen Sinn des Leergewordenen ist nicht ein geheimnisvolles Nichts, wofür nur anzusetzen wäre eine reale Möglichkeit, daß unter gewissen Umständen ein neues Phänomen kausal bewirkt werden kann; eine blinde äußerliche Gesetzmäßigkeit, hinter der nichts steht.« [Husserl, Hua XI, Beilage XXII, S. 421 f] Die Verankerung eines unauf‌löslichen Konstitutionsverhältnisses schon in der dynamischen Affektion setzt allerdings eine das Sinnliche und Hyletische überhaupt transzendierende intentionale Bezugnahme auf eine ideal-unveränderliche Bedeutungseinheit und damit eine der aktiven Leistung der Konstitution analoge Vorkonstitution der apperzeptiven Vermittlung in der Passivität voraus. Anders als bei der aktiven Synthesis, wo die intentionale Apperzeption durch die aktive Ichzuwendung ausdrücklich konstituiert wird, entspricht ihr in der Passivität noch kein spontan handelndes ichliches Bewusstsein.186 Die intentionale Auffassung bleibt hier gewissermaßen subjektiv unscheinbar weil eingebettet in das rezeptive Ichbewusstsein der passiven Synthesis: die Weckung von Aufmerksamkeit durch eine von der Affektion ursprünglich ausgelöste Reflexbewegung. 186 Husserl unterscheidet zwei Stufen: die Weckung von Aufmerksamkeit sowie die daran sich anschließende Weckung von Wahrnehmungs- und Erkenntnis­ interesse. Auch schon bei der geweckten Aufmerksamkeit entwickelt sich eine Ich-Aktivität der Zuwendung, die jedoch eingebunden bleibt in die intentionalresponsive Struktur des Weckungserlebnisses: Auslöser der Zuwendung ist ein vom Gegenstand ausgelöster Reiz. Vgl. Husserl 1972, § 17, S. 79 ff.

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

Diese Unterstellung der Vorkonstitution eines apperzeptiv vermittelten intentionalen Bewusstseins in der Passivität ist nun keine bloße Unterschiebung, insofern die phänomenologische Analyse demonstrieren kann, dass sie als eine ideale Konstitutionsbedingung zum Weckungsbewusstsein als solchen gehört. Mit der Affektion, die von einem sinnlichen Datum ausgeht, ist die Weckung von Aufmerksamkeit und damit bereits einer solchen von ichlicher Aktivität verbunden in der thematische Zuwendung zum affektiv Gegebenen. Nach Husserl ist jedoch nicht schon diese durch das Weckungserlebnis ursprünglich hervorgerufene Zuwendung als solche intentional und konstituierend, sondern nur insofern, als sie immer schon durch eine Bezugnahme auf den Gegenstand ursprünglich vermittelt ist.187 Terminologisch bringt diesen Doppelsinn von Bezugnahme und Zuwendung der affektiv ausgelösten intentionalen Beziehung die Distinktion »vorgegeben – gegeben« zum Ausdruck: »Für das Ich ist bewußtseinsmäßig Konstituiertes nur da, sofern es affiziert. Vorgegeben ist irgendein Konstituiertes, sofern es einen affektiven Reiz übt, gegeben ist es, sofern das Ich dem Reiz Folge geleistet, aufmerkend, erfassend sich zugewendet hat.« [Husserl, Hua XI, § 34, S. 162] Die Konstitution des Erkenntnisphänomens geht der des Bewusstseinsphänomens intentional ermöglichend voraus: Durch die zur »hyletischen Einheitsbildung« voll und ganz gehörende Ichzuwendung, die Teil einer durch die Affektion ausgelösten Reflexbewegung ist, konstituiert sich die Gegenstandsbeziehung als eine Gegebenheit für das Bewusstsein. Dafür muss sie aber als Grundlage der Affektion bereits zuvor konstituiert und d. h. vorgegeben sein, was wiederum nur möglich ist, wenn die affektiv ausgelöste thematische Zuwendung immer schon die Bezugnahme auf eine ideale Gegenstandseinheit vor und außerhalb der affektiven Thematisierung enthält. Konstitutionstheoretisch gilt demnach auch im Falle des Weckungsbewusstseins: Keine Hyle ohne Auffassung. Zu den »Bedingungen der Möglichkeit« der hyletischen Einheitsbildung gehört also notwendig bereits die Vorkonstitution einer apperzeptiven Leistung, insofern die Weckung immer schon das volle intentional-konstituierende Bewusstsein enthält – Bezugnahme und Zuwendung, Vorgegebenes und Gegebenes – und somit ein vorauszusetzendes Erkenntnisphänomen, das sich schließlich auch noch 187 Zur notwendigen intentionalen Unterscheidung von Zuwendung und Bezug­ nahme sowohl in der Erkenntnis- als auch der Wahrnehmungsorientierung vgl. Teil C, Kap. III,3.

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4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«

als ein Bewusstseinsphänomen konstituieren muss. Denn nur wenn eine solche vorgängige Vermittlung der »realen« Weckungskausalität durch die »ideale« Gegenstandsbeziehung in einer Auffassung vorliegt, scheint es phänomenologisch überhaupt plausibel davon auszugehen, dass die Ichzuwendung über die bloße Weckung von Aufmerksamkeit hinaus das intentionale Bewusstsein enthält, von einem vorgegebenen Gegenstand verursacht zu sein. Husserls genetische Erklärung bewegt sich hier offensichtlich in dem Zirkel, in der hypo­ thetischen Annahme eines solchen die Affektivität transzendierenden Bewusstseins der »intentionalen Verursachung«188 das, was erst als Resultat der analytischen Rekonstruktion explizit zum Vorschein kommt – die Vorkonstitution einer Vermittlung von Hyle und Auffassung schon in der Passivität des Weckungsbewusstseins, die phänomenologisch explizit erfasst wird in der Dichotomie von Zuwendung und Bezugnahme – bereits in das ursprünglich einfache Erlebnis der Verursachung einer affektiv ausgelösten Ichzuwendung hineinzulegen als dessen zwar noch nicht explizit realisiertes, aber gleichwohl ideal impliziertes Selbstverständnis. Doch handelt es sich bei dieser zirkulären Erklärung um keinen logischen Widerspruch, sondern einen im Rahmen der idealisierenden konstitutionstheoretischen Betrachtung durchaus legitimen hermeneutischen Zirkel, der ihren methodisch 188 Anders als für Searle, der mit dem Nachweis einer intentionalen Verursachung programmatisch sowohl die »Intentionalisierung von Kausalität« wie auch die »Naturalisierung von Intentionalität« verfolgt [Searle, S. 146], vermeidet Husserl einen solchen Naturalismus durch die genetisch-phänomenologische Analyse der vermeintlich ungeschieden-einheitlichen Bewusstseinsstruktur der »intentionalen Verursachung«. Die Weckung impliziert für Husserl, dass wir meinen, dass unser Bewusstsein von einem Gegenstand, der uns affiziert, verursacht wird. Das heißt aber nicht, dass im Falle der Wahr­nehmungs­ intentionalität die intentionale Beziehung als solche von ihrem Gegenstand verursacht wäre, wie Searle annimmt [vgl. ebd., S. 59 ff]. Das vorphilosophische Bewusstsein trennt nicht zwischen affektiven und intentionalen Gehalten des Erlebnisses wie die phänomenologische Analyse, welche das Bewusstsein der »intentionalen Verursachung« durch seine implizite Struktur der Vermittlung aufklärt. Intentionale Bezugnahmen sind niemals kausal und werden auch nicht von ihrem Gegenstand verursacht, weil ihr Korrelat eine ideale Bedeutungseinheit ist, die als Form der reinen Geltung keine Genesis im Sinne einer Kausalgenese implizieren kann. Die affektive Ichzuwendung enthält freilich das Bewusstsein von einer kausalgenetischen Verursachung, das nur deshalb zum Bewusstsein wird, von einem Gegenstand verursacht zu werden, weil es sich mit einer schlechthin akausalen intentionalen Bezugnahme verbindet und vermittelt.

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

leitenden »Vorgriff« einholt189, wonach eine Gegenstandsbeziehung überhaupt nur generiert werden kann als ein ideales Konstitutionsverhältnis in Gestalt einer vorgängigen intentionalen Bezugnahme auf die ideale Bedeutungseinheit des Gegenstandes und ihre nachträgliche Realisierung im Bewusstsein.190 Dieser Nachweis einer mit der intentionalen Struktur des Weckungsbewusstseins verbundenen Diakrisis, welche die Konstitution des Ordnungszusammenhangs des Erscheinenden vom dynamischen Wirkungszusammenhang der Affektion ablöst, beschränkt sich jedoch zunächst auf den engen Bereich des durch eine Wahrnehmungsgegenwart jeweils Vorgegebenen, jene erste Stufe der urimpressional ausgelösten weckenden Affektion, die Husserl auch als »Urassoziation« bezeichnet [vgl. Husserl, Hua XI, § 38, S. 180]. Die Frage ist, ob mit der Fortpflanzung dieser ersten Affektion in der assoziativen Erinnerung nicht gerade eine Umkehrung des Bedingungsverhältnisses der subjektiven und objektiven Seite der Konstitution und damit der Verlust einer solchen Diakrisis verbunden ist. Im assoziativen Weckungskontinuum mit seinem »Relativismus der affektiven Tendenzen« scheint doch die intentionale Bindung der Urassoziation, die stets von einem Gegenstand und nicht einer anderen Affektion ihren Ausgang nimmt, verloren zu gehen. Mit welchem Recht kann also angenommen werden, dass eine Unterscheidung von Bezugnahme und Zuwendung auch für das assoziative Weckungskontinuum möglich ist und damit die 189 Die Struktur des hermeneutischen Zirkels hat Heideggers Sein und Zeit kenntlich gemacht. »Wie immer – die Auslegung hat sich je schon endgültig oder vorbehaltlich für eine bestimmte Begriff‌lichkeit entschieden; sie gründet in einem Vorgriff.« [Heidegger 1979, § 31, S. 150] Dieser Vorgriffsgebundenheit wegen kann der Zirkel der Voraussetzung eines »empirischen« Vorverständnisses dessen, was die wissenschaftliche Erkenntnis als ihr Ergebnis erst nachträglich herausbringt, prinzipiell nicht vermieden werden. Gerade auch für die auf einem Vorgriff der Idealisierung beruhenden systematischen Rekonstruktionen der Konstitutionstheorie gilt: »Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« [Ebd., S. 153] D. h. nun konstitutionstheoretisch entscheidend in dem recht verstandenen Sinne der konstruktiven Idealisierung, wonach wissenschaftliche Idealisierungen in solchen »lebensweltlichen« Idealisierungen, die zur intentionalen Struktur des wahrnehmungsmäßigen Erlebnisses gehören, verankert sind. 190 Dieser konstitutionstheoretische Vorgriff führt freilich dazu, dass die in der thematischen Beziehung der Zuwendung liegende Intentionalität der Wahr­ nehmungsorientierung phänomenologisch gleichsam übersehen wird. Vgl. dazu das Methodenkapitel III,7.

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4) Die Distinktion »vorgegeben – gegeben«

Konstitution einer homogenen Ordnung nicht nur von verschiedenen Sinnesfeldern in der unmittelbaren Wahrnehmung und Empfindung, der von Husserl so genannten »Koexistenz«, sondern darüber hinaus auch einer universellen und einheitlichen Ordnung der Sukzession in der Erinnerung unterstellt werden kann? Die Urassoziation enthält nach Husserl nicht nur die vereinzelte Weckung von Aufmerksamkeit und die mit ihr verbundene Ichzuwendung, sondern darüber hinaus die Weckung eines ursprünglich wahrnehmungsgebundenen Erkenntnisinteresses. Unter dem »Titel Affektion« versteht Husserl »den bewußtseinsmäßigen Reiz, den eigentümlichen Zug, den ein bewußter Gegenstand auf das Ich ausübt – es ist ein Zug, der sich entspannt in der Zuwendung des Ich und von da sich fortsetzt im Streben nach selbstgebender, das gegenständliche Selbst immer mehr enthüllender Anschauung – also nach Kenntnisnahme, nach näherer Betrachtung des Gegenstandes« [Husserl, Hua XI, § 32, S. 148 f]. Das Interesse nach Kenntnisnahme, das hier geweckt wird, ist das einer konstituierenden Entwicklung, ein intentionales Streben nach Veranschaulichung und Explikation, das von dem Ideal der systematischen Gegenstandsbestimmung geleitet wird. Die Gegenstandsbestimmung als das transzendentale Ideal der Konstitution unterliegt als solche nicht den subjektiven Bedingungen der Zeitkonstitution; die »phänomenologische Zeitstelle bindet nur das intentionale Erlebnis und nicht den intentionalen Gegenstand. Er wird durch die Zeit nicht individuiert« [ebd., Beilage XV, S. 394]. In genetischer Hinsicht sichert diese Idealität der Gegenstandskonstitution wiederum die Idealität der Individuation, der Konstitution einer Ordnung der Sukzession in den Erlebnisvollzügen. Die in der Ur­­asso­zia­ tion verankerte Verfolgung eines systematischen Erkenntnis­interesses führt dazu, dass sich der systematischen Ordnung der Gegenstandsbestimmung entsprechend eine systematische Ordnung der Erlebnisse entwickelt: die Stiftung eines homogenen Kontinuums der Sukzession. Dieses Ordnungskontinuum entwickelt sich ursprünglich unabhängig und unberührt von allen im Kontinuum der assoziativen Weckung aufgehobenen dynamischen Prozessen des Entstehens und Vergehens. Grundlage für diese Diakrisis der Zeitkonstitution ist wiederum die intentionale Struktur des Weckungsbewusstseins in ihrem Doppelsinn der durch einen Ordnungsbezug vermittelten Ichzuwendung: Das Weckungskontinuum als »Fortpflanzung« der urimpressionalen Weckung leitet sich von der affektiven thematischen Zuwendung her, während das Ordnungskontinuum der Sukzession eine Fortsetzung 395 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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der zu dieser »Urassoziation« ebenso ursprünglich gehörenden intentionalen Bezugnahme darstellt, insofern zu ihr der ideale Entwicklungszusammenhang der systematischen Gegenstandsbestimmung gehört. Die konstitutionstheoretische Annahme eines »unsterblichen« Systems der Retention beruht demnach genetisch auf der Übertragung der systematischen Form der Objektkonstitution auf die subjektiven Erlebnisvollzüge – mit Hegel gesprochen kommt hier zum Vorschein, dass das System der Konstitution als die »logische Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee« sich im sukzessiven Zeitverlauf spiegelt, »die Gestalt der Aufeinanderfolge in der Zeit hat« [Hegel 1952, Bd. I, S. 49 f]. Genau an dieser methodischen Achillesferse der Konstitutionstheorie setzt Heideggers ontologisch und lebensphilosophisch motivierte Destruktion an: Der Lebenszusammenhang ist kein Ordnungszusammenhang.191 Der kritische Punkt einer solchen idealisierenden Betrachtung des Bewusstseinslebens lässt sich jedoch auch immanent konstitutionstheoretisch demonstrieren. Durch ihre intentionale Verankerung in einer idealen Konstitutionsbestimmung wird die Diakrisis des Weckungsbewusstseins, die Aussonderung eines geordneten Systems der Koexistenz und Sukzession aus dem dynamischen Wirkungszusammenhang der Affektion, zu einer ontologischen Differenz. Mit der Bezugnahme auf eine ideal-unveränderliche Gegenstandseinheit entsteht im Weckungsbewusstsein die Differenz von Realem und Idealem, von Wesen und Faktum, von Werdendem und schlechterdings Ungewordenem. Das System der retentionalen Konstitution, das Husserl nicht zufällig immer wieder als »starr« und »immer fertig da« [Husserl, Hua XI, Beilage XIV, S. 388] bezeichnet, stellt demnach eine ungewordene gegenständliche Vorgegebenheit dar, das sich in seiner Genesis der »Wiederkonstitution« nur immer wieder unverändert reproduziert. Durch die bleibende intentionale Bezugnahme auf die ideal-unveränderliche Gegenstandseinheit wird also die Diakrisis gegenüber dem Weckungskontinuum aufrecht erhalten – genetisch durch einen autopoietischen Zusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution, die Erzeugung einer Differenz infolge einer systeminternen Identitätsbildung durch die Reproduk191 Heidegger wendet sich gegen die »Stillstellung des Lebensstromes, Objek­ ti­ v ierung« bei Natorp und Husserl [Heidegger, GA  59, S.  194]. »Kon­­­sti­ tu­ tion ist letztlich ein Ordnungsbegriff.« [Ebd., S. 197] Deshalb wird der Vollzugscharakter des Lebens verkannt und entsprechend der Kon­sti­tu­tions­ bestimmung unterworfen. Und hier gilt: »Konstitution: Ord­nungs­zusammen­ hang.« [Ebd., S. 194]

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5) Schwindendes Bewusstsein

tion. Die reproduktive Wiederkonstitution als eine Form nicht nur der Sinn­gebung sondern auch der Kausalgenese ist jedoch gebunden nicht nur an die ideale Bedingung eines Ordnungskontinuums der Sukzession, sondern auch an die ideale Weckungskontinuität. Nur wenn das Weckungs­kontinuum unauf‌löslich ist, behält die Wiederkonstitution ihre Restitutionsfunktion angesichts der vergänglichen Konstitution des Bewusstseinsphänomens: des unaufhaltsamen Abgleitens der im Bewusstsein aktuell oder habituell verfügbaren Gegenstandsbeziehung in den reproduktiv unverfügbaren Leerhorizont des Unbewussten. Die Selbsterhaltung des Konstitutionsverhältnisses im Ganzen umfasst nun stets ihre objektive wie auch die subjektive Seite, die Konstitution eines Erkenntnisphänomens als ein Bewusstseinsphänomen. Die Unauf‌löslichkeit des Weckungskontinuums, die zur »subjektiven« Seite der Konstitution des Bewusstseinsphänomens gehört, ist zwar ihrerseits eine ideale Konstitutionsbedingung, die jedoch auf die systematische Bestimmung der Objektkonstitution nicht zurückgeführt werden kann. An dieser Unableitbarkeit der subjektiven Konstitutionsbedingungen droht schließlich die gesamte systematisch-konstitutionstheoretische Bestimmung des Bewusstseinslebens zu scheitern.

5)

Schwindendes Bewusstsein. Das konstitutionstheoretische Problem der Erhaltung des Weckungskontinuums

Wie verträgt sich die Behauptung einer »Unsterblichkeit« der Retention wie auch »jedes einzelnen Bewußtseins« [Husserl, Hua XI, Beilage XXII, S. 422] – gemeint ist die Unauf‌löslichkeit jedes »Erkenntnisphänomens«, jeder intentionalen Objektbeziehung –, mit der subjektiven Möglichkeit des Vergessens, dem Abgleiten der im Bewusstsein »lebendigen« Retention in den Leerhorizont des Unbewussten, der »das Retentionale immerfort verschlingt« [ebd.]? Wenn sich das System der Objektkonstitution, das zur Objektbeziehung gehört, nicht mehr im Bewusstsein konstituieren kann, löst sich dann nicht der Zusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution an den Rändern des Be­w usstseins schließlich auf? Die Fähigkeit des Bewusstseins zur Habitualisierung des geordneten Konstitutionsverhältnisses ist offenbar nicht unbegrenzt, sondern begrenzt. Wie kann unter diesen Umständen die Selbsterhaltung des ganzen transzendentalen Bewusstseins­lebens vollständig auf die genetische Kon­sti­tu­ tions­bestimmung, einen autopoietisch geschlossenen Reproduktions397 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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zusammenhang der Konsti­tution und Wiederkonstitution, überhaupt zurückgeführt werden? Husserls genetische Phänomenologie versucht dies zu zeigen durch den methodischen Nachweis, dass auch die Restitutionsfunktion der dynamischen, assoziativen Weckung durch eine Leistung der reproduktiv-entwickelnden Wiederkonstitution ausschließlich begründet wird. Zum Leben des Bewusstseins gehört sein möglicher Tod wie der Schlaf zum Wachen: Schlaf und Tod sind so auch die Metaphern, mit denen der Zustand dessen, was vermeintlich außerhalb jedes Konstitutionszusammenhangs zu stehen scheint – das Unbewusste – als ein mögliches Konstitutionsverhältnis bestimmt wird. Assoziatives und apperzeptives »Leben« beinhaltet die Konstitution der Gegenstandsbeziehung im Bewusstsein durch die Kraft der Affektion. Sie garantiert, dass sich auch solches nicht aktuell Bewusste im Bewusstsein zu halten vermag in Gestalt einer habituell verfügbaren aktiven Disposition für die Reproduktion. Entsprechend meint der »Tod« des Bewusstseinslebens die Leblosigkeit der intentionalen Sinngebung, die ohne zu affizieren und deshalb »wirkungslos für neues Konstituieren« [Husserl, Hua XI, § 37, S. 177] nicht mehr in den Reproduktionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution eingeht. Der tote Zustand eines wirkungslos gewordenen Konstitutionsverhältnisses ist jedoch kein wirklicher Tod und damit der Verlust des Konstituiertseins, sondern nur eine Veränderung seiner Seinsmodalität: der Übergang vom Wach- in den Schlafzustand des Bewusstseins. Die »Unsterblichkeit«, die Fähigkeit zur Selbsterhaltung des Sinn konstituierenden Bewusstseins, enthüllt sich somit dort, wo sich dieses scheinbar aufzulösen scheint: Zwar ist der »konstituierte Gegenstand, das Identische […] nicht mehr konstitutiv lebendig; also auch nicht mehr affektiv lebendig, aber in der ›toten‹ Gestalt ist der Sinn noch implizit da, er ist nur ohne strömendes Leben« [ebd.]. Husserl rekapituliert hier einmal mehr seinen Grundgedanken, dass zur Struktur des intentionalen Bewusstseins die mögliche Umwandlung der Anschauung in eine Leervorstellung und umgekehrt gehört. Die retentionale Ordnung als Form der Objektkonstitution ist »unsterblich« – das zeigt sich gerade auch auf der subjektiven Seite der Konstitution. Als dem Bewusstsein vorgegebene Form der Objektkonstitution kann sie subjektiv in einer Vorstellung entweder anschaulich, klar und deutlich oder aber leer, dunkel und undeutlich gegeben sein. Husserls cartesianischer Rationalismus definiert den Leerhorizont des Unbewussten, der alles Retentionale schließlich verschlingt, als »eine 398 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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leere, in sich völlig unbestimmte Vorstellung« [Husserl, Hua XI, Beilage XXII, S. 423]. Die unbewusste Retention verkörpert demnach den absoluten Grenzfall der völlig unklaren und undeutlichen Vorstellung eines Gegenstandes – »das absolute Schwarz der Intentionalität« [ebd., Beilage XXII, S. 424] – und demnach ein nur nicht wirkliches und explizit-bestimmtes, sondern implizites, mögliches sinngebendes Bewusstsein. Diese cartesianisch reduktionistische Definition der unbewussten als Grenzfall einer bewussten Vorstellung hat den methodischen Vorzug, die ideelle Möglichkeit der prinzipiellen Restituierbarkeit des Bewusstseins zu implizieren, hält sich jedoch ausschließlich an die möglichen Wandlungen der intentionale Sinngebung. In der Erinnerung als Form der »passiven« Synthesis ist der Sinn jedoch kein »reiner« Sinn, als er in einem kausalgenetischen Wirkungszusammenhang der affektiv-auslösenden, assoziativen Weckung generiert wird. Zu den Konstitutionsbedingungen des Leerhorizontes gehört deshalb nicht bloß eine Veränderung der Vorstellungsmodalität, sondern vor allem seine Wirkungslosigkeit im Reproduktionszusammenhang. Darin verbirgt sich jedoch ein phänomenologisches Paradox. Insofern die unbewusste Sinngebung nicht einfach mit einer idealen Geltung gleichzusetzen ist, die unabhängig von ihrer faktischen Realisierung in Bewusstseinsvollzügen bestehen kann, sondern in einen kausalgenetischen Reproduktionszusammenhang des Bewusstseins hineingehört, entspricht der Unterscheidung von explizitem (bewusstem) und implizitem (unbewusstem) Sinn die Wirksamkeit bzw. Wirkungslosigkeit in der Konstitution – eine Gleichsetzung, die in dieser einfachen Form jedoch unzulässig ist: Was nicht auf irgend eine Weise wirkt und das Bewusstsein affiziert, kann durch eine Form des konstituierenden Bewusstseins auch nicht restituiert werden. »Das unendliche Reich der Vergessenheit ist ein Reich »unbewußten« Lebens, das immer wieder geweckt werden kann.« [Husserl, Hua XI, Beilage XXII, S. 422] Zwar gehört der Leerhorizont des Unbewussten nicht zu dem, was realiter durch die Assoziation geweckt wird: der unbewusste ist kein habitueller Sinn, über den das Bewusstsein faktisch verfügen könnte. Gleichwohl steht er aber auch nicht völlig außerhalb des Wirkungszusammenhangs der assoziativen Weckung, was der kausalgenetischen Dimension der Konstitution in der Passivität widersprechen würde. Husserl erweitert hier Sinn und Reichweite der assoziativen Weckung im Sinne eines Prinzips nicht nur der Repro­duktion von Inhalten des Bewusstseins, sondern der Restitution 399 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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des Bewusstseinsphänomens selbst. Nicht bloß im Sinn und Gedanken, im ganz realen Vollzug der Erinnerung muss die Möglichkeit ausgewiesen werden, jedes eingeschlafene Bewusstseinsleben wieder aufzuwecken und auf diese Weise die unbewusste in eine habituell-bewusste Gegenstandsbeziehung zurück zu verwandeln. Angesichts des Unbewussten weiß das Bewusstsein von der »Unsterblichkeit« der Retention und der bleibenden Möglichkeit identifizierender Erkenntnis nicht etwa schon durch den allen Vollzügen der Reproduktion überhaupt vorgängigen intentionalen Sinn, sondern nur vermittels einer reproduktiven assoziativen Weckung und der durch sie post factum vollzogenen Wiederbelebung des Vergessenen und Unbewussten im Bewusstsein, dem »Phänomen des mich wieder Zurückwendens und dann noch Erfassens«.192 Der Weckung wird demnach über die bewusstseinsimmanente Reproduktion hinaus die Leistung zugeschrieben, auch solche unbewussten »Potentialitäten von Erscheinungen« [ebd., Beilage V, S. 361] bewusstseinsmäßig aktualisieren zu können, sodass sie den phänomenologisch doppelten Sinn der Veranschaulichung mit oder ohne eine Funktion der Restitution, der »Weckung des schon für sich Bewußten und Weckung des Verborgenen« [ebd., § 36, S. 172] bekommt. Auch diese über die bloße Reproduktion von bewusstseinsimmanenten Daten hinausgehende methodische Beanspruchung der ­Weckung als wirksames Restitutionsprinzip des Bewusstseinsphänomens als solchen verlässt sich auf die konstruktive Annahme eines ideell unauf‌löslichen Weckungskontinuums im Bewusstsein. Wenn selbst angesichts der Überschreitung der Bewusstseinsschwelle auf das Unbewusste hin »die Potentialität der Weckungen eine ins End192 »Daß dieser Leerhorizont das Retentionale immerfort verschlingt, daß jedes schließlich in ihn versinkt, weiß ich woher? Nur was abgehoben bleibt, ist wieder faßbar. Woher weiß ich das? Und wenn ich mich anderem zuwende und ausschließlich, so daß ich das Ergriffene fahrenlasse, dann ist es dahin. Woher weiß ich das? Ich habe das Phänomen des Fahrenlassens und mich einem Neuen Zuwendens und das Phänomen des mich wieder Zurückwendens und dann noch Erfassens, das noch ›etwas‹ da ist […]. Erfolgt sie [die Rückwendung, d. Verf.] nachträglich, so erfasse ich noch einiges abgehoben und einen Hintergrund als irgendetwas. Aber ich weiß, daß er dieselbe Struktur haben muß, ich habe Gewesenes, daß eine Zeitreihe sein muß. Ich habe eine leere, unbestimmte, unanschauliche Vergangenheit. Aber freilich, weiß ich das nicht erst aus der Reproduktion? Jedenfalls ist es ein Retentionales – nicht ein beliebiger Anfang an der Retention, der beständig da ist, sondern Retention.« [Husserl, Hua XI, Beilage XXII, S. 422 f]

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lose fortgehende« ist, dann scheint es gerade hier »evident, daß dann zu jeder Wiedererinnerung ideell eine mögliche Weckungskontinuität gehört« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 193]. Während die »Weckung des schon für sich Bewußten« Kontinuität von sich her impliziert aufgrund der zur Affektion gehörenden Gradualität, durch die sich verschiedene Stufen der Hebung und Senkung der Vorstellungen im affektiven »Merklichkeitsrelief« des Bewusstseins193 ergeben, ist die phänomenologisch beanspruchte Evidenz eines solchen Weckungskontinuums im Falle der Bewusstlosigkeit jedoch fraglich. Wird das Abgleiten des im Bewusstsein habituell Verfügbaren in das ganz und gar Unbewusste nicht gerade durch die schlechthin fehlende Möglichkeit der assoziativen Weckung markiert? Husserl argumentiert an dieser Stelle wieder­um mit einer Analogie der Konstitution und Wiederkonstitution: Wie das Versinken des wachen Bewusstseinslebens in den »starren Schlaf« des Unbewussten ein nie abbrechender Prozess ist, so auch der umgekehrte Vorgang der restituierenden Weckung.194 Es ist bezeichnend, dass sich diese konstitutionstheoretische Analogie zwischen der Kontinuität des Einschlafens und des Aufwachens auf das Phänomen der Bewusstseinsschwelle stützt. Nur wenn sich das Unbe­w usste nicht anders als ein Schwellenphänomen des Bewusstseins konstituieren kann, ist Husserls Ableitung des idealiter unendlichen und unauflöslichen Weckungskontinuums aus der Analogie der Konstitution ‌ und Wiederkonstitution überhaupt plausibel. Denn sollte der Schlaf des Unbewussten wirklich zum »starren Schlaf« werden, der sich von der Dynamik des Versinkens an der Schwelle vom Bewussten zur Bewusstlosigkeit schließlich vollständig absolvierte, dann bedeutete eine solche Starre den wirklichen Tod jeglichen konstituierenden Bewusstseinslebens und entsprechend die Unmöglichkeit der Wiederkonstitution durch den Abbruch der assoziativen Weckungskonti­nuität. Husserls Beschreibung des Verdichtungsprozesses, der mit dem Übergang vom Nah- in den Fernbereich der Erinnerung einsetzt, sug193 Vgl. dazu vor allem den § 35, der sich mit der Problematik einer Gradualität der Affektion beschäftigt [Husserl, Hua XI, S. 166 ff]. 194 »So, wie dieser Prozeß wachen Bewußtseins, wacher Bewußtseinskonstitution und des Versinkens in starren Schlaf ein nie abbrechender ist und sich daher Sedimente des Unbewußten immerzu übereinanderlegen, so ist auch die Potentialität der Weckungen eine ins Endlose fortgehende. Und es ist evident, daß dann zu jeder Wiedererinnerung ideell eine mögliche Weckungskontinuität gehört, eine Kontinuität von möglichen Wiedererinnerungen, die zur lebendigen Gegenwart, in der wir gerade stehen, hinführt.« [Husserl, Hua XI, § 42, S. 193]

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geriert, dass der fortschreitende Anschauungsverlust mit einer sich in Stufen vollziehenden Auf‌lösung des Kontinuums der assoziativen Weckung einhergeht. Zunächst ist die Ersetzung der Anschauung durch die Leervorstellung nicht total, es entsteht vielmehr »ein Gemisch von Anschauung und Leervorstellung« [Husserl, Hua XI, § 36, S. 174]. Das bedeutet, dass sich die Weckungskontinuität erhalten kann durch die zumindest partiell mögliche Anknüpfung an einen Anschauungs­gehalt der Erinnerung. Dieser Prozess der Substitution schreitet aber weiter fort, bis »die Retention völlig zur Leervorstellung geworden ist, nun keinen Anhalt an Anschaulichem hat« [ebd.] und deshalb auch keine weckende Assoziation mehr existiert, die den Anschauungsgehalt der Erinnerung mit einer affektiven, urimpressionalen Weckung in Verbindung bringt und dadurch die Weckungskontinuität von Wahrnehmung und Erinnerung aufrecht erhält. Doch zeigt sich an dieser Stelle die Doppeldeutigkeit des Weckungskontinuums im Sinne eines noch vorintentionalen Prinzips der Ähnlichkeitsassoziation und der intentionalen Konstitutionsbestimmung. Der Leerhorizont »verschlingt« zunächst einmal nur die Retention, d. h. die Weckung büßt damit ihre intentionale Funktion der Konstitution ein, den Ordnungszusammenhang der Sukzession zu veranschaulichen. Die Weckungskontinuität im vorintentionalen Sinne wird von dieser Auf‌lösung des Konstitutionszusammenhangs in der Assoziation aber zunächst noch nicht betroffen, sofern Anschaulichkeit erhalten bleibt »nach den oder jenen Partialmomenten« – also von vereinzelten Inhalten, die durch pure Ähnlichkeitsassoziation geweckt werden –, sodass auf diese Weise die Kontinuität der Weckung weiterhin garantiert wird, indem »schon rückwirkende affektive Kraft von der Anschauung her, letztlich der Urimpression, wirksam ist« [ebd.]. Aber auch diese vorintentionale Weckungskontinuität »»versiegt […] in das allgemeinsame Null der Unterschiedslosigkeit« [ebd.]. Worauf gründet sich nun die Möglichkeit der Restitution? Husserl unterstellt in allen Fällen eine restituierende Weckung durch den Konstitutionszusammenhang, denn: »Was kann die Weckung anders besagen, als daß das Implizite wieder explizit wird?« [Husserl, Hua XI, § 36, S. 174] Husserls systematische Rekonstruktion hält sich an den Prozess der Verdichtung, der sich durch die Erhaltung der intentionalen Struktur in der Substitution der Anschauung durch eine Leervorstellung auszeichnet, die Husserl mit Blick auf das erscheinende Gegenständliche »Verhüllung« nennt. Das bedeutet, dass das »Vergessen« als eine Veränderung des Bewusstseinsmodus, der Verhüllung 402 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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des ursprünglich unverhüllt Gegebenen, wonach der Sinn »aus explizitem Sinn zu einem impliziten geworden« ist [ebd.] und damit als ein repräsentatives Bewusstsein und Konstitutionsverhältnis bestimmt werden kann. Die Möglichkeit der Restitution ergibt sich so gewissermaßen von selbst aus der intentionalen Struktur der Verdichtung, der im Prinzip reziproken Substitution von Anschauung und Leervorstellung. Das leer Gewordene kann wieder anschaulich, das Implizite wieder explizit werden in Gestalt einer »enthüllenden Weckung« [ebd., S. 175]. Diese rein formale Ableitung der Restitution unterstellt spiegelbildlich zu jeder Stufe der Entleerung eine eben solche der Restitution. Die »erste Form« [ebd.] der restituierenden Sinnenthüllung ist eine W ­ eckung, welche einzelne Inhalte aus dem Unbewussten ins Bewusstsein hebt und damit dem Vergessen entreißt. Die zweite Stufe entspricht der Wiederherstellung der Ordnung der Konstitution durch die Veranschaulichung der retentionalen Sukzession. Sie ist mit der Auf‌lösung von Fiktionalisierungsprozessen verbunden, die sich infolge der zunächst noch vorintentionalen, der sukzessiven Ordnung entbehrenden Weckung von vereinzelten Inhalten in Form der Ähnlichkeitsassoziation einstellen. Diese formale Bestimmung enthält jedoch wiederum die Zweideutigkeit, dass das »Weckungsphänomen« konstitutionstheoretisch einerseits auf einer intentionalen Sinngebung beruht, die andererseits notwendig kausalgenetisch generiert wird. Die Vereinbarkeit von Sinngebung und Kausalgenese in der genetischen Konstitution hängt nun geradezu an der Idee eines unauf‌löslichen Weckungskontinuums. Damit entsteht aber auch die Schwierigkeit, dass die Veränderung des intentionalen Sinnes im Verdichtungsprozess – die Substitution der Anschauung durch eine Leervorstellung – jeweils mit der Auf‌lösung einer Form von Weckungskontinuität einhergeht. Die Restitution impliziert somit die Wiederherstellung nicht nur der Konstitution von Sinn, sondern auch der Weckungskontinuität. Wird so nicht kausalge­ netisch das, was erst das Ergebnis der Restitution ist – die Wiederherstellung des Kontinuums der assoziativen Weckung – als Restitutionsbedingung wiederum vorausgesetzt? Dieser Zirkel lässt sich demonstrieren an der prinzipiellen Nachträglichkeit einer Restitution, welche die Form einer »Wiederkonstitution« annehmen muss. Der »retentionale Prozeß läßt sich nicht aufhalten in seiner starren Notwendigkeit des Ablaufs« [Husserl, Hua XI, § 36, S. 173] und ebenso wenig die Fatalität des Verdichtungsprozesses mit seinem Verlust an Anschaulichkeit und affektiver Bewusstheit. 403 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Ein solcher Verlust ist freilich kein unwiederbringlicher Verlust der Möglichkeit nachträglicher Restitution wegen, die durch die Erhaltung der intentionalen Struktur und das mit ihm verbundene Konstitutionsverhältnis verbürgt ist. Das Restituieren bedeutet keine Schöpfung aus dem Nichts, sofern es sich in seiner Nachträglichkeit auf eine vorgängig konstituierte Leervorstellung stützt, welche die Wiedergewinnung der Anschauung als eine entwicklungsfähige Disposition in sich enthält. Eine solche Unterscheidung von (Ordnungs)-Dispositionen und Akten ist aber nur in einem Konstitutionszusammenhang überhaupt möglich, denn der kausalgenetische Wirkungszusammenhang des Weckungskontinuums beruht auf der ausnahmslosen und uneingeschränkten Aktualität ordnender Kräfte. Was hier verloren geht, indem es seine Wirkung verliert, kann deshalb auch nicht nachträglich restituiert werden. Dass die dynamische assoziative Weckung eine Funktion der nachträglichen Restitution beinhaltet, ist also nur denkbar, wenn sie als eine durch die intentionale Konstitution vermittelte Auslösungsdynamik gedacht wird, welche Leervorstellungen reproduktiv aktualisiert. Diese Vermittlung setzt aber genau das als Bedingung anscheinend vor­aus, was sich im Zuge des Verdichtungsprozesses unaufhaltsam in die totale Leere aufzulösen scheint, das »Gemisch von Anschauung und Leervorstellung«. Die Auslösung als Form der reproduktiven assoziativen Weckung impliziert einerseits das Konstitutionsverhältnis durch ihre Leistung der Veranschaulichung einer Leervorstellung, die andererseits in ihrer kausalgenetischen Wirksamkeit eine idealiter und realiter unauf‌lösliche ideale Weckungskontinuität zur notwendigen Voraussetzung hat: Die aktualisierende Weckung des Unanschaulichen kann nicht anders als von einer aktuellen Anschauung ihren Ausgang nehmen. Die Restitution in der Passivität des Weckungsbewusstseins ist demnach unmöglich so zu verstehen, dass sich eine vorgängig vollständig aufgelöste Weckungskontinuität auf wundersame Weise durch eine Weckung wiederherstellt. Von der restituierenden Wiederkonstitution in Gestalt der aktiven Synthesis, ihrer diskontinuierlich nachträglichen Analyse eines vorgängig schon abgeschlossenen Prozesses der fiktionalisierenden Synthese, unterscheidet die passive Synthesis, dass sowohl Auf‌lösung als auch Restitution des Konstitutionszusammenhangs aufgehoben bleiben in ein und demselben Wirkungszusammenhang der Affektion. Die restituierende Weckung zeichnet sich deshalb aus durch ihre kontinuierlich-einheitliche Wirkungsweise eines 404 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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vorgängig-nachträglichen Schwindens und Inhibierens, des vorbeugenden Aufhaltens des vollständigen Verlustes des lebendigen Konstitutionsverhältnisses und seiner intentionalen Gegenstandsbeziehung. Der mit der retentionalen Wandlung »Hand in Hand gehende Prozeß der affektiven Vernebelung wird aufgehalten« durch »Rückstrahlung affektiver Kraft«, die letztlich »zum Durchbruch einer mehr oder minder klaren, mehr oder minder inhaltsreichen Reproduktion und eben damit zum identifizierenden Übergang der Leervorstellung in eine Selbstgebung« führt [Husserl, Hua XI, § 36, S. 173]. Zur Affektivität des Weckungskontinuums gehört das Wachsen und Schwinden der Kräfte, das sich an der Schwelle des Bewussten zum Unbewussten gewissermaßen fokussiert. An der Bewusstseinsschwelle sind nicht nur einzelne Kräfte im Schwinden begriffen, sondern das ganze Kontinuum der Weckung – und dieser im Ansatz sich vollziehenden Auf‌lösungstendenz wirken wiederum andere affektive Tendenzen entgegen durch ihre außergewöhnliche restituierende Kraft, die Husserl mit der Metapher des »Durchbruchs« bezeichnet. Der Durchbruch ist eine Form der affektiven Kontrastierung, der in Bezug auf alle Verhüllungstendenzen der Verdichtung einen »durchschlagenden« Effekt hat. Kontrastextreme wie etwa ein lauter Knall haben dort, wo sich homogene kontinuierliche Einheiten der Verschmelzung unverhüllt im Bewusstsein abheben, einen die Verschmelzung hemmenden und damit Diskontinuität erzeugenden, störenden Ver­deckungs­effekt.195 Anders sieht es jedoch im Falle der Enthüllung eines Leerhorizontes des Vergessens aus. Die Bedingung der Möglichkeit der Weckung ist hier eine durch Kontraste erzeugte Diskontinuität in der ansonsten eintönigen Unterschiedslosigkeit des Leerhorizonts als dem »absolute[n] Schwarz der Intentionalität« [Husserl, Hua XI, Beilage XXII, S. 424], ohne welche es überhaupt keinen auslösenden Anhaltspunkt für eine Verbindung des Anschaulichen mit dem Leervorstelligen gäbe.196 Für die Weckung gilt grundsätzlich: »Nur wo ungleichförmig auftretende Gebungen da sind, 195 »Für die Einbeziehung eines abgehobenen Datums und desjenigen, von dem es sich abhebt, haben wir noch einen anderen besonders brauchbaren Ausdruck: Kontrast, wobei wir ihn nur nicht für extreme Fälle, wie für den Kontrast eines Knalles gegenüber einem schwach geräuschigen oder tonalen Hintergrund gebrauchen. Zu einer homogenen Gruppenmehrheit gehört beides, konkrete Verschmelzung und Kontrast« [Husserl, Hua XI, § 29, S. 138 f]. 196 »Und wäre das Leben ein ›eintöniges‹ Dasein, etwa ein Ton in immer gleichförmigem, eintönigem Verlauf, so könnte ich nicht zurück. Das ist sogar sehr bedeutsam. Wäre der ›Anfang‹ des Lebens, die Anfangsperiode eine end-

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kann W ­ eckung statthaben, und danach muß das Wiedererinnern die Form des Zurückspringens haben.« [Ebd., Beilage XXIII, S. 425] Im Weckungs­ kontinuum schwächen sich jedoch solche affektiven Ungleichförmigkeiten, die für die enthüllende W ­ eckung den auslösenden Anhalt bieten können, infolge der Verdichtung mehr und mehr ab. Es kommt auf diese Weise im Leerhorizont zu einer Potenzierung der Verhüllung und damit zur Entstehung eines ganzen Kontinuums der Verhüllung: »Aber dieser Horizont ist eben eine Verhüllung und ein Verhüllungskontinuum in sich implicite bergend, eine Verhüllung nter Stufe« [ebd., Beilage XXIV, S. 426]. Die Enthüllung verlangt entsprechend eine auslösende Kontrastierung im Sinne eines Kontrastextrems, die es der Weckung erlaubt, nicht nur eine Hülle, sondern das ganze eingeschachtelte Verhüllungskontinuum tout d’un coup im Sinne eines singulären Durchbruchs zu durchschlagen: »Eine Weckung schlägt durch alle Hüllen hindurch, als ein synthetischer Strahl, der auf das betreffende Gegenständliche in einer Gegenwart geht.« [Ebd.] Es ist kein Zufall, dass Husserl hier auf die absolute Diskontinuität einer singulären Durchbruchsgewalt setzt, anstelle einer der Verhüllungskontinuität spiegelbildlich entsprechenden gewaltlosen kontinuierlichen Enthüllung. Sie würde nämlich die nicht nur einmalige, sondern wiederholte assoziative Weckung voraussetzen und damit das ganze bewegungsdynamische Weckungskontinuum mit seinem »Relativismus der affektiven Tendenzen«, wechselseitigen Hemmungen und Verschmelzungen, die mit jeder Enthüllung zugleich eine neue Verhüllung produzieren würden und damit letztlich eine Neutralisierung und Selbstaufhebung des Effektes der Restitution bewirken müssten.197 Die Einmaligkeit des Durchbruchs spiegelt zudem die Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit, die nach Husserl zur Individuation als der ursprünglichen Konstitution der retentionalen lose Eintönigkeit, so wäre es eine Periode undurchbrechbaren Vergessens.« [Husserl, Hua XI, Beilage XXIII, S. 424] Wir können deshalb nie das Leben in seiner Gänze »kontinuierlich rückwärts durchlaufen« [ebd.] – sondern nur vermittelt durch diskontinuierliche und sprunghafte, kontrastierende Weckungen. Es ist demnach »nur ein je nicht eintöniges Leben überschaubar, und nicht eine synthetische Einheit über alle Perioden« [ebd., S. 425]. 197 Da die Weckung in der Fernerinnerung im Unterschied zur Naherinnerung, welche die retentionale Sukzession kontinuierlich veranschaulicht, notwendig diskontinuierlich ist, wird das Weckungskontinuum hier beherrscht von den außerhalb des geordneten Zusammenhangs der Konstitution und reproduktiven Wiederkonstitution stehenden produktiven, bewegungsdynamischen Tendenzen.

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5) Schwindendes Bewusstsein

Ordnung gehört198 und sie somit als eine Form der veranschaulichenden Wiederkonstitution ausweist. Diesen systematischen Zusammenhang bestätigt schließlich die zweite Stufe der enthüllenden Weckung. Der »Durchbruch« führt nicht nur dazu, dass vereinzelte Inhalte dem Vergessen aufhaltend entrissen werden und damit das kausalgenetisch wirksame, dynamische Kontinuum der assoziativen Weckung erhalten bleibt. Auch die Restitution der intentionalen Seite des Weckungskontinuums – die Erhaltung des Zusammenhangs der Konstitution und Wiederkonstitution durch das Aufhalten der dem Bewusstsein entgleitenden retentionalen Ordnung – ist auf eine singuläre Weckung durch ein Kontrastextrem zurückzuführen. Ist die Weckung intentional mit einer Veranschaulichung der Sukzession verbunden, dann geht mit dem Schwinden des affektiven Weckungskontinuums die Auf‌lösung auch des Ordnungskontinuums einher. Diese Parallelität der Auf‌lösung des Ordnungsund des Wirkungszusammenhangs in der assoziativen Weckung verdeutlicht das Phänomen der Intensitätsschwächung. Die Übertragung von Weckungsenergie im Weckungskontinuum wird in ihrer Wiederholung zunehmend schwächer. Die Diskontinuität, die zur Weckung als solche gehört, insofern sie von wechselnden Kontrastierungen ausgelöst wird, führt aber dazu, dass dieses Schwinden in seiner Kontinuität eher verdeckt und damit nicht ausdrücklich wahrgenommen wird. Ausdrücklich bewusst wird die kontinuierliche Intensitätsschwächung erst dann, wenn die Weckung mit einer intentionalen Leistung der Veranschaulichung der retentionalen Ordnung der Sukzession verbunden ist. Die Verminderung der Lebendigkeit der anschaulichen Erfassung wird ihrem Gegenstand entsprechend sukzessiv und kontinuierlich erfasst. Doch erscheint es infolge der Intensitätsschwächung zunehmend schwieriger, die Ordnungsstrukturen wahrzunehmen, die an Klarheit und Deutlichkeit verlieren. Der Grenzfall dieser fortschreitenden Intensitätsschwächung ist die affektive Indifferenz, die sich darin bekundet, dass die Intensitätsschwächung als eine Verminderung der klaren und deutlichen Erfassung und damit eine sukzessiv-kontinuierliche nicht mehr wahrnehmbar ist. Kontrastextreme haben hier die restitutive Funktion, nachhaltig zu verhindern, dass der Grenzfall des Verschwindens jemals wirklich erreicht und damit das Schwinden als Schwinden gleichsam »unendlich« erfahrbar und so zugleich die 198 Vgl. dazu den § 30 »Individuation in Sukzession und Koexistenz« [Husserl, Hua XI, S. 142 ff], vgl. Einleitung Kap. V, sowie Teil B, Kap. III,3.

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

Weckungskontinuität als eine sich an der Schwelle des Bewussten zum Unbewussten immer nur tendenziell und nicht wirklich aktuell Auf‌lösende erhalten bleibt.

6)

Auslösungsdynamische oder bewegungsdynamische Restitution? Das Beispiel des sich verlierenden Tonkontinuums

Den komplexen Zusammenhang der restitutiven Erneuerung des Weckungskontinuums erläutert Husserl am Beispiel eines dynamischen Tonkontinuums, eines ins Nichts der Unhörbarkeit allmählich abgleitenden Diminuendos, das an diesem völligen Entgleiten durch ein singuläres initiales Kontrastextrem gehindert wird, dessen Übermaß an Weckungsenergie sich im Weckungskontinuum der Tonreihe nachhaltig fortpflanzt: »Ist ein neu einsetzendes Datum geweckt, so geht die Weckung kontinuierlich weiter, sie bleibt bei dem sich ja kontinuierlich entfaltenden Datum, und verliert es in dieser Entfaltung, etwa durch Intensitätsschwächung, durch Verwischung der Konturen u. dgl. an affektiv bedeutsamen Voraussetzungen, so daß ein so ungünstig anhebendes Datum sonst nicht zur Abhebung käme, so wirkt die kontinuierliche Übertragung der affektiven Kraft auf das minder Günstige stetig weckend, somit der affektiven Schwächung entgegenwirkend, haltend. Der anfangende laute Ton hält im Übergang ins piano den Ton in affektiver Kraft bis ins feinste piano, das sonst unmerklich bliebe.« [Husserl, Hua XI, § 33, S. 152 f] Husserls Erklärung erweist sich schon in ihrem Ansatz als cartesianisch und rationalistisch damit, dass sie die affektiv bewirkte Resti­ tution als eine Veränderung ausschließlich des Vorstellungsmodus eines gegebenen Gegenstandes – als eine Leistung der Kompensation des Verlustes an Klarheit und Deutlichkeit, mit der die Ordnung der Sukzession intentional erfasst wird – beschreibt. Das geschieht im Einklang mit der ontologischen Prämisse der Konstitutionstheorie, der Konstitution von Ordnungszusammenhängen der Koexistenz und Sukzession unabhängig vom Wirkungszusammenhang der Affektion. Die Ordnung entsteht niemals aus dem bewegungsdynamischen Kontinuum durch eine diakritische Entwicklung, sondern besteht unabhängig von ihr als ein gegenständlich gegebenes System, das sich durch seine autopoietische Reproduktion in der »Wiederkonstitution« von den Wirkungszusammenhängen der Affektion aus- und absondert. Diese Diakrisis im Sinne einer durch den Reproduktionszusam408 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Auslösungsdynamische oder bewegungsdynamische Restitution

menhang der Konstitution selbst erzeugten Differenz wird nun durch die mögliche rationalistische Interpretation auch des Grenzfalls der Restitution, des Entstehens und Vergehens des an sich bestehenden Systems der Konstitution im Weckungskontinuum, bestätigt. Das Entstehen und Vergehen als ein Phänomen der Konstitution ist kein produktiver bewegungsdynamischer Prozess der Auf‌lösung und Synthese einer assoziativen Verbindung: Die Sukzession als solche verkörpert kein Assoziationsprinzip.199 Vielmehr beschränkt sich die Wirkung der Assoziation darauf, die immer schon vorgegebene Ordnungsform als eine Gegebenheit im Bewusstsein zu konstituieren. Das Entstehen und Vergehen betrifft demnach nur die subjektive, nicht die objektive Seite der Konstitution – die veränderlichen Modi der Klarheit und Deutlichkeit des Bewusstseins einer ansonsten unveränderlich gegebenen Gegenstandsbeziehung – und die Restitution beschränkt sich ihrer ausschließlich subjektiven Bestimmung im Rahmen der Konstitution entsprechend auf die allgemeine Funktion einer rein reproduktiven Auslösungsdynamik, vorgegebene Ordnungen durch ihre affektive Veranschaulichung ins Bewusstsein zu heben – ganz konkret die erwirkte Kompensation eines Anschauungs- und Differenzierungsverlustes. Dass Husserl diesen Sachverhalt am Beispiel des Tonkontinuums erläutert, ist insofern ein methodischer Glücksfall, als sich gerade hier die operativen methodischen Restriktionen und Grenzen dieses Erklärungsmodells aufzeigen lassen. Husserls rationalistische Interpretation findet sich in all ihren wesentlichen Zügen vorgezeichnet in Descartes Musicae Compendium von 1618. Nach Descartes ermöglichen nicht alle Tonempfindungen die Erfassung musikalisch geordneter, harmonischer Verbindungen. Die einzelnen Töne affizieren das Bewusstsein ja nach ihrer Lage im Tonraum verschieden stark. Die Wahrnehmung kommensurabler harmonischer Verhältnisse wird durch solche affektiven Inhomogenitäten nur dann nicht gestört, wenn unmelodische Geräuschempfindungen, die zu Kontrastextremen neigen, ausgeschlossen werden. Starke Kontraste wie »das Geräusch eines Klapses oder das Getöse eines Donners« [Descartes, S. 3] erscheinen Descartes für die Musik deshalb grundsätzlich als ungeeignet. Wie der Blick in die Sonne das Auge blind macht, so verletzt das laute Getöse das Ohr und verhindert die Aufnahme mathematischer Proportionen

199 Vgl. Husserl, Hua XI, § 33, S. 153.

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

als Grundlage einer harmonisch geordneten Empfindung.200 Doch erlangen solche Kontrastextreme andererseits eine spezifisch musikalische Ordnungsfunktion dort, wo es darum geht, Dissonanzen als minder klar und deutlich erfasste Konsonanzen in das harmonische System der Töne mit einzubeziehen. Kontrastextreme bekommen hier den Sinn einer aufklärend-verdeutlichenden Weckung, eine musikalisch geordnete in der ungeordneten Empfindung der Töne wenigstens ansatzweise wachzurufen. Das geschieht etwa bei einem stark figurierten, mehrstimmigen Tonsatz, der dazu führt, dass die metrische Periodisierung der einzelnen Melodien nicht mehr klar und deutlich wahrgenommen wird. Descartes fragt sich, wie auch hier die melodische Gliederung mit einem Rest an Deutlichkeit zu erfassen ist: »Meiner Ansicht geschieht dies durch eine gewisse Betonung der Stimme bei der Vokalmusik oder der Tonerzeugung bei den Instrumenten, so daß beim Anfang eines jeden Niederschlags ein deutlicher Ton erklingt (ita ut initio cujusque battutae distinctius sonus emittatur)« [ebd., S. 6.7]. Die Wirkungsweise des initialen Kontrastes erläutert Descartes mit einer Analogie von Natur und Kunst, der verursachten Bewegung durch einen starken Bewegungsanstoß, der sich kontinuierlich fortpflanzt. Was man bei einem Tänzer beobachten kann, dass er immer im Takt bleibt durch einzelne das Maß artikulierende Körperbewegungen, bewährt sich mit Blick auf die Natur. Bei gewaltigen Glockenschlägen oder dem Gewitter geschieht es, dass ein einzelner Ton alle Körper ringsumher erschüttert. Dieser in der Natur der Dinge gegründete Sachverhalt darf somit als unumstößliche Gewissheit gelten, der auch in der Musik unmittelbar einleuchtet, wo ein zum Anfang eines Taktes stärker oder deutlicher (»fortius et distinctius«) erklingender Ton uns auch stärker affiziert und damit unser musikalisches Ordnungsgefühl weckend (»excitamur«) in Bewegung bringt und hält (»dicendum est etiam illum fortius spiritus nostros concutere a quibus ad motum excitamur«). Auf diese Weise durch eine affektive Weckung in Bewegung versetzt vermögen sogar die »Wilden« (»feras«), die nur eine verworrene Vorstellung von der harmonischen Ordnung der Töne besitzen, im geordneten Takt zu tanzen [vgl. ebd., S. 8 f].

200 »Ad hanc delectationem requiritur proportio quaedam objecti cum ipso sensu, unde fit ut v. g. strepitus scloporum vel tonitruum non videatur aptus ad Musicam, quia scilicet aures laederer, ut oculos solis adversi ninius splendor.« [Descartes, S. 2 f]

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6) Auslösungsdynamische oder bewegungsdynamische Restitution

Ein konkretes, praktisches Beispiel für diesen theoretisch erschlossenen Sachverhalt liefert etwa das Ostinato, mit dem Béla Bartók sein sechstes Buch des Mikrokosmos eröffnet: Vivacissimo,    = 176–168

Ped.

Der scharfe Kontrast f – p zu Beginn führt dazu, dass der Pianist in den folgenden Takten die erste Achtel unwillkürlich betont und damit eine rhythmische Belebung der ansonsten völlig monotonen Achtel­ bewegung bewirkt im Sinne der deutlichen Abhebung von Vierergruppen. Dieses Beispiel kommt der cartesianischen Auslegung insofern entgegen, als die Weckung hier keinesfalls die alleinige Ursache der Gliederung ist: Durch die Takteinteilung – also das Metrum – ist die initiale Betonung als eine Ordnungsstruktur schon vorgegeben, deren Wahrnehmung durch das extreme Tempo (»Vivacissimo«) allerdings entscheidend geschwächt wird, eine Schwächung, welche wiederum der affektive Kontrast kompensiert, indem er die metrische Sukzession rhythmisierend verstärkt: Das Metrum fungiert hier gewissermaßen als die undeutliche Vorstellung eines Rhythmus, die durch eine dynamische, affektive Kontrastierung verdeutlicht wird. In Husserls konstitutionstheoretischem Auslegungsschema entspricht dem der Fundierungszusammenhang von affektiver und voraffektiver Ein­ heits­­bildung, den er am Erfahrungsbeispiel einer optischen Reihenbildung erläutert. Bei des Philosophen »Abendspaziergang auf der Lorettohöhe« leuchtet plötzlich im Rheintal eine Lichterreihe auf [Husserl, Hua XI, § 33,S.  154]. Entscheidend für Husserl ist, dass die Abhebung hier die eines Ganzen ist, welche derjenigen von Teilerscheinungen notwendig vorausgeht: »Mitunter geht die Gegebenheit von Ganzen, ihre affektive Abhebung und damit Möglichkeit ihrer Erfassung, den Teilen vorher, mitunter die der Teile dem Ganzen. […] Aber zuletzt kommen wir doch auf ursprüngliche Einzelheiten, das ist auf Gegenstände, die unter allen Umständen aus Wesensgründen vorher als Ganze gegeben sein müssen, damit ihre Teile gegeben sein können.« [Ebd., S. 156] Die vorgängige Erfassung des Ganzen vor seinen Teilen gibt nach Husserl den untrüglichen Hinweis auf die in der Affektion 411 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

immer schon vorliegenden »voraffektiven« Einheitsbildungen der geordneten Gegenstandskonstitution. Einzelne affektive Kontrastierungen, die einen differenzierenden und verdeutlichenden Effekt haben, setzen immer schon die Vorgegebenheit einer Ordnung in ihrer wenn auch undeutlichen Totalerfassung voraus: »Daß mit einem Schlage die Lichterreihe als ein Ganzes affektiv ist, liegt offenbar an den voraffektiven Gesetzmäßigkeiten der Einheitsbildung […]. In diesen Beispielen ist also eine gegliederte Einheit, wie sehr sie als gegliederte in sich selbst sachliche Sonderabhebungen hat, in einer ungegliederten Affektion bewußt.« [Ebd., S. 154] Es ist nun offensichtlich, dass Husserl das Beispiel des Tonkontinuums – also den Ordnungsfall der Sukzession – dem der Lichterreihe als Fall von optischer Koexistenz völlig analog versteht.201 Die Tonreihe wird zunächst gegenständlich erfasst in einer undeutlichen Totalerfassung, deren innere Differenzierungen zunehmend verloren gehen in Gestalt einzelner Daten, die sich infolge der Intensitätsschwächung »ungünstig« abheben und so eine Verstärkung durch den initialen Weckungsreiz erfahren. Diese Analogie stützt sich darauf, dass die Leervorstellung der Retention in ihrer intentionalen Ausrichtung zunächst nicht unbestimmt, sondern bestimmt ist. Im Falle der Melodie kann man so unterstellen, dass schon vor dem Absingen ihre Sukzession – die geordnete Periodenstruktur – in Form einer Antizipation als ein abgeschlossenes Ganzes im Bewusstsein repräsentiert wird. Und diese in ihren Einzelheiten zunächst bestimmte, geordnete Antizipation kann nun infolge der Schwächung der Affektion an Bestimmtheit und Deutlichkeit der Vorstellung verlieren. Die Bevorzugung dieses Erklärungsansatzes ergibt sich aus der programmatischen Absicht, auch den Grenzfall des sich im Ganzen auf‌lösenden Konstitutionsverhältnisses konstitutionstheoretisch einzubinden durch eine reduktionistische Deutung der Restitution als Form nur der subjekti­ ven Konstitution: eine an sich unauf‌lösliche Gegenstandsbeziehung, die sich konstituiert in verschiedenen Modalitäten des Bewusstseins, einer deutlichen und differenzierten, oder aber undeutlichen und undifferenzierten Vorstellung. Die methodische Restriktion, die Husserls Konstitutionstheorie hier vornimmt, ist allein schon aus immanent systematischen Gründen nicht zu rechtfertigen. Husserl unterstellt mit dem dynamischen Verdichtungsprozess eine Fatalität, welche unaufhaltsam endet mit 201 Vgl. Kap. III,2.

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6) Auslösungsdynamische oder bewegungsdynamische Restitution

der vollständigen Entleerung der Anschauung, dem Leerhorizont des Unbewussten als einer Art »schwarzem Loch« der Intentionalität, in das hinein alles durch die Konstitution einmal Geordnete verschwindet. Gradualitäten der Klarheit und Deutlichkeit kann überhaupt nur die gerichtete und geordnete Leervorstellung im Sinne der im Bewusstsein »lebendigen« Retention aufweisen, die ihrer intentionalen Bestimmung entsprechend als ein gegenständliches Ganzes in einer Vorstellung repräsentiert wird. Die vorgängige Vorstellung eines Ganzen vor seinen affizierenden Einzelheiten und damit die gegenständliche Erfassung der Ordnung der Sukzession ist nun gerade das, was in der Umwandlung der »lebendigen« Retention in den Leerhorizont des Unbewussten verloren geht. Es muss aber letztlich die Möglichkeit der Restitution auch für diesen Fall der Verwandlung der intentionalen Ordnung in die Unordnung geklärt werden. Hier klafft in der Konstitutionstheorie eine Erklärungslücke, die durch ihre leitende methodische Restriktion, die Restitution ausnahmslos aus dem Zusammenhang der geordneten Konstitution und Wiederkonstitution abzuleiten, im Prinzip nicht zu schließen ist. Dieses Dilemma lässt sich an Karlheinz Stockhausens Klavierstück IX demonstrieren, das die Struktur von Bartóks Ostinato zwar einerseits zum Vorbild hat, aber andererseits modifiziert durch ihre Auf‌lösung in ein bewegungsdynamisches Kontinuum, sodass sich der restituierende Effekt des initialen Kontrastes einer cartisianischen Erklärung – der Veränderung nur der Vorstellung eines ansonsten unveränderlichen Gegenstandes: der Ordnung der Sukzession – von vornherein entzieht. Das Klavierstück IX eröffnet ein Ostinato, welches ganz im Sinne des Husserlschen Beispiels den Eindruck eines gleichsam unendlichen, unaufhörlichen Diminuendos erzeugt, das durch die nachhaltige Wirkung eines initialen Kontrastes hervorgerufen wird: ff – dann f poco a poco diminuendo ––– pppp. e = 160 etc. Akkord 193 × *

142 8 P

nicht zu kurz

e = 60

poco a poco diminuendo 1. P

*

etc. 87 ×

87 8

42 8

poco a poco diminuendo 1. P

in regel­mäßigen Abständen: diminuendo ganz kon­t i­nuier­lich ohne Rücksicht auf nicht ansprechende Tasten bei geringer werdender Intensität.

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Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

Das Programm der Uraufführung gibt als Idee des Stückes an die übergängige Vermittlung verschiedener »Formen der musikalischen Zeit«, darunter »Periodizität und eine ganze Reihe von Graden der Aperiodizität« [vgl. Henck, S. 5]. Ausgestaltet werden demnach Übergänge von der Ordnung (Periodizität) in die Unordnung (Aperiodizität) wie im Falle des quasi unendlichen Diminuendos gleich zu Beginn. Der entscheidende Unterschied zu Bartóks Ostinato ist programmgemäß das Fehlen einer den Zeitverlauf im ganzen organisierenden Periodizität, des Vorliegens einer überschaubaren und gegenständlich erfassbaren metrischen Ordnung202: Stockhausen notiert nach den Proportionen der Fibonacci-Reihe 142/8 bzw. 87/8 in den ersten beiden Takten, was eine so extreme Ausdehnung des Metrums bedeutet, dass dieses Ostinato als eine geordnete Sukzession vom Bewusstsein unmöglich im Ganzen vorgestellt werden kann. Gleichwohl fordert Stockhausens Spielanweisung den »Akkord 193 × in regelmäßigen Abständen: dimin. ganz kontinuierlich ohne Rücksicht auf nicht ansprechende Tasten bei geringer werdender Intensität« zu nehmen. Wenn hier offenkundig sukzessive Kontinuität unmöglich durch eine vergegenständlichende Vorstellung – eine dem wirklichen Vollzug des auszuführenden Diminuendos zuvorkommende alles überschauende Antizipation des Sukzessionsschemas im Ganzen – zustande kommen kann, dann muss sie Schritt für Schritt durch die ostinative Wiederholung und damit die Bewegung des sukzessiven Wahrnehmungsvollzugs erzeugt werden. Die Grundschwierigkeit für den Interpreten ist jedoch, dieses alle Maße sprengende unendliche Diminuendo wirklich homogen und kontinuierlich auszuführen. Dass Töne schlechterdings unhörbar werden (die der Spielanweisung zufolge hinzunehmenden nicht ansprechenden Tasten) beeinträchtigt die Wirkung der Kontinuität offenbar keineswegs. Der Grund dafür ist die von Stockhausen zum Kompositionsprinzip erhobene »Dekomposition«.203 Das Dekomponieren bedeutet im Wesentlichen, dass homogene Klänge seziert werden durch die gezielte Verstärkung von zufällig hervortretenden Inhomogenitäten. Aloys Kontarsky bediente sich in seiner Interpretation des Klavier­ 202 Die Parallelen und Unterschiede zu Bartók sieht Robin Maconie: »The tempo is not Bartók’s however, and seems to have profounder reference. The repeated chord is Stockhausen’s image of disorder; at the given tempo it carries an echo of marching feet.« [Maconie, S. 148] 203 Zur »Dekomposition« und ihrer möglichen phänomenologischen Interpretation vgl. zu meinen Aufsatz Decomposition of the Sound Continuum [Kaletha 2004].

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6) Auslösungsdynamische oder bewegungsdynamische Restitution

stücks IX dieses Prinzips mit der ausdrücklichen Billigung Stockhausens [vgl. ebd., S. 9]. Der Pianist und Musikwissenschaftler Herbert Henck analysiert ein solches von Stockhausen auskomponiertes Beispiel: »Hier […] wird auskomponiert, was zunächst nur als Zufälligkeit aufgetreten sein mag: Ungleichzeitigkeit und dynamische Unterschiedlichkeit der Akkordtöne. Erst wird das fis als Vorschlag benutzt (als unbetonter eine Spur leiser als der Ziel­akkord), dann wird dasselbe fis als betonter Vorschlag Hauptton des Klanges, integriert sich aber bald wieder.« [Ebd., S. 11] Die Betonung von Inkonsistenzen in der Dekomposition führt offenbar dazu, dass sich eine integrale Einheit auf‌löst und wieder neu entsteht, demnach Ordnung in Unordnung, Unordnung in Ordnung kontinuierlich übergeht. Für das Verständnis der nachhaltigen Wirkung des initialen, weckenden Kontrastes in dem metrisch nicht vorgeordneten Diminuendo des Klavierstück IX ist diese trennende und verbindende Leistung der Dekomposition unerlässlich. Henck spricht davon, dass Akkorde durch laut einsetzende Vorschläge »nervös« werden können: »Diese Vorschläge verstehen es, die Egomanie des Akkordes etwas zu relativieren. Er wird ›nervös‹. Erhebt sich der erste kurz und laut über ihn und bringt ihn zum Wackeln, so unterläuft ihn der zweite und nimmt ihm die Basis.« [Henck, S. 11] Der beschriebene Sachverhalt fordert die phänomenologische Reflexion geradezu heraus. Die restituierende Wirkung des weckenden Kontrastes besteht hier offensichtlich nicht in der Sinnverdeutlichung durch eine Leistung der Konstitution in Form der enthüllenden Gegenstandsbestimmung, der differenzierenden Veranschaulichung solcher in der undifferenzierten Leervorstellung immer schon verhüllt vorgegebenen, geordneten Verbindungen. Ein egomanisch vereinzelter, d. h. unverbundener Akkord »wackelt«, wird »nervös« und damit überhaupt in Verbindung mit einem anderen gebracht in einem Kontinuum der Bewegung, und erst infolge dieser produktiven, bewegungsdynamischen Synthese verändert sich die affektive Auffälligkeit und Deutlichkeit des Bewusstseinsinhalts. Bezieht man diesen Sachverhalt auf die Sukzession des Diminuendos, dann verweist dies auf die Möglichkeit, eine Sukzession dort durch eine Bewegung ursprünglich herzustellen, wo sie durch eine veran­ schaulichende Vorstellung nicht mehr gegenständlich zu geben ist. Kontinuitätsstiftend wirkt hier nicht die Weckung einer geordneten Vorstellung im Sinne der gegenstandsbezogenen Erkenntnis, sondern – wie in Kontarskys Interpretation ersichtlich – der Wechsel der Wahrnehmungsorientierung, hintergründige Töne und Intervalle in 415 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

den Vordergrund zu rücken und damit eine sich auf‌lösende sukzessive Synthesis wieder zu beleben und zu verfestigen durch das Einbringen neuer Elemente – eine bewegungsdynamische Wiederherstellung der Kontinuität, die sich im Bewusstsein vornehmlich bekundet durch ihren homogenisierenden Einfluss auf die Affektion, indem durch die Betonung des Unbetonten entweder ein starker Kontrast minimiert oder ein schwacher verstärkt wird. Dazu ist es allerdings erforderlich, die in der unterschiedslosen Gleichförmigkeit mehr und mehr versinkenden Klänge fortwährend dekomponierend aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und das wiederum geschieht durch die nachhaltige Wirkung des initialen Kontrastextrems.

7)

Zur Methode: Die Notwendigkeit einer Fundierung der Phänomenologie der Konstitution durch eine Phänomenologie der Orientierung

Wenn herauskommt, dass die Weckungskontinuität nur durch eine bewegungsdynamische Restitution am Leben erhalten wird, die habituelle Verfügung der intentionalen Ordnung somit nicht die Vor­ aussetzung, sondern das Produkt einer im Wirkungszusammenhang der Affektion aufgehobenen assoziativen Synthese ist, dann sprengt dies die methodischen Fundamente der Konstitution gleich in mehrerlei Hinsicht. Das konstitutionstheoretische Dogma der »Unsterblichkeit« des Erkenntnisphänomens führt zu einer Subjektivierung der Restitutionsproblematik insgesamt, die Husserls Phänomenologie durch ihre Theorie der Modalisierung stützt, die Unterscheidung von objektiv-»ontischen« und subjektiv-»modalen« Gegebenheitsweisen des Gegenstandes. Nur das Bewusstseinsphänomen unterliegt demnach dem kausalgenetischen Entstehen und Vergehen, niemals aber das Erkenntnisphänomen, die an sich unauf‌lösliche ordnende Gegenstandsbeziehung als solche. Das Phänomen der bewegungsdynamischen Restitution unterläuft diese methodische Absonderung einer subjektiv-veränderlichen von der objektiv-unveränderlichen Seite der Konstitution. Ergeben sich die Ordnungsstrukturen als das Produkt einer assoziativen Synthese, die zugleich als deren ursprüngliche Erhaltungsbedingung fungiert, dann unterliegt mit dem realen Bewusstsein auch die ideale Gegenstandsbeziehung dem möglichen Entstehen und Vergehen. Damit büßt die Erkenntnisorientierung ihre privilegierte Stellung eines genetisch letztfundierenden Organisationsprin416 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Zur Methode: Die Notwendigkeit einer Fundierung

zips ein sowohl in der Konstitution, als auch in der Restitution, die schließlich den Sinn einer auslösungsdynamischen Wiederkonstitution verliert. Nicht nur, dass die Erhaltung der Organisation aus einem geschlossenen Zusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution nicht vollständig abzuleiten ist; die Restitution kann sich auf die nur subjektive Seite der Konstitution eines Bewusstseinsphänomens nicht mehr beschränken, indem sie über die habituelle Erkenntnisverfügung gleichsam mit entscheidet, insofern eine in das affektive Weckungskontinuum verwickelte genetische Konstitution ihre Kraft der Organisation aus einer vermeintlich »voraffektiven« intentionalen Erkenntnisorientierung nicht mehr beziehen kann. Ob sich ein System der Erkenntnis im Bewusstsein konstituieren kann, hängt von der dynamischen Kraft eines die Ordnungsdispositionen weckend aktualisierenden »Durchbruchs« und damit der Dauerhaftigkeit einer ganz besonderen Wahrnehmungsorientierung und der von ihr ausgehenden Weckungskontinuität ab. Deren assoziative Synthese ist durch keine ideale Konstitutionsbedingung der »Wiederkonstitution« mehr vermittelt und spielt sich damit überhaupt außerhalb eines intentionalen Konstitutionsverhältnisses der Organisation durch eine gegenständliche Ordnung ab. In einer solchen bewegungsdynamischen Restitution, wie sie das Beispiel eines musikalisch zu realisierenden quasi unendlichen Dimi­ nuendos enthüllt, verändert sich vor allem der Status der Diakrisis des Ordnungs- und des Wirkungszusammenhangs in der assoziativen Weckung von einer idealiter konstituierten ontologischen Differenz zum Produkt einer kausalgenetischen, diakritischen Entwicklung. Ordnungen sind nun keine intentionalen Vorgegebenheiten mehr, die durch eine auslösende, dynamische Weckung als bleibende Dis­positionen nur immer wieder aktualisiert werden. Damit resultiert die systemerhaltende Diakrisis nicht mehr aus einem geschlossenen Reproduktionszusammenhang der Erkenntnis und d. h. einer autopoietischen Diffe­ renzbildung der genetischen Konstitution. Die reproduktive Tendenz, das System vollständig »wieder« zur konstituieren, führt gerade nicht zur Selbsterhaltung, sondern zur Selbstauf‌lösung der habituellen Ordnung der Konstitution mit dem unaufhaltsamen Abgleiten des Bewussten in das Unbewusste. Das Konstitutionsverhältnis als Moment einer bewegungsdynamischen Restitution erweist sich so als ein keineswegs autonomes, sondern heteronomes Prinzip der Organisation. Die Heteronomie bezieht sich auf eine wirksame nicht reproduktive Leistung der Organisation in einer mehr und mehr desorganisierenden 417 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

Reproduktion, wo systematische Geschlossenheit und Selbsterhaltung deshalb nur aus einer externen Bedingung der Konstitution resultieren kann, einer diakritischen Entwicklung der Ordnung aus dem bewegungsdynamischen Kontinuum der assozia­tiven Verdichtung heraus. Genetisch-phänomenologisch stellt die sich selbst reproduzierende Ordnung der Konstitution also alles andere dar als eine Substanzialität des Bewusstseinslebens – eine autonome, ­autopoietische Organisation mit der Fähigkeit, sich allein durch seine Reproduktionsfähigkeit veränderlichen Umwelteinflüssen zu entziehen. Nicht zuletzt erschüttert die in der bewegungsdynamischen Restitution zum Vorschein kommende Organisationsfunktion der Wahr­ nehmungsorientierung das erkenntnistheoretische Fundament der Konstitutionstheorie und damit den Konstitutionsbegriff der Organisation und Entwicklung überhaupt. Die philosophische Tradition von Platon bis Kant sieht die vorgängige Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung als Bedingung dafür an, dass Wahrnehmungen überhaupt einen Ordnungsbezug haben. Die Phänomenologie der Konstitution in ihrer erkenntnistheoretischen Grundlegung betrachtet diese Ordnung stiftende Erkenntnisvermittlung von zwei Seiten – statisch und genetisch, geltungs- und organisationstheoretisch. In statischer Hinsicht gründet die Ordnung der Bewusstseinserlebnisse in der Erkenntnis einer idealen Ordnungseinheit jenseits solcher in der Anschauung und Wahrnehmung sich realisierenden Bewusstseinsvollzüge. Ermöglicht wird der Ordnungsbezug der Wahrnehmung wie auch ihrer Abwandlung in eine anschauliche Erinnerung durch das intentionale Schema der Konstitution – Hyle und Auffassung – und die damit verbundene Diakrisis: die Ablösung einer gleichbleibenden Funktion der Erkenntnis von jeder wechselhaften Wahrnehmungsorientierung. Die genetische Theorie der Konstitution bemüht sich zu zeigen, wie diese exklusive Ordnungsfunktion der Erkenntnis auch dann erhalten bleibt, wenn sie sich mit der Wahrnehmungsorientierung reproduktiv vermittelt, als in die Vorkonstitution eines Habitus nicht nur die Erkenntnis-, sondern auch die Wahrnehmungsorientierung mit eingeht. Immer wieder stößt die genetische Phänomenologie darauf, dass Organisation nicht nur ein Erkenntnis-, sondern primär ein Orientie­ rungsproblem darstellt, ohne dies jedoch methodisch zu reflektieren. Husserls Analyse der perspektivischen Wahrnehmung hebt zwar die wechselnden Orientierungen der Anschauung hervor, die zur intentio­ nalen Konstitution eines Wahrnehmungsgegenstandes gehören. Da der Wahrnehmungsorientierung im Rahmen der Konstitution jedoch 418 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Zur Methode: Die Notwendigkeit einer Fundierung

lediglich die Funktion zukommt, das in der intentionalen Erkenntnis durch ihren Bezug auf das transzendentale Ideal implizit vorgegebene System zu realisieren, werden Wahrnehmung und Erkenntnis nicht als mögliche intentionale Orientierungen betrachtet, die als Organisationsprinzipien miteinander konkurrieren könnten: Nur die Erkenntnisorientierung gilt als intentional und organisierend, die wechselnde Wahrnehmungsorientierung dagegen fungiert als eine vorintentionale Bedingung der Konstitution: Sie ist funktional gesprochen eben nicht Auffassung, sondern nur die sie repräsentierende Hyle. An dieser systematischen Konstellation ändert auch die genetische Betrachtung der Erkenntnisgewinnung zunächst einmal nichts. Zwar zeigt die Einbindung der intentionalen Erkenntnis in den Zusammenhang der Habitualisierung und Reproduktion, dass sowohl Erkenntnis- als auch Wahrnehmungsorientierung mit zur intentionalen Auffassung gehören. Aber gerade die Begriffsbildung scheint einmal mehr zu bestätigen, dass die Wahrnehmung keine intentionale Orientierung verkörpert, der eine Organisationsfunktion in der Konstitution zukäme. Die Habitualisierung auch der Wahrnehmungsorientierung hat zur Folge, dass die Erkenntnis modalisiert und verändert wird. Damit erweist sich die Wahrnehmungs- der Erkenntnisorientierung gegenüber als ein nicht organisierender, sondern desorganisierender Faktor, der durch die Habitualisierung nur noch der Erkenntnisorientierung, wie sie das Urteil und die Begriffsbildung ermöglichen, als eine störende, Unordnung produzierende Größe aus dem Konstitutionszusammenhang schließlich ausgeschieden wird. Durch die Thematisierung solcher »subjektiven« Konstitutionsprobleme des Bewussten und Unbewussten zeigt sich allerdings, dass die Habitualisierung von Begriffsbildungen und die mit ihr verbundene diakritische Entwicklung eines »reinen« Erkenntnisphänomens für den Nachweis der Erhaltung und Selbsterhaltung des Systems der Erkenntnis nicht ausreicht. Die Habitualisierung auch von begriff‌lichen Erkenntnissen ist nicht ohne Verdichtungen möglich, d. h. eine Substitution durch solche Vorstellungen, die keine unmittelbare Erkenntnisfunktion mehr haben. Durch diese Substituierung und Verbildlichung gewinnt die Wahrnehmungsorientierung letztlich Einfluss auf die Organisation, indem sie die geordneten Zusammenhänge der Erkenntnis auf‌löst und durch ungeordnete assoziative Synthesen ersetzt. Wechselnde Wahrnehmungsorientierungen, denen die ordnende Erkenntnisorientierung abhanden kommt, werden zur Quelle produktiver Veränderungen von Erinnerungen mit der Umwandlung reproduktiver auslösungsdyna419 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil B · Kap. III – Ordnungszusammenhang und Wirkungszusammenhang

mischer in assoziativ-bewegungsdynamische Prozesse. Ihr Einfluss auf die Organisation bleibt jedoch wiederum nur der privative eines nicht ordnenden und organisierenden, sondern die Ordnung der Erkenntnis tendenziell auf‌ lösenden Fiktionalisierungsgeschehens. Husserl unterstellt auch für diesen Fall eine bleibende Organisationsfunktion der Erkenntnis durch den versuchten Nachweis eines unauf‌löslichen Restitutionszusammenhangs, wonach es immer möglich ist, die Verbildlichung und Fiktionalisierung rückgängig zu machen durch eine (Wieder-)Veranschaulichung des systematisch geordneten Konstitutionszusammenhangs. Die Restitution in allen ihren verschiedenen Stufen der aktiven und passiven Synthesis wird so programmatisch durch das systematische Erkenntnisinteresse bestimmt und geleitet unter Ausschluss von solchen zur Wahrnehmungsorientierung gehörenden, bewegungsdynamischen assoziativen Synthesen. Gleichwohl ergibt sich in den verschiedenen Stufen der Wiederkonstitution eine den konstitutionstheoretischen Rahmen sprengende Verlagerung der restitutiven Leistung von der Erkenntnis- zur Wahrnehmungsorientierung hin. Der Versuch, die Restitution voll und ganz auf die Erkenntnisorientierung – den Ordnungszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution – zu stützen, verhindert nicht, dass die Wahrnehmungsorientierung und die durch sie ausgelösten bewegungsdynamischen Prozesse der assoziativen Verdichtung als eine kontingente, äußere Erhaltungsbedingung und damit Bedingung auch für die Organisation in Anspruch genommen werden. Die Bewegungsdynamik erscheint somit nicht mehr nur als ein desorganisierender, »fiktionalisierender« Faktor, sondern fungiert – wenn auch nicht methodisch reflektiert – als ein Organisationsprinzip zwar nicht für die Gewinnung, so doch für die Erhaltung des Systems der Erkenntnis. Der Grenzfall einer ursprünglich ungeordneten dynamischen Restitution in der Passivität, die assoziative Weckung in Gestalt eines affektiven »Durchbruchs«, erweist sich als ein kontingentes Ereignis, das auf die nachhaltige Wirkung eines in der Konstitution verankerten systematischen Erkenntnisinteresses nicht zurückgeführt werden kann. Es eröffnet sich hier ein für die Konstitutionstheorie unlösbares Erklärungsproblem. Nicht nur, dass hier assoziative Synthesen intentionale Ordnungen restituieren, eine Wahrnehmungsmöglichkeit also als vorgängige Bedingung und nicht etwa das Bedingte einer Erkennt­ nismöglichkeit erscheint. Es entsteht die Frage: Wie ist es überhaupt möglich, dass einem solchen außerordentlichen Weckungserlebnis 420 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Zur Methode: Die Notwendigkeit einer Fundierung

eine systemstabilisierende Wirkung zugeschrieben wird, die ihm von seinem kausalgenetischen Ursprung her gar nicht zukommen kann? Damit der »Durchbruch« eine wirklich nachhaltige Wirkung der Habitualisierung ausübt, muss er sich als eine konstante Reproduktionsbedingung erweisen lassen. Nur wenn die assoziative Weckung ihre Weckungsenergie beständig von einer reproduzierenden Erinnerung auf die nächste weitergibt, wird das Ableiten des Habituellen in das Unbewusste und damit die Auf‌lösung des Bewusstseinsphänomens überhaupt verhindert. Die Wiederholung der »Urassoziation«, welche das reproduktive Weckungskontinuum ursprünglich konstituiert, bleibt in der Konstitution jedoch ein kontingentes Faktum. Zwar impliziert nach Husserl jede Urassoziation über die Weckung von Aufmerksamkeit hinaus die Weckung von Interesse und damit ein Wiederholungsmotiv. Dieses gründet jedoch gerade nicht in der Affektion und der mit ihr verbundenen »passiven« Ichzuwendung, insofern sie als eine Reflexbewegung gedacht wird, die kontingent und einmalig von einer urimpressionalen Empfindung ausgelöst wird. Die mit der Affektion verbundene Weckung von systematischem Erkenntnisinteresse enthält stets ein Motiv der Wiederholung durch die intentionale Bezugnahme auf den Gegenstand und ihre Form der konstituierenden Entwicklung, welche danach strebt, immer neue Gegenstandsbestimmungen zu explizieren. Diejenige, der Weckung von Erkenntnisinteresse vorausgehende Weckung von Aufmerksamkeit aber, die durch die Affektion primär ausgelöste Zuwendung zu einem besonderen Gegenstand als Ursprung der Wahrnehmungsorientierung und der mit ihr verbundenen Entstehung und Erhaltung des Bewusstseins, enthält als solche jedoch keinerlei intentionales Wiederholungsmotiv.204 Damit entsteht eine nicht zu schließende Lücke in der konstitutionstheoretischen Erklärung des Restitutionszusammenhangs der assoziativen Weckung. Es ist nicht klar, woher den »Durchbrüchen« über das singuläre und kontingente Ereignis hinaus eine wirklich dauerhafte Funktion der Organisation überhaupt zukommen und dadurch das Weckungskontinuum auf204 Dem entspricht Husserls Unterscheidung der »Rezeptivität des Ich« von der »Spontaneität des Ich« [Husserl 1972, § 17, S. 83]. Eine intentional motivierte Wiederholung der Zuwendung wäre eine spontane, aktive Synthesis, während die Weckung von Aufmerksamkeit nach Husserl eine passive Synthesis darstellt, bedingt durch eine im Prinzip vorintentionale singuläre oder auch wiederholte Affektion: »Das Ich läßt sich das Hereinkommende gefallen und nimmt es auf.« [Ebd.]

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recht erhalten werden kann. Dazu wäre der Nachweis einer nachhaltig wirksamen, intentionalen Wiederholungsstruktur nicht erst in der Erkenntnisorientierung, sondern bereits in der sie genetisch fundierenden Wahrnehmungsorientierung erforderlich. Es ist von daher die methodische Aufgabe einer die Phänomeno­ logie der Konstitution ergänzenden und fundierenden Phänomenolo­ gie der Orientierung, einen solchen intentionalen Orientierungssinn auch für die Wahrnehmungsorientierung auszuweisen. Das bedeutet vor allem eine phänomenologische Aufwertung der Assoziation als der im eigentlichen Sinne produktiven Synthese der Wahrnehmungsorientierung. Husserls Anspruch, die Lehre von der Assoziation mit der von der Intention zu verbinden, erweitert sich hier dazu, die dynamische Kausalität als ein wirkliches Organisationsprinzip nicht nur in Hinblick auf die assoziativen Weckungserlebnisse, also die reproduktive Auslösungsdynamik, sondern auch die produktive Bewegungs­ dynamik der assoziativen Verdichtung auszuweisen. Die Assoziation betrachtet die statische, funktionelle Phänomenologie als eine im Prinzip vorintentionale Synthese, welche eine gegenständliche Einheit lediglich im Bewusstsein repräsentiert. Sie wird von daher durch den Mangel charakterisiert, keine systematisch geordnete und einheitliche Synthesis der Empfindung hervorzubringen. Konstitutionstheoretisch ist die zur Wahrnehmungsorientierung gehörende assoziative Synthese demnach niemals selber intentional, sondern mit einer intentionalen Sinngebung, die im Prinzip durch die Erkenntnisorientierung ins Spiel kommt, lediglich äußerlich verbunden. Husserls Phänomenologie wiederholt in diesem Zusammenhang immer wieder ihre Vorbehalte der assoziativen Synthese gegenüber, welche für sie ein bloßes Aggregat und keine wirkliche gegenständliche Einheit verkörpert. Genetisch erneuert sich dieser methodische Vorbehalt durch die Annahme vor­affektiver Einheitsbildungen und die mit ihr zusammenhängende Absonderung eines intentionalen Ordnungszusammen­ hangs vom Wirkungszusammenhang der assoziativen Verdichtung. Solche zur Wahrnehmungsorientierung und ihrer affektiven Genese gehörenden produktiven assoziativen Verdichtungen behalten somit den Charakter einer bloß aggregierenden Mehrheitserfassung im Unterschied zur Einheitserfassung der intentional fundierten reproduktiven assoziativen Weckung. In der konstitutionstheoretischen Auslegung der Assoziation als einer vorintentionalen Synthese wird das Problem einer originär in­ tentionalen Mehrheitserfassung systematisch gleichsam übersprun422 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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gen, indem die assoziative Synthese eine intentional geordnete jeweils repräsentiert. Die Möglichkeit, dass die assoziative Mehrheit eine intentionale Einheit repräsentiert, entfällt jedoch im Falle der bewegungsdynamischen Restitution: Die konstitutionstheoretische Kontingenz der Urassoziation beruht gerade darauf, dass die auslösende assoziative Weckung an einen bestimmten Gegenstand nicht gebunden ist, mit dem Wechsel der Wahrnehmungsorientierung und der Zuwendung zu einem anderen Objekt eine Mehrheit von Objekten immer schon vorausgesetzt ist. Das Festhalten an einem bestimmten Objekt durch die nicht nur einmalige, sondern wiederholte Zuwendung setzt deshalb eine mögliche intentionale Orientierung schon in der assoziativen Mehrheitserfassung voraus. Es ist deshalb die vorrangige methodische Aufgabe einer Phäno­ menologie der Orientierung, die Probleme der intentionalen Mehrheitserfassung aufzuklären. Der konstitutionstheoretische Ansatz erweist sich hier als reduktionistisch, indem er die zur wechselnden Wahrnehmungsorientierung gehörende Erfassung einer Mehrheit von Gegenständen nicht als originäre intentionale Sinngebung gelten lässt, vielmehr als bloßen Aspekt einer Einheitserfassung betrachtet, der durch die Erkenntnisorientierung vorgegeben wird. Das zeigt sich bereits am räumlichen Aspekt der Wahrnehmungsorientierung. Die Wahrnehmungsorientierung ist bedingt durch ihren möglichen Orientierungswechsel, die Zuwendung entweder zu anderen perspektivischen Erscheinungen ein und desselben Gegenstandes oder aber verschiedenen Gegenständen, die jeweils im Raum lokalisiert sind. Den Orientierungsraum versteht die konstitutionstheoretische Auslegung nun als einen solchen, der als ein System der Lokalisation der Wahrnehmungsorientierung durch die Erkenntnisorientierung als ein gegenständlich gegebenes Ganzes – ein gleichsam fertiges Orientierungsschema – immer schon vorgegeben wird. Das Orientierungsschema resultiert demnach nicht aus der Wahrnehmungsbewegung und ihrer Fähigkeit, räumlich Unverbundenes – verschiedene Lokalitäten, isolierte τόποι (topoi) – im Orientierungswechsel assoziativ zu verbinden. So ist es gerade nicht die zur Bewegung im Raum gehörende assoziative Mehrheitserfassung, welche die Grundlage der intentionalen Orientierung ist, sondern eine ihr vorausgehende raumvorstellende Erkenntnis.205 205 Dieser Reduktionismus zeigt sich in Husserls Theorie der Kinästhesen. Vgl. Teil C, Kap.I,1.

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Husserl hat dieses konstitutionstheoretische Modell gewonnen am Beispiel eines einzelnen Wahrnehmungsgegenstandes und übertragen auf die Orientierung in einem Objektfeld, in dem von vorn­ herein eine Mehrheit von Gegenständen gegeben ist. Damit wird auch diese originäre Mehrheitserfassung der intentionalen Einheitserfassung analog betrachtet. Die Analogie stützt sich im wesentlichen auf den Weltbegriff. Die Mehrheit wird gedacht als eine Mehrheit von Umwelten, die sich der perspektivischen Erscheinung des Wahrnehmungsdinges entsprechend als Teilerfassung eines vorgegebenen Ganzen darstellt: Die Umwelten konstituieren sich als »Weltstücke«, d. h. ordnen sich als implizite und zu explizierende Mehrheiten in die einheitliche Weltvorstellung ein. Die intentionale Uneigenständigkeit der Wahrnehmungsorientierung zeigt sich hier darin, dass sich die Bildung von Umwelten nicht als ein eigenes Organisationsproblem der Wahrnehmung, sondern wiederum konstitutionstheoretisch als ein Erkenntnisproblem darstellt, wie sich die verschiedenen in der wechselnden Wahrnehmungsorientierung gegebenen Umwelten als Teile und Stücke in das Einheitliche und Ganze einer Weltvorstellung systematisch einordnen. Dieser konstitutionstheoretischen Auffassung des Verhältnisses von Welt und Umwelt, von beweglicher Wahrnehmungsorientierung und fest vorstellender Erkenntnisorientierung bleibt die Phänomenologie auch nach Husserl – so bei Heidegger und Merleau-Ponty – verpflichtet.206 Wird die Umwelt als »Weltstück« betrachtet, dann ergibt sich daraus jedoch die methodische Schwierigkeit, dass mit der Betrachtung der Umwelt als Weltstück die Habitualisierung von Wahrnehmungsorientierungen schlicht unerklärlich wird. Die Wahrnehmung von Umwelten ist als solche selektiv, sie erfasst von dem, was die Welt an Wahrnehmungsmöglichkeiten bietet, nur einen Ausschnitt. Das Erkenntnisinteresse wird durch sein transzendentales Ideal vom Motiv der systematischen Vervollständigung des Gegebenen geleitet, d. h. ein selektives Interesse kann aus ihm prinzipiell nicht abgeleitet werden. Ein selektives Wahrnehmungsinteresse ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass eine ganz bestimmte umweltlich orientierte Wahrnehmung als solche habitualisiert und damit festgehalten und nicht im weiteren Verlauf der Erkenntnisgewinnung durch immer wieder neue und andere Umweltorientierungen beliebig ausgewechselt wird. Die Habitualisierung einer Umwelt durch das selektive Wahrnehmungs206 Vgl. dazu Teil C, Kap. I,2 (Merleau-Ponty) sowie I,5 und I,7 (Heidegger).

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interesse ist letztlich die der Konstitutionsbestimmung vorausgehende organisierende Leistung, welche die Geschlossenheit des Systems der Erkenntnis aufrecht erhält. Die Möglichkeit, ein Wiederholungsmotiv in der Weckung von Aufmerksamkeit und Interesse und damit eine das System der Erkenntnis a priori stabilisierende intentionale Orien­ tierung der Wahrnehmung auszuweisen, knüpft sich deshalb an die methodische Ableitung eines originären Wahrnehmungsinteresses. Der genetischen Phänomenologie steht hier einmal mehr ihr konstitutionstheoretischer Begründungsansatz im Weg, ein solch originäres Wahrnehmungsinteresse aufzuweisen, welches mehr bedeutet als nur die »uneigentliche« Vorstufe des systematischen Erkenntnisinteresses. Der Grund dafür liegt in ihrer intentionalen Interpretation des Verhältnisses von assoziativer Weckung und Interesse, die sich auf eine Theorie des Bewusstseinsfeldes stützt. Die Weckung von Bewusstsein verbindet Husserl damit, dass sich eine gegenständliche Einheit in der Affektion abhebt von einem affektiv indifferenten Hintergrund. Gestalttheoretisch lässt sich dieses Phänomen als die Abhebung einer Figur von ihrem Grund deuten. Damit fällt methodisch wiederum die Entscheidung zugunsten einer Einheitserfassung, welche die Mehrheitserfassung intentional fundiert.207 Die sich affektiv heraushebende Mehrheit ist nach Husserl bereits eine a priori einheitliche Konfiguration und damit keine assoziative Synthese mehr, die sich a posteriori durch eine Verbindung des Unverbundenen, eine bewegungsdynamische Verdichtung, ergäbe. So lässt sich aber letztlich die thematische Gewichtung in der assoziativen Mehrheitserfassung des Bewusstseinsfeldes nicht mehr intentional begründen, die sich – wie Husserls hellsichtige Analyse herausstellt – aus der Wahrnehmungsbewegung und der sich mit ihr verbundenen Verteilung des Interesses ursprünglich ergibt. Die Affektion weckt nach Husserl lediglich Aufmerksamkeit und impliziert demnach kein wirklich intentionales Interesse. Die Weckung von intentionalem Interesse ihrerseits setzt die Bezugnahme auf einen gegebenen Gegenstand und das mit ihr verbundene Streben nach Sinnenthüllung bzw. Objektbestimmung voraus – bezieht sich demnach gar nicht auf die zur »Urassoziation« gehörende Mehrheitserfassung. Aron Gurwitsch hat die Strukturierung des Bewusstseinsfeldes zwar intentional verstanden als eine Form der intentionalen Be­ deutungskonstitution – die Beziehung von Thema und thematischem Feld – diese thematische Zentrierung jedoch nicht dynamisch erklärt 207 Vgl. Teil C, Kap. II,5.

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durch ein aktives Wahrnehmungsinteresse, vielmehr strukturalistisch und reduktionistisch interpretiert als eine gegenständlich gegebene Ordnung, eine in der Passivität der rezeptiven Wahrnehmung vorgegebene Gestaltqualität.208 Durch die Fixierung eines thematischen Zentrums und seiner umgebenden Peripherie bildet sich ein habituelles Orientierungsschema in Gestalt einer Umwelt aus, als dem für die Wahrnehmungsorientierung relevanten Bereich, der sich wiederum aussondert einem für die Orientierung irrelevanten Rand gegenüber. Die Bildung einer Umwelt beruht demnach auf einer diakritischen Funktion und Leistung der Wahrnehmungsorientierung, der Aussonderung eines geordneten Feldes dem ungeordneten »Randbewusstsein« gegenüber. Gurwitschs gestalttheoretische Fundierung erklärt weder, wie sich eine Umweltorientierung ausbildet in der Verkettung von Wahrnehmungsmilieus, deren Organisation nur aus der Wahrnehmungsbewegung resultieren kann und nicht einer Gestalterfassung, die jeder synthetisierenden Vorstellungsintentionalität vorausliegend eine vereinzelte Wahrnehmungsgegebenheit bleibt, noch wird bei Gurwitsch die Unterscheidung von Feld und Rand aus der Deckung der Figur-Grund-Struktur mit der intentionalen Struktur von Thema und thematischem Feld verständlich: Der Grund, von dem sich die Figur abhebt, stellt nichts anderes dar als ein bedeutungsindifferenter Bewusstseinshintergrund. Auch hier ergibt sich wiederum der Hinweis, dass die Bedeutungsdifferenzierung von Feld und Rand ihren intentionalen Ursprung nur in der Wahrnehmungsbewegung haben kann. Immer wieder zeigt sich also, dass die Versuche der Phänomenologie, das Problem der bewegungsdynamischen Organisation konstitutionstheoretisch oder strukturalistisch zu umgehen, an der intentionalen, expliziten Mehrheitserfassung scheitern. Zur thematischen Erfassung einer expliziten assoziativen Mehrheit gehört der Orientierungswech­ sel. Eine Feldstruktur von Zentrum und Peripherie, die auf einer thematischen Gewichtung verschiedener thematischer Zentren beruht, kann sich nicht anders als durch die den Wechsel der Orientierung vollziehende Wahrnehmungsbewegung ausbilden, insofern diese auf eine Mehrheit von Objekten intentional Bezug nimmt. Ein thematisches Zentrum kristallisiert sich dann her­aus, wenn die Bewegung in sich zurückläuft, die Form einer periodischen Wiederholungsbewegung annimmt. Als Orientierungspunkt fixiert wird das, was ins 208 Zu Gurwitschs reduktionistischem Ansatz vgl. vor allem Teil C, Kap. II,2.

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Zentrum des Interesses rückt. Das intentionale, selektive Wahrnehmungsinteresse bekundet sich durch seine wiederholte Zuwendung zu ein und demselben Objekt: Als thematischer Orientierungspunkt fungiert dasjenige, worauf die Wahrnehmungsbewegung wiederholt zurückkommt im Unterschied zu dem, was gleichsam nur im Vorübergehen – im Durchgang – einmalig erfasst wird. Den Intentionalitätsbegriff eines solchen, ein thematisches Feld organisierenden Wahrnehmungsinteresses auszubilden, setzt jedoch ein Verständnis von Ordnung und Organisation voraus, welches nicht vereinbar ist mit der konstitutionstheoretischen Grundlegung von Intentionalität sowohl in statisch- als auch genetisch-phänomenologischer Hinsicht. Die Wahrnehmungsorientierung stellt sich im Rahmen der Konstitution als die Realisierung und Entwicklung einer im Prinzip wahrnehmungsvorgängigen intentionalen Erkenntnisorientierung dar. Die intentionale, thematische Einheit ist von daher nicht assoziativ und ihre Ordnung auch nicht das Ergebnis einer assoziativen, bewegungsdynamischen Verdichtung – sie kommt zur assoziativen Synthese der Wahrnehmung als eine transzendentale Erkenntnisbedingung hinzu. Der Phänomenologie der Konstitution gelingt es auf diese Weise zweifellos, eine naturalistische Verkürzung des Organisationsproblems zu vermeiden: Ordnung entsteht nicht durch kausalgenetische, bewegungsdynamische Prozesse, sondern resultiert aus einer Sinnvermittlung der assoziativen Synthese: der Vorgegebenheit einer intentionalen Bedeutungseinheit, welche die mögliche System­ bildung durch das transzendentale Ideal impliziert. Der Preis dafür ist allerdings, dass auf diese Weise die mögliche Entdeckung einer bewegungsdynamischen Organisation, in welcher sich die Kausalgenese innerhalb und nicht außerhalb einer intentionalen Sinngebung und damit als ein Bewusstseinsphänomen vollziehen könnte, methodisch ausgeschlossen wird. Verantwortlich dafür ist die spezifisch sprachanalytische Fundierung des phänomenologischen Intentionalitätskonzepts, welche der Ausweisung einer intentionalen Sinngebung schon in der Wahrnehmungsorientierung im Wege steht. Das intentionale Meinen und Vermeinen leitet sich her von einem Reden über Sachen, der Fähigkeit, sich auf einen Sinn- und Bedeutungsgehalt zu beziehen, auch dann, wenn er mit keiner Wahrnehmung oder veranschaulichenden Vorstellung verbunden ist. Aus diesem sprachanalytischen Faktum wird schließlich die allgemeine konstitutionstheoretische These gewonnen, dass die Sinngebung überhaupt in einem von der Wahrneh427 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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mung unabhängigen bedeutungsverleihenden Akt besteht, die Wahrnehmungsorientierung demnach Sinn niemals generiert, sondern immer nur repräsentiert, d. h. konstituiert. Die Wortsprache und ihre Fähigkeit, unabhängig von der Wahrnehmungssituation etwas bedeuten zu können, leitet offenbar zu der methodischen Annahme, das Erkenntnisphänomen als ein eigenständiges Organisationsprinzip vorauszusetzen, welches sich einer jeden naturalistischen Erkenntnisbegründung, der kausalgenetischen Herleitung der Ordnung aus der affektiven und assoziativen Wahrnehmung, widersetzt. Der vorstellungsintentionale, sprachanalytische Ansatz trifft sich mit erkenntnistheoretischem Antinaturalismus in der Grundannahme, dass sich die intentional-organisierende Leistung erst in einem Konstitutionsverhältnis, einer vorgängigen Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung, und nicht schon in der Wahrnehmungsorientierung selbst, enthüllt. Die methodische Notwendigkeit, auf eine Vorstellungsvermittlung der Wahrnehmung zu rekurrieren, um ihre bewegungsdynamische Kausalität mit einer intentionalen Sinngebung zu vermitteln, entfällt jedoch, insofern sich eine die Wahrnehmungsbewegung organisierende Wahrnehmungsintentionalität in der zur Wahrnehmungsorientierung gehörenden Reflexivität, der – sowohl vorsprachlichen als auch sprachlichen – Artikulation von Wahrnehmungsinteresse, ursprünglich bekundet. In diese Richtung einer sprachlichen Ausweisung von ursprünglichem Wahrnehmungsinteresse geht die hermeneutische Logik, indem sie die nicht nur sachbezogene, sondern selbstbezogene Rede in den Blick nimmt.209 Anders als in der direkten Aussprache durch das Urteil, in der das Ich zu einer Sache aktuell Stellung nimmt, zeigt sich im Stil der Gesprächsführung die dispositionelle Einstellung der ganzen Person, das habituelle Wahrnehmungsinteresse in seiner komplexen Struktur der unterschiedlichen Gewichtung von Themen. Ob etwas von Interesse und oder wie es interessiert, bekundet sich durch die Art und Weise des Ansprechens von etwas, indem wir überhaupt über etwas sprechen oder es verschweigen, es nur beiläufig erwähnen oder durch wiederholtes Zurückkommen auf immer wieder Dasselbe seine Bedeutung eines thematischen Zentrums unterstreichen. Wie sich das Wahrnehmungsfeld durch seine thematische Zentrierung organisiert, artikuliert sich demnach in einer Rede, die nicht nur Einzel209 Die hermeneutische Logik verwirft freilich die Intentionalität als leitendes Konzept. Vgl. dazu Teil C, Kap. III,6.

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nes ausspricht, sondern in der immer wieder neuen Anknüpfung des Gesprächsfadens eine ganze Bewegung artikuliert, Haupt- und Nebengedanken in einer Periodik des Besprechens auszeichnet, indem diese von einem zentralen Gedanken ausgehend ausweicht auf periphere Themen, um den Ausgangspunkt des Gesprächs zu bekräftigen in der wiederholten Rückkehr zum Ausgangspunkt. Durch den Fundierungszusammenhang von sprachlicher Artikulation und intentionaler Habitualisierung von Wahrnehmungen und Vorstellungen wird schließlich deutlich: Nicht in der Figur-Grund-Struktur als einer reproduzierbaren Ordnungsdisposition liegt die habituelle Verfügbarkeit des Wahrnehmungsfeldes, sondern in einer Handlungsdisposition, eine aktuell vollzogene Artikulationsbewegung noch einmal vollziehen zu können. Das methodisch-systematische Interesse der hermeneutischen Logik ist es allerdings gerade nicht, eine Intentionalitätskonzeption zu entwickeln, insofern auch sie Intentionalität konstitutionstheoretisch als Vorstellungsintentionalität und von daher als nicht reflektierende, direkte Bezugnahme auf Gegenstände versteht. Erst in einer genetischen Phänomenologie der Orientierung, welche reflexive, thematische Objektivierungen schon in der Wahrnehmung in den Blick nimmt, lässt sich eine Konzeption von reflexiver Wahrnehmungsintentionalität entwickeln, welche bewegungsdynamische Kausalität und organisierende Sinngebung ursprünglich vermittelt. Die bewegungsdynamische Organisation der Wahrnehmungsorientierung, welche ein thematisches Feld diakritisch entwickelt, erzeugt eine Ordnung und Organisation, die keineswegs erst in einer Vorstellungsintentionalität und dem mit ihr verbundenen Reproduktionszusammenhang habituell verfügbar ist, sondern in der zur Wahrnehmungsintentionalität der Wahrnehmungsbewegung gehörenden Wiederholungsdisposition besteht.

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Teil C Phänomenologie der Orientierung

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Kapitel I Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­ orientierung: Konstitutionstheoretische Aporien 1)

Anthropologie und Phänomenologie: Die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung und ihre konstitutions­ theoretische Auf‌lösung

Wohl kaum eine andere Lehre der Phänomenologie verrät ihre metho­ dische Prämisse, eine leitende konstitutionstheoretische Idealisierung, deutlicher als Husserls Theorie der Kinästhesen. Denn was von der le­bensweltlichen Erfahrung her als untrennbare Einheit erscheint – Wahr­nehmung und Bewegung im Raum – nimmt Husserls theore­ tische Analyse von Anfang an auseinander. Der Raum wird nicht etwa organisiert durch die bewegliche Wahrnehmungsorientierung – die Raumordnung ist als eine unbewegliche, gegenständliche Einheit der Wahrnehmungsbewegung vorgegeben. Husserl beharrt auf dem phänomenologischen »Recht«, eine Scheidung zu vollziehen, in der das räumliche Wahrnehmungsfeld als eine Form der darstellenden Konstitution anzusehen ist, die jeder kinästhetischen Bewegungsmöglichkeit ermöglichend vorausgeht: Das visuelle Feld mit seiner »Materie« – den Empfindungsgehalten – und ihrer räumlichen »Ausbreitung« »besteht offenbar unabhängig von der Bewegung; es sind, ob die Erscheinung sich ändert oder nicht ändert, ob Verläufe von Bewegungsempfindungen statthaben oder nicht statthaben, in jeder konkreten visuellen Em­pfindung die zwei Momente [Materie und Ausbreitung, d. Verf.] vorhanden.«1 Der Phänomenologe rekurriert also in der Bewegung auf eine immer schon »vorhandene« Raumorganisation, ein statisches »System« von Koordinaten als Grundlage für die Wahrnehmungsorientierung, anstatt Ordnung und Organisation des Raumes aus der Wahrnehmungsorientierung abzuleiten und entsprechend die Raumbildung als eine bewegungsdynamische Organisation zu verstehen. Dass Husserls Annahme einer bewegungsvorgängigen, gegenständlichen Raumkonstitution von vornherein idealisiert und konstruiert statt zu deskribieren und damit dem programmatischen Anspruch einer theoretisch vorurteilsfreien Beschreibung lebensweltlicher Phänomene kaum Genüge leistet, wird klar, wenn man diese gegenstandsorien1

Husserl, Hua XVI, § 48 »Die Darstellungsmittel des visuellen Feldes«, S. 164.

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1) Anthropologie und Phänomenologie

tierte Beschreibung mit denjenigen Ausführungen über die Einheit von Empfinden und Sich-Bewegen konfrontiert, wie sie Erwin Straus in Vom Sinn der Sinne gibt. Den systematischen Ausgangspunkt von Straus bildet die Annahme, dass sich die Einheit von Empfindung und Bewegung nur erschließt, wenn man die Wahrnehmungsorientierung nicht als eine Gegenstandsorientierung, sondern Umweltorientierung versteht. Zwar gehört der Umgang mit Gegenständen in der Welt untrennbar zum Orientierungsphänomen. Worauf es jedoch methodisch ankommt, ist diese Gegenstandsorientierung nicht als eine Vorstel­ lung und damit Erkenntnisorientierung zu deuten, in der ein vorstellendes Subjekt einem vorgestellten Objekt gegenübertritt. Heideggers Sein und Zeit folgend interpretiert Straus die menschliche Subjektivität als ein In-der-Welt-sein, jedoch anthropologisch konkretisiert im Sinne eines mit seiner Umwelt verflochtenen Wahrnehmungssubjektes, das sich in und aus einer Welt nur orientieren kann, indem es sich in ihr wahrnehmend bewegt. Weil in einer solchen ausschließlich wahrnehmenden Umweltorientierung die zum Vorstellungsverhältnis gehörende erkenntnistheoretische Subjekt-Objekt-Spaltung wegfällt, entzieht Straus der Annahme von kinästhetischen Empfindungen überhaupt ihren methodischen Boden: Anthropologisch suspendiert wird die konstitutionstheoretische Unterscheidung, wonach es einerseits Empfindungsqualitäten gibt, die eine Darstellungs- und d. h. Vorstellungsfunktion haben im Rahmen der intentional-objektivierenden Auffassung, und andererseits solche gar nicht intentional-vorstellenden, bloß subjektiven Bewegungsempfindungen. Die Theorie der Kinästhesen ermöglicht deshalb nicht etwa eine anticartesianische Konzeption der Sinne, welche die bruchlose Einheit von Wahrnehmung und Bewegung lehrt, sie steht ihr vielmehr methodisch im Wege. Anthropologisch betrachtet sind Empfindungsqualität und Bewegungsqualität gar nicht zu trennen mit Blick auf das Sinnesdatum, welches immer anlockt oder abschreckt, weil es in einer räumlich-richtungsorientierten Wahrnehmungsbewegung der Näherung und Entfernung ursprünglich gegeben ist. Dieser innige Zusammenhang von Bewegung und Empfindung kann nur psychologisch-theoretisch – also künstlich – umgedeutet werden in ein äußerliches Assoziationsverhältnis zwischen einem Empfindungsdatum als Konstituens der Vorstellung, zu der sich dann noch eine sogenannte »Bewegungsempfindung«, die Kinästhese, hinzugesellt.2 2

»Sobald wir nun die Kluft zwischen Ich und Welt beseitigen, das Empfinden

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Aber nicht nur in Hinblick auf die einzelne Empfindung zeigt sich diese anthropologische Unterwanderung cartesianischer Dichotomien der Raumkonstitution, sondern vor allem in Hinblick auf die Ordnung des Wahrnehmungsfeldes selbst, die Art und Weise, wie sich die Umwelt als ein Horizontbewusstsein für die Wahrnehmungsbewegung ausbildet. Der Vergleich von Mensch und Tier lässt eine Analogie bewegungsdynamischer Raumorientierung deutlich werden. Die Gliederung des Raumes entsteht durch die Bewegung; der Raum zeigt sich somit als »ein Aktionsraum mit zoomorpher Gestaltung« (Straus, S. 238]. Was diesen Bewegungsraum der Wahrnehmung vom Vorstellungsraum grundlegend unterscheidet, ist seine Inhomogenität, eine Gliederung in »Wertregionen« [ebd.]. Als Grund für diese qualitative Gliederung des Wahrnehmungsraumes gibt Straus nicht nur die biologische Zweckmäßigkeit der Wahrnehmungsbewegung an, sich den Lebensinteressen und ihrem Prinzip der Selbsterhaltung folgend zu orientieren, sondern auch die leibliche Fundierung der Wahrnehmungsorientierung, welche stets »von einem Zentrum, dem jeweiligen Hier des Aufenthalts aus« [ebd.] geschieht, während der Vorstellungsraum ein cartesianisches Koordinatensystem bildet, welches im Prinzip beliebig viele mögliche Zentren enthält, also dezentriert ist.3

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nicht als Vorstufe des Erkennens betrachten, das endliche Subjekt nicht mehr vom Vollendeten her zu verstehen suchen, gehört das Empfinden not­wendig zum Sich-Bewegen. Ist das empfindende Subjekt ein Wesen, das sich in der Welt, im Einigen und Trennen erlebt, dann kann die Empfindung nicht für sich allein bestehen und davon geschieden die Bewegung. Denn das Einigen und Trennen ist beides, Empfinden und sich Sich-Bewegen, in einem inneren Zusammenhang. Das Lockende und das Schreckende ist lockend und schreckende nur für ein Wesen, das sich richten, sich nähern und entfernen, kurz das sich bewegen kann.« [Straus, S. 241] Dagegen kann für die cartesianisch nicht der Subjekt-Objekt-Spaltung befangene Psychologie der »Zusammenhang von Sensorium und Motorium […] immer nur als eine äußere Verknüpfung gedacht werden« [ebd., S. 242]. »Die Beweglichkeit des Tieres ist in voller Entsprechung zu einem inhomoge­ nen Raum, einem Raum mit verschiedenartiger Verteilung der Güter. Wäre alles für die Lebenshaltung Notwendige gleichmäßig verteilt, in einem solchen homogenen Raum wäre die Beweglichkeit ohne Sinn. […] Tierische Loko­ motion ist primär zielgerichtet, ist ein Suchen oder Fliehen, Angreifen oder Verteidigen, nicht ein bloßer Durchgang von einem Punkt im Feld zum nächsten. Die Umwelt des Tieres ist von appetitiven Vektoren durchzogen. Sie ist nicht geordnet durch ein System von einem beliebigen Nullpunkt aus meßbarer Koordinaten, sondern sie ist von einem Zentrum, dem jeweiligen Hier des Aufenthalts, auf die vielen Dort in ihrer Werthaftigkeit gerichtet, sie ist physiognomisch determiniert.« [Straus, S. 238]

434 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Anthropologie und Phänomenologie

Bemerkenswert stimmt Husserls methodische Analyse mit Straus nicht vollständig, sondern nur in einer bestimmten Hinsicht überein. In Ding und Raum betont Husserls bereits die leibliche Zentrierung der umweltlichen Wahrnehmungsorientierung. Aber diese Auszeichnung des Leibes als ein Nullpunkt der Orientierung bleibt konstitutionstheoretisch zwiespältig, denn sie bezeichnet nur die sub­ jektive Seite des Konstitutionsverhältnisses: »Wir finden uns vor als ein Beziehungszentrum in der übrigen Welt als unserer Umgebung.« [Husserl, Hua XVI, S. 4] In Bezug auf das vorstellende Subjekt erweist sich die Wahrnehmungsorientierung als zentriert, im Hinblick auf das vorgestellte Objekt, die vorgegebene Welt mit ihren Gegenständen, fällt diese Zentrierung jedoch weg. Der Mensch findet sich lebensweltlich vor als ein Vorstellungsobjekt im Raum unter unendlich vielen möglichen Objekten, d. h. in diesem räumlich unendlichen Universum vervielfältigen sich die Wahrnehmungszentren, sodass sie im Prinzip keine richtunggebende Funktion für die Wahrnehmungsbewegung haben und haben können: »In der natürlichen Geisteshaltung steht uns eine seiende Welt vor Augen, eine Welt, die sich endlos im Raum ausbreitet, jetzt ist und vorher gewesen ist und künftig sein wird; sie besteht aus einer unerschöpflichen Fülle von Dingen […]. In diese Welt ordnen wir uns ein, wie sie finden wir uns selbst vor, und finden uns inmitten dieser Welt« [ebd.]. Der Vorstellungsraum ist unbegrenzt sowohl hinsichtlich der Dinge, welche sich in ihm befinden als auch seiner räumlichen Ausdehnung. Deswegen kann er auch nicht durch die leibliche Wahrnehmungsbewegung auf ein Zentrum hin organisiert werden: Zentriert ist die Wahrnehmungsorientierung, sofern alle möglichen Vorstellungen eine Subjektorientierung haben. Doch überträgt sich diese Zentrierung nicht auf das Wahrnehmungsfeld, das Feld von Objekten. Denn dies würde einer Grenzziehung gleichkommen, indem die Welt überhaupt nur noch eine begrenzte Anzahl von Objekten enthielte, die in einer festen Beziehung zu einem ganz bestimmten Objekt im Wahrnehmungszentrum stände. Genau eine solche unaufhebbare horizontale Grenzsetzung charakterisiert den anthropologisch und nicht konstitutionstheoretisch begriffenen »Aktionsraum« der Wahrnehmungsorientierung, wie ihn Straus versteht. Die Bewegung schafft sich einen Spielraum, einen eng umschlossenen Raum, in welchem sie sich bewegt, abgelöst von demjenigen diesen Orientierungsraum weitläufig umgebenden äußeren Raum, der für die Bewegungsorientierung überhaupt irrelevant ist. Den Horizont als Bewegungshorizont, als 435 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Spielraum der Wahrnehmungsbewegung, zeichnet deshalb aus, dass er eine Linie zieht, eine feste Grenze von »Drinnen« und »Draußen« setzt: Er ist ein exkludierender Horizont. Zum »Phänomen des Spielraums« gehört »das Eingeschlossen-Sein, das Ausgeschlossen-Sein und das Sich-Verschließen« [Straus, S. 251]. Auch hier ist der methodische Vergleich mit Husserls Konzeption eines raumkonstituierenden Horizontbewusstseins wiederum sprechend. Zwar ist auch Husserls Raum der Konstitution nicht völlig strukturlos. Der Zentrierung durch den Leib gemäß bildet sich ein Nahfeld der Orientierung aus, welches sich mit einen umgebenden Fernraum horizontintentional verknüpft. Doch wo Straus die Grenzziehung und Exklusion betont, geht es Husserl gerade um die prinzipielle Möglichkeit der Aufhebung jeder Art von Grenze. Der Hori­zont als Konstitutionsphänomen ist kein Bewegungs-, sondern ein Vor­ stellungshorizont und im Unterschied zum ein- und ausschließenden Spielraum der Bewegung nicht begrenzend, sondern entgrenzend. Die Möglichkeit, den Nah- vom Fernraum zu unterscheiden, gründet konsti­tutionstheoretisch in der Modifikation der intentionalen Vorstellung: Der Nahbereich verkörpert das anschaulich Gegebene, das auf ein Unanschauliches und Leer-Vorstelliges in der Ferne verweist. Weil sich horizontintentionale Leervorstellungen grundsätzlich in Anschauungen umwandeln lassen, lässt sich derjenige den Anschauungsbereich jeweils begrenzende Horizont beliebig in die Ferne hinausschieben: Der Raum der Konstitution kennt deshalb keine festen Grenzen, sondern nur fließende Horizonte, eine Endlichkeit der Wahrnehmung, die eine Unendlichkeit der Vorstellung immer schon impliziert.4 Husserls Analysen zur Raumkonstitution werden von dem erkenntnistheoretischen Vorurteil getragen, wonach Ordnung und Organisation in die Wahrnehmung nur kommt, wenn sich diese wahrnehmungsvorgängig mit einer intentionalen Erkenntnisorientierung verknüpft. Die Phänomenologie reiht sich damit ein in die lange Tradition von Platon bis Kant, wonach wahrnehmungsgegebene Anschauungen für sich genommen »blind« und d. h. unorientiert bleiben, wenn ihnen nicht das Denken in Form der Erkenntnis einer Idee, eines Begriffs oder der Erfassung einer idealen Bedeutungseinheit einen Ord4

Zu dieser Problematik des Horizontbegriffs bei Husserl und der damit ver­ bundenen Auffassung der Wahrnehmungswelt und Umwelt als »Stück« und »Teil« eines vorgestellten, umfassenden Weltganzen vgl. Kap. I,6.

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1) Anthropologie und Phänomenologie

nungsbezug vermittelt. Nur vor diesem Hintergrund ist die geradezu provozierende Geringschätzung zu verstehen, mit der Husserl die Bewegungsräumlichkeit der Kinästhesen betrachtet, wenn es heißt, dass die »Bewegungserscheinungen« und der dadurch gegebene »Wechsel der Orientierung« sich lediglich auf solche »diskret gegebenen einfältigen Wahrnehmungen bezieht, daß in den vereinzelten Erscheinungen nicht so viel liegt, daß sich darin wirkliche Identität des erscheinenden Gegenstandes ausweisen könnte« [Husserl, Hua XI, S. 154 f]. Diese Betrachtung des kinästhetischen Orientierungswechsels erweist sich als reduktionistisch damit, dass sie die zum Orientierungswechsel der Wahrnehmung gehörende Bewegungskontinuität in theoretischer Absicht verleugnet. Die »kontinuierliche Synthese« des Wahrnehmungsraumes kommt nicht etwa ursächlich in der Wahrnehmungsbewegung zustande, sondern einzig und allein durch die einer solchen sukzessiven Wahrnehmungsbewegung vorhergehende und von ihr unabhängige Identifizierung eines Gegenstandes, dem sich die mannigfaltigen Wahrnehmungen als »Erscheinungen von«, als wechselnde repräsentierende Vorstellungen, zuordnen lassen. Dass in keinem Fall die Wahrnehmung selbst, sondern stets eine vermittelnde Erkenntnisorientierung deren ordnende Synthesis hervorbringt, hebt Husserl selbst hervor. Er spricht ausdrücklich von einer »logischen« – und nicht empirischen – Synthese der Identifizierung.5 Für sich genommen besteht die Wahrnehmungsbewegung deshalb aus bloß vereinzelten, d. h. unzusammenhängenden »diskreten« Einzelvorstellungen, die nur dadurch überhaupt eine zusammenhängende Einheit bilden, indem sie in einer identifizierenden Erkenntnis synthetisierend auf einen Gegenstandspol bezogen werden.6 5

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Gegenständliche Identität, wie sie in einer Synthesis der Identifizierung zustande kommt, die Husserl hier »logische Synthese« nennt, stiftet die kontinuierliche Synthese der Wahrnehmung: »Die Einheit des Gegenstandes weist sich nur aus in der Einheit der die mannigfaltigen Wahrnehmungen kontinuierlich verknüpfenden Synthesis, und diese kontinuierliche Synthese muß zugrunde liegen, damit die logische Synthese, die der Identifizierung, evidentes Gegebensein der Identität der in verschiedenen Wahrnehmungen erscheinenden Gegenstände herstellt.« [Husserl, Hua XVI, § 44, S. 155] Den »diskreten« Charakter des bewegungsräumlichen Orientierungswechsels, der immer nur Einzelwahrnehmungen in einer zusammenhängenden Gegen­ stands­vorstellung vermittelt, betont Husserl in Ding und Raum ausdrücklich: »Populär gesprochen, wenn ich eine bestimmte Dingwahrnehmung habe, etwa eines bekannten […] Dinges, und eine diskrete zweite Wahrnehmung gäbe nun die Rückseite des Dinges« usw. [Husserl, Hua XVI, § 44, S. 155].

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Vor diesem methodischen Hintergrund reduziert Husserls konstitutionstheoretischer Blick die räumliche Wahrnehmungsorientierung von vornherein – von der dazugehörigen kontinuierlichen Wahrnehmungsbewegung abstrahierend – auf die pure intentionale »Darstellungs«-Funktion, den reinen Orientierungswechsel. Die kinästhetische Wahrnehmung wird somit als die Möglichkeit interpretiert, verschiedene »Bilder«, d. h. letztlich unterschiedliche repräsentierende Vorstellungen von einem Ding, zu bekommen: »In diesem Sinne ist jeder Gegenstand äußerer Wahrnehmung in einem ›Bild‹ gegeben, und er konstituiert sich im synthetischen Übergang von Bild zu Bild, wobei die Bilder als Bilder (Erscheinungen) von Demselben zu synthetischer Deckung kommen. Jede Wahrnehmung, die mir das Objekt in dieser Orientierung darbietet, läßt die Übergänge in die anderen Erscheinungen desselben Objektes […] praktisch offen« [Husserl 1972, § 19, S. 88 f].7 Von der intentionalen Konstitution her betrachtet folgt der Orientierungswechsel dem die Wahrnehmung leitenden systematischen Erkenntnisinteresse. Die Wahrnehmung als solche »erstrebt immerfort neue Erscheinungsveränderungen, um sich den Gegenstand allseitig zur Gegebenheit zu bringen« [ebd., S. 88]. Husserls Beschreibung nimmt die wechselnde Orientierung in den Blick, wie sie von der vorstellungsintentionalen Sinngebung her, der Bezugnahme auf den Gegenstand in seinen wechselnden Bestimmungen und Bedeutungen her, gedacht ist. Die Erfüllung des Erkenntnisinteresses erfordert jedoch nicht nur die konstituierende Entwicklung von immer neuen Gegenstandsbestimmungen und in dieser Hinsicht verschieden orientierte Sinngebungen, sondern auch, dass bestimmte wahrnehmungsmäßige Zuwendungen durch meine Leibbewegungen gewissermaßen inszeniert werden, eben weil es nicht nur keine Auffassung ohne Hyle, sondern – genetisch phänomenologisch – überhaupt keine vorstellende Bezugnahme auf einen Gegenstand ohne eine sie vom Gegenstand her auslösende sinnliche Affektion geben kann. Husserl betont in diesem Zusammenhang die unwillkürliche Freiheit der Leibbewegungen und 7

Husserl unterscheidet »Bild« im Sinne der konstituierenden, repräsentierenden Darstellung ausdrücklich vom Bildbewusstsein im engeren Sinne, einem Verweis des Bildes auf das Abgebildete: »Sie [die Wahrnehmungstendenz der systematischen Gegenstandsbestimmung] geht auf die ›Erzeugung‹ immer neuer Erscheinungsweisen, die wir auch ›Bilder‹ nennen können – ein Begriff von Bild, der natürlich mit Abbildung nichts zu tun hat, der aber durchaus sprachüblich ist; so wenn man etwa von dem Bilde spricht, das man sich von einer Sache macht, womit gemeint ist, eben die Weise, wie man sie sieht, wie sie sich einem darstellt.« [Husserl 1972, § 19, S. 88]

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1) Anthropologie und Phänomenologie

ihrer Kinästhesen, sich durch wechselnde intentionale Zuwendungen immer anderen Affektionen jeweils auszusetzen: »Da gibt es also eine Freiheit des Durchlaufens derart, daß ich die Augen bewege, den Kopf bewege, meine Körperhaltung ändere, herumgehe, den Blick auf das Objekt gerichtet usw. Wir nennen diese Bewegungen, die zum Wesen der Wahrnehmung gehören und dazu dienen, den Wahrnehmungsgegenstand möglichst allseitig zur Gegebenheit zu bringen, Kinästhesen.« [Ebd., S. 89] Husserls Konstitutionstheorie bedient sich hier eines intentionalen Verständnisses von Wahrnehmungsorientierung, das als solches gar nicht primär räumlich konzipiert ist. Husserls Sprache verwendet »Orientierung« synonym mit »Perspektive«, »Seite« oder auch »Abschattung«. Diese Terminologie entspringt aber nur sehr mittelbar einer Betrachtung, welche die perspektivisch-räumliche Darstellung des Wahrnehmungsdinges zum exemplarischen Beispiel wählt. Im Rahmen der Konstitutionsbestimmung wird der spezifisch räumliche Sinn von »Seite«, »Perspektive«, »Orientierung« zur bloßen Metapher für einen im Grunde ganz und gar unräumlichen Sinn: Wir können nicht nur die Dinge im Raum, sondern alle möglichen Sachen und Sachverhalte von einer bestimmten Seite aus betrachten. Die Rede von »Orientierung« und »Perspektive« bezieht sich demnach ganz allgemein auf die Möglichkeit verschiedener Gegenstandsbestimmungen: Die Anschauung erfasst, vermittelt durch die in ihrem perspektivischen Blickwinkel beschränkte Wahrnehmungsorientierung, einen bloßen Teilaspekt und Ausschnitt derjenigen Fülle möglicher Sinngebungen, die als eine noch unanschauliche Gegenstandstotalität eine nicht wahrnehmungsgebundene Vorstellung, eine intentionale Erkenntnis­ orientierung, vorgibt. Die konstitutionstheoretisch motivierte Eliminierung des Raumes aus dem Orientierungssinn der Wahrnehmung deutet sich bereits an in Kants philosophischer Erörterung der Frage: »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« [Kant 1996, S. 265 ff] Kant erweitert die lebensweltliche Bedeutung von Orientierung als räumlicher Wahrnehmungsorientierung durch einen rein erkenntnistheoretischen Sinn. »Orientierung« meint in diesem Sinne die Ausrichtung der Erkenntnis, sich entweder auf einen Erkenntnisgegenstand der Erfahrung oder ein die Erfahrung schlechterdings transzendierendens, intelligibles Substrat zu richten. Husserl bedient sich offensichtlich einer solchen erkenntnistheoretischen Sinnerweiterung von Orientierung in der Absicht, auch für die Wahrnehmungsgegebenheiten einen Konstitutionsbegriff der Organisation zu gewinnen. 439 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Schon die Logischen Untersuchungen betonen die Wahrnehmungsvorgängigkeit der intentionalen Orientierung. Die Gegenstandsbeziehung kommt durch einen »bedeutungsverleihenden Akt« in Gestalt einer unanschaulichen Leervorstellung zustande, der als solcher kein integraler Bestandteil der Wahrnehmung ist. Es liegt »kein Teil der Bedeutung in der Wahrnehmung selbst« [Husserl, Hua XIX,2, § 5, S. 556]. Gleichwohl beinhaltet die Bezugnahme auf die wahrnehmungstranszendente Bedeutung und die mit ihr verbundene Erfassung des Gegenstandes in einer solchen leer vorstellenden Erkenntnisorientierung immer auch die Notwendigkeit der Vermittlung durch eine Anschauung gebende Wahrnehmungsorientierung. Das hängt mit der phänomenologischen Auffassung der Konstitution und dem sie leitenden transzendentalen Ideal der vollständigen und durchgängigen Gegenstandsbestimmung zusammen. Der Gegenstand, so wie er vermeint wird, enthält nicht nur die einfache Bedeutung, sondern einen ganzen Komplex von impliziten Bestimmungen, die letztlich nur mit Hilfe von wechselnden wahrnehmungsmäßigen Orientierungen expliziert werden können. Diese Vermittlungsproblematik bringt vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck eine Passage aus Phänomenologische Psychologie. Husserl spricht dort vom Gegenstand als einem »Einheitspol mehrdimensionaler Intentionalität, der […] einer vielfältigen, zur Einheit einer Sinnesleistung zusammengehenden Intentionalität bedarf« [Husserl, Hua IX, Beilage XVII, S. 435]. Die angesprochene Mehrdimensionalität verweist darauf, dass die intentionale Beziehung nicht nur eine Dimension impliziert – die den Gegenstand einfach identifizierende Erkenntnis – sondern ebenso die ganze sich in wechselnden Wahrnehmungsorientierungen bekundende Komplexität der Gegenstandsbestimmung. Somit gehören sowohl die Erkenntnis- als auch die Wahrnehmungsorientierung zur intentionalen Struktur, insofern das, was Husserl hier den »Endsinn« der Konstitution nennt – das transzendentale Ideal der systematisch vollständigen und durchgängigen Gegenstandsbestimmung – in der jeweiligen Perspektive und Orientierung der Wahrnehmung durch einen »Sondersinn« jeweils enthüllend expliziert wird: »In verschiedenen reflektiven Blickrichtungen enthüllt sich die den Dingsinn konstituierende Mannigfaltigkeit von notwendigen in­ ten­tionalen Leistungen, in deren jeder ein entsprechender vermitteln­ der Sinn liegt, wie die jeweilige Seite, die Orientierung, die Per­spektive. 440 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Anthropologie und Phänomenologie

Sie vermitteln ihn, indem wir nach der Reflexion auf einen solchen Sondersinn […] das in gerader Einstellung von uns vordem erfaßte Ding selbst noch im Griff haben […]. Wir erschauen, daß das Ding Wahrnehmungsding nur ist als das sich von der Seite darstellende und die Seite ist nur als Darstellungsweise, in der sich das Ding darstellt. Genauer gesprochen ist das wahrnehmungsmäßig für uns daseiende Ding eines und selbiges im Wandel der Wahrnehmung, und dazu gehört, im Wandel der Seiten als in diesem Wandel dasselbe seitenmäßig Darstellende, indem sich durch ihren Sinn hindurch das Ding als Endsinn darstellt.« [Husserl, Hua IX, Beilage XVII, S. 435] Die Wahrnehmungsorientierung ist demnach identisch mit der Form der darstellenden Konstitution – also letztlich die besondere Gestalt der repräsentativen Vorstellung von einem Ding. Wechselnde Wahrnehmungsorientierungen sind demnach nicht eigentlich intentional im Sinne der ursprünglichen Sinnbildung, sondern eben nur vorstellend und konstituierend – Konstitution hier verstanden im originär phänomenologischen Sinne der vorstellungsmäßigen (anschaulichen) Realisierung einer im vorhinein erfassten reinen (unanschaulichen) Bedeutung.8 Das wiederum hat systematische Auswirkungen auf die intentionale Bestimmung der Räumlichkeit der Wahrnehmung. Konkrete Wahrnehmungsgegenstände wie das Haus oder der Baum befinden sich unbestreitbar im Raum, d. h. der intentionale Sinn im konkreten, lebensweltlichen Kontext kann vom räumlichen Sinn nicht einfach entkoppelt werden. Die erkenntnistheoretische Sinnerweiterung, wonach sich die intentionale mit der räumlichen Bedeutung von Orientierung nicht einfach deckt, führt so schließlich dazu, dass mit Blick auf die Raumkonstitution eine Dichotomie von Raumordnung und Bewegung entsteht: Es gibt zwar den Bewegungsraum – aber er ist grundsätzlich nicht identisch, vielmehr fundiert im Vorstellungsraum der Konstitution. Für die phänomenologische Analyse der kinästhetischen Empfindungen ergibt sich so die merkwürdige Ausgangslage, dass der lebensweltlich dominierende bewegungsräumliche Sinn der Wahrnehmungsorientierung systematisch gar nicht von Interesse ist, wenn es um die Erklärung der objektivierenden Funktion der Raumerschlossenheit geht, welcher die Wahrnehmung ihre Ordnung und Organisation verdankt. Bei der kinästhetischen Räumlichkeit handelt es sich um solche die Konstitutionsverhältnisse gar nicht berührenden, 8

Vgl. dazu Teil B, Kap. I,1.

441 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

selektiv-subjektiven Wahrnehmungen von objektiv immer schon vorgegebenen Bedingungen der systematisch geordneten Raumkonstitution. Die kinästhetisch-räumliche Orientierung stellt überhaupt niemals Empfindungen in einen geordneten Raum, welche sich in einem solchen nicht bereits befänden – sie gehört im eigentlichen Sinne nicht zu den Leistungen der Gegenstandskonstitution. Das führt zu dem Auslegungsschema, in Bezug auf die wahrnehmungsräumliche Orientierung die Erkenntnisfunktion von der Wahrnehmungsfunktion zu trennen: Nicht etwa entwerfen die Kinästhesen selbst ein die Empfindungen ordnendes Orientierungsschema, sondern dieses wird ihr durch den Konstitutionszusammenhang, die Erfassung der systematischen Ordnung in einer der sukzessiven Wahrnehmungsbewegung vorgängigen simultanen Vorstellung einer gegenständlichen Raum-Totalität, immer schon vorgegeben.

2)

Intentionale und räumliche Orientierung: Husserls reduktionistische Theorie der Kinästhesen

Den Zusammenhang von Orientierung, Raum und Bewegung erläutern Husserls einschlägige Ausführungen in Ding und Raum konstitutionstheoretisch sehr präzise, als sie deutlich machen, dass die Kin­ ästhesen streng genommen keine Funktion der Vorstellung besitzen, d. h. solche »hyletischen« Bestandteile darstellen, die sich mit keiner intentionalen, objektivierenden Auffassung verbinden. »Kinästhetische« Empfindungen gehen mit den »darstellenden« Empfindungen, die zur Gegenstandskonstitution im eigentlichen Sinne gehören, lediglich mit als subjektrelative Inszenierungen. Kinästhesen bilden nicht nur keine »kontinuierliche Synthese« im Sinne einer bewegungsdynamischen Organisation des Raumes; sie erzeugen in ihrer Sukzession streng genommen auch gar keine »Bilder«, die etwas von dem gegenständlich gegebenen Raum der Konstitution vorstellig machen könnten. Von den kinästhetischen »Bewegungserscheinungen« heißt es in Ding und Raum: »Alle Räumlichkeit konstituiert sich, kommt zur Gegebenheit, in der Bewegung des »Ich«, mit dem dadurch gegebenen Wechsel der Orientierung.« [Husserl, Hua XVI, § 44, S. 154] Davon, dass Husserl mit seiner Theorie der Kinästhesen die Einheit von Empfindung und Bewegung lehren würde, kann jedoch keine Rede sein. Für Husserl gehören solche Bewegungserscheinungen im strengen Sinne nicht zur Konstitution, was sich grundlegend in der Unterschei442 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Intentionale und räumliche Orientierung

dung von »darstellenden« und »kinästhetischen« Empfindungen (vgl. ebd., § 46, Überschrift] niederschlägt. Husserl betont einmal, dass ihm an dem Orientierungswechsel als kinästhetisches Phänomen eigentlich gar nichts liegt seiner fehlenden Funktion der kontinuierlichen Darstellung des gegenständlich Gegebenen9 und der mit ihr verbundenen Möglichkeit wegen, alle einzelnen räumlichen Erscheinungen, die jeweilige »Lage« der Empfindungen, in die systematisch geordnete »umfassendere »Gesamtwahrnehmung«» [ebd., S. 154] einzuordnen. Der Wechsel der Orientierung wird demnach als ein bloßer Ortswechsel von solchen im Prinzip vereinzelten Empfindungen (»alle diskret gegebenen einfältigen Wahrnehmungen« [ebd.]) verstanden, die sich jeweils an einem bestimmten Ort (τόπος, topos) befinden, der Bewegungsraum also als eine bloße Ansammlung vereinzelter τόποι gedeutet – ein topologisch unzusammenhängender und kein durch die systematische, kontinuierlich-geordnete Konstitutionsbestimmung zusammenhängender Raum. Eben weil eine kontinuierlich-einheitliche Orientierungsbewegung, die in der Lage wäre, einen ebenso einheitlich-geordneten Raum in Gestalt eines Orientierungsschemas selber zu schaffen, konstitutionstheoretisch erst gar nicht in Betracht gezogen wird, verkümmert die bewegungsräumliche Empfindung konstitutionstheoretisch zu einer subjektiv vereinzelten Wahrnehmungsperspektive, welche sich Objektivität, kontinuierliche Einheit und Ordnung von einer konstituierenden Raumvorstellung und ihrer Erkenntnisfunktion notwendig leihen muss, mit der sie nurmehr äußerlich mitgeht. Die Unfähigkeit des kinästhetischen Orientierungswechsels, eine geordnete Raumwahrnehmung selbsttätig zu erzeugen, steht für Husserl außer Frage. Es gibt einmal die »präempirische Ausdehnung« [Husserl, Hua XVI, § 46, S. 159] von solchen Empfindungen, die im Raum lokalisiert sind und sich zu geordneten Sinnesfeldern zusammenschließen. Diese zu Sinnesfeldern synthetisierten Empfindungen können eine »beseelende Auffassung« erfahren und als repräsentierende Vorstellungen – »Darstellungen« – in die Gegenstandskonstitution eingehen [ebd., S. 160]. Davon grundsätzlich unterschieden sind aber die kinästhetischen Empfindungen, die mit solchen Empfindungen, die eine Darstellungs- und d. h. Konstitutionsfunktion haben, keinesfalls zu verwechseln sind. Hinsichtlich der kinästhetischen Empfindungen gilt: »Ihnen fehlt jede wesentliche Beziehung zu den visuellen 9 Vgl. Husserl, Hua XVI, § 44, S. 154 f, Zitat im Text siehe oben.

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Empfindungen; sie hängen mit ihnen funktionell zusammen, aber nicht wesentlich. Die Verbundenheit in der funktionellen Einheit ist Verbundenheit von Trennbarem, nicht Verbundenheit oder vielmehr innere Einheit des sich Fundierenden.« [Ebd., §49, S. 170]10 Gegenüber »allen visuellen und taktuellen Empfindungen« haben kinästhetische Empfindungen die Eigenart, »daß sie mit diesen Empfindungen zwar verbunden und, wenn man will, verwoben auftreten, aber sich doch nicht mit ihnen mischen können, als ob sie mit ihnen die Funktionen vertauschen könnten.« [Ebd., § 46, S. 161] Oder formelhaft ausgedrückt: Kinästhesen »ermöglichen Darstellung, ohne selbst darzustellen« [ebd.]. Kinästhesen gehören also nicht zu der im eigentlichen Sinne Gegenstände repräsentierenden, darstellenden Funktion der Konsti­ tution, sie sind keine wirklichen »Gegebenheits«-weisen, sondern lediglich subjektive »Wahrnehmungs«-weisen – Husserl wörtlich: Kin­ ästhetische Empfindungen »sind nicht darstellende im prägnanten Sinn, sie konstituieren keine Dingmaterie, auch keine anhängende. Sie lassen nur eine Auffassung zu, die sie in anhängende Bestimmtheiten verwandelt, nämlich nur die subjektivierende« [Husserl, Hua XVI, § 47, S. 161]. Diese generelle Subjektivierung des kinästhetischen Bewegungsraumes hat seine Auswirkungen auf die Deutung des Verhältnisses von Bewegung, Kontinuität und räumlicher Ordnung. Wenn es heißt: »Die kinästhetischen Empfindungen bilden stetige Systeme« [ebd., § 49, S. 170], dann hat diese Kontinuität einen Ordnungssinn nur, insofern sich die Kontinuität der Bewegungsempfindungen »deckt mit der stetigen Einheit des präempirischen Zeitverlaufs« [ebd.]. Hier kommt einmal mehr der Doppelsinn von »Orientierung« zum Vorschein entweder im Sinne des intentionalen Auffassungssinnes oder der hyletischen, assoziativ-räumlichen Gegebenheit. In Verfolgung des systematischen Erkenntnisinteresses und des mit ihm verbundenen Zeitverlaufs wechselnd orientierter Gegenstandsbestimmungen erhält der räumliche Orientierungswechsel seine Ordnungsfunktion, wird also aus dem hyletischen, topologischen Raum durch objektivierende Auffassung ein kontinuierlich-einheitlicher, sich zu einem gegenständlichen System ordnender Raum der Konstitution.

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Husserls Sprachgebrauch bezeichnet hier mit den »funktionellen« Verbindungen die bloß assoziativ-zufälligen Verknüpfungen, die nicht den Charakter einer Wesensbeziehung, einer intentional-notwendigen Verbindung, aufweisen.

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2) Intentionale und räumliche Orientierung

Die kontinuierliche Ordnung durch die Objektivierung des Raumes, die Husserl auch »präempirische Substantialisierung« nennt (vgl. Husserl, Hua XVI, § 48, S. 168], kommt somit niemals durch die bewegungsdynamische, wahrnehmungsräumliche Orientierung selbst zustande, sondern eine den Raum als Ordnungsschema konstituierende vorstellende Erkenntnis, welche dem kinästhetischen Orientierungswechsel ein Orientierungsschema vorgibt. Auf diese Weise kommt es zu einer umfassenden Gesamtvorstellung des Raumes, die ihrerseits alle möglichen Wahrnehmungsorientierungen fundiert, insofern sich alle einzelnen Raumvorstellungen, welche die Orientierungsrichtung für die jeweilige Wahrnehmung vorgeben, in das umfassende Koordinatensystem des Ganzen, die gegenständlich vorgegebene Raumtotalität, einordnen. Ein solcher vorstellungsintentional vermittelter Orientierungssinn kann so auch niemals ein bewegungsräumlicher sein, als er in einer die Bewegungsräumlichkeit der Wahrnehmung schlechterdings transzendierenden intentionalen Vergegenständlichung gründet. Konstitutionstheoretisch gedacht hat also räumliche Orientierung überhaupt die vorstellende Bezugnahme auf eine ruhende, alle einzelnen Räume einschließende umfassende Raumgegenständlichkeit zur Voraussetzung – losgelöst von der kinästhetischen und affektiv-beweglichen wahrnehmenden Zuwendung zu Teilen dieses räumlichen Vorstellungs-Ganzen. Da die Kinästhesen mit den durch die Raumvorstellung geordneten Empfindungen in keinem Konstitutionsverhältnis der Fundierung, sondern nur in einem Assoziationsverhältnis11 stehen, kommt es also in Hinblick auf die räumliche Wahrnehmung zur unvermeidlichen Absonderung von Bewegungsraum und gegenständlichem Raum. Die Ordnung des Raumes wird nicht nur nicht kinästhetisch erzeugt, sondern auch in keiner Weise beeinflusst durch die Bewegungsverläufe der Kinästhesen. Was Wahrnehmungsbewegungen zur Raumordnung beisteuern, sind lediglich wechselnden Orientierungen im Sinne der Konstitution, also sukzessive Reihen bildlicher Darstellungen, die aus der intentionalen Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung und dem nur ihr überhaupt zugänglichen intentionalen Erfassung des kon­ stanten Funktionszusammenhangs resultieren, welche alle sukzessiven einzelnen Empfindungen als Teile eines gegenständlich Ganzen 11

Zur assoziativen Verbindung von darstellenden und kinästhetischen Empfin­ dungen vgl. vor allem den § 51 von Ding und Raum [Husserl, Hua XVI, S. 176 ff].

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

in Gestalt eines simultan vorgegebenen Systems erfasst. Gegenüber sämtlichen kinästhetischen Variabilitäten fungiert dieses gegenständliche, verbundene System des Raumes als deren Invariante und damit das die Orientierung überhaupt leitende und ordnende simultane Orientierungsschema der Sukzession. Unabhängig von der Freiheit des Bewusstseins, verschiedene kinästhetische Bewegungsabläufe zu inszenieren, gibt es diese »feste Ordnung. Demnach hat jedes Stück des Sehfeldes […] seine Stellung im Gesamtzusammenhang […]. Diese Ordnung ist es, die uns das Feld als festes Lagensystem charakterisiert« [Husserl, Hua XVI, § 48, S. 165]. Der Raum im Sinne der geordneten Konstitution ist demnach alles andere als ein bewegungsdynamischer kinästhetischer Orientierungsraum mit seinen wechselnden Lagen und fluktuierenden assoziativen Zentren, sondern ein »festes Lagensystem«, welches nur die an keine Situativität der Wahrnehmung gebundene Erkenntnis einer Gegenstandstotalität in ihrer funktionalen Einheit von Teil und Ganzem erfassen kann: »Wie immer ich das Auge halte, immer ist das ganze visuelle Feld mit allen Orten da. Die Ortsmannigfaltigkeit ist etwas absolut Invariables, immer Gegebenes.« [Husserl, Hua XVI, § 51, S. 179] Um diese Vorgegebenheit der Raumordnung in einer simultanen Gegenstandserfassung zu demonstrieren, bedarf es jedoch methodisch einer weiteren idealisierenden Konstruktion. Räumliche Gegenstände, wie sie wahrgenommen werden, sind nicht wirklich voll­ ständig überschaubar. Damit scheint ausgerechnet die intentionale Gegenstandsorientierung Argumente nicht nur für, sondern auch gegen Husserls methodische Scheidung des topologischen Bewegungsraumes von der geordneten Raumvorstellung anzubieten. Im Falle des Würfels gewinnen wir zwar eine spontane Vorstellung von seiner Raumgestalt, doch – mit Sartre gesprochen – den von allen Seiten gesehenen Würfel gibt es nicht. Hier kann sich die konstitutionstheoretische Betrachtung noch darauf stützen, dass die Raumvorstellung zwar keine Anschauung, dafür aber eine Leervorstellung verkörpert, welche die Wahrnehmungsbewegung, durch die sie immer nur nachträglich veranschaulicht wird, intentional reguliert. Bei komplexeren räumlichen Objekten wie einem ausgedehnten Gebäudekomplex wird es jedoch schwierig, eine solche die wechselnde Wahrnehmungsorientierung vorgängig leitende Leervorstellung auszuweisen. Um ein komplettes Bild von Schloß Versaille zu bekommen, müssen wir den Gebäudekomplex umwandern, d. h. uns bewegen. Nicht eine antizipatorische Vorstellung ermöglicht hier die Raumwahrnehmung, sondern umge446 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Intentionale und räumliche Orientierung

kehrt scheint die Wahrnehmungsbewegung überhaupt die Bedingung dafür zu sein, sich eine vollständige Vorstellung von dem Objekt verschaffen zu können. Die lebensweltliche Erfahrung bietet also zwei Beispiele an für das Studium der Raumorganisation, wovon offenbar nur eines der konstitutionstheoretischen Analyse entgegenkommt. Hier hilft Husserl schließlich die methodische Idealisierung, den komplexen Fall vom einfachen aus als dessen Komplikation zu erschließen. Deshalb wird das Einfache noch einmal vereinfacht im Sinne der Gewinnung eines Elementaren, das in der Wahrnehmung faktisch so gar nicht vorkommt: eine anschauliche Raumvorstellung als Grundlage der Wahrnehmungsbewegung. Um die konstitutionstheoretische Scheidung von Vorstellungsraum und Bewegungsraum zu demon­ strieren, bedient sich Husserl eines fingierten Beispiels – statt des lebensweltlich alltäglichen dreidimensionalen eines zweidimensionalen Objektes aus dem idealisierten, geometrischen Anschauungsraum: Die Unabhängigkeit des Lagesystems von der kinästhetischen Orientierung veranschaulicht das quasi mathematische Beispiel des Quadrates, das in seiner Einfachheit und Überschaubarkeit dann in der Tat die Ablösbarkeit der simultan erfassbaren Raumordnung von der Wahrnehmungsbewegung einleuchtend demonstriert [ebd., S. 180]: a

b

c

d

Husserls konstitutionstheoretische Analyse entscheidet sich damit von vornherein gegen die Alternative einer bewegungsdynamischen Organisation, die zu gewinnen wäre am lebensweltlich einleuchtenden Beispiel einer weiträumig ausgedehnten Raumgestalt wie der Schloss­ anlage oder dem sich über Quadratkilometer erstreckenden Weidezaun einer großen Ranch. Beide Räumlichkeiten entziehen sich der Vorstellbarkeit – den Weidezaun müssen wir zunächst einmal ablaufen und dann erst können wir uns eine Vorstellung von den Ausmaßen der abgezäunten Weise machen. Hier wird der Raum also ursprünglich durch die zur wechselnden Wahrnehmungsorientierung gehörende Blickbewegung geordnet, welche gar nicht gegenständlich vorstellt, sondern dynamisch assoziiert. Die Linien zwischen den Punkten wären so erst zu ziehen durch eine Wahrnehmungsbewegung, welche einem geschlossenen Raum allererst erzeugte in der assoziativen 447 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Verknüpfung solcher zunächst unverbundener Orientierungspunkte – also einem nicht geordnet, sondern ungeordnet vorgegebenen Raum: Statt:

a

b

c

d

vielmehr:

a

b

c

d

Husserls geschlossene geometrischer Figur betrachtend sehen wir stets dasselbe Quadrat, ganz gleichgültig, wie auch immer die Orientierungen wechseln mögen, etwa in der Umkehrung der Wahrnehmungsbewegung: Der Blick kann von Punkt a ausgehend über b, c, d, zurück zu a wandern, aber auch in entgegengesetzter Richtung a, d, c, b, a. Diese Reversibilität bedeutet eine Umkehrung der Bewegung und Orientierungsrichtung bei gleichbleibender Erfassung der Figur des Quadrats als derjenigen der sukzessiv-beweglichen Wahrnehmungsorientierung schlechterdings vor­ausgehenden simultan vorstellenden, identifizierenden Erkenntnis des unveränderlichen Lagesystems. Sie zeigt dem Phänomenologen, dass die im eigentlichen Sinne intentionale Kontinuität der Auffassung von veränderlichen Erscheinungen im Raum eine zeitliche und nicht räumliche ist: Die immer neuen »darstellenden« Empfindungen, die als Zeitverläufe sukzessiv-geordnete Erscheinungsreihen bilden, ergeben sich völlig unabhängig vom räumlichen Orientierungswechsel der kinästhetischen Verläufe und deren Erscheinungsreihen. Die räumliche Kontinuität wird auf diese Weise als eine Form der reinen Sukzession begriffen losgelöst von der Bewegung: Räumliche Kontinuität ist konstitutionstheoretisch gedacht keine Form von Bewegungskontinuität.12 12

Für Husserl ist die Reversibilität der kinästhetischen Verläufe der Beleg dafür, dass sich die intentionale Kontinuität der räumlichen Wahrnehmung unabhängig von der Orientierung ergibt. In der Korrespondenz von kin­ästhetischen Erscheinungsreihen (K) und sukzessiven Erscheinungsreihen der darstellenden, konstituierenden Empfindungen (f) zeigt sich, dass »die K als Umstände charakterisiert sind, aber nicht Träger des Einheitsbewußtseins« [Husserl, Hua XVI, § 52, S. 182]. »Ganz anders verhält es sich mit der Reihe der K, sie weisen aufeinander nicht hin, sie laufen ab, sie sind aber nicht Träger durch sie hindurchgehender Intentionen der Art wie sie die f haben, nicht ein durch sie gehendes Einheitsbewußtsein. Die Umkehrung der Abfolge der K gibt wieder einen Abfluß von Intentionen, die durch die f hindurchgehen […]. Die K sind die ›Umstände‹, die f sind die »Erscheinungen«.« [Ebd., § 51, S. 181]

448 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Intentionale und räumliche Orientierung

Dass diese konstitutionstheoretische Beschreibung nicht einfach die faktischen Gegebenheiten der Wahrnehmung widerspiegelt, sondern eine methodische Idealisierung zu Hilfe nimmt, wenn es darum geht, diejenige die Ordnung des Raumes im ganzen ermöglichende intentionale Orientierung zu rekonstruieren, wird spätestens dann klar, wenn Husserl unterstellt, dass im Prinzip dieselben Konstitutions­ verhältnisse, die für ein singuläres Objekt wie das Quadrat gelten, auch für das ganze Objektfeld – also die Räumlichkeit der alle einzelnen Räume umschließenden Welt – anzunehmen sind.13 Das bedeutet eine weitere Stufe der methodischen Verallgemeinerung, die am einfachen Beispiel gewonnenen Konstitutionsverhältnisse auf den komplexen als dessen komplikative Erweiterungen zu projizieren. Die Übertragung vom zweidimensionalen auf das dreidimensionale Objekt ermöglicht die beiden Fällen gemeinsame Gegenstandsorientierung. Genau dieses tertium compartionis scheint nun aber doch im Übergang vom einzelnen Objekt auf das Objektfeld zu entfallen. Das Idealisierungsverfahren, welches die am einzelnen, in ideal-anschaulicher Überschaubarkeit gegebenen Objekt – dem Quadrat – gewonnenen Konstitutionsbestimmungen universalisiert, ist Husserl offenbar so selbstverständlich, dass er es an dieser Stelle nicht für nötig hält, seine in Anspruch genommene »Übertragung« methodisch explizit zu begründen. Die Begründung findet sich schließlich in den einleitenden methodischen Überlegungen zu Ding und Raum. Demnach beginnt die phänomenologische Beschreibung »bei der niederen und gemeinen Erfahrung« mit dem guten Gewissen, sich auf dem »natürlichen Boden« der Lebenswelt zu bewegen, also »von unten anzufangen« [Husserl, Hua XVI, Einleitung, S. 7] und von da aus die komplexeren und höherstufigen Konstitutionsverhältnisse methodisch zu erschließen. Die konstitutionstheoretische Idealisierung in Bezug auf die geordneten Verhältnisse des Raumes nimmt so ihren Ausgang von der elementar-einfachsten anschaulichen Raumgegebenheit und wendet die hier durch intentionale Analyse gewonnenen Ergebnisse schließlich an auf komplexere wahrnehmungsräumliche Gegebenheiten, welche zum erheblichen Teil gar nicht anschaulich präsent, sondern unanschaulich in einer bloßen Leervorstellung aufgehoben sind. Zweifellos gehören zur lebensweltlichen Realität nicht nur »Anschauungen« – sie ist, wie Husserls Entdeckung des Horizontbewusstseins zeigt, mit Leervor13

Vgl. dazu den § 52 »Übertragung der erörterten Sachlage auf das gesamte Objektfeld« [Husserl, Hua XVI, S. 182 ff].

449 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

stellungen immer schon durchsetzt. Die konstitutionstheoretische Unterstellung, dass alle Räume von einem Weltraum nicht nur umschlossen werden, sondern dieser Raum ein »System« darstellt, in das sich alle einzelnen Räume einordnen, ist jedoch alles andere als eine lebensweltliche Positivität, eine »Erfahrungstatsache« in Gestalt eines lebensweltlichen »Sinnesfundamentes« der Theorie. Zwar können wir die Erfahrung machen, dass sich durch die Wahrnehmungsbewegung immer neue Räume gleichsam aufschließen. Doch enthält dieses lebensweltliche Erlebnis durchaus nicht die Vorstellung eines geschich­ teten Raumes, einer Einschachtelung, in der alle kleinen Räume in den jeweils größeren umfassend eingeordnet werden können und zwar a limine, d. h. unbegrenzt. Niemand vermag sich den Weltraum – das unendliche Universum – als einen systematisch geordneten überhaupt vorzustellen – weder anschaulich noch unanschaulich. Husserls »Übertragung« macht offenbar von der methodischen Konstruktion einer solchen die begrenzten Möglichkeiten der Wahrnehmung entgrenzenden Schichtung Gebrauch, in welcher die Ordnung, die in der Anschauung ursprünglich gegeben ist, auf das Unanschauliche kontinuierlich ausgedehnt wird: Der geordnete Vorstellungsraum in seiner elementaren Form eines eindimensionalen, noch ungeschichteten Anschauungsraumes wird idealisierend erweitert zu einem geschichteten, beliebig-vieldimensionalen – mathematisch gesprochen n-dimensionalen – Raum. Phänomenologisch stützt sich ein solches Idealisierungsverfahren auf das lebensweltliche Horizontbewusstsein mit der Möglichkeit, den begrenzten Umfang des anschaulich Gegebenen durch die Gewinnung immer neuer Leervorstellungen kontinuierlich zu erweitern. Worüber die konstitutionstheoretische Idealisierung in ihrer Fixierung auf das Unbegrenzte und Unendliche dabei methodisch geleitet hinwegsieht, ist die ganz andere Art der Horizontbildung, wie sie den umweltlichen Bewegungsraum auszeichnet. Nur in einer Umwelt, deren Horizont Grenzen setzt, kann man sich überhaupt bewegen. Der begrenzende und einschließende Bewegungshorizont, welche die anthropologischen Betrachtung der Bewegungsräumlichkeit entdeckt, wird konstitutionstheoretisch gewissermaßen verflüssigt zu einem auf die Unendlichkeit ausgreifenden Vorstellungshorizont. Was in dieser Umwandlung des Horizontbewusstseins von der Wahrnehmung in eine Vorstellung verloren geht, ist die Beziehung auf ein besonderes Wahrnehmungszentrum, welche der beweglichen Wahrnehmungsorientierung eine Rich­ tung vorgeben könnte. Der entgrenzende Vorstellungshorizont, auf 450 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Intentionale und räumliche Orientierung

den sich die konstitutionstheoretische Gewinnung eines unendlichen Vorstellungsraumes bezieht, macht die wahrnehmende Raumorientierung durch die Beziehung auf alle möglichen Zentren orientierungslos. Genau das verkennt die konstitutionstheoretische Idealisierung mit ihrer projektiven Verallgemeinerung, die umweltorientierte der gegenstandsorientierten Wahrnehmung analog zu betrachten. Der Vorstellungsraum ist schlicht kein Bewegungsraum und taugt deshalb auch nicht dazu, die Wahrnehmungsbewegung zu organisieren durch ein Orientierungsschema, das nicht dieser selbst entspringt, sondern eingeführt wird durch eine »transzendentale« Vorstellungs- und Erkenntnisvermittlung, der wahrnehmungsvorgängigen Identifizierung einer idealen Gegenstandseinheit. Der Bewegungsraum stellt konstitutionstheoretisch nicht mehr dar als eine subjektrelative, leibliche Inszenierung von Kinästhesen, jedoch niemals einen Orientierungsraum im Sinne einer in der Wahrnehmungsbewegung aufgehobenen bewegungsdynamischen Or­ga­nisation. Für Husserls konstitutionstheoretische Auslegung der Phänomenologie ist die intentionale Orientierung identisch mit einer Erkenntnisorientierung, als Ordnung und Organisation in die Wahrnehmung nur hineinkommt nicht schon durch die Wahrnehmungsbewegung und ihr Assoziieren, sondern allererst durch das vorstellende Identifizieren von synthetischen Gegenstandseinheiten. Insofern kann man Werner Stegmeiers Einschätzung zustimmen, dass Husserl seine Phänomenologie nicht als eine Philosophie der Orientierung konzipiert hat. Die methodischen Gründe dafür liegen jedoch nicht im Festhalten an einem transzendentalen Ich14, sondern in der seit den Logischen Untersuchungen im Prinzip »erkenntnistheoretisch« ausgerichteten phänomenologischen Intentionalitätskonzeption. Solange »Orientierung« im intentionalen Sinne mit einer Vorstellungs- und Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung gleichgesetzt wird, bedarf es in der Tat keiner philosophischen Reflexion auf das Orientierungsphänomen. Erst wenn auch die Wahrnehmungsorientierung als eine eigenständige intentionale und damit ordnungsrelevante Orientierung begriffen wird, ergibt sich die Notwendigkeit einer Phänomeno14 »Husserl hat seine Phänomenologie nicht als Philosophie der Orientierung ausgearbeitet. Dagegen stand sein Festhalten am transzendentalphilosophischen Standpunkt, der als solcher schon für Kant keiner Orientierung bedurft hatte.« [Stegmeier 2008, S. 119] Stegmeier verweist in diesem Zusammenhang auf seinen Aufsatz Nach der Subjektivität: Selbstbezüge der Orientierung [Stegmeier 2005].

451 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

logie der Orientierung, welche sich von der erkenntnistheoretischen Fixierung der Konstitutionstheorie löst und eigens reflektiert auf das Verhältnis von Wahrnehmungs- und Erkenntnisorientierung als nunmehr selbständige Prinzipien der Organisation.

3)

Statik der vorgegebenen Ganzheit. Die objektivistische Hypo­ thek der phänomenologischen Begriffe von Welt und Raum

Erwin Straus’ Ausführungen zur Bewegungsräumlichkeit in Vom Sinn der Sinne zeigen geradezu exemplarisch, dass eine anthropologische Konkretisierung und Revision des Begriffs transzendentaler Subjektivität allein nicht ausreicht, um die methodische Gleichsetzung von Organisationsproblemen mit Konstitutionsproblemen der Vorstellung zu unterlaufen. Die anthropologisch-konkrete Fassung des Subjektes nicht nur als ein Vorstellungs-, sondern auch ein Wahrneh­ mungszentrum in einem umweltorientierten und bewegungsräumlich gestalteten In-der-Welt-sein beseitigt die Zweideutigkeit der Konstitutionstheorie durchaus nicht, den Weltbezug sowohl subjektorientiert als auch intentional und objektorientiert zu beschreiben. Die bewegungsräumliche Wahrnehmung ist in anthropologischer Betrachtung dasjenige, was der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat. Der »Aktionsraum« als ein »Spielraum« verkörpert den Lebensraum im Sinne einer jeweiligen Umwelt. Doch gerade hier öffnet sich die Tür für die konstitutionstheoretische Betrachtung: Die Anthropologie betont in definitorischer Absicht gerade nicht das Gemeinsame, sondern den Unterschied von Mensch und Tier. Die menschliche Wahrnehmung ist nicht wie die des Tieres regional, in die Grenzen einer jeweiligen Umwelt eingeschlossen, der Mensch existiert – wie Herder es paradigmatisch für die ihm folgende anthropologische Philosophie fasste – ursprünglich »weltoffen«. So wird die Umwelt und ihr Bewegungsraum bei Straus schließlich zu einer »perspektivischen Ansicht« desjenigen Vorstellungsraumes, den die Welt verkörpert. Die Subjektrelativität der umweltlichen Wahrnehmungsbewegung unterstreicht noch, dass sie eine solche der bloßen Empfindung bleibt, der es an der Fähigkeit zur intentionalen Objektivierung mangelt: Sie erfasst »das Andere« nicht, die Welt in ihrem »An-sich-Sein«.15 15

»Im Empfinden haben wir die Welt in einer perspektivischen Ansicht, haben wir sie jeweils vor uns, d. h. wir haben Umwelt, wir haben noch nicht die Welt.«

452 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Statik der vorgegebenen Ganzheit

Nicht die Umwelt – der Bewegungsraum der Empfindung – stiftet nach Straus das »Totalitätsverhältnis«, den Weltbezug. Weil die Empfindungen, welche den Bewegungsraum konstituieren nur »die einzelnen Empfindungen sind (als) Begrenzungen des Totalitätsverhältnisses«, so stellt auch der umweltliche Bewegungsraum nur einen begrenzt-begrenzenden Ausschnitt aus dem umfassenden Weltganzen dar.16 Damit erneuert sich mit Blick auf das Verhältnis von Umwelt und Welt die konstitutionstheoretische Dichotomie eines Bewegungsraumes, der von einem bewegungsvorgängigen Vorstellungsraum organisiert wird. Nicht nur, dass der Bewegungshorizont und seine Grenzziehung so schließlich methodisch undurchschaut mit einem Vorstellungshorizont gleichgesetzt wird, wenn es darum geht, mit Hilfe der Empfindungen eine Einzelvorstellung von einem im Voraus vorgestellten Ganzen zu gewinnen. Es wiederholt sich auch noch der konstitutionstheoretische Gegensatz von bloß assoziativer Verknüpfung des bewegungsdynamischen Empfindungsraumes und wahrhaft identitätsstiftender gegenständlicher Synthesis der den Weltraum erschließenden »Totalitätsbeziehung« der Vorstellung: »Eine Totalitätsbeziehung ist nicht aus Einzelvorgängen ableitbar, kann nicht als ihre Summe dargestellt werden. […] Das empfindende Individuum findet sein Totalitätsverhältnis zur Welt jeweils anders begrenzt in den einzelnen Empfindungen, das Individuum verwirklicht sein Totalitätsverhältnis zur Welt jeweils in den einzelnen Bewegungen, es schlägt von den möglichen Richtungen eine Richtung ein und gelangt immer innerhalb des Totalitätsverhältnisses an eine neue Grenze. Eines kann es nur sein und als eines nur sich im Wechsel der Erlebnisse erhalten, wenn in den Erlebnissen die eine Welt ihm in wechselnden Aspekten und wechselnden Begrenzungen erscheint.« [Straus, S. 255] Diese zwiespältige, einerseits anthropologische und feldtheoretische und andererseits doch wieder konstitutions- und gegenstandstheo(Straus, S. 207] Straus bezieht sich hier nicht auf Gehlen und Herder, sondern Max Schelers Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos. Ganz im Stile der Anthropologie betont auch Strauß die fehlende Objektivierung der umweltlichen Wahrnehmung, eines Verstehens, das sich nur auf die Empfindung gründet: »Sein verstehen [des Tieres, d. Verf.] ist ein Eingehen auf eine Weg- und Richtungsgemeinschaft oder eine Abwendung von der Weg- und Richtungsgemeinschaft. Es begreift das Andere nicht objektiv in seinem Ansich-Sein – das wäre ja eine Form des Erkennens –, soweit es die Welt erlebt, erlebt es sie überhaupt als eine sich-äußernde, eine gegen- und mitwirkende.« [Ebd., S. 201] 16 Vgl. Straus, S. 254 f.

453 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

retische Deutung der bewegungsräumlichen Wahrnehmungsorientierung bündelt geradezu die Zweideutigkeiten des phänomenologischen Weltbegriffs und seines impliziten Verständnisses von Ordnung und Organisation. Die konstitutionstheoretische Relativierung und Subjektivierung von Grundzügen einer phänomenologischen Feldtheorie und Theorie der Umwelt überlebt gleichsam die Husserlsche Konstitutionstheorie, pflanzt sich auf dem weiteren Weg der Phänomenologie fort über Heideggers lebensphilosophisch-hermeneutische Revision der phänomenologischen Methode bis hin zu Merleau-Pontys Konzeption einer leiblich situierten Weltorientierung in der Phänomenologie der Wahrnehmung. Die lebensweltliche Orientierung im phänomenologischen Sinne ist stets beides: eine im Prinzip vorintentionale bewegungsräumliche Wahrnehmungsorientierung in einem besonderen Wahrnehmungsfeld, einer jeweiligen Umwelt, die sich aber ihrerseits stützt auf eine intentionale Erkenntnisorientierung, in welcher die jeweilige Umwelt schließlich aufgehoben wird in einem geordneten Konstitutionszusammenhang, einer umfassenden Weltvorstellung. Dass für diese Zweideutigkeit des phänomenologischen Weltbegriffs der lange Schatten des erkenntnistheoretisch gefassten Intentionalitätsbegriffs aus den Logischen Untersuchungen verantwortlich ist, lässt sich immer wieder an zwei Symptomen erkennen: der Behauptung der Welt als eine (Vor-)Gegebenheit, eine der bewegungsdynamischen assoziativen Genese vorgängige statische Ordnungsvorgabe in Form einer gegenständlichen Synthese, sowie der Annahme einer homogenen Weltvorstellung durch die wenn auch nicht explizit-anschauliche, so doch implizite, signitive Erfassung von umfassenden Zusammenhängen der Bedeutsamkeit. Der umweltliche Bewegungsraum, wie ihn eine konsequent feld­ theoretische Beschreibung enthüllen kann, ist nicht homogen, sondern inhomogen. Der Bewegungshorizont setzt – diakritisch entwickelt durch die Wahrnehmungsbewegung – unüberschreitbare Grenzen, sodass dieser bewegungsdynamische Orientierungsraum stets umgeben ist vom »Rand«, einem solchen Umgebungsraum, der für die Wahrnehmungsorientierung überhaupt irrelevant bleibt. Sowohl Husserls Bestimmung des Weltbewusstseins als ein unendliches Horizont­ bewusstsein als auch Heideggers Beschreibung der Vorgegebenheit von Welt als schlechterdings umfassender Verweisungszusammenzusammenhang der Bedeutsamkeit, in den sich alle Dinge a priori einordnen, erweisen sich als konstitutionstheoretische Idealisierungen damit, dass sie diese Inhomogenität des Bewegungsraumes und ihre diakritische 454 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Statik der vorgegebenen Ganzheit

Relevanz gar nicht mehr im Blick haben, indem sie die Inhomogenität der Anschauung homogenisieren durch die Idealität der Bedeutung. Heideggers Vorstellung eines grenzenlosen Verweisungszusammenhangs der Bedeutsamkeit ist als solche völlig unanschaulich-raumlos. Entsprechend wird die Welt so charakterisiert, dass in ihr schlechterdings alles von Bedeutung ist. Die mit der Bewegungsräumlichkeit verbundene Diakrisis eines für die Wahrnehmungsorientierung relevanten Aktions- und Spielraumes, der eine Außenseite hat in Gestalt eines mitgegebenen, nur passiv wahrgenommenen Umgebungsraumes – das Wahrnehmungsfeld mit seiner intentionalen Strukturierung von bedeutungshaftem thematischem Feld und bedeutungslosem Rand, wie es schließlich Aron Gurwitsch entdeckte – taucht in einer solchen konstitutionstheore­tisch-idealisierenden, entgrenzenden Bestimmung all­umfassender Weltbedeutsamkeit deshalb gar nicht erst auf. Und dort, wo Heidegger den räumlichen Sinn der Wahrnehmungsorientierung in die Beschreibung des In-der-Welt-Seins mit einbezieht, hält er sich ganz offen an das konstitutionstheoretische Modell der Einschachtelung von Räumen, der Implikation von Bedeutungsumfängen eines vorgegebenen gegenständlichen Ganzen. Auch hier wird mit Husserl ein in die Unendlichkeit hinauszuschiebender Vorstellungs­ horizont vorausgesetzt, in dem die Grenzen des Bewegungsraumes der Wahrnehmung unaufhörlich entgrenzt werden. Die phänomenologisch antikonstruktivistische Haltung, stets auf ein »Gegebenes« Bezug zu nehmen und die daraus resultierende methodische Trennung von assoziativer und intentionaler Synthese führt bei Husserl und Heidegger dazu, dass sich von der Umwelt und ihrer Feldstruktur in der Konstitutionsbestimmung der Welt schließlich nichts mehr wiederfindet: Was von der umweltlich orientierten Wahrnehmungsbewegung in die Konstitution der Weltordnung eingeht, ist lediglich eine Vorstellungskomponente, eine »Sonderwelt« (Husserl) oder ein »Weltstück« (Heidegger), welches sich in das Universum, welches sich als eine Totalität der Bedeutsamkeit gegenständlich konstituiert, bruchlos einordnet. Merleau-Pontys Theorie der Leiblichkeit scheint dahingegen die feldtheoretische Betrachtung zu emanzipieren. Weil die leibliche Orientierung immer Zentren setzt und den alleinigen Zugang zur Welt bietet, gehören die um ein Bedeutungszentrum herum sich kristallisierenden Umwelten mit zur Wahrnehmung des Weltraumes. Da aber auch Merleau-Ponty mit den Logischen Unter­ suchungen die intentionale Objektivierung als eine Vorstellungsaktivität versteht, werden diese Umwelten zu bloß okkasionellen Milieus, 455 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

welche sich in den intentional organisierten Naturraum als Grundlage der welträumlichen Orientierung nicht einordnen lassen. Sie bleiben somit methodische Fremdkörper in einer nach wie vor konstitutionstheoretischen Bestimmung auch der leiblichen Wahrnehmung.

4)

Transzendentale und motorische Orientierung, Welt und Umwelt: Die Leibräumlichkeit bei Merleau-Ponty

Für ein »inkarniertes« und nicht bloß vorstellendes Subjekt kann es letztlich keine Wahrnehmung des Raumes geben ohne die durch den Leib vermittelte Orientierung. Für Merleau-Ponty sind deshalb »Sein und Orientiertsein nicht voneinander trennbar«; »jedes erdenkliche Sein«, das sich »direkt oder indirekt auf die Wahrnehmungswelt zurückbezieht«, ist »zu erfassen (nur) […] durch ihre Orientierung« [Merleau-Ponty 1966, S. 296]. Husserls konstitutionstheoretisches Auslegungsschema, wonach sich der Orientierungsraum der Kinästhe­ sen als eine lediglich »subjektive« Wahrnehmungsperspektive vom »objektiven«, geordneten Raum der Konstitution absondert, wird damit aber keineswegs einfach aufgelöst. Merleau-Ponty modifiziert die konstitutionstheoretische Anlage lediglich dahingehend, eine transzendentale, apriorische Raumordnung anzunehmen, die durch das angeborene Körperschema orientiert wird im Unterschied zur bewegungsmotorischen Raumorientierung, die wir a posteriori durch die Erfahrung erwerben. Der Raum der Konstitution ist ein die Wahrnehmungswelt im ganzen umspannender Ordnungsraum, der den Empfindungen eine unverrückbar feste Stelle gibt, indem er sie in einem vorgegebenen Ordnungsrahmen – einem im vorhinein feststehenden funktionalen System von räumlichen Bezügen – lokalisiert. Wenn Husserl dieses System der Raumkonstitution als einen Gegenstand der Erkenntnis betrachtet vor und außerhalb jeder richtungsorientierten Raum­ erfahrung, dann liegt das im Sinne Merleau-Pontys an der fehlenden Berücksichtigung der leiblichen Fundierung der Raumkonstitution überhaupt: Die Lokalisation gründet letztlich im Körperschema, das »absolute Richtungen« [Merleau-Ponty 1966, S. 294] bereits in der Raum­ordnung festlegt wie etwa die Ausrichtung der Wahrnehmung nach dem »Oben« und dem »Unten« [vgl. ebd., S. 285 ff]. Das wirk­ liche, leibliche Subjekt unterscheidet sich von einem abstrakten, leiblosen Subjekt des bloßen Vorstellens und Denkens letztlich dadurch, dass 456 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Transzendentale und motorische Orientierung, Welt und Umwelt

es außerstande ist, die Ordnung des Raumes unabhängig von jeglicher Orientierung durch ein fungierendes Körperschema und seine »absolute Richtung« des »Oben« und »Unten« zu erfassen: »Für ein bloß denkendes Subjekt ist ein ›richtig herum‹ gesehenes Gesicht ununterscheidbar von demselben Gesicht, ›verkehrt herum‹ gesehen.« [Ebd.] Für die »Genesis unserer Raumwahrnehmung« [Merleau-Ponty 1966, S. 285] in der ursprünglich leiblich vermittelten Konstitution gilt jedoch auch bei Merleau-Ponty, dass sie keineswegs durch eine be­ wegungsdynamische, assoziative Synthese, eine durch die Erfahrung aller­erst erworbenen Leistung geschieht, vielmehr eine transzendentale, apriorische Bedingung der Möglichkeit darstellt. Das bezeugt letzt­lich die Vorgegebenheit der Wahrnehmungswelt und ihres geordneten Raumes, in die sich alle einzelnen räumlichen Wahrnehmungen notwendig immer schon eingefügt haben: »Es ist dem Raum wesentlich, ›je schon konstituiert‹ zu sein, und nie vermöchten wir ihn zu verstehen, zögen wir uns in eine Wahrnehmung ohne Welt zurück.«17 In der subjektiven Leiberfahrung befinden sich letztlich zwei Quellen für die Raumorientierung, die unser Verständnis der Wahrnehmungswelt leiten: einmal die empirisch-variable, affektiv-motorische Leib­ erfahrung, die durch die Art ihrer Bewegung im Raum Orientierung schafft und zur selektiven Ausbildung eines anthropologischen Lebensraumes, einer jeweiligen Umwelt führt. Zum anderen gibt es die umgreifende und umfassende Weltorientierung und ihre empirisch voraussetzungslose systematische Ordnung, die wiederum in den apriorisch-invarianten Konstitutionsverhältnissen des Körperschemas gründet. Vom Leib kann nach Merleau-Ponty in einem zweifachen Sinne gesprochen werden: Es gibt einmal »den augenblicklichen Leib, der das Werkzeug meiner persönlichen Wahl ist und auf diese oder jene Welt sich fixiert« [Merleau-Ponty 1966, S. 296]. Seine Art der Raum­ 17

Unüberhörbar klingt hier Heideggers Sein und Zeit an mit der faktischen Voraussetzung eines unhintergehbaren »In-der-Welt-seins«, der gemäß es phänomenologisch widersinnig erscheinen muss, hinter das Faktum der Welt­ erfahrung zurückzugehen, was einer Deduktion von Weltlichkeit aus der Welt­losigkeit eines gleichsam außerhalb der Welt hockenden Subjektes gleichkäme. Anders als Sein und Zeit verfolgt Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung jedoch einen genetisch-konstitutionstheoretischen Ansatz, der nicht nur nach den Formen des Seins und Seinsverständnisses fragt, um sie existenzial zu kategorisieren, sondern die subjektiven Entstehungsbedingungen solcher Sinngebungen und ihres Leibverständnisses ergründen will, die sich in der Leibkonstitution verbergen.

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

orientierung entspricht im Prinzip dem, was Husserls Analysen der kinästhetischen Raumerfahrung zutage gefördert haben: Wechselnde Orientierungen – hier freilich bezogen nicht bloß auf bestimmte Ge­ genstände, sondern verschiedene Umwelten – durch fluktuierende wahrnehmungsmäßige Zuwendungen infolge der durch die leibliche Subjektivität und ihre Freiheit inszenierten Bewegung im Raum. Mit einer solchen motorischen, umweltlichen Raumorientierung hat die durch das Körperschema geordnete Raumkonstitution jedoch nichts gemein, denn sie bezieht sich gar nicht auf diesen »augenblicklichen« Leib, der sich verschiedene Umwelten durch die motorische Orientierung und ihre bestimmende Ausrichtung allererst bildet, sondern ein »ganz anderes Subjekt, für das eine Welt schon existiert, ehe ich da bin, und das in ihr meinen Platz schon markiert hat« [ebd.]. Im Unterschied zur umweltlichen Orientierung des augenblicklichen Leibes wird die weltliche Raumorientierung »schlagartig« erworben »ohne jede motorische Erkundung« [ebd., S. 290] in der für die Konstitution typischen Form der Genesis, der reproduktiven Aktualisierung einer habituellen Ordnungsdisposition. Merleau-Ponty bedient sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich der Dichotomie »angeboren«–­»erworben«. Wenn wir von allen im Verlaufe der Lebensgeschichte erworbenen Räumlichkeiten absehen und entwicklungsgeschichtlich auf die hypo­ thetisch »erste Wahrnehmung« zurückgehen, dann vermag auch sie »räumlich zu sein durch den Bezug auf eine ihr schon vorgängige Orientierung« [ebd., S. 296]. Diese im Unterschied zur umweltlichen Orientierung nicht empirisch angeeignete, sondern durch die Aktualisierung einer transzendentalen Disposition gewonnene Raumorientierung bringen wir von Geburt an immer schon mit: »Der Raum wie die Wahrnehmung überhaupt markieren im Innersten des Subjekts das Faktum seiner Geburt, den beständigen Beitrag seiner Leiblichkeit, einer Kommunikation mit der Welt, die älter ist als alles Denken.« [Ebd.] Die motorisch-umweltliche Orientierung wird in dieses transzendental-konstitutionstheoretische Auslegungsschema schließlich einge­ ordnet durch das Modell eines vorgängigen Entwurfs im Verhältnis zu seinen Realisierungen in wechselnden Modi der Vorstellung: Für die »Umwelten« gilt, dass sie letztlich als Teilerscheinungen in einem umfassenden Weltganzen aufgehoben sind, der vorgegebenen Welt als »das System der anonymen »Funktionen«, in dem jede Sonderfixierung schon eingefaßt ist in einem allgemeinen Entwurf« [ebd.]. Hier verschränken sich die theoretischen Vorgaben von Husserls Konstitutionstheorie mit denen aus Heideggers Sein und Zeit. Die Konsti458 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Transzendentale und motorische Orientierung, Welt und Umwelt

tution im phänomenologischen Sinne meint die vorstellungsmäßige Realisierung von einem gegenständlichen Etwas, das jeder möglichen Wahrnehmung zuvor in seiner bloßen Bedeutung erfasst wurde. Bei Merleau-Ponty entspricht dem der vorgängig immer schon gegebene »Welt«-Raum in seiner reinen Bedeutungsfunktion, die er hier »anonyme Funktion« nennt, deren Wahrnehmungsunabhängigkeit er mit Heidegger begreift als hervorgehend aus einem »allgemeinen Entwurf«, der durch besondernde Wahrnehmungsvollzüge in Gestalt von wechselnden umweltlichen Orientierungen dann jeweils verschieden »konstituiert«, d. h. konkret verwirklicht bzw. ausgelegt wird. Der umweltliche Lebensraum entspringt bei Merleau-Ponty einer Form des leiblichen Ausdrucks, hermeneutisch verstanden als der einer selektiven, bestimmenden Auslegung des zuvor durch den allgemeinen Entwurf des Körperschemas immer schon vorverstandenen objektiven Vorstellungsraumes und der in ihm aufgehobenen geordneten Welterfahrung als dem Wirklichkeitsfundament der Wahrnehmung. Die Bildung des Lebensraumes ist von daher in der Ordnung der Konstitution niemals primär und ursprünglich, vielmehr abgeleitet und sekundär: »Die Frage nach der Bestimmung räumlicher Verhältnisse und von Gegenständen mit ihren Eigenschaften ist eine sekundäre; sie nimmt einen Akt als originär, der erst auf dem Untergrunde einer schon vertrauten Welt aufzutreten vermag« [Merleau-Ponty 1966, S. 327]. Diese Fundierung und Ableitung führt zunächst zur Einordnung des Lebensraumes in den umfassenden Weltraum der Vorstellung durch das Konstitutionsverhältnis von Teil und Ganzem. Das zeigt Merleau-Pontys Beispiel »Paris«: Von der Stadt mit all ihren schier unerschöpflichen Perspektiven und Facetten machen wir uns ein individuelles Bild durch unsere Rundreise, unsere ganz persönliche Raumorientierung, die einen »bestimmten Stil« [ebd.] prägt – also einen Typos in Form des individuellen Allgemeinen (Simmel18) – im Sinne einer subjektiven, ausschnitthaften Wahrnehmung des umfassenden, großen Ganzen: Jede »im Laufe meiner Durchquerung der Stadt gemachte ausdrückliche Wahrnehmung – die Cafés, die Gesichter der Leute, der Pappeln der Quais, die Windungen der Seine – nur herausgeschnitten aus dem ganzen Sein von Paris« bestätigt letztlich »nur einen bestimmten Stil, einen bestimmten Sinn dieser Stadt« [ebd.]. Mit den Kategorien »Sinn« und »Stil« wird über die Einordnung in den umfassenden Konstitutionszusammenhang hinaus die Eigen18

Vgl. dazu Simmel 1996, S. 28 f.

459 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

ständigkeit der Bildung von Umwelten betont. Die subjektive Wahrnehmung selektiert nicht nur vorgegebene Ordnungsverhältnisse, sie erweist sich darüber hinaus als strukturbildend durch die Affektion. Zu einem Lebensraum wie etwa dem mythischen Raum gehören die »großen affektiven Mittelpunkte« [ebd., S. 331]. Es bildet sich also eine Struktur von Zentrum und Peripherie aus, die Bildung eines Mittelpunktes der Welt, an dem wir uns zuhause fühlen. Dieses Setzen von affektiven Mittelpunkten zeichnet die Umwelt aus als Korrelat eines an seinem Leben interessierten Subjektes. »Unser Leib und unsere Wahrnehmung fordern beständig uns auf, die Umgebung, die sie uns bieten, als Mittelpunkt der Welt zu bieten.« [Ebd., S. 332] Doch bildet nicht der Leib, so wie er in der Welt gerade lokalisiert ist, den Mittelpunkt. Wo ich mich mit meinem Leib gerade befinde, kann eine mir völlig fremde Umgebung sein. Die Eigenständigkeit des Lebensraumes und seiner Bildung von Umwelten kommt gerade darin zum Ausdruck, dass die Mittelpunkte nicht durch die geordnete Konstitution des Weltraumes, die Lokalisiation, sondern – wie in Merleau-Pontys Beispiel des »dezentrierten Lebens« [ebd.] – die affektive Besetzung von Räumen entstehen. Gerade dort, wo ich im Moment nicht lebe und leben kann, fühle ich mich eigentlich zuhause. Umweltliche Lebensräume als der Ausdruck eines bestimmten Lebensstils bedeuten demnach durchaus mehr als bloße »Teil«Räume des geordneten Weltraumes, also Teilvorstellungen, perspektivisch verkürzte »Bilder« einer umfassenden Totalvorstellung des Raumes. Sie erweisen sich – gebildet durch das Lebensinteresse und seine Affek­tivität – als eigenständige Strukturbildungen. Doch reicht diese Ergänzung der konstitutionstheoretischen Betrachtung letztlich doch nicht aus, um ihre leitende Prämisse infrage zu stellen: Der dem menschlich-leiblichen Leben all-gemeinsame Raum wird geordnet und organisiert nicht durch die subjektive, umweltliche Orientierung, sondern eine sie transzendierende Erkenntnis der objektiven Raumordnung. Merleau-Ponty betrachtet den Lebensraum mit einer fast schon argwöhnischen Skepsis, die von Husserls Logischen Untersuchungen und ihrer radikalen Kritik des erkenntnistheoretischen Subjektivismus und Psychologismus her motiviert ist, dem Versuch des Phänomenologen, auf letzte unerschütterliche »Gegebenheiten« zurückzugehen. So geht es um die theoretische Versicherung, dass unsere Wahrnehmung des Raumes nicht bloß subjektiv oder fiktional bleibt, sondern ein Moment von Wirklichkeitserfahrung notwendig behält. Dieses Fundament findet Merleau-Ponty in der allgemeingültigen Ordnung 460 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Transzendentale und motorische Orientierung, Welt und Umwelt

des objektiven »Natur«-raumes als der Grundlage aller subjektiven, »anthropologischen« Räume. Auch an dieser zentralen Stelle verbindet Merleau-Pontys Phäno­ menologie der Wahrnehmung Husserls Konstitutionstheorie mit dem existential-hermeneutischen Ansatz von Heideggers Sein und Zeit. Fundierung im konstitutionstheoretischen Sinne besagt, dass zwar nicht jedes Erlebnis objektivierend ist, aber notwendig auf einen zugrunde liegenden objektivierenden Akt aufbaut: »Die anthropologischen Räume bieten sich selbst als aufgebaut auf den Naturraum dar, die ›nichtobjektivierenden Akte‹, mit Husserl zu reden, als aufgebaut auf die ›objektivierenden Akte‹.« [Merleau-Ponty 1966, S. 341] Nun ist andererseits dieser Naturraum immer Moment des Lebensraumes, wie es einem nicht nur theoretisch-uninteressierten, sondern an seinem Leben und seiner Existenz wirklich interessierten Subjekt entspricht. Deshalb interpretiert Merleau-Ponty das, was bei Husserl zwei voneinander unabhängige Schichten der Konstitution darstellen, mit Heideggers hermeneutischem Schema von Verstehen und Auslegung19 als eine untrennbare Einheit. Das zeigt sich besonders in der Interpretation pathologischer Fälle wie etwa der Schizophrenie. Der Solipsismus-Einwand gegen die phänomenologische Betrachtung des Raumes als Lebensraum [Merleau-Ponty 1966, S. 339 ff] wird dadurch abgewiesen, dass die alltägliche Raumerfahrung auf der Einheit von objektivem Naturraum und subjektivem Lebensraum im Sinne der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von allgemeinem Verstehen und besonderer Auslegung beruht. Der subjektive Lebensraum gibt sich im Normalfall stets als ausbildende Interpretation20 des bereits vorverstandenen objektiven Naturraumes zu erkennen. Indem das subjektive Erlebnis den objektiven Vorstellungsraum interpretierend auslegt und von dieser Auslegung auch ausdrücklich weiß, gibt es seiner Erfahrung das Wirklichkeitsfundament, lebt – phänomenologisch gesprochen – im 19

20

Vgl. dazu Heidegger 1979, § 32, S. 148 ff. Für Merleau-Pontys Bestimmung des anthropologischen Raumes als Auslegung des immer schon in einem »allgemeinen Entwurf« vorverstandenen Naturraumes wegweisend ist etwa Heideggers Charakterisierung der Umsicht als ein entdeckendes, auslegendes Verstehen des vorverstandenen Weltganzen: »Die Umsicht entdeckt, das bedeutet, die schon verstandene Welt wird ausgelegt [Herv. d. Verf.].« [Ebd., § 32, S. 148] »Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung.« [Heidegger 1979, S. 148]

461 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

undurchstreichbaren Welt- bzw. Seinsglauben. Dazu ist es allerdings erforderlich, diesen objektiven Weltraum jeder umweltlichen Orientierung vorgängig erst einmal zu erkennen: »Nie gehe ich gänzlich in den anthropologischen Räumen auf, stets bleibe ich wurzelhaft einem natürlichen und unmenschlichen Raum verhaftet.« [Ebd., S. 340 f] »Sie (die Einheit der Erfahrung) ist nur angezeigt durch die Horizonte möglicher Objektivierung, sie stellt mich frei von jeder besonderen Um­ welt [Herv. d. Verf.], sofern sie mich bindet an eine sie alle umfassende Welt der Natur oder des An-sich.« [Ebd., S. 341] Dieser objektive, »primordiale Naturraum« [Merleau-Ponty 1966, S. 339], den Merleau-Ponty auch den »klaren« und »ehrlichen« Raum nennt [ebd., S. 333], ist nun nicht etwa »allein umgeben, sondern durch und durch durchdrungen von einer anderen Räumlichkeit« [ebd.] – d. h. dem anderen Raum in Gestalt des subjektiven Lebensraumes mit seiner affektiv nach Mittelpunkten und ihrer peripheren Umgebung strukturierten umweltlichen Orientierung. Während im Falle des normalen Wahrnehmungsbewusstseins dieser Lebensraum untrennbar mit dem Naturraum verbunden ist, insofern das subjektive Raumerleben das objektive Verstehen auslegend interpretiert, löst sich in der fiktionalen Raumerfahrung des Schizophrenen diese Einheit von subjektiver und objektiver Wahrnehmung auf: Es existieren nun Subjekt und Objekt als zwei voneinander völlig getrennte Räume; der Lebensraum erweist sich als außerstande, den Naturraum zu interpretieren und die subjektive Raumerfahrung verliert so überhaupt jegliches Wirklichkeitsfundament: Die »Störung beim Schizophrenen besteht nur darin, dass dieser beständige Entwurf sich ihm ablöst von der objektiven Welt, wie die Wahrnehmung sie ihm noch darbietet, und ihn gleichsam sich in sich selbst zurückzieht. Der Schizophrene lebt nicht mehr in der gemeinsamen Welt, er gelangt nicht mehr zu einem geographischen Raum« [ebd., S. 334]. Zwar betont Merleau-Ponty, dass der »primordiale Naturraum« nicht zu verwechseln ist mit dem geometrischen Raum der Physik [vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 341], doch bleibt ein solcher Denkansatz letztlich cartesianisch darin, das subjektive Raumerlebnis von der objektiven Raumkonstitution zu trennen. Der »primordiale Naturraum« verkörpert den Raum als reinen Ordnungszusammenhang der Konstitution, der sich als »objektives« Wirklichkeitsfundament von der in den Wirkungszusammenhang der Affektion eingebundenen umweltlichen Raumorientierung vollständig absondert: eine res extensa außerhalb jeglichen »subjektiven« Lebensvollzugs. Dem Naturraum entspricht 462 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung

ein freilich von der Orientierung durch das Körperschema notwendig mit geprägtes Koordinatensystem – aber frei von aller Affektivität und der mit ihr verbundenen Auszeichnung von (lebens)-bedeutsamen Wahrnehmungszentren. Im »klaren« und »ehrlichen« Naturraum haben »alle Gegenstände gleiche Bedeutung und gleiches Daseinsrecht« [ebd., S. 333]; er ist damit hermeneutisch gesprochen ein gänzlich be­ deutungsfreier Raum. Unser umweltlich orientiertes Raum­erleben mit all seiner wechselnden Lebensbedeutsamkeit fußt nach Merleau-Ponty notwendig »auf einem Bewußtsein des objektiven und einzigen Raumes« [ebd., S. 335]. Diesem objektiven Raum ist wesentlich, »das absolute ›Außen‹ zu sein, Korrelat, aber auch Negation der Subjektivität [Herv. d. Verf.], und ferner wesentlich, alles nur irgend vorstellbare Sein zu umfassen« [ebd.]. Die Umwelt als das bewegungsräumliche, affektiv zentrierte Wahrnehmungsfeld – auch bei Merleau-Ponty bleibt sie ein nur subjektives Phänomen, ein okkasionelles Wahrnehmungsmilieu, welches statt ursprünglich weltbildend zu sein die Weltvorgabe durch eine Vorstellungsaktivität der Konstitution zur Voraussetzung hat.

5)

Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung: Heideggers lebensphilosophische Revision der Phänomenologie

Heideggers wiederholt vorgetragene Grundlegungen einer Phänomenologie des »faktischen Lebens« aus den Jahren 1919 bis 192221 ergreifen nicht einfach Partei für eine Philosophie des Lebens, sondern sind bemüht um eine klärende Standortbestimmung der Phänomenologie zwischen Neukantianismus auf der einen und Lebens- bzw. Existenzphilosophie auf der anderen Seite. Der Rückgang auf das Leben, so wie es unmittelbar gelebt und erlebt wird, führt zwar einerseits zur De­struk­ tion philosophischer Begriffskonstruktionen, die sich gewissermaßen usurpatorisch an die Stelle des originären Lebenszusammenhangs setzen. Davon zeugt Heideggers Schlagwort von der »Brandfackel«, die »in alle sachlich-systematische Philosophie zu werfen« sei [Heidegger, GA 59, S. 174], seine existenz- und lebensphilosophisch motivierte Polemik gegen »entlebendes« philosophisches Systemdenken, das es fertig bringe, »Totes als lebendig auszugeben oder logisch dialektische 21

Zu Heideggers Grundlegung einer lebensphilosophisch-hermeneutischer Phä­ no­menologie in dieser Zeit vgl. Kisiel 1986/87 und Kisiel 1992.

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Beziehungen als Aktualität des Lebens vorzutäuschen« [ebd., S. 143]22. Damit wird aber keineswegs bestritten, dass die intentionale Erkenntnisorientierung und ihre objektivierende Leistung zum Lebensvollzug ursprünglich mit gehört. Heidegger entwirft in diesem Kontext eine Lebenswelttheorie der Erkenntnis. Gegenüber einer konstruktiven Konstitutionstheorie, wie ihn vor allem der Neukantianismus vertritt, will sie betonen, dass der Zusammenhang von Erkenntnis und Leben nicht zerrissen wird durch den Anspruch einer systematisch-vollständigen Rekonstruktion des Lebenszusammenhangs aus Begriffen. Der Wahrnehmungsorientierung kommt in der lebensweltlich fundierten Erkenntnisgewinnung die entscheidende Vermittlungsfunktion zu zwischen dem Leben und seinen möglichen Objektivierungen durch die Erkenntnis. Orientierungen gehören einerseits zum Leben, insofern in ihnen eine aktuelle und habituelle Lebenseinstellung zum Ausdruck kommt. Andererseits enthalten sie den Sinn der intentional-objektivierenden, erkennenden Ausrichtung auf einen bestimmten, aus dem umfassenden Lebenszusammenhang ausgegrenzten Lebensbereich, einer besonderen Umwelt und der ihr zugehörigen Sach- und Gegenstandsgebiete. Die theoretisch-wissenschaftliche Einstellung, die Heidegger kritisiert, besteht im Prinzip darin, die Erkenntnisorientierung aus ihrer Verankerung in einer immer auch wahrnehmungsorientierten Lebenseinstellung herauszureißen, sodass sie letztlich ihre Lebensbedeutsamkeit verlieren muss. Dieses Auseinanderbrechen des an sich einheitlichen Lebens-Orientierungsphänomens wird deshalb auch charakterisiert durch die Absonderung des Bezugs- vom Vollzugssinn der Orientierung, wodurch die Erkenntnis ihre im Leben verankerte Selbst- und Weltbezüglichkeit einbüßt.23 Die lebensweltliche Erkenntnisorientierung ordnet den Lebenszusammenhang durch ihre Fähigkeit, den Bezug zur Umwelt24 in besonderer Weise zu artikulieren, indem sie das enthüllend expliziert, was an Fülle des Sinnes im Zusammenhang des Lebens unabgehoben 22

23 24

»Das System bringt es fertig, das Tote lebendig zu machen, nicht für Lebendige, aber für Tote, die den Selbstmord der Existenz gewagt haben, um dafür das Leben des Denkens zu gewinnen.« [Heidegger, GA 59, Beilage 11 zu § 15, S. 195] So Heideggers systematischer Ansatz in der Vorlesung vom Sommersemester 1920 [Heidegger, GA 59, S. 60 ff]. Heidegger gebraucht in den frühen Vorlesungen Welt, Lebenswelt und Umwelt entweder mehr oder weniger synonym, oder aber differenzierter »Umwelt« als ergänzende Bestimmung gegenüber »Selbstwelt« und »Mitwelt« [vgl. Heidegger, GA 58, S. 33].

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5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung

immer schon da ist. Sie erfüllt damit den formalen Sinn der phänomenologischen Konstitution, d. h. den der systematisch-geordneten Gegenstandsbestimmung. Im Unterschied zu Husserls Verständnis von Konstitution sieht Heideggers lebensphilosophischer Blick die bestimmende und ordnende konstituierende Sinngebung allerdings nicht als die Grundlage dafür an, dass sich ein Zusammenhang, ein Kontinuum von Erlebnissen ursprünglich ausbildet. Die Stiftung des Lebenszusammenhangs geht vielmehr der Konstitution als einer immer nur nachträglichen Form der Objektivierung stets voraus, sodass sich die konstituierende Leistung auf den notwendig begrenzten »Ausdruck« einer ganz besonderen Lebensorientierung reduziert, die selek­ tive Arti­kulation eines nicht greifbaren Ganzen des Lebensvollzugs in seinen bedeutsamen Teilaspekten. Heideggers lebensphilosophischer Ausgangspunkt stützt sich so zunächst auf eine intuitive Erfassung des Lebensvollzugs, der die Form der Objektivierung und Selbstobjektivierung als solcher ursprünglich abgeht25: »Wir versuchen zu verstehen: wie Leben sich selbst erfährt, wie lebendige Erfahrung vom Leben vollzugsmäßig charakterisiert ist und zwar in der Gestalt, in der Leben sich nicht etwa als Objekt erkennt und terminiert in seiner Erkenntnishabe, sondern – um theoretische Objektivierung unbekümmert – sich lebendig nimmt, hat und in diesem Haben sich erfüllt.« [Heidegger, GA 58, S. 156] In diesem Sinne betont Heidegger folgerichtig die Unmittelbarkeit und Distanzlosigkeit des Lebens in seinem Verhältnis zu sich selbst – Heidegger spricht vom Leben als einem »zu dem wir so gar keine Distanz haben […] und die Distanz zu ihm fehlt, weil wir es selbst sind«, dem »Fehlen der absoluten Distanz des Lebens an sich und zu sich selbst« [ebd., S. 29] –, gründend wiederum in der absoluten Situationsgebundenheit des Lebensvollzugs: »Ich schwimme im Strom mit und lasse schlagen die Wasser und Wellen hinter mir. Ich schaue nicht zurück, und im nächsten lebend lebe ich nicht im eben gelebten Begegnis oder weiß 25

Heidegger insistiert mit Bergson auf der Unabgeschlossenheit des ursprünglichen Lebensvollzugs aufgrund der fehlenden Selbstobjektivierung der Erleb­ nisse durch Akte der reproduzierenden Erinnerung: Keine »Rück­wendung auf eben abgeschlossene Erlebnisse« [Heidegger, GA 58, S. 159] und »keine Rück­beziehung des Ich auf sich selbst« [ebd.]. »Je ungebrochener, reflexionsunbekümmerter, je ausgegossener jede Momentphase des faktischen Lebens gelebt wird, um so lebendiger ist der ablaufende Erfahrungs­zusammenhang. […] Phänomenal liegt im faktischen Erfahren eine von Mo­men­tan­phase zu Momentanphase fortschreitende, rückschauunbetroffene Zusammen­hangs­ bildung [Herv. d. Verf.]« [ebd., S. 117].

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

um es als eben gelebtem. Ich gehe auf in der jeweiligen Situation und in der ungebrochenen Situationsfolge und zwar in dem, was mir in den Situationen begegnet.« [Ebd., S. 117] Zum Fluss des Lebens und seiner vollzugshaften Distanzlosigkeit gehört jedoch immer auch, dass sich dieser Vollzug in einer lebensweltlichen Umwelt in wechselnden Wahrnehmungsorientierungen bewegt, sich jeweils »in seinen eigenen Richtungen« sieht [ebd., S. 29]. Und mit dieser zur »Lebenssympathie«, zur lebensweltlichen Orientierung gehörenden Vielfalt und Bewegtheit der wahrnehmungsmäßigen Orientierung ist notwendig eine Erkenntnisfunktion und damit zumindest abgeleitete Form der Objektivierung des ursprünglichen Lebensvollzugs verbunden, die Heidegger in seiner frühen Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie von 1919/20 [Heidegger, GA 58] als Form der noch vorwissenschaftlichen, lebensweltlichen »Kenntnisnahme« charakterisiert. Die Bestimmung des Daseins – des »faktischen Lebens« – von seiner lebensweltlichen Orientierung her führt bei Heidegger dazu, die Intentionalität als Ausdruck einer Lebensrichtung und damit als untrennbar verknüpft mit einer Wahrnehmungsorientierung zu deuten. Anders als bei Husserl wird die Wahrnehmungsorientierung so nicht mehr als eine zur gegebenen Gegenstandsbeziehung hinzukommende vorstellungsmäßige Realisierung verstanden, eine Form der perspektivischen, darstellenden Konstitution, welche den Gegenstand von einer bestimmten Seite aus betrachtet. Die intentionale Gerichtetheit als solche ist von der Wahrnehmungsorientierung notwendig mit bestimmt. Zur »Erfüllungsform« des Lebens gehört nach Heidegger »ihre intentionale Struktur Grundgerichtetheit« [Heidegger, GA 58, S. 31], ein »Variationsreichtum des Richtungsstils« [ebd., S. 38], in dem die Bewegtheit des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt in ihrem fortwährenden Orientierungswechsel in der Beschäftigung mit verschieden­ sten »Sachen«. Heidegger gibt dafür die alltäglichen Beispiele: gerade die Vorlesung hören, ins Konzert gehen, Bilder anschauen, Gedichte lesen, Sport treiben, politisch tätig werden und Wählen gehen [ebd., S. 32]. Der Wechsel der Orientierung bedeutet einerseits einen verschiedenen Sachbezug: »›ich halte‹ mich immer ›irgendwo‹ ›auf‹. Ich habe einen bestimmten, wenn auch variablen, sich inhaltlich bald weitenden, bald sich verengenden Umkreis von ›Sachen‹, die mein Leben zu einer bestimmten Zeit so in Anspruch nehmen, zu anderen Zeiten anders, die ›in‹ der Richtung meines Lebens liegen (wirklich ›drin‹ sind)« [ebd.]. In dem Orientierungswechsel in Bezug auf verschiedene Sachen, mit denen man beschäftigt ist, kommt jedoch andererseits im466 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung

mer auch die existentielle Situativität des Lebensvollzugs und die sich darin bekundende lebensweltliche Orientierung überhaupt zum Ausdruck. Diese Situativität kann von einer momentanen Befindlichkeit bestimmt sein wie dem Zusammenhang von Müdigkeit und Belebung des Gemüts beim Konzertbesuch26 oder auch einer individuellen oder kollektiven Habitualität (Beruf und Brauch) als Ausdruck einer stabilen Lebensverfassung.27 Die notwendige Zusammengehörigkeit von intentionalem Sachbezug und lebensweltlicher, wahrnehmungsmäßiger Orientierung hat Heidegger an anderer Stelle als die Einheit von Bezugs- und Vollzugs­ sinn gefasst. Der Bezugsinn enthält das, was Husserls Verständnis von Intentionalität abdeckt, den Sachbezug und seine Ausrichtung auf den Bedeutungsgehalt des Erlebnisses, so wie er im Meinen und Vermeinen gegeben ist.28 Die theoretische Einstellung sieht nur diesen Sachbezug und isoliert damit den Bezugssinn vom Vollzugssinn.29 Es kommt aber darauf an, die Bezugnahme auf die Sache nicht losgelöst von der wechselhaften, sich immer wieder erneuernden Wahrnehmungsorien­ tierung zu betrachten, die ursprünglich im »selbstweltlich« immer mitgerichteten Vollzugssinn zum Ausdruck kommt.30

26 27

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30

»Ich setze mich zu Tisch; spüre Müdigkeit, brauche etwas, das mich aufkratzt; gehe ins Konzert, höre Bach« [Heidegger, GA 58, S. 32]. »Ich wachse in einen Beruf hinein, es kommt eine gewisse Stabilität ins Leben – auch nur ein bestimmter Typus von Tendenz. Mein Verkehr mit anderen Menschen erfährt eine bestimmte Selektion, durch Brauch und andere Ten­den­ zen bestimmt« [Heidegger, GA 58, S. 32]. Es gibt einerseits »die Weisen des Zugangs zu dem, was und wie es in den ge­nannten Bedeutungen Gemeintes ist. Diese Zugangsbeziehung nennen wir Bezug. Die Beziehung ist etwas Sinnmäßiges, Sinnhaftes, wir sprechen deshalb von Bezugssinn« [Heidegger, GA 59, S. 60]. »Die Betrachtung selbst zeigt sofort, daß die Isolierung des Bezugssinnes […] objektiv zeitlich betrachtet, sich als eine abgesetzte, isolierende und stückhafte ausnimmt.« [Heidegger, GA 59, S. 60] Insofern ist auch die antipsychologistische Bestimmung der Intentionalität nur als Sach- und Gegenstandsbezug einseitig und führt zur Ausblendung der Einheit von Intentionalität und lebensweltlicher, wahrnehmungsmäßiger Orientierung: »Man sieht nicht, daß hier der Vollzug bereits ausgeschaltet ist mit der formalen Betrachtung; alles andere ist Psychologismus und führt aus der Philosophie heraus in empirische Tatsachenfeststellung. Man hat mit der Bekämpfung des Anthropologischen auch alle Existenzprobleme, obwohl sie etwas wesenhaft anderes sind, von neuem aus der Philosophie verdrängt.« [Ebd., S. 63] »Ursprünglich ist ein Vollzug, wenn er seinem Sinne nach als Vollzug eines genuin selbstweltlich zum mindesten mitgerichteten Bezugs immer aktuelle

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Die Gleichursprünglichkeit des intentionalen Sachbezugs mit einer lebensweltlichen Wahrnehmungsorientierung, die keine bloß nachträglich veranschaulichende Vorstellung einer gegebenen Gegenstandsbeziehung darstellt, bedeutet allerdings nicht, dass der wechselnden Wahrnehmungsorientierung eine Ordnungs- und Organisationsfunktion zugeschrieben würde. Der Bezugssinn, welcher für die intentionale Ausrichtung und zugleich Sinngebung der Wahrnehmung verantwortlich ist, wird von Heidegger im Sinne der Logischen Unter­ suchungen Husserls als eine vorstellungsintentionale Bezugnahme gedacht. Somit resultiert aus dem Vollzugssinn lediglich ein Richtungswechsel durch die unterschiedlichen Wahrnehmungsorientierungen und keine originär wahrnehmungsintentionale Bedeutungserfassung. Das »Leben wird gelebt« und geht auf »in irgendeiner Richtung« [Heidegger, GA 58, S. 35]. Die verschieden möglichen Ausrichtungen auf der Seite des Vollzugssinnes haben bezeichnend über die wechselnde Wahrnehmungsorientierung hinaus keine synthetisierende Funktion. Es entsteht kein Kontinuum einer zusammenhängenden Wahrnehmungsbewegung in diesem Orientierungswechsel und damit auch kein organisiertes Wahrnehmungsfeld mit einer Bedeutungsdifferenzierung und Gewichtung, welche bestimmte Gegenständlichkeiten ins Zentrum stellte und andere an die Peripherie drängte. Heideggers Theorie lebensweltlicher Orientierung fehlt so letztlich die methodische Grundlage, eine dynamische phänomenologische Feldtheorie der Wahrnehmung zu entwickeln. Der vorstellungsintentionale Bezugssinn ist zwar mit einem lebensweltlich orientierten Vollzugssinn untrennbar verbunden. Er kann aber immer nur jeweils etwas anderes vorstellen, aber diese Vorstellungen eben nicht auch gewichten. Wenn Heidegger auch Husserls Intentionalitätskonzept durch einen lebensweltlichen Orientierungssinn bereichert, so bleibt seine statische Auffassung von vorstellungsintentionaler Bezugnahme Husserls Logischen Untersuchungen verpflichtet und verhindert damit eine wirklich dynamische Konzeption von lebensweltlicher Erfahrung, die sich in und aus der Wahrnehmungsbewegung organisiert. Die wechselnden Orientierungen des Vollzugssinns werden bei Heidegger vielmehr – vermittelt durch den intentionalen Bezugssinn – auf einen Bedeutungskontext als phänomenologische »Gegebenheit«, eine fix und fertige Sinnvorgabe der Vorstellung und Erkenntnis, beErneuerung in einem selbstweltlichen Dasein fordert« [Heidegger,GA 59, S. 75].

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5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung

zogen, die durch den Lebensvollzug schlechterdings nicht generiert werden kann. »Das Leben ist etwas, das nicht erst noch etwas zu suchen brauchte – daß es zuvor leer wäre und dann erst eine Welt suchen müßte, sich mit ihr zu erfüllen –, sondern es lebt immer irgendwie in seiner Welt. […] Jeder Mensch trägt in sich einen Fond von Verständlichkeiten und unmittelbaren Zugänglichkeiten.« [Heidegger, GA 58, S. 34] Die wechselnde Wahrnehmungsorientierung schöpft ihre Bedeutung also intentional aus einem vorstellungsintentional vorgegebenen Reservoir von Objektivitäten in Gestalt verschiedener lebensweltlicher Umwelten, welche dem Lebensvollzug als Sinn- und Orientierungsvorgaben immer schon zur Verfügung stehen. Heidegger redet in diesem Zusammenhang davon, dass dem Leben so bestimmte »Weltstücke« zugänglich werden: »Das Leben begegnet in jedem Moment seines Ablaufs einem anderen Weltstück oder ›ist es‹.« [Ebd.] Das »ganz Selbstverständliche« für das Leben ist: »Alles Leben lebt in einer Welt. Was überhaupt an Welten und Weltstücken begegnet, begegnet im lebendigen Strom und Zug des Lebens.« [Ebd., S. 36] Heideggers merkwürdige Rede von »Weltstücken«, die im Lebensstrom erscheinen, verweist auf Georg Simmels Logos-Aufsatz Der Fragmentcharakter des Lebens von 1916/17. Dort betont Simmel die Kontinuität wie auch Diskontinuität des Lebens. Dem Lebensgefühl ist einerseits unser »Lebensprozeß als ein kontinuierliches Gleiten und Werden« erschlossen, »absatzlos zwischen Geburt und Tod«, einer »ununterbrochenen Zeitlinie entlang fließend« [Simmel 1916/17, S. 203]. Der fragmentarische und diskontinuierliche Charakter des Lebensvollzugs kommt allerdings andererseits durch die Tätigkeit des Geistes zum Vorschein, wenn durch Vorstellungen und Erkenntnisse »innere Gegenstände« erzeugt werden. Simmel spricht in diesem Zusammenhang davon, dass aus dem fließenden Lebenszusammenhang »Stücke« herausgeschnitten werden. Ausdrücklich ist von geformten »Weltstücken« [ebd., S. 209] die Rede. Hierbei geht es um eine Auf‌lösung des Kontinuums des Lebensstroms – die Verwandlung des Kontinuums in ein Diskretum durch eine diakritisch entwickelnde, objektivierende Vorstellungstätigkeit: Der »geistige Lebensvorgang hat Inhalte, er erzeugt innere Gegenstände: Vorstellungen, Begriffe, Erkenntnisse; und diese haben eine eigentümliche andere Art von Bedeutung und Bestand, Gültigkeit und Ordnung als der monotone Ablauf des bloßen Geschehens. Diese Inhalte, diese geistigen Gestaltungen, in die das Dasein übergeht, haben nun plötzlich eine Anordnung: zunächst um den Kopf des vorstellen469 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

den Subjekts herum. Daß hiermit die Welt von einem Zentrum aus gesehen wird, das schafft Distanzen, Akzentuierungen, perspektivische Verschiebungen und Überschneidungen sinnlicher wie geistiger Art, zu denen es in der objektiven Ausgebreitetheit des Daseins gar keine Analogie gibt. Das Leben ist jetzt nicht mehr einfach in den Ablauf der Welt versponnen, sondern seinen inneren Antrieben und Gesetzen folgend, schneidet es aus der Vorstellung gewordenen Welt Stücke her­ aus, da es Gegenstände nennt, verbindet Fernes, trennt Nahes, setzt wechselnde Wertakzente ein, deutet das bloße Geschehen nach Ideen. Kurz, indem das Leben die Stufe des Geistes ersteigt, bildet es Formen aus, die einen irgendwie gegebenen Stoff gestalten, und baut sich, indem sein Prozeß weiter und weiter verläuft, eine Welt geistiger Inhalte auf« [Simmel 1916/17, S. 203]. Die Aussonderung von »Weltstücken« wird im lebensphilosophischen Kontext demnach als eine diakritische Leistung verstanden, das Feste und Gegenständliche aus dem Flüssigen auszusondern. Dabei wird der Aspekt der Zentrierung und Verdichtung betont, also eine (lebens-)wirksame dynamische Vorstellungstätigkeit in Anspruch genommen, die – diakritisch entwickelnd – aus gleichartigen Verbindungen ungleichartige schafft, Nähe und Distanz erzeugt und damit eine Gliederung des ungegliederten Lebensstromes bewirkt. Es entstehen sozusagen Orientierung gebende »Inseln«, die sich aus dem an sich orientierungslos dahinfließenden Lebensfluss herauslösen. Als »innere Gegenstände« bleiben sie jedoch Momente des dynamischen Lebensprozesses, vom Lebensstrom gleichsam umströmt: Die Entstehung von Gegenständlichkeiten durch die Vorstellungstätigkeit ist so gerade keine Stillstellung von Dynamik, keine Erstarrung des élan vital wie bei Henri Bergson, denn die Aktivität des Vorstellens und Erkennens bleibt bei Simmel als eine trennend-verbindende Diakrisis auf den Lebensprozess als unauf‌löslichem Zusammenhang notwendig bezogen: Die vorstellende Vergegenständlichung besteht in einer vergeistigen­ den Deutung des Lebensprozesses, nicht deren Auf‌lösung und Ersetzung durch eine Begriffskonstruktion. Wenn Heidegger also davon spricht, dass zu erkennende »Weltstücke« »im lebendigen Strom und Zug des Lebens« [Heidegger, GA 58, S. 36] begegnen, dann scheint er hier Simmels prozessualer und hermeneutischer Deutung der vorstellenden Objektivierung zu folgen. Dass sich Heidegger mit seiner Auffassung von »Weltstücken« an Simmels Lebensphilosophie und nicht etwa Husserls Phänomenologie orientiert, ist offenkundig. Erfahrung und Urteil fasst die beson470 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung

dere Umwelt als Teilbestimmung eines umfassenden Weltganzen; die verschiedenen Umwelten bilden nach Husserl »Stücke aus der einen und selben objektiven Welt« – gemeint mit dieser »objektiven« Welt ist die allen Menschen gemeinsame »Lebenswelt« »im umfassendsten Sinne« [Husserl 1972, § 38, S. 189]. Mit Simmel deutet Heidegger die »Lebenswelt« aber gerade anders als Husserl nicht als einen Universalhorizont, wodurch sie aus dem Lebensvollzug und -zusammenhang ganz herausfallen würde. Die Lebenswelt stellt vielmehr lebensphilosophisch gedacht ein »relativ Ganzes« [Heidegger, GA 58, S. 118] dar, ein Weltstück im »fragmentarischen« Sinne, das sich aus dem ursprünglichen Lebenszusammenhang herauslöst und gerade nicht als konstitutiver Teil eines Vorstellungsganzen, des umfassenden Weltzusammenhangs, im Vorhinein darstellt. Den »Umwelten« bzw. »Weltstücken« entsprechen bei Heidegger die qualitativ verschiedenen Gegenstands- und Sachgebiete, die sich als besondernde Ausrichtungen der Vorstellung »im lebendigen Strom und Zug des Lebens« [ebd., S. 36] zu erkennen geben. Wenn Heidegger allerdings von einem »Fond von Verständlichkeiten« spricht, aus dem sich die intentionale Wahrnehmungsorientierung als ein vorhandenes Reservoir jeweils bedient, dann öffnet sich damit das methodische Tor für die Konstitutionsbestimmung der Begriffe »Welt« und »Umwelt«. Weil der Bezugssinn als eine vorstellungsintentionale Bezugnahme gedacht ist, kann die Bedeutsamkeit der Umwelt nur fragmentarisch, als ein »Weltstück«, betrachtet werden. Zwar »begegnen« die Weltstücke immer in einem Zusammenhang, der Kontinuität des Lebens. Doch der Lebensvollzug enthält als reiner Vollzugssinn für sich betrachtet noch keinen intentionalen Bezugssinn als »bedeutungsverleihender Akt« im Sinne der Logischen Untersu­ chungen, durch den sich die einzelnen bedeutungshaften Weltstücke zu einem Verweisungs-Ganzen der Bedeutsamkeit, einer Welt, untereinander verbinden könnten. Den Ausweg aus dieser sich abzeichnenden Aporie böte nun ein genetisch-phänomenologisches Konzept der Wahrnehmungs- und nicht Vorstellungsintentionalität, das aufzeigen würde, wie sich durch thematische Objektivierungen und ihre Wiederholungsstruktur eine »Welt« nicht erst in der objektivierenden Vorstellung, sondern schon in der Wahrnehmungsbewegung bildet. Da Heidegger über ein solches dynamisches Intentionalitätskonzept jedoch nicht verfügt, entsteht methodisch eine empfindliche Erklärungslücke, was den »Weltcharakter des Lebens« betrifft [Heidegger, GA 58, Überschrift § 7 c), S. 33], denn der »Fond von Verständlichkeiten 471 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

und unmittelbaren Zugänglichkeiten« scheint nicht mehr zu bedeuten als die bloße Summe aller fragmentarischen Weltstücke, ein loses Aggregat sämtlicher Umwelten. So setzt sich im Umkreis von Sein und Zeit schließlich die konstitutionstheoretische Lösung durch, das Verhältnis von Welt und Umwelt, von Weltstück und Weltganzem, Husserl nah als ein immanentes Vorstellungs- und nicht Lebensverhältnis zu deuten.31 Simmels methodischer Ansatz, Leben und Geist zu vermitteln und entsprechend die objektivierende Vorstellungs- und Erkenntnis­ tätigkeit auf den Lebensprozess deutend zu beziehen, musste Heidegger attraktiv erscheinen, denn einerseits lässt sich so der Objektivismus der Konstitutionstheorie durch lebensphilosophische Fragmentierung relativieren und andererseits zugleich die latente Theoriefeindlichkeit des lebensphilosophischen Intuitionismus als eine Verkennung der Definitionsaufgabe der Philosophie32 abwehren. Das Mitschwimmen im Fluss des Lebens allein reicht nicht aus, um die sich im Leben bekundende Bedeutsamkeit einer lebensweltlichen Umwelt, aus der sich das Leben versteht, zu fassen. Der fortwährende Wechsel der Wahrnehmungsorientierung steht für die ursprüngliche Beweglichkeit des Lebensvollzugs, wie sie von der Lebensphilosophie beansprucht wird, die das Leben immer nur leben, d. h. mit- und nachvollziehen will vor jeder Möglichkeit der Objektivierung durch die Erkenntnis. Was eine solche Haltung philosophisch zutage fördert, sind nach Heidegger aber letztlich nur Trivialitäten, die vorwissenschaftlich bleiben und dem von Husserl verbindlich formulierten Anspruch einer phänomenologischen Philosophie als strenger Wissenschaft33 nicht genügen: »Wozu also dieses hoffnungslose Aufzählen von Trivialitäten, wo ich doch nie aus dem Leben herauskomme? Wie in dieser ständig flutenden Fülle von Leben und Welten eine strenge Wissenschaft etablieren wollen?« [Heidegger, GA 58, S. 37 f] Heidegger modifiziert deshalb die lebensphilosophische Grundauffassung, wonach sich das Leben nicht ohne Verlust seines Voll31

Vgl. dazu Kap. I,5 »Welt und Umwelt in ›Sein und Zeit‹: das hermeneutische Versäumnis einer phänomenologischen Feldtheorie«. 32 Heidegger entwickelt in diesem Zusammenhang seine Theorie der formalanzeigenden Definition. Vgl. dazu vor allem die Vorlesung von 1921/22 [Heidegger, GA 61], die Unter- und Überschätzung der Definitionsaufgabe Phi­lo­sophie S. 13 ff, die Theorie der formalen Anzeige S. 275 ff. 33 So Husserl in seinem programmatischen Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft [Husserl 1911].

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5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung

zugscharakters einer ursprünglichen Lebensbewegung theoretisch erfassen lässt, durch den Gedanken der lebensweltlichen Fundierung von Erkenntnis. Mit der Lebensphilosophie hält Heidegger einerseits daran fest, dass der Lebenszusammenhang im Ganzen nicht zum Gegenstand einer alles überschauenden vorstellenden Erkenntnis werden kann. Dieser Anspruch führt vielmehr zur »Entlebung« der Lebenswelten durch die Wissenschaften.34 Die theoretische Objektivierung hat zur Folge, dass die Objektbestimmungen nicht mehr aus dem faktischen Leben gewonnen werden, sondern daraus, dass der Lebenszusammenhang insgesamt ersetzt wird durch ein konstruiertes System aus Begriffen. Heidegger modifiziert hier die lebensphilosophische Antithese von Intuition und Analyse durch seine phänomenologische Fassung des Konstitutionsgedankens. Die theoretische Entlebung verdrängt und ersetzt den ursprünglichen Lebensvollzug, indem sie versucht, ihn in seiner ursprünglichen Unüberschaubarkeit überschaubar zu machen.35 Sie ist kein intuitives, sondern ein konstruktives Verfahren der Analyse und Synthese: Objektbestimmungen werden aus ihrem lebensweltlichen Kontext gerissen, sodass der Lebenszusammenhang auseinander bricht, gewissermaßen in Trümmern liegt.36 Diese Bruchstücke als fragmentierte »Trümmer aus dem Zusammenbruch einer Welt« dienen dann in der systematischen Begriffskonstruktion als »mögliche echte Bausteine für den Aufbau eines Neuen« [Heidegger, GA 58, S. 121]. Sinn und Zweck dieser vollständigen Ersetzung des Lebenszusammenhangs durch das Begriffssystem ist demnach eine erneuernde Rationalisierung: Durch die Reduktion auf wenige Grund­ elemente als Ordnungsprinzipien werden die Relationen »abzählbar«

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»Lebenswelten werden durch die Wissenschaft in eine Tendenz der Entlebung genommen und damit das faktische Leben gerade der eigentlichen lebendigen Möglichkeit seines faktisch lebendigen Vollzugs beraubt.« [Heidegger, GA 58, S. 77 f] Theoretisches Dingerkennen bedeutet: »Schaffung einer von da motivierten Übersehbarkeit. Angetastet wird also das lediglich gegenwartsgeöffnete, in der Zugrichtung eines Erwartungszusammenhangs fortschreitende Erfahren. Es wird verdrängt: in der Richtung der ganzheitsbildenden, Momentphasen öffnenden, Übersehbarkeit gewinnenden Eigenzusammenhangsbildung.« [Hei­ deg­ger, GA 58, S. 121 f] »Der Zusammenhang bricht auseinander. Die unabsehbare Mannigfaltigkeit von Trümmern ist aber nicht nichts […] sondern jedes Trümmerstück stammt aus dem Zusammenbruch, ist ein Gebrochenes, ein Torso, ein Fragment.« [Heidegger, GA 58, S. 121]

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[vgl. ebd., S. 144], erlangen Eindeutigkeit37, Endgültigkeit38 und damit eine Funktionskonstanz, welche lebensweltliche Beweglichkeit und Veränderlichkeit schlechterdings zunichte macht.39 Anders als der lebensphilosophische Intuitionismus verankert Heidegger die fixierende und ordnende »Kenntnisnahme« jedoch schon im Lebensvollzug, sodass die theoretische Verdinglichung und ihre begriff‌liche Ordnung als Bruch mit einer ursprünglich lebensweltlichen Erkenntnis, einer nicht konstruktiven, sondern explikativ konstituierenden Objektivierung des Lebensvollzugs gedeutet wird. Die Tendenz zur Verfestigung des Lebenszusammenhangs gehört nach Heidegger zum Leben selbst, insofern sie nicht das Ganze des Lebenszusammenhangs in einer Begriffskonstruktion zu verdinglichen trachtet, sondern die Unbestimmtheit des Vollzugssinns durch den Bezugssinn und sein Erkennen der Bedeutung partiell zu bestimmen sucht. Vor der Kenntnisnahme gibt es noch keine verfestigende Artikulation des Lebenszusammenhangs. Das Leben lebt ohne Objektivierung als ein »nicht rückschaubetroffenes Fortgehen […], welches Fortgehen zugleich ist eine nicht ausdrückliche Zusammenhangsbildung der Erfahrungen, die in dieser nichtartikulierten Lebendigkeit im ständig fortfließenden Erfahren weiterleben.« [Heidegger, GA 58, S. 121] Die Bildung des Lebenszusammenhangs geht also vollzugsmäßig der objektivierenden Kenntnisnahme notwendig voraus, doch bleibt sie unartikuliert und damit auch ein ungeordnetes Chaos. Hier setzt die Korrektur der konstitutionstheoretischen Betrachtung ein: »Leben kein chaotisches Wirrsal von dunklen Flutungen, nicht ein dumpfes Kraftprinzip, nicht ein grenzenloses, alles verschlingendes 37

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»Sofern der Objektbereich überhaupt seinen eindeutigen Rahmen hat, die Grund­elemente der Objektbestimmung abzählbar zugänglich, die Möglichkeit der leitenden Gesichtspunkte der Bestimmung durch den Objektrahmen selbst begrenzt oder zumindest idealiter bestimmbar wird, hat alle Methode nach ihrem Hauptzug selbst Eindeutigkeit.« [Heidegger, GA 58, S. 144] »Bestimmte Objekte endgültig herausfinden, Ordnungsbestimmung« [Hei­ deg­ger, GA 58, S. 142, Fußnote 15]. Sinn der begriff‌lichen Rationalisierung ist: »Ordnungsbeziehungen zu keiner funktionalen Bewegung zulassen, sondern gegenseitig sich stützen und im Gesamt­rahmen festspannen.« […] Es liegt darin die Tendenz der eindeutigen ordnungs-, nicht ausdrucksmäßigen Zugänglichkeit des Ordnungssystems überhaupt […]. Durch die eindeutige Stellung der Erkenntnis- und Objekt­ bestim­mungs­tendenz unter selbst begrenzte Ordnungsprinzipien mit einer begrenzten Anzahl von Ordnungselementen ist die Möglichkeit des Ab­weichens benommen, der consensus omnium ist von vornherein gegeben.« [Heidegger, GA 58, S. 143]

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Unwesen, sondern es ist, was es ist, nur als konkrete sinnhafte Ge­ stalt« [ebd., S. 148]. Diese konkretisierende Sinngebung ist eine Leistung der objektivierenden Kenntnisnahme schon im lebensweltlichen Leben, eine ursprünglich »nicht theoretisch-wissenschaftliche Gegenständlichung« [Heidegger, GA 58, S. 112], an welche die theoretische Verdinglichung dann »entlebend« anknüpft. Die jeweilige Wahrnehmungsorientierung ist immer mit einer Bezugnahme auf Gegenständliches, ein jeweiliges Sachgebiet verbunden. Die unbestimmte Art, wie diese einzelne gegenständliche Bedeutung im Kontext des Bedeutungsganzen einer jeweiligen Umwelt erschlossen ist, erfährt durch die modifizierende Kenntnisnahme als Form der explizierenden Artikulation des Lebensund Bedeutungszusammenhangs eine erste objektivierende Bestimmung, wodurch der verfließende Lebenszusammenhang überhaupt so etwas wie Stabilität und Festigkeit erlangen kann (»eine Verfestigung, die ihre Stützen hat in der umweltzeitlichen Umgrenzung« [ebd., S. 118]) – letztlich durch die Erkenntnis des jeweiligen Ordnungszusammenhangs, der Erfassung »der Ordnung seines faktisch lebendigen Erfahrenseins« [ebd., 120].40 Bedingung für diese ursprünglich lebensweltliche Objektivierung im Sinne einer bestimmend-explizierenden, ordnenden Konstitution ist, dass sie niemals aus dem Kontext des vor jeder Objektivierung und Erkenntnis rein vollzugsmäßig erfassten Lebenszusammenhangs herausgerissen wird41, d. h. immer nur die 40

41

An anderer Stelle bezeichnet Heidegger diesen lebensweltlichen Ordnungssinn, um ihn vom theoretisch-begriff‌lichen eines besonderen Sachgebiets abzu­ grenzen, als »Anordnen«. Die »nicht theoretisch-wissenschaftliche Gegen­ ständ­­ lichung […] kann sein gegenwärtigende oder vergegenwärtigende Kenntnis­nahme und ist im Wechselverkehr zugleich Kenntnisgabe: Unter­ halten, Erzählen, Berichten, Anordnen.« [Heidegger, GA 58, S. 112] Heidegger spricht im Sinne seiner Antithese Ordnung-Ausdruck auch von der Theorie als »der eindeutigen ordnungs-, nicht ausdrucksmäßigen Zugänglichkeit des Ordnungssystems überhaupt« [ebd., S. 143]. Die schroff formulierte Anti­ these: Leben = »kein Ordnungs-, sondern Ausdrucksbegriff« [ebd., S. 154], vereinfacht diesen komplexen Sachverhalt in pädagogischer Absicht: Ordnung einmal als Konstitution, als Ausdruck eines lebensweltlichen Sinn- und Selbst­verständnisses und andererseits Ordnung als Form der systematischen Begriffskonstruktion. Es gilt, dass »die Gegenständlichkeit der Kenntnisnahme überhaupt nicht aus dem faktischen Erfahrungszusammenhang heraustritt und eine dem faktischen Leben gegen-überstehende selbständige Objektivität nicht ausformt, sondern das Gegenständliche immer aufgeht in dem Bedeutsamkeitszusammenhang der faktischen Lebenssituationen« [Heidegger, GA 58, S. 113].

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Teilbestimmung eines umfassenden Vollzugs-Ganzen bildet im Unterschied zur verdinglichenden und entlebenden Begriffskonstruktion, die dieses Ganze als solches usurpierend zum Objekt der Erkenntnis macht. Die lebensweltliche Kenntnisnahme und ihre Form der Konstitution usurpiert den Vollzugssinn des Lebens also noch nicht, lediglich »expliziert [!] (sie) einen Zusammenhang, den das faktische Erfahren selbst nicht kennt, für den es gar kein Organ hat« – und deshalb wird in der »Kenntnisnahme […] der Erfahrungszusammenhang von vornherein als relativ Ganzes [Herv. d. Verf.] in Tendenz genommen« [ebd., S. 118]. Der Sinn der explizierenden Konstitution dieser den Lebenszusammenhang artikulierenden Kenntnisnahme gibt sich durch das Auslegungsschema der Bestimmung des Unbestimmten42, der partiellen Hebung einer unabgehoben immer schon vorgegebenen Sinntotalität zu erkennen – mit Heideggers Worten »in der besonderen Ordnung durch Hebung besonders ausgeformter und stabilisierter Erwartungstendenzen« [Heidegger, GA 58, S. 120]. Gegenüber der theoretischen Verdinglichung und ihrer begriff‌lichen Erstarrung wird die ursprünglich lebensweltliche Objektivierung zwar einerseits durch ihre Beweglichkeit ausgezeichnet. Doch resultiert diese Bewegung ausdrücklich nicht aus dem reinen Vollzugssinn der wahrnehmungsmäßigen Orien­ tierung, sondern einer mit dem Bezugssinn sich verknüpfenden veränderlichen »Erwartungstendenz«. Heideggers lebensphilosophischer Ausgangspunkt sieht die objektivierende Kenntnisnahme und ihre Ordnungsfunktion grundsätzlich als eine nachträgliche »Modifikation« eines vor dieser Modifikation im reinen Vollzug immer schon ausgebildeten Zusammenhangs der Erlebnisse an [vgl. ebd., S. 121], sodass es schließlich auch hier zu einer Absonderung der Erkenntnisund Ordnungsfunktion vom Vollzugssinn der Wahrnehmungsorientierung kommt, die vollzugs- und orientierungsunabhängig als eine reine Konstitutionsbestimmung der intentionalen Bezugnahme auf das Ganze der Bedeutsamkeit einer lebensweltlichen Umwelt gefasst wird. Den Bewegungssinn des Lebens kennzeichnet Heidegger durch die zum Lebensstil gehörige »Rhythmik« als Ausdruck eines »lebens­ 42

Zunächst gibt sich alles lebensweltliche Erfahren sowohl der einzelnen Gegen­ stände als auch ihres Kontextes der Bedeutsamkeit im Lebens­zusammenhang als unbestimmt: »Auch das ›etwas‹, das ich so erfahre, das ich als bestimmungslos, unbestimmt erfahre, erfahre ich in der Unbestimmtheit eines bestimmten Bedeutsamkeitszusammenhangs« [Heidegger, GA 58, S. 106].

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weltwärts verlaufende Leben[s]« [Heidegger, GA 58, S. 66].43 Diese eigentümliche Rhythmik der lebensweltlichen Orientierung erstarrt44 schließlich, wenn sie »in die Tendenz wissenschaftlichen Erkanntwerdens genommen« [ebd.] wird. Die wissenschaftliche Entlebung besteht in der Absonderung des intentionalen Bezugssinns vom Vollzugssinn und seiner »selbstweltlichen« Ausrichtung.45 Von daher wäre eigentlich zu erwarten, dass Heidegger die Beweglichkeit des Rhythmus mit derjenigen der wechselnden Wahrnehmungsorientierung in Verbindung bringt und so die Organisation nicht gegenständlich, sondern bewegungsdynamisch als eine Form des Lebensvollzugs versteht – einen umweltlichen Lebensraum, dem der Lebensrhythmus durch seine Wiederholungsstruktur verschiedene Bedeutung und damit Ordnung gibt. Doch statt dessen begreift er den Bewegungscharakter der lebensweltlichen Kenntnisnahme Husserl nah als eine Form der veränderlichen Wahrnehmungskonstitution, der fortwährenden Erneuerung des Sinnes in der partiellen Durchbrechung eines geregelten und geordneten Erwartungshorizontes. Heidegger vermeidet mit dieser konstitutionstheoretischen Bestimmung – so paradox es klingen mag – letztlich erfolgreich die Preisgabe seines lebensphilosophischen Ausgangspunktes, wonach Erkenntnis und Objektivierung keine ursprünglichen Formen des Lebensvollzugs darstellen, welche einen Lebenszusammenhang und mit ihr die Lebenskontinuität stiften, diese vielmehr immer schon voraussetzen. Der Erwartungshorizont bleibt in Heideggers lebensweltlicher Begründung der Intentionalität immer an eine bestimmte Wahrnehmungsorientierung gebunden und damit beschränkt auf die ausschnitthafte Erfassung eines besonderen »Weltstücks«, wodurch auch von dieser Seite die Abkünftigkeit und Nicht-Ursprünglichkeit der ordnenden Erkenntnis noch einmal bekräftigt wird: »Dieser [der Lebenszusammenhang, d.Verf.] gehört selbst zum faktischen Leben an sich oder ist es geradezu. Die ständig offenen, wenn auch nicht aktuell gewußten Erwartungshorizonte, die merkwürdig vorzeichnenden, aus der irgendwie vorgezeichneten Zukunft 43

Die Lebenswelt enthält die »vielleicht einzigartige Typik des Daseins – Lebens­ totalität –« [Heidegger, GA 58, S. 59]. »Selbstwelt und Lebenswelt – in der Lebens­welt der Widerhall der Rhythmik jener.« [Ebd.] 44 Vgl. Heidegger, GA 58, S. 77, vgl. Fußnote 39. 45 »All die reichen Bezüge zur Selbstwelt sind unterbrochen: im wissenschaftlichen Ausdruckszusammenhang ist das lebendige, fließende Leben irgendwie er­starrt.« [Heidegger, GA 58, S. 77].

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motivierenden Tendenzen lassen das faktische Leben jeweils aufgehen in seinem Erfahrenen, das als solches den Sinn von Bedeutsamkeit hat. Das Zu-fällige im Leben, das Überraschende, Neue sind charakterisiert als phänomenal in verschiedener Weise herausfallend oder einfallend aus und in den jeweiligen Erwartungszusammenhang, der seinerseits vom faktischen Leben getragen ist.« [Heidegger, GA 58, S. 108] Von der Wahrnehmungsorientierung her bedeutete das Überraschende und Zufällige den Orientierungswechsel, die durch eine Affektion ausgelöste Zuwendung zu einem anderen Gegenstand und damit verbunden das Sich-Bewegen in einer ganz anderen, neuen Umwelt und Umgebung. In Heideggers Bestimmung der lebensweltlichen Erkenntnis wird dieser Bewegungssinn gleichsam okkupiert von der veränderlichen Konstitutionsbestimmung: Das Zufällige und Neue ist nun die Abweichung von einer Norm in Gestalt der bestimmt vorgegebenen, geregelten Erwartung, einem gegebenen Ordnungszusammenhang des Ganzen, in den sich ein bestimmtes einzelnes Erlebnis nicht einordnen lässt. Wird die besondere wahrnehmungsmäßige Orientierung als eine solche verstanden, die sich in einen geregelten Erwartungshorizont und die mit ihr verbundene Wahrnehmung eines vorgängig geordneten Weltganzen entweder einordnet oder nicht einordnet, dann bedeutet das die Ablösung der Leistung der Ordnung und Organisation von der Wahrnehmungsorientierung und ihrer Bewegung, die ihr als eine lebensweltlich fundierte Konstitutionsbestimmung vorgegeben wird. In Sein und Zeit verschwindet so schließlich die lebensphilosophisch motivierte Thematisierung der Bewegtheit der wahrnehmungsgebundenen Orientierung, die durch eine hermeneutisch-funktionalistische Bestimmung des alltäglichen Umgangs mit den Dingen aus dem Konstitutionszusammenhang eines vorgängigen Verstehens des Weltganzen und seiner nachgängigen explizierenden Auslegung ersetzt wird.46 Den hermeneutischen Blick von Sein und Zeit interessiert primär die lebensweltliche Erkenntnis in Form der praktischen »Umsicht«, die sicherstellt, dass sich ein Zeugding wie der Hammer in das immer schon vollständig vorliegende Verweisungsganze der Bedeutsamkeit einordnet. Kant korrigiert Heidegger47 nicht zufällig darin, dass die

46 Vgl. Heidegger 1979, § 32 »Verstehen und Auslegung«. Vgl. Kap. II,7. 47 Heidegger bezieht sich ausdrücklich auf Kants Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? [Vgl. ebd., § 23, S. 109]

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räumliche Orientierung nicht herrühre von dem bloßen »Gefühl des Unterschieds« [Heidegger, GA 23, S. 109], also einer sinnlichen Af­ fektion, vielmehr einzig und allein resultiere aus dem Vorverständnis der Bedeutungsfunktion im Umgang mit den Dingen, einer immer schon »»bekannten« Welt« [ebd.] und damit der implizit vorstellenden Erkenntnis des Ganzen des Zeugzusammenhangs unabhängig von der durch wechselnde Affektionen ausgelösten Orientierungsbewe­ gung der Wahrnehmung. Dass Heideggers Analysen die Dimension der Leiblichkeit ausdrücklich nicht berücksichtigen [vgl. ebd., S. 108], hängt mit dieser hermeneutisch-funktionalistischen Bestimmung der räumlichen Orientierung zusammen im Sinne der vorgängigen Erfassung eines Lokalisationsschemas, das sich rein aus der Funktionalität der Bedeutsamkeit, der im vorhinein feststehenden Zugehörigkeit alles Einzelnen zum Ganzen des Zeugzusammenhangs, ergibt. »Der Zeugzusammenhang einer Welt muß dem Dasein schon vorgegeben sein.« [Ebd., S. 109] Jedes Ding hat demnach seinen »Platz« in einer durch die Bedeutungsfunktion vorgeordneten Welt, der sich einzig und allein ergibt aus einer τέχνη (techne), einem zwar nicht theoretischen, aber dafür praxisleitenden Erkennen und Wissen »im umsichtig ›berechnenden‹ Hantieren und Gebrauchen« [ebd., § 22, S. 102]. Heidegger unterscheidet Ausrichtung und Ent-fernung [Heidegger, GA 23, S. 105] als Weisen der Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins. Zur Entfernung gehört der Bewegungssinn im Sinne der Näherung, der Überbrückung und Verringerung von räumlichen Distanzen, insofern »Entfernen besagt Verschwindenmachen von Ferne« [ebd.]. Die Orientierung als Ausrichtung im Raum fasst Heidegger nun aber gerade nicht von diesem Bewegungssinn der nähernden Entfernung her und damit als hervorgehend aus der beweglichen wahrnehmungs­ mäßigen Orientierung. Vielmehr umgekehrt gibt die »Ausrichtung« als eine praxisleitende Erkenntnis des Sinn- und Bedeutsamkeitszusammenhangs der »Entfernung« ein fest vorgegebenes Orientierungsund Lokalisationsschema ihrerseits vor in Gestalt von solchen bereits vorkonstituierten Gegenden, in denen sich das jeweilige zuhandene Zeug immer schon aufhält: »Das Dasein hat als ent-fernendes In-Sein zugleich den Charakter der Ausrichtung. Jede Näherung hat vorweg schon eine Richtung in eine Gegend aufgenommen, aus der her das Ent­fernte sich nähert, um so hinsichtlich seines Platzes vorfindlich zu werden. Das umsichtige Besorgen ist ausrichtendes Ent-fernen. In diesem Besorgen, das heißt im In-der-Welt-sein des Daseins selbst ist der Bedarf von »Zeichen« vorgegeben; dieses Zeug übernimmt die 479 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

ausdrückliche und leicht handliche Angabe von Richtungen.« [Ebd., S. 108] Das ordnende Orientierungsschema der Ausrichtung wird in Gestalt einer zeichenhaften Bedeutung, die zuvor erfasst wird, der Orientierungsbewegung der Näherung und Entfernung ursprünglich vorgegeben. Sein und Zeit trennt damit nicht anders als Husserls Theo­rie der Kinästhesen die zur Wahrnehmungsorientierung gehörende aposteriorische Bewegung von der apriorischen Erfassung des Ordnungszusammenhangs der Dinge durch das Verstehen der Bedeutsamkeit. Die leiblose Affektionslosigkeit dieser Bedeutungserfassung führt zudem dazu, dass in Sein und Zeit die strukturbildende Rolle der Wahrnehmungsorientierung, die Bildung eines Wahrnehmungsbzw. »Bewusstseins«-feldes durch das Setzen von affektiven Zentren des Bedeutsamen gegenüber dem peripher Unbedeutenden – welche besonders Aron Gurwitsch und Maurice Merleau-Ponty hervorgehoben haben48, gar nicht erst in den Blick kommt. In ihrem ganz ungenierten Umgang mit der konstitutionstheo­ retischen Bestimmung eines vorgeordneten Ganzen, dessen unabgehobene Teilbestimmungen anschließend expliziert werden, unterscheidet sich Heideggers Rückgriff auf eine erfahrungsvorgängige Welterschlossenheit nicht wirklich nennenswert von den entsprechenden Wahrnehmungsanalysen Husserls. Die Simmel-Nähe aus den frühen Vorlesungen, wo lebensweltliche Objektivierungen noch in den Lebensvollzug eingebunden bleiben, hat sich in Sein und Zeit in Simmel-Ferne, einen phänomenologischen Objektivismus schließlich, verwandelt, wo sich das Fragment der Konstitution in eine vor­ auszusetzende Sinn- und Welt-Totalität verwandelt hat, einen Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeit, welcher durch einen reinen Bezugs- und nicht Vollzugssinn des Bedeutungs-Verstehens schlicht vorgegeben ist. Ebenso selbstverständlich wie Husserl bemüht Heidegger nun den Topos der phänomenologischen Konstitution, wonach der Sinn und komplexe Sinnzusammenhang niemals assoziativ synthetisiert wird, sondern ein implizit vorgegebenes Ganzes für die intentionale Bezugnahme darstellt. Betont Husserl in Erfahrung und Urteil die vorgängige Erfassung des gegenständlich Zusammenge­ hörigen gegenüber dem nur assoziativ und summativ Zusammenge­

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Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. I,4 bzw. das folgende Kap. II über die phä­ no­­menologische Feldtheorie.

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5) Die Konstitution als Ausdruck lebensweltlicher Orientierung

brachten49, so Heidegger die Unmöglichkeit einer Synthese der Welt aus einzelnen Erfahrungen: »Welt ist nicht etwas Nachträgliches, das wir als Resultat aus der Summe des Seienden errechnen. Die Welt ist nicht das Nachherige, sondern das Vorherige im strengen Wortsinne.« [Heidegger, GA 24, S. 235] »Der Bewandtniszusammenhang ist nicht ein Beziehungsganzes im Sinne eines Produktes, das erst aus dem Zusammenkommen mehrerer Dinge hervorgeht, sondern die Bewandtnisganzheit, die engere oder weitere – Zimmer, Wohnung, Siedlung, Dorf, Stadt – ist das Primäre, innerhalb dessen bestimmtes Seiendes als dieses so und so Seiende ist, wie es ist, und dementsprechend sich zeigt. […] Eine bestimmte Bewandtnisganzheit ist vorverstanden. Dabei ist nicht entscheidbar, sondern immer in gewissen Grenzen freigestellt und variabel, was wir gerade innerhalb des jeweiligen nächsten uns umgebenden Zeugzusammenhangs ausdrücklich und zuerst beachten oder gar erfassen und beobachten.« [Ebd., S. 233] »Es gibt« demnach zunächst einmal das vorgegebene Weltganze, funktional geordnet durch die Relation von Teil und Ganzem – einer streng geregelten Implikation von Bedeutungsumfängen (Zimmer, Wohnung … Stadt). Und die mit der praktischen Umsicht einhergehende wechselnde Wahrnehmungsorientierung »erfaßt« und »beobachtet« nach Heidegger von diesem gegebenen und vorverstandenen Ganzen nun konkret bestimmte Ausschnitte, was schließlich zur Konstitution einer besonderen Umwelt führt: »Faktisch existierend sind wir immer schon in einer Umwelt.« [Heidegger, GA 24, S. 233] Anders als in seinen frühen Vorlesungen über das »faktische Leben« oder auch Sein und Zeit gebraucht Heidegger an dieser Stelle »Umwelt«, »Lebenswelt«, bzw. »Welt« nicht mehr oder weniger synonym50, sondern bezeichnet mit »Umwelt« präzise die private Welt eines menschlichen Individuums der allen Menschen gemeinsamen Welt gegenüber – und diese Unterscheidung von Welt und Umwelt ermöglicht wiederum die Grundverfassung des Daseins als ein In-der-Welt-Sein überhaupt.51 Heidegger leitet damit wiederum in vollständigem Einklang mit Hus49 Vgl. Husserl 1972, § 43, S. 215. Dazu Kap. II,5. 50 Mit »Umwelt« wird in Sein und Zeit der Charakter einer »bedeutsamen« Welt für das Dasein im Unterschied zur Naturwelt ausgezeichnet: »Die Welt geht des Spezifisch Umhaften verlustig, die Umwelt wird zur Naturwelt.« [Heidegger, GA 34, S. 112] 51 »Aber was sind Umwelt und Welt? Die Umwelt ist für jeden in gewisser Weise verschieden, und gleichwohl bewegen wir uns in einer gemeinsamen Welt. Aber mit dieser Feststellung ist über den Begriff der Welt wenig gesagt.« [Heidegger, GA 54, S. 234] Denn: Das Dasein »existiert in der Weise des In-

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

serl52 die Bildung von Umwelten aus dem Konstitutionszusammenhang verschieden möglicher »Teil«-erfassungen eines sie schlechterdings umfassenden, all-gemeinsamen Welt-»Ganzen« ab. Was so letztlich ausbleibt ist der Versuch, die Umwelt überhaupt außerhalb jeglichen Konstitutionszusammenhangs der Erkenntnis als ein Gebilde zu verstehen, das durch die Orientierungsbewegung assoziativ synthetisiert und so als Form einer originär bewegungsdynamischen Organisation Ordnung allein durch die Wahrnehmungsorientierung hervorbringt.

6) Wahrnehmungsfeld (Umwelt) und Weltvorstellung. Die systematische Zweideutigkeit des Horizontbegriffs in Husserls Phänomenologie Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung in den Ideen I enthält bereits die grundlegende Zweideutigkeit, die Welt als Orientierungsraum der Wahrnehmung zugleich feldtheoretisch und konstitutionstheoretisch zu bestimmen. Methodisch entspricht der Dichotomie Welt/Umwelt eine nicht reflektierte Doppeldeutigkeit in der Konzeption des intentionalen Horizontbewusstseins: Der Horizont wird von Husserl sowohl als ein Wahrnehmungs- als auch ein Vorstellungs­ horizont verstanden und beide Deutungen fließen mehr oder weniger unkritisch ineinander. In genetisch-phänomenologischer Perspektive verschärft sich dieser Zwiespalt schließlich zu der systematischen Inkonsistenz, wonach das Wahrnehmungsfeld, in dem die Objekte erscheinen, einerseits die Konstitutionsverhältnisse der Objektbestimmung fundiert, andererseits aber als ein mit dem Innenhorizont des Dinges korrespondierender Außenhorizont begriffen wird. So wird aus dem Fundierungszusammenhang schließlich konstitutionstheoretisch eine Gleichursprünglichkeit im Sinne der zugleich möglichen inneren wie äußeren Objektbestimmung. In »natürlicher Einstellung« finden wir uns nach Husserl in einer endlos im Raum ausgebreiteten Welt vor. Diese Welt ist ursprünglich gegeben. Husserl bezeichnet sie als ein »Anschauungsfeld«, das aber nicht mit dem »Wahrnehmungsfeld« identisch ist. Zum Wahrnehmungsfeld im engeren Sinne gehören nur solche Gegenstände, die mit der-Welt-seins, welche Grundbestimmung seiner Existenz die Voraussetzung ist, um überhaupt etwas erfassen zu können.« [Ebd.] 52 Vgl. Husserl 1972, § 38, S. 189.

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6) Wahrnehmungsfeld (Umwelt) und Weltvorstellung

Aufmerksamkeit und Bewusstsein erfasst werden, wogegen das weitere Anschauungsfeld auch solche nicht eigens thematisch erfassten, ohne aufmerkendes Bewusstsein mitgegebenen Objekte einschließt.53 Dass es sich bei diesem »Anschauungsfeld« um eine Umwelt handelt, in der wir uns als wahrnehmende Subjekte orientieren, wird klar, wenn Husserl eine weitere Ausweitung der Betrachtung vornimmt, welche über das anschaulich Gegebene hinaus auch das Unanschauliche mit einbezieht. Zwar sind in der unmittelbar umgebenden Umgebung nicht alle Objekte gleichermaßen bewusst, doch handelt es sich dabei um solcherlei Dinge, die im weitesten Sinne bekannt sind.54 Der Horizont des Bekannten ist notwendig ein begrenzter und begrenzender Horizont, der den Nahbereich des Bekannten ein- und ausgrenzt gegenüber dem Fernen und Unbekannten: Was nicht zum Bereich des Wahrnehmbaren im weitesten Sinne des Bekanntheitshorizontes gehört, ist nur nicht anschaulich, es ist gar nicht bekannt, d. h. keine bloße Modifikation der Wahrnehmung im Sinne des Unthematischen und Unbewussten. Doch nicht dieser Wahrnehmungshorizont ist derjenige Horizont, welcher das Weltbewusstsein enthält. Husserl unterstellt ein Horizontbewusstsein des Mitgegenwärtigen, das nicht begrenzt, sondern entgrenzt, sowohl das Bekannte als auch das Unbekannte einschließt: Das, was zunächst als begrenztes Anschauungsfeld gegeben ist, »reicht […] in einer steten Seinsordnung ins Unbegrenzte« [Husserl, Hua III,1, § 27, S. 57]. Husserls Beschreibung des Weltbewusstseins trägt unverkennbar Züge einer stoischen οίκείωσις (oikeiosis)-Lehre. Vom »aktuellen Wahrnehmungsfelde, als der zentralen Umgebung« [Husserl, Hua III,1, § 27, S. 57] erweitert sich das Weltbewusstsein in konzen­ 53 Zunächst sind die Gegenstände »in meinem Anschauungsfeld als Wirk­ lich­keiten vorhanden, selbst wenn ich nicht auf sie achte. Es ist aber nicht nötig, daß sie, und ebenso sonstige Gegenstände, sich gerade in meinem Wahrnehmungsfelde befinden. […] Ich kann meine Aufmerksamkeit wandern lassen von dem eben gesehenen und beachteten […] zu all den Objekten, von denen ich gerade ›weiß‹, als da und dort in meiner unmittelbar mitbewußten Umgebung ­seiend – ein Wissen, das nichts vom begriff‌lichen Denken hat und sich erst mit der Zuwendung der Aufmerksamkeit und auch da nur partiell und meist sehr unvollkommen in ein klares Anschauen verwandelt« [Husserl, Hua III,1, § 27, S. 56 f]. 54 »Für mich da sind wirkliche Objekte, als bestimmte, mehr oder minder bekannte, in eins mit dem aktuell wahrgenommenen, ohne daß sie selbst wahr­ genommen, ja selbst anschaulich gegenwärtig sind.« [Husserl, Hua III,1, § 27, S. 56 f]

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

tri­schen Kreisen vom Kleinen und Begrenzten ins Große und Unbegrenzte. Husserl spricht von »Kreis« und »Umring« in Bezug auf den jeweils begrenzenden Horizont, der ins Grenzenlose gehend immer weitere Kreise zieht. Das leitende Modell der Beschreibung ist offensichtlich das des intentionalen Vorstellungshorizontes. Die Anschauung verkörpert demnach eine Art Kern, der von einer Schalenhülle von Leervorstellungen umgeben ist, die vom Anschaulichen auf das Unanschauliche jeweils verweisen und mit jeder Horizonterweiterung und Entfernung vom Anschauungskern an anschaulicher Präsenz verlieren: Das Unthematische und Unbewusste ist weniger anschaulich als das Thematische und Bewusste, aber doch noch ein anschaulich Bekanntes, bis sich das Anschauungsfeld schließlich im Unbekannten verliert. So eingängig und einleuchtend Husserls Beschreibung auch scheint, sie verdeckt die methodische Konstruktion, welche in einer solchen horizontintentional konkretisierten οίκείωσις-Lehre steckt. Der Wahrnehmungshorizont geht als konzentrischer Kreis von Kreisen gedacht im Vorstellungshorizont letztlich auf: Der Horizont erweist sich immer als begrenzend und entgrenzend je nach Hinsicht der Betrachtung: Er begrenzt horizontal dasjenige, was er an kleineren Kreisen jeweils umschließt und entgrenzt sich zugleich als ein vom größeren Kreis umringter. Doch was heißt es letztlich, diesen horizont­ intentionalen Verweisungen durch das Kennenlernen des Unbekannten nachgehen zu können? Husserl macht hier mit der οίκείωσις-Lehre eine methodische Unterstellung, die sich rein deskriptiv als ungedeckter Scheck erweist: eine Analogie von Konstitutionsverhältnissen, die ́ ος sich im Kleinen wie im Großen widerspiegeln. Die Ordnung des οι̉ κ (oikos), des vertrauten Hauses, wird zum Maßstab, um das zunächst Unvertraute, die Ordnung des Universums, zu begreifen. In Husserls Phänomenologie entspricht dem vertrauten Haus die Anschauung, das »aktuelle Wahrnehmungsfeld« mit seinen horizontintentionalen Implikationen des Mitgegenwärtigen als eines Bekannten, an dem die gültigen Ordnungsverhältnisse abgelesen werden, die sich dann ebenso im weiteren Kreis des Unanschaulich-Unbekannten wiederfinden – es erweitert sich so schließlich die »Seinsordnung« ins horizont­ intentional Unbegrenzte. Damit wird gestützt auf die universelle Kontinuität des Horizontbewusstseins die Möglichkeit einer induktiven Verallgemeinerung von Ordnungszusammenhängen angenommen, die sich zunächst einmal nur in einer begrenzten Wahrnehmungsumwelt vorfinden lassen. Das setzt wiederum voraus, den Wahrnehmungshorizont 484 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Wahrnehmungsfeld (Umwelt) und Weltvorstellung

konstitutionstheoretisch als etwas gegenständlich Gegebenes – einen Vorstellungshorizont – zu interpretieren. Wodurch ist eine solche Vergegenständlichung des Horizontbewusstseins jedoch generell gerechtfertigt? Husserl gibt auf diese Frage letztlich keine Antwort, weil er sie gar nicht erst stellt. Die Gründe dafür liegen einmal mehr in der konstitutionstheoretischen, reduktionistischen Behandlung des bewe­ gungsräumlichen Wahrnehmungshorizontes, der als eine im Prinzip vorintentionale, lediglich assoziative Synthese betrachtet wird. Der assoziativ-dynamische Bewegungshorizont verblasst in Husserls Beschreibung zu einer Lapalie der Assoziationspsychologie, die von der konstitutionstheoretischen Betrachtung schließlich aufgesogen wird: »Ich kann Strahlen des aufhellenden Blickes der Aufmerksamkeit in ihn« [den »dunkel bewußten Horizont«, Husserl, Hua III,1, § 27, S. 57, des peripheren Weltbewusstseins, d. Verf.] »hineinsenden, mit wechselndem Erfolge. Bestimmende, erst dunkle und dann sich verlebendigende Vergegenwärtigungen holen mir etwas heraus, eine Kette von solchen Erinnerungen schließt sich zusammen, der Kreis der Bestimmtheit erweitert sich immer mehr und ev. so weit, dass der Zusammenhang mit dem aktuellen Wahrnehmungsfelde als der zen­ tralen Umgebung hergestellt ist. Im allgemeinen ist der Erfolg aber ein anderer: ein leerer Nebel der dunkeln Unbestimmtheit bevölkert sich mit anschaulichen Möglichkeiten oder Vermutlichkeiten, und nur die ›Form‹ der Welt, eben als ›Welt‹, ist vorgezeichnet. Die unbestimmte Umgebung ist im übrigen unendlich. Der nebelhafte und nie voll zu bestimmende Horizont ist notwendig da.« [Ebd.] Was der Phänomenologe hier beschreibt, ist die beständige Möglichkeit, den begrenzten Wahrnehmungshorizont erweitern zu können. Bezeichnend geschieht diese Erweiterung aber zunächst gar nicht durch die Veranschaulichung einer Leervorstellung, sondern eine As­ soziation. Anschauliche Erinnerungen als modalisierende Ab­wand­ lungen von Wahrnehmungen »verketten« sich, d. h. solche zunächst unzusammenhängenden Eindrücke assoziieren sich zu einem zusammenhängenden Ganzen. Nicht in dieser assoziativen Verkettung liegt jedoch nach Husserl der »Erfolg« der Organisation des Weltbewusstseins, sondern in ganz etwas anderem: der Veranschaulichung eines Leerhorizonts, einer »Form« der Vorstellung, welche einer konstituierenden Entwicklung in Form der Objektbestimmung unterliegt. Worauf sich Husserls konstitutionstheoretischer Blick gar nicht erst einlässt ist auf die mögliche Ordnungsleistung der assoziativen Synthese zu reflektieren, also darauf, dass der assoziativen Verknüpfung 485 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

eine zusammenhanglose und ungeordnete Wahrnehmungskomplexität zugrunde liegt, die durch die assoziative Synthese in eine Ordnung überhaupt erst gebracht wird. Wenn diese Assoziation durch die Wahrnehmungs­bewegung zustande kommt und sich der umweltliche Raum so als ein Bewegungsraum erweist, dann muss damit allerdings auch der methodische Versuch, seine Ordnungsverhältnisse per ana­ logiam auf den umgebenden Weltraum zu übertragen, von vornherein scheitern: Das, was nicht zum Orientierungsraum der Wahrnehmungsbewegung gehört, entbehrt der umweltlichen Ordnung, denn der Weltraum bleibt ein von der bewegungsdynamischen Organisation unergriffener, in seiner Bewegungs- und Richtungslosigkeit unorientierter Raum. Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung in den Ideen I führt somit den Zwiespalt einer zugleich feldtheoretischen und konstitutionstheoretischen Bestimmung des Weltbewusstseins als ein Horizontbewusstsein geradezu sinnenfällig vor Augen, die periphere Umgebung einmal als ein Umfeld unzusammenhängender möglicher Wahrnehmungen zu beschreiben, welche durch die Assoziation in einen Zusammenhang erst gebracht werden und zugleich als einen lediglich undeutlich bewussten, im vorhinein schon gegenständlich gegebenen Zusammenhang in Gestalt eines zu veranschaulichenden und systematisch näher zu bestimmenden intentional-einheitlichen Vorstellungshorizontes. Nur konstitutionstheoretisch, nicht feldtheoretisch erscheint es jedoch so unmittelbar einleuchtend und selbstverständlich, den grenzenlosen Welthorizont, der zu jedem begrenzten Wahrnehmungsfeld gehört, als eine zusammenhängende und geordnete Entität, eine universelle »Seinsordnung«, zu begreifen. In genetisch-phänomenologischer Perspektive scheint sich diese Zweideutigkeit im Begriff des Horizontbewusstseins systematisch zu klären im Sinne eines einseitigen Fundierungsverhältnisses. Das »Anschauungsfeld« aus den Ideen I, das in Erfahrung und Urteil schließlich »Bewusstseinsfeld« genannt wird, versteht Husserl nun als eine aus der Affektion, d. h. aus dem ursprünglichen, der interessierten Auffassung immer zuvorkommenden Weckungserlebnis hervorgehende passive Vorgegebenheit55, die damit überhaupt »aller Erkenntnisbetätigung voran liegt« [Husserl 1972, § 7, S. 24]. Da die Weckung von akti55

»Dem Erfassen aber liegt immer voran die Affektion, die nicht ein Affizieren eines isolierten einzelnen Gegenstandes ist. Affizieren heißt Sichherausheben aus der Umgebung, die immer mit da ist, das Interesse, eventuell das Er­ kennt­nis­interesse auf sich Ziehen. Die Umgebung ist mit da als ein Bereich des Vorgegebenen, einer passiven Vorgegebenheit, das heißt einer solchen,

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6) Wahrnehmungsfeld (Umwelt) und Weltvorstellung

vem Erkenntnisinteresse die genetische Bedingung dafür ist, dass sich ein Konstitutionsverhältnis in Form der Objektbestimmung ausbildet, kann der zum »Bewusstseinsfeld« gehörende Wahrnehmungshorizont schließlich nicht mehr einfach als ein Vorstellungshorizont gedeutet werden wie in der statischen Betrachtung. Diese sich hier anbahnende Emanzipation der feldtheoretischen von der konstitutionstheoretischen Betrachtung lässt sich daran festmachen, dass Husserl die kategoriale Unterscheidung von Innen- und Außenhorizont durch die relationale von »Beziehen und Explizieren« [ebd., § 34 c, Überschrift, S. 178] zu erläutern sucht. Beziehen und Explizieren sind aufeinander nicht reduzierbar, weil ihnen eine jeweils andere Art der Mehrheits­ erfassung zugrunde liegt. Das Beziehen ist diejenige Relation, mit der explizite Mehrheiten erfasst werden, während sich das Explizieren auf die impliziten Mehrheiten richtet. Der Vorstellungshorizont mit seinem dazugehörigen Konstitutionsverhältnis der Objektbestimmung gibt das exemplarische Beispiel für die explizierende Veranschaulichung quasi gegenstandsinterner impliziter Mehrheiten, der deswegen auch als Innenhorizont bezeichnet wird: »Explikation ist ein Hinein­ gehen der Richtung des Wahrnehmungsinteresses in den Innenho­ rizont des Gegenstandes.« [Ebd., § 21, S. 115] Da die äußeren Relationen jedoch solche von expliziten Mehrheiten darstellen, können sie auch nicht dadurch als intentionale Einheiten aufgefasst werden, dass die Mehrheit als die zu einer Gegenstandseinheit gehörende impliziten und explizierbare Komplexität von Bestimmungen aufgenommen wird: der relationale Außenhorizont ist kein Innenhorizont, denn »das beziehende Betrachten [ist] auch nicht so zu verstehen, als ob zuvor ein Blick die Einheit treffen müßte, diese also als Einheit aktiv erfaßt sein müßte, und dann erst auf ihrem Grunde das Beziehen einsetzen könnte als eine Art Explikation dieser zuvor gestifteten Einheit« [ebd., § 34 c, S. 178]. Wie ist dann aber die intentionale Einheitsbildung eines solchen relationalen Außenhorizontes zu verstehen? Die naheliegende Lösung, dass die explizite Mehrheit durch eine assoziative und nicht gegen­ ständliche Synthese zur Einheit gebracht wird, kommt Husserl nicht in den Sinn, da für ihn assoziative grundsätzlich keine intentionalen Einheitsbildungen verkörpern. So bleibt nur der Weg übrig zu zeigen, wie sich eine an sich vorintentionale assoziative Synthese durch eine die ohne jedes Zutun, ohne Hinwendung des erfassenden Blickes, ohne alles Erwachen des Interesses immer bereits da ist.« [Husserl 1972, § 7, S. 24]

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

intentionale Sinngebung vermitteln lässt. Husserl nimmt hier den Gedanken zu Hilfe, dass die Weckung von Aufmerksamkeit in der Affektion nie isoliert bleibt, vielmehr bruchlos-kontinuierlich in die Weckung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresse übergeht, Aktivität und Passivität demnach zwar ein Fundierungsverhältnis bilden, jedoch ein solches, das in ein und derselben Aktstufe verbleibt: »Der vorzüglichste Fall ist hier also der, daß Affektion zur Aufmerksamkeit, zur Erfassung, Kenntnisnahme, Explikation sich auswirkt.« [Husserl 1972, § 33, S. 151] Entsprechend erscheint nun die intentionale Objektbestimmung als Form auch des Außenhorizonts. Wenn das beziehende Betrachten des Außenhorizontes als äußere, relative Bestimmung begriffen wird56, dann deutet sich damit die konstitu­ tions­theoretische Gleichsetzung von Innen- und Außenhorizont an im Sinne eines zum Gegenstand gehörenden Vorstellungshorizonts und seiner Möglichkeit der explikativen Näherbestimmung nach Innen und nach Außen. So ergibt sich letztlich eine konstitutionstheoretische Analogie der intentionalen Einzel- und Mehrheitserfassung, welche die Unterscheidung von impliziter und expliziter Mehrheit und mit ihr die feldtheoretische in die konstitutionstheoretische Betrachtung aufhebt – um nicht zu sagen: auf‌löst. Husserl beharrt darauf, dass auch »eine Mehrheit, eine bloße Koexistenz vorgegebener individueller Gegenstände einig verbundene Einheit ist: […] eine Einheit gleicher Art wie ein einzelnes Individuum« [ebd., § 36, S. 182]. Der Horizont als eine Form wirklicher Horizontintentionalität kann für Husserl niemals eine bloß assoziative Verbindung darstellen. Entsprechend dieser Analogie von intentionaler Mehrheits- und Einheitserfassung wird deshalb der Außenhorizont mit einem Instrumentarium phänomenologischer Begriff‌lichkeiten beschrieben, die ganz offensichtlich der konstitutionstheoretischen Bestimmung des Innenhorizonts entnommen ist. Die eidetische Betrachtung des Welthorizonts hält sich so auch ganz unverblümt an das Modell eines explikativen Innenhorizonts. Der »Welthorizont« enthält nach Husserl eine »Totalitätstypik« [Husserl 1972, § 8, S. 33] im Sinne einer »Fundamentalstruktur des Welt­ bewußtseins«, zu der wiederum gehört »die Struktur der Bekanntheit und Unbekanntheit mit der ihr zugehörigen durchgängigen Relativität und der ebenso durchgängigen relativen Unterscheidung von unbestimmter Allgemeinheit und bestimmter Besonderheit« [ebd.]. Diese »Fundamentalstruktur des Weltbewußtseins« gibt sich damit als Form 56 Vgl. Husserl 1972, § 22, S. 115.

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6) Wahrnehmungsfeld (Umwelt) und Weltvorstellung

der noetisch-noematischen Konstitution zu erkennen im Sinne der immer möglichen Veranschaulichung eines zunächst Unanschaulichen wie auch der sinnkonstituierenden Objektbestimmung, der Explikation eines Impliziten, wie sie für die Enthüllung von Innenhorizonten kennzeichnend ist. Unterstützt wird diese Gleichsetzung von Innenund Außenhorizont auch noch dadurch, dass die »Totalitätstypik« in einer der variablen Wahrnehmungsorientierung überhaupt vorgängigen invarianten Erkenntnisorientierung gegeben ist, einer apriorisch wahrnehmungsvorgängigen Antizipation.57 Das bedeutet methodisch nichts anders, als dass das Konstitutionsverhältnis von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung, welche jede Dingkonstitution überhaupt auszeichnet – noetisch als Form der konkretisierenden Veranschaulichung einer Leervorstellung und noematisch als Form der systematisch entwickelnden Näherbestimmung eines im vorhinein in bloß unbestimmter Allgemeinheit erfassten Gegenstandes – auf das Weltbewusstsein bedenkenlos übertragen wird. Die genetisch-phänomenologische Betrachtung gelangt mit diesem Ergebnis nicht wesentlich über das hinaus, was bereits die phäno­ menologische Fundamentalbetrachtung in den Ideen I über die »Welt der natürlichen Einstellung« konstitutionstheoretisch ausgeführt hatte. Methodisch bewegt sich die genetisch-phänomenologische Analogie von intentionaler Einheits- und Mehrheitserfassung jedoch auf wackligem Boden: Die konstitutionstheoretische Annahme einer Strukturgleichheit von Innen- und Außenhorizont setzt voraus, dass das »Bewussteinsfeld« von einem und nur einem zentralen Objekt, auf den sich das Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresse gleichsam fokussiert, organisiert wird. Denn nur so lassen sich die vielen anderen Gegenstände in der Umgebung als unabgehobene, implizite Mehrheiten verstehen, die dem Gegenstand im Zentrum als mitgegebene, relationale Bestimmungen zuzuordnen sind.58

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58

»Was aber den Außenhorizont anlangt, […] so liegt er im Bewußtsein einer Potenzialität möglicher Erfahrungen von einem einzelnen Realen: als von solchen, die je ihr eigenes Apriori haben als ihre Typik, in der sie notwendig antizipiert sind, und die durch jede Erfüllung in Form dieser oder jener Möglichkeiten des invarianten Spielraums invariant bleibt.« [Husserl 1972, § 8, S. 32] Zu dieser Problematik und dem Scheitern dieser konstitutionstheoretischen Kon­zeption vgl. Kap. II,5.

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

7)

Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«: Das hermeneutische Versäumnis einer phänomenologischen Feldtheorie

Die Aufnahme des lebensphilosophischen Begründungsansatzes beim frühen Heidegger führt dazu, dass die Mannigfaltigkeit beweglicher und veränderlicher Lebensäußerungen betont und dementsprechend die Einheit der Erkenntnisorientierung des Vollzugs – dem jeweiligen »Bezugssinn« – mit einer wechselnden Wahrnehmungsorientierung hervorgehoben wird. Entsprechend wird die Wahrnehmungsorientierung in ihrer veränderlichen Ausrichtung anders als in der genetischen Phänomenologie Husserls als zur intentionalen Sinngebung ursprünglich mit gehörig betrachtet. Weil Bezugssinn und Vollzugssinn als Ausdruck von Lebensinteresse eine ungeschiedene Einheit bilden, bestimmt die Wahrnehmungsorientierung die intentionale Bezugnahme und ihre Erkenntnisorientierung als ein bestimmender Richtungssinn von vornherein mit. Sie wird deshalb auch nicht wie in Husserls Konzeption als eine subjektive Konstitutionsbedingung der Realisierung einer Erkenntnisorientierung im Bewusstsein von den objektiven Bedingungen der Konstitution – der intentionalen Sinn­ gebung – getrennt. »Das Leben wird gelebt, insofern die Lebenden in ihm aufgehen in irgendeiner Richtung.« [Heidegger, GA 58, S. 35] Die Gerichtetheit ist hier Ausdruck des Lebens, seiner Wechselhaftigkeit und Veränderlichkeit, die sich darin zeigt, dass es in jeweils verschiedenen und anderen Lebensrichtungen lebt. Hier geht es also nicht primär um die Sachorientierung, es jeweils mit einem besonderen Gegenstand zu tun zu haben, auf den sich unsere Erkenntnis fixiert, sondern um die »Mannigfaltigkeit der Lebenstendenzen« [ebd., Überschrift, S. 32], eine wechselhafte Wahrnehmungsorientierung mit ihrem »Variations­ reichtum des Richtungsstils« [ebd., S. 38], die sich immer anderen Gegenständen zuwendet: »Du, er, sie, wir leben in einer Richtung […] momentan in der: die Vorlesung zu ›hören‹; ich selbst sie zu halten. Ich gehe ins Kolleg z. B. morgens, nachmittags arbeite ich zu Hause. Der eine beschäftigt sich mit dieser, der andere mit jener Wissenschaft. Der arbeitet intensiv, selbständig, jener anfängerhaft, rezeptiv mit ständigen Hemmungen. Ich setze mich zu Tisch: spüre Müdigkeit, brauche etwas, das mich aufkratzt, gehe ins Konzert, höre Bach; ein andermal sehe ich mir Bilder an, lese Gedichte; ich gehöre in eine religiöse Gemeinschaft – das ›ich gehöre‹ (latente und doch wache Tendenz) –, an bestimmten Tagen 490 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«

und Stunden bin ich dann besonders lebendig und in ihr lebend; betätige mich in einer akademischen Vereinigung; ich treibe Sport, gehe zum Wählen, bin politisch tätig – ›ich halte‹ mich immer ›irgendwo‹ ›auf‹.« [Heidegger, GA 58, S. 32] Die Einheit von Erkenntnis- bzw. Sachorientierung (dem »Bezugssinn«) mit einer jeweiligen Wahrnehmungsorientierung (dem »Vollzugssinn«) in dieser konkreten Intentionalität einer besonderen Lebensrichtung, für die etwas überhaupt nur von Bedeutung sein kann, insofern es von Interesse ist, führt dazu, dass die Welt, in der sich die Wahrnehmung jeweils orientiert, zunächst als eine konkrete Umwelt bestimmt wird. Wir wenden uns immer anderen und neuen Dingen zu, bewegen uns damit in wechselnden Umwelten, die zudem einen variablen Umfang haben: »Ich habe einen bestimmten, wenn auch variablen, sich inhaltlich bald weitenden, bald sich verengenden Umkreis von ›Sachen‹, die mein Leben zu einer bestimmten Zeit so ›in Anspruch nehmen‹, zu anderen Zeiten anders, die ›in‹ der Richtung meines Lebens liegen (wirklich ›drin‹ sind).« [Heidegger, GA 58, S. 32] Heidegger versteht bezeichnend solche Umwelten als okkasionell wechselnde Wahrnehmungsmilieus, gebunden an eine jeweilige intentionale Wahrnehmungsorientierung als Ausdruck der Lebensbedeutsamkeit unsteten Lebens, einem Lebensstrom, in dem alles verfließt und nichts von Dauer ist.59 Deshalb muss die Frage entstehen nach dem Bedingungsverhältnis von okkasionellem und habituellem Sinn, von begrenzter Umwelt und umfassender Welt. Schon in diesen frühen Vorlesungen neigt Heidegger dazu, die Möglichkeit von habitueller Sinnverfügung mit einer der wechselnden Wahrnehmungsorientierung überhaupt vorgängigen Sinnvorgabe, einem »Fonds«, einem umfassenden »Reservoir« an Welt-Bedeutsamkeit, zu begründen.60 Demzufolge ist die mit der Zuwendung zu verschiedenen Dingen verbundene Sinngebung durch das okkasionell wechselnde Interesse zu unterscheiden von dem im eigentlichen Sinne »bedeutungsverleihenden Akt« in Form einer intentional-objektivierenden Leistung. 59

60

Dafür steht bei Heidegger die Metapher vom Mitschwimmen im Lebensstrom, das ohne zurückzublicken im Hier und Jetzt einer jeweiligen Lebenssituation aufgeht: »Ich schwimme im Strom mit und lasse schlagen die Wasser und Wellen hinter mir. Ich schaue nicht zurück, und im nächsten lebend lebe ich nicht im eben gelebten Begegnis oder weiß um es als eben gelebten. Ich gehe auf in der jeweiligen Situation und in der ungebrochenen Situationsfolge und zwar in dem, was mir in der Situation begegnet.« [Heidegger, GA 58, S. 117] »Jeder Mensch trägt in sich einen Fonds von Verständlichkeiten und unmit­ telbaren Zugänglichkeiten.« [Heidegger, GA 58, S. 34] Vgl. dazu Kap. I,5.

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Die subjektiv inter­ essierte, selektive Wahrnehmung einer besonderen Umwelt wird so nicht etwa als der Ursprung der Weltbildung angesehen; die Selektion von Sinn erklärt sich vielmehr durch den objektivierenden »Bezugssinn« und seine Nutzung des »Fonds« von vorgegebenen Bedeutungen »an sich« in der Erfassung eines der verschiedenen »Weltstücke« als Rahmen für die Orientierung.61 Es ist bezeichnend, dass Heidegger seinen deskriptiven Befund, wonach sich die Umwelt als Umkreis der interessierten Wahrnehmung verengen und erweitern kann, nicht zu einer dynamischen, feldtheoretischen Erklärung der Weltbildung durch die umweltliche Orientierung nutzt. Stattdessen leitet er den Sinn der Wahrnehmungsorientierung, mit jeweils verschiedenen Dingen in jeweils anderen Umwelten umzugehen ab aus der veränderlichen Konstitutionsbestimmung eines unveränderlich Gegebenen in Gestalt eines von wechselnden Umständen der Wahrnehmung unabhängigen kulturellen Habitus, dem einer Gruppe von Menschen gemeinsam zugänglichen »Zweckzusammenhang« von Gebrauchsdingen.62 Heidegger betont nun auffallend die Identität einer gleichbleibenden Konstitutionsbestimmung in der selektiven Wahrnehmung, beansprucht »jedem in gleicher Weise [Herv. d. Verf.] zugängliche Weltstücke« [Heidegger, GA 58, S. 34].63 Das ist der untrügliche Hinweis darauf, dass die Wahrnehmungsorientierung und ihre okkasionelle Sinn­gebung durch das Lebensinteresse nicht als ursprünglich ordnend und habitualisierend angesehen wird. Das Wahrnehmungsinter­ esse bildet keine Umwelten in Gestalt wechselnder Wahrnehmungs­ milieus, es wählt sie nur aus, denn die gleichbleibende Ordnung und dauerhafte Organisation dieser Umwelten verdankt sich letztlich einem Konstitutionszusammenhang der Aktualisierung eines Habitus: der Möglichkeit einer nachträglichen Veranschaulichung einer habituellen Sinnvorgabe, welche nicht etwa der Wahrnehmungsbewegung 61

62

63

»Das Leben begegnet in jedem Moment seines Ablaufs einem anderen Welt­ stück oder ›ist es‹.« [Heidegger, GA 58, S. 34] Vgl. zu dieser Problematik auch Kap. I,5. Aus dem unmittelbar zugänglichen »Fond von Verständlichkeiten« folgert Hei­­degger: »Es gibt für bestimmte Gruppen von Menschen gewisse jedem in gleicher Weise zugängliche Weltstücke: die Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, Verkehrsmittel, ›öffentliche‹ Einrichtungen […]; gewisse jedem zugängliche Zweckzusammenhänge: Schule, Parlament usf.« [Heidegger (GA 58, S. 34] Vgl. dazu die vorausgehende Fußnote.

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7) Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«

entstammt, diese als statische Konstitutionsbedingung vielmehr erst möglich macht. Sein und Zeit setzt an genau diesem methodisch neuralgischen Punkt an, der den Scheidepunkt markiert zwischen einer feldtheoretischen und konstitutionstheoretischen Auffassung der Weltbildung. Die Wahrnehmungsorientierung ist feldtheoretisch eine variable Sinn­gebung, wie das Heideggers Beschreibung in der Vorlesung von 1919/20 hervorhebt. Nicht nur erweitert und verengt sich der Wahrnehmungsumfang in der Zuwendung zu immer anderen Sachen. Man wächst in eine bestimmte Lebensaufgabe hinein, wodurch sich der Lebenszusammenhang habituell verfestigt. Heideggers Beschreibung solcher Habitualisierungsprozesse bleibt jedoch zweideutig und methodisch schwankend, wenn im Falle des interessierten Umgangs mit anderen und fremden Menschen nicht die Dynamik möglicher neuer Sinnverknüpfungen betont wird, sondern statt dessen deren apriorische Regulierung durch selektiv wirkende konstitutive Habitualitäten, wie sie solche immer schon eingelebten Sitten und Bräuche darstellen.64 Für die methodische Aufarbeitung solcher synthetischer Leistungen der umweltlich orientierten Wahrnehmung, auf deren ursprünglich sinngebende und auch habitualisierende Leistung Heidegger zumindest hingewiesen hatte, findet sich in der Systematik von Sein und Zeit offenbar kein Platz mehr. Denn der Sinn der umweltlichen Wahrnehmungs­orientierung reduziert sich nun hermeneutisch-konstitutionstheoretisch bestimmt voll und ganz auf den der Auslegung eines bereits Vorverstandenen: dem Weltganzen in seiner Bedeutsamkeit. Die wechselnde Wahrnehmungsorientierung stiftet demnach keine Sinnzusammenhänge, sie bezieht sich interpretie­ rend auf einen durch das wahrnehmungsvorgängige Verstehen immer schon umfassend vorgegebenen Zusammenhang der Erkenntnis. In Sein und Zeit erhebt Heidegger den ausdrücklichen Anspruch, »die heute vielgebrauchte Rede ›der Mensch hat seine Umwelt‹« fundamentalontologisch zu klären [Heidegger 1979, § 12, S. 57]. Die unaufgelöste Zweideutigkeit einer feldtheoretischen und zugleich kon­ sti­tutionstheoretischen Betrachtung der Weltbildung in den früheren 64

»Ich habe einen bestimmten, wenn auch variablen, sich inhaltlich bald weitenden, bald verengenden Umkreis von ›Sachen‹ […]. Ich wachse in einen Beruf hinein, es kommt eine gewisse Stabilität ins Leben – auch nur ein bestimmter Typus von Tendenz. Mein Verkehr mit anderen Menschen erfährt eine bestimmte Selektion, durch Brauch und andere Tendenzen bestimmt.« [Heidegger, GA 58, S. 32]

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

Vorlesungen erscheint nun vollständig aufgelöst in die Eindeutigkeit der hermeneutisch-konstitutionstheoretischen Bestimmung. Die Wahrnehmungsorientierung verliert in Sein und Zeit ihren »lebens­ philosophischen« Sinn eines ursprünglich sinngebenden, subjektivbeweglichen Lebensinteresses. Ihre Bedeutung reduziert sich nunmehr auf die eines erkennend-objektivierenden Interpretationsvollzugs im Rahmen des hermeneutischen Bedingungsverhältnisses von Verste­ hen und Auslegung. Der primäre Zugang zur Welt ist nach Heidegger nicht der eines »theoretischen« Welterkennens [vgl. Heidegger 1979, § 13, S. 59 ff], das die Welt als eine Form der Subjekt-Objekt-Beziehung betrachtet [ebd., S. 60]. Die Welt wird ursprünglich erschlossen im praktischen Umgang mit innerweltlich Seiendem, den Zeugdingen. Auch hier ist die Welt primär durch ein erkennendes Verhalten erschlossen, freilich nicht ein thematisch-vergegenständlichendes »nur noch vernehmendes Erkennen, sondern das hantierende, gebrauchende Besorgen, das seine eigene ›Erkenntnis‹ hat« [ebd., § 15, S. 67]. Dieses originär praktische Erkennen, das Heidegger »Umsicht« nennt, unterscheidet sich nun dadurch vom theoretischen, dass es primär nicht den Sinn der the­ matisch-erfassenden Gegenstandserkenntnis hat, sondern der Orien­ tierung in einer Umwelt: »Das umsichtige Übersehen erfaßt nicht das Zuhandene; es gewinnt vielmehr eine Orientierung innerhalb einer Umwelt.« [Ebd., § 17, S.579] Die systematische, nähere Bestimmung der praktischen Erkenntnis als einer Form von umsichtiger, wahrnehmungsmäßiger Orientierung folgt bei Heidegger aus dem hermeneutischen Ansatz, den Seins­charakter des Zuhandenen von seiner Bedeutsamkeit, der Struktur der zeichenhaften Verweisung her, zu fassen. »Verweisen ist, extrem formal gesprochen, ein Beziehen.« [Heidegger 1979, § 17, S. 77] Dieses Beziehen impliziert den Doppelsinn sowohl eines Zeichens als auch einer Verweisung und damit die mögliche Aufhebung der doppeldeutigen Erschließung von Umwelt und Welt durch Wahrnehmung und Erkennt­nis in dem hermeneutischen Konstitutionsverhältnis von Verstehen und Auslegung. Heidegger versteht nämlich die Zeichenhaftigkeit der Verweisung, in der die umweltliche Orientierung zum Ausdruck kommt, als eine nachträgliche – und wie es sogar heißt – zufällige Konkretisierung des ursprünglichen Verstehens von Welt als einem umfassenden Zusammenhang der Verweisung.65 Diese Zufäl65

»Daß das Wozu der Dienlichkeit im Zeigen seine Konkretion erhält, ist der

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7) Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«

ligkeit besagt, dass die durch das Zeichen erschlossenen Umweltcharaktere und die in ihnen zum Ausdruck kommende situative Orientierung der Wahrnehmung als ontologisch nachgeordnet zu verstehen sind einer ursprünglich umfassenden Welterkenntnis gegenüber, für die eine solche Konkretisierung der Verweisung durch das Zeichen im Prinzip nicht erforderlich ist. Die Wahrnehmungsorientierung erweist sich damit als durch eine ursprüngliche Erkenntnisorientierung gebunden, aber nicht umgekehrt nimmt sie Einfluss auf die Ordnung dieser Erkenntnis – schon hier verrät sich die konstitutionstheoretische Prämisse von Heideggers Analyse des Phänomens der zeichenhaften Verweisung. Die Leistung der »Zeichenstiftung« ist nach Heidegger, »jederzeit durch ein Zuhandenes sich die jeweilige Umwelt für die Umsicht melden zu lassen« [Heidegger 1979, § 17, S. 80]. Sie hat dabei zugleich die Funktion, Orientierung zu geben und zu sichern, d. h. für den praktischen Umgang zu gewinnen und verfügbar zu machen.66 Heideggers Beispiel des Blinkers [ebd., S. 78] macht diesen Zusammenhang von praktischer Umsicht und Wahrnehmungsorientierung in einem begrenzten Wahrnehmungsumfeld, der Umwelt, deutlich. Der Blinker signalisiert das Abbiegen vom Weg und gibt damit den anderen am Verkehr Beteiligten eine Orientierung für ihr eigenes Verhalten im Verkehr. Die Verkehrssituation ist eine besondere Umwelt, die Umsicht verlangt, aber nicht im Sinne der objektivierenden Erkenntnis, welche das Verhalten aller Verkehrsteilnehmer gleichgültig erfassen würde, sondern nur solche wahrnimmt, welche Einfluss haben auf die eigene Orientierung. Der Blinker »wendet sich an die Umsicht des besorgenden Umgangs, so zwar, dass die seiner Weisung folgende Umsicht in solchem Mitgehen das jeweilige Umhafte der Umwelt in eine ausdrückliche ›Übersicht‹ nimmt« [ebd., S. 79]. Diese »Übersicht« ist nun nicht nur die Metapher für eine alles überschauende Erkenntnisleistung, sondern der Ausdruck des originären Wahrnehmungscharakters des Zeichens. Das Zeichen übernimmt nach Heidegger »das »Werk« des Auffallenlassens von Zuhandenem« [ebd., S. 80]. Zeichen werden nur dann bemerkt, wenn sie auffällig werden, also die Aufmerksamkeit des wahrnehmenden Bewusstseins erregen. Die Situation, welche

66

Zeugverfassung als solcher zufällig.« [Heidegger 1979, § 17, S. 78] »Zeichen der beschriebenen Art lassen Zuhandenes begegnen, genauer, einen Zusammenhang desselben so zugänglich werden, daß der besorgende Umgang sich eine Orientierung gibt und sichert.« [Heidegger 1979, § 17, S. 79]

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

die Orientierung durch das Zeichen stiftet, ist demnach die wahrneh­ mungsmäßige Orientierung in einer Umwelt. Heideggers phänomenologische Analyse in ihrer konstitutionstheoretischen Voreingenommenheit, das Zeichen von vornherein als die bloße Konkretisierung einer Verweisung aufzufassen, unterschlägt allerdings hier bereits den entscheidenden Zug, dass die Orientierung durch das Zeichen nicht nur die Zweckmäßigkeit und Dienlichkeit des Zeugs – also im Umgang mit den Dingen ihre Funktion der Bewandtnis für- und d. h. untereinander – umfasst, sondern darüber hinaus den unverzichtbaren Bestandteil, dass es mir etwas zu erkennen gibt, für meine Orientierung relevant ist. Das Zeichen entfaltet nur dann seine Leistung der wahrnehmenden Orientierung, wenn ein lebendiges Wahrnehmungsinteresse von Seiten eines an der Wahrnehmungsund Handlungssituation wirklich aktiv beteiligten Subjektes im Spiel ist. Der funktionelle »Um-zu«-Charakter der Dienlichkeit und Zweckmäßigkeit, den Heidegger als Grundzug des Zeigens hervorhebt [vgl. Heidegger 1979, § 17, S. 78], ist auch von einem an der Verkehrssituation unbeteiligten Zuschauer zu erfassen. Diesen zum Phänomencharakter des Zeichens untrennbar gehörenden Sinn einer subjektiven Bedeutungsrelevanz für mich übersieht Heideggers rein funktionalistische Analyse des Bewandtniszusammenhangs nicht zufällig deshalb, weil er über die Konstitutionsbestimmung des Zeichens als der Konkretisierung einer Verweisung überhaupt hinausgeht. An Heideggers ontologischer Bestimmung der »Weltlichkeit der Welt« [Heidegger 1979, § 18, S. 33] allein aufgrund des Verweisungscharakters des Zuhandenen ist auffällig, dass sie alle diejenigen, mit dem Zeigen des Zeichens notwendig verbundenen Wahrnehmungs­ charaktere vollständig eliminiert. Die methodische Absicht ist offenbar, die Verweisung als eine an die »wirkliche« Wahrnehmung einer Umwelt nicht gebundene vorgängige Welterschlossenheit darzustellen, um sie schließlich dem an keinen begrenzten Horizont der Auslegung gebundenen universellen und apriorischen Verstehen des Weltganzen im Rahmen der hermeneutischen Konstitutionsbestimmung zuzuordnen. Vom Zeichen unterscheidet sich die Verweisung vor allem modalkategorial durch ihren Möglichkeitscharakter. »Das Wobei es die Bewandtnis hat, ist das Wozu der Dienlichkeit, das Wofür der Verwendbarkeit.« [Ebd., S. 84] Verwendbarkeit und nicht aktuelle Ver­ wendung – auf dieser modalen Grundlage einer reinen Möglichkeitsbestimmung wird der Verweisungszusammenhang der Bewandtnis zu einer apriorischen Erkenntnisbedingung für jede aposteriorisch-fakti496 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«

sche, wirkliche Wahrnehmung: »Dieses »apriorische« Bewendenlassen ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Zuhandenes begegnet«, es ermöglicht »die Freigabe jedes Zuhandenen als Zuhandenen« [ebd., S. 85]. Damit wird letztlich jede selektive Beschränkung im praktischen Umgang mit nur ganz bestimmtem Zuhandenen im Prinzip aufgehoben, die zur zeichenhaften Konkretisierung der Verweisung und der durch sie möglichen Wahrnehmungsorientierung in einem besonderen Wahrnehmungsfeld, einer Umwelt, gehört. Und genau damit hat die phänomenologische Deskription und Analyse alle Bedingungen erfüllt, um Zeichen und Verweisung, Umwelt und Welt durch das Konstitutionsverhältnis von Verstehen und Auslegung zu bestimmen. »Der Blick, in dem der Zeugzusammenhang zunächst und völlig unauffällig und unbedacht steht, ist der Blick und die Sicht der praktischen Umsicht, des praktischen alltäglichen Sichorientierens. Unbedacht heißt: nicht thematisch erfaßt für ein Bedenken der Dinge, sondern umsichtig orientieren wir uns an ihnen. Die Umsicht entdeckt und versteht primär das Seiende als Zeug.« [Heidegger, GA 24, S. 232] Der Zeugzusammenhang bleibt einerseits thematisch unauffällig, anderseits wird er aber durch die Umsicht gerade auffällig und dadurch ursprünglich entdeckt. Der hier einmal mehr zum Ausdruck gebrachte Doppelsinn von Welt und Umwelt, von Dienlichkeit und Bewandtnis als Verweisung und als Zeichen verlangt eine Klärung, welcher von beiden – Zeichen oder Verweisung – die Funktion der Erschließung der Bedeutsamkeit ursprünglich zukommt. Zum zeigenden Zeichen, mit dem sich das Dasein in einer konkreten Umwelt orientiert, gehört, dass es ein Zeugganzes jeweils ursprünglich entdecken kann: »Das Zeigen beschafft nicht nur die umsichtig orientierte Verfügbarkeit eines zuhandenen Zeugganzen und der Umwelt überhaupt, das Zeichenstiften kann sogar allererst entdecken. Was zum Zeichen genommen ist, wird durch seine Zuhandenheit erst zugänglich.« [Heidegger 1979, § 17, S. 80] Durch das Zeigen des Zeichens wird der Bewandtniszusammenhang als eine konkrete Umwelt der praktischen Orientierung überhaupt entdeckt und damit verfügbar. Aber nicht von dieser Bildung einer Umwelt her wird die Weltlichkeit der Welt ontologisch bestimmt, sondern von der einer möglichen Verwendbarkeit, dem unauffälligen, unthematischen, noch gar nicht zeichenhaft-bestimmten, unbestimmten Verweisungsbewusstsein her. Die »Welt« braucht demnach nicht etwa durch die Umsicht und ihre Wahrnehmungsorientierung a posteriori entdeckt zu werden, sie ist schlicht und einfach durch eine wahrnehmungsvorgängige Erkenntnisorientierung immer schon 497 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

a priori »vorentdeckt«. Hier reicht es aus, dass die Bewandtnisganzheit – wie Heidegger wörtlich sagt – nur »irgendwie« erschlossen ist67, d. h. in einer bloßen Erkenntnisorientierung vorkommt völlig ohne jede Konkretion durch eine bestimmte, die Umweltbezüge ursprünglich entdeckende Wahrnehmungsorientierung. In dem Sinne ist die Welt anders als die Umwelt, das jeweilige Umfeld von innerweltlich Seiendem, nicht empirisch »entdeckbar«68. Genau an dieser methodisch entscheidenden Weggabelung greift bei Heidegger, ganz offensichtlich eine konstitutionstheoretische Idealisierung in die Beschreibung der Welterschlossenheit ein: Was die Welt ontologisch ist wird keineswegs vom faktisch Begrenzten der empirischen Wahrnehmung her verständlich, der durch auffällige Zeichen orientierten Umwelt. Die Welt als umfassende Totalität von Sinnbezügen erschließt sich vielmehr durch die Zusammenhänge der Bedeutsamkeit in einem entgrenzenden Konstitutionsverhältnis, wo das Wirkliche und Faktische des Zeichens zur bloß eingeschränkten Realisierung eines Uneingeschränkten und Ideal-Möglichen wird, einer Sinnkontinuität stiftenden Verweisung. Die Bildung eines begrenzten Wahrnehmungsfeldes durch die praktische Umsicht und ihre Orientierung bleibt nach Heidegger etwas lediglich »Ontisches«, eine bloße Bestimmung und Ausdifferenzierung des umfassenden In-der-Welt-Seins durch das jeweils innerweltlich Seiende. Dem entspricht schließlich auch die Bestimmung der Zugangsart der Umsicht als eine Form der explikativen, verstehenden Auslegung. Die entdeckende Umsicht ist eine Form nicht etwa der ursprünglichen Stiftung einer Weltsicht, sondern lediglich die Auslegung eines durch die Leistung des Verstehens immer schon vorauszusetzenden Vorverständnisses von Welt: »Die Umsicht entdeckt, das bedeutet, die schon vorverstandene Welt wird ausgelegt.« [Heidegger 1979, § 32, S. 148] Das Verstehen durch seinen Entwurfs- und Möglichkeitscha-

67 68

Heidegger 1979, § 18, S. 85. Vgl. die folgende Fußnote. »Bewandtnis selbst als das Sein des Zuhandenen ist je nur entdeckt auf dem Grunde der Vorentdecktheit einer Bewandtnisganzheit. […] Diese vorentdeckte Bewandtnisganzheit birgt einen ontologischen Bezug zur Welt in sich. Das Bewendenlassen, das Seiendes auf Bewandtnisganzheit hin freigibt, muß das, woraufhin es freigibt, selbst schon irgendwie erschlossen haben. Dieses, woraufhin umweltlich Zuhandenes freigegeben ist, so zwar, daß dieses als innerweltlich Seiendes zugänglich wird, kann selbst nicht als Seiendes dieser entdeckten Seinsart begriffen werden. Es ist wesenhaft nicht entdeckbar« [Heidegger 1979, § 18, S. 85].

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7) Welt und Umwelt in »Sein und Zeit«

rakter69 gibt der auslegenden Wahrnehmungsorientierung also eine Erkenntnisorientierung vor, die sie dann ausbildend expliziert und in diesem Sinne selektiv »verwirklicht«. Die interpretative, verstehende Auslegung hat »die Struktur des Etwas als Etwas« [ebd., S. 149] und damit den Sinn der explizierenden Bestimmung eines zunächst Unbestimmten. Die Als-Struktur von Verstehen und Auslegung impliziert das hermeneutische Konstitutionsverhältnis: »Das »Als« macht die Struktur der Ausdrücklichkeit eines Verstandenen aus, es konstituiert die Auslegung.« [Ebd.] Das ist kein Widerspruch zu Heideggers genereller Kritik der philosophischen Konstitutionstheorie als einer Form des theoretischen Denkens und der Vorhandenheitsontologie, insofern dieser spezifisch hermeneutische Sinn von Konstitution seine Beschränkung durch die ontologische Differenz von Sein und Seiendem enthält, wonach die Form der Konstitution durch die Auslegung letztlich ontisch, auf das bloß »Innerweltliche« bezogen bleibt und von daher als ursprünglich ontologisch und weltbildend gar nicht begriffen wird, vielmehr die Bildung des Lebens- bzw. Weltzusammenhangs eine ursprüngliche Leistung derjenigen, der explikativen, konstituierenden Auslegung notwendig vorausgehenden Funktion des Verstehens ausmacht.70 Aber genau damit kommt es zu keiner feldtheoretischen Bestimmung der umweltlichen Orientierung, weil die Umwelt als das Ontische und Innerweltliche der konstitutions­theoretischen Relativierung ausgeliefert zum bloßen Teil eines Ganzen wird, einem »Weltstück« nun nicht mehr als eine selbständige Insel im Lebensstrom, vielmehr ein die Welt lediglich ausschnitthaft repräsentierender, für sich genommen unselbständiger Weltteil. Sein und Zeit reduziert mit der idealisierenden Abstraktion der Verweisung vom Zeichen, welche die Verweisung als ideale Möglichkeitsbedingung der konkreten Zeichengebung zu erweisen sucht, den Sinn von Bewandtnis auf die bloß objektbezügliche Bedeutungsrelevanz. Dafür steht exemplarisch die ausschließlich funktionelle Zweckmäßigkeit von Gebrauchsdingen wie dem berühmten Hammer, insofern nur dieser eine a priori den Umgang mit den Dingen leitende Ordnungsfunktion zukommt. Solche für eine phänomenologische Feldtheorie zentralen Fragen der subjektbezüglichen Bedeutungs69

70

»Im Entwerfen des Verstehens ist Seiendes in seiner Möglichkeit erschlossen. Der Möglichkeitscharakter entspricht jeweils der Seinsart des vorverstandenen Seienden.« [Heidegger 1979, § 32, S. 151] Zu Heideggers lebensphilosophisch motivierter Umdeutung des Sinnes von Konstitution in seinen frühen Vorlesungen vgl. Kap. I,4.

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Teil C · Kap. I – Die Wahrnehmungsorientierung als Gegenstands­orientierung

relevanz, die von wechselnden Interessenlagen der Wahrnehmung herrühren, welche den Dingen Bedeutung geben entweder als wichtig oder unwichtig, sie ins Zentrum der praktischen Umsicht stellen oder als Marginalien eines bedeutungsirrelevanten Randbewusstseins beiseite schieben, haben für eine solche hermeneutisch-konstitutionstheoretische Betrachtung letztlich keine systematische Bedeutung, weil sie nicht eigentlich ordnungsrelevant sind. Die Lebensphilosophie und ihre Betonung eines fließenden, sich in verschiedenen Wahrnehmungsfeldern bewegenden Orientierungssinnes, welche den jungen Heidegger noch faszinieren konnte, hat für die hermeneutisch verfestigte Fundamentalontologie von Sein und Zeit ihre Anziehungskraft offenbar endgültig verloren. Die Bedeutsamkeit des Hammers in der durch das Verstehen im Voraus schon erschlossenen Welt, der vorentdeckten Bewandtnisganzheit, bleibt schließlich funktionell konstant unangesehen dessen, ob das Subjekt als ein Heimwerker den Hammer selbst in die Hand nimmt oder diese Tätigkeit an einen professionellen Handwerker delegiert.

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Kapitel II Phänomenologische Feldtheorie: Die Umwelt als Organisation der Wahrnehmungs­orientierung 1)

Von Husserl und Heidegger zu Gurwitsch: Die Struktur und Organisation des Wahrnehmungsfeldes

Die genetische Phänomenologie hat zwar immer wieder mehr oder weniger ausdrückliche Hinweise darauf gegeben, dass die Bildung von Umwelten durch die Wahrnehmungsorientierung eine eigene strukturbildende Leistung enthält, die aus der Konstitutionsbestimmung nicht vollständig ableitbar ist.71 Letztlich lag es aber nicht in ihrem systematischen Interesse, das Wahrnehmungsfeld als ein wirklich eigenständiges Organisationsprinzip zu erkennen und anzuerkennen. Der Grund dafür liegt in der genetisch-phänomenologischen Herleitung der Feldstruktur aus der assoziativen Weckung: Die Bildung von Umwelten geschieht grundsätzlich nicht durch eine aktive Leistung der intentionalen Sinngebung, einen wirklich bedeutungsverleihen­ den Akt, sie verdankt ihre Entstehung der bloßen Passivität, einer affektiv ausgelösten Ichzuwendung. So wird die Organisation des Wahrnehmungsfeldes letztlich doch wieder zurückgeführt auf eine Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung, die Weckung von aktivem Erkenntnisinteresse und die mit ihr verbundene Entwicklung eines geordneten Konstitutionsverhältnisses. Der systematische Versuch, mit Hilfe einer phänomenologischen Feldtheorie eine universelle Organisationstheorie und Philosophie der Wahrnehmung zu entwickeln, findet sich deshalb auch nicht in der genetischen Phänomenologie, solange sie als eine Konstitutionstheorie konzipiert ist, sondern erst in Aron Gurwitschs Abhandlung Das Bewußtseinsfeld, welche eine methodische Brücke zu schlagen sucht zwischen Phänomenologie und Gestalttheorie in der Verbindung von intentionaler und strukturaler Analyse der Wahrnehmung. Wenn Gurwitsch mit diesem Buchtitel an Husserls Terminus »Bewusstseinsfeld« anknüpft, so ist das in methodischer Hinsicht eher verwirrend als erhellend. Das Feld, wie es Gurwitsch versteht, ist nämlich kein Konstitutionsphänomen mehr, d. h. keine Form der Vorstellung, die 71 So etwa Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, vgl. dazu Teil C, Kap. I,2.

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

sich in einem vorstellenden Bewusstsein realisiert, sondern eine Be­ deutungsstruktur der Wahrnehmung, welche den Seinsmodalitäten des Bewusstseins als solchen vorgegeben ist. Der nicht mehr zu heilende Bruch, den Gurwitschs Theorie des Bewusstseinsfeldes mit der genetischen Phänomenologie Husserls vollzieht, wird deutlich, wenn man sich die systematische Einführung des Terminus »Bewusstseinsfeld« in Erfahrung und Urteil vergegenwärtigt. Wie entsteht das Bewusstseinsfeld bei Husserl? Bereits in der Passivität kommt es durch die Affektion und ihre Weckung von Aufmerksamkeit zu einer Strukturbildung der Abhebung und Heraushebung eines Gegenstandes im Vordergrund des Bewusstseins gegenüber seiner hintergründigen, mehr oder weniger unbewussten Umgebung: »Wir können auch sagen: vor jeder Erkenntnisbewegung liegt schon der Gegenstand der Erkenntnis als Dynamis, die zur Entelechie werden soll. Mit dem Voranliegen ist gemeint: er affiziert als im Hintergrund in unser Bewusstseinsfeld tretender, oder auch: er ist schon im Vordergrund, er ist sogar schon erfaßt, weckt aber erst dann das gegenüber allen anderen Interessen der Lebenspraxis ausgezeichnete ›Erkenntnisinteresse‹. Dem Erfassen aber liegt immer voran die Affektion, die nicht ein Affizieren eines isolierten einzelnen Gegenstandes ist. Affizieren heißt Sichherausheben aus der Umgebung, die immer mit da ist, das Interesse, eventuell das Erkenntnisinteresse auf sich ziehen.« [Husserl 1972, § 7, S. 24] Die Gegenstandsbeziehung als eine Form von Bewusstsein entsteht nach Husserl durch eine ursprüngliche Affektion als derjenigen »Urassoziation«, welche das Objekt mit dem Bewusstsein verbindet.72 Diese erste Weckung von Bewusstsein und Aufmerksamkeit hat stets die Form einer passiven, affektiv ausgelösten wahrnehmungsmäßigen Zuwendung zum Gegenstand, die sich aber nicht etwa auf vereinzelte Gegenstände beschränkt, vielmehr von vornherein zur Abhebung eines ganzen Wahrnehmungs- bzw. Bewusstseinsfeldes führt73, als der »Einheit von gleichzeitig anschaulich im Wahrnehmungsfelde vorge72

73

Husserl unterscheidet die ursprünglich Bewusstsein weckende Affektion als die »Urassoziation« von der »Fortpflanzung« dieser ersten Affektion in der reproduktiven Assoziation, durch welche sich ein Weckungskontinuum der Erinnerung konstituiert. Vgl. Husserl, Hua XI, § 33, S. 151ff. »Dem Erfassen aber liegt immer voran die Affektion, die nicht ein Affizieren eines isolierten einzelnen Gegenstandes ist. […] Die Umgebung ist mit da als ein Bereich der Vorgegebenheit, einer passiven Vorgegebenheit, das heißt einer solchen, die ohne jedes Zutun, ohne Hinwendung des erfassenden Blickes, ohne alles Erwachen des Interesses immer bereits da ist. Diesen Bereich passiver

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1) Von Husserl und Heidegger zu Gurwitsch

gebenen und affizierenden Gegenständlichkeiten, als eine Einheit der Gleichzeitigkeit von Affizierendem« [Husserl 1972, § 35, S. 180]. Diese Funktion des Weckungsbewusstseins, das Weltbewusstsein zu strukturieren in Gestalt eines gegliederten »Bewusstseinsfeldes« und seiner ungegliederten Umgebung, ist erkenntnistheoretisch bedeutsam in doppelter Hinsicht: Sie begründet einmal durch die ursprünglich passive, jeder aktiven Erkenntnisleistung vorausgehende Vorgegebenheit des Feldes die Unerschütterlichkeit des Weltglaubens, der dieser prinzipiellen Erkenntnisvorgängigkeit wegen durch aktive Erkenntnisleistungen wie die des Urteils gar nicht ursprünglich gestiftet, d. h. auch nicht bewährt oder in Zweifel gezogen werden kann.74 Zum anderen zeigt sie, dass die Wahrnehmung in ihrer affektiven Genese eine strukturbildende Rolle hat, indem sie eine Umwelt als ein Orientierungsschema für die Wahrnehmung vorgibt. Die Aussonderung des Bewusstseinsfeldes durch die affektiv ausgelöste Wahrnehmungsorientierung enthält eine diakritische Funktion, ein »Sichherausheben [des gegliederten Feldes, d. Verf.] aus der Umgebung« [Husserl 1972, § 7, S. 24], die ihrer prinzipiellen Erkenntnisvorgängigkeit wegen nicht einfach als eine Form der Objektbestimmung im Rahmen eines Konstitutionsverhältnisses aufgefasst werden kann. Der Weltbezug ist zwar in Hinblick auf die Ordnung der Fundierung ein der Erkenntnis vorgängiges Wahrnehmungsphänomen – wird er deshalb aber auch erkenntnisvorgängig organisiert? Genau das verneint schließlich die phänomenologische Konstitutionstheorie. Strukturbildung und Organisation der Wahrnehmung fallen genetisch-phänomenologisch nicht einfach zusammen. In der zunächst nur wahrgenommenen Feldstruktur ist wie Husserl sich hier ungemein sprechend ausdrückt die Erkenntnisbewegung »als Dynamis, die zur Entelechie werden soll« bereits beschlossen. Das Wahrnehmungsfeld wird demnach nicht durch sich selbst, sondern die in ihm als Entwicklungsmöglichkeit bereits angelegte dispositionelle Konstitutionsbestimmung organisiert. Husserls genetische und Heideggers hermeneutische Phänomenologie verbindet bei aller Unvereinbarkeit ihrer methodischen AusVor­gegebenheit setzt alle Erkenntnisbetätigung, alle erfassende Zuwendung zu einem einzelnen Gegenstande voraus« [Husserl 1972, § 7, S. 24]. 74 »Weltbewußtsein ist Bewußtsein im Modus der Glaubensgewißheit, nicht durch einen im Zusammenhang eigens auftretenden Akt der Seinssetzung, der Erfassung als daseiend oder gar des prädikativen Existenzialurteils erworben.« [Husserl 1972, § 7, S. 25]

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

gangspunkte die Gemeinsamkeit des Festhaltens am konstitutions­ theo­retischen Ansatz, wenn es um die Erklärung der Organisation von solchen in der Wahrnehmung wirksamen Feldbildungen geht. Bei Husserl bleibt das »Bewusstseinsfeld« eine nur subjektive Form der Konstitution, eine Differenzierung von gegebenen Bewusstseinsinhalten nach Graden der affektiven Lebendigkeit, des Bewussten und Unbewussten. Die Ordnung und Organisation ist deshalb auf die objektive Seite der Konstitution, die intentionale Sinngebung, zurückzuführen. Dort ergibt sie sich aus der Konstitutionsbestimmung, der Verfolgung eines systematischen Erkenntnisinteresses. Der junge Heidegger wendet sich zwar einerseits ab von jeder erkenntnistheoretisch fundierten Konstitutionstheorie mit seiner lebensphilosophisch motivierten Kritik, wonach die intentionale Leistung nie isoliert als eine pure Erkenntnisleistung zu betrachten ist, sondern immer das Moment eines Lebensvollzugs bleibt. Andererseits distanziert er sich ebenso deutlich vom Intuitionismus der Lebensphilosophie durch eine Lebenswelttheorie, welche den intentionalen »Bezugs-« vom »Vollzugs«-sinn in ihrer Verbundenheit gerade trennt. In der systematisch ausgearbeiteten hermeneutischen Phänomenologie fällt so schließlich der geordnete Weltbezug mit dem Lebensvollzug, der sich in okkasionellen Wahrnehmungsmilieus bewegt, keinesfalls zusammen, sondern in Gestalt eines Konstitutionsverhältnisses von Verstehen und Auslegung, der Erfassung des umfassenden Zusammenhangs der Bedeutsamkeit und seiner partiellen veranschaulichenden Aneignung, auseinander.75 Mit Heidegger teilt Gurwitsch die Kritik am lebensphilosophischen Intuitionismus, die jedoch nicht eine wenn auch ontologisch relativierte Wiederaufnahme des Ordnungsbegriffs der Konstitution zur Folge hat, sondern zu dessen Ersetzung durch eine strukturalistisch begründete Feldtheorie führt. Das Motiv für Gurwitsch, Strukturbildung und Organisation des Wahrnehmungsfeldes strukturalistisch gleichzusetzen statt konstitutionstheoretisch zu trennen, ist das ungelöste Problem der Habitualisierung der Feldstruktur, wie es Gurwitsch exemplarisch in seiner Kritik an William James formuliert: Kommen Ordnung und Organisation durch pragmatische Motive gewissermaßen von außen in den an sich ungeordneten Lebensstrom hinein, dann bleibt uneinsichtig, wie sich die Feldstruktur über ihren Ursprung in einer okkasionellen Affektion hinaus zu einer Ordnung verfestigen kann, welche nicht nur einmalig, sondern wiederholt wahrgenommen 75

Vgl. dazu das vorige Kapitel I,5.

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1) Von Husserl und Heidegger zu Gurwitsch

wird. Husserl spricht in Bezug auf die passive Vorgegebenheit des Feldes von voraffektiven Gesetzmäßigkeiten der Einheitsbildung.76 Die intentionale Gegenständlichkeit wird als solche nicht durch die Affektion erzeugt. Das wäre ein psychologistisches Missverständnis der genetisch-phänomenologischen Entdeckung, wonach die intentionale Beziehung kein bloß isoliertes Meinen und Erkennen verkörpert, worauf sie sich in der ausschließlich sprachanalytischen Betrachtung in den Logischen Untersuchungen reduzierte. Sie erscheint nun eingebettet in einen Motivationszusammenhang, ein affektives Weckungs­ bewusstsein77, bleibt jedoch »voraffektiv« in dem Sinne, dass die intentionale Einheit zur Bedingung einer ausschließlich affektiven Strukturbildung wird im Sinne der Entstehung eben des »Bewusstseinsfeldes«, d. h. verschiedener Modi des vorstellenden Bewusstseins, des affektiv Herausgehobenen und Unabgehobenen, des Bewussten und Unbewussten. Genau hier setzt die strukturalistische Korrektur von Gurwitsch ein: Die voraffektive Einheitsbildung wird aus ihrer Bindung an die affektive Weckung von Aufmerksamkeit gelöst, d. h. von der Entstehung verschiedener Seinsmodalitäten des vorstellenden Bewusstseins entkoppelt. Schon Husserls Rückgriff auf voraffektive intentionale Einheitsbildungen lässt sich als eine Adaptation derjenigen grundlegenden Entdeckungen der Gestaltpsychologie verstehen, wonach es keine isolierten Empfindungen gibt, sondern das Elementare der reinen Wahrnehmung in der Abhebung der Figur von einem Grund besteht. Doch bleibt Husserls Integration dieser gestalttheoretischen Einsicht konsti­ tutionstheoretisch fundiert, als sie die Figur-Grund-Beziehung eben als eine bloße Abhebung von einzelnen Sinnesdaten aus einem Sinnesfeld im Bewusstsein versteht. Für Gurwitsch dagegen ist gerade nicht diese bewusstseinsbildende Abgehobenheit der Gestaltqualität das Entscheidende für die Bildung der Feldstruktur, sondern eine intentionale Bedeutungsdifferenzierung: die Unterscheidung von Thema und thematischem Feld. Das »Anschauungsfeld«, so wie es Husserl versteht, ist keine Form von Bedeutungskonstitution. Eine wirkliche Bedeutungsdifferenzierung kann in die ausschließlich passive Vorgegebenheit des Feldes nur gelangen durch die Erkenntnisaktivität als Dynamis, die in der Weckung von Bewusstsein schließlich zur Entelechie werden soll: 76 77

Husserl, Hua XI, § 33, S. 134. Vgl. dazu Teil B, Kap. III,4. Zu Husserls Deutung der Intentionalität als ein Motivationszusammenhang, welcher der genetischen Analyse des Weckungserlebnisses vorausgeht, vgl. Sommer 1990, S. 80 f.

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

ein dispositionelles Konstitutionsverhältnis in Form der vorprädikativ schon angelegten Unterscheidung eines Gegenstandes als Substrat von wirklichen und möglichen prädikativen Bestimmungen. Gurwitschs konsequente Abkehr von jedem möglichen Versuch, die hermeneutische Dimension der Erfahrung konstitutionstheoretisch in einer intentionalen Vorstellungsaktivität zu fundieren, offenbart sich deshalb dort, wo er das Verständnis von thematischer Objektivierung reduziert auf die pure Erfassung einer Bedeutungsstruktur. Was damit entfällt, ist die für Husserls Intentionalitätskonzeption entscheidende Doppeldeutigkeit von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung, einer Leervorstellung, die durch eine anschauliche Vorstellung nachträglich schließlich erfüllt wird. Unter thematischer Erfassung versteht Husserl im Lichte einer solchen als komplexe Vorstellungsaktivität verstandenen intentionalen Bezugnahme eine Thematisierung von Unthematischen. In Bezug auf das weltbildende Horizontbewusstsein ergibt sich so die konstitutionstheoretische Dichotomie vorgegeben– gegeben: Der thematisch erfasste Komplex von Gegenständen ist stets das Einzelne, auf das ich in meinem Bewusstsein aufmerksam werde, das sich seinerseits in der Passivität des Unbewussten als eine gegenständliche Totalität bereits vorkonstituiert hat: die thematische Erfassung der Dinge in einem Bewusstseinsfeld, einer jeweils begrenzten Umwelt, hat stets die unthematische Vorgegebenheit des universellen Welthorizontes zur bedingenden Voraussetzung.78 Das Verhältnis von Thema und thematischen Feld wird nach Gurwitsch durch die Struktur der Bedeutungsrelevanz gegeben. Diese kann schon deshalb nicht als ein intentionales Horizontbewusstsein ausgelegt werden, weil dies die kategoriale Differenz der beiden aufeinander unreduzierbaren Ordnungsprinzipien der Gestaltkohärenz, in der sich das Thema darstellt, und der Relevanz, mit der sich die thematischen Bezüge des Themas zu seinem Feld realisieren, untergraben würde. Einerseits nimmt Gurwitsch den Husserlschen Begriff des Innenhorizontes auf, um damit die »Gestalt«, das Thema des thematischen Feldes, als ein Wahrnehmungsnoema intentional zu interpre78

»So ist für uns die Welt immerfort in doppeltem Sinne erfahren: vorgegeben, im Voraus da in mannigfachen wirklichen oder von wirklichen hergeleiteten Apperzeptionen, aber in der Passivität einig in einer fließenden und doch immer­­fort sich vereinheitlichenden Gesamtapperzeption, und thematisch ge­ geben, thematisch nach einzelnen Objekten als Substraten hervortretender Erfahrungsbestimmungen« [Husserl, Hua XXXIX, S. 42]. Zur genetisch- phänomenologischen Dichotomie vorgegeben–gegeben vgl. auch Teil B, Kap. III, 4.

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1) Von Husserl und Heidegger zu Gurwitsch

tieren. Doch verliert die Horizontintentionalität in der Identifizierung des Husserlschen Wahrnehmungsnoemas mit einer Gestaltqualität schließlich ihren konstitutionstheoretischen Sinn der Verwirklichung eines Ideal-Möglichen mit der Umdeutung des Sinnes horizontintentionaler Verweisungen in einen Assoziationskomplex.79 Noch weniger eignen sich die Relevanzbeziehungen zwischen Thema und thematischem Feld dazu, in eine horizontintentionale Vorstellungsaktivität der Thematisierungen von Unthematischem eingespannt zu werden. Gurwitsch macht hier mit Husserls Unterscheidung von relationaler und explikativer Erfassung ernst, welche seine genetische Konstitutionstheorie mit dem Begriff eines der Struktur des Innenhorizontes formgleichen Außenhorizontes verwässerte. Die thematische Rele­ vanz als eine Thematisierung von Unthematischen zu verstehen, würde einmal die Widersinnigkeit bedeuten, der Erfassung von Bedeutungsrelevanz eine Gestaltkohärenz als intentionale Grundlage zu unterschieben und damit eine logische Metabasis zu begehen, diejenige Struktur einer kohärenten Einheit von Teil und Ganzem, welche allein das Thema organisiert, auf die Beziehung des Themas zu seinem thematischen Feld zu übertragen. Die thematische Bedeutungsrelevanz ist demnach nicht selbst eine Form des Vorstellungshorizontes oder eingebettet in einen solchen, weder im Husserlschen noch im Heideggerschen Sinne einer Thematisierung unthematischer Sinngebungen, also keine Veranschaulichung einer auf die Erfassung des gegenständlichen Ganzen ausgerichteten Leerintention und auch keine bloß nachträgliche, zeichenhafte Konkretisierung in Form einer vorgängig und unthematisch das Bedeutungsganze erschließenden Verweisung durch ein einzelnes, thematisch-anschauliches Zeichen. Die freilich auch für Gurwitsch notwendige horizontintentionale Vergegenwärtigung der Bedeutungsrelevanz wird grundsätzlich nicht mehr im konstitutionstheoretischen, sondern strukturalistischen Sinne gedeutet als ein Fundierungsverhältnisses von Struktur und phänomenalem Ereignis: einer Strukturebene der thematischen Bedeutungserfassung vor und außerhalb der Vorstellung, die auf der Ereignisebene der Vorstellungshorizonte lediglich repräsentiert wird.80 Der Strukturalismus beseitigt aus der Ordnungsbetrachtung das ordnende Subjekt. Gurwitschs Auffassung des Bewusstseinsfeldes gibt sich als strukturalistisch subjektlos zu erkennen in ihrer objektivis­ 79 80

Vgl. dazu Kap. II,3. Vgl. dazu Kap. II,4.

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

tischen als auch reduktionistischen Methode. Sie erweist sich als objektivistisch in ihrer strikten Betonung der passiven Vorgegebenheit der intentional organisierten Feldstruktur unabhängig von allen wechselnden Wahrnehmungslagen, allen Vorstellungsmodalitäten und auch subjektiven Interessenlagen. Und sie ist reduktionistisch damit, dass sie die intentionale Erfassung der Ordnungsbezüge nicht auf eine Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung im konstitutionstheoretischen Sinne zurückführt, sondern die intentionale Strukturbildung als wahrnehmungsimmanent, als eine gegebene Gestaltqualität auffasst, welche zum Inhalt der Wahrnehmung, also zum intentional Wahrge­ nommenen, gehört. Damit verschwindet schließlich auch die Zweideutigkeit der Konstitutionstheorie, den Weltbezug einmal subjektrelativ als umweltliche Wahrnehmung und das andere Mal objektbezogen als ein universelles Weltsystem aufzufassen, in das sich alle Umwelten als »Teile« und »Stücke« einordnen. Zum thematischen Feld und seiner Bedeutungsrelevanz gehört immer auch das Irrelevante, das, was Gurwitsch das »Randbewusstein« nennt. Der exkludierende Wahrnehmungshorizont, der zur bekannten Umwelt gehört, die sich einem unbekannten »Außen« gegenüber abgrenzt, kann nun nicht mehr konstitutionstheoretisch relativiert werden, indem der begrenzte Wahr­ nehmungshorizont in einem entgrenzenden Vorstellungshorizont aufginge. Weil sich die Struktur der Bedeutungsrelevanz nicht in einer Vor­stellungsaktivität konstituiert, sondern jede Art der Gewinnung mög­licher Vorstellungen fundiert, wird sie schließlich zur begrenzenden Bedingung der Weltbildung: Die Welt, so wie wir sie wahrnehmen und uns in ihr orientieren, ist nichts anderes als eine immer begrenzte, auf den ungeordneten Rand verweisende geordnete und organisierte Umwelt. Diese strukturalistische Verlegung der intentionalen Sinngebung in die Wahrnehmung – Gurwitschs Auffassung des Feldes als eine nicht mehr nur affektive Form von »Bedeutungsrelevanz« – widerspricht als solche dem konstitutionstheoretischen Ansatz, wonach die Bedeutungserfassung eine Leistung nicht der Wahrnehmungs-, sondern der wahrnehmungsvorgängigen Erkenntnisorientierung ist, bleibt aber insofern erkenntnistheoretisch orientiert, als die Organisation des Feldes eine invariante Strukturbildung verkörpert, die als eine Erkenntniskonstante in allen wechselnden Wahrnehmungsorientierungen steckt. Als passive Vorgegebenheit und in dieser Passivität ausschließlich organisierte Struktur lässt sich das »Bewusstseinsfeld« der Bedeutungsrelevanz allerdings nur interpretieren, wenn es in Ver508 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Phänomenologie und Gestalttheorie

bindung mit einer einfachen Gestaltqualität von Figur und Grund erscheint, d. h. mit Blick auf die Bedeutungsrelevanz von einer streng monothematischen Zentrierung des Feldes auszugehen ist. In der umweltlichen Wahrnehmungsorientierung sind wir jedoch keineswegs nur einem einzigen Gegenstand zugewandt, der fortwährend im Zentrum der thematischen Erfassung stände. Die auf eine Mehrheit von Objekten ausgerichtete Wahrnehmungsorientierung fluktuiert um mehrere Zentren herum, stellt also eine wechselnden Gegenständen zugewandte organisierte Wahrnehmungsbewegung dar. Die vor aller Wahrnehmungsaktivität in der Passivität aufgehobene konstante Strukturbildung in Verbindung mit einer einfachen und identischen Gestaltqualität deckt sich also nicht mit den beweglichen Strukturbildungen eines komplexen, sich stets auf nicht nur einen, sondern immer auf mehrere Gegenstände verteilenden habituellen Wahrnehmungsinteresses. Gurwitschs strukturalistischer Objektivismus zeigt sich letztlich so wenig wie Husserls Konstitutionstheorie in der Lage, eine Erklärung dafür zu geben, wie solche zur umweltlichen Wahrnehmungsorientierung gehörenden fluktuierenden Wahrnehmungsbewegungen eine ordnende Sinngebung erfahren und damit eine habituell verfügbare Organisation ausbilden können.

2)

Phänomenologie und Gestalttheorie: Die strukturalistische Interpretation des »Bewusstseinsfeldes« bei Aron Gurwitsch

Gurwitschs Anliegen ist die Ausarbeitung einer originär phänomeno­ logischen, rein formalen Organisationstheorie81, welche ein »Gesamt-­ Bewußtseinsfeld« als die ursprüngliche und umfassende Ordnung aller Erlebnisse annimmt.82 Diese universelle Organisation soll nicht 81

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»Die Theorie des Bewußtseinsfeldes, die wir hier vorlegen, ist als eine streng formale Theorie der Organisation gedacht. Die Organisationsstrukturen, die wir herausstellen, sind formale Invarianten: sie sind unabhängig von jeder Spezifizierung ihres Inhalts. Sie gehören zu jedem beliebigen Bewußtseinsfeld, was immer auch dessen spezifischer Inhalt sein mag.« [Gurwitsch 1975, S. 8 f] Gurwitsch bezieht sich auf Hume. Bei ihm erscheine »das Gesamt-Bewußt­ seins­feld als ein Aggregat von Elementen« trotz aller zeitlichen Beziehungen. Bergson und James dagegen haben zwar die »durchgängige, gegenseitige Durch­dringung und innere Verknüpfung aller Erlebnisse« als eine zeitliche beschrieben. Worauf es Gurwitsch jedoch ankommt, ist die Hervorhebung des Gemeinsamen dieser verschiedenen Theorieansätze, »daß Hume wie auch Bergson und James implizit davon ausgehen, daß das gesamte Bewußtseinsleben

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

konstruktivistisch durch produktive Erkenntnisleistungen erklärt, sondern phänomenologisch-antikonstruktivistisch als eine intentionale Wahrnehmungsgegebenheit ausgewiesen werden. Ausgehend von der Gestalttheorie und ihrer Entdeckung der Figur-­Grund-Beziehung als strukturbildender Leistung der Rezeptivität kritisiert Gurwitschs Theo­rie des Bewusstseinsfeldes die dualistische Auffassung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Organisation. Seit Kants Unterscheidung zweier Erkenntnisquellen – Rezeptivität und Spontaneität – ist es in der Psychologie üblich, die Ordnung als eine gegenüber dem Zustandekommen der Empfindungen durch die Affektion nach­ trägliche Leistung zu verstehen. Das führt zu einer einerseits mechanistischen Interpretation der Empfindung durch die sogenannte »Konstanz­ annahme«, wonach die sinnlichen Inhalte ihre Identität bewahren durch die feste Zuordnung zu einem spezifischen Sinnesreiz und andererseits zur konstruktivistischen Auffassung der mit ihr verbundenen Wahrnehmung und Erkenntnis, indem zwischen einer untersten Schicht gegebener Empfindungsdaten und solchen dar­auf aller­erst aufbauenden produktiven Ordnungsleistungen unterschieden wird. Ob in Gestalt von Benussis Produktionstheorie oder dem lebensphilosophischen Pragmatismus von James – alle solchen konstrukti­ vistischen Theorieansätze scheitern nach Gurwitsch letztlich daran, dass sie keine Erklärung geben für die Möglichkeit von »Organisation« im eigentlichen Sinne – die wirklich habituelle Verfügung von Ordnungsleistungen schon in der rezeptiven Wahrnehmung, insofern sie dem Wahrnehmungserlebnis grundsätzlich äußerlich bleiben. Seien es nun Aufmerksamkeit und Interesse (wie bei Benussi83) oder pragmatische Zwecksetzungen (bei James), die für die Ausbildung von Ordnungen verantwortlich gemacht werden, ungeklärt bleibt, wie sie als gewissermaßen von außen eindringende Fremdkörper über bloß okkasionelle Strukturbildungen hinaus die Wahrnehmung wirklich dauerhaft zu organisieren vermögen.84 Das Faktum der habituellen

83 84

von einem einzigen Organisationsprinzip beherrscht wird« [Gurwitsch 1975, S. 3]. Zu Benussis Produktionstheorie vgl. Gurwitsch 1975, S. 79 ff. So heißt es zu James: »Organisiertheit kommt von außen in den Strom des Erlebens. An dieser Auffassung hat er immer festgehalten.« [Gurwitsch 1975, S. 21] Damit wird die Erklärung der Habitualisierung im Grunde unmöglich: »Wird die Organisation in den Erlebnisstrom von außen hineingetragen, so läßt sie ihn im Grunde unverändert.« [Ebd., S. 25] »Da Organisiertheit keinen autochtonen Zug des Erlebnisstromes […] bildet«, dient diese Funktion »le-

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2) Phänomenologie und Gestalttheorie

Ver­fügung über solche den Begriffsbildungen überhaupt zuvorkommenden Ordnungen schon der Rezeptivität85 bleibt scheinbar nur dann kein Mysterium, wenn – wie bei Gurwitsch – die dualistische Auffassung einer ursprünglich nur rezeptiven Wahrnehmung und darauf aufbauenden produktiven Ordnungsleistung der Erkenntnis aufgegeben und die rezeptive Ordnung von vornherein als eine im »Phänomen« der Wahrnehmung – im intentional erfassten Bewusstseins­ inhalt – gegründete Organisation angesehen wird. In dieser antikonstruktivistischen Perspektive kritisiert Gurwitsch schließlich auch Husserls konstitutionstheoretisches Schema von Hyle und Auffassung. Wenn Husserl unterstellt, dass ein und dasselbe hyletische Datum seine Identität bewahrend wechselnde intentionale Apperzeptionen erfahren kann, dann zeigt das nach Gurwitsch, dass »die Konstanzannahme sich unversehens in die phänomenologische Forschung eingeschlichen« hat [Gurwitsch 1975, S. 220] und damit auch in der Phänomenologie »»Organisation« als den Sinnes­daten von außen her auferlegt aufgefaßt« wird [ebd., S. 219]. Dieser Ansatz ist vor allem als der Versuch interpretiert und auch kritisiert worden, die Bedeutung der ordnenden Noesen abzuschwächen zugunsten einer rein noematischen Phänomenologie.86 Der methodische Ertrag von Gurwitschs »noematischer« Auffassung von Organisation wird jedoch erst deutlich mit Blick auf diejenige durch die genetische Betrachtung

85

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diglich pragmatischen Zwecken« [ebd., S. 24]. Solche Zwecksetzungen bleiben stets okkasionell. Deshalb zeigt sich: »Diese nur momentanen Modi­fi kationen schaffen im Strom des Erlebens keine stabile Neuorganisation« [ebd., S. 25]. Das ist letztlich auch eine Konsequenz des lebensphilosophischen Intuitionismus: »Diese Möglichkeit ist eine notwendige Bedingung der ›intuitionistischen‹ Philosophie. Eine solche Philosophie setzt voraus, daß die Organisation des Erlebens diesem letzten von außen auferlegt und im erwähnten Sinne ›oberflächlich‹ ist.« Nicht zuletzt deshalb »wird der Versuch einer ›intuitionistischen‹ Philosophie illusorisch, da ihr Ziel unerreichbar ist.« [Ebd., S. 25] Zur Produktionstheorie heißt es programmatisch: »Ganz allgemein kann man daher sagen, daß dualistische Wahrnehmungstheorie und Konstanzannahme miteinander zusammengehen.« [Ebd., S. 78] Bewegt man sich in der Tradition Kants, der bekanntlich vom chaotischen »Gewühl« der Empfindungen spricht, dann bleibt nichts anderes übrig, als die Ordnung der rezipierten sinnlichen Daten voll und ganz auf den Einfluss der Begriffsbildung zurückzuführen. Dass begriffslose Anschauungen in diesem Sinne alles andere als »blind« sind, lehren letztlich Gestalttheorie und phänomenologische Feldtheorie gleichermaßen. Eine solche Konzeption der noematischen Phänomenologie vertrat etwa Her­ mann Ulrich Asemissen [vgl. Asemissen]. Vgl. dazu die Kritik von Klaus Held [Held 1980 a].

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entscheidend veränderte phänomenologisch-erkenntnistheoretische Fragestellung. Das auf die Logischen Untersuchungen zurückgehende Schema von Hyle und Auffassung als solches enthält noch nicht die genetisch-phänomenologische Unterscheidung verschiedener Stufen der Objektivierung der »aktiven« und »passiven« Synthesis. Erst hier zeigt sich die Stärke von Gurwitsch, durch seine reduktionistische Deutung der intentionalen »Auffassung« als Form von wahrnehmungsimma­ nenter Sinngebung die methodische Lücke zu schließen, die Husserls Konzeption des Bewusstseinsfeldes offen gelassen hat. Nach Husserl ergibt sich die Möglichkeit der Konstitutionsbestimmung und Habitualisierung genetisch erst aus einer thematischen Objektivierung zweiter Stufe, wo das Objekt zum thematischen Objekt des Interesses wird in der vorstellenden Identifizierung und Erkenntnis und der sich daran anschließenden Objektbestimmung. Die thematische Objektivierung erster Stufe, die Konstitution eines Objektes nur als Bewusstseinsobjekt durch die affektiv ausgelöste wahrnehmungsmäßige Zuwendung, führt zwar zur perspektivischen Strukturierung des Bewusstseinsfeldes durch einen Bewusstseinsvorder- und Hintergrund, doch bleibt diese »hyletische Einheitsbildung« letztlich gebunden an die jeweilige Affektion und damit ein bloß okkasionelles Wahrnehmungsphänomen. Bei Husserl gibt es letztlich keine Möglichkeit, Ordnungsstrukturen schon in der Passivität zu habitualisieren. Denn erst mit der Objektivierung zweiter Stufe und der mit ihr verbundenen Entwicklung eines aktiven Erkenntnisinteresses wird der jeweilige Gegenstand habituell verfügbar.87 Das Schema von Hyle und Auffassung behält seine Bedeutung also auch in der genetischen Phänomenologie, weswegen die hyletische Thematisierung nicht eigentlich als Form der intentionalen Bedeutungserfassung begriffen wird. Die feldtheoretischen Ansätze bei Husserl erweisen sich so als nicht tragfähig für die Gewinnung eines Organisationsbegriffs, weil es ihnen nicht gelingt, der möglichen Konstitutionsbestimmung in der Erkenntnisorientierung zuvorkommend eine habituelle Ordnung schon in der Wahrnehmungsorientierung auszuweisen: Das »Bewusstseinsfeld« ist eben kein wirklich intentional-bedeutsames »thematisches Feld«, sondern ein bloß instabiles affektives Relief von mehr oder weniger flüchtigen Erscheinungen der okkasionellen Weckung von Aufmerksamkeit und Bewusstsein.

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Vgl. dazu auch die methodischen Überlegungen in Kap. III,1.

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2) Phänomenologie und Gestalttheorie

Genau diese Lücke des fehlenden Nachweises einer intentionalen Sinngebung schon im Bereich des Hyletischen, der passiven Synthesis, schließt Gurwitschs reduktionistische Auf‌lösung des konstitutions­ theoretischen Schemas von Hyle und Auffassung. Die hyletische Passivität bei Husserl ist zwar durchaus intentional, aber keine wirklich intentionale Sinngebung: Bedeutung und Sinn konstituieren sich erst durch eine Auffassungsaktivität, die Konstitution eines thematischen (Erkenntnis-)Objektes durch die ausdrücklich identifizierende Bezugnahme, wodurch dieses Objekt schließlich als ein Objekt für das aktive Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresse habituell verfügbar wird. Bei Gurwitsch nun bilden rezeptive Wahrnehmung und Sinngebung eine untrennbare Einheit, die in einer intentionalen Gestalterfassung als Form der passiven Synthesis aufgehoben sind. Die Aufgabe der Konstanzannahme durch die Gestalttheorie führt dazu, dass Empfindung und formgebende intentionale Organisation endgültig nicht mehr als zwei aufeinander aufbauende Schichten von Rezeptivität und spontaner Erkenntnisaktivität begriffen werden können. Entsprechend bilden sensuelle ύλη und intentionale μορφή keine selbständigen Kon­sti­tutions­stufen mehr88, vielmehr ist das intentionale Apperzeptionsmoment neben der Empfindung als abhängige Variable in die Gestalterfassung immer schon eingegangen und damit auch in die ursprüngliche Bildung des Bewusstseinsfeldes, die Abhebung einer Figur von ihrem Grund.89 Die »formale Organisation« des Bewusstseinsfeldes ist nach Gurwitsch doppeldeutig. Sie enthält »das Erscheinen des Themas in seinem Feld und die Verweisung des Themas auf das Feld« [Gurwitsch 1975, S. 259]. Nicht schon die Konstitution des bloßen Bewusstseins­objekts, 88 »Sensuelle ύλη, intentionale μορφή« – so die Überschrift des § 85 von Husserls Ideen I [Husserl, Hua III,1, S. 191]. 89 »Nach Aufgabe der Konstanzannahme gibt es keinerlei Grund mehr, zwei Schichten der Wahrnehmung zu unterscheiden […]. Durch die Aufgabe der Konstanzannahme ist die Homogenität des Wahrgenommenen, was die Her­ kunft seiner Komponenten anlangt, wiederhergestellt. Was Benussi als Mehr­ deutigkeit angesetzt hatte, erscheint im Rahmen der Gestalttheorie als Abhängigkeit von einer Vielheit von Variablen.« [Gurwitsch 1975, S. 81 f] Im Sinne der Gestalttheorie stellt Gurwitsch als methodisches Prinzip die Gleichursprünglichkeit aller Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktionen auf sowie das reduktionistische Prinzip der Wahrnehmungsimmanenz: »Allen Aspekten der Wahrnehmung muß der gleiche Status zuerkannt werden. Alle müssen als Gegebenheiten und Fakten echter Sinneserfahrung gelten.« [Ebd., S. 79]

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das Erscheinen des Themas, sondern erst die mit ihr verbundene Sinngebung, die Verweisung als der Sachgehalt der Sinngebung – die »Bedeutungsrelevanz« – macht das Bewusstseinsfeld zu einer invarianten Struktur, einer wirklich dauerhaften Organisation. In Bezug auf den »beiderseitigen sachlichen Gehalt« von Thema und Feld definiert Gurwitsch das »thematische Feld« als »Inbegriff dessen, worauf das Thema verweist« [ebd.]. Die Unterscheidung zwischen der Konstitution eines Bewusstseinsobjekts und derjenigen eines Objektes der Sinngebung geht als solche zurück auf Husserls Erfahrung und Urteil. Sie erweist sich dort freilich als methodisch aporetisch, als es Husserl im Prinzip nicht gelingt, die Bildung des Bewusstseinsfeldes in der Passivität mit der Aktivität einer intentionalen Sinngebung zur Deckung zu bringen, sodass es möglich wäre, das Feld als Bewusstseinsobjekt durch ein ihm korrespondierendes Objekt der Sinngebung habituell zu fixieren. Husserls genetische Erklärung führt die Entstehung des Bewusstseinsfeldes auf die Weckung von Aufmerksamkeit und in ihrer Folge von Wahrnehmungs- und Erkenntnisinteresse zurück. Zunächst bewirkt die bloße Wahrnehmungsorientierung eine Gliederung des Wahrnehmungsfeldes, weil eine Mehrheit von Objekten nicht etwa auf die gleiche, sondern verschiedene Art im Bewusstsein repräsentiert wird. Husserls Beschreibung hebt hervor, dass sich »das Wahrnehmungsinteresse nicht gleichmäßig auf die Mehrheit der im Felde befindlichen Gegenstände verteilt«, vielmehr auf einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand »konzentriert« [Husserl 1972, § 22, S. 115]. Es bildet sich demnach durch die Wahrnehmungsorientierung ein Wahrnehmungszentrum aus, dem gegenüber die anderen Objekte als dessen Peripherie erfasst werden. Das den zentralen Gegenstand umgebende Feld wird nun weiter als ein solches gekennzeichnet, das uns nicht stark genug affiziert, sodass eine ausdrückliche Ichzuwendung und Realisierung der intentionalen Gegenstandsbeziehung im Bewusstsein nicht erfolgen kann: Wir sind solchen Gegenständen nicht ausdrücklich zugewendet, die deshalb in einem mehr oder weniger unbestimmten Bewusstseinshintergrund verbleiben: »Immer wenn wir unseren betrachtenden Blick auf den Gegenstand richten, ist im Hintergrund bewußt seine mitaffizierende und daher nicht zum Ich durchdringende, es nicht zur Zuwendung zwingende gegenständliche Umgebung« [Husserl 1972, § 33, S. 172]. Husserls Bezeichnung dieses Wahrnehmungsfeldes als ein Be­ wusstseinsfeld ist nun alles andere als zufällig, denn damit verrät sich nicht zuletzt die konstitutionstheoretische Bestimmung. Als Kri514 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

2) Phänomenologie und Gestalttheorie

terium, wodurch das Objekt entweder dem thematischen Zentrum oder seinem peripheren Feld zugewiesen wird, fungiert allein das ausdrückliche oder unausdrückliche Bewusstsein – das strukturierte Wahrnehmungsfeld erweist sich demnach als ein bloßes Bewusstseins­ phänomen und eben kein solches der intentionalen Sinngebung. Der Hintergrund für diese genetische Theorie ist Husserls Erklärung der Wahrnehmungsorientierung durch eine affektiv ausgelöste Ichzuwendung. Von solchen Empfindungsdaten, die sich aus einem ansonsten homogenen Wahrnehmungsfeld abheben und herausheben, geht eine »affektive Tendenz« aus, die sich dem Bewusstsein gewissermaßen aufdrängt [vgl. Husserl 1972, § 17, S. 79 f]. Diesem passiven Reiz folgt schließlich das »Vollziehen der Zuwendung«, als dieser zum Erwachen der Ichaktivität führt [ebd., S. 83]. Wichtig für Husserls genetischen Ansatz ist, dass sich die Weckung von Wahrnehmungsinteresse in zwei Stufen vollzieht, wobei in der ersten noch kein wirklich aktives Interesse wirksam wird, als die Zuwendung zu dem jeweiligen Gegenstand hier in einer passiv ausgelösten Reflexbewegung besteht. Der erste Schritt ist demnach die Weckung von Aufmerksamkeit, die sich mit der Entstehung einer gegenständlichen Wahrnehmungsorientierung im Zusammenhang von Affektion und Ichzuwendung vollzieht. Jedoch ist »die Tendenz vom Ich her […] mit dem Einsatz der Zuwendung noch nicht zum Abschluß gekommen« [Husserl 1972, § 19, S. 87]. Diesen Abschluss bildet vielmehr die Konstitution einer intentionalen Beziehung, die dadurch entsteht, indem »ein Interesse am Wahrnehmungsgegenstand als seienden erwacht« [ebd.]. Dieses durch die Intentionalität vermittelte aktive Interesse bringt Husserl in Verbindung mit der Weckung eines die Objekt­bestimmung fördernden systematischen Erkenntnisinteresses, das die Weckung von Aufmerksamkeit durch die Ichzuwendung fortsetzt. Hier handelt es sich um das Verhältnis einer intentionalen Leerintention und ihrer erstrebten Erfüllung90, also die Stiftung eines dauerhaften Konstitutionsverhältnisses, das auf einer die wahrnehmungsmäßige Zuwendung transzendierenden Bezugnahme auf den Gegenstand beruht und damit die Vermittlung der bloßen Wahrneh­ mungs- durch eine Erkenntnisorientierung bedeutet. 90

Es entsteht »ein Fortstreben zu neuem Bewußtsein als ein Interesse an der mit dem weitergehenden Erfassen eo ipso sich einstellenden Bereicherung des gegenständlichen ›Selbst‹. So geht die Tendenz der Zuwendung weiter als Tendenz auf vollkommene Erfüllung« [Husserl 1972, § 19, S. 87].

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Bewusstseinsobjekt und Objekt der Sinngebung bilden bei Husserl also zwei aufeinander aufbauende Konstitutionsstufen der aktiven und passiven Synthesis – eine durch die Affektion ausgelöste responsive Ichzuwendung und eine nicht mehr responsive Ichzuwendung durch die aktive Sinngebung, das ausschließlich selbstvollzogene Interesse. Dadurch entsteht allerdings das Problem, dass die affektive Zentrierung in der fundierenden passiven Synthesis wechseln kann, während die thematische Fixierung durch das höherstufige Erkenntnisinteresse erhalten bleibt. »Thema« im prägnanten Sinne eines Objektes der Sinngebung, das von Interesse ist, »und Gegenstand der Ichzu­ wendung fallen nicht immer zusammen« [Husserl 1972, § 20, S. 92]. Husserl macht das klar an Beispielen der Störung und Ablenkung. Der Wissenschaftler wird bei seiner Arbeit durch den affektiv aufdringlichen Straßenlärm gestört [vgl. ebd.]. Er verliert zwar durch diesen erzwungenen Wechsel der Aufmerksamkeit das Objekt seines wissenschaftlichen Interesses für einen Moment aus dem Bewusstsein, davon wird aber die thematische Fixierung durch die Sinngebung und das mit ihr verbundene bleibende Interesse an der Konstitutionsbestimmung gar nicht berührt. Dieses so einleuchtend scheinende Beispiel einer möglichen Inkongruenz von thematischer Fixierung und Aufmerksamkeit führt Husserl schließlich dahin, zwischen einem engeren und weiteren Begriff von Interesse zu unterscheiden. Der weitere enthält dann nicht nur solche dauerhaften Sinnfixierungen durch die inten­tio­ nale Sinngebung, sondern auch all die okkasionellen, »vorübergehenden« Ichzuwendungen durch die wechselnde Aufmerksamkeit.91 Aber genau damit gibt Husserl die Möglichkeit aus der Hand, die Habitualisierung von Strukturen des Bewusstseinsfeldes zu erklären, die als passive und nicht aktive Synthesen an solche vorübergehenden, situativ wechselnden Interessenlagen notwendig gebunden bleiben. 91 Auch die »passive Synthesis« der affektiv ausgelösten Ichzuwendung lässt sich als eine Form von Interesse verstehen, insofern unter Interesse nicht nur die dauerhafte, durch eine Sinngebung und ihre Kontinuität der Konstitutionsbestimmung vermittelte Ichzuwendung verstanden wird, sondern allgemein die Ichbeteiligung, die zu jeder Zuwendung zu einem Objekt gehört: »Mit Beziehung darauf kann man einen weiteren Begriff von Interesse, bzw. von Akten des Interesses bilden. Unter solchen sind dann nicht nur diejenigen verstanden, in denen ich einem Gegenstande thematisch, etwa wahrnehmend und dann eingehend betrachtend zugewendet bin, sondern überhaupt jeder Akt der, sei es vorübergehenden oder dauerhaften Ichzuwendung, das Dabeisein (inter-esse) des Ich.« [Husserl 1972, § 20, S. 92 f]

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2) Phänomenologie und Gestalttheorie

Vor diesem systematischen Hintergrund wird schließlich auch die kritische Auseinandersetzung verständlich, die Aron Gurwitsch mit der Theorie der Bedeutungsrelevanz von Alfred Schütz geführt hat. Gurwitsch will »den Begriff Relevanz in noematischem Sinne« [Gurwitsch 1975, S. 276] verstehen und nicht wie Schütz als eine subjektive Bedeutungsrelevanz, in der ein selektives Wahrnehmungs­ interesse zum Ausdruck kommt.92 Wenn man wie Husserl die selektive Wahrnehmung nur als eine Vorstufe der Weckung von habituellem Erkenntnisinteresse ansieht, dann droht die ganze genetische Ableitung der Organisation des Bewusstseinsfeldes aus der Weckung von Interesse in ihren verschiedenen Stufen der Aktivität und Passivität bereits in der untersten Schicht der »passiven Synthesis«, der Weckung von Aufmerksamkeit, zu scheitern. Weil sich in der Konstitution des Bewusstseinsobjekts nur ein okkasionelles und kein wirklich habituelles Wahrnehmungsinteresse spiegelt, verwirft Gurwitsch die genetische und »subjektive« Begründung der Entstehung des Bewusstseinsfeldes durch das Interesse überhaupt. Das »Erscheinen des Themas« wird als ursprünglich vereinigt mit der »Verweisung des Themas« begriffen durch die Funktion der Repräsentation von Sinn. Auf diese Weise bezieht sich dann die affektive Konstitution eines Bewusstseinsobjektes, die Abhebung der Figur von ihrem Grund, ihrerseits thematisch auf eine voraffektive Strukturbildung in Gestalt einer intentionalen Bedeutungserfassung. Die mit der Gestaltwahrnehmung verbundene Erkenntnis von »Bedeutungsrelevanz« erscheint deshalb als ein rein noematischer, im Bewusstseinsinhalt gründender thematischer Zusammenhang, etwas, das für ein Thema allein durch seinen Sachgehalt von Bedeutung ist.93 Das »thematische Feld« bei Gurwitsch stellt somit eine von den wechselnden Modalitäten der vorstellenden 92

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»Nach Schütz bezeichnet Relevanz die relative Bedeutsamkeit, welche Objekte und Systeme von Objekten für das erlebende Subjekt haben, das mehr oder weniger dringende Interesse, welches das Subjekt an diesen Gegenständen und Zusammenhängen von Gegenständen nimmt. Seine Problemstellung gilt nicht der Organisationsstruktur Thema – thematisches Feld, sondern vielmehr der Wahl, die das Subjekt trifft, wenn es einen gewissen Gegenstand in diesem bestimmten Zusammenhang und nicht in einem anderen, ebenfalls möglichen, betrachtet.« [Gurwitsch 1975, S. 275 f] »Die den Zusammenhang bildenden Bestände sind nicht nur mit dem Thema mitgegeben, sondern haben auch eine gewisse Bedeutsamkeit für das Thema. Sie haben etwas mit ihm zu tun, sie sind für das Thema relevant. […] Die Beziehung zwischen dem Thema und Beständen des Zusammenhangs ist auf den beidseitigen sachlichen Gehalten gegründet.« [Gurwitsch 1975, S. 274]

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Aufmerksamkeit und des subjektiven Interesses ganz und gar unberührbare, objektiv vorgegebene Ordnung dar – ein mit dem Thema kopräsenter Bestand von Objekten, der als ein »Relevanzbereich« ihm zugehörig erfasst wird.94 Diese objektivistische, strukturalistische Auslegung des Bewusst­ seinsfeldes führt freilich dazu, dass Husserls Annahme von Konstitutionsstufen der aktiven und passiven Synthesis aufgegeben wird. Bei Husserl besteht die Möglichkeit, das bloße Bewusstseinsobjekt zu einem Objekt der organisierenden Konstitutionsbestimmung umzuformen nicht schon in der Passivität, der ersten Stufe der Weckung von Aufmerksamkeit mit ihrer Abhebung einer Figur von ihrem Grund, sondern erst in der zweiten, der Weckung von aktivem Erkenntnisinteresse. Bei Gurwitsch vollzieht sich nun sowohl die Genese des Be­ wusstseinsfeldes wie auch seine thematische Organisation in ein und derselben Stufe der Passivität, die deshalb schon im ersten »Erscheinen des Themas«, der ursprünglich noch interesselosen Gestaltwahrnehmung, verankert ist. Die methodische Grundlage dafür gibt seine reduktionistische Auslegung von Husserls Begriff des Wahrnehmungsnoema, das nun als eine Funktion der Gestaltkohärenz und damit wahrnehmungsimmanente Organisation begriffen wird.

3)

Der Innenhorizont als Assoziationskomplex. Die gestalttheoretische Auf‌lösung des Konstitutionsbegriffs der Organisation

Gurwitschs Deutung der »Gestalt« als ein »Noema« im Husserlschen Sinne zeigt exemplarisch, dass sich die konstitutionstheoretisch begriffene Ordnung und Organisation – die Form der Objektbestimmung – wahrnehmungsimmanent gar nicht denken lässt. In der Konstitution wird die Wahrnehmung organisiert durch eine wahrnehmungsvorgängige Vorstellung und Erkenntnis. Als eine Wahrnehmungsgegebenheit phänomenologisch ausgewiesen wird diese Erkenntnisvermittlung durch das zum Ding gehörende Horizontbewusstsein, genauer: die Interpretation des Wahrnehmungshorizontes als ein Vorstellungshorizont. Der Vorstellungshorizont enthält nämlich nicht nur die Verwei94

»Man kann also das thematische Feld als einen Relevanzbereich kennzeichnen. Es umfaßt alle mit dem Thema kopräsenten Bestände, die aufgrund ihres Sach­ gehalts auf das Thema bezogen sind.« [Gurwitsch 1975, S. 275]

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3) Der Innenhorizont als Assoziationskomplex

sung des Wahrgenommenen auf ein Nichtwahrgenommenes, sondern zugleich die intentionale Spannung von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung, die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung durch die Bezugnahme auf ein zunächst nur bedeutetes Objekt, das sich dann infolge der Sinnenthüllung von Horizonten umwandelt in ein Objekt, von dem wir schließlich bestimmte Wahrnehmungen erlangen. Bezeichnend führt Gurwitschs reduktionistische Verlegung der Organisation in die Wahrnehmungsgestalt vor jeder Vorstellungs- und Erkenntnisvermittlung dazu, dass der zum Ding gehörende Innen­ horizont primär als ein Assoziationszusammenhang gedeutet wird, welcher erst sekundär – in einer Erkenntniserweiterung der Wahrnehmung – den Charakter eines Vorstellungshorizontes annimmt. Die assoziative Verweisung verbleibt nämlich in den Grenzen dessen, was durch die aktuelle Wahrnehmung jeweils vorgezeichnet ist. Das Horizontbewusstsein verliert so den Sinn der vorgängigen Verweisung auf ein reines Vorstellungsobjekt als Komplex potenzieller Wahrnehmungen, einen Erkenntnisgegenstand völlig außerhalb der Reichweite der Wahrnehmung, dessen implizite Bestimmungen durch nachträgliche Veranschaulichung expliziert werden können. Genau damit aber löst sich der Konstitutionsbegriff der Organisation schließlich auf. Gurwitsch ist sich der konstitutionstheoretischen Implikationen von Husserls Begriff des Wahrnehmungsnoema sehr wohl bewusst, welche den Begriff der Gestalt, wie ihn die Psychologie versteht, erweitern. Die Gestalterfassung im engeren psychologischen Sinne ist eine Form der ausschließlich expliziten Wahrnehmung, während das Noema immer auch die »impliziten Ideen« enthält [Gurwitsch 1975, S. 222]. Zur noematischen Einheit, die den Status nicht nur der Wahrnehmung, sondern der Bedeutungserfassung hat, gehört das Aktuelle und Inaktuelle, das explizit und implizit Bedeutsame gleichermaßen. Dafür steht letztlich der von »Husserl so genannte Innenhorizont« [ebd.].95 Durch die Destruktion des Schemas von Hyle und Auffassung entsteht nun allerdings das systematische Problem, wie dieser Innenhorizont als eine Funktion der Gestaltkohärenz wahrnehmungsimmanent verstanden werden kann. Dass zur noematischen Einheit auch 95

»Das Wahrnehmungsnoema umfaßt das in direkter und expliziter Sinnes­ erfahrung Gegebene nicht weniger als die ›impliziten Ideen‹, die den im An­schluß an Husserl so genannten Innenhorizont bilden […]. Husserl folgend haben wir deshalb das Wahrnehmungsnoema charakterisiert als einen ›Wahrnehmungssinn‹ und ihm damit den Status einer Bedeutung im weiteren Sinne gegeben.« [Gurwitsch 1975, S. 222]

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

solche impliziten Bestimmungen gehören, die streng genommen gar nicht wahrgenommen werden, erklärt sich bei Husserl dadurch, dass der Innenhorizont ein intentionales Bewusstsein verkörpert im Sinne einer Leervorstellung, der reinen Bezugnahme auf eine Bedeutung, die schlechterdings kein Bestandteil der Wahrnehmung ist. Gurwitsch dagegen fasst Sinn und Bedeutung als solche mit den hyletischen Bestandteilen verschmolzene Funktionen der wahrnehmungsmäßigen Zuwendung zu einem Gegenstand auf, denn: »es kann nicht mehr zwischen echten Sinnesdaten und dem unterschieden werden, was aus anderen Quellen als der Sinnlichkeit stammt« [ebd.]. Konsequent wird der Innenhorizont deshalb zu einer die Gestaltkohärenz ermöglichenden Funktion der Sinngebung und damit als mit zur Organisation der Wahrnehmung gehörig begriffen: Der »Innenhorizont ist aufs engste mit dem in direkter Sinneserfahrung Gegebenen verflochten; auch trägt er entscheidend zu dessen Organisation, Gestaltung und Bestimmung bei.« [Ebd., S. 225] Nichts könnte Gurwitschs reduktionistische Auslegung der Wahrnehmungsorganisation besser verdeutlichen als diese Zuspitzung, wonach Innenhorizonte die Wahrnehmung organisieren. Denn versteht man das Horizontbewusstsein Husserl getreu als die Verweisung auf eine wahrnehmungstranszendente Bedeutungseinheit, dann hat es keine und kann auch keine Organisationsfunktion für die Wahrnehmung haben. Damit die Horizonte, die Husserl nicht als konkrete Wahrnehmungen und Anschauungen, sondern unbestimmte Leervorstellungen versteht, eine solche Bedeutung der Ordnung und Organisation überhaupt erlangen können, muss das intentional Impli­ zite expliziert werden durch besondere Akte der »Vorveranschaulichung« und vor allem der ausdrücklichen Wiedererinnerung, wodurch sich die noch gar nicht ordnungsrelevante Antizipation in eine konkrete, den kommenden Wahrnehmungsverlauf im vorhinein entweder nur vage und fließende oder bestimmte und fest ordnende Erwartung umwandelt.96 Die methodische Unvereinbarkeit der gestalttheoretisch-reduktionistischen Auffassung mit dem Konstitutionsbegriff der Organisation wird schließlich offenkundig in Gurwitschs Unterscheidung der Artikulation von der Entwicklung von Innenhorizonten. Auch wenn sie Gurwitsch nicht ausdrücklich ausschließen will: Die reduktionistische Auslegung des Innenhorizontes als einer Funktion der Gestalt96

Husserl 1972, § 8, S. 31, vgl. dazu auch Teil B, Kap. II,2.

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3) Der Innenhorizont als Assoziationskomplex

kohärenz erlaubt im Grunde keine wirklich neue Inhalte entwickelnde Näherbestimmung. Konsequent wäre, der methodischen Prämisse einer strikt wahrnehmungsimmanenten Organisation folgend, die zum Horizontbewusstsein gehörende Möglichkeit der explizierenden Sinn­ enthüllung einzuschränken auf die Leistung der bloßen »Ausdrücklichmachung«, also einer Artikulation von gegebenen Sinnzusammenhängen, im Unterschied zur entwickelnden »Näherbestimmung« im Husserlschen Sinne.97 Denn die Möglichkeit, immer neue und andere Konstitutionsbestimmungen durch die Entwicklung von Vorstellungen zu erlangen, muss notwendig voraussetzen, dass der noematische Sinn als eine wahrnehmungstranszendente ideale Bedeutungseinheit apperzipiert wird, ein Gegebenes zwar für die Erkenntnis, aber Nichtgegebenes für die Wahrnehmung: Die organisierende reine Vorstellung ist in ihrer Unanschaulichkeit zunächst ein noch unrealisierter systematischer Sinn, der sich dann durch intuitive Vorstellungen und ihre Funktion der veranschaulichenden Sinnenthüllung empirisch rea­lisiert. Gegebenheiten des Innenhorizontes nicht durch neue Vorstellungen bislang unbekannter Zusammenhänge zu entwickeln, sondern seine lediglich nicht explizit, sondern implizit bekannten Bezüge zu artikulieren – diese primäre Möglichkeit liefert der die einzelnen Empfindungsgehalte miteinander verknüpfende Assoziationszusammenhang der Wahrnehmung, insofern sich die assoziative Verbindung ganz und gar im Rahmen der Gestaltkohärenz und ihrer funktionalen Einheit ausbildet durch die »gegenseitige Bestätigung der Einzelwahrnehmungen«, die »Einstimmigkeit und die gegenseitige Fortsetzung der Erscheinungen« [Gurwitsch 1975, S. 233, 232]. Hier lässt sich die zum Innenhorizont gehörende Möglichkeit der Bestimmung des Unbestimmten98 offenbar ohne Rückgriff auf eine konstituierende Entwicklung und damit die Voraussetzung einer wahrneh97 »[…] der zu einer Wahrnehmung gehörige Innenhorizont kann weitgehend und sogar völlig der Ausdrücklichkeit und Artikulierung ermangeln. Indessen kann jede Wahrnehmung einem Prozeß der Ausdrücklichmachung unterzogen werden […]. Zu betonen ist, daß das Ausdrücklichmachen eines Wahrnehmungsnoema lediglich darin besteht, seine Konstituentien zu artikulieren; jedoch führt es keinerlei sachliche Modifikation mit sich. Insbesondere stellt das Ausdrücklichmachen keine Näherbestimmung vager und unbestimmter Konstituentien dar.« [Gurwitsch 1975, S. 229] 98 »Jeder Unbestimmtheit des Wahrnehmungsnoema entspricht auf der noeti­ schen Seite eine antizipierte Verweisung auf künftige Bestimmungen. Un­ bestimmt­heit bedeutet also Bestimmbarkeit.« [Gurwitsch 1975, S. 227]

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

mungstranszendenten Bedeutungseinheit verstehen. »Ein Ding ›sieht‹ etwa hart und glatt ›aus‹, weil die visuelle Wahrnehmung auf mögliche taktile Wahrnehmungen verweist, in welchem das Ding seine taktilen Qualitäten in direkter Sinneserfahrung entfalten wird.« [Ebd., S. 228] Das exemplarische Beispiel für assoziative Innenhorizonte, die nicht durch Näherbestimmung entwickelt, sondern durch »Ausdrücklichmachung« artikuliert werden, bilden also Synästhesien. Die Unbestimmtheit bedeutet hier eine nur indirekte und nicht direkte Erfassung von sinnlichen Qualitäten, die in der Form von andeuten­ den Verweisungen der verschiedenen Sinneskreise aufeinander erfasst werden. Sie unterliegen dem Gesetz der Gestaltkohärenz, weil sie als solche uneingeschränkt wahrnehmbare Verknüpfungen darstellen: Auch wenn wir den Stein nicht berührt haben, so sehen wir ihm seine Härte doch an. So einleuchtend dieser Nachweis einer die Gestaltkohärenz organisierenden Leistung des Innenhorizontes in Bezug auf solche wahrnehmbaren Assoziationszusammenhänge auch sein mag, im Falle der Möglichkeit von entwickelnder Näherbestimmung muss sie versagen. Zur Näherbestimmung kommt es nach Gurwitsch »erst im Verlaufe des wirklichen Übergangs von einer Wahrnehmung zur anderen« [Gurwitsch 1975, S. 229]. Es geht hier also nicht mehr um die Herstellung von assoziativen Verknüpfungen, vielmehr darum, einen bereits gegebenen Zusammenhang von Wahrnehmungen durch das Hinzufügen neuer Bestimmungen systematisch zu erweitern. Gurwitsch wendet sich dieser Entwicklungsproblematik zu im Zusammenhang der Möglichkeit von »intentionaler Analyse«, die er im Einklang mit Husserls Cartesianischen Meditationen als die »phänomenologische Methode par excellence« [ebd., S. 236] ansieht. Aber seine reduktionistische Deutung ist mit der Husserlschen nicht nur völlig unvereinbar, sondern vermag vor allem methodisch nicht zu überzeugen: »Eine Wahrnehmung intentional analysieren heißt, diese Wahrnehmung in ihrem Bezug auf andere Wahrnehmungen betrachten, nämlich in ihrem Bezug auf das Gesamtsystem der Wahrnehmungen, die einem identischen Ding zugeordnet sind. Das reale Ding [Herv. d. Verf.] als objektive Einheit konstituiert sich in Wahrnehmungen, die untereinander einen kohärenten, systematisch organisierten Ver­ band bilden [Herv. d. Verf.]« [ebd., S. 237]. Das »System« von solchen zu explizierenden intentionalen Bestimmungen wird auf diese Weise als das eines realen Wahrnehmungsdinges aufgefasst, das »den Sinn seiner Existenz (!) aus der Verkettung 522 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Der Innenhorizont als Assoziationskomplex

und Verflechtung der Wahrnehmungen schöpft« [Gurwitsch 1975, S. 237]. Husserl dagegen würde betonen, dass es sich bei diesen existierenden Verflechtungen von Wahrnehmungen um kontinuierliche Synthesen von »Prädikatsnoemen« handelt, die ihre Einheit einem von vornherein wahrnehmungstranszendenten und damit irrealen »noematischen X« verdanken, ein Noema also, das sie nicht hervorbringen, sondern lediglich repräsentieren.99 Anstelle des transzendentalen Ide­ als, der regulativen »Idee im Kantischen Sinne«100 Husserls tritt bei Gurwitsch demnach ein ganz und gar nicht ideales, vielmehr reales Ding, eine der »intentionalen Analyse« zugrunde liegende, faktisch existierende Gestaltwahrnehmung. Genau das aber ist konstitutionstheoretisch nicht denkbar. Gurwitsch verkennt, dass die Möglichkeit der Gewinnung von wirklich neuen systematischen Horizontbildungen in der Vorstellung, die über die bloße Artikulation von aktuell gegebenen Assoziationszusammenhängen hinausgeht, nicht einfach als eine kontinuierliche Erweiterung solcher zum Wahrnehmungs­ horizont gehörender Möglichkeiten der »Artikulation« durch eine konstituierende »Entwicklung« verstanden werden kann. Die Entwicklung von Vorstellungshorizonten bedeutet vielmehr einen Bruch mit der Artikulation von assoziativen Horizonten, weil sie die Umwandlung der Wahrnehmungs- in eine Erkenntnisorientierung, mithin der intentionalen Zuwendung in eine Bezugnahme, der passiven in eine ak­ tive Synthesis, voraussetzt. Denn nur so kann die wahrnehmungsmäßige Zuwendung, zu der die wirkliche Gestalterfassung gehört, als die nachträgliche Realisierung und Entwicklung von solchen möglichen Bestimmungen angesehen werden, die den Horizont der aktuellen Wahrnehmung prinzipiell erweitern, weil sie von vornherein als einem Ding zugehörig erfasst werden, dessen implizite Bedeutungsfülle jede Wahrnehmungsmöglichkeit übersteigt. Nicht die Gestaltkohä­ renz eines ganz realen Wahrnehmungsobjekts, das transzendentale Ideal der vollständigen und durchgängigen Bestimmung ermöglicht es der »intentionalen Analyse« von Innenhorizonten, wirklich neue Systeme der Konstitution zu entwickeln. Gurwitschs gescheiterter Versuch, den Innenhorizont vollständig – in Hinsicht sowohl auf die Artikulation als auch die entwickelnde Näherbestimmung – als eine Funktion der Gestaltkohärenz aufzuweisen, weist deshalb unmissverständlich darauf hin, dass die in der Vorstellungsaktivität aufgehobene 99 Vgl. dazu den § 131 der Ideen I [Husserl, Hua III,1, S. 301 ff]. 100 Vgl. Ideen I, § 143 [Husserl, Hua III,1, S. 330 ff]. Vgl. Teil B, Kap. I,3.

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

entwicklungsfähige Konstitutionsbestimmung niemals eine passive Vorgegebenheit und in ihrer Passivität immanente Organisation der Wahrnehmung verkörpert und verkörpern kann.

4)

Erscheinung und Verweisung von Thema und thematischem Feld. Der Fundierungszusammenhang von Bedeutungsrelevanz und repräsentierendem Bewusstsein

»Welt als Ganzes ist immer schon passiv in Gewißheit vorgegeben« [Husserl 1972, § 7, S. 26]. Was Husserls genetische Phänomenologie hier als eine »Gewissheit«, d. h. eine nicht weiter erklärungsbedürftige Selbstverständlichkeit unserer lebensweltlichen Erfahrung, ausgibt, erweist sich bei genauerem Hinsehen einer philosophischen Aufklärung durchaus würdig. Das, was hier als schlichter Erfahrungssatz ausgesprochen wird, enthält nämlich eine konstruktive Hypothese: Mit dem Weltganzen, dem wir uns vorgeblich gewiss sein können, ist keineswegs eine chaotische Welt gemeint, sondern eine durch das intentionale Horizontbewusstsein und seine Strukturtypik systema­ tisch geordnete. Passivität meint in diesem Zusammenhang, dass jeder möglichen Aktivität der Veranschaulichung des Horizontes durch die Thematisierung von Unthematischem ein geordneter intentionaler Sinnhorizont immer schon vorgegeben ist. Wo diese Annahme einer Vorgabe der Weltordnung in der Passivität unmittelbar einleuchtet, ist jedoch erst einmal gar nicht das Welt-, sondern das Gegenstands­ bewusstsein. Die Schlossanlage, die wir erkunden wollen, ist in ihrer Architektur immer zugleich bekannt und unbekannt. Man kann die Ordnung hier im phänomenologischen Sinne eine passive Vorgegebenheit nennen, als wir vom Bekannten aus uns das Unbekannte zu erschließen suchen: Das nicht blinde sondern vorstellungsgeleitete Kennenlernen vollzieht sich so, dass wir uns bei der Erkundung etwa an dem orientieren, was wir im Ganzen übersehen können, sei es nun in unserem wahrnehmenden Blick oder auch mit Hilfe der Abbildung des Grundrisses in einem Reiseführer. Wenn wir dann das Gebäude konkret erkunden durch unsere aktive Wahrnehmungsbewegung, dann resultiert die Antizipation, wonach es sich hier um eine schöne Architektur handelt – ein wohlgeordnetes Gebäude – offenbar nicht aus unserer Wahrnehmungsaktivität, sondern geht dieser leitend und lenkend voraus, weswegen wir sie schließlich als eine Eigenschaft dem Gegenstand unserer Bemühungen zuschreiben: Wir sind nur deshalb 524 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Erscheinung und Verweisung von Thema und thematischem Feld

in der Lage, uns bei der Erkundung dieses Gebäudes zu orientieren, weil es sich hier eben um einen Gegenstand handelt, der immer schon geordnet aussieht und damit gleichsam verbürgt, dieses Ordnungsversprechen in unserem Versuch, ihn näher kennenzulernen, auch zu halten. So sehr eine solche Beschreibung bei der gegenstandsorientierten und vorstellungsgeleiteten Wahrnehmungsorientierung einleuchtet, so wenig plausibel erscheint sie jedoch beim »Bewusstseinsfeld« als derjenigen Passivität, auf die sich nach Husserl und Gurwitsch das Weltbewusstsein aufbaut. Der Ursprung des Bewusstseinsfeldes ist das Weckungserlebnis. Bei der Weckung von Aufmerksamkeit, wo sich ein bestimmtes Objekt in den Bewusstseinsvordergrund schiebt und von einem Hintergrund abhebt, handelt es sich um eine singuläre Affektion, d. h. eine Einzelwahrnehmung und nicht die synthetische Erfassung einer Gegenstandstotalität. Zwar verbindet sich mit dieser Einzelaffektion immer auch die Wahrnehmung eines ganzen Blickfeldes. Doch weckt diese Vorgegebenheit des Feldes gerade keine Vorstellung eines geordneten, gegenständlichen Ganzen: Dass nicht nur einer, sondern immer mehrere Gegenstände im Feld erscheinen hat zur Folge, dass die auslösende Affektion wechselt mit den verschiedenen Gegenständen, die unsere Aufmerksamkeit fesseln. Das Blickfeld als eine Totalität, in der verschiedene Gegenstände auftauchen und auch wieder aus dem Blick verschwinden, wird also nicht in einer synthetisierenden Vorstellung simultan erfasst, sondern sukzessiv in der zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitszentren hin und her fluktuierenden Wahrnehmungsbewegung. Wie verhält sich nun aber die phänomenologische Annahme der passiven Vorgegebenheit eines geordneten Feldes zu dieser ungeordneten Blickbewegung? Offenbar kommt der durch jeweils andere affi­ zierende Gegenstände ausgelöste Orientierungswechsel der Blickbewegung als Grundlage für die Organisation des Bewusstseinsfeldes in der Passivität hier gar nicht in Frage: Die Blickbewegung erscheint der phänomenologischen Analyse zufällig und unzusammenhän­ gend und damit in ihrer Orientierung zerstreut, so wie das Wahrnehmungsfeld, auf das sie sich bezieht, nur ein Kantisches »Gewühl« von Empfindungen bereithält, einen Haufen von Gegenständen, von dem unkontrolliert und im Prinzip auch unkontrollierbar affektive Weckungsreize ausgehen. Passivität bedeutet in einem solchen Feld des Sinnlich-­Hyletischen vor jeder objektierenden Vorstellungs- und Erkenntnisaktivität gerade nicht, sich an einer Ordnung orientieren 525 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

zu können, sondern schlicht die Unmöglichkeit eines jeden möglichen Ordnungsbezugs. Ein »Ordnungsphänomen« im Sinne der passiven Vorgegebenheit lässt sich also in der bewegungsräumlichen Wahrnehmung, in welcher das Ganze des Feldes als ein umgrenzender Wahrnehmungshorizont, eine umgebende Umwelt, erschlossen ist, gar nicht auffinden, sondern paradoxer Weise nur in der Einzelaffektion und ihrer Form der Gestaltwahrnehmung, der Abhebung einer singulären Figur von ihrem Grund. Die Abhebung einer Figur von ihrem Grund ist, wie Husserls in­ tentionale Analyse herausstellt, nicht etwas, das durch die Affekti­v ität entsteht, zu der immer auch die zur bewegungsräumlichen Wahrneh­ mung gehörende Aktivität der kinästhetischen Blickbewegung gehört. Als eine voraffektive intentionale Gegebenheit, welche durch die Weckung von Aufmerksamkeit und Interesse nur nachträglich the­ matisch erfasst wird, bleibt die Figur-Grund-Struktur passiv im radikalen Sinne weil unberührbar von aller Aktivität wechselnder Wahrnehmungsinteressen. Gurwitschs reduktionistische Auslegung der Wahrnehmungsorganisation ist diesem Auslegungsschema nicht nur gefolgt, sondern erweitert diesen genetischen Ansatz, jegliche Form von Wahrnehmungs- und Bewusstseinsaktivität in einer passiven Ordnungsvorgabe zu gründen, durch seine Ableitung des universellen Welthorizontes aus der Gestalt- und Strukturbildung des Bewusstseinsfeldes. Nicht zuletzt damit zeigt sich die Verwandlung des bloßen Strukturbegriffes des »Bewusstseinsfeldes« als eines sinnlich-subjektives Wahrnehmungsmilieus in einen Organisationsbegriff, indem die Gestaltbildung als ursprünglich weltbildend begriffen wird. Diese Möglichkeit, durch die aufgewiesene Einheit von Gestaltund Weltbildung einen phänomenologischen Organisationsbegriff nicht mehr konstitutionstheoretisch vermittelt, sondern ausschließlich feldtheoretisch zu gewinnen, beruht jedoch nicht anders als die Kon­ sti­tutionsbestimmung auf einer methodischen Idealisierung. Eben weil der affektive Bewegungsraum strukturlos bleibt, wird die Bildung eines nach thematischem Zentrum, umgebendem thematischem Feld und Randbewusstsein gegliederten Weltraumes durch die induktive Verallgemeinerung derjenigen Ordnungsverhältnisse gewonnen, die am Einzelerlebnis der Gestaltwahrnehmung einleuchten: die Fundierung jeder Bewusstseinsaktivität in einer intentionalen Ordnungsvorgabe durch die Passivität. Für Gurwitsch ist die Welt als »Gesamt-Bewußtseinsfeld« mit seiner intentionalen Struktur »Thema und thematisches Feld« nur eine universellere Fassung der »Figur-Grund-Struktur« 526 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Erscheinung und Verweisung von Thema und thematischem Feld

[Gurwitsch 1975, S. 96]. Die Organisation des komplexen und ganzen Bewusstseinsfeldes lässt sich also von der eines einzelnen Wahrnehmungsmilieus her begreifen, einer einzigen und einfachen Gestalt, die sich jeweils von ihrem Hintergrund abhebt. Die am Leitfaden einer solchen intentionalen Einheitserfassung gewonnenen phänomenologischen Erkenntnisse werden dann – methodisch erstaunlich unreflektiert – auf die komplexen Fälle der Mehrheitserfassung übertragen im Stile der von Eugen Fink legitimierten operativen Begriffsbildung der Phänomenologie.101 Mit Blick auf die Gestaltqualitäten und die in ihnen zum Vorschein kommende intentional-thematische Einheit spricht Gurwitsch von einem »plötzlichen Auftauchen völlig fertiger Strukturen und Organisationsformen« [Gurwitsch 1975, S. 39]. Wenn »die Gestalttheorie es unterläßt, den Entwicklungsprozeß in Betracht zu ziehen« [ebd.], dann geschieht das in genetisch-phänomenologischer Perspektive völlig zu Recht, denn jegliche Aktivität der Organisation wird als eine höherstufige, fundierte Erkenntnisleistung betrachtet, die auf der fundierenden Passivität der Wahrnehmungsorganisation ihrerseits aufbaut. Im Lichte einer solchen Fundierungsordnung kritisiert Gurwitsch schließlich auch eine genetische Entwicklungstheorie wie die von Piaget, welche auf die aktive und produktive Erzeugung von Ordnungsstrukturen setzt. Die entwicklungspsychologische Entstehung von »Schemata« der Wahrnehmung setzt die Organisation des Bewusstseinsfeldes, die ursprünglich erscheint in der Abhebung einer Figur von ihrem Grund, immer schon voraus: »Wenn Wahrnehmungseinheiten schon ausgesondert sind, können die Piagetschen ›Schemata‹ an ihnen ansetzen.« (Gurwitsch 1975, S. 35] Die methodische Ausweitung und Anwendung von Verhältnissen der Fundierung einfacher Gestaltwahrnehmungen auf die komplexen Fälle der Organisation des »Gesamt- Bewußtseinsfeldes« hat jedoch eine methodische Achillesverse. Gestaltqualitäten sind in ihrer passiv vorgegebenen Einfachheit ruhende Gestalten, während die zum Feld gehörende intentionale Mehrheitserfassung aus einer Wahrnehmungsbewegung resultiert. Bei der bewegungsräumlichen Wahrnehmung scheint sich nun das Verhältnis von Aktivität und Passivität in der Entstehung von Ordnung und Organisation einfach umzukehren: Passiv vorgegeben ist ein unzusammenhängendes und ungeordnetes 101 Vgl. dazu Finks programmatischen Aufsatz Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie [Fink].

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

Feld, das letztlich durch kinästhetisch-leibliche Inszenierungen und das in ihnen wirksame aktive Wahrnehmungsinteresse überhaupt erst zu einem zusammenhängenden Wahrnehmungshorizont vereinigt wird. Dieses Problem einer bewegungsdynamischen Organisation des Wahrnehmungsfeldes, das als ein irritierender Stachel in der um systematische Integration und Konsistenz bemühten Konstitutionstheorie Husserls zumindest auftaucht102, wird in Gurwitschs strukturalistischer und objektivistischer Betrachtung von Ordnung und Organisation nahezu vollständig verdrängt. Das zeigt nicht zuletzt seine Auseinandersetzung mit Alfred Schütz, dem er vehement widerspricht in dem methodischen Versuch, die Gliederung des Wahrnehmungsfeldes nach Bedeutungsrelevanten auf eine nicht passive, sondern aktive Synthese – subjektive Interessenlagen – zurückzuführen. Den methodischen Nachweis zu führen, wie die vereinzelte Gestaltwahrnehmung die Organisation des »Gesamt-Bewußtseinsfeldes« fundiert, setzt voraus, die passive Vorgegebenheit der Figur-­GrundStruktur als habituelle Ordnungskonstante auch für die wechselnden thematischen Orientierungen auszuweisen. Gurwitsch übergeht hier die methodische Alternative, die Organisation des thematischen Feldes als eine aktive bewegungsdynamische Organisation durch das die Wahrnehmungsbewegung orientierende Wahrnehmungsinteresse zu begreifen, durch die Integration von Husserls Modell des Horizontbewusstseins in die gestalttheoretische Erklärung des Feldes. Zur »Verweisung des Themas auf das Feld« gehört immer auch das »Erscheinen des Themas in einem Feld« [Gurwitsch 1975, S. 259], d. h. das thema­ tische Objekt muss sich im Bewusstsein notwendig repräsentieren. Zu dieser Repräsentation gehört nun das Horizontbewusstsein, denn das einzelne Bewusstseinsobjekt erscheint immer in einem ganzen Bewusstseinsfeld. Hier bilden sich verschiedene Modi der Vorstellung aus, in der das Thema in seinem thematischen Feld erscheint: Der Vorstellungshorizont perspektiviert, lässt die Beziehung des Feldes auf sein zentrales Thema in verschieden orientierten Darstellungen erscheinen: Indem sich das Feld »auf das Thema hin organisiert«, welches »in dessen Zentrum […] auftritt«, erhält »das Thema vom thematischen Feld eine bestimmte Perspektive, Orientierung, Beleuchtung […], in der es sich darstellt« [ebd., S. 289]. Doch darf hier nicht die Umkehrung der Fundierungsverhältnisse übersehen werden, mit der Gurwitsch die im Modell des Horizont­ 102 Vgl. dazu das folgende Kap. II,5.

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4) Erscheinung und Verweisung von Thema und thematischem Feld

bewusstseins steckende Konstitutionstheorie eliminiert. Bei Husserl geht jeder möglichen thematischen Erfassung von Gegenständen das unthematische Horizontbewusstsein voraus. Die konstitutionstheoretische Unterscheidung »vorgegeben–gegeben« setzt voraus, dass die intentionale Einheit durch das Horizontbewusstsein passiv vorgegeben ist und damit der Vorstellungshorizont das Weltbewusstsein organisiert. Das bedeutet eine integrierende Funktion der Horizontbildung, alle möglichen thematischen Objektivierungen in ihrer Vereinzelung in ein System der Konstitution einzuordnen durch die Thematisierung unthematischer horizontintentionaler Verweisungen. Bei Gurwitsch dagegen geht die »Verweisung des Themas auf das Feld« dem »Erscheinen des Themas in einem Feld« ermöglichend voraus, d. h. die thematische Erfassung ist der möglichen Horizontbildung in einem vorstellenden Bewusstsein nicht nachgeordnet wie bei Husserl, sondern vorgeordnet. Genau damit modelt Gurwitsch die genetische Phänomenologie um in einen Strukturalismus, indem die Bedeutungsrelevanz als eine transzendente Strukturebene erscheint, welche die Vorstellungsaktivtät dann auf einer ganz anderen Ebene – derjenigen der Ereignisse – repräsentiert.103 Diese strukturalistische Verwandlung der Konstitutionstheorie bedeutet einmal, dass die Ordnung des Bewusstseinsfeldes eben nicht aus dem horizontintentional vorstellenden Bewusstsein stammt. Die Bildung von Vorstellungshorizonten wird als eine aktive Synthesis verstanden, welche die thematische Erfassung der »Struktur« der Bedeutungsrelevanz in der Passivität voraffektiver intentionaler Einheitsbildungen ihrerseits zur Voraussetzung hat. Zum anderen folgt daraus für das Horizontbewusstsein, dass es seine intentional-integrierende Funktion verliert. Die zum »Bewusstseinsfeld« gehörenden Horizonte 103 Die Unterscheidung von Struktur und Ereignis transzendiert das Empirische. Nach Lévi-Strauss bezieht sich der Begriff der Struktur »nicht auf die empi­ rische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle« [Lévi-Strauss 1977, S. 308]. Diese Transzendierung lässt Gurwitschs intentionale Interpretation der Gestaltwahrnehmung insofern erkennen, als er das Psychologisch-Reale, die Abhebung einer Figur von ihrem Grund im Bewusstsein, als eine Affektivität der »Erscheinung« versteht, die eine voraffektive Einheitsbildung in Gestalt der »Verweisung«, der thematischen Bedeutungserfassung, ihrerseits zur Voraussetzung hat. Andererseits wird in Gurwitschs phänomenologischem Strukturalismus die Struktur ihrer Gleich­ setzung mit einer Wahrnehmungsgestalt wegen gerade nicht konstruktivistisch als »Modell«, sondern phänomenologisch-«empirisch« als eine wahrnehmungsimmanente Habitualität begriffen.

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

verweisen auf Unthematisches, aber in ihnen liegt nicht die Organi­ sation des Feldes. Die Struktur Thema-thematisches Feld konstituiert sich keineswegs im vorstellenden Bewusstsein, ihre passiv-themati­ sche Erfassung hat vielmehr die Auslösung einer horizontbildenden Vorstellungsaktivität erst zur Folge, der diese Struktur allerdings ihre unverzichtbare Gegebenheit als ein solches Bewusstseinsphänomen verdankt, welches neben dem Thematischen auch das Unthematische des Bewusstseinshintergrundes mit umfasst. Das bedeutet schließlich für die Form der hori­zont­intentionalen Verweisung, dass sie statt eine Systembildung zu verkörpern den Charakter einer analogisierenden Ähnlichkeitsassoziation annimmt: Eine Gestaltbildung verweist auf unbegrenzt mögliche andere Gestaltbildungen derselben Struktur, die Abhebung von Figur und Grund vervielfältigt sich ins Unendliche. Diese strukturalistische Umdeutung des Modells des Horizontbewusstseins wird deutlicher noch als bei dem zur thematischen Gestalt­kohärenz gehörenden Innenhorizont bei der Relation Thema-­ thematisches Feld sichtbar, dem äußeren Vorstellungshorizont. Die Bedeutungsrelevanz, wie sie im Bewusstseinsfeld erscheint, begreift Gurwitsch mit Husserl als einen den engeren Bereich des Wahrnehmungsfeldes überschreitenden Außenhorizont.104 Doch setzt Gurwitsch hier den strukturalistischen Akzent, dass die im Horizontbewusstsein sich abspielenden Veränderungen des »Erscheinens« – die Übergänge vom Bewussten zum Unbewussten, vom explizit zum implizit Thematischen – keinen Einfluss auf die strukturelle Konstante der Bedeutungsrelevanz haben. Der Außenhorizont hat die Funktion, auf implizite Wahrnehmungsmöglichkeiten zu verweisen, sodass dann mit der Thematisierung von Unthematischen das Bewusstseinsfeld eine Verdeutlichung und Differenzierung in der Vorstellung erfahren kann.105 Der sogenannte »Feldstellenindex«, der »die Stellung des Themas im thematischen Felde« anzeigt, ist zunächst in Gestalt eines nur »kaum gegliederten und fast gänzlich undifferenzierten« Horizontbewusstseins gegeben und so »die Verweisung des Themas auf diesen 104 »Im Anschluß an Husserl benützen wir den Ausdruck ›Außenhorizont‹ zur Bezeichnung des gesamten Wahrnehmungszusammenhangs, der über das Wahrnehmungsfeld im engeren Sinne hinausgeht, dieses aber selbst­ver­ständ­ lich einschließt.« [Gurwitsch 1975, S. 297] 105 Das enthüllt vor allem die Betrachtung der »Feldpotentialitäten«. Die Be­ deu­­tungs­relevanz als eine Form des Horizontbewusstseins ist der Thema­ ti­sierung und Aufhellung, der Gliederung des Ungegliederten zugänglich. »Unbestimmtheit und Unentfaltetheit eines Horizontes besagt immer Ent­ wirr­barkeit und Bestimmbarkeit.« [Gurwitsch 1975, S. 296]

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4) Erscheinung und Verweisung von Thema und thematischem Feld

Horizont nur in ihrer allgemeinen Richtung spezifiziert« [Gurwitsch 1975, S. 291]. Die Ordnungsfunktion gründet so in den »Feldpotentialitäten«, umfasst damit die aktuell wahrgenommenen wie die noch nicht zum ausdrücklichen Wahrnehmungszusammenhang gehörenden po­ tenziellen Themen gleichermaßen.106 Doch gerade damit erweist sich die Relevanzbeziehung als an sich unabhängig von dem veränderlichen Bewusstseinsmodus der klaren und deutlichen Erfassung, der undifferenzierten Gesamterfassung des Feldes oder der expliziten Einzelerfassung von Themen. Das Verschmelzen des Feldes zu einer undifferenzierten Masse hebt die Bedeutungsrelevanz nicht auf.107 Die durch die »Verweisung des Themas auf das Feld«, also die durch die Bedeutungsrelevanz vorgegebene Zentrierung ist also gar nicht vom »Erscheinen des Themas in einem Feld« – den perspektivischen Orientierungen des Horizontbewusstseins – abhängig, insofern die geordnete Feldstruktur sowohl für das aktuelle als auch das inaktuelle Bewusstsein, die Erfassung einer impliziten oder expliziten Mehrheit von Gegenständen, gleichermaßen gegeben ist. Woher jedoch rührt die Attraktivität von Husserls Modell der Horizontintentionalität für eine Organisationstheorie des Bewusstseinsfeldes, wie Gurwitsch sie konzipiert? Die Antwort lautet: Die Hori­zont­ intentionalität stellt phänomenologisch-methodisch letztlich nur eine Modifikation der Aktintentionalität in Form einer Sinnimplikation des unbestimmt Mitgegebenen dar. So kann schließlich gezeigt werden, dass die einzelne Gestaltwahrnehmung und Figur-Grund-Beziehung das ganze Bewusstseinsfeld organisiert, indem wir thematische wie unthematische Gegebenheiten des Feldes in einem Akt und damit wie ein Objekt zu erfassen. »Die Thema-thematisches Feld-Struktur ist eine formale Organisation und hat universelle Bedeutung. In allen Bewußtseinsakten ist diese Struktur realisiert, welches Objekt (im 106 Von den »Feldpotentialitäten« handelt der § 55 von Das Bewußtseinsfeld, dessen erster Abschnitt von den »potentiellen Themen«. [Vgl. Gurwitsch 1975, S. 294 ff] Der »Außenhorizont« reicht nach Gurwitsch prinzipiell weiter als der bloße Wahrnehmungshorizont [ebd., S. 297], vgl. dazu die obige Fußnote. 107 Auch wenn Gegenständlichkeiten »zu einer globalen Masse verschmelzen können«, so erscheinen sie »dennoch immer für das relevant«, »was uns gerade beschäftigt« [Gurwitsch 1975, S. 272]. »Bestände des thematischen Feldes können vage und unbestimmt sein, sie können ineinander fließen, aber sie unterstehen immer der Bedingung, daß sie etwas mit dem Thema zu tun haben, daß dieses auf sie verweist, und zwar aufgrund ihres sachlichen Gehalts sowie des sachlichen Gehalts des Themas.« [Ebd., S. 273]

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weitesten Sinne des Wortes) auch immer in einem Akt gegeben ist.« [Gurwitsch 1975, S. 305] Die Horizontintentionalität hebt nicht etwa die Aktintentionalität auf, sie erweitert sie durch die mit dem aktuell Gegebenen sich verknüpfenden Verweis auf das Potenzielle, des Expliziten auf das Implizite. Das potenziell thematische Unthematische des Bewusstseinsfeldes bei Gurwitsch ist deshalb als ein Objekt in einem und nur einem Bewusstseinsakt gegeben in Gestalt der zum Objekt gehörenden »Erfahrung der indefiniten Fortsetzbarkeit des Zusammenhangs in jedem konkreten Fall« [ebd., S. 305 f] – einem abgeho­ benen einzelnen Gegenstand im Zentrum des Feldes also mit der ihm zugehörigen, durch denselben Bewusstseinsakt erfassbaren, weil noch ganz und gar unabgehobenen Mehrheit von Gegenständen in seiner Peripherie. »Der Ungegliedertheit dieser Masse von Gegebenheiten entspricht die Unbestimmtheit der Verweisungen.« [Ebd., S. 305] Diese aktphänomenologische Bestimmung, welche dem noematisch Impliziten noetisch die Unbestimmtheit eines vagen Horizontbewusstseins zuordnet, wirkt sich aus auf die »Bedeutungsrelevanz«, die deshalb nicht primär als eine definite, kontinuitätsstiftende Verknüpfung von wirklichen Wahrnehmungen, sondern »indefinite Fortsetzbarkeit« des Anschlusses von vorgezeichneten möglichen Erkenntnissen verstanden wird.108 So ist die zum Feld gehörende Mehrheitserfassung bei Gurwitsch keine explizite wie in Husserls zweistufiger, das thematisierende Wahrnehmungsinteresse einbeziehender genetischer Erklärung konfigurativer Einheiten, sondern nur noch eine implizite Mehrheit.109 Letztlich ist es diese implizite Mehrheitserfassung, wel108 »Genauer gesagt hat die Erfahrung von Relevanz hier den Sinn nicht so sehr der Kontinuität des Zusammenhangs, als vielmehr den seiner indefiniten Fort­ setzbarkeit.« [Gurwitsch 1975, S. 305] 109 Zu Husserls Analyse der Mengenbildung vgl. das folgende Kap. II,5. An James’ Auf­fassung des Feldes als einer »sinnlichen Totaleinheit« kri­ti­siert Gurwitsch, dass das Feld nicht »jeder inneren Differenzierung und Strukturiertheit ent­behrt« [Gurwitsch 1975, S. 294]. Auch wenn der Außenhorizont nur eine implizite Mehrheitserfassung enthält, so ver­kör­pert es doch wie jedes Horizontbewusstsein die Verweisung auf eine solche Mehrheit durch einen signitiven Akt, eine anschaulich erfüllbare Leer­vor­stel­lung, sodass der implizite Gegenstandsbezug mehr oder weniger an­schaulich oder unanschaulich, bestimmt oder unbestimmt sein kann je nach Nähe und Ferne der peripheren Themen zum thematischen Zentrum, was aber die Bedeutungsrelevanz als konstante Form der impliziten Verweisung gar nicht tangiert: »Nur die entfernteren Zonen des thematischen Feldes bieten den Anblick eines diffusen und unentfalteten Horizontes, dessen einzige Spezifikation Relevanz für das Thema ist.« [Ebd.]

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che bei Gurwitsch die strukturalistisch-objektivistische und nicht subjektive Auffassung der Bedeutungsrelevanz als eine Form von aktivem Interesse ermöglicht. Die Gegenstände des thematischen Feldes sind mit dem Thema ausschließlich durch den Sachzusammenhang verknüpft und bilden auf diese Weise in ihrer Gesamtheit eine mit dem Thema »kopräsente«, objektive Einheit auch dann, wenn durch die perspektivische Verkürzung des Vorstellungshorizontes Thematisches unthematisch wird und damit nicht mehr von Interesse ist, indem die peripheren Objekte »zu einer globalen und kompakten Masse verschmelzen können, dabei aber dennoch immer als relevant für das erscheinen, was uns gerade beschäftigt.«110 Gurwitschs Behauptung, dass die Relevanzbeziehung selbst dann erhalten bleibt, wenn die Objekte in den ferneren Zonen des Feldes nicht mehr explizit im Bewusstsein vergegenwärtigt werden111, spiegelt einmal mehr seine reduktionistische und »noematische« Deutung des Bewusstseinsfeldes wider. Husserls Schema von »Hyle« und »Auffassung« entsprechend ist das Feld überhaupt kein objektives, sondern nur ein subjektives Konstitutionsphänomen, ein bloßes Bewusstseins­ feld eben, ein rein »hyletisches« affektives Relief von Bewusstseinsvordergrund und Bewusstseinshintergrund, das als eine fundierende passive Synthesis noch keine höherstufige intentionale Auffassungsaktivität enthält und damit auch keine den subjektiv wechselnden Bewusstseinsmodalitäten gegenüber objektiv konstante Bedeutungskonstitution. Schwindet das Bewusstseinsobjekt durch das Nachlassen der Affektion und damit auch die Aufmerksamkeit und das Interesse, dann betrifft das ebenso sehr die thematische intentionale Beziehung und ihr Bedeutungsobjekt. Der Prozess der Verschmelzung von Objekten zu einer ungegliederten Masse erscheint bei Husserl deshalb als die tendenziöse Auf‌lösung der Objektbeziehung überhaupt – nicht nur als

110 Gurwitsch 1975, S. 272. Der betreffende § 51 beschäftigt sich mit der »Un­ bestimmtheit des thematischen Feldes«. »Völlige Bestimmtheit, Differenziert­ heit und Gegliedertheit finden sich nur in den Zonen des thematischen Feldes, die dem Thema relativ »nahe« sind; die »entfernteren« Zonen bleiben vage und verschwommen« [ebd., S. 273]. 111 »Wie bereits bemerkt, herrschen zudem Vagheit und Unbestimmtheit in der Regel in den ›entfernteren‹ Teilen des thematischen Feldes vor. Ein gegebenes Thema verweist nicht nur auf die ›benachbarten‹ Teile des thematischen Feldes […] sondern auch auf ›entferntere‹ Zonen […] und über diese Zonen hinaus auf Gegebenheiten, die, schwer voneinander unterscheidbar, zu einer ungegliederten Masse zusammenfließen.« [Gurwitsch 1975, S. 305]

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ein Verlust an anschaulichen Differenzierungen. Sie ergreift gerade auch die signitiven Bedeutungsintentionen, die schließlich vom absoluten Dunkel des Bewusstlosen, der Nacht des Unbewussten als einer intentionalen »Null«-Sphäre, drohen verschlungen zu werden.112 Weil bei Gurwitsch die intentional-objektivierende Sinngebung schon in der fundierenden Passivität – der rezeptiven Gestaltwahrnehmung – verankert wird, das Bewusstseinsobjekt deshalb immer auch ein intentionales Objekt ursprünglich repräsentiert – die »Verweisung des Themas auf das Feld« vermittelt durch das »Erscheinen des Themas in seinem Feld« –, gründet sich die Möglichkeit, ein nur peripher erfasstes, minder bewusstes Objekt intentional festzuhalten, nicht ursprünglich auf das Bewusstsein, sondern den Sinn, den es repräsentiert: die thematische Beziehung in Form der »Bedeutungsrelevanz«, die vom Wandel des Bewussten zum Unbewussten als solche nicht betroffen wird. Die Bildung des Bewusstseinsfeldes genetisch als eine horizont­ intentional sich ins Unendliche erweiternde Gestaltbildung zu verstehen, hat jedoch einen methodische Makel: die systematische Ort­losigkeit des Randbewusstseins. Zwar ist die Entdeckung, dass Organisation als solche eine diakritische Funktion hat, Ordnung immer auf eine Außenseite des Ungeordneten verweist, das unbestreitbare Verdienst von Gurwitschs strukturalistischer Feldtheorie. Durch die Fundierung des Vorstellungshorizontes in der thematischen Erfassung von Bedeutungsrelevanz wird deutlich, dass das Bewusstseinsfeld kein bruchloses Kontinuum darstellt in Gestalt einer anschaulich gegebenen Ordnung, die sich ins Unanschauliche nur scheinbar verliert, weil das Horizontbewusstsein die thematisierende Veranschaulichung auch des entlegendsten Unthematischen als Möglichkeit immer bereit hält. Der Außenhorizont wandelt sich bei Gurwitsch vom entgrenzenden Vorstellungs- in einen begrenzenden Wahrnehmungshorizont. Der Rand bezeichnet nicht nur den Limes des Unvorstellbaren im Kontinuum des Vorstellungshorizontes, das Undeutlich-Verschwommenen und nahezu Bewusstlosen, sondern einen Bereich überhaupt außer­ halb der intentionalen Sinngebung, das Irrelevante gegenüber dem Relevanten.113 Das Randbewusstsein macht letztlich deutlich, dass sich das Wahrnehmungsfeld nicht konstitutionstheoretisch mit dem Be­ wusstseinsfeld gleichsetzen lässt, eben mehr als ein bewusstseinsperspektivisches affektives Relief verkörpert, sondern auf einer intentio112 Husserl, Hua XI, § 35, S. 170. Vgl. Teil B, Kap. III,5. 113 Vgl. Gurwitsch 1975, § 52, S. 274 ff.

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nalen, thematischen Bedeutungserfassung beruht. So kann Gurwitsch letztlich auch die »fringes« von William James strukturalistisch deuten nicht als Vorstellungshorizonte, sondern als bedeutende Verweisungen von Themen zu einem thematischen Feld allein »hinsichtlich ihres sachlichen Gehalts« [Gurwitsch 1975, S. 285]. Gedanken oder Vorstellungen werden »angenommen oder abgelehnt, je nachdem, ob sie als zum Thema passend erscheinen oder nicht« [ebd.]. Das Randbewusstsein enthält gar keine »sachlich« bedeutungsrelevanten, thematischen Verknüpfungen, sondern nur solche rein assoziativen Verbindungen, die ohne eine intentionale Sinngebung zu erfahren simultan oder sukzessiv erfasst werden.114 Doch genau mit dieser Unterscheidung von assoziativen und intentionalen Verweisungen entsteht eine empfindliche systematische Lücke in der genetischen Erklärung des Randbewusstseins. Ist die Figur-Grund-Beziehung wirklich nur ein »Sonderfall der allgemeinen formalen Struktur Thema-thematisches Feld« [Gurwitsch 1975, S. 259]? Die psychologische Herkunft der Gestalttheorie erweist sich hier letztlich als methodische Hypothek: Eine Figur hebt sich ab von einem Grund – und dieser ist nichts anderes als ein homogener Bewusstseinshintergrund, aus dem eine Gestalt vordergründig heraustritt. Als eine Form nur der exklusiven Abhebung eines kohärenten Komplexes von Sinnesdaten im Bewusstsein enthält der Grund die Figur-­Grund-Beziehung überhaupt kein Randbewusstsein. Eine solche Inhomogenität kann also in den homogenen Bewusstseinshintergrund nur hineinkommen durch die zum Bewusstseinsfeld gehörende Funktion der thematischen Bedeutungserfassung, wonach das Be­w usst­ seins­phänomen eine Struktur der Bedeutungsrelevanz und -irrelevanz seinerseits repräsentiert. Damit entsteht jedoch ein unerklärlicher hermeneutischen Überschuss der Gestaltwahrnehmung gegenüber. Die klassifikatorische Unterscheidung von assoziativen und intentionalen Verweisungen vermag in Gurwitschs strukturalistischer, streng noematischer Interpretation des Bewusstseinsfeldes deshalb nicht zu überzeugen, weil sie unreflektiert auf das konstitutions­ theoretische Konzept einer Strukturgleichheit von Innen- und Außen­ horizont zurückgreift. Beim Innenhorizont hat die Verweisung den 114 »Schließlich haben wir einen dritten Typus in der Verbindung vor uns, die zwischen dem thematischen Feld einschließlich des in seinem Zentrum stehen­ den Themas und dem Rand besteht. Hier handelt es sich um eine Verbindung rein zeitlicher Art, die sich völlig auf die Simultaneität oder unmittelbare Suk­ zession der betreffenden Akte reduziert.« [Gurwitsch 1975, S. 284]

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Charakter der intentionalen Objektbestimmung. Sie kann von daher als diejenige horizontintentionale Thematisierung von Unthematischen, welche eine zugrunde liegende gegenständliche Einheit expliziert, abgehoben werden von der bloß assoziativen Verweisung, die keine solche intentionale Funktion der Objektbestimmung hat. Aber eine solche konstitutionstheoretische Interpretation der Differenz von Feld und Rand ist auf den methodischen Grundlagen einer universellen phänomenologischen Feldtheorie gar nicht möglich. Es entsteht hier nur der Zirkel, das, was einerseits als fundierende Bedingung für die horizontale Randbildung fungiert, die Unterscheidung von Bedeutungsrelevanz- und Irrelevanz, andererseits wiederum durch eine strukturbildende Leistung eben dieses Horizontbewusstseins zu erklären. Damit wird schließlich in methodisch verwirrender Weise der Horizont einmal als Wahrnehmungs- und das andere Mal als Vor­ stellungshorizont gedacht. Dieses Dilemma offenbart sich nicht zufällig in der Diskussion, die Gurwitsch mit Alfred Schütz führt, wo es um die genetisch-phänomenologische Alternative geht, die Organisation des Feldes entweder aus einer intentionalen Strukturbildung in der Passivität oder der Aktivität von subjektiven Interessenlagen zu erklären. Hier zeigt sich, dass Gurwitsch seinen Gedanken des ausschließlich noematischen Charakters der Bedeutungsrelevanz nur retten kann, wenn er die Unterscheidung von bedeutungsrelevant/irrelevant auf das bloße »Erscheinen des Themas in einem Feld«, d. h. letztlich bloß subjektive Konstitutionsbedingungen von wechselnder Aufmerksamkeit und Interesse, zurückführt. Noematisch – als eine passive Synthesis betrachtet – ist im thematischen Feld schlechterdings alles bedeutungsrelevant, weil sich die Figur-Grundstruktur in horizontintentionaler Analogie als eine allen möglichen Wahrnehmungen gemeinsame Invariante darstellt. Gurwitsch verteidigt Schütz gegenüber seinen Anspruch, die Struktur Thema-thematisches Feld in jeder Hinsicht als eine in der Passivität aufgehobene Habitualität zu erweisen. Für ihn ist nicht daran zu rütteln, dass die »Relevanz im noematischen Sinne« von der Beziehung auf ein Ich, seinen okkasionell wechselnden Motivationslagen und Entscheidungen, unabhängig ist [vgl. Gurwitsch 1975, S. 276 f]. Welches Thema gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Interesses steht, mag okkasionell wechseln, das ändert aber nichts an der noematisch konstanten Organisationsstruktur von Thema und thematischen Feld. Gurwitsch gibt dafür das Beispiel des Historikers, der die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus zu seinem 536 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Forschungsgegenstand hat.115 Durch die jeweils verschiedene Interessenlage können die zum Thema gehörenden peripheren thematischen Felder und kopräsenten Objekte in der Tat wechseln – etwa einmal die geographischen Entdeckungen von primärem Interesse sein, oder aber die Auswirkungen dieses Ereignisses für die Macht Spaniens. Für den nur an der Geographie interessierten Forscher erscheint dieser Machtfaktor »irrelevant und wird daher aus dem thematischen Felde an dessen Rand abgedrängt« [ebd., S. 290]. Diese Erklärung für sich genommen scheint jedoch eher Schütz als Gurwitsch in die Hände zu spielen. Zwar zeigt Gurwitsch, dass für den peripheren Themenwechsel die noematische Bedeutungsrelevanz verantwortlich ist: Die Auswechslung des thematischen Feldes bedeutet nicht nur eine Veränderung des Bewusstseinsmodus, sondern der Bedeutung, der Relevanz oder Irrelevanz durch die Verschiebung von kopräsenten Themen vom Feld in den Rand.116 Aber genau dieser Bedeutungswandel verdankt sich letztlich einem Wechsel der Interessenlage, wäre mit Schütz einzuwenden. Einen solchen Einspruch lässt Gurwitsch jedoch gar nicht erst zu, indem er im Einklang mit Husserls Erfahrung und Urteil unterscheidet zwischen dem Wechsel von Aufmerksamkeit als einer okkasionellen Störungsquelle und der davon im Grunde unberührt bleibenden dauerhaften thematischen Fixierung: »Es ist aber nicht so, als ob das Thema und der in Rede stehende Gedanke an und für sich genommen füreinander irrelevant wären. Sie sind es gar nicht unter allen Umständen. Das Thema kann sich sehr wohl in einer solchen Perspektive darstellen, dass dieser Gedanke zu ihm passt. Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen jedoch wird [er] […] als nicht zu ihm passend und in diesem Sinne als störend abgewiesen.« [Gurwitsch 1975, S. 290] Für uns, d. h. in Bezug auf die subjektive Bedeutungsrelevanz der durch Aufmerksamkeit und Interesse geleiteten wechselnden Wahrnehmungsorientierung, wird ein Gegenstand angenommen oder abgelehnt und damit relevant oder irrelevant, nicht aber an und für sich in Bezug auf seine objektive, noematische Bedeutungsrelevanz für die bleibende Erkenntnisorientierung. Gurwitsch weicht hier also Schütz mit Husserl aus, indem er zwischen subjektiven und objektiven Bedingungen der thematischen Erfassung unterscheidet und nimmt 115 Vgl. Gurwitsch 1975, S. 289 f. 116 Das »thematische Feld« kennzeichnet Gurwitsch dem irrelevanten »Rand« gegenüber als »Relevanzbereich«. Vgl. dazu den § 52 »Relevanz und Irrelevanz« [Gurwitsch 1975, S. 275 ff.].

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dabei zugleich seine strukturalistische Interpretation des Horizontbewusstseins zu Hilfe: Mit Blick auf das, was nicht von Interesse ist, den zum thematischen Feld gehörenden »Rand«, kommen das »Erscheinen des Themas in seinem Feld« und die »Verweisung des Themas auf das Feld« einfach nicht zur Deckung. Gurwitschs Außenhorizont ist nicht anders als derjenige Husserls ein den Wahrnehmungshorizont entgrenzendes Verweisungsbewusstsein – nur freilich nicht der integralen, systematischen Objektbestimmung, sondern der assoziativen Analogiebildung, die sich darauf stützt, dass die Gestaltkohärenz der kontextuell variablen Bedeutungsrelevanz gegenüber eine konstante Strukturbildung darstellt.117 Auch wenn »ein thematisches Feld durch ein anderes ersetzt« wird [Gurwitsch 1975, S. 260], behält das Thema im Mittelpunkt seine Identität und zentrale Bedeutung. Diese »Unabhängigkeit des Themas von seinem jeweiligen thematischen Felde und folglich von jedem thematischen Feld überhaupt« [ebd., S. 290) sichert also nicht nur die Gestaltkohärenz, sondern in Bezug auf die Bedeutungsrelevanz die Konstanz der »Verweisung des Themas« dem wechselnden »Erscheinen des Themas« gegenüber. Durch Analogiebildung im Rahmen des Horizontbewusstseins, immer wieder andere zunächst unthematische Felder thematisierend auf stets dasselbe thematische Zentrum zu beziehen, iteriert sich gewissermaßen die Struktur Thema-thematisches Feld, die zunächst an eine singuläre Gestaltwahrnehmung gebunden ist, und dehnt sich so auf das ganze Bewusstseinsfeld aus: Ein und dasselbe Thema erscheint in immer wieder neuen Kontexten und das Feld zeigt damit in den verschiedensten Wahrnehmungsmilieus eine überall identische Struktur. Diese horizontintentionale Analogiebildung ist assoziativ, insofern die kohärente Gestalt in wechselnden Wahrnehmungsfeldern auftritt, wo Verweisungen auf das thematische Zentrum erst geknüpft werden, die vorher nicht bestanden. Die Bedeutung des organisierenden thematischen Zentrums erweist sich in den verschiedenen assoziativen Verknüpfungen als ein konstanter Orientierungspol, weswegen die zum Thema gehörenden wechselnden Bedeutungsrelevanzen schließlich als beliebig austauschbar erscheinen müssen. Die analoge Strukturbildung durch das Hori­zontbewusstsein erläutert Gurwitsch deshalb am exemplarischen 117 Vgl. dazu die zusammenfassende Übersicht Die Gliederung des Bewußt­seins­ feldes, wo Gurwitsch drei wesensverschiedene Typen der Verbindung abhebt: Gestaltkohärenz, Bedeutungsrelevanz und die assoziativen Verknüpfungen des Randbewusstseins (§ 52 e) [Gurwitsch 1975, S. 284 f].

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Beispiel der Satzbildung, einer prädikative Syntax mit ihrer festen Zuordnung von wechselnden prädikativen Bestimmungen zu einem Substrat, als der beharrenden Grundbedeutung in ihren verschiedensten Erweiterungen.118 So kann derselbe Satz »Christoph Columbus entdeckte Amerika im Jahre 1492« in ganz unterschiedlichen Satzzusammenhängen auftauchen, »in einer Biographie über Columbus, in einer Geschichte Amerikas, in einer Geschichte Spaniens, in einem Bericht über die großen geographischen Entdeckungen usw.« [Gurwitsch 1975, S. 258]. Gurwitsch geht davon aus, dass wir uns in all diesen Fällen auf den Satz über Christoph Columbus und seine Entdeckung als dasselbe zentrale Thema konzentrieren, es also gewissermaßen die Keimzelle der Satzbildung verkörpert.119 Bezeichnend wird mit einer solchen sprachanalytischen Demon­ stration das Problem des Randbewusstseins ausgeblendet, die Betrachtung solcher Fälle, wo der Satz über Columbus gerade nicht überall eine solche zentrale Rolle für die Organisation des Bewusstseinsfeldes durch die Syntax spielt. Für Columbus’ Biographie oder die Geschichte Amerikas mag seine Entdeckung das zentrale Thema sein, auf das alle Fäden der Verweisung wie ein bündelnder Fokus zulaufen, weit weniger ist das für die lange Geschichte Spaniens schon vor Columbus oder gar für die geographischen Entdeckungen der Fall, wo Columbus nur ein Entdecker unter vielen anderen ist. Gurwitsch kann durch seine gestalttheoretisch fundierte Auffassung der Selbständigkeit des zentralen Themas seinem Feld gegenüber zwar begründen, dass es verschiedene mögliche Bewusstseinsfelder gibt, die zu einem Thema passen in Gestalt solcher zu den »Seins-Sphären« gehörender 118 Das Beispiel der Syntax spielt eine zentrale Rolle bei Gurwitsch nicht zuletzt durch seine Aneignung von James’ Theorie der »fringes«, deren Funktion darin besteht »von ›substantive part‹ zu ›substantive part‹ überzuleiten« [Gurwitsch 1975, S. 251]. »›Affinität‹ kann bestehen zwischen dem, was uns in Anspruch nimmt, worauf sich unsere geistige Tätigkeit richtet, dem Thema (wie wir von nun an sagen werden) und den Wörtern, Sätzen, Bildern, Vorstellungen usw., die uns gerade in den Sinn kommen.« [Ebd.] 119 »Nennen wir Thema das, was durch den betreffenden Satz [über Columbus, d. Verf.] ausgedrückt wird. Es ist das, worauf wir uns gerade konzentrieren, wenn wir den betreffenden Satz mit Verständnis und Aufmerksamkeit hören und lesen. Während wir uns mit dem Thema beschäftigen, d. h. damit, dass ›Christoph Columbus Amerika im Jahre 1492 entdeckte‹, kommen uns andere Dinge in den Sinn, wie z. B. die im 15. Jahrhundert geläufigen Ansichten über die Form der Erde […] oder das Anwachsen der spanischen Macht infolge dieser Entdeckung usw. Derartiges ist nicht nur gleichzeitig mit dem Thema gegeben, sondern dieses verweist durch seine ›fringes‹ darauf.« [Gurwitsch 1975, S. 258]

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»natürlichen Gruppierungen« der lebensweltlichen oder wissenschaftlichen Erfahrung wie die historische oder soziale Welt, verschiedene Zahlensysteme etc.120 Aus dem selben Grund einer von wechselnder Bedeutungsrelevanz im Prinzip unberührbaren Gestaltkohärenz hält sich unter Umständen in dem einen Kontext ein Thema im Zentrum, während es in einem anderen von nur peripherer Relevanz ist oder gar als bedeutungsirrelevant an den Rand des Bewusstseins geschoben wird. In »einem gegebenen Augenblick nimmt der zum Thema gewählte Gegenstand den Mittelpunkt der betreffenden Seins-Sphäre an« [Gurwitsch 1975, S. 307] – d. h. für Gurwitsch: in einem ande­ ren gegebenen Augenblick eben ein anderer. Damit wird die Struktur Thema – thematisches Feld zu einer Art Leerform, die mit konkreten Bewusstseinsinhalten in Gestalt permutativ variabler Zentren jeweils anders zu füllen ist. Ein solch strukturalistischer Formalismus widerspricht jedoch dem selbstgesetzten Anspruch Gurwitschs, die habituelle Verfügbarkeit von Gegebenheiten des Bewusstseinsfeldes vollständig aufzuklären. Dazu reicht es nicht aus, lediglich auf der noematischen Strukturebene der Passivität, der »Verweisung des Themas auf das Feld«, die unbegrenzte Iterierbarkeit einer Ordnungskonstante und die Austauschbarkeit aller möglichen Bewusstseininhalte aufzuzeigen. Es muss auch für die Ereignisebene der Bewusstseinsaktivität, dem »Erscheinen des Themas in seinem Feld«, die Möglichkeit nachgewiesen werden, wie ein Thema, das im Zentrum der Aufmerksamkeit und es Interesses steht, dauerhaft im Zentrum verbleiben kann und so davor bewahrt wird, in die Peripherie des Feldes oder über den Rand hinaus geschoben zu werden. Einen »Rand« gibt es jedoch nicht für die grenzenlos iterierbare und permutierbare noematische Strukturbildung, wohl aber für die notwendig begrenzte Wahrnehmungs- und Bewusstseinsaktivität: Als wirklich bleibend bedeutungs- und ordnungsrelevant erweist sich immer nur das, was nachhaltig von Inter­ esse ist. Der zweite schwerwiegende Einwand neben der kritischen Frage nach dem gestalttheoretisch ortlosen Randbewusstsein trifft Gurwitschs aktphänomenologische Auslegung des zur Relevanzbeziehung von Thema und thematischem Feld gehörenden Außenhorizontes. Der den Wahrnehmungshorizont überschreitende Vorstellungshorizont vereinigt die zum peripheren Feld gehörende Komplexität von Gegen120 Gurwitsch 1975, S. 307 ff.

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standbezügen dadurch, dass er diese als eine nicht explizite, sondern nur implizite Mehrheit versteht. Wie ist dann aber die zum Wahrnehmungshorizont gehörende explizite Mehrheitserfassung feldtheoretisch als eine Organisationsstruktur überhaupt zu erklären? Im Falle der Geschichte geographischer Entdeckungen ist Columbus zwar ein thematisches Zentrum, aber eines unter vielen: Jede Entdeckung bedeutet ein zentrales historisches Ereignis und damit den Beginn einer neuen und anderen Geschichte. Doch können die Akteure und ihre einzelnen Geschichten in der ganzen Geschichte geographischer Entdeckungen nicht einfach gegeneinander ausgewechselt werden, so, als handelte es sich bloß um jeweils andere, im Prinzip unzusammenhängende historische Milieus. Insofern die Entdecker als zentrale »Figuren« solcher Milieus ihrerseits ein zusammenhängendes Feld bilden, also nicht bloß verschiedene Geschichten schreiben, sondern zu ein und derselben Geschichte gehören, müssen sie um die exklusive Rolle eines organisierenden Zentrums dieser Geschichtsschreibung konkurrieren. Warum soll sich in einer solchen Historie der großen Entdeckungen alles nur um Columbus drehen, warum nicht um James Cook, Fernando Magellan oder Alexander von Humboldt? Verschiedene Gewichtungen und damit Abhebungen von Epizentren im Bewusstseinsfeld können mit Hilfe des Modells des Vorstellungshorizontes nur so erklärt werden, dass sich stets das als mehr bedeutungsrelevant erweist, was sich in näherer und nicht weiterer Entfernung zum thematischen Zentrum befindet. Damit bezieht sich die unterschiedliche Gewichtung der Bedeutungsrelevanz jedoch allein auf das »Erscheinen des Themas in einem Feld«. Der Grad der deutlichen Abhebung und Differenzierung von Gegenständen im Feld gibt Auskunft darüber, wie »nah« oder »fern« ein bestimmter Feldbereich zum thematischen Zentrum steht.121 Ob ein peripheres Thema also eher marginal oder wichtig und bedeutsam erscheint, darüber entscheidet bei Gurwitsch letztlich nicht die noematische Bedeutungsrelevanz in Gestalt des »Feldstellenindexes«, sondern die Form der Noese, das horizontintentionale Bewusstsein. Diese Erklärung ist jedoch methodisch höchst unbefriedigend, denn sie gibt keine Antwort auf die für Gurwitschs Feldtheorie entscheidende programmatische Frage des Nachweises habitueller Bedingungen der Organisation: Eine 121 »Völlige Bestimmtheit, Differenziertheit und Gegliedertheit finden sich nur in den Zonen des thematischen Feldes, die dem Thema relativ ›nahe‹ sind; die ›entfernteren‹ Zonen bleiben vage und verschwommen, weisen jedoch eine spezifische Färbung im zuvor erwähnten Sinne auf.« [Gurwitsch 1975, S. 273]

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habituell verfügbare Organisation kann die zur expliziten Mehrheitserfassung des Wahrnehmungshorizontes gehörende Gewichtung der Bedeutungsrelevanz und die damit verbundene Bildung von Epizentren letztlich nur entwickeln, wenn sie nicht bloß das wechselnde, mal anschauliche und auch wieder unanschauliche »Erscheinen des Themas in seinem Feld« betrifft, sondern die »Verweisung des Themas auf das Feld«, d. h. die von den Anschauungsmodalitäten des Vorstellungshorizontes unabhängige, bleibende intentionale Bedeutung.

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Husserl und Leonardo da Vinci: Das Problem der bewegungs­ dynamischen Einheit des Wahrnehmungsfeldes

Wie ist eine Mehrheit von Gegenständen im Wahrnehmungsfeld horizontintentional gegeben? Husserls subtile Analysen in Erfahrung und Urteil untergraben – wenn auch nicht im enttäuschenden Ergebnis, so aber doch in der Unbestechlichkeit der phänomenologischen Deskription – das konstitutionstheoretische Vorurteil, wonach nicht nur der Innen-, sondern auch der Außenhorizont einen Vorstellungshorizont verkörpert, in der die wahrgenommene Mehrheit als eine nicht expli­ zite sondern implizite erfasst wird, sodass sie schließlich als intentionale Erscheinung von einer systematisch geordneten gegenständlichen Einheit zugeordnet wird. Lässt sich eine Menge von Gegenständen wirklich so erfassen wie ein einzelner Gegenstand in einem nur nicht einfachen sondern synthetisch komplexen, spontanen Akt, oder kommt die Mengenbildung nicht vielmehr in einer fluktuierenden Wahrnehmungsbewegung zustande, einer sukzessiven Folge von solchen zunächst unverbundenen Akten, die sich zu einem geschlossenen Wahrnehmungshorizont erst assoziativ verdichten? Mit seiner Voraussetzung von »voraffektiven Gesetzmäßigkeiten der Einheitsbildung« [Husserl, Hua XI, § 33, S. 134] wollte Husserl letztlich die intentionale Organisation auch von solchen in der Passivität der Affektion wirksamen bewegungsdynamischen, assoziativen Synthesen sicherstellen. Im Falle der Mengenerfassung erweist sich aber genau diese Annahme eines gegenständlichen Ordnungsfundamentes, welche die assoziativen Verdichtungen im Ganzen gewissermaßen tragen könnte, als eine eher gewaltsame und damit zutiefst fragwürdige konstruktive Hypothese. Die zum Außenhorizont gehörende explizite unterscheidet sich nach Husserl grundlegend von der bloß impliziten Mehrheitserfassung des Innenhorizontes eines 542 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Husserl und Leonardo da Vinci

gegebenen einfachen Gegenstandes. Die thematische Erfassung einer Menge kommt nicht etwa dadurch zustande, dass die wahrnehmungsmäßige Zuwendung die Gruppe von Objekten zunächst als ein Einheitliches und Ganzes erfassen würde, um sie dann erst nachträglich auseinanderzulegen in ihre Teile – sie also gewissermaßen erst über den Umweg der geordneten Objekt- und Konstitutionsbestimmung zur Wahrnehmung einer Vielheit von Objekten gelangte. Die »Abhebung des mehrheitlich Seienden führt nicht zu einer einheitlichen gegenständlichen Zuwendung«, vielmehr wenden wir uns den Objekten jeweils einzeln zu [Husserl 1972, § 24 d, S. 134]. Für Husserl entsteht so die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass »die Mehrheit sich als eigener Gegenstand, als »Menge« konstituiert« [ebd., S. 136], d. h. eine Vielheit von Gegenständen über die bloß assoziativ-synthetische Verknüpfung hinaus als eine intentionale, thematische Einheit und damit ein Objekt der Konstitutionsbestimmung erfasst werden kann. Diese Möglichkeit wird schließlich begründet durch eine Analogie mit der thematischen Explikation122 als Form der Objektkonstitution: In »gewisser Weise haben wir es auch hier mit Partialerfassungen innerhalb eines bewußtseinsmäßigen Ganzen zu tun« [ebd., S. 135], insofern nämlich auch »eine Mehrheit, eine bloße Koexistenz vorgegebener individueller Gegenstände […] eine Einheit gleicher Art [ausmacht] wie ein einzelnes Individuum« [Husserl 1972, § 36, S. 182].123 Husserls methodisch verwickelte Begründung ist lehrreich vor allem deshalb, weil sie zeigt, dass die einfache Gestaltwahrnehmung in einem singulären Akt nicht ausreicht, um die mehrheitliche Ordnung des Bewusstseinsfeldes zu erklären. Nicht allein schon durch die Abhebung einer konfigurativen Einheit von ihrem Grund, sondern erst durch die Wirksamkeit des Wahrnehmungsinteresses entsteht überhaupt die thematische Verknüpfung einer Mehrheit von Gegenständen: Es »erregen die einzelnen Glieder der Mehrheit von vornherein das Interesse und werden alsbald einzelweise thematisch: einzelweise und doch wieder nicht bloß vereinzelt, sondern thematisch sich verkettend; sofern nämlich das Interesse der sich schon im Hintergrund assoziierenden Gleichheit oder Ähnlichkeit mit sonstigen Momenten 122 Husserl spricht ausdrücklich von einer »Analogie mit dem Falle der Explikation« [Husserl 1972, § 24 d, S. 135]. 123 Der Grund dafür liegt nach Husserl in den universellen Gesetzen der Zeit­ konstitution, der Erfassung auch einer Mehrheit von Gegenständen durch eine der Wahrnehmungsbewegung vorgängige Vorstellung der Sukzession und damit einheitlichen Dauer.

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einer konfigurierenden Assoziation folgt, und jedes Einzelinteresse durch eine Art Interessendeckung nicht nur jedem neuen Einzelnen zugute kommt, auf es überströmend, sondern auch jedem schon vordem Erfaßten, an ihm haften bleibend« [Husserl 1972, § 36, S. 134]. Jeder einzelne Gegenstand weckt Interesse, und infolge einer aktiv konfigurierenden Assoziation kommt es dann zur Übertragung des Interesses auf andere Gegenstände – eine assoziative Verknüpfung ist hier also die Grundlage der intentionalen, thematischen Verknüpfung und nicht etwa umgekehrt. Diese Objektivierung durch das aktive Wahrnehmungsinteresse ist im Unterschied zur spontanen Abhebung der Figur von ihrem Grund in der Passivität – die Ähnlichkeitsassoziation im Bewusstseinshintergrund – sukzessiv und synthetisch: Die Bildung von konfigurativen Einheiten durch das Interesse macht keine spontane Gebung, vielmehr einen Prozess, ein »Nacheinander von Aktivitäten« aus [Husserl 1972, § 36, S. 135]. Diese sukzessive Synthese vollzieht sich in der Wahrnehmungsbewegung, also in der von einem zum anderen Gegenstand jeweils wechselnden, hin und her fluktuierenden Wahrnehmungsorientierung. Damit die aktive Übertragung von Interesse aber die Form der intentionalen Objektivierung überhaupt annehmen kann, muss sie nach Husserl auf eine Gestalt­ erfassung in der Passivität der assoziativen Weckung ihrerseits zurückgreifen: »Im allgemeinen ist im mehrheitlichen Durchlaufen die Einheit der Aktivitäten nicht durch Aktivität, sondern durch Verbin­ dung aus Quellen der Passivität hergestellt.« [Ebd., S. 135 f] Die »Menge« ist eine »konfigurative Einheit« [Husserl 1972, § 36, S. 134] – Figur und Konfiguration – die Analogie von Mehrheitserfassung und Explikation stützt sich letztlich auf die Ähnlichkeitsassoziation. Husserl modifiziert hier sein Modell der passiven Synthesis, welche die Bildung eines Bewusstseinsobjekts durch die Abhebung einer Figur von ihrem Grund und die daraus resultierende Weckung von Aufmerksamkeit beinhaltet.124 Im Falle der Konfiguration handelt es sich lediglich um eine nicht einfache, sondern komplexe »Urassoziation«, die Assoziation durch Ähnlichkeit. Das aktiv synthetisierende Wahrnehmungsinteresse bildet dieser ursprünglichen Entstehung des Bewusstseinsobjektes gegenüber eine konstitutiv-nachträgliche Ob124 Die »Gruppenbildung« geschieht nach Husserl allgemein durch »das Sich­ abheben einzelner Glieder von dem homogenen Untergrunde«. Insofern sind alle »Abgehobenheiten im Felde« »Produkt assoziativer Synthesen« [Husserl 1972, § 17, S. 79].

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jektivierung zweiter Stufe, welche das Bewusstseinsobjekt als ein Objekt des Interesses habituell verfügbar macht.125 Damit wird den assoziativen Synthesen die deskriptiv so einleuchtende Fähigkeit, ein thematisches Objekt durch Synthese ursprünglich zu bilden, aus methodischer Rücksicht auf die Konstitutionsbestimmung schließlich abgesprochen. Einmal mehr bekräftigt Husserls Phänomenologie mit ihrer Polemik gegen die nur assoziative und nicht intentionale Mehrheitserfassung, »eine bloß durch aktives Kolligieren zusammengeraffte Kollektion« ohne wirkliche »Einheit der Gegenständlichkeit« [Husserl 1972, § 36, S. 182], ihr Dogma der passiven Vorgegebenheit von intentionaler Einheit und Ordnung durch solche im Weckungserlebnis affektiv ausgelösten spontanen Akte der Sinngebung und Erkenntnis, also ursprünglicher »Einheit der Anschauung des nicht nur Zusammengebrachten, sondern Zusammen­ gehörigen« [ebd., § 43 c, S. 221] selbst für die bewegungsdynamische Syn­thesis der Assoziation. Denn auch hier – im Falle der sukzessiv-­ synthetischen Mengenerfassung – liegt die Ähnlichkeitsassoziation als eine sich von ihrem Grund spontan abhebende Figur – eine ursprünglich zusammengehörige und nicht erst zusammengebrachte Konfiguration – der interessierten, aktiven Wahrnehmungsbewegung immer schon zugrunde, einer immer schon vorgegebenen Einheit an der sie – mit den Analysen zur passiven Synthesis gesprochen – lediglich thematisierend »entlangläuft«.126 Auf diese Weise »bewegt sich die durchlaufende Aktivität beständig auf dem verharrenden Untergrunde der in einer einheitlichen Konfiguration kontinuierlich erscheinenden Mehrheit« [ebd., S. 135]. Die Analogie von expliziter Mehrheitserfas­ sung und zu explizierender, impliziter Konstitutionsbestimmung stützt sich bei Husserl also auf seine Annahme einer gestuften Objektivierung durch eine ursprünglich rezeptive Erkenntnis und das darauf aufbauende aktive Interesse: Die thematische Verkettung durch die Wahrnehmungsbewegung verknüpft zwar die Objekte zu einer Gruppe »durch eine Art Interessendeckung« [ebd., S. 135], doch diese Objektbildung durch das Interesse expliziert ihrerseits nur ein in der 125 Den Hinweis auf die habitualisierende Leistung der »Interessendeckung« ergibt sich durch Husserls Bemerkung, dass das Interesse von einem Objekt zum anderen nicht nur »überströmt«, sondern an auch dem vormals Erfassten interessiert zugewendet bleibt. Es kommt nämlich »jedes Einzelinteresse nicht nur jedem neuen Einzelnen zugute […], auf es überströmend, sondern auch jedem schon vordem Erfaßten, an ihm haften bleibend« [Husserl 1972, § 24 d, S. 134]. 126 Husserl, Hua XI, § 34, S. 159. Vgl. dazu Teil B, Kap. III,4.

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Passivität schon vorkonstituiertes Bewusstseinsobjekt: eine Ähnlichkeitsassoziation als Form der sich spontan in einem Bewusstseinsakt bildenden, konfigurativen Einheit. Dass Husserls Ansatz einer dynamischen Erklärung der Bildung von Gruppierungen und Mengen von Gegenständen durch die interessierte Wahrnehmungsbewegung ohne Folgen für die Theorie des Bewusstseinsfeldes geblieben ist, hat seinen Grund in genau dieser konstitutionstheoretischen Vereinnahmung der Ähnlichkeitsassoziation, die als eine Form der vorgängigen intentionalen Objektivierung und nachträglichen Bestimmung durch das thematisierende Interesse gedeutet wird. Die Bildung einer Gruppierung durch das aktive Interesse und seine Fähigkeit zur thematischen Verkettung legt es zunächst deskriptiv nahe, die objektivierende Funktion mit der jeweiligen Einzelerfassung von Gegenständen in Verbindung zu bringen. Die Unmöglichkeit einer »einheitlichen gegenständlichen Zuwendung« [Husserl 1972, § 24, S. 134] im Falle der Mengenerfassung scheint demnach zu besagen, dass es immer nur einzelne Objekte gibt, denen sich die Wahrnehmung intentional zuwendet, niemals aber das Feld, die Gruppe selbst zum intentionalen Objekt werden kann. Das Bewusstseinsfeld wäre demnach überhaupt kein gegebenes Objekt, das in einem synthetischen Akt der Erkenntnis tout d’un coup zu erfassen wäre, sondern eine Bewegung, eine sich im Orientierungswechsel der Wahrnehmung vollziehende sukzessive Systembildung durch eine aktiv synthetisierende, assoziative Verknüpfung. Diese Möglichkeit einer assoziativ-bewegungsdynamischen Erklärung des Bewusstseinsfeldes hat Husserl jedoch im Keim erstickt dadurch, dass er die assoziative Einheitsbildung von Gruppen und Mengen nicht durch die aktive Synthesis des Wahrnehmungsinteresses erklärt, sondern »aus den Quellen der Passivität« [Husserl 1972, § 24, S. 136]. Die dort verankerte Möglichkeit der Abhebung nicht nur von einzelnen Figuren, sondern auch von mehrheitlichen, konfigurativen Einheiten durch die Ähnlichkeitsassoziation stellt sicher, dass nicht nur einzelne Objekte, sondern auch ganze Gruppen von Objekten in einem singulären Bewusstseinsakt als Objekte erfasst werden können. Damit kommt die Konstitution des »Bewusstseinsfeldes« als ein Objekt des Bewusstseins in der Passivität der aktiven Wahrnehmungsbewegung und ihrem produktiven Interesse immer schon zuvor. Die Unableitbarkeit des Bewusstseinsfeldes aus einer dynamischen Interessenverkettung in der Wahrnehmungsbewegung wird 546 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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auch noch durch den Aspekt unterstrichen, dass in der expliziten Mehrheitserfassung von annähernd Gleichem und Ähnlichem alles von gleichem Interesse ist, die Zuwendung an jedem einzelnen Gegenstand »haften« bleibt, wie Husserl ausdrücklich betont. Dagegen gehört zur Abhebung von Bewusstseinsvordergrund und -hintergrund eine »nicht [Herv. d. Verf.] zur Zuwendung zwingende gegenständliche Umgebung« [Husserl 1972, § 33, S. 172]. Damit wird wiederum das methodische Dilemma deutlich, dass Husserl die Habitualisierung der Struktur des Bewusstseinsfeldes nicht erklären kann. Habituell verfügbar wird die Mehrheitserfassung nicht schon durch die unthematische Gestaltwahrnehmung in der Passivität, sondern erst durch die thematisierende Aktivität des Wahrnehmungsinteresses. Die explizite Mehrheitserfassung als eine Form der »Interessendeckung« enthält jedoch gar keine Differenzierung der Wahrnehmung nach Figur und Grund. Von daher erscheint der strukturalistische Weg von Gurwitsch nur konsequent, die Ausweisung der Struktur des Bewusstseinsfeldes als eine Form von habitueller Organisation nicht durch das aktive In­ teresse zu begründen, sondern in der Passivität der Gestaltwahrnehmung zu verankern, eine konstante Struktur der Bedeutungsrelevanz in den wechselnden Wahrnehmungslagen und -interessen, welche sie im Bewusstsein lediglich repräsentieren und nicht konstituieren. Nun findet sich bei Husserl allerdings eine Erklärung, wie das thematische Feld habituell organisiert werden kann. Doch bezieht sich diese Möglichkeit auf den Außenhorizont gerade nicht, insofern er eine explizite, sondern nur implizite Mehrheit von Objekten enthält. In der bei der impliziten Mehrheitserfassung sich eröffnenden analogen Strukturbildung des Innen- und Außenhorizontes ergibt sich so schließlich die Möglichkeit, die Habitualisierung der Feldstruktur – ihre thematische Zentrierung – zu erklären durch das Erkenntnis­ interesse an der fortwährenden Objektbestimmung. Da sich die ursprüngliche Weckung von Aufmerksamkeit nach Husserl fortpflanzt in der Weckung von Erkenntnisinteresse127, kommt es in der Zuwendung zum Gegenstand dazu, dass die assoziativen Relationen die Form der horizontintentionalen, explikativen Objektbestimmung annehmen. In Bezug auf den Außenhorizont bringt die sich entwickelnde Konstitutionsbestimmung die Relation von »Hauptthema« und Bezie-

127 Vgl. Husserl, Hua XI, § 33, S. 151.

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hungsthema, »Substratgegenstand« und »Beziehungsgegenstand« ins Spiel.128 Die zum Außenhorizont gehörende Möglichkeit der wechselnden Wahrnehmungsorientierung, sich dem einen oder anderen Gegenstand zuzuwenden, wird auf diese Weise nicht anders als beim Innenhorizont zu einer Form der explizierenden Gegenstandsbestimmung: Das Hauptthema ist bezeichnend mit einem Substratgegenstand identisch, dem die anderen Themen als äußere Bestimmungen zugeordnet werden.129 Die dauerhafte Fixierung, d. h. die habituelle Verfügbarkeit eines solchen thematischen Zentrums ergibt sich bei der äußeren nicht anders als bei der inneren Bestimmung aus der Kontinuität fortwährender Erkenntnisgewinnung, dem nach vollständigem und endgültigem Erkenntnisbesitz als Erfüllungsziel strebenden systematischen Erkenntnisinteresse. Wie sich das aktive Erkenntnisinteresse dem Innenhorizont explizierend zuwenden kann, so auch dem Außenhorizont und seinen »Beziehungsgegenständen«, den peripheren Mitobjekten. Jedes »erfahrene Ding hat nicht nur einen Innenhorizont, sondern es hat auch einen offen endlosen Außenhorizont von Mitob­ jekten (also einen Horizont zweiter Stufe, bezogen auf den Horizont erster Stufe, sie implizierend), von solchen, denen ich mich aber jederzeit zuwenden kann als von dem jetzt erfahrenen verschiedenen oder ihnen in irgendeiner Typik gleichenden« [Husserl 1972, § 8, S. 28]. Die durch den Themenwechsel drohende assoziative Zerstreuung des Wahr­neh­mungs­interesses und damit die Auf‌lösung des geordneten Bewusstseinsfeldes scheint also durch das vergegenständlichende Horizontbewusstsein gebannt, denn der Außenhorizont von Mitobjekten bildet dem Innenhorizont und seiner unauf‌ löslichen Objektbeziehung gegenüber ein Horizontbewusstsein lediglich zweiter Stufe. Es konstituiert sich demnach eine thematische Fundierung, wonach die »äußere« als bruchlose, kontinuierliche Fortsetzung der »inneren« 128 Die Entwicklung einer thematischen Beziehung eines Gegenstandes wie etwa dem Federhalter als »Hauptthema« zu einem anderen »Thema in Bezug auf« verdankt sich einem »Interesse der Betrachtung eines dieser Gegenstände« [Husserl 1972, § 34, S. 175]. Diese Unterscheidung deckt sich – der Kon­sti­­tu­­ tions­bestimmung des Außenhorizontes entsprechend – mit der von »Substrat­ gegenstand« und »Beziehungsgegenstand« [Husserl 1972, § 35, S. 179]. 129 Husserl unterscheidet »zwischen dem Substratgegenstand (dem Hauptthema) und dem Beziehungsgegenstand (dem Thema in bezug auf ….)«, zwischen denen die wechselnde Wahrnehmungsorientierung »hin und herlaufen kann« [Husserl 1972, § 35, S. 179].

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Objektbestimmung fungiert. Und dieses einseitige Fundierungsverhältnis von Innen- und Außenhorizont garantiert letztlich eine gegen jede Zerstreuung immune, streng monothematische Organisation des Feldes, d. h. die Zuordnung zu immer ein und demselben »Substratgegenstand«, gerade auch bei solchen in der Wahrnehmungsorientierung wechselnden »Beziehungsgegenständen«. Husserls Stufenmodell lässt sich am Beispiel von Leonardo da Vincis Buch von der Malerei kritisch überprüfen. Das »Bewusstseinsfeld« eines universell gebildeten Originalgenies der Renaissance wie das Leonardos wird von seiner ungewöhnlichen Interessenvielfalt geradezu heimgesucht und neigt damit gewissermaßen von Natur aus zur Zerstreuung. In Leonardo steckt nicht nur der Maler und Bildhauer, sondern zugleich der Philosoph, sowie der Wissenschaftler und technische Erfinder. Husserls konstitutionstheoretische Ableitung der monothematischen Organisation lässt sich genau dann bewähren, wenn gezeigt werden kann, dass die Malerei die eigentliche Berufung Leonardos verkörpert und alle anderen Betätigungen und Interessen sich von diesem einen, dominierenden Interesse an der Malerei letztlich ableiten lassen. Für eine solche methodische Erklärung bietet sich das Buch von der Malerei nun geradezu an. Bei Leonardo scheint gar kein originäres Interesse für Philosophie und Wissenschaft vorzuliegen; diese Gegenstände des Interesses bilden vielmehr im Sinne Husserls bloße »Mitobjekte« und »Beziehungsgegenstände« zur Malerei als dem zugrunde liegenden »Substratgegenstand« und »Hauptthema«. Denn offensichtlich ist nicht die ganze Philosophie, die ganze Mathematik für den Meister der Renaissance von Belang. Schenkt er nicht der Wahrnehmungstheorie und Geometrie überhaupt nur deshalb Beachtung, weil sie es vermögen, die Kunst der Malerei in den erhabenen Stand einer Wissenschaft zu erheben und ihr so schließlich anderen Künsten gegenüber den Primat ursprünglicher Erkenntnis­gewinnung einräumen? Für eine solche Annahme spricht offenbar Leonardos Vergleich des Malers mit dem Bildhauer: Während sich die Bildhauerei grundlegender Naturgesetze der Wahrnehmung einfach nur bedient, bedarf die Malerei der ausdrücklichen Erkenntnis dieser Gesetze, insofern sie ihren Gegenstand konstruiert.130 Das scheint nun ein nicht 130 »Die Malerei ist von grösserer geistiger Erwägung als die Sculptur und von grösserer Kunstfertigkeit, denn eine Sculptur ist nicht anders, als wie sie zum Vorschein kommt, sie ist nämlich ein erhabener Körper, den Luft umgibt und eine dunkle und helle Oberfläche bekleidet, ganz wie die anderen, die Natur-

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unkräftiges Indiz dafür zu sein, dass sich Leonardos systematisches Erkenntnisinteresse nur auf ein »Hauptthema« – seine Malerei – bezieht, nicht aber in gleicher Weise auch die Geometrie und Philo­sophie, womit sich Husserls Stufenmodell scheinbar bestätigt: Die Objektbestimmung bei den »Beziehungs«-Themen Philosophie und Geometrie geht in ihrem Umfang nur so weit, wie dies für das zentrale Thema, die systematische Erkenntnis des Wesens der Malerei, relevant ist. Das Beispiel Leonardo offenbart jedoch mit aller Deutlichkeit, dass Husserls genetische Ableitung der monothematischen Organisation des Bewusstseinsfeldes aus der Verfolgung eines systematischen Erkenntnisinteresses nicht weniger unzulänglich bleibt als Gurwitschs reduktionistische Erklärung durch die Gestaltwahrnehmung. Ob die thematische Organisation des Bewusstseinsfeldes nun in der passi­ ven oder in der aktiven Synthesis ursprünglich verankert wird, sie erklärt die Erhaltung eines thematischen Zentrums in der expliziten assoziativen Mehrheitserfassung nicht. Sobald nämlich für eines der »Mit­objekte« ein eigenständiges systematisches Erkenntnisinteresse erwacht – im Falle Leonardos wäre das etwa ein Interesse für philosophische Logik oder Ethik, wodurch das Objekt Philosophie Bestimmungen erfahren würde, welche für die Malerei schlicht nicht mehr relevant wären – kann die äußere Objektbestimmung nicht mehr als aufgestuft auf die innere begriffen werden. Das Beziehungsthema emanzipierte sich auf diese Weise zum selbständigen thematischen Zentrum, und das thematische Feld müsste sich infolgedessen durch Zerstreuung schließlich Auf‌lösen. Eine solche Zerstreuung des Interesses ist streng genommen sogar gefordert von der Teleologie der systematischen Konstitutionsbestimmung her, welche das transzendentale Ideal der vollständigen und durchgängigen Bestimmung leitet, die zu jeder Gegenstandserkenntnis ausnahmslos gehört und damit ein gleiches und nicht verschiedenes Erkenntnisinteresse sowohl für das Hauptthema als auch die jeweiligen Beziehungsthemen entwickeln muss. Es gibt in WahrKörper, auch sind. Der Werkantheil der Natur ist jedoch beiweitem der grössere, […] nicht [der Künstler], sondern die Natur bringe den Schatten hervor, nicht aber die Kunst« (Da Vinci, S. 47]. »Was diesen Fall betrifft, so macht der Bildhauer seine Werke derart, dass sie genau so viel scheinen als sie sind. Hier liegt die Ursache, aus der dem Maler nothtut, dass er der Deutlichkeit in den Schatten warte, dass dieselben zu den Lichtern stimmen. Dem Bildhauer ist diese Wissenschaft nicht von nöthen, denn die Natur hilft seinen Werken hier aus, wie allen sonstigen körperlichen Dingen.« (Ebd., S. 50]

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heit keinen unselbständigen »Beziehungsgegenstand«, der nicht auch selbständiger »Substratgegenstand« wäre. Die systematische Erkenntnisgewinnung im einen Falle weiter zu verfolgen und im anderen wiederum nicht, kann deshalb überhaupt durch die Weckung nur von Erkenntnis­interesse in der Wahrnehmungsorientierung nicht erklärt werden. Bekanntlich geht Leonardos Interesse an der Wissenschaft und an diversen technischen Erfindungen, seine Konstruktionen von Flugobjekten oder von Militärtechnik etwa, über alles, was mit der auf die Malerei bezogenen Erkenntnisgewinnung in Verbindung zu bringen wäre, bei weitem hinaus. Nicht die Konstitutionsbestimmung also und das systematische Erkenntnisinteresse, nur ein originäres, selektives Wahrnehmungsinteresse könnte eine solche Interessenvielfalt ordnen, eine exklusive thematische Fixierung begründen, welche etwa die Malerei als den organisierenden, konzentrierenden Mittelpunkt für Leonardos auseinanderstrebende Lebensinteressen sichtbar werden ließe. Dafür fehlt Husserls genetischer Phänomenologie jedoch die methodische Grundlage. Das auf die wechselnde Wahrnehmungsorientierung bezogene Interesse ist nur eine bloße Vorstufe des eigentlichen Erkenntnisinteresses, die Weckung von Aufmerksamkeit in der Passivität. Die Aufmerksamkeit als noch uneigentliches Erkenntnisinteresse bildet zwar konfigurative Mehrheiten im Bewusstsein aus, doch als ein bloß passives Assoziationsprinzip ist sie so wenig intentional selektiv wie das sich der geweckten Aufmerksamkeit anschließende, an der systematischen Vervollständigung von Objektbestimmungen arbeitende aktive Erkenntnisinteresse. Dass ein bestimmtes Objekt notwendig im Zentrum der Wahrnehmung erscheint, steht für den Phänomenologen als eine geradezu lapidare Einsicht außer Frage. Jede Erfahrung ist die von einem Ding, verbunden mit einem Innen- und Außenhorizont.131 Aber um welches konkrete Ding als Objekt bleiben131 »So hat jede Erfahrung von einem einzelnen Ding ihren Innenhorizont« und weiter: »jedes erfahrene Ding hat nicht nur einen Innenhorizont, sondern es hat auch einen offen endlosen Außenhorizont von Mitobjekten« [Husserl 1972, § 8, S. 28]. Das alles folgt aus der Form der Konstitutionsbestimmung, die aber nicht ausreicht, das Interesse an einer Wahrnehmung überhaupt, an einer Erkenntnis überhaupt, zu erklären. Das Interesse als ein Interesse an der Habitualisierung eines Objektes, was die thematische Fixierung allein begründen kann, kann letztlich nicht als Folge einer Habitualisierung der Kon­ sti­tutions­bestimmung, der systematischen Erkenntnisgewinnung angesehen werden. Dieses konstitutionstheoretische hysteron proteron in der genetischen Erklärung der Weckung von Interesse ist nur zu vermeiden durch den

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Teil C · Kap. II – Phänomenologische Feldtheorie

den Interesses es sich dabei handelt, bleibt ein unerklärliches, weil aus der Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung, der intentionalen Konstitutionsbestimmung, nicht ableitbares Faktum.

Nachweis eines originären Wahrnehmungsinteresses als Grundlage für eine mögliche Konstitutionsbestimmung. Dieser Problematik widmet sich das folgende Kap. III.

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Kapitel III Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation 1)

Methodische Einleitung: Die Organisation des Wahrnehmungs­ feldes durch das selektive Wahrnehmungsinteresse

Wie entsteht und vor allem wie erhält sich das thematisch zen­trierte Wahrnehmungsfeld? Die erkenntnistheoretische Antwort der phäno­ menologischen Feldtheorie weicht hier aus auf die Erklärung nicht des Wahrnehmungs-, sondern des Bewusstseinsfeldes. Der Bereich der Bewusstseinsphänomene im weitesten Sinne überschreitet den beschränkten Wahrnehmungshorizont und bezieht damit auch das Nichtwahrgenommene ein, dasjenige, was nur in einem Vorstellungs­ horizont gegeben ist. Auf diese Horizonterweiterung stützt sich schließlich das erkenntnistheoretisch nur mittelbare Interesse an der Wahrnehmung, das nur insoweit besteht, als diese Mittel zum Zweck ist für der Erkenntnisgewinnung und die dadurch mögliche Entwicklung von Ordnung und Organisation. Entsprechend reduziert sich in dieser erkenntnistheoretischen Perspektive die Faktizität des Wahrnehmungsphänomens auf die Bedeutung, Realisierung des Ideal-­Möglichen einer vorstellenden Erkenntnis zu sein. Dass die Zentrierung des Wahrnehmungsfeldes in ihrer ganz konkreten, fakti­ schen Erscheinung für Husserl nur eine Lapalie bedeutet, hat deshalb Methode. Gegenstand der Erkenntnis ist nicht das Einzelne, sondern stets das Ideal-Allgemeine, die Aufhebung des begrenzten Wahrnehmungshorizontes in einen unbegrenzten Vorstellungshorizont, wo das Wirkliche letztlich zum Möglichen einer bloßen »Bestimmung« wird in einem systematischen Konstitutionszusammenhang. Es hat »jede Erfahrung von einem einzelnen Ding ihren Innenhorizont« wie auch »jedes [Herv. d. Verf.] erfahrene Ding nicht nur einen Innen­ horizont, sondern […] auch einen offen endlosen Außenhorizont von Mitobjekten« [Husserl 1972, § 8, S. 28]. Bezeichnend setzt Husserl die Horizontbildung gleich mit einer lebensweltlichen »Induktion«.132 Es geht also von vornherein um nichts anderes als die Gewinnung von Erkenntnismöglichkeiten der induktiven Verallgemeinerung in einem 132 »So hat jede Erfahrung von einem einzelnen Ding ihren Innenhorizont; und ›Horizont‹ bedeutet hierbei die wesensmäßig zu jeder Erfahrung gehörige und von ihr untrennbare Induktion in jeder Erfahrung selbst.« [Husserl 1972, § 8, S. 28]

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sich zum Vorstellungshorizont erweiternden Wahrnehmungshorizont: Für den Wahrnehmungshorizont und seine mögliche organisierende Funktion hat eine solche konstitutionstheoretische Beschreibung der lebensweltlichen Erfahrung gar keinen Blick. Nun wird aus der Konstitution als einem zunächst bloß abstrakten Ordnungs- schließlich ein Organisationsbegriff, indem sie nicht nur »statisch« als eine Form der Erkenntnisgewinnung durch die Objektbestimmung gilt, sondern genetisch-phänomenologisch das Problem der Habitualisierung von Erkenntnissen im Bewusstsein mit einbezogen wird. Organisation erklärt sich so letztlich aus dem Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse. Durch welches Interesse habitualisiert sich nun aber das »Bewusstseinsfeld«? Einmal mehr wird die Wahrnehmung auch in diesem genetischen Kontext teleologisch und idealisierend betrachtet als ein Mittel der Erkenntnisgewinnung: Das Wahrnehmungsinteresse verkörpert nicht mehr als eine bloße »Vorstufe des eigentlichen Erkenntnisinteresses« [Husserl 1972, § 47, S. 232] Gemeint ist ein Interesse an der Konstitution, also der Objektbestimmung, welches in der Wahrnehmung lediglich »passiv« bleibt, als ihm der »Wille zur Erkenntnis« [ebd.] fehlt, d. h. eine auf unverlierbaren Erkenntnisbesitz ausgerichtete Erkenntnisaktivität, die letztlich von der veränderlichen und modalisierbaren Wahrnehmungserkenntnis zur Gewissheit der Begriffsbildung hinführt.133 Auch bei diesem uneigentlichen Erkenntnisinteresse kommt das wahrgenommene Einzelne nur ins Spiel, sofern es ein Allgemeines repräsentiert. Wovon diese konstitutionstheoretische Vereinnahmung der Wahrnehmung als eine Form von Erkenntnisinteresse offenbar keine Notiz nimmt ist die vermeintliche Banalität, dass es dem Wahrnehmungsinteresse ganz einfach um ein bestimmtes Objekt geht, dem es sich dauerhaft zuwendet, Interesse und Aufmerksamkeit sich also nicht gleich wieder von ihm abwenden in der zwischen verschiedenen Objekten sich hin- und herwendenden, fluktuierenden Wahrnehmungsbewegung. Bei Husserl geht es dem Wahrnehmungsinteresse dagegen gar nicht primär um das besondere Objekt, vielmehr die zum Objekt gehörende Objekt­bestimmung als die mit dem Vorstellungshorizont verbundene Möglichkeit unbegrenzter Näher- und Andersbestimmung mit ihrer logischen Form der Besonderung eines Allgemeinen.134 Konstitutions133 Vgl. dazu Teil B, Kap.  I,1 und I,2. 134 Die Konstitutionstheorie Husserls betont ausdrücklich die durch die Be­ ziehung auf das transzendentale Ideal begründete Analogie der Form der

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1) Methodische Einleitung

theoretisch gedacht entsteht nicht etwa zuerst ein Wahrnehmungsinteresse am Objekt, was dann die Grundlage wäre für die Objektbestimmung, sondern umgekehrt folgt aus dem permanenten Interesse an der Objektbestimmung das Interesse für das Objekt. Genau damit aber lässt sich die Habitualisierung eines thematisch zentrierten und begrenzten Wahrnehmungsfeldes im Prinzip nicht erklären, weil es sich bei dem konstitutionstheoretisch begriffenen Feld eben um ein grenzenloses »Bewusstseinsfeld« handelt, d. h. ein Feld nicht von Wahr ­nehmungen, sondern von Vorstellungen. Löst nun aber nicht die strukturalistische Verlegung der Organisation in die Passivität einer Gestaltwahrnehmung vor jeder interessierten Wahrnehmung und Erkenntnis die konstitutionstheoretische Aporie, wie das Wahrnehmungsfeld als eine habituelle Organisation begriffen werden kann? Gurwitschs strukturalistische Auslegung des Horizontbewusstseins bedient sich nicht anders als die Konstitutionstheorie Husserls einer erkenntnistheoretischen Idealisierung: Die einzelne Figur-Grund-Beziehung entwickelt sich in Einheit mit der intentionalen Bedeutungsdifferenzierung von Thema und thematischem Feld zu einer iterierbaren und permutierbaren Struktur. Auch hier wird die jeweilige wirkliche Wahrnehmung als die Realisierung einer Erkenntnismöglichkeit begriffen: Aus dem begrenzten Wahrnehmungsfeld entsteht ein unbegrenztes und horizontintentional komplexes Bewusstseinsfeld durch die iterative Analogiebildung und permutative Variablität einer elementaren Strukturbildung: Das Thema erscheint bei Erhaltung seiner Gestaltkohärenz als dasselbe in verschiedenen thematischen Feldern oder aber die Struktur Thema-thematisches Feld wird zur permutierbaren Leerform für wechselnde Wahrnehmungszentren. Husserls Konstitutionstheorie zeigt ihre erkenntnistheoretische Fixierung durch ihr leitendes transzendentales Ideal der Objekt­ bestimmung; Gurwitschs Strukturalismus ersetzt die unbegrenzt mögliche Objektbestimmung als Prinzip der Organisation durch ein ebenso erkenntnistheoretisches Ideal der grenzenlosen Identifizierung von Wahrnehmungsinhalten durch die Erkenntnis einer mit ihnen verbundenen Invariante der Form. Wird entweder das Feld oder das zentrale Thema als austauschbare Variable einer strukturellen Konstante gedacht, dann erscheint damit die konkrete Wahrnehmungsorientierung, die sich auf ein und nur ein thematisches Zentrum fixiert, Wahr­nehmungskonstitution mit der logischen Form der Begriffsbestimmung. Vgl. dazu Teil B, Kap. I,3.

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auch wieder nur als Mittel zum Zweck der Erkenntnisgewinnung: Die Wahrnehmung wandelt sich in der Vorstellung zum Gegenstand der Identifizierung, wobei diese Identifizierung im Individuellen und Einzelnen das verbindende Allgemeine extrahiert. In der Passivität habituell vorfindlich ist so letztlich nur die elementare Struktur von Figur und Grund, während sich die systematisch-komplexe Organisation des Bewusstseinsfeldes als horizontintentionale Erweiterung dieser einfachen Wahrnehmungsvorgegebenheit erst durch die Wirksamkeit einer assoziierenden und analogisierenden Vorstellungsaktivität entwickelt. Auch in diesem strukturalistischen, zweistufigen Modell von elementarer Strukturbildung durch die Passivität und komplexer Organisation durch die Vorstellungsaktivität des Bewusstseins fällt die Erklärung, wie die Organisation eines thematisch zentrierten Wahrnehmungsfeldes möglich ist, letztlich aus: Auf die fundierende Ebene habitueller Strukturbildung wirklich aufbauen kann immer nur das horizontal grenzenlose, dezentrierte »Bewusstseinsfeld«, dem gegenüber die zentralisierte Wahrnehmungsfeld ganz auf der Ebene der Ereignisse verbleibt, als die wechselnde anschauliche Realisierung von Möglichkeiten der Strukturbildung letztlich eine okkasionelle und nicht habituelle Erscheinung darstellt. Die methodische Unlösbarkeit dieses Dilemmas liegt gleichsam in der Natur der Sache der erkenntnistheoretischen Begründung von Organisation: Das systematische Erkenntnisinteresse, welche das Verfahren der induktiven, systematischen Verallgemeinerung von solchen zunächst an der Einzelanschauung gewonnenen Ordnungsbegriffen leitet, die auf diese Weise den Status von System- und Organisations­ begriffen erlangen, ist in seiner Tendenz nicht selektiv, sondern to­ talisierend: Worum sich erkenntnistheoretisch alles dreht, ist die systematische Einordnung von empirischen Einzelheiten in ein umfassendes Ganzes der Vorstellung und Erkenntnis. Was einem solchen systematischen Erkenntnisinteresse damit fehlt, ist ein organisato­ risch wirksames Motiv der Selektion, wie es überhaupt nur in einem originären Wahrnehmungsinteresse lebendig sein kann, wenn es sich exklusiv allein diesem Objekt zuwendet und allen anderen Objekten keine Beachtung schenkt. Unfreiwillig deutlich wird dieses Fehlen eines Selektionsprinzips dort, wo Husserl den »Psychologismus« abzuweisen sucht, die Weckung von Aufmerksamkeit zurückzuführen auf subjektive Wertsetzungen. Dies geschieht mit der kritischen Unterscheidung von fundierenden »doxischen« Interessen, d. h. im Wesentlichen dem intentional-objektivierenden Wahrnehmungs- und 556 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

1) Methodische Einleitung

Erkenntnisinteresse, und solchen darauf aufbauenden wertenden Interessen.135 Damit wird jedoch das sachliche Problem überspielt, wie selektive Motivierungen in das »doxische« Interesse überhaupt hineinkommen können. Das wertende Verhalten ist selektiv, doch wird es von Husserl gerade nicht als intentional sondern ästhetisch begriffen, wenn wir »ganz der Schönheit eines Bildes hingegeben, im Gefallen daran« leben [Husserl 1972, § 18, 84). Das ästhetische Gefallen oder Missfallen beruht auf keinem objektivierenden Wahrnehmungs- oder Erkenntnisinteresse, sondern – mit Kant – auf einem bloß subjektiven Gefühl der Lust und Unlust. Damit fällt aber genau die methodische Möglichkeit weg, der selektiven Wahrnehmung eine Funktion der Habitualisierung zuschreiben und sie damit als ein ordnendes und organisierendes Wahrnehmungsinteresse verstehen zu können. Der genetische Ursprung der wertenden Wahrnehmung, welche in der subjektiven Empfindung von Lust und Unlust liegt, bleibt unter allen Umständen eine bloß okkasionelle Affektion. Erkenntnistheoretisch, von der organisierenden Funktion eines systematischen Erkenntnisinteresses her, können selektive Fakto­ ren der Wahrnehmung nicht anders als okkasionelle und störende, weil den Aufbau von Vorstellungssystemen hemmende Einflüsse gedeutet werden, denn jede empirisch motivierte Selektion beschränkt den Vorstellungshorizont, d. h. sie steht der unbegrenzt möglichen Horizont­erweiterung im Wege, welche die Garantie dafür gibt, das die Wahrnehmung des Einzelnen nicht den vorstellenden Blick auf das syste­matisch geordnete Ganze verstellt. Daran ändert auch eine wert­theoretische Begründung nichts, welche den Wert nicht empirisch aus der bloßen Wahrnehmung und Affektion, sondern der transzendentalen Erkenntnis einer apriorischen Geltung und der mit ihr verbundenen Vorstellung eines umfassenden Systems der Werte ableitet. Die historische Begriffsbildung bedient sich nach Heinrich Rickert des Prinzips der Auswahl des Wesentlichen aus der Wirklichkeit im Sinne eines individuellen Auswahlprinzips, indem es auf einen singulären Wert Bezug nimmt.136 Der Wert erhält jedoch nur dadurch eine Ordnungsfunktion, wenn er als Teil eines umfassenden Systems der Werte vorgestellt wird. Ein System von individuellen Kulturwerten hat jedoch streng genommen so wenig wie die Systeme von Allgemeinbegriffen, mit denen die Naturwissenschaften operieren, empirische Realität: 135 Vgl. Husserl 1972, § 18 »Aufmerksamkeit und Ichtendenz«, S. 84 f. 136 Vgl. Rickert 1926, S. 81 f.

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»Das geschichtliche Leben aber läßt sich ja gerade nicht in ein System bringen« [Rickert 1926, S. 167]. Die Erkenntnis der Wertordnung verlangt die Vorstellung des vollständigen Systems der Werte und diese ist letztlich ein faktisch nicht erreichbares Ideal der Erkenntnis. Die empirischen Geschichtswissenschaften verfügen deshalb niemals über eine wirkliche Erkenntnis des Systems der Werte, was nichts anderes heißt, dass sie in ihrer von Werten geleiteten Selektion gar nicht ausschließlich der Begriffsbildung und Erkenntnis folgen, sondern immer auch einer selektiven Wahrnehmung. Die neukantianische Konstitutionstheorie zieht daraus nun nicht die methodische Konsequenz, die Organisation von solchen faktischen Wertungen des geschichtlichen Lebens, die offenbar nicht allein aus der Vorstellung eines idealen Wertesystems resultieren können, auf ein selektives Wahrnehmungsinteresse vor und außerhalb geordneter Wertvorstellungen und -erkenntnisse zurückzuführen, sondern betrachtet diese selektive Wahrnehmung lediglich privativ als ein irrationales Faktum, das durch die geschichtliche Entwicklung des historischen Systems der Werte, welche in der approximativen Annäherung an das überhistorische ideale System besteht, schließlich a limine eliminiert wird.137 So zeigt sich letztlich im Umkehrschluss, dass ein das thematische Bewusstseinsfeld organisierendes selektives Wahrnehmungsinteresse werttheoretisch gar nicht begründbar ist. Anders als Rickerts Neukantianismus kann es sich die genetische Phänomenologie methodisch nicht leisten, die selektive Wahrnehmung als ein irrationales Faktum aus dem System der Konstitution generell auszuschließen, weil sie das Konstitutionsproblem nicht mehr nur statisch und geltungstheoretisch verkürzt auf ein bloßes Ordnungsproblem.138 Im faktischen Bewusstsein habituell verfügbar bleiben kann das System der Erkenntnis nur, wenn ein selektives Wahrnehmungsinteresse wirksam wird, welches das kontinuierliche Entgleiten des Bewussten ins Unbewusste und damit die Auf‌lösung des Systems der Konstitution an seinen Rändern durch eine auslösungsdynamische Restitution der assoziativen Weckung wirksam aufhält.139 137 Die absolute Geltung von Kulturwerten ist auf diese Weise nur durch die Verwandlung von empirischer Geschichtswissenschaft in transzendentale Geschichtsphilosophie zu retten. Vgl. Rickert 1926, Kapitel XIV »Die Objektivität der Kulturgeschichte in Kulturwissenschaft und Natur­w issen­ schaft«, S. 132 ff. 138 Vgl. Teil B, Kap. I,5. 139 Vgl. Teil B, Kap. II,6.

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1) Methodische Einleitung

Der systematische Zusammenhang zwischen der konstitutionstheoretischen und der feldtheoretischen Begründung von Organisation ergibt sich daraus, dass die restituierende selektive Wahrnehmung eine systemerhaltende Funktion für den Konstitutionszusammenhang nur dann haben kann, wenn sie mehr bedeutet als ein bloß kontingentes Faktum einer affektiv ausgelösten, sich immer wieder ins Nichts verflüchtigenden assoziativen Weckung: Im Weckungserlebnis selber muss bereits eine habituelle Konstante wirksam werden, damit sie sich als restituierende Kraft der »Wiederkonstitution« überhaupt system­ stabilisierend auswirken kann. Dafür bietet sich nun die phänomenologische Entdeckung an, dass Weckungserlebnisse keine isolierten Ereignisse darstellen, sondern stets zu einem »Bewusstseinsfeld« gehören. In einem solchen Feld habituell verfügbar bleiben Weckungserlebnisse dann, wenn sie sich in dessen Zentrum halten können. Für das Festhalten eines Wahrnehmungszentrums ist es schließlich erforderlich, dass eine intentionale, thematische Objektivierung in das Weckungserlebnis eingeht. Husserls teleologische Begründung der thematischen Zentrierung erweist sich jedoch als zirkulär: Eine restituierende Leistung für das System der Konstitution kann die selektive Wahrnehmung nur haben, wenn ihre habituelle Organisation feldtheoretisch eigenständig und nicht wiederum durch Rückgriff auf die Konstitutionsbestimmung erklärt wird. Genau das geschieht jedoch in Husserls Interpretation des Weckungserlebnisses als ein zweistufiges Phänomen der Weckung von Aufmerksamkeit und Erkenntnisinteresse. Bei Husserl geht die Weckung von Aufmerksamkeit in der Passivität der Affektion der Weckung von intentionaler Erkenntnisaktivität notwendig voraus. Nach diesem Stufenmodell folgt die Beständigkeit der Affektion aus der Beständigkeit des systematischen Erkenntnis­ interesses und seiner teleologischen Ausrichtung »nach Kenntnisnahme, nach näherer Bestimmung des Gegenstandes« [Husserl, Hua XI, § 32, S. 149]. Das Festhalten an einem Wahrnehmungszentrum erklärt sich damit aus der Vermittlung des Weckungserlebnisses mit einer intentionalen Konstitutionsbestimmung: Die selektive Wahrnehmung als eine habituelle Organisation bildet nicht etwa die Grundlage, sie erweist sich als die Folge der Betätigung eines selber gar nicht selektiven, sondern totalisierenden systematischen Erkenntnisinteresses. Nun scheitert ein solcher Erklärungsversuch, der sich offenbar am Modell des Innenhorizontes orientiert, bei dem Versuch, auch den Außenhorizont einzubeziehen. Nur wenn man die explizite intentionale Mehrheitserfassung sowie den mit ihr verbundenen Wechsel der 559 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Aufmerksamkeit in der Wahrnehmungsbewegung reduktionistisch auf eine intentionale Einheitserfassung zurückführt, ergibt sich daraus eine streng monothematische Struktur des »Bewusstseinsfeldes« durch die Teleologie der Gegenstandsbestimmung.140 Die Organisation des Wahrnehmungsfeldes durch seine thematische Zentrierung lässt sich teleologisch durch die Vermittlung des Weckungserlebnisses mit einer intentionalen Konstitutionsbestimmung letztlich nicht überzeugend begründen. Hier hat der Antinaturalismus der phänomenologischen Methode den alternativen Erklärungsversuch verdrängt, die Habitualisierung einer solchen Feldstruktur mechanistisch zu gewinnen. Steinthals Ableitung eines dispositionellen, selektiven Wahrnehmungsinteresses aus den Gesetzmäßigkeiten der Vorstellungsmechanik verzichtet auf jede intentionale Teleologie von solchen in die Organisation eingreifenden aktiven Interessen: Das geordnete Wahrnehmungsfeld hat seine Ursache in einer in der Passivität des Unbewussten sich abspielenden diakritischen, »mechanischen Entwicklung«, welche durch assoziative Verdichtung von Vorstellungen zu Vorstellungskomplexen eine habituelle Disposition schafft für die bevorzugte Reproduktion bestimmter apperzeptiver Konstanten. Der kritische Durchgang durch eine solche naturalistische ist nun wegweisend gerade auch für die phänomenologische Feldtheorie, denn sie zeigt den Lösungsweg auf, die intentionale Sinngebung als eine assoziativ-dynamische Wahrnehmungs- und nicht Vorstellungsintentionalität zu begreifen als Grundlage für einen phänomenologischen Begriff der bewegungsdynamischen Organisation.

2)

Reproduktion und dispositionelle Bereitschaft: Steinthals naturalistischer Begriff des Wahrnehmungsinteresses

Das Weckungserlebnis gehört nach Husserl zur Passivität, es vermittelt sich aber zugleich mit einer Aktivität der intentionalen Sinngebung. Bei Husserl wird die mechanistische und die intentionale Seite des Phä­no­mens in einem Stufenmodell der Fundierung antinaturalistisch sowohl aufeinander bezogen als auch getrennt. Der Phänomenologe betont nicht nur, dass sich die Weckung von Aufmerksamkeit fortsetzt in der Weckung von Interesse. Beide Weckungen stellen im Grunde getrennte, aufeinander unreduzierbare Vorgänge dar. Durch die Affek140 Zum Scheitern dieser konstitutionstheoretischen Anleitung vgl. Kap. II,5.

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2) Reproduktion und dispositionelle Bereitschaft

tion entsteht eine »Spannung«, die sich mit der aufmerksamen Zuwendung »entspannt«, d. h. die mechanisch durch die Affektion ausgelöste Ichzuwendung stellt eine in sich abgeschlossene Reflexbewegung dar, und erst der Vermittlung durch die intentionale Sinngebung und ihrer Erfüllungstendenz ist es zu verdanken, dass sich die Weckung von Aufmerksamkeit in der Weckung von Erkenntnisinteresse schließlich fortsetzt: Unter dem »umfassenden Titel Affektion« versteht Husserl »den eigentümlichen Zug, den ein bewußter Gegenstand auf das Ich ausübt – es ist ein Zug, der sich entspannt in der Zuwendung des Ich und von da sich fortsetzt im Streben nach selbstgebender, das gegenständliche Selbst immer mehr enthüllender Anschauung – also nach Kenntnisnahme, nach näherer Betrachtung des Gegenstandes« [Husserl, Hua XI, § 32, S. 148 f]. Ganz anders Steinthal. Für ihn ist das ganze Weckungserlebnis – also sowohl die assoziative Weckung von Aufmerksamkeit als auch die Weckung von dispositionellem, apperzeptivem Interresse – passiv und unwillkürlich-spontan. Die Zuwendung zu einem bestimmten Gegenstand entspringt keiner willkürlichen, selbstvollzogenen inten­ tionalen Handlung, die sich ihr Objekt aktiv auswählen würde und in deren Folge dann erst der dispositionelle Reproduktionszusammenhang ins Spiel gebracht würde. Am Anfang steht vielmehr immer das Faktum der »Weckung«, die Passivität einer auslösenden Affektion – es gibt in einer solchen reduktionistischen, jede Form von Spontaneität und Willentlichkeit ausschließenden reduktionistischen Erklärung keine andere Ursache für das Wirksamwerden von Interesse als den Zusammenhang von Assoziation und Reproduktion. Das wird deutlich in Steinthals Fabel, deren Gleichniskraft die Wirkungsweise von Apperzeption und Interesse verdeutlichen soll: In einem Zugabteil sitzen sechs Personen, die sich nicht kennen. Einer der Anwesenden will herausfinden, wer die Mitreisenden eigentlich sind, ohne sie aber indiskret direkt zu befragen. So greift er zu einer List: Er verteilt fünf Blätter mit einer scheinbar ganz fernliegenden Frage, die zu beantworten sich die Anderen schließlich bereit erklären: »Nachdem man ihm die Blätter zurückgegeben hatte, sagte er, sowie er eine Antwort gelesen hatte, ohne Bedenken zu einem: Sie sind Naturforscher; zum andern: Sie Militair; zum dritten: Sie Philologe; zum vierten: Sie Publicist; zum fünften: Sie Landwirt. Alle gestanden, er habe Recht. Jetzt stieg er aus und ließ die fünf zurück. Jeder wollte wissen, welche Frage der andre bekommen habe; und siehe da, es hatte ihnen allen nur eine und dieselbe Frage vorgelegen. Sie lautete: 561 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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›Welches Wesen zerstört das wieder selbst, was es hervorgebracht hat?‹ Hierauf hatte der Naturforscher geantwortet: die Lebenskraft; der Militair: Krieg; der Philologe: Kronos; der Publicist: die Revolution; der Landwirt: der Saubär.«141 Die Anekdote demonstriert, dass in jeder Apperzeption ein selektives Wahrnehmungsinteresse wirksam ist. Ein und dieselbe Erfahrung (die Rätselfrage) löst ganz verschiedene Reproduktionen und Vorstellungen aus, wodurch sie letztlich Auskunft gibt über die umweltliche Wahrnehmungsorientierung, die Lebenseinstellung eines Menschen: »Man errät die Lebensstellung eines Menschen an dem Interesse, das er bezeigt und wie er es bezeigt, an den Gegenständen, von denen er spricht, und an seiner Weise, die Sachen anzusehen, zu beurteilen, aufzufassen, d.h. an seiner Art zu appercipiren.« [Steinthal 1881, S. 169]142 Die Theorie der assoziativen Weckung erklärt die Entstehung von Bewusstsein. Den unmittelbaren Gegenstand der Psychologie bilden nach Steinthal die Vorstellungen [Steinthal 1881, S. 111]. In einer Vorstellungsmechanik, deren kausale Gesetzmäßigkeiten der Verschmelzung und Hemmung sich im Unbewussten abspielen, definiert nicht etwa das Bewusstsein den Unterschied des Psychischen und Physischen (vgl. a.a.O., 132). Das Bewusstsein ist vielmehr ein energetisches Potential der Erregung143, das zur eigentlichen Vorstellungsverbindung hinzukommt und dessen Quantität für die Hebung und Senkung der Vorstellungen überhaupt, den Grad des Bewussten und Unbewussten, verantwortlich ist. Die Quelle, aus der die Vorstellungsmechanik diese Energie bezieht, ist die Affektion und Empfindung, die deshalb den Ursprung des Bewusstseins markiert: »Die Erregung eines sensibeln Nervs durch einen adäquaten Reiz in hinlänglicher Stärke erzeugt Bewusstsein.« [Ebd., 138] Diese Weckung von Bewusstsein ist jedoch nicht auf die Affektion144, die »primäre Production der Bewusstheit« [ebd.] beschränkt; sie erstreckt sich auch auf die repro­ 141 Steinthal 1881, S. 169. Die Anekdote entnimmt Steinthal den Fliegenden Blättern, S. 167. 142 Zu der hier nur gleichsam im Vorbeigehen angesprochenen Rolle der Sprache in Bezug auf die Bekundung eines habituellen Wahrnehmungsinteresses vgl. das Kap. III,4. 143 Nach Steinthals Ansicht ist »das Bewußtsein eine Energie der Seele« und der »eigentliche Sinn der Mechanik des Bewusstseins« ist der: »wenn die Vorstellungen Zustände der Seele selbst sind, unter welchen Bedingungen erlangen diese Zustände solche Energie oder Lebhaftigkeit und Erregtheit, welche sich als Bewußtheit kund gibt?« [Steinthal 1881, S. 133]. 144 Auch mit Blick auf die zu den elementaren Assoziationen hinzukommen-

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2) Reproduktion und dispositionelle Bereitschaft

duktive Leistung der Assoziation. Die Weckungsenergie wird hier auf solche bereits gebildeten, habituellen Vorstellungsinhalte übertragen, die so im Bewusstsein reproduziert werden können.145 Eine solche genetische Erklärung, welche nicht nur die produktiven, sondern auch die reproduktiven Leistungen mit erfasst, ermöglicht Steinthals dynamisch-energetische Auffassung der Bewusstseinsaktivität. Energiepotentiale können von einem auf den anderen Gegenstand überfließen. Entsprechend ist die Bewusstseinsenergie nicht an einen bestimmten Vorstellungsinhalt gebunden und kann deshalb von einer Vorstellung auf die andere beliebig übergehen – ein dynamisches Denkmodell, dem sowohl Husserl mit seiner Unterscheidung von primär affektiver und sekundär assoziativer Weckung als auch Freud mit der grundlegenden Annahme einer fluktuierenden Triebdynamik der Energiebesetzung Tribut zollen.146 Zwar kann diese Theorie der assoziativen Weckung im Prinzip erklären, dass über die Produktion der singulären Empfindung hinaus auch reproduktive Leistungen geweckt werden. Dass in der reproduktiven Weckung jedoch ein dispositionelles Wahrnehmungsinteresse zum Vorschein kommt, dazu bedarf es der Einführung einer höherstufigen, apperzeptiven Leistung in den Zusammenhang der Assoziation und Reproduktion. Die bloße Reproduktion verbindet durch das Gesetz der assoziativen Verschmelzung die aktuelle Wahrnehmung mit der Erinnerung, sodass uns eine Wahrnehmung in ihrer Wiederholung bekannt vorkommt [Steinthal 1881, S. 129]. Die Erinnerung als reproduktiver Faktor kann jedoch eine Ordnungsfunktion erst entfalten infolge der Apperzeption. Herbarts Kritik der Vermögenspsychologie folgend fasst Steinthal die apperzeptive Leistung nicht als eine eigenständige Kraft des Bewusstseins auf, welche die elementaren Assoziationsgesetze irgendwie negieren oder aufheben könnte. Die Wirkungsweise der Apperzeption ist nicht die eines Aktes oder Verden apperzeptiven Verbindungen und ihre Erkenntnisfunktion gilt: »Nur wo mit dem Erkennen ein Affekt verbunden ist, kommt es zu Bewusstsein.« [Steinthal 1881, S. 176] 145 Es kommt zum »Übergang der Bewusstheit von dem Producirten auf das Re­ producirte« [Steinthal 1881, S. 138]. »Die Bewusstheit kommt dem Producirten zu Gute, weil dieses unmittelbar und ursprünglich von der Bewusstheit getroffen wird, das Reproducirte aber nur von ihm mittelbar gehoben wird; also wird durch die Verschmelzung beider des Producirten eigene Kraft vermehrt.« [Ebd., S. 138 f] 146 Zu Freud vgl. Teil B, Kap. II,8.

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mögens, vielmehr eine Wechselwirkung von Vorstellungskomplexen in der Reproduktion.147 Durch die apperzeptive Vermittlung kommt es letztlich zu einer Diakrisis, der tendenziellen Aussonderung eines der Bestandteile der assoziativen Verschmelzung von Wahrnehmung und Erinnerung. Der reproduzierte Gehalt – die Erinnerung – wird durch die Apperzeption als ein vom Anschauungsgehalt im Prinzip getrennter Begriff aufgefasst, infolge einer ausdrücklichen Identifizierung und Anerkennung durch die Erkenntnis.148 Bedingt durch diese apperzeptive Trennung von Begriff und Anschauung kann nun das Reproduzierte dem Reproduzierenden gegenüber – der auslösenden

147 Steinthal unterscheidet zwar von den »Elementar-Processen« der Assoziation und Reproduktion die höherstufigen »Apperceptionsprocesse« [Steinthal 1881, S. 167]. Doch: »Auf den höhern Entwicklungsstufen seelischer Ent­ wick­­ lung hören jene elementaren Processe nicht auf« [ebd.]. »In keiner Weise also ist die Apperception ein Process außer und neben den schon betrachteten psychologischen Processen […] weder etwa Ausfluss einer besondern Fähigkeit der Seele, noch auch ein besondres Eingreifen ihrerseits höherer Art in den niederen Mechanismus der Vorstellungen.« [Ebd., S. 182] Apperzeptionen verkörpern keine wirkenden Vermögen oder Akte, sondern lediglich wirkende Vorstellungen bzw. Vorstellungskomplexe, indem eine größere Vorstellungsmasse eine geringere apperzipiert. In diesem Sinne heißt es: Die apperzeptive Anerkennung von »Pferd« ist kein »besondrer Act; und dieser Act ist vielmehr ein Process zwischen jenem gegenwärtigen Bilde des Pferdes vor unserm Auge einerseits und den verschmolzenen oder verflochtenen Bildern und Vorstellungen von allen Pferden, die wir je gesehen haben, andrerseits« (ebd., S. 170]. Die apperzeptive Leistung erklärt sich bei Steinthal genetisch durch die »Macht der Vorstellungen«, die letztlich entsteht infolge der wiederholten Wahrnehmung und der dadurch möglichen Akkumulation von Elementarprozessen der Assoziation und Reproduktion. 148 Indem die Anschauung durch einen Begriff apperzipiert wird, wandelt sich das bloß assoziative Erinnern in ein ausdrückliches Identifizieren und Anerkennen, eine συγκατάθεσις (synkatathesis) im Sinne der Stoa, was Steinthal am Beispiel des Begriffs Pferd (die Anschauung wird durch den Artbegriff Pferd apperzipiert) klar macht: »Jenes appercipirt dieses; dieses wird von jenem appercipirt. Aus dieser Verbindung entsteht ein Apperceptions-Product: die Anerkennung eines wahrgenommenen Wesens z. B. als eines Pferdes.« [Steinthal 1881, S. 170 f] Auf die Leistung der Apperzeption ist »die wirklich erstmalige Schöpfung einer Anschauung oder eines Begriffes« [ebd., S. 179] zurückzuführen. Die durch die Apperzeption vermittelte Reproduktion ist so auch die Grundlage für die Erkenntnis und die apperzeptive Leistung bezeichnet so ganz allgemein »die theoretische, vorstellende, erkennende Tätigkeit der Seele« [ebd., S. 181]. Die Apperzeption wird definiert als »die Bewegung zweier Vorstellungsmassen gegeneinander zur Erzeugung einer Erkenntniss« [ebd., S. 171].

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Affektion – eine aktive selektive Leistung entwickeln.149 Es entsteht das »Interesse«. Steinthal definiert: »das Interesse: es ist die Bereitwilligkeit einer Vorstellungsgruppe zu apperzipierender Tätigkeit« [Steinthal 1881, S. 230]. Entscheidend an dieser Definition ist ihr Bruch mit jeder Willensmetaphysik. Das Interesse wird nicht etwa als ein spontaner Akt, eine sich selbst verursachende Willenshandlung, bestimmt. Zwar erklärt auch Steinthal das Interesse durch eine apperzeptive Leistung und damit Aktivität, doch erzeugt sich diese nicht etwa selbst, sondern wird ihrerseits notwendig verursacht durch die Passivität einer assoziativen Weckung. Als eine »willenlose«, bloß dispositionelle Bereitschaft bedarf das apperzeptive Interesse, um schließlich wirksam zu werden, einer mechanisch-auslösenden Kausalität in Gestalt der aktivierenden und aktualisierenden Weckung durch die Affektion und Assoziation. Seine Aktivität kann ein solches dispositionelles Interesse demnach überhaupt nur reaktiv entfalten im Sinne einer behavioristisch begriffenen »Antwortreaktion«, einer auslösenden Reflexbewegung. Kein Interesse ohne Weckung, denn diese ist letztlich für die Hebung von Vorstellungen ins Bewusstsein verantwortlich – ein willentlich-spontanes Interesse dagegen, das entstehen würde, ohne dass es auf einen Sinnesreiz antwortet, muss im Lichte dieser genetischen Theorie geradezu als das Paradox einer bewusstlosen Bewusstseins­ aktivität erscheinen. Das Interesse in Gestalt einer solchen nicht aktiven, sondern passiven Synthesis, der dispositionellen Bereitschaft zur Reproduktion, ersetzt also nicht die assoziative Weckung, es beeinflusst lediglich deren Richtung sowohl in Hinblick auf die auslösende Empfindung als auch die Reproduktion. Sie entscheidet in Gestalt einer habituell verfügbaren, aktiven Disposition, einer »schwingenden Vorstellung« an der Schwelle des Unbewussten zum Bewussten150, gewissermaßen im vorhinein darüber, welche Vorstellungen reproduziert werden und welche nicht. Und weil das Reproduzierte in einer festen assoziativen 149 Das Kantische Schema von Begriff und Anschauung, von apriorischer und aposteriorischer Erkenntnisbedingung wird so neu interpretiert als das Verhältnis einer aktiven (der apperzipierenden) zu einer passiven (der apperzipierten) Vor­ stellungsmasse: »Wir nannten das apriorische Moment das active, und das aposteriorische das passive.« [Steinthal 1881, S. 171] 150 Die »Bereitschaft« verkörpert eine Vorstellung, »welche ohne bewusst zu sein, dennoch wirken, appercipiren« kann und demnach eine schwingende Vorstellung [Steinthal 1881, S. 236 f].

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Verbindung zum Reproduzierenden steht, kann sich die Weckung von Interesse selektiv auch auf die auslösenden Sinnensreize auswirken, indem der eine Zusammenhang der Assoziation und Reproduktion durch den anderen eine Hemmung erfährt.151 Dem entspricht die Funktion des Interesses, durch eine Leistung der Reproduktion Aufmerksamkeit wecken zu können: »Interesse […] erweckt Aufmerksamkeit; d. h. Bereitwilligkeit bewirkt Bereitschaft.« [Steinthal 1881, S. 231] Steinthals antimetaphysischer, reduktionistischer Erklärungsansatz eleminiert aus dem Begriff von Interesse den Sinn einer selbst­ voll­ zogenen Handlung. Die ichliche Aktivität wird somit als eine schlechthin unwillkürliche responsive Aktivität, die sich voll und ganz der Auslösung durch eine Affektion verdankt, verstanden. Mag sich in der sprachlichen Bekundung die Weckung von Interesse mit einer selbstvollzogenen Handlung verbinden, genetisch geht die Entstehung wie auch die Erhaltung von apperzeptivem Interesse niemals über die Weckung von Aufmerksamkeit hinaus, den im Prinzip vorsprachlichen, weil ganz und gar unwillkürlichen Zusammenhang einer durch die Assoziation ausgelösten Reproduktion: Die Passivität des unwill­ kürlichen Einfalls ist deshalb in den Augen Steinthals sowohl für den alltäglichen als auch den theoretischen Erklärungsversuch der Anekdote entscheidend, die Weckung von Aufmerksamkeit also, welche jeder willkürlichen Artikulation scheinbar immer schon zuvorkommt: »Darin liegt eben der Pfiff. Jeder antwortet, was ihm zuerst einfällt, und das ist dasjenige, was mit seinem Berufe in nächster Beziehung steht.« [Steinthal 1881, S. 168] Diese reduktionistische Auslegung von Interesse als eine Form ausschließlich von geweckter Aufmerksamkeit scheint nun allerdings auf einem Paradox zu beruhen, dasjenige, was durch das Interesse anscheinend bewirkt wird – die Aufmerksamkeit – genetisch als dessen Ursprung in Anspruch zu nehmen. Aufmerksamkeit bedeutet die aktive Zuwendung zu einem Gegenstand durch das Aufmerken und schließlich Bemerken, das Einrücken des Objektes in den Bewusstseinshorizont: »Aufmerken bedeutet die Bewegung auf das Objekt, bemerken die Ankunft bei demselben« [Steinthal 1881, S. 231]. Steinthal unterscheidet die »unwillkürlich erregte Aufmerksamkeit« von der willkürlichen, durch das Interesse und seine dispositionelle Bereitschaft erregten Aufmerksamkeit wie im Falle der Beobachtungsgabe 151 »Das Interesse wirkt sowohl darauf, was appercipirt werden soll, wenn mehres gegeben ist, als auch womit appercipirt werden soll.« [Steinthal 1881, S. 230]

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des Naturforschers (vgl. ebd., S. 195]. Die Weckung von Aufmerksamkeit im ersten Falle ist durch einen okkasionellen Reiz bedingt, im zweiten dagegen wird sie verursacht durch das habituelle Interesse und seine Fähigkeit zur apperzeptiven Selektion: »Interesse erweckt Aufmerksamkeit, und in Folge dieser bemerkt man.« [Ebd., S. 231] Wenn das Interesse die Ursache der Weckung von Aufmerksamkeit ist, wie kann es dann aber überhaupt durch eine auslösende Weckung erklärt werden? Die Antwort darauf gibt Steinthal mit seiner genetischen Erklärung der »Macht der Vorstellungen« [vgl. ebd., S. 217 ff].152 Die Apperzeption beinhaltet die Fähigkeit, dass größere und in diesem Sinne »mächtigere« Vorstellungsmassen kleinere Vorstellungsgruppen verdrängen durch die größere Häufigkeit der Reproduktion ihrer einzelnen Bestandteile.153 Die größere Masse bedeutet eine höhere Attraktionskraft, bringt sich damit in die Rolle des Apperzipierenden gegenüber dem Apperzipierten und darüber hinaus die Ordnungsfunktion ins Spiel, insofern mit der größeren Komplexität der assoziativen Verbindung auch ein deutlich höherer Grad an Gliederung und Organisation gegeben ist (vgl. ebd., S. 223]. Die Akkumulation von ausgelösten Reproduktionen erhöht also die »Bereitschaft« zur geordneten Reproduktion einer ganz besonderen Vorstellungsgruppe und erklärt damit ursächlich das habituelle Interesse und seine selektive Funktion. Steinthal berücksichtigt demnach durchaus, dass die Weckung von Aufmerksamkeit durch das Interesse nur durch eine Wiederholung der wahrnehmungsmäßigen Zuwendung zu einem und demselben Gegenstand erklärt werden kann. Ein wirklich habituelles Interesse bekundet sich in der Weckung nur dann, wenn eine Bereitschaft besteht, sich einem Objekt, dem man sich in der Vergangenheit bereits zugewendet hat, auch in der Zukunft wieder zuzuwenden. Doch dieser Zwang zur Wiederholung von Wahrnehmungen nötigt Steinthal nicht etwa, irgendeine Eigenständigkeit 152 Seine genetische Erklärung der »Macht der Vorstellungen« erläutert Steinthal ausdrücklich an der Anekdote. Vgl. Steinthal 1881, S. 221 sowie S. 169 bzw. 167 f. 153 »Gelangen zwei größere oder kleinere Vorstellungsmassen im Bewusstsein zusammen, so geraten sie auch notwendig in einen Process […] so, dass eben nur die eine Masse die andre verdrängt« [Steinthal 1881, S. 218]. »1) Je reicher eine Gruppe ist, um so häufiger wird sie Gelegenheit finden zu apperzipiren; denn um so häufiger werden sich in ihr Bestandteile finden, welche mit Bestandteilen des Gegebenen congruent sind. 2) Je öfter eine Gruppe reproducirt wird, um so leichter wird sie sich reproduciren lassen. Dies ist die Macht der Gewohnheit, der Vertrautheit, der Übung.« [Ebd., S. 223]

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des Interesses der assoziativen Weckung und Reproduktion gegenüber anzunehmen. Die Wiederholung wird vielmehr reduktionistisch vollständig abgeleitet aus eben diesem Reproduktionszusammenhang. Statt einer willkürlichen Wiederholungshandlung verkörpert das ha­bi­ tuelle Interesse nur die unwillkürliche Akkumulation von Reproduktionen, von affektiv ausgelösten, notwendig vereinzelten assoziativen Weckungen. Weil der Weckung, indem sie an die singuläre Affektion gebundenen bleibt, der Wiederholungssinn grundsätzlich abgeht – dem Interesse ein intentional bestimmendes und leitendes Motiv der Wiederholung schlechterdings fehlt –, wird die selektive Leistung auch der wiederholten Wahrnehmung wiederum nicht durch eine selbst­ vollzogene aktive Zuwendung, sondern ausschließlich reaktiv in Bezug auf die Weckung von Aufmerksamkeit durch eine reproduktive Hemmung und Verdrängung erklärt.154 Ob es sich also um die unwillkürlich oder willkürlich geweckte Aufmerksamkeit handelt, beide verdanken sich im Grunde demselben Mechanismus einer »passiven Synthesis«: einer ganz und gar unwillkürlichen Auslösungs­dynamik der Assoziation und Reproduktion. Steinthals reduktionistische Gleichsetzung von Interesse und geweckter Aufmerksamkeit wird jedoch durch die Entstehung einer Feldstruktur in den apperzeptiven Gruppierungen und die damit zusammenhängende Ausbildung einer Mehrheit konkurrierender Interessen grundsätzlich in Frage gestellt. Die Apperzeption als eine gegliederte Vorstellungsmasse wirkt keineswegs »bloß als einförmiges oder einartiges Ganzes« [Steinthal 1881, S. 224], sondern wie ein Konglomerat selbständiger Elemente, das also »mit jedem Teile appercipiren« kann. Grund dafür ist, dass im Feld nicht nur die zentralen, sondern auch die peripheren Gruppen relativ selbständige reproduktive Einheiten bilden: »Jeder Teil bildet, indem er auf den Haupt-Mittelpunkt und auf mehrere kleine Mittelpunkte bezogen ist, auch selbst einen Mittelpunkt, auf den die anderen Teile bezogen sind.« [Ebd.] Steinthal unter154 Die Apperzeption bewirkt nicht nur eine Verschmelzung, sondern auch Hem­ mung. So kann eine starke Hemmung, welche die Auslösung einer Reproduktion verhindert, Aufmerksamkeit wecken, während die Verschmelzung von Vor­stel­ lungsmassen zu einer »mächtigen« Gruppe die Aufmerksamkeit für eine weniger mächtige Vorstellungsverbindung wiederum schwächen kann: »Gerade die Verschmelzung erstickt oft die Aufmerksamkeit und die Apperzeption, während die Hemmung beide weckt, wie beim eintretenden Freunde, an dem wir nichts weiter appercipiren als die Wunde, Blässe, kurz die Veränderung, d. h. da, wo die Verschmelzung des dargebotenen Anblicks mit der Erinnerung gehemmt wird.« [Steinthal 1881, S. 196]

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2) Reproduktion und dispositionelle Bereitschaft

scheidet systematisch drei Formen der Bildung komplexerer Verbände von Vorstellungen. Die erste bilden »unorganische Haufen von ungesuchten und ungeprüften Erkenntnissen« [ebd., S. 244] allein aufgrund der ungeordneten Ähnlichkeitsassoziation. Die dritte Form verkörpert schließlich eine durchgängige Ordnung in Form syntaktischer Systembildungen [vgl. ebd., S. 245], dazwischen tritt als zweite und mittlere Verbindung aber noch eine geordnete Feldstruktur, indem »innerhalb einer Vorstellungsmasse irgendeine Erkenntnis, ein Gedanke, einen Mittelpunkt bildet, um welchen sich andere Vorstellungen in näherm und weiterm Abstande lagern« [ebd., S. 244]. Anders als in der genetischen Phänomenologie handelt es sich bei der Entstehung eines solchen apperzeptiven Feldes jedoch nicht um ein Bewusstseinsfeld, als das Bewusstsein in einer streng mechanistischen Psychologie keine notwendige Bedingung für die Bildung apperzeptiver Vorstellungsverbindungen darstellt.155 Diese an sich unbewusste apperzeptive Feldstruktur beeinflusst jedoch maßgeblich die Organisation auch des Bewusstseins, weil sie die ursächliche Bedingung dafür schafft, dass »auch das Interesse verschieden, nämlich ein-, mehr- und vielseitig« ist [Steinthal 1881, S. 232]. Für das Bewusstsein besteht nämlich die Gefahr einer chaotischen Interessenvielfalt und Zerstreuung für den Fall, dass die Zentrierung der unbewussten, apperzeptiven Vorstellungsmassen nur unvollkommen ausgebildet ist. Fehlt einer Person ein eindeutig dominierendes Interesse, »so wird gar leicht aus der Vielseitigkeit der Interesses eine störende Zerfahrenheit. Wahrhafte Vielseitigkeit einer Individualität fordert allemal Concentration« [ebd., S. 233]. Wie kommt diese Konzentration des Zerstreuten aber letztlich zustande? Stein­ thals reduktionistische Erklärung funktioniert geradezu reibungslos für den Fall der gerade nicht »zerfahrenen« und zerstreuten, sondern durch Konzentration eindeutig entschiedenen Interessenlage. Nur dann nämlich treten die Gesetzmäßigkeiten der Verschmelzung und Hemmung als stabilisierende Faktoren dieser apperzeptiven Organisation in Form einer Feldstruktur offen zutage. In der insgesamt »gespannten« mehrheitlichen Interessenlage hat von den verschiedenen 155 Steinthal betont, dass »die Apperzeption ganz ohne Rücksicht auf Bewusstheit oder Unbewusstheit ihrer Momente vor sich geht. Auch das Produkt kann unbewusst bleiben« [Steinthal 1881, S. 176]. Nur dort werden die apper­zeptiven Leistungen bewusst, wo sie sich mit einer Bewusstseinsenergie spendenden Affektion verbinden: »Nur wo mit dem Erkennen ein Affekt verbunden ist, kommt es zu Bewusstsein.« [Ebd.]

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Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

Interessen dann überhaupt nur eines die Macht, von der dispositionellen Bereitschaft in die aktuelle Wirklichkeit einer bewussten Wahrnehmung und Aufmerksamkeit überzugehen, indem es alle anderen aktiven Dispositionen »zurückdrängen und untätig machen kann« [ebd.]. Als stabilisierender Faktor kommt noch hinzu, dass die zen­trale, dominierende Vorstellung ihrer komplexen Verbindungen wegen durch die wiederholte Reproduktion auch peripherer Vorstellungen in ihrer Macht, der Bereitschaft ins Bewusstsein zu treten, immer wieder verstärkt wird, sodass die Spannung in der apperzeptiven Gruppe insgesamt abnimmt.156 Bei annähernd gleicher apperzeptiver Kraft dagegen müssen der gewissermaßen unentschiedenen zwischen verschiedenen Gegenständen hin und her wechselnden Aufmerksamkeit wegen die Spannungen zwischen den einzelnen Interessen beständig zunehmen, was die Ausbildung eines klaren »Haupt-Mittelpunktes« im Bewusstsein letztlich verhindert. Genau an dieser Stelle wird es systematisch erforderlich, ein nicht nur rezeptives, sondern spontanes Interesse in Form einer initialen und intentional-bewussten Wiederholungshandlung zur Erklärung der dauerhaften Habitualisierung dieser apperzeptiven Feldstruktur einzuführen. Das selektive Wahrnehmungsinteresse äußert sich auch bei Steinthal in einer Bewusstseinsaktivität, welche die Weckung von Aufmerksamkeit in Richtung auf ein bestimmtes Objekt zu lenken vermag. Als ursprünglich rezeptives Interesse in Gestalt einer »passiven Synthesis« beschränkt sich seine Aktivität jedoch auf die der bewussten Wahrnehmung vorgängige Erregung von Vorstellungen, die Umwandlung einer mehr oder weniger passiven in eine aktive Disposition. Passiv kann ein solches Interesse genannt werden, insofern der eigentliche Weckungsakt durch die wahrnehmungsmäßige Zuwendung zu einem Gegenstand nicht wiederum durch die Aktivität des Interesses bedingt ist, sondern durch eine Auslösung bewirkt wird, die sich dem kontingenten Faktum einer Affektion verdankt. Diese Passivität der Weckung wiederum fungiert als eine Art Energiespender und 156 Es besteht »eine eigentümliche Spannung unter den Bestandteilen der Gruppe – ein allseitiges Streben in das Bewußtsein zu gelangen, also ein allseitiges Drängen, das sich selbst daran verhindert, ans Ziel zu gelangen. So ist jedes Element bereit zur Reproduction und wird wirklich reproducirt werden, wenn es von irgendwo her zu seiner Macht, die es jetzt im Drange gegen andre aufzehrt, einen solchen Zuwachs erhält, dass es die anderen Elemente zurückdrängen und untätig machen kann. Dann steigt es mit voller Macht und die Bereitschaft wird Wirklichkeit« [Steinthal 1881, S. 233].

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2) Reproduktion und dispositionelle Bereitschaft

Kraftquelle und damit als der eigentliche Erhaltungsgrund des dispositionellen Interesses, durch die Übertragung von Weckungsenergie die mehr oder weniger unbewussten Vorstellungen auf der Bewusstseinsschwelle lebendig zu erhalten, sodass für bestimmte Gruppen von Vorstellungen die »Bereitschaft« dauerhaft bestehen bleibt, sie durch eine auslösende Weckung immer wieder zu reproduzieren. Im Fall eines fertig ausgebildeten, auf ein Zentrum hin eindeutig konzentrierten apperzeptiven Feldes wird die Zerstreuung des Interesses nachhaltig vermieden dadurch, dass sich die Weckungsenergie in Richtung auf das Zentrum akkumuliert durch die Wiederholung von auslösenden Reproduktionen. Das Interesse für einen bestimmten Gegenstand wird also – mit Blick auf den organisierenden Mittelpunkt des Feldes und seine Peripherie – verstärkt oder auch geschwächt durch die höhere oder niedere »Bereitschaft« zur Reproduktion, die sich ergibt aus der vereinzelten oder gehäuften, der regelmäßigen oder unregelmäßigen Wiederholung der Weckung. Die Weckung durch eine Affektion ist jedoch als solche ein kontingentes Faktum, die keiner Regel folgt. Im Falle der »Zerfahrenheit«, der zerstreuten Interessenlage, kommt deshalb eine solche sich auf ein Zentrum konzentrierende Akkumulation von Weckungsenergie durch regelmäßige Wiederholungen gar nicht erst zustande. Hier könnte nur ein spontan-aktives und nicht nur rezeptives und passives Interesse in Form einer selbstvollzogenen Wiederholungshandlung den Reproduktionszusammenhang am Leben halten, ein selektives Wahrnehmungsinteresse, das nicht nur gleichsam untätig auf eine mögliche Affektion wartet, sondern diese aktiv bewirkt durch die bewusste Zuwendung zu einem Gegenstand. Nicht also wird ein an sich bloß passives Interesse in den Zustand der Aktivität versetzt vermittels einer auslösende Affektion, sondern umgekehrt ist ein von vornherein aktives und bewusstes Wahrnehmungsinteresse die Ursache für die Weckung von Aufmerksamkeit und Auslösung einer unbewussten Reproduktion. Nicht die Aufmerksamkeit weckt das Interesse – das Interesse weckt die Aufmerksamkeit.

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Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

3)

Kleist und die mechanistische Psychologie. Die Entdeckung des Zusammenhangs von Interesse, sprachlicher Artikulation und Habitualisierung

Ob jemand an etwas Interesse zeigt oder nicht, erkennt man nicht zuletzt daran, worüber er spricht und was er verschweigt. Es ist überaus bezeichnend, dass Steinthals Fabel auf die Funktion der sprachlichen Artikulation, ein Interesse ursprünglich zu bekunden, zwar hinweist, sie aber nicht für die psychologisch-genetische Erklärung der Habitualisierung des zentrierten Wahrnehmungsfeldes in Anspruch nimmt.157 So bedeutet es einen Glücksfall, dass sich in Heinrich von Kleists kleiner Prosa-Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden das gewissermaßen kontrapunktierende Gegen­stück zu Steinthals Lehrfabel findet. Steinthals Anekedote gibt bezeichnend eine Passfrage, welche als auslösende Weckung für eine apperzeptive Vorstellung fungiert. Die Rolle der sprachlichen Artikulation beschränkt sich hier auf die einer Kundgabe einer bestehenden Interessenlage im Sinne der Bewusstmachung eines Unbewussten. Dies steht im Einklang mit der genetischen Ableitung des Wahrnehmungsinteresses aus der Vorstellungsmechanik, die keinerlei intentionale Aktivität in Anspruch nimmt, selektive Wahrnehmung statt dessen vollständig erklärt aus der Passivität des Weckungserlebnisses: Das selektive Interesse, so wie es sich schließlich sprachlich artikuliert, bedeutet nicht mehr aber auch nicht weniger als eine dispisitionelle Bereitschaft für die bevorzugte Reproduktion eines bestimmten Vorstellungskomplexes. Was Steinthal als den Normalfall des Verhältnisses von Weckung, Interesse und sprachlicher Artikulation annimmt, die mechanische Reproduktion, wird in Kleists Erörterung dagegen zum Grenzfall: Für ihn lässt sich Sprache nicht auf die Funktion reduzieren, ein Interesse lediglich kundzugeben, sie ist an der Weckung der reproduktiven Leistung ursprünglich beteiligt. Statt unbewusste Gedanken im Bewusstsein lediglich kundzugeben, kommt es in der Verfertigung von Gedanken beim Reden zu einem »lauten Denken«, einer intentional-bewussten Gemütsbewegung, welche die passenden Vorstellungen nicht nur passiv reproduziert, sondern aktiv sucht und findet: »Ein solches Reden ist ein wahrhaft lautes Denken […]. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel verlaufendes, Rad 157 Steinthal 1881, S. 169. Vgl. dazu das vorige Kap. III,2.

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3) Kleist und die mechanistische Psychologie

an seiner Achse. Etwas ganz anderes ist es, wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen.« [Kleist 1984 b, S. 97] Die intentional-bewusste Richtung des Sprechens, welche immer in einem sprachlichen Feld, das Aussprechen des Einzelnen in einem Kontext der Bedeutungsrelevanz, geschieht, entscheidet als ein mit der unbewussten Reproduktion parallel laufendes Rad über das Finden einer Vorstellung und nicht eine überhaupt vorsprachliche Vorstellungsmechanik. Auch für Kleist gibt es freilich den von der naturalistischen Psychologie methodisch privilegierten Fall der ganz und gar unbewussten Weckung von Interesse. Ihm entspricht der im Unbewussten bereits vorgeformte Gedanke einer Rede: Wenn der Gedanke vor dem Reden schon fertig ist, dann hat er unbewusst das Gemüt bereits in Erregung versetzt, sodass die bewusste sprachliche Artikulation nur den Sinn einer mehr oder weniger klaren und deutlichen Kundgabe einer in der unbewussten Vorstellungsmechanik sich abspielenden Selektion bekommt. In diesem Falle geht die reproduktive Aktualisierung von dispositionellen Vorstellungen der bewussten Artikulation voraus, was sich zeigt an der nachlassenden Weckungskraft der Rede, das Gemüt und seine unbewussten Gedanken nicht etwa in Spannung und Erregung zu versetzen, sondern im Gegenteil die im Voraus bestehende Spannung und Erregung zu mindern. Ganz anders jedoch, wenn eine solche dispositionelle Erregung durch das Unbewusste, welches den Gedanken für seinen Eintritt ins Bewusstsein fertig vorformuliert, nicht besteht. Dann übernimmt ein intentionales Interesse an der Artikulation die Rolle, das Gemüt ursprünglich zu erregen.158 Ein exemplarisches Beispiel für diese Interesse weckende Artikulation159 gibt der Rhetor: »Ich glaube, dass mancher große Redner, in 158 »Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnung, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.« [Kleist 1984 b, S. 89] Anders als in seinem berühmten Aufsatz Über das Marionettentheater, wo das Be­ wusst­sein letztlich nur Unordnung in der an sich unbewussten Produktion des Schönen stiftet, betont Kleist hier die ordnende Funktion des Bewussten gegenüber dem Unbewussten. 159 Die anderen Beispiele Kleists sind die Gedankenfindung von Mirabeaus »Die Nation gibt Befehle und empfängt keine« infolge eines Antwortspiels mit dem Zeremonienmeister und die Lafontaine-Fabel Les animaux malades de la ­peste, wo dem Fuchs der rettende Gedanke erst im Laufe seiner Rede kommt.

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Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen.« [Kleist 1984 b, S. 94 f] Es ist bezeichnend, dass dieses Vertrauen auf die Sprache und ihre Fähigkeit, Gedanken beim Reden zu verfertigen, d. h. ursprünglich Vorstellungen intentional wecken zu können, ein habituelles Wissen verkörpert, welches nicht mehr mit einfachen Passfragen abzufragen ist. Passfragen mit der Fähigkeit zur spontanen Antwort, der unwillkürlichen Auslösung eines zur Reproduktion im vorhinein schon in Bereitschaft stehenden unbewussten Gedankens, funktionieren überhaupt nur im Grenzfall der mechanischen Repitition des kurz zuvor auswendig Gelernten – solcherlei Erkenntnis, die nur allzu schnell wieder in Vergessenheit gerät und damit kein wirklich dauerhaftes habituelles Wissen verkörpert. In allen anderen Fällen muss sich das Bewusstsein in den Mechanismus der unbewussten Weckung gewissermaßen einmischen, die bewusste Artikulation die Aufmerksamkeit ursprünglich wecken und damit das Bewusstsein auf den passenden unbewussten Gedanken allererst bringen: Das umständliche Bereden und Besprechen einer ­Sache führt schließlich zur Reproduktion des Habituell-Unbewussten im Bewusstsein – nicht aber eine Passfrage als auslösender Schlüsselreiz, auf welche der Gefragte wie aus der Pistole geschossen antwortet: »Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts ist, auch selbst nur, um Vorstellungen, die wir schon gehabt haben, wieder zu erzeugen, sieht man oft, wenn offene, und unterrichtete Köpfe examiniert werden, und wenn man ihnen ohne vorhergegangene Einleitung, Fragen vorlegt, wie diese: was ist der Staat? Oder: was ist das Eigentum? Oder dergleichen. Wenn diese jungen Leute sich in einer Gesellschaft befunden hätten, wo man sich vom Staat, oder vom Eigentum, schon eine Zeitlang unterhalten hätte, so würden sie vielleicht mit Leichtigkeit durch Vergleichung, Absonderung und Zusammenfassung der Begriffe, die Definition gefunden haben. Hier aber, wo diese Vorbereitung des Gemüts gänzlich fehlt, sieht man sie stocken, und nur ein unverständiger Examinator wird daraus schließen, daß sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß. Nur ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat sei, gestern auswendig gelernt, und morgen schon wieder vergessen haben, werden hier mit der Antwort bei der Hand sein.« [Kleist 1984 b, S. 98 f] 574 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Kleist und die mechanistische Psychologie

Nicht wir wissen etwas, sondern in uns ist etwas, was weiß – auch Kleist bleibt der naturalistischen Deutung der sprachlichen Artiku­ lation als bloßer Kundgabe einer im Unbewussten schon vorkonstituierten Ordnung des Bewusstseinsfeldes verpflichtet. Steinthals Antwort auf die einfache Passfrage gegenüber kehrt sich das Verhältnis von Reproduzierendem und Reproduziertem jedoch um: In Steinthals mechanistischer Erklärung habitualisiert sich die Feldstruktur von thematischem Zentrum und Peripherie durch die wiederholte Reproduktion einer einzelnen Vorstellung bzw. eines Vorstellungskomplexes; bei Kleist schafft die Rede zuerst im Bewusstsein das Feld, um dann die dazu passende Vorstellung im Unbewussten zu finden – auch das ist eine Passung von Bewusstem und Unbewusstem, von Dispositio­ nellem und Aktuellem in der Reproduktion, welche sich freilich nicht spontan realisiert wie in der einfachen Passfrage Steinthals, sondern sukzessive und umständlich in einem langwierigen sprachlichen Diskurs. Hier wird die hermeneutische Schulung des Dichters, wonach die einzelne Bedeutung immer nur verstanden wird aus einem umfassenden Bedeutungskontext heraus, letztlich genutzt für die genetische Erklärung des Verhältnisses von bewusster und unbewusster Reproduktion. Doch ändert dies letztlich nichts Wesentliches an der naturalistischen Prämisse, wonach nicht die Artikulation der Ursprung von habituellem Wahrnehmungsinteresse ist, sondern lediglich dafür, ein im Vorsprachlichen und Unbewussten bereits Vorkonstituiertes im Bewusstsein lediglich kundzugeben: Die Sprache kann die zum Kontext passende Vorstellung schließlich nur deshalb finden, wenn die ganze Feldstruktur im Dunkel des sprachlos Unbewussten bereits schlummert, um schließlich durch das sprachliche Interesse an der Kundgabe und Mitteilung aufgeweckt zu werden. Die Herbartschule hat den Zusammenhang von sprachlicher Artikulation und Habitualisierung, den die Psychologie von heute so gerne empirisch zu erweisen sucht, nicht nur entdeckt, sondern auch systematisch begründet. Scheint es deshalb nicht paradox, dass Steinthal von dieser Entdeckung offenbar keinen Gebrauch macht, wenn es darum geht, das selektive Wahrnehmungsinteresse voll und ganz aus einer vorsprachlich-unbewussten Vorstellungsmechanik zu erklären? Dieses Rätsel löst sich auf von den Prämissen einer mechanistischen Reproduktionstheorie her, wonach sich die Leistung der Habitualisierung allein und ausschließlich auf die sowohl unbewusste als auch bewusste Vorstellungsaktivität bezieht. Die Vermittlung der unbewussten Reproduktion durch die kundgebende und damit bewusste 575 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

Artikulation führt zur Entstehung von apperzeptiver Vorstellungs­ tätigkeit überhaupt, einer Erkenntnisorientierung, in der sich Wahrnehmungen nicht nur mit einer reproduktiven Erinnerung assoziativ verbinden, sondern reproduktive Leistungen die Rolle der Ordnung und Organisation für die Wahrnehmung übernehmen. Im Falle des selektiven Wahrnehmungsinteresses braucht auf den Zusammenhang von Sprache und Habitualisierung deshalb nicht reflektiert zu werden, weil sie als ein komplexes Phänomen die komplette Vorstellungsmechanik, welche auf der sprachlichen Habitualisierung elementarer apperzeptiver Vorstellungen ursprünglich beruht, immer schon voraussetzt. Auch Steinthals Reproduktionstheorie hält an dem konstitutionstheoretischen Modell einer vorgängigen Erkenntnisvermittlung der Wahrnehmung fest. Die Erkenntnis kann nicht aus dem Nichts entstehen, sondern nur dadurch, dass sich die Wahrnehmung mit einer Erinnerung, eine reproduzierende mit einer reproduzierten Vorstellung, verbindet: »Es gilt auch für die Psychologie, was für die Naturwissenschaft: aus nichts wird nichts, und zu nichts tritt nichts hinzu. Wo sich ein Werden zeigen soll, da muss etwas zu etwas treten, aus deren Verbindung ein drittes entstehen kann. Soll also eine Erkenntniss entstehen, so muss zuvor eine Erkenntniss vorhanden sein, zu der eine andre kommt, und mit der sie in Process tritt.« [Steinthal 1881, S. 171] Das sieht zunächst nach einem unendlichen Regress aus in der genetischen Erklärung der Habitualisierung von Erkenntnissen. Die assoziative Weckung hat die Form einer Synthesis von Wahrnehmung und Erinnerung, von Reproduzierendem und Reproduzierten, sodass jede Erkenntnisgewinnung die habituelle Erkenntnisverfügung notwendig voraussetzt. So scheint sich die genetisch-psychologische Erklärung entweder in einem Regress zu verlieren – jede neue Habitualisierung baut auf einer bereits bestehenden auf – oder aber es muss als Letztbedingung des ganzen Habitualisierungsprozesses ein nicht mehr erworbener Habitus in Gestalt einer Naturanlage vorausgesetzt werden. Der Versuch eines Rückgriffs auf Naturanlagen als habituelle Vorstellungen, die nicht aus dem Zusammenhang der wiederholten Assoziation und Reproduktion stammen, sondern in ihn als äußere Bedingungen eingehen, scheitert jedoch daran, dass er die prinzipielle Unterscheidung von aktiven und passiven Dispositionen ignoriert. Eine Naturanlage muss erst einmal in den Zustand einer aktiven Disposition – der »schwingenden Vorstellung« – versetzt werden, um überhaupt in den Reproduktionszusammenhang als ein or576 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

3) Kleist und die mechanistische Psychologie

ganisatorisch wirksamer Faktor einzugehen. Den Status eines für die Organisation der aktuellen Wahrnehmung relevanten Habitus kann der Naturanlage aber wiederum nur eine vorausgehende Assoziation und Reproduktion verleihen, wodurch sich der unendliche Regress der wechselseitigen Voraussetzung von Reproduzierendem und Reproduziertem von neuem öffnet. Diesen ruinösen Regress in der genetischen Erklärung der Habi­ tualisierung vermochten Lazarus und Steinthal letztlich dadurch zu vermeiden, dass sie die einfache, unartikulierte Reproduktion, welche die Wahrnehmung mit einer Erinnerung verbindet, von der artikulierten Reproduktion abheben, durch die sich allererst eine habituelle Erkenntnisorientierung ausbildet. Das bloße Wiedererkennen eines Gegenstandes, etwa eines Baumes oder Tisches, bedeutet zunächst einmal nur, dass sich eine Wahrnehmung äußerlich mit einer Erinnerung verbindet. Eine wirkliche Erkenntnisorientierung wird aus dieser Verbindung erst dann, wenn die Erinnerung als reproduzierte Vorstellung die Wahrnehmung als reproduzierende Vorstellung ihrerseits apperzipiert, d. h. in Form einer wahrnehmungsunabhängigen Vorstellung, an der sich die Wahrnehmung orientiert, die Ordnungsfunktion in der Synthesis von Wahrnehmung und Erinnerung übernimmt. Erinnerungen in Vorstellungen umzuwandeln, wodurch sich dann eine habituelle Erkenntnisorientierung in der Wahrnehmung ausbildet, ist nun die Leistung der sprachlichen Artikulation. Die Vorstellung als »die eigentlich psychologische Kategorie« ist deshalb »wesentlich Sprache im weitesten Sinne« [Steinthal 1881, S. 111]. Die Fähigkeit der Sprache, Anschauungen in Vorstellungen umzuwandeln, ist sowohl für Steinthal als auch Lazarus die Bedingung dafür, dass überhaupt feste, reproduzierbare Einheiten im Seelen­leben entstehen. Selbst in dem Fall, wo die rezeptive Anschauung beharrende und stetig wiederkehrende Eindrücke von der Welt liefert, behält die Mechanik der Reproduktion davon doch nur »eine flüchtige, zeitlich verfließende, objektiv wandelbare Art von Anschauungselementen«, und der Sprache kommt so die Aufgabe der Ordnung und habituellen Verfestigung der Anschauungsgehalte zu – »nicht bloß die gestaltende Ordnung des Ganzen, sondern auch die Dauer und Klarheit der Elemente herzustellen« [Lazarus, S. 342]. Der Grund für den Fluss-Charakter der Anschauung liegt in den Gesetzen der Assoziation und Reproduktion. Die zur Anschauung gehörenden Erinnerungsbilder haben ihres Charakters von Ähnlichkeitsassoziationen wegen die Tendenz, in der Reproduktion miteinander zu verschmelzen und 577 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

ineinander zu fließen.160 Erst durch die objektivierende Leistung der Sprache, anschauliche Erinnerungen in unanschauliche Vorstellungen umzuwandeln, bekommt die Reproduktion den Sinn der Aktualisierung eines »festen« objektiven Gehalts, der Verfügung über einen identischen Habitus.161 Das Bild von dem Licht ins Dunkel bringenden rechten Wort, wodurch die »schwebenden und schwankenden Anschauungsmassen sich zerstreuen und vor der inneren Gestalt eines ausgeprägten Gedankens sich beugen« [Lazarus, S. 330], weist darauf hin, dass die Sprache nicht nur die Aufgabe der Vermittlung der Anschauung mit einer Vorstellung zukommt, sondern darüber hinaus die Funktion ihrer Substitu­ tion im Reproduktionszusammenhang. Die Reproduktion wird stabilisiert, indem der fließende Anschauungskomplex durch eine feste Vorstellung im Ganzen ersetzt wird. Durch das sprachliche Vermögen, Vorstellungen zu artikulieren, erreicht der Geist schließlich eine höhere Entwicklungsstufe, wo an die Stelle des bloß rezeptiv aufgenommenen Anschauungsgehalts der Gedanke tritt, der durch Selbst­ tätigkeit erzeugt wird.162 Vorstellungen in der Form sprachlicher, allgemeiner Ausdrücke haben den Charakter von Repräsentationen.163 Der Allgemeinheitscharakter der Vorstellung164 für sich genommen würde 160 »Die einzelnen Elemente der Anschauungen – gleichartig wie sie sind – würden mit einander verschmelzen, die Bilder in einander fließen; das Wort aber, obwohl es selbst keinen Theil der Anschauung bildet, hält die Elemente der Anschauung trotz ihrer Gleichartigkeit mit denen verwandter Anschauungen so zusammen und auseinander, daß dauernd gesonderte Bilder in unserer Seele bestehen bleiben.« [Lazarus, S. 309] 161 Da die Vorstellung den Charakter der Allgemeinheit hat, nimmt die An­ schauung durch sie »gemeinverständliche, objektive Gestalt« an und so ist »die sprachliche Form des Gedankens […] die allgemeinste Weise der Objektivierung desselben« [Lazarus, S. 309]. 162 »Indem die Seele nunmehr nicht bloß mit dem durch eine (von außen oder innen gegebene) objektive Anregung erzeugten Denkinhalt beschäftigt ist, sondern mit dem gänzlich ihrer eigenen Thätigkeit entstammenden geistigen Gebilde […] ersteigt sie eine höhere Stufe […]. Demnach werden wir die erste, allgemeinste und allen übrigen zu Grunde liegende Form der bedeutsamen Einwirkung, welche die Sprache auf die Thätigkeit der Seele ausübt, kurz und bestimmt als die Entwicklung einer neuen Stufe der Geistesthätigkeit bezeichnen; von der Anschauung gelangt sie zur Vorstellung.« [Lazarus, S. 249] 163 »Nunmehr können wir den Gedanken kurz aussprechen: ›Vorstellungen‹ sind Repräsentationen, Vertretungen eines in unserer Seele vorhandenen Gedankeninhalts, und Wörter sind Lautcomplexe, welche Vorstellungen bedeuten.« [Lazarus, S. 249] 164 Die »Anschauung ist allemal die Anschauung eines einzelnen Dinges […];

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3) Kleist und die mechanistische Psychologie

jedoch nicht ausreichen, um ihre Leistung der Habitualisierung deutlich werden zu lassen. Versteht man die Erfahrungserkenntnis Kants Kritik der reinen Vernunft folgend als die Vermittlung einer Anschauung mit einer (Allgemein-)Vorstellung, dem Begriff, dann lässt sich daraus zwar die Objektivierung und Erkenntnisfunktion erklären, nicht aber die Habitualisierung. Der genetisch-psychologische Erklärungsansatz betont kritisch gegenüber Kant, dass es keine voneinander wirklich getrennten Erkenntnisquellen gibt, vielmehr Anschauung und Vorstellung in ein und demselben Reproduktionszusammenhang aufgehoben bleiben.165 Die Annahme einer bloßen Vermittlung von unveränderlichen Vorstellungs- mit veränderlichen Anschauungsgehalten liefe deshalb auf eine desaströse Destabilisierung des ganzen Reproduktionszusammenhangs hinaus: In der Wahrnehmung wäre die Habitualisierung von solchen im Kern unveränderlichen Erkenntnissen letztlich unmöglich, insofern in ihrer Form der Reproduktion die Veränderlichkeit dominiert, wonach dasselbe notwendig immer wieder anders reproduziert wird. In der Reproduktion kann die Möglichkeit der identischen Wiederholung von Erkenntnissen und damit einer wirklich dauerhaften Habitualisierung letztlich nur auf die Weise sichergestellt werden, indem die unveränderliche Vorstellung die veränderliche Anschauung ersetzt. Dass die Anschauung durch die Vorstellung nicht nur vermittelt, sondern substituiert wird, liegt an der besonderen Form der sprachlichen Artikulation. Lazarus denkt mit Steinthal die Vorstellung als eine »Anschauung der Anschauung« [Lazarus, S. 250]166. Damit erweitert sich der Sinn von Vorstellung und Repräsentation. Das Vorstellungsverhältnis besteht nicht nur in der darstellenden Konstitution, wonach die (Einzel-)Anschauung eine (Allgemein-)Vorstellung repräsentiert, sondern zugleich in der Repräsentation der unartikulierten durch die artikulierte Wahrnehmung: »Die Vorstellung dagegen ist die Vorstellung Baum, Gelb, Süß sowohl ein Erfolg von mehreren gleichartigen Anschauungen (vieler Bäume u.s.w.), als auch ihr Inhalt nicht einen bestimmten, einzelnen Gegenstand, sondern eine Gattung oder Art von Gegenständen umfaßt. Die Anschauung ist also immer individuell, singulär, die Vorstellung aber ist allgemein« [Lazarus, S. 278]. 165 So Steinthals Kritik eines »falschen Dualismus einer apriorischen und einer aposteriorischen Methode« [Steinthal 1881, S. 171], näheres dazu in Teil A, Kap. II,3. 166 Lazarus hebt es als das große Verdienst Steinthals hervor, die Vorstellung als »Anschauung der Anschauung« bestimmt zu haben. Vgl. Lazarus, S. 250, Fußnote.

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Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

ist also eine innerlich wiederholte und dadurch fixierte Auffassung des Objekts. Beides aber geschieht nur erst durch die Sprache; wäre die erste Anschauung nicht mit einem Laut verknüpft, böte sich nicht dieser Laut als ein neues Objekt neben dem angeschauten der inneren Wahrnehmung dar, so würde die Seele nicht zu einer erneuten Wahrnehmung ihrer Anschauung veranlaßt sein, sie würde die Anschauungen der Dinge besitzen und nur von Anschauungen zu Anschauungen fortschreiten. Eben so wird die erworbene Anschauung dadurch, daß sie mit dem Laut verbunden ist, fixiert, in der Seele als ihr spezifisches Eigenthum befestigt; sie hat nun nicht mehr bloß jenen Inhalt, welcher dem Gegenstand entnommen ist, sondern zugleich ist das Zeichen der eigenen Thätigkeit ein psychologisch gleichstehendes, mit jenem sich gleichmäßig reproducirendes Merkmal desselben.« [Ebd., 250 f] Ohne die Artikulation würde die Wahrnehmung von einer Anschauung zur anderen weiterlaufen, sie bliebe bloß rezeptiv ohne die Fähigkeit, den identischen Anschauungsgehalt als einen habituellen Besitz zu fixieren. Obwohl Lazarus an dem auf Kant zurückgehenden Modell der Erkenntnis als einer Vermittlung von Anschauung und Begriff durchaus festhält, wird es doch durch den Gedanken der Substitution gleichsam unterwandert. Das Lautbild erzwingt die Unterbrechung der puren Rezeptivität; es führt zu einer Wiederholung der Wahrnehmung, indem es sich an die Stelle der Anschauung setzt. Der artikulierte Laut bringt darüber hinaus durch seinen Zeichencharakter die Vorstellung als eine vom Geist selbsttätig erzeugte Bedeutung ins Spiel. Diese mit dem Lautbild verbundene Vorstellung geht schließlich in den Reproduktionszusammenhang ein und nicht der rezeptiv erfasste, veränderliche Anschauungsgehalt: Habitualisiert wird nicht die unartikulierte, sondern allein und ausschließlich die artikulierte Wahrnehmung. Die Substitution der unartikulierten Anschauung durch die arti­ kulierte Vorstellung ermöglicht letztlich das apperzeptive »Wieder­ erkennen eines Dinges« [Lazarus, S. 253]. Entscheidend ist die Ausbildung einer expliziten Erkenntnisorientierung, wonach nicht nur ein Anschauungsgehalt mit einer Erinnerung verbunden wird, sondern die Erinnerung in Form einer Vorstellung zum eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis und entsprechend die einzelne Anschauung durch die allgemeine Vorstellung apperzipiert wird als bloßes Medium und ­Mittel der Repräsentation.167. Der Apperzeptionsprozess vollzieht sich 167 »Wir besitzen auf jeder Stufe der Bildung solche allgemeine Vorstellungen von

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3) Kleist und die mechanistische Psychologie

»nur an den Worten, als Vertretungen der Gedankeninhalte« [ebd., 271]. Diese Betonung des Substitutionscharakters der Apperzeption, statt der Wahrnehmung nur noch das Wort zu beachten, führt schließlich zu einer Erweiterung des funktionellen Sinnes von Sprache. Zur traditionellen, rationalistischen Auffassung von Sprache als ein Mittel der Sinnverdeutlichung und Differenzierung kommt nun die genetische Funktion der diakritischen Sonderung hinzu. Während sich die Leistung der Verdeutlichung und Differenzierung aus der Verbindung der Anschauung mit einer Vorstellung ergibt, beruht die Möglichkeit der Habitualisierung gerade auf deren vollzogener Trennung. Die systematische Differenzierung der Anschauung durch die Vorstellung ist letztlich dafür verantwortlich, dass sich die sprachlich artikulierte Vorstellung umwandelt in den Begriff.168 Die systematische Begriffsbildung hat jedoch die Habitualisierung von Vorstellungen und die dadurch überhaupt mögliche Stabilisierung des Reproduktions­ zusammenhangs stets zur Voraussetzung. Die noch vorbegriff‌liche, sprachliche Habitualisierung bewirkt die »Trennung der Elemente der Anschauung und der besonderen Festhaltung derselben als neue Vorstellung« [ebd., S. 296]. An anderer Stelle ist davon die Rede, dass durch das »sprachgeformte Denken« die »Beschaffenheiten der Dinge […] losgelöst von den individuellen und zufälligen Anschauungen, den Gegenstand einer allgemeinen, freien und dennoch der Natur entsprechenden Erkenntniß ausmachen.« [Ebd., S. 307]

Gattungen, Arten überhaupt Qualitäten von Dingen und Ereignissen; alles Einzelne erkennen wir dadurch und dadurch allein, daß wir es durch eine jener allgemeinen Vorstellungen appercipiren, es als zu diesem Allgemeinen gehörig, als demselben gleichartig auffassen.« [Lazarus, S. 253] 168 Die Sprache gibt nur eine Nominal-, der Begriff die Realdefinition der Dinge: »Sie, die Realdefinition, ist der Fortschritt von der Vorstellung zum Begriff; sie ist eine That der Wissenschaft und nicht mehr der Sprache.« Der zur Real­ definition gehörenden systematischen Vollständigkeit wegen verbindet sich in der Begriffsbestimmung die Abstraktheit der Allgemeinvorstellung mit der Konkretion der Anschauung: »Der Begriff vereinigt in sich die psychologischen Eigenschaften der Anschauung und der Vorstellung.« [Lazarus, S. 300]

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Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

4)

Dispositionelle Wiederholungshandlungen: Das artikulierte Wahrnehmungsinteresse und seine bewegungsdynamische Organisation

Mit Blick auf Steinthal und Kleist wird schließlich die methodische Grenze der Reproduktionstheorie der Habitualisierung deutlich: Solange die Artikulation nur in ihrer Funktion der – sei es nun der aktiv oder passiv reproduzierenden – Kundgabe von Vorstellungen begriffen wird, die dazu führt, ein dispositionelles Bewusstseinsfeld im Bewusstsein zu aktualisieren, bleibt diejenige thematische Zentrie­rung des Wahrnehmungsfeldes unbegreif‌lich, die auf eine solche Disposition gerade nicht zurückzuführen ist: die bewegungsdynamische Organisation wechselnder Wahrnehmungsorientierung. Feldtheoretisch ist der Fall des zerstreuten Bewusstseins nicht einfach a priori auszuschließen, wo die Wahrnehmungsorientierung nicht weiß, an welches Wahrnehmungszentrum sie sich heften soll und deshalb eine Wahrnehmungsbewegung verkörpert, die zwischen verschiedenen Zentren hin und her fluktuiert. Der Theoretiker kann hier nicht einfach davon ausgehen, dass die Konzentration des Zerstreuten mechanisch-automatisch aus einem Reproduktionszusammenhang der Habitualisierung folgt, einer bloß aktualisierenden Artikulation von dispositionellem Wahrnehmungsinteresse, denn es gibt in diesem Fall keine dispositionelle Bereitschaft, die eindeutig die Reproduktion einer bestimmten Vorstellungsgruppe bevorzugen würde. Es wäre deshalb naheliegend, methodisch in Erwägung zu ziehen, dass sich die Rolle der Artikulation von selektivem Wahrnehmungsinteresse nicht nur auf die bloße Funktion der Kundgabe von etwas Unartikuliertem außer ihr beschränkt im Bewusstmachen solcher im Unbewussten aufgehobenen dispositionellen Ordnungen von Vorstellungen. Wird das Wahrnehmungsinteresse in der Artikulation einer fluktuierenden Wahrnehmungsbewegung überhaupt erst geweckt wie zugleich auch habitualisiert, indem sich die Konzentration auf ein thematisches Zentrum nicht nur einmal, sondern wiederholt kundgibt, dann wird eine solche Artikulation einer intentionalen, thematischen Ausrichtung zur Quelle von Organisation, welche Ordnungsdispositionen aktiv schafft statt nur in der Passivität bereits vorkonstituierte zu aktualisieren in der Kundgabe eines bereits habitualisierten, vorstellungsbezogenen Erkenntnisinteresses. Ein vielversprechender erster Ansatz – aber leider auch nur ein Ansatz – zu einem solchen aktiv-dynamischen Begriff des Wahrneh582 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Dispositionelle Wiederholungshandlungen

mungsinteresses findet sich in Husserls subtiler Analyse des Weckungserlebnisses als einer Passivität, in der verschiedene Stufen von aktivem intentionalem Interesse in Gestalt einer nicht bloß reflex­artigen, sondern selbstvollzogenen Zuwendung immer schon eingehen. Selektive Aktivitäten kommen in das Weckungserlebnis keineswegs erst hinein durch die Weckung von intentionalem Erkenntnisinteresse und die mit ihr verbundene organisierende Konstitutionsbestimmung, sie spielen bereits eine Rolle bei der ursprünglichen Weckung von Aufmerksamkeit. Die Zuwendung zu einem Objekt ist nicht nur abhängig von der Affektion und ihren »verschiedenen Stärkegraden« [Husserl 1972, § 17, S. 82]. Die Wirksamkeit von Interesse bekundet sich in einem Moment, das gewissermaßen einen Überschuss darstellt gegenüber der assoziativen Weckung, der durch den Reiz verursachten Auslösung der Ichzuwendung. Husserl spricht davon, dass die Zuwendung eine Strebungstendenz aufweist, die wiederum »verschiedene Grade der Spannungsstärke« [ebd.] enthält, die nicht etwa mit den Stärkegraden des affektiven Reizes korrespondieren. Hier kommt eine ursprüngliche Form von aktivem und nicht passivem, agierendem und nicht bloß reagierendem Interesse zum Vorschein, das aus der »passiven Synthesis« nicht abgeleitet werden kann. Offenbar entwickelt sich das Interesse an einem Gegenstand nicht ausschließlich responsiv infolge der Rezeptivität, entspringt also keineswegs nur der Auslösung durch eine Weckung von Bewusstsein und Aufmerksamkeit, sondern umgekehrt bestimmt aktiv handelndes Interesse den Grad der aufmerksamen Zuwendung zu einem Gegenstand. Die Ichzuwendung erfolgt nicht gewissermaßen automatisch aufgrund einer starken Affektion wie etwa dem Pfiff einer Lokomotive; das Ich braucht sich auch dem kräftigsten Sinnesreiz nicht hinzugeben, kann sich vielmehr auf ihn mehr oder weniger einlassen oder ihn sogar übergehen169: »Man achtet nicht auf den gewalttätigen Reiz, wo man mit einer ›wichtigen‹ Person spricht, und selbst wo man momentan bezwungen wird, kann es bloß sekundäre Zuwendung im Nebenbei sein, oder auch nur ein momentan Hingerissen- und Abgelenktsein, ohne ›eingehend‹ darauf zu achten.« [Husserl 1972, § 17, S. 82 f] 169 »Das Ich braucht sich einem starken Reiz nicht ganz hinzugeben, und es kann sich mit verschiedener Intensität in ihn einlassen. Steigerung der affek­tiven Kraft ist zwar notwendig bedingt durch gewisse Veränderungen der wahrnehmungsmäßigen Gegebenheitsweise des Objektes, so z. B. derjenigen des Pfiffes einer an uns heranfahrenden Lokomotive; aber dergleichen allein braucht keine Zuwendung zu erwirken.« [Husserl 1972, § 17, S. 82]

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In dieser Beschreibung verbirgt sich der Hinweis auf ein originäres, selektives Wahrnehmungsinteresse in der Artikulation, das aber systematisch merkwürdig ortlos bleibt, weil es das Schichtenmodell der Konstitution überhaupt durcheinanderzubringen droht – die Annahme strikt voneinander getrennter Fundierungsebenen der aktiven und passiven Synthesis. Wenn selektives Interesse nicht erst entsteht infolge einer Bewusstsein und Aufmerksamkeit weckenden Affektion, dann ist es als solches nicht responsiv und passiv, sondern spontan und aktiv. Das Modell der passiven Synthesis und responsiven Ichzuwendung als genetisch-phänomenologische Erklärung für die Entstehung von Interesse ist am Modell der sich in Stufen der Gestaltwahrnehmung und Konstitutionsbestimmung vollziehenden Erkenntnisgewinnung orientiert. Das Stufenmodell der Konstitution muss stets eine fundierende Ebene der passiven Synthesis annehmen, wonach die Ichzuwendung allein und ausschließlich durch eine Auslösung verursacht wird, das Interesse für den Gegenstand sich also der Wirkung einer assoziativen Weckung verdankt und so niemals zugleich als deren Ur­ sprung erscheinen kann. Genau eine solche den Stufenbau der Konstitution zum Einsturz bringende Vertauschung von Ursache und Wirkung entsteht durch die Fähigkeit der Wahrnehmung, Reize nicht einfach hinzunehmen, sondern mit Hilfe der Artikulation aktiv zu selektieren: Die Affektion zeigt sich hier keineswegs als ursächlich bewirkend in Bezug auf die Ichzuwendung, sie wird bewirkt durch eine solche Zuwendung, welche sich auf sie ausdrücklich einlässt. Grund für dieses Eingehen und Sicheinlassen auf einen Reiz ist offenbar eine zur bloßen Rezeptivität hinzukommende Bedeutung, welche das Wahrnehmungsinteresse dem Objekt verleiht. Husserls Beispiel der Unterredung mit einer »wichtigen« Person deutet eher im Vorbeigehen an, dass für die Entstehung von ursprünglichem Wahrnehmungsinteresse nicht die gleichsam bruchlose Fortsetzung der rezeptiven Wahrnehmung durch die aktive Konstitutionsbestimmung, die systematische Erkenntnis­gewinnung, verantwortlich ist, sondern die Vermittlung der noch unartikulierten, rezeptiven Wahrnehmung durch die Artikulation: Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt ein Objekt, für das sich ein Interesse ausdrücklich artikuliert. Es spricht für die Unbefangenheit des phänomenologischen Blicks, wenn Erfahrung und Urteil allen systematischen Zwängen zum Trotz den Blick darauf lenkt, dass Aufmerksamkeit und Bewusstsein nicht bloß aus der assoziativen Weckung resultieren, sondern eine Gradua584 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Dispositionelle Wiederholungshandlungen

lität der Spannungsstärke aufweisen, welche die aktive Hinwendung, die mehr oder weniger konzentrierte Zuwendung zum Gegenstand, ausdrückt. Diese angespannte Konzentration wird von Husserl zwar nicht systematisch, wohl aber beispielhaft mit der Artikulation in Verbindung gebracht. Ob uns etwas bewusst wird und wie es bewusst wird, hängt davon ab, ob wir ein Objekt direkt anvisieren oder es nur am Rande, nebenher mit anderen Dingen bemerken, ob wir es lediglich im Vorbeigehen erfassen oder aber es eingehender betrachten – solche verschieden möglichen Sinngebungen der Zuwendung resultieren offenbar aus der Umwandlung der unartikulierten in eine artikulierte Wahrnehmung. Wir artikulieren unser Interesse und bezeugen damit, dass wir einer Sache nicht nur überhaupt zugewendet sind, sondern sie für wichtig nehmen und als bedeutend erachten. Erst aufgrund dieser durch das artikulierte Wahrnehmungsinteresse bewirkten aktiven Konzentration kommt die »passive Synthesis« und die mit ihr verbundene Weckung von Aufmerksamkeit und Erkenntnisinteresse überhaupt ins Spiel. Nimmt man Husserls Analyse der Ichzuwendung und ihr Beispiel der Artikulation in dieser Weise systematisch ernst, dann ergibt sich damit zugleich ein möglicher Hinweis darauf, wie das sich ausdrücklich artikulierende Wahrnehmungsinteresse Einfluss nimmt auf die Wahrnehmungsbewegung. Husserl betrachtet nämlich den Fall der möglichen Ablenkung, bezieht also den von der Affektivität her sich aufdrängenden Orientierungswechsel und damit die zur Wahrnehmung gehörende Orientierungsbewegung mit ein. Wir lassen uns nicht hinreißen von einem bestimmten starken Weckungsreiz, wenn wir mit einer wichtigen Person sprechen, mit der wir uns in ein Gespräch verwickelt haben. Die Ablenkung erfährt damit eine Hemmung, d. h. die Wahrnehmungsbewegung, die zwischen verschiedenen thematischen Zentren hin und her fluktuiert, wird damit stillgestellt. Worauf Husserls Analyse sich nicht weiter einlässt ist das Faktum, dass dieses Stillstellen der Wahrnehmungsbewegung durch das artikulierte Inter­ esse offenbar nicht okkasionell bleibt, sondern von einem dispositionellen Motiv und damit einem wirksamen habituellen Interesse geleitet wird. Wir sind darum bemüht, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen in der ja durchaus beständigen Gefahr der Ablenkung durch entweder denselben attraktiven Reiz oder immer wieder andere Reize. Wirksam und damit dauerhaft verhindert wird diese Ablenkung aber nur dann, wenn in der sprachlich artikulierten Zuwendung ein Wie­ derholungsmotiv liegt, sich also über die okkasionelle Konzentration 585 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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auf die Gesprächssituation hinaus ein dispositionelles Interesse diakritisch entwickelt in der Konzentration auf ein bleibend ausgesondertes thematisches Feld und (Bedeutungs-)Zentrum: Eine solche nicht nur einmalige diakritisch entwickelnde Artikulation ermöglicht es nicht nur, den Gesprächsfaden immer wieder neu anzuknüpfen, sondern das einmal begonnene Gespräch keinesfalls beliebig, vielmehr in der aktiven, wiederholten Festhaltung des thematisch Selben weiter fortzusetzen. Doch von welcher Art ist ein solch dispositionelles Interesse? Offensichtlich kann es sich hierbei nicht um dispositionelle Vorstellungen in einem Reproduktionszusammenhang handeln – sachlich nicht und systematisch nicht. Bei der Reproduktion geht es stets darum, eine zunächst passive Vermögensdisposition zu aktivieren. Dies geschieht – wie die Theorie der assoziativen Weckung zeigt – vermittelt durch eine jeweils reproduktive Leistung in verschiedenen Stufen der Aktualisierung: durch die Umwandlung des Unbewussten in das Habituelle und schließlich eine aktuell bewusste Wahrnehmung und Erinnerung.170 Hier gilt das strenge Gesetz der Fundierung: Jedem Aktuellen einer neuen und höheren Stufe reproduktiver Leistung liegt ein Dispositio­ nelles zugrunde als ein zu aktivierendes inaktives Vermögen. Bewegungsdynamische, dispositionelle Wiederholungshandlungen wie das Bemühen, durch wiederholtes Besprechen von etwas und Antworten auf etwas den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, aktualisieren zwar auch eine Disposition, doch besteht in der Wiederholungsbewegung ein der Reproduktion gegenüber vertauschtes Verhältnis von Aktivität und Passivität: Die mögliche Wiederholung bezieht sich stets auf etwas, was bereits aktuell und aktiv wirksam ist, d. h. die im Bewegungsrhythmus wirksame Wiederholungsdisposition besteht in einer als solcher aktualen Vollzugsmöglichkeit, etwas Aktuelles noch einmal zu vollziehen. Nicht nur sachlich und strukturell, sondern auch systematisch ist diese zur Wahrnehmungsbewegung gehörende Artikulation einer Wiederholungshandlung nicht einfach gleichzusetzen mit der passiven Vermögensdisposition für eine reproduktive Aktualisierung von unbewussten Vorstellungen im Bewusstsein. Husserls Analyse bewegt sich im Bereich der Weckung von Aufmerksamkeit, in der eine intentionale Vorstellungsaktivität aufgrund der Weckung von Erkenntnisinteresse noch gar nicht im Spiel ist. So kann es sich bei der

170 Vgl. dazu Teil B, Kap. II,6.

586 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

4) Dispositionelle Wiederholungshandlungen

wiederholenden Sprechhandlung in der Kontinuität der Gesprächsführung also nur um ein sich bekundendes originäres Wahrnehmungs­ interesse, und keine irgendwelche einzelne Vorstellungen reproduzierende Erkenntnis­aktivität, handeln. Dass es die genetische Phänomenologie methodisch versäumt hat, in die Verhältnisse von Artikulation und Habitualisierung, von unartikulierter Wahrnehmung und artikuliertem Interesse auf diese Weise tiefer einzudringen, liegt wiederum an ihrer erkenntnistheoretischen Fixierung, einem Intentionalitätsbegriff, der in den Logischen Unter­ suchungen grundgelegt als eine Vorstellungsintentionalität konzipiert ist. Heideggers Lob auf die Methode der Phänomenologie, dass sie den eigentlichen »Sinn des Ausdrückens und der Ausgedrücktheit aller Verhaltungen grundsätzlich in den Vordergrund der Frage nach der Struktur des Logischen« gestellt habe, stützt sich einerseits auf die Annahme einer durchgängigen sprachlichen Vermittlung all unserer Erfahrungen, indem »faktisch unsere Verhaltungen durchgängig von Aussagen durchsetzt sind, die jeweils in bestimmter Ausdrücklichkeit vollzogen werden.« Andererseits bezieht sie auch die vermeintlich unausdrücklichen, vorsprachlichen Wahrnehmungen in diese universelle sprachliche Vermittlung ein im Sinne einer dispositionellen Artikulation: »Faktisch ist es auch so, daß unsere schlichtesten Wahrnehmungen und Verfassungen schon ausgedrückte, mehr noch, in bestimmter Weise interpretierte sind. Wir sehen nicht so sehr primär und ursprünglich die Gegenstände und Dinge, sondern zunächst sprechen wir darüber, genauer sprechen wir nicht das aus, was wir sehen, sondern umgekehrt, wir sehen, was man über die Sache spricht.« [Heidegger, GA 20, S. 75] Im Hintergrund einer solchen phänomenologisch »sprachanalytischen« Fundierung des Logischen, welche den methodischen Rahmen abgibt auch für die Interpretation der Wahrnehmung als einer sprachlichen Habitualität, steht der § 15 aus der VI. Logischen Unter­ suchung. Er behandelt das Problem signitiver Intentionen außerhalb der im engeren Sinne sprachlich artikulierten Bedeutungsfunktion. Husserls Antwort ist, dass auch die »Fälle wortlosen Erkennens« als »Erfüllungen von Bedeutungsintentionen« anzusehen sind, indem sie sich »von den sonst zu ihnen gehörigen signitiven Inhalten abgelöst haben.« Husserl gibt dafür das Beispiel eines Werkzeugs – des Drillbohrers – also genau diejenige bedeutsame intentionale Verweisung, die Heidegger in Sein und Zeit als die phänomenologisch grundlegende des zuhandenen Zeugdings auszeichnen wird. Wir »erkennen 587 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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ein Werkzeug als Drillbohrer, aber das Wort will uns überhaupt nicht einfallen […]. Genetisch gesprochen, es wird durch die gegenwärtige Anschauung eine Assoziation dispositionell erregt, die auf den bedeutenden Ausdruck gerichtet ist« [Husserl, Hua XIX, 2, § 15, S. 592]. Diese Auskunft erweist sich als höchst zwiespältig für den Zusammenhang von sprachlicher Artikulation und Habitualisierung. Die Ablösbarkeit des bedeutungsverleihenden Aktes von der sprachlichen Bezeichnung beruht darauf, dass die signitive Intention eigentlich gar nichts Signitives, sondern lediglich eine anschaulich zu erfüllende Leervorstellung verkörpert. Damit ist es sowohl möglich, die Einheit als auch die Unabhängigkeit von Habitualisierung und sprachlicher Artikulation zu betonen. Der Gedanke, dass die sprachliche Intention in ihrer Konkretion die genetisch ursprünglichere der zur Wahrnehmungserkenntnis gehörenden abstrakten Leervorstellung gegenüber ausmacht, wird deshalb methodisch durchkreuzt von dem konstitutionstheoretischen Gedanken, wonach die habituelle Leervorstellung eben nur eine Vorstellung verkörpert, eine reine Vorstellungsintentionalität, der die Artikulierbarkeit in Form der sprachlichen Bezeichnung als solcher nur äußerlich und d. h. phänomenologisch außer­ wesentlich ist. Das führt einmal dazu, dass Husserl bei der Analyse der sprachlichen Ausdrucksfunktion die Artikulation als Kundgabe von der intentionalen Bedeutungsfunktion im eigentlichen Sinne trennt. In weiterer Konsequenz hat dies die Absonderung des im eigentlichen Sinne sprachlichen Momentes der Artikulation – des Ausdrucks im Sinne von Kundgabe – vom intentionalen Ausdruck und seiner möglichen Habitualisierung zur Folge. Aus diesem Grunde gibt es und kann es bei Husserl keine Habitualisierung von thematischem Interesse geben, die nicht über eine Vorstellungsintentionalität und ihrer Form der Habitualisierung durch das Konstitutionsverhältnis der Objektbestimmung vermittelt ist. Die damit fehlende systematische Möglichkeit, die Intentionalitätskonzeption von ihrem sprachanalytischen Ursprung einer Vorstellungsintentionalität her, einer einfachen und direkten Bezugnahme, weiter zu entwickeln zur reflexiven Form von intentional-thematischen Interesse ist letztlich der tiefere Grund dafür, dass die mehr als deutlichen Verweise auf ein sich spontan artikulierendes, selektives Wahrnehmungsinteresse schon in der Passivität ungenutzt für die genetische Erklärung der bewegungsdynamischen Organisation des Wahrnehmungsfeldes bleiben. Bevor das thematisch-artikulierende Wahrnehmungsinteresse überhaupt wirksam wird, ist das Bewusstseinsfeld schon fertig vorkonstituiert durch eine voraffektive 588 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

5) Zuwendung und Bezugnahme

intentionale Einheitsbildung – eine mit der Vorstellungsintentionalität strukturgleiche, vorreflexive, direkte und einfache Bezugnahme.171

5)

Zuwendung und Bezugnahme. Vorstellungs- und Wahr­ nehmungs­intentionalität als Formen der thematischen Objektivierung

Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt bleibend nicht etwa das, was im Wahrnehmungsfeld auffällig wird, weil es uns besonders eindringlich affiziert, sondern wofür sich ein nachhaltiges Interesse bekundet. Husserls Beschreibung in Erfahrung und Urteil unterscheidet beim Weckungserlebnis zwei Momente der Zuwendung, eine erste noch vorintentionale attraktive Anziehung, die von der Affektion ausgelöste »Hingabe« an das Objekt sowie eine zweite »Zuwendung« als das Folgeleisten dieser ersten Tendenz, welche eine Intentionalität ins Spiel bringt im Sinne des nicht vom Objekt ausgehenden, sondern »vom Ich her vollzogenes Streben[s]« – eine Form des Selbstvollzugs also, die auf ein in der Passivität wirksames Wahrnehmungsinteresse hinweist.172 Für die Weckung von intentionalem Interesse beim Folge­ leisten einer zuerst affektiv ausgelösten Hinwendung spricht auch, dass diese selbstvollzogene Zuwendung Einfluss nimmt auf die Aufmerksamkeit durch ein mögliches Zurückhalten der Zuwendung. Wir müssen uns dem attraktiven Reiz keineswegs hingeben, wie Husserls überaus feinsinnige Analyse hervorhebt, sondern können ihn gleichsam durch Nichtbeachtung übergehen. Andererseits enthält die vollzogene Zuwendung immer auch das aktive Strebensmoment, einer Sache ausdrücklich Beachtung zu schenken. Die intentionale Leistung beschränkt sich dabei keineswegs darauf, etwas nur bewusst zu machen, indem es aus dem Bewusstseinshintergrund in den Vordergrund 171 Für Husserl bleibt die »Rezeptivität« die »niederste Stufe ichlicher Aktivität« [Husserl 1872, § 17, Überschrift, S.  79]. Husserl verbindet die Konstitution des Bewusstseinsfeldes mit der unterschiedlichen »Aufdringlichkeit« des Reizes [ebd., S. 80 f], die er auch eine »Tendenz zur Hingabe« nennt, auf welche das »Folgeleisten der Tendenz« durch das aktive Cogito mit seiner verschiedenen Spannungsstärke des Eingehens auf den Reiz dann wiederum antwortet [Husserl 1972, § 17, S. 82]. Bevor also die selektive Leistung des Wahrnehmungsinteresses als einer nicht einfachen, sondern vermittelten Form der thematischen Objektivierung überhaupt wirksam wird, ist das Be­ wusst­seinsfeld bereits konstituiert. 172 Vgl. Husserl 1972, § 17, S. 82.

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geholt wird.173 Durch die aktive, selbstvollzogene Zuwendung kommen immer auch die Kinästhesen ins Spiel. Dem Weckungsreiz wird also durch die Inszenierung einer Wahrnehmungsbewegung Folge geleistet und Husserl sieht hier eine besondere Form der intentionalen Bedeutungserfassung am Werke, eine habitualisierende thematische Objektivierung. Die Augenbewegung, welche den Objekten oder Verläufen folgt, kann passiv vollzogen werden aber auch mit dem Bewusstsein des Selbstvollzugs geschehen, wenn das »Durchlaufen der Kinästhesen, das motivierte Ablaufenlassen der Erscheinungen« so erlebt wird, dass es »mein Durchlaufen ist, mein Betrachten des Gegenständlichen« [Husserl 1972, § 19, S. 90]. Wir nehmen den mit Aufmerksamkeit wahrgenommenen Gegenstand nicht einfach so hin, indem die Zuwendung keine bloß einfache Rezeptivität, sondern eine durch den Selbstvollzug vermittelte ist: Das bloße Wahrnehmungsobjekt erfasst unser Bewusstsein zugleich als ein thematisches Objekt und damit einen Gegenstand des Interesses, das als mein Objekt zu einem solchen der habituellen Verfügung wird. Die »Zuwendung des Ich, in der Form des ›ich nehme wahr‹« führt immer auch dazu, »daß das Objekt mein Objekt, Objekt meines Betrachtens ist« [ebd.]. Warum vermeidet es Husserl dann aber, in Bezug auf diese zur Wahrnehmungsbewegung gehörende thematische Objektivierung von Interesse zu sprechen? Genau hier meldet sich das erkenntnistheoretische Vorurteil, welches die phänomenologische Methode seit ihren Anfängen in den Logischen Untersuchungen offenbar nicht abschütteln kann: Von ihrer sprachanalytischen Konzeption her wird die Intentionalität nicht als eine Wahrnehmungs-, sondern Vorstellungsintentionalität verstanden. Das »Interesse am Wahrnehmungsgegenstand« [Husserl 1972, § 19, S. 87] bedeutet für Husserl entsprechend das intentionale Streben nach einer Veranschaulichung von Leervorstellungen, d. h. auch diejenige das intentionale Interesse ausmachende thematische Objektivierung prägt die Form der Konstitution, die Objektbestimmung. Bezeichnend wird Husserls so detailversessene Analyse auffallend unscharf an dem Punkt, wo es darum geht, die zur kinästhetischen Wahrnehmung gehörende thematische Objektivierung im Besonderen zu kennzeichnen, wenn es schließlich 173 Husserl spricht von einem intentionalen Hintergrunderlebnis, das in dem aktiven Folgeleisten der Tendenz zur Hingabe »zum aktuellen Cogito wird« [Husserl 1972, § 17, S. 82].

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5) Zuwendung und Bezugnahme

heißt, dass die Erfassung des Objektes als mein Objekt »mein Durchlaufen ist, mein Betrachten des Gegenständlichen durch die Bilder hindurch« [ebd., S. 90]. Es geht bei dieser thematischen Erfassung also nur darum, »Bilder« – d. h. Vorstellungen – von einem Ding zu erlangen. Das bedeutet systematisch, dass die in der Wahrnehmungsbewegung aufgehobene Wahrnehmungsintentionalität gleichbedeutend ist mit einer Vorstellungsintentionalität. Die intentionale, thematische Zuwendung als solche stellt eine nicht einfache, sondern doppelte Zuwendung dar, die man begriff‌lich durch die Unterscheidung von Zuwendung und Bezugnahme fassen kann, wie es Husserl selbst freilich nicht getan hat. Sich einem Objekt zuwenden heißt: sich zu ihm wenden, hinwenden. Hier handelt es sich zunächst um eine Ausrichtung auf den Gegenstand durch die bewusste Wahrnehmung und aufmerksame Erfassung. Erst durch die Zuwendung rückt das, was vorher unbemerkt im Bewusstseinshintergrund blieb, in den Blickhorizont der Wahrnehmung ein, den Vordergrund der bewusstseinsbildenden Aufmerksamkeit. Von dieser Zuwendung im engeren Sinne eines Wahrnehmungsphänomens ist nun die Bezugnahme zu unterscheiden, die sich nicht auf etwas Wahrnehmbares richtet, sondern die Erfassung einer Bedeutung. Bezugnahmen sind Formen der sprachlichen oder vorsprachlichen Artikulation. Bei der Artikulation geht es nicht wie bei der einfachen Zuwendung nur darum, etwas wahrnehmbar und bewusst zu machen, vielmehr einer Wahrnehmung eine bestimmte Bedeutung zu verleihen, einen Sinn, dem man sich nicht wie etwas Sinnliches und Anschauliches einfach nur zuwendet, sondern darauf Bezug nimmt durch ein die Wahrnehmung mit einer Bedeutung vermittelndes Ausdruckserlebnis. Genetisch ursprünglich geschieht die Möglichkeit intentionaler Bezugnahme in der Wiederholung einer ersten Zuwendung in einer Wahrnehmungsbewegung, wodurch sich ein Wahrnehmungsinteresse ursprünglich artikuliert. Indem die Wahrnehmung auf diese Weise sich reflektierend zum thematischen Objekt wird, ergibt sich die Möglichkeit, dem Wahrgenommenen durch einen »bedeutungsverleihenden Akt« zugleich einen Sinn zu verleihen, der über die bloße Verdopplung der Wahrnehmung hinausgeht. Von daher kann man die methodische Frage stellen: Wie sieht das Verhältnis von Zuwendung und Bezugnahme bei der Vorstellungsintentionalität aus und und kann die thematische Objektivierung der Wahrnehmungsintentionalität diesem, wie Husserls konstitutionstheoretische Betrachtung unterstellt, wirklich analog betrachtet werden? Der sprachanalytische Ansatz in den Logischen Untersuchungen 591 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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legt es nahe, die thematische Objektivierung als eine nachträgliche Zuwendung einer vorgängigen Bezugnahme auf den Gegenstand aufzufassen im Sinne der Verbindung eines »signitiven«, das Objekt nur meinenden »bedeutungsverleihenden« Aktes durch eine Veranschaulichung, das, was Husserl einen »bedeutungserfüllenden« Akt nennt. Es gilt somit, dass die intentionale Bezugnahme auf den Gegenstand eine direkte und einfache Erfassung verkörpert, die zuerst durch einen Akt der Vorstellung geschieht, der durch keine Anschauung oder Wahrnehmung vermittelt ist, wie dies die Sprachanalyse nahe legt: Wir meinen einen Gegenstand erst einmal nur, beziehen uns auf den Gegenstand lediglich »mittels seiner Bedeutung«, sodass für den Ausdruck, der die Gegenstandsbeziehung stiftet, die Verbindung mit einer aktuellen und anschaulichen Vorstellung zunächst einmal »außerwesentlich« ist.174 Erst nachträglich kommen die Veranschaulichungen als Thematisierungen zur Bedeutungsintention hinzu, welche das bloß Gemeinte durch einen Evidenz gebenden bedeutungserfüllenden Akt schließlich bewähren. Sprachanalytisch scheint es evident, dass solche den Gegenstand nur meinenden Akte einfache und direkte Bezugnahmen darstellen und keine thematisch vermittelten intentionalen Objektivierungen. Der Sinn und die Funktion einfacher Benennungen besteht offenbar darin, über Gegenstände unabhängig von ihrer aktuellen Wahrnehmungsmöglichkeit in der bloßen Vorstellung frei verfügen zu können, denn – wie Searle es so prägnant formuliert – als intentionales Vorstellungsverhältnis wird der Gegenstandsbezug schließlich habituell, d. h. die intentionale Beziehung uneingeschränkt reproduzierbar: »Das Problem der Eigennamen sollte eigentlich einfach sein, und auf einer Ebene ist es das meines Erachtens auch: Wir möchten wiederholt auf denselben Gegenstand Bezug nehmen, auch wenn er nicht da ist, und so geben wir ihm einen Namen. Von nun an wird dieser Name dazu benutzt, um über diesen Gegenstand zu sprechen, auf ihn Bezug zu nehmen.« [Searle, S. 288] Searles Aussage stellt einen genetischen Zusammenhang her zwischen dem sprachlichen Bedürfnis, Gegenstände in der Vorstellung einfach nur zu benennen und dem anthropologischen Bedürfnis, über die Gegenstandsbeziehung habituell verfügen zu können, indem sie in 174 Vgl. Husserl, Hua XIX,1, § 13, S. 54 sowie § 14: »Außerwesentlich ist dem Aus­ druck, wie wir oben sagten, die Beziehung auf eine aktuell gegebene, seine Bedeutungsintention erfüllende Gegenständlichkeit.« [Ebd., S. 56]

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5) Zuwendung und Bezugnahme

der bloßen Vorstellung von der Fesselung an eine besondere Wahrnehmungssituation befreit wird. Es ist nun deskriptiv offensichtlich, dass es bei derjenigen zur kinästhetischen Wahrnehmungsbewegung gehörenden thematischen Objektivierung nicht um eine solche Habi­ tualisierung von Wahrnehmungen durch ihre Umwandlung in ein Vorstellungsverhältnis gehen kann. Husserls Analyse verwässert hier den Unterschied von Wahrnehmungs- und Vorstellungsintentionalität, weil sie auf die ganz unterschiedlichen Verhältnisse von Zuwendung und Bezugnahme, die hier ins Spiel kommen, nicht eigens reflektiert. Während in der Vorstellung des Gegenstandes die thematische Erfassung eine Anschaulichkeit und Wahrnehmbarkeit gewinnende Zuwendung bedeutet, welche eine intentionale Bezugnahme auf eine Bedeutungseinheit jenseits aller Wahrnehmbarkeit immer schon vor­ aus­setzt, kehrt sich bei der Wahrnehmungsintentionalität das Verhältnis von Zuwendung und Bezugnahme um: In der Passivität des Weckungserlebnisses sind wir dem Gegenstand, der uns affiziert und attraktiv anzieht, erst einmal nur wahrnehmend und aufmerksam zugewendet und erst durch die Weckung von Interesse wandelt sich diese passive, vom Objekt her motivierte Zuwendung anschließend um in eine selbstvollzogene, vom »Ich« her kommende Bezugnahme. Der Sinn dieser Artikulation besteht deshalb auch nicht darin, den Gegenstand vorzustellen: Was hier thematisch erfasst wird, ist zunächst nichts anderes als eine Affektion. Die betreffende Wahrnehmung »fesselt« uns nicht nur dadurch, dass sie einen Weckungsreiz aussendet und unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, sie bleibt im Wahrnehmungszentrum, weil wir uns dem Affizierenden mit Interesse zuwenden, dem Weckungsreiz gleichsam freiwillig immer wieder aussetzen: Durch die Weckung von Wahrnehmungsinteresse wird das Wahrgenommene, dem ich zugewendet bin, nicht nur thematisch als Objekt meiner Bezugnahme erfasst, es bekommt – in einer freilich noch aufzuklärenden Weise – zugleich die Bedeutung eines habituell verfügbaren Wahrnehmungszentrums. Während die thematische Objektivierung und Bekundung von Interesse, welche zur Vorstellungsintentionalität gehört, als solche vorreflexiv ist, erweist sich diese zum Weckungserlebnis gehörende Wahrnehmungsintentionalität als reflexiv. Die Thematisierung von Unthematischen als intentionale Konstitutionsbestimmung bleibt im ganzen objektgerichtet, weil hier sowohl die Bezugnahme als auch die Zuwendung in einem vorstellenden Akt besteht: Eine Leervorstellung wird entwickelt durch eine anschauliche Vorstellung von demselben 593 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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Gegenstand. Dagegen wandelt sich in der Weckung von selektivem Wahrnehmungsinteresse eine passive in eine aktive Synthesis um. Die einfache Zuwendung zum Gegenstand in der Passivität ohne alles ichliche Interesse weckt ihrerseits die selbstvollzogene thematische Bezugnahme, d. h. das Verhältnis von Zuwendung und Bezugnahme in der Weckung von Wahrnehmungsinteresse besteht in einer reflexi­ ven intentionalen Struktur: Die Zuwendung, die zunächst allein vom Objekt ausging, wird in der Bekundung von Interesse noch einmal vollzogen, nun aber vom wahrnehmenden Subjekt aus und dadurch die einfache Zuwendung zu einer durch den Selbstbezug vermittelten Bezugnahme. Der Entwicklungssinn ist dabei nicht der konstituie­ rende der Gewinnung einer nicht nur »leer« vermeinenden, sondern anschaulichen Vorstellung von ein und demselben Objekt, vielmehr der diakritische, eine oder mehrere Wahrnehmungsobjekte und das dazugehörige Feld, welche für mich von Bedeutung und von Interesse sind, herauslösend und verbindend auszusondern aus der Gesamtheit von verschiedenstem, aber gleichgültig Wahrgenommenen und interesselos Assoziierten. Dass Husserls konstitutionstheoretischer Blick diese reflexive Wahrnehmungsintentionalität und ihre diakritische Relevanz der Bildung eines thematischen Feldes der Bedeutsamkeit übersieht, hat seinen Grund wieder­um in der Systematik der Logischen Untersu­ chungen. Die Analyse des Ausdruckserlebnisses trennt den Ausdruck als selbstbezügliche Kundgabe von dem im eigentlichen Sinne intentionalen Ausdruckserlebnis. Diese Subjekt-Objekt-Spaltung besagt, dass die Kundgabe von subjektiven Motivationszusammenhängen und Interessen, wie sie etwa im Mienenspiel oder in einer Ausdrucksgeste geäußert werden, nach Husserl eigentlich keine »Bedeutung« haben, weil sie mit keiner Funktion der Vorstellung verbunden sind. Es fehlt ihnen »bei ihrer Äußerung die Intention, irgendwelche »Gedanken« in ausdrücklicher Weise hinzustellen« [Husserl, Hua XIX,1, § 5, S. 37]. Bei solchen »subjektiven« Ausdrucksphänomenen handelt es sich deshalb nicht um sprachliche Zeichen im Sinne der Benennung von etwas Gegenständlichem, sondern um bloße Anzeichen.175 Diese »psychologistische« Auffassung selbstbezüglicher Ausdruckserlebnisse als bloß anzeigender und nicht sprachlich-intentionaler Zeichen führt dazu, 175 »Sie ›bedeuten‹ ihm etwas, sofern er sie eben deutet; aber auch für ihn haben sie keine Bedeutungen im prägnanten Sinne sprachlicher Zeichen, sondern bloß im Sinne von Anzeichen.« [Husserl, Hua XIX, 1, § 5, S. 38]

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dass Husserls intentionale Analyse die eigentlich alles entscheidende Funktion der Kundgabe, welche das sprachliche artikulierte Erlebnis vom unartikulierten letztlich nur unterscheiden kann, gleich in doppelter Hinsicht marginalisiert. Einmal wird die Funktion der Kundgabe im originär sprachlichen Sinne als ein bloßes Kommunikationsmittel verstanden und nicht der Ausdruck von Interesse. Zum anderen verkümmert die kundgebende Artikulation damit überhaupt zu einer bloßen Randerscheinung der intentionalen Bedeutungskonstitution. Die zu den sprachlichen Ausdrücken gehörende »kundgebende Leistung« im Sinne der »kommunikativen Funktion« hat nämlich nur mit­ telbar Bezug auf die intentionale »Bedeutung des Ausdrucks«, welche sich als eine reine Vorstellungsintentionalität im einsamen Seelenleben konstituiert. Zwar dient die Kundgabe in ihrer kommunikativen Bedeutung der Mitteilung von Vorstellungen und hat demnach anders als die subjektiven Ausdruckserlebnisse eine Beziehung auf den intentionalen, originär sprachlichen Ausdruck. Doch auch hier gilt, dass die Artikulation kein originärer Bestandteil der intentionalen Sinngebung ist, sondern wieder nur ein die Bedeutung äußerlich anzeigendes »Anzeichen« zum Zwecke der Mitteilung verkörpert.176 Auch in der genetischen Phänomenologie setzt sich diese Marginalisierung der Artikulation fort, insofern sie der generellen Ausschaltung durch die phänomenologische Reduktion verfällt. Husserl sieht Hume verpflichtet in der sprachlichen Bekundung auch weiterhin nur ein Kommunikationsmittel, aber keinerlei Zusammenhang zwischen Kundgabe und Habitualisierung.177 176 Vgl. dazu die §§ 7 und 8 der I. Logischen Untersuchung, die überschrieben sind mit »Die Ausdrücke in kommunikativer Funktion« und »Die Ausdrücke im einsamen Seelenleben« [Husserl, Hua XIX,1, S. 39 und 41]. Husserl betrachtet die Ausdrücke zunächst in ihrer kommunikativen Funktion. Hier gilt, »daß alle Ausdrücke in der kommunikativen Rede als Anzeichen fungieren. […] Diese Funktion der sprachlichen Ausdrücke nennen wir die kundgebende Funktion« [ebd., § 7, S. 40]. Dagegen kann »die Bedeutung des Ausdruckes, und was ihm sonst noch wesentlich zugehört, nicht mit seiner kundgebenden Leistung zusammenfallen« [ebd., § 8, S. 42]. 177 Für Husserl stellt die Tatsache, »daß die Ausdrücke unserer Sprache notwendig solche von allgemeinem, kommunikativem Sinne sind«, eine »erste Idealisierung« dar [Husserl 1972, § 12, S. 58], welche letztlich durch die phänomenologische Reduktion, welche sich als Abbau von Idealisierungen versteht, verfällt. Die kommunikative Artikulation verhindert den Rückgang auf die subjektiven Konstitutionsbedingungen, die Enthüllung der »verhüllte[n] Subjektivität« [ebd., § 11, S. 47]. Der Erwerb und die Habitualisierung der Gegenstandsbeziehung wird nur thematisch, wenn von der kommunikativen

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Nun rechnen die Logischen Untersuchungen ausgerechnet die »Ausdrucksbewegungen« zu den vorsprachlichen und damit vorintentionalen, rein subjektiven Ausdruckserlebnissen.178 Damit schließt sich der methodische Kreis. In genetisch-phänomenologischer Betrachtung artikuliert sich in der kinästhetischen Wahrnehmungsbewegung ein thematisches Interesse, welche die in dieser Bewegung gegebenen Objekte habituell verfügbar macht. Wenn sich auf diese Weise schon in der Wahrnehmung ein Interesse bekundet, so heißt das für Husserl jedoch keineswegs, dass es sich hierbei auch um ein Interesse handelt, was aus der Wahrnehmung stammen müsste: ein originäres Wahrnehmungsinteresse. Denn der Motivationszusammenhang, den die selbstbezüglich inszenierte Wahrnehmungsbewegung kundgibt, bleibt letztlich eine bloß subjektive Bewegungsempfindung, eine Kinästhese. Der Ausdruck von intentionalem Interesse verdankt sich deshalb auch nicht der Wahrnehmungsbewegung, sondern der in ihr sich bekundenden Vorstellungsaktivität: Das Interesse der kinästhetischen Wahrnehmung ist eines, immer wieder neue und andere Vorstellungsbilder von dem Gegenstand zu bekommen. Die Möglichkeit der Habitualisierung führt Erfahrung und Urteil entsprechend systematisch zurück auf die zur Vorstellungsintentionalität gehörende thematische Objektivierung, das schon in der Wahrnehmung aktive Erkenntnisinteresse und die von ihm geleitete Objektbestimmung: den »Niederschlag der Explikation«.179 Wie eine in der fluktuierenden Wahrnehmungsbewegung aufgehobene Gegenstandsbeziehung habitualisiert werden kann, darauf scheint nun die philosophische Anthropologie eine Antwort geben zu können. Gehlens Anthropologie betrachtet solche Fälle sich in ihrer Wiederholung selbst artikulierender Wahrnehmungsbewegungen, der »anscheinend lustvollen Wiederholung, der unermüdlichen Reproduktion« [Gehlen 1978, S. 133], wo die Wiederholungsbewegung offenbar die Funktion hat, das Interesse an dem Gegenstand ursprünglich zu wecken und in dieser Weckung die Gegenstandsbeziehung zu habitualisieren. Guernsey beobachtete ein Kind, das eine sehr schmerzhafte Erfahrung macht – es stößt sich den Kopf –, diesen Kopfstoß aber unermüdlich wiederholt, ungeachtet des heftigen Schmerzes. Doch statt Funktion der Sprache abgesehen wird, wo die Gegenstände immer schon fer­ tige Gegenstände sind, weil anders Sprache nicht verständlich, Bedeutung gar nicht kommunikabel wäre. 178 Husserl, Hua XIX,1, § 5, S. 37 f. 179 Husserl 1972, § 25, Überschrift, S. 136.

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5) Zuwendung und Bezugnahme

dieses aufschlussreiche Beispiel als methodischen Hinweis zu nehmen für ein originäres Wahrnehmungsinteresse und seine bewegungs­ dynamische Organisation, biegt Gehlens Anthropologie hier sogleich ein in eine konstitutionstheoretische Erklärung. Sie macht sich fest an dem deskriptiven Tatbestand, wonach das an sich schmerzvolle Erlebnis hier offenbar zur »Lustquelle« wird, was für Gehlen auf eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der peinlichen Wahrnehmung hindeutet. Gehlens Auslegung zieht daraus den Schluss, dass Sinn und Zweck dieser Handlung überhaupt in der Gewinnung und Habi­ tualisierung einer völlig neuartigen Erfahrung besteht, die über die bloße Wahrnehmung hinausgeht: einer vorstellenden Erkenntnis des betreffenden Gegenstandes. Die Wiederholung des Kopfstoßes vermittelt vor allem »ein Selbstgefühl der eigenen Tätigkeit« [Gehlen 1978, S. 134]. Gehlen hebt die objektivierende Leistung dieser Erfahrung hervor: »Ich will den Ausdruck vermeiden, daß das Kind sich seinen Bewegungen gegenüber ›objektiv‹ verhalten kann; aber ihm wird durch die dabei auftretenden Empfindungen ein entfremdetes Selbstgefühl der eigenen Bewegungen vermittelt, und diese Entdeckung ist eine neue, belebende und sofort wiederholte Möglichkeit.« [Ebd.] Für Gehlen steht die Entlastungsfunktion einer solchen der Wahrnehmungsbewegung immanenten Objektivierung im Vordergrund180 in der Umwandlung der bloßen Wahrnehmung in eine Vorstellung. Entsprechend deutet er die zu dieser Bewegung gehörende Wiederholungshandlung als eine Form von Reproduktion: Der Wahrnehmungsinhalt wird in diesem entfremdeten Selbstgefühl erfahrbar zu einem reproduzierbaren Vorstellungsinhalt, weswegen diese Gewinnung einer wahrnehmungsunabhängigen Vorstellung dann auch in andere Bewegungshandlungen eingesetzt und durch diese weiter ausgebaut – d. h. systematisch differenziert – werden kann.181 180 »Überall, wo künftig von kommunikativen Bewegungen, von sensomotorischen Kreisprozessen, von Selbstentfremdung die Rede ist, ist die in diesem Abschnitt beschriebene Intellektualität der Bewegungsstruktur mitzudenken, also die gegenseitige Entlastung von Sinnesleistungen und die Fähigkeit […] – ohne Triebinteresse, ja beim Übergang in den Schmerz gegen ein solches – die Bewegung einzusetzen bzw. sie von daher zu führen.« [Gehlen 1978, S. 140] 181 »Irgendeine unbeabsichtigte oder unwillkürliche motorische Leistung hat einen Reizerfolg, und dadurch entsteht ein besonderes Bewußtsein, ein entfremdetes Selbstgefühl dieser Leistung, die nun übernommen, eingesetzt und vor allem ausgebaut werden kann. Es ist dieses entfremdete Selbstgefühl der

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Gehlens Interpretation nimmt bezeichnend die Gleichsetzung vor zwischen der zur Bewegung gehörenden Wiederholungshandlung mit derjenigen Habitualisierung, wie sie das Vorstellungsverhältnis auszeichnet: einer Reproduktion. Wird in dieser Weise die Wiederholung mit der Reproduktion identifiziert, dann liegt der Grund für die Habitualisierung eben nicht in der Wahrnehmungsbewegung, sondern der Vorstellung: Statt eine Wiederholungsdisposition in der zu diesem Verhalten gehörenden Bewegungsmotorik auszuweisen, wird sie für Gehlen zur Disposition für die mögliche Erkenntnisgewinnung, Vorstellungen in wechselnden Wahrnehmungskontexten beliebig identifizieren zu können, wodurch sich der Mensch erst eigentlich vom Tier unterscheidet als weltoffenes und nicht in einer begrenzten Wahrnehmungsumwelt gefangenes Wesen. Die von der philosophischen Anthro­pologie in diesem Zusammenhang immer wieder in den Mittelpunkt gestellte Entlastungsfunktion der Habitualisierung, die komplexe Wahrnehmung in der Vorstellungsaktivität durch ein einfaches Symbol und Zeichen zu ersetzen, trägt dabei zur Verstellung des Blicks auf die diakritisch entwickelnde, bewegungsdynamische Organisation der Wahrnehmungsorientierung nicht unwesentlich bei. Die Wiederholungshandlung vermittelt eine besondere Art von Selbstgefühl, das Interesse an der eigenen Tätigkeit. Für Gehlen steht hier jedoch nicht der mögliche Gewinn im Vordergrund, ein selbstbildendes Wahrnehmungsinteresse, sondern gerade ein Verlust, die mit dem Selbstgefühl verbundene Entfremdung, also die Kluft einer Subjekt-Objekt-Spaltung, welche sich hier öffnet. Die Leistung der reflektierten Bewegungsstruktur und des in ihr zum Ausdruck kommenden entfremdeten Selbstgefühls ist schließlich der Grund dafür, dass in ihr »die »Objektivität« der Dingwelt zur Gegebenheit kommt« [Gehlen 1978, S. 137]. Gehlen betont das Moment der Selbstdistanzierung und Selbstentfremdung den eigenen Erlebnissen gegenüber, ohne es freilich weiter genetisch aufzuklären, dessen Funktion schließlich ver­ständlich wird durch eine Distanz schaffende Vorstellung, die sich zwischen das erlebende Ich und seine Erlebnisse schiebt. Verstärkt wird diese Entkopplung von den Empfindungen noch durch den Wiederholungscharakter der Selbstbewegung, indem sich der Vorstellungsinhalt immer wieder reproduziert und als ein solcher durch die Reproduktion vermittelter Sinn die unmittelbare Empfindung des Schmerzes schließeigenen Leistung, das den weiteren Ausbau desselben steuert.« [Gehlen 1978, S. 134]

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lich verdrängt. Damit wird im Ansatz die Fixierung des Bewusstseins auf den peinlichen Wahrnehmungsinhalt durch einen solche auf die reproduzierte Vorstellung ersetzt und die damit verbundene Ausbildung einer Erkenntnisorientierung wiederum zur Grundlage für die anschließende Ordnungs- und Differenzierungsleistung durch spätere Erkenntnishandlungen. Diese bewegungsmotorische Ausbildung einer Erkenntnisorientierung ist also nur die erste Stufe der Entwicklung von Erkenntnisinteresse, einer Organisation der Wahrnehmung durch die Vorstellung und ihre Form der systematischen Konstitutionsbestimmung. Guernseys Beispiel lässt jedoch auch eine ganz andere Interpretation zu, wenn man sich bemüht, die Disposition für diese ursprünglich zur Wahrnehmung gehörende Wiederholungsbewegung in der Wahr­ nehmung selbst zu suchen und nicht von vornherein in einem Reproduktionszusammenhang der Vorstellung als einer erkenntnistheoretisch fraglos in Anspruch genommenen Vermittlungsinstanz. Im Spiel wendet sich das Kind immer wieder anderen Dingen zu – die Wahrnehmungsorientierung fluktuiert. Von der Wahrnehmungsbewegung her gedacht führt das schmerzhafte Erlebnis und seine Wiederholung erst einmal dazu, dass diese unaufhörliche Wahrnehmungsbewegung für eine gewisse Zeit stillgestellt wird. In der lustvollen Wiederholung auch eines schmerzhaften Erlebnisses wird somit das Interesse deutlich, ein beeindruckendes Erlebnis als solches festzuhalten und nicht gleich wieder durch die wechselnde Wahrnehmungsorientierung – die zum Spiel gehörende Zerstreuung von Aufmerksamkeit und Interesse – zu verlieren. Die wiederholte, selbstvollzogene Zuwendung gibt auf diese Weise zu verstehen, dass sich die Wahrnehmung nicht mehr ablenken lassen will durch immer wieder andere Affektionen, sondern sich auf eine bestimmte Erfahrung konzentriert, für die es durch die selbstvollzogene Wahrnehmungsbewegung ein ursprüngliches Inter­ esse bekundet. Diese Erfahrung als eine solche von ursprünglichem Eigen­interesse ist gerade nicht mit einem Gefühl der Entfremdung und Selbstentfremdung verbunden, welches Gehlens Anthropologie in das Erlebnis hier nur hineinkonstruiert, sondern – mit Husserl gesprochen – die thematische Erfassung Objektes als mein Objekt in einer solchen Wiederholungshandlung der Wahrnehmungsbewegung verbindet sich mit der Versicherung eines solchen Erlebnisses als eigenes, mir zu­ gehöriges Erlebnis. Der Schmerz, er ist mein eigener Schmerz. Was mit der einfachen Wiederholung einer schmerzvollen Empfindung ansatzweise in Gang kommt, ist demnach die diakritische Entwicklung 599 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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einer Eigenheitssphäre der Wahrnehmung in der reflexiv-intentionalen, aktiv-­interessierten Aussonderung des für mich überhaupt Bedeutungshaften im Unterschied zum Bedeutungslosen. Allein durch die Empfindung, die im exemplarischen Beispiel Guernseys den Charakter eines Schmerzes und damit einer Hemmung hat, kann die lustvolle Aktivität dieser Bewegung, die »den Reiz zu ihrer eigenen Wiederholung« erzeugt [Gehlen 1978, S. 135], freilich nicht erklärt werden, woraus dann Gehlen konstitutions­theoretisch kurzschlüssig folgert, dass diese Enthemmung nur von der ungehemmten wiederholten Reproduktion eines Vorstellungsgehaltes herrühren kann. Damit wird die mögliche Entdeckung und systematische Beschreibung einer diakritisch relevanten bewegungsdynamischen Organisation, zu der diese anthropologische Thematisierung von solchen sich selbst artikulierenden Wahrnehmungsbewegungen und ihrer Wiederholungsstruktur führen könnte, letztlich verhindert. Wenn Gehlen von »Bewegungssystemen« spricht, wo »die Bewegung selbst den Reiz ihrer eigenen Fortsetzung« produziert [ebd., S. 134 f], dann entsteht der dispositionelle Reiz zur Wiederholung eben doch nicht wie es nahe­liegt durch die Wahrnehmungsbewegung selbst, sondern eine mit ihr verbundene unbewegliche Vorstellung und die ihr anhaftende Reproduktionstendenz. Für Gehlen ist entscheidend, dass die wiederholt ansetzenden einzelnen Bewegungen sowohl vorsprachlicher als auch sprachlicher Bewegungshandlungen der Artikulation immer schon intentionale »Erwartungsvorgriffe« auf die Zukunft enthalten182 – Leervorstellungen also, die durch jede neue Wahrnehmung einerseits erfüllt und andererseits immer wieder geweckt und damit reproduziert werden. Anthropologisch ist die Erwartungsvorgriffe produzierende »Bewegungsphantasie« [ebd., S. 142] als ein Vorstellungsvermögen konzipiert und enthält deshalb auch keine wirklich bewegungsdynamische Wahrnehmungsintentionalität. Bei der zur wieder­holten Reproduktion solcher Vorstellungen gehörenden kausalen Aktivität handelt es sich letztlich um die im Rahmen der geneti182 »Es ist zunächst die Tatsache zu beachten, daß eine jede Bewegung, sofern sie kommuniziert, sofern sie also weltumgängliche Inhalte entwickelt […] schon Erwartungsvorgriffe enthält.« [Gehlen 1978, S. 142 f] Das gilt ausdrücklich auch für die sprachliche Artikulation: »Auch im Laut, der in der Teilnahme mit den Lauten der anderen lebt, liegt schon die Erwartung des Wiederhörens, als eine ›Intention‹ auf die Erfüllung. Unter ›Intention‹ hat man den Erwartungsvorgriff einer jeden gerichteten Bewegung auf Erfolg […] zu verstehen« [ebd., S. 143].

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schen Konstitution aufgehobene Auslösungsdynamik der assoziativen Weckung. Verbindet man nun systematisch Husserls Aufweis einer thematischen Objektivierung schon in der kinästhetischen Wahrnehmung mit der anthropologischen Entdeckung, dass zur Wahrnehmungsbewegung eine sich artikulierende Wiederholungshandlung gehört, dann lässt sich daraus die intentionale Struktur eines ursprünglich selektiven Wahrnehmungsinteresses gewinnen mit der damit verbundenen Möglichkeit der Entdeckung einer die Eigenheitssphäre der Wahrnehmung diakritisch entwickelnden bewegungsdynamischen Organisation. Die Umwandlung der Zuwendung in eine Bezugnahme, die zur thematischen Erfassung eines Wahrnehmungsobjektes gehört, lässt sich als ein der Wahrnehmungsbewegung immanente Intentionalität verstehen, wenn man die Wiederholung einer Wahrnehmungsbewegung als den Ursprung ihrer intentionalen Sinngebung annimmt: Die Reflexivität der intentionalen Wiederholungshandlung besteht darin, sich demselben Objekt, dem sich das wahrnehmende Bewusstsein aufgrund eines Weckungserlebnisses und seiner auslösenden Affektion bereits zugewendet hat, nun noch einmal aus eigenen Antrieb zuzuwenden: Die Wahrnehmungsintentionalität besteht in nichts anderem als der wiederholten Zuwendung zu einem Objekt, die es als Objekt des Interesses thematisch erfasst. »Artikulation« in diesem intentionalen Sinne einer als Wieder­ holungshandlung vollzogenen Wahrnehmungsbewegung meint jedoch noch keine im engeren Sinne sprachliche Leistung, sondern lediglich die zur Wahrnehmungsintentionalität gehörende Reflexionsstruktur der Selbstthematisierung einer Zuwendung als eine Form der thematische Bezugnahme. Das Rekurrieren auf eine solche vorsprachliche Artikulation allein beantwortet jedoch die Frage nicht, wie sich ein thematisches Objekt wirklich dauerhaft als organisierendes Zentrum eines thematischen Feldes behaupten kann. Es gilt deshalb genauer zu klären, wie die thematische Wiederholung einer Wahrnehmung dieser intentional die bleibende Bedeutung eines aktuellen wie potenti­ ellen Objektes des Interesses verschafft, welche – die Wahrnehmung durch ihre Sinngebung modalisierend als eine dispositionelle Wahrnehmungsmöglichkeit – über die tatsächliche, aktuelle Wahrneh­ mung hin­aus­geht. Die intentionale Wiederholungshandlung als reines Wahrnehmungsphänomen führt lediglich zu einer Unterbrechung der zerstreuten, zwischen verschiedenen Attraktionszentren hin und her fluktuierenden Wahrnehmungsbewegung. Eine wirklich stabile Or601 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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ganisation des Wahrnehmungsfeldes kann erst dann entstehen, wenn sich die thematische Bezugnahme mit einer Bedeutungserfassung verbindet, welche über die bloße Verstärkung der Affektion durch vereinzelte Wiederholungshandlungen hinausgeht, die letztlich die zum Weckungserlebnis gehörende Fluktuation der Zuwendung nur hemmen und zeitweilig aufhalten, aber nicht wirklich verhindern kann. Und genau hier scheint die methodische Stärke der konstitutionstheoretischen Erklärung zu liegen, die dauerhafte thematische Zentrierung auf eine der Wechselhaftigkeit der Affek­tion enthobene Vorstellungsaktivität zurückzuführen als derjenigen sprachlich vermittelten Habitualisierung, welche in die sprachlich unartikulierte Wahrnehmungs­ intentionalität dispositionell eingeht. Die Konstitutions- und Erkenntnistheorie hält sich in ihrer sprach­analytischen Fundierung an Benennungen und Urteile und damit die Möglichkeit, Gegenstände in der Vorstellung und Erkenntnis zu identifizieren und prädikativ zu bestimmen. Dieser methodische Ansatz scheitert jedoch damit – wie Husserls vergeblicher Versuch zeigt, die thematische Zentrierung des »Bewusstseinsfeldes« auf die Objektbestimmung zurückzuführen – die organisierende Leistung des Wahrnehmungsinteresses zu erklären. Genetisch betrachtet geht das Wahrnehmungsinteresse der Weckung von Erkenntnisinteresse stets voraus, sodass diejenige sprachliche Habitualisierung, welche die Möglichkeit der Objektbestimmung begründet – die nominale Identifizierung und prädikative Syntax – als sinngebende Leistung für die Strukturierung des Wahrnehmungsfeldes nicht in Frage kommt. Gesucht ist hier eine sprachliche Artikulation, die nicht nur auf einzelne Gegenstände in einem isolierten Akt Bezug nimmt, sondern eine ganze Wahrnehmungsbewegung, zu der wechselnd orientierte mannigfaltige Bezugnahmen auf thematische Wahrnehmungsgegeben­ heiten gehören, zum Ausdruck bringt und sie damit einer intentional stabilisierenden, habituellen Bedeutungsdifferenzierung unterwirft. Erst dadurch wird das habituelle Wahrnehmungsinteresse zu einer diakritisch relevanten bewegungsdynamischen Organisation, wenn sich die Wahrnehmung als ein Bedeutungszusammenhang bleibend organisiert, welche sie von der Wechselhaftigkeit und Instabilität affektiver Auslösungen in ihrer Zufälligkeit unabhängig macht, sie aus dem dynamisch-energetischen Kontinuum des Weckungserlebnisses tendenziell herauslöst. Der genetische Ursprung der diakritischen Entwicklung eines geordneten Wahrnehmungsfeldes liegt in der Artikulation eines Interesses und damit nicht in dem, was die Logik und 602 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

6) Steinthal und Ingarden

Sprachanalyse seit Aristoteles privilegiert, die objektorientierte Aus­ sage, vielmehr einer subjektorientierten Artikulation, in der alle einzelnen objektiven Aussagen immer schon aufgehoben sind, wie sie sich hermeneutisch-logisch in der Kunst der Gesprächsführung als sinn­ gebend und organisierend aufweisen lässt.

6) Steinthal und Ingarden: Die stilbildende assoziative Syntax als Problem diakritischer Entwicklung Wie kommt das Wahrnehmungsinteresse ursprünglich zur Sprache? Steinthals Fabel183 führt in ihrer methodischen Auf‌lösung einer Passfrage zur Vereinfachung der höchst komplexen thematischen Bezüge, wie sie sich in der Wahrnehmungsorientierung verbergen. Die Versuchspersonen zeigen mit ihrer spontanen Artikulation ihre beruf‌liche Bildung. Der psychologische Analytiker suggeriert damit, dass nur eine Sache für das Lebensinteresse von Bedeutung ist, wo es sich doch in Wahrheit auf viele Dinge verteilt. Der Landwirt interessiert sich wahrlich nicht nur für Landwirtschaft, so wenig wie für den Botaniker nur die Botanik oder den Künstler nur die Kunst existiert. Die Rolle der sprachlichen Artikulation wird also nur in theoretischer Perspektive zu einer solchen des einfachen und eindeutigen Entweder-Oder: Etwas wird artikuliert und zeigt sich so von Interesse, oder aber es bleibt unartikuliert und damit uninteressant. Mit Aron Gurwitsch gesprochen fällt in der gestellten Passfrage und ihrer einfachen Antwort die sprachliche Relevanz und Irrelevanz zusammen mit der Bedeutungsrelevanz und -irrelevanz. In Bezug auf das thematisch zentrierte Wahrnehmungsfeld entspricht dem die Unterscheidung von bedeutungsrelevantem Feld und bedeutungslosen Rand. Was damit allerdings gar nicht erst zur Geltung kommt sind die verwickelten Beziehungen des Themas zu seinem thematischen Feld, d. h. solche zur Bedeutungsrelevanz gehörenden peripheren Zentren, die auch in der sprachlichen Artikulation sowenig wie in der Wahrnehmung einfach nichtssagend und unbedeutend erscheinen können. Aufschlussreich sind hier Steinthals hermeneutisch-psychologische Überlegungen in seinem programmatischen Entwurf Die Arten und Formen der Interpretation, weil sie zeigen, wie schwer es die seit Aristoteles als Urteilslogik konzipierte Sprachanalytik hat, dem Pro183 Vgl. Kap. III,2.

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blem überhaupt Raum zu geben, wie Sprache nicht nur Vorstellun­ gen und Erkenntnisse, sondern auch Wahrnehmungen und die mit ihnen verbundenen Interessenlagen intentional artikulieren kann. Die Interpretation kann sich nach Steinthal auf eine ausschließlich grammatische Analyse von Texten nicht beschränken, sondern muss immer auch die Stilistik berücksichtigen. Steinthals Systematik macht hier offenbar von der traditionellen Unterscheidung von Grammatik und Rhetorik Gebrauch. Das literarische Werk besteht nicht nur aus einer bloßen Abfolge von Sätzen; die wirkliche Einheit, die Komposition des Redewerks, wird durch die rhetorisch-stilistische dispositio fassbar. So erschließt nicht schon die grammatische, sondern erst die stilistische Interpretation »den Grundgedanken, die Tendenz des Ganzen, die Einheit des Redewerks […] und wie sich der Hauptgedanke entweder wie ein roter Faden durch alle Einzelheiten hindurchzieht, oder wie er sich zerlegt und gliedert, sich entwickelt. Ihr Objekt ist also die Komposition des Redewerkes« [Steinthal 1877, S. 174 f]. Die Betrachtung der Grammatik wie auch des Stils ist nicht zu trennen von der individuellen Interpretation, welche die Beziehung von Werk und Autor thematisiert. Der Autor benutzt nicht nur überlieferte Kompositionsformen als Schemata, sondern gestaltet sie jeweils individuell um durch ein selbstgeschaffenes thematisches Beziehungszentrum, die assoziative Gruppierung aller einzelnen Gedanken um einen Hauptgedanken herum. Diese individuelle Gestaltung versteht Steinthal zwar auch als eine Bündelung und Konzentration von Gedanken durch das Wahrnehmungsinteresse. Nicht darin liegt jedoch die selektive Funktion der Wahrnehmung, etwas zu leisten und organisieren durch das Assoziieren der Gedanken. Vielmehr bezieht sich die Selektion auf systematische Möglichkeiten, die gar nicht in der individuellen Wahrnehmung, sondern einer allgemeinen Vorstellung, dem »Volksgeist«, beschlossen liegen. Selektion erscheint demnach notwendig, weil das Individuum nicht in der Lage ist, die ganze Fülle geistig bereitliegender Gestaltungsmöglichkeiten vollständig zu überschauen und zu beherrschen.184 Schon hier verrät sich die erkenntnistheoretische Prämisse, 184 »Demnach ist natürlich sowohl die grammatische als auch die stilistische Interpretation von der individuellen häufig beeinflußt; diese dürfen das Wort nicht immer so fassen, wie es im allgemeinen Volksbewußtsein liegt, sondern zuweilen so, wie der Schriftsteller es individuell gestempelt hat, und müssen beachten, wie die allgemein herrschende Kompositionsform individuell umgestaltet ist. […] Ich sage: auch individuell sachlich: denn wie der Sprachschatz nicht allen Individuen in gleichem Maße zu Gebote steht, so verfügt ja der

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6) Steinthal und Ingarden

die thematische Zentrierung und ihre selektive Leistung einerseits als eine subjektive Vereinzelung und Beschränkung des Wahrnehmungshorizontes zu deuten und andererseits als objektive Form der Konstitutionsbestimmung, indem die künstlerische Gestaltung und Umgestaltung als die besondere Verwirklichung eines Ideal-Möglichen und Allgemeinen der Vorstellung, einer systematischen Totalität, verstanden wird. Dieser Rahmen einer hermeneutischen Konstitutionsbestimmung erweist sich als maßgeblich auch für die nähere Bestimmung der stilistischen Interpretation. Der Stil lässt sich nicht auf die bloß grammatische Organisation der Satzbildung reduzieren und Interpretation demnach auch nicht auf bloße Sprachanalyse, eine Strukturanalyse von Sätzen, welche nur die prädikativen Syntax und ihre Erweiterungen im Blick hätte. Sätze und Satzzusammenhänge werden nämlich nicht ausschließlich »grammatisch«organisiert durch allgemeine Regeln der Ergänzung von (Satz-)teilen zu einem Ganzen, sondern immer auch »stilistisch« durch individuelle thematische Gewichtungen. Die Zentrierung und Gewichtung der Gedanken erschließt die Bedeutung, welche die Gedanken für das Ganze der individuel­ len Komposition haben, also das, was über die bloße Allgemeinheit grammatischer Regeln hinausgeht: »Die stilistische und die individuelle Deutung fordern, daß man aus dem Grundgedanken den logischen Akzent bestimme, den das Wort, der Satz und der Komplex von Sätzen trägt, d. h. den Grad der Wichtigkeit, der jedem für das Ganze zukommt: was Haupt-, was Nebensache ist; was Ausschmückung und Beispiel, was wirkliche und eigentliche Darstellung.« [Steinthal 1877, S. 180] Diese Gewichtung der syntaktischen Bedeutung nach der sti­ listischen von Haupt- und Nebensache185 steht in enger Verbindung mit der individuellen Gestaltung des Autors wie des Interpreten, was auf eine in der Komposition wirksame selektive Wahrnehmungsorientierung hindeutet und das durch sie entwickelte Orientierungsschema, die Bildung einer »Umwelt«, eines geordneten Wahrnehmungsfeldes von Zentrum und Peripherie. Dadurch entsteht aber das Problem, wie diese Stilbildung überhaupt als ein nicht bloß psychologischer, sondern Schriftsteller noch weniger über den ganzen Schatz von Anschauungen und Begriffen, von Kenntnissen und Urteilen des Volksgeistes.« [Steinthal 1877, S. 175 f] 185 Die stilistische Dimension ist eine ebenso »formale« wie die grammatische und keineswegs identisch mit der semantischen im engeren Sinne, die bei Steinthal die »sachliche Interpretation« verkörpert [vgl. Steinthal 1877, S. 173 f].

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»logischer« Akzent erscheinen kann: »Wir würden aber hierbei durch die rein sachgemäße, logische Interpretation zuweilen in Verlegenheit geraten. Wir sehen klar, wie ein großer Geist auf diesen Satz fällt und wie nebensächlich jener selbst ist; im Bewusstsein des Autors aber hat sich das Verhältnis durch irgendeinen mechanischen Einfluss verschoben. Das Nebensächliche hat eine Macht gewonnen, die ihm nicht zukommt, und dadurch ein wichtiger Satz seine Bedeutung verloren. So nimmt dann natürlich der Gedankengang eine Wendung, die nach einfacher Interpretation unverständlich wird und nur durch psychologische Deutung aufgeklärt wird.« [Ebd.] Die »psychologische Betrachtung« will »die Genesis des Werkes begreifen« [Steinthal 1877, S. 180 f] und sie führt zur Unterscheidung von Sinngebungen, welche entweder der inneren »Logik« der Komposition folgen und solchen, die von der »rein mechanisch-zufälligen Assoziation« herrühren.186 Wie ist nun aber die Distinktion von logischen und syntaktisch relevanten von solchen bloß assoziativ zufälligen Gewichtungen der Interpretation überhaupt theoretisch möglich? Wenn ein »wichtiger Satz« seine Bedeutung durch die Einmischung der Assoziation verlieren kann, dann impliziert das die Unterscheidung einer solchen Stilbildung, die syntaktisch relevant ist und eine, die sich schlechterdings außerhalb der syntaktischen Organisation bewegt. In dem Fall, wo die Funktion assoziativer Verdichtungen nicht nur darin besteht, syntaktisch-logische Zusammenhänge zu stören oder gar aufzulösen, sondern selber ein zusammenhängendes Ganzes zu schaffen nach einer allgemeinen Regel der Ordnung peripherer Gedanken um ein thematisches Zentrum herum, wird damit die Unterscheidung von objektivierender Grammatik und wirkungsrhetorischer Subjektivität, von Logik und Psychologie, unterlaufen. Der »Stil« gleicht dem, was Georg Simmel das individuelle Allgemeine des »Typischen« nannte, welches »das Persönliche versachlicht und das Sachliche verpersön186 »Im Bewußtsein jedes Autors kann die zweckmäßige Komposition leicht in Widerstreit geraten mit der rein mechanisch-zufälligen Assoziation, unter deren Mechanismus der Geist immer bleibt […]. Die Reflexion, welche Gedanken sucht, sich aber dabei in bestimmter Richtung bewegt, und dabei auch noch der Logik folgen will und dann auch noch innerhalb der Kompositionsformen gebannt ist, fügt sich der seelische Mechanismus, in welchem Zufall und Ge­ wohnheit eine solche Macht ausüben, nicht immer derartig, daß er ihr alles darböte, was sie braucht, und gerade nur das, ohne Beimischung: wodurch sie von ihrer gewollten Richtung ganz abgelenkt werden kann.« [Steinthal 1877, S. 180]

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licht«187. Das hieße aber, die wirkungstheoretische und psychologische Begründung zu verlassen und auch den Stil als eine objektivierende »grammatische« Formbildung aufzufassen, eine thematisch-objektivierende assoziative und nicht prädikative Syntax. Das hieße aber, die rhetorische Tradition zu verlassen und auch den Stil als eine »grammatische« Formbildung aufzufassen, eine assoziativ-­thematische und nicht prädikative Syntax. Dafür fehlt Steinthals genetischer Psychologie allerdings die methodische Grundlage. Das selektive Wahrnehmungsinteresse, das für die individuelle Gliederung der Gedanken nach Haupt- und Nebensachen in Frage kommt, leitet Steinthal ge­ netisch ab aus kontingenten mechanischen Ursachen der Assoziation, konkret aus der assoziativen Weckung von Aufmerksamkeit in Form einer durch den Reproduktionszusammenhang vermittelten dispositionellen Bereitschaft.188 Die Vorstellungsmechanik, welche für die Zentrierung des Wahrnehmungsfeldes durch das sich entwickelnde Wahrnehmungsinteresse verantwortlich ist, verbleibt jedoch ganz im Bereich des Unbewussten. Weil die Bildung von Wahrnehmungszentren eine als solche vorsprachliche Habitualisierung verkörpert, entsteht die empfindliche Erklärungslücke, wie es denn sein kann, dass die rhetorische dispositio überhaupt eine grammatisch-­logische Bedeutung bekommt, die sie von einem mechanischen Assoziationszusammenhang grundlegend unterscheidet und damit einen wirklich bedeutungsrelevanten Sinnzusammenhang in der Artikulation herzustellen vermag. Die Logik der Komposition erklärt zwar letztlich nicht die Grammatik allein, sondern nur ihre Einbindung in den rhetorischen Stil, der die sukzessive Ordnung in der Satzfolge festlegt189, doch wird die zur Stilbildung gehörende thematische Gewichtung den »Psychologismus« einer ungeordneten, assoziativen Verkettung der Gedanken nicht los, die im systematisch geschlossenen Zusammenhang der prädikativen Syntax ein nicht organisierender, sondern desorganisierender Faktor bleibt. Ein möglicher Weg, diese drohende Psychologisierung stilbildender Elemente zu vermeiden, bestände in dem Versuch, die rhetorische der grammatischen Betrachtung reduktionistisch anzugleichen. Dem, 187 Simmel 1996, S. 30. 188 Vgl. dazu Kap. III,2. 189 »Sie [die stilistische Interpretation, d. Verf.] erst macht aus Tendenz und Komposition jeden Gedanken und den Bau jedes Satzes, die Wortstellung und selbst die Anwendung gerade dieses einzelnen Wortes begreiflich.« [Steinthal 1877, S. 175]

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was im Wahrnehmungsfeld die bedeutungsrelevante »Nebensache« einer »Hauptsache« wäre, entspräche dann logisch-grammatisch gesehen das, was sich von einem Grundgedanken als dessen Folgebestimmung ableitet. Grundsätzlich ist es möglich, den Relativsatz etwa als einen prädizierenden Nachsatz zu einem Vordersatz zu bestimmen. Der Vordersatz bildet so den »Grundgedanken« für das ganze Satzgefüge in der Form eines Urteilssubstrates, welcher dann durch die jeweiligen Nachsätze immer weiter prädikativ bestimmt wird. Die Idee einer solchen Textsyntax190, wie sie Husserl in seiner Logik methodisch ausgearbeitet hat191, krankt allerdings von vornherein daran, dass sie eine im strengen Sinne monothematische Organisation voraussetzt. Nur der Vordersatz verkörpert überhaupt einen selbständigen Satz, wogegen die Nachsätze grammatisch samt und sonders unselbständig bleiben: Als bloße »Relativ«-Sätze enthalten sie kein eigenes Subjekt, beziehen sich vielmehr auf das Satzsubjekt des zugrunde liegenden Hauptsatzes. Die Stilbildung lässt sich aus einem solchen System der prädikativen Syntax deshalb auch nicht erklären. Der rhetorischen Betrachtung dagegen liegt das Modell der intentionalen Mehrheitserfassung zugrunde, das Bemühen, solche voneinander unabhängigen, selbständigen Gedanken so miteinander zu verknüpfen, dass sie die Setzung eines zentralen Hauptgedankens nicht gefährden können und damit die Auf‌lösung der Wahrnehmungsorientierung durch Zerstreuung verhindert wird. Die konzentrierende Zuordnung von durchaus selbständigen Nebengedanken zu einem Grundgedanken im Zentrum der Komposition ist im Prinzip nicht durch prädikative, sondern nur assoziative Verknüpfungen der Rede möglich. In konstitutionstheoretischer Perspektive werden thematische Gewichtungen von Satzbildungen, die auf wechselnde Wahrnehmungs­ orientierungen und das sich darin artikulierende selektive Interesse 190 Zum Verhältnis der Idee einer kausalgenetischen assoziativer Syntax zu Theo­r ien der Textsyntax vgl. die methodischen Anmerkungen im folgenden Kap. III,7. 191 Die Subjekt-Prädikat-Struktur betrifft nicht nur den »Satz für sich«, sondern auch den Zusammenhang von Sätzen, fassbar in der Struktur »Vordersatz, Nachsatz« [Husserl, Hua  VII, Beilage I., § 9, S. 308]. So ergibt sich die Idee einer Textsyntax als universeller prädikativer Syntax in einem alles umfassenden System von Sätzen: »Tiefer eindringend, zeigt sich hier, daß sich die syntaktischen Formen nach Stufen sondern, daß gewisse Formen, z. B. die des Subjektes und Prädikates auf allen Stufen der Zusammensetzung auftreten – ein ganzer Satz kann als Subjekt ebensogut fungieren wie ein einfaches ›Substantiv‹« [ebd., Beilage I, § 10, S. 309].

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zurückzuführen sind, nicht als intentional-objektivierende, einen Sinnzusammenhang ursprünglich herstellende Leistungen aufgefasst. Diese methodische Schranke durchbricht auch Roman Ingardens Theorie »rein intentionaler« Gegenstände192 nicht, wie das an ihrem methodisch leitenden Beispiel des literarischen Kunstwerks deutlich wird. Ingarden unterscheidet zwischen dem »Aufbau« des Werkes und seinen »Konkretisationen« durch den Prozess der Lektüre.193 Der sukzessive systematische Aufbau besteht im wesentlichen in der durch die Syntax festgelegten »Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile« [Ingarden 1968, § 15, S. 97]. Man kann die Satzfolge eines Romans nicht einfach beliebig vertauschen, ohne dass sie ihren Sinn verliert.194 Da wir jedoch die syntaktische Organisation einer unüberschaubar langen Erzählung wie der eines Romans niemals in einem spontanen Akt der Erkenntnis, einer den Verlauf antizipierenden Leervorstellung im Sinne Husserls, wirklich vollständig zu erfassen vermögen, vollzieht sich das »Kennenlernen« dieses komplexen Werkes Schritt für Schritt in wechselnden Wahrnehmungsorientierungen.195 Die Komplexität 192 Von seinsautonomen, individuellen unterscheiden sich die seinsheteronomen »rein intentionalen« Gegenständen, wie sie fiktionale Gebilde der Kunst verkörpern, durch ihre Unfertigkeit. Rein-intentionale Gegenstände sind nicht vollständig und durchgängig bestimmt, sondern weisen die für sie charakteristischen »Unbestimmtheitsstellen« auf, eine spezifische Armut des konstitutiven Aufbaus, die durch subjektive, eigenschöpferische »Konkretisationen« ausgefüllt werden muss. Vgl. Ingarden 1965 a, § 47 sowie Ingarden 1960, § 38. 193 Diese systematische Unterscheidung spiegelt sich auch in den getrennten Publikationen von Das literarische Kunstwerk (1. Auf‌l. Halle 1931, 2. verbesserte Auf‌l. Tübingen 1960), das sich vor allem mit der Problematik des Aufbaus beschäftigt, sowie Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (Tübingen 1968) wider, das sich der Problematik der »Konkretisationen« annimmt. 194 »Sobald aber die Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes einmal festgelegt ist, schreibt sie dem Leser die Ordnung vor, in welcher er die Teile nacheinander zu lesen hat.« [Ingarden 1968, § 15, S. 95]. Ingarden unterscheidet den Schichtenaufbau vom Aufbau im Sinne der sukzessiven Aufeinanderfolge, die im wesentlichen durch die syntaktische Organisation bestimmt wird: »Neben dem Schichtenaufbau zeichnet sich das literarische Werk durch seine geordnete Aufeinanderfolge der Teile aus, die Sätze, Satzzusammenhänge, Kapitel usw. bilden.« [Ebd., § 4, S. 11]. Ingarden demonstriert an einem Beispiel [vgl. § 15, S. 96 f], dass die Umordnung von Sätzen einer Satzfolge den Sinn entweder entscheidend verändert oder sogar »die Umordnung der Sätze zur Zerstörung des Werkes und insbesondere seiner Einheit des Sinnes und überhaupt des künstlerischen Ganzen führen« kann [ebd., S. 96]. 195 Es treten »Schwierigkeiten bei der Erfassung des Werkganzen auf. Manche von ihnen sind von der Art, daß eine endgültige Erfassung dieses Ganzen in einem Griff überhaupt nicht zu erlangen ist« [Ingarden 1968, § 13 a, S. 73]. Deshalb

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des syntaktischen Aufbaus überfordert den Leser196, sodass die sukzessive Aneignung des Werkes durch die Wahrnehmungsbewegung immer auch eine selektive Gewichtung des syntaktischen Systems vornimmt: »Dabei vollzieht sich ein stetiger Wandel hinsichtlich dessen, welche Komponentenakte (-erlebnisse) im gegebenen Moment zentral und welche nur »im Vorbeigehen«, im Mitvollzug zur Erfahrung gelangen.« [Ingarden 1960, § 62, S. 356] Die thematische Objektivierung und Sinngebung durch das selektive Wahrnehmungsinteresse führt zur einseitigen und unvollständigen Erfassung und damit zur »Deformation« des komplexen syntaktischen Aufbaus197, welcher sich in seiner idealiter vollständigen Gegebenheit der Wahrnehmungsbewegung von Konkretisationen faktisch entzieht. Der »Aufbau« wird in der vorstellenden Erkenntnis und ihrer Leistung der Antizipation des sukzessiven Verlaufs im strengen Sinne gleichzeitig gegeben198 und damit der sukzessiven Wahrnehkann das literarische Werk »nur in einer Mannigfaltigkeit aufeinanderfolgender und ineinander übergehender Ansichten zur Erscheinung gebracht und nicht in einem einzigen Akt auf einmal erfaßt werden« [ebd., § 18, S. 146 f]. Die polnische Sprache kennt zwei Ausdrücke für das Erkennen: Während pozna´c den vornehmlich die abgeschlossene Erkenntnistätigkeit bezeichnet, drückt poznawa´c mehr den offenen und unabgeschlossenen Prozess des Erkenntnisgewinnung aus. In der deutschen Ausgabe wird deshalb poznawa´c mit »Kennenlernen« wiedergegeben (vgl. ebd., S. 4, Anmerkung 4]. 196 Weil die »Kompliziertheit der Gesamterfassung des Werkes« es mit sich bringt, »daß das erlebende Ich sozusagen zuviel auf einmal zu leisten hat«, kann es nicht in allen Komponenten »im gleichen Sinne leben« [Ingarden 1960, § 62, S. 356]. 197 »Entweder werden manche Einzelheiten des Aufbaus des Werkes in der Kon­­­­ kre­ tisation weggelassen oder aber unvollständig konstituiert oder im Gegen­teil überkonstituiert, zu grell und auffallend entwickelt, oder gar ver­ fälscht, wodurch das im Werk selbst vorhandene und auch von seinen Kon­ kretisationen geforderte Gleichgewicht des Aufbaus […] gestört wird.« [Ingarden 1968, § 14, S. 91] Ingarden spricht von »Störungen«, »Ver­un­stal­ tungen« (ebd,) und »schädliche[n] Auswirkungen« [ebd., S. 92] auf die Kon­sti­ tu­tionszusammenhänge des Aufbaus. 198 Auch wenn sich die Lektüre eines Romans oder das Hören eines Musikstücks als ein zeitlicher Vorgang vollzieht, so verkörpert das Werk als rein-intentionaler Gegenstand im Unterschied zu realen Zeitverläufen etwas, das in seiner im Voraus fertigen Form der Sukzession als in seinem Verlauf gleichzeitig gegeben erfasst wird. Ein solches Werk darf deshalb für »einen zeitlichen Gegen­ stand im strengen Sinne […] nicht gehalten werden, weil das fertige Werk alle seine Teile […] gleichzeitig in jedem Moment seiner Existenz besitzt, was bei einem im Zeitverlaufe sich entwickelnden realen Vorgang ganz ausgeschlossen ist« [Ingarden 1962, § 4, S. 43].

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6) Bewegungsdynamische, assoziative Syntax

mungsbewegung mit ihren wechselnden thematischen Gewichtungen vorgängig identifiziert: Die Wahrnehmungsbewegung erweist sich so zwar einerseits als nicht bloß sinnkonstituierend, vielmehr originär sinnbildend dadurch, dass sie die syntaktische Organisation durch thematische Gewichtungen bereichert. Der wirkliche Vollzug einer Bewegung, der Orientierungswechsel der Wahrnehmung und nicht eine auf die vollständige Erfassung des syntaktischen Aufbaus gerichtete Vorstellung, entscheidet letztlich darüber, was als nur durchgängig, mitgängig oder zentral in seiner Bedeutung erfasst wird. Doch bleibt diese auf die prädikative Syntax und ihre Form der Konstitutionsbestimmung nicht reduzierbare Wahrnehmungsintentionalität letztlich doch wiederum angewiesen auf eine sie fundierende Vorstellungsintentionalität. Auch Ingarden sieht nicht anders als Husserl die zur Wahrnehmungsbewegung gehörenden thematischen Objektivierungen als bildliche Veranschaulichungen einer Leervorstellung an, insofern die »Konkretisationen« als Formen der Komplexitätsreduktion des »rein intentionalen« Gegenstandes gedeutet werden, eine perspektivische Verkürzung199 des im Grunde unfasslichen, komplizierten Aufbaus des Werkes erscheinen als dem in seiner faktischen Unerkennbarkeit doch umfassend vorgegebenen, geordneten Ganzen: Die thematische Gewichtung durch die Wahrnehmungsbewegung vereinzelt und fragmentiert200 den idealiter vorgegebenen Ordnungszusammenhang der Konstitution durch die Auf‌lösung des gleichzeitig Gegebenen in ein sukzessives Nacheinander und vollbringt damit gerade nicht die Syn­ thesis des Nachvollzugs durch den »Aufbau« eines zusammenhängenden syntaktischen Systems. Auch bei Ingarden fehlt letztlich die Möglichkeit, so etwas wie eine assoziative Syntax thematischer Gewichtungen und Verdichtungen in der Artikulation aufzuweisen, die auf eine prädikative Syntax und ihre systematischen Erweiterungen nicht reduzierbar ist. Weil die 199 Wegen seiner unüberschaubaren Kompliziertheit wird »das literarische Werk nie voll in allen seinen Schichten und Komponenten, sondern immer nur teilweise, immer nur sozusagen in einer perspektivischen Verkürzung erfaßt« [Ingarden 1968, § 14, S. 94]. 200 Für diese Fragmentierung spielt die notwendig systematisch unvollständige Habitualisierung eine entscheidende Rolle. Nicht die ganze Syntax wird im Gedächtnis aufbewahrt, sondern »immer diese oder jene Fragmente des Werkes in abgekürzter, kondensierter Gestalt« [Ingarden 1968, § 16, S. 101]. Das begünstigt die selektive Wahrnehmung und ihre Leistung der Sinngebung durch Gewichtung, indem »nicht jede Schicht der bereits gelesenen Teile auf dieselbe Weise im Gedächtnis behalten wird« [ebd.].

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Intentionalität als eine Vorstellungsintentionalität verstanden wird, erfährt die zu den beweglichen Konkretisationen gehörende Wahrnehmungsintentionalität das Schicksal der Subjektivierung: Was sich hier artikuliert, ist überhaupt kein sprachlicher Sinnzusammenhang, sondern eine perspektivische Gewichtung in der subjektiven Wahrnehmung von solchen durch die Vorstellungsintentionalität objektiv vorgegebenen, sprachlichen Zusammenhängen. Sicher kann man Ingarden nicht einfach unterstellen, den »Aufbau« eines literarischen Kunstwerks oder Musikwerks auf das Allgemein-Grammatikalische einer gewissermaßen reinen Textsyntax zu reduzieren, ohne die individualisierende stilistische Dimension mit zu meinen. Indem jedoch in konstitutionstheoretischer Perspektive die theoretische Erörterung von stilbildenden Elementen unterbleibt, die sich auf die Satzsyntax nicht reduzieren lassen, wird die intentionale, thematische Objektivierung und ihre Funktion assoziativer Zentrierung nur in ihrer Funktion der »Konkretisation«, d. h. der veranschaulichenden Vorstellung einer durch den »Aufbau« des Werks umfassend vorgegebenen Textsyntax begriffen, die sie nur in Ausschnitten erfasst. Damit kommt letztlich die assoziative Syntax und ihre organisierende Leistung der diakritischen Entwicklung gar nicht in den Blick. In der stilbildenden Artikulation und der sich in ihr entwickelnden assoziativen Syntax ist die diakritische Funktion eine doppelte: Indem das sich artikulierende Wahrnehmungsinteresse thematische Zentren schafft, löst sich die mit Sinn besetzte Assoziation von der bloßen Weckung von Aufmerksamkeit, einer assoziativen Auslösung, ab. Mit dieser Ablösung des thematischen Sinnes aus der kausalen Assoziation ist zugleich die Herauslösung eines thematischen Feldes verbunden mit der Ablösung eines nicht bedeutungsrelevanten »Randes«, indem sich ein ganzes Feld geordneter Sinnverknüpfung durch Bedeutungsrelevanz diakritisch entwickelt. Ingardens Analyse der sinnschöpferischen Leistung von »Konkretisationen«, die sich auf die »Unbestimmtheitsstellen« des »Aufbaus« bezieht, hätte dies entdecken können ohne ihren den Blick verengenden konstitutionstheoretischen Rahmen: Die Möglich­ keiten der »Konkretisation« sind den »Unbestimmtheitsstellen« entsprechend zunächst unbestimmt viele, ein Spielraum, der aber nach Ingarden durch den Aufbau und seine intentionalen »Parathaltungen« eingeschränkt wird, wodurch die Konkretisationen den Charakter assoziativer Beliebigkeit verlieren.201 Ungeklärt bleibt dabei, wie eine 201 Die individuellen Ansichten von dem jeweiligen Werk bilden – so Ingarden  –

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7) Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation

solche Einschränkung assoziativer Konkretisationen überhaupt möglich ist, denn konstitutionstheoretisch gedacht ist die Satzsyntax als prädikative Syntax zwar intentional bestimmt und nicht unbestimmt, aber auch gar nicht assoziativ. Es ist somit die Stilbildung schon im syntaktischen Aufbau, d. h. die konstitutionstheoretisch nicht fassbare assoziative Syntax und ihre diakritische Funktion, das Relevante vom Irrelevanten durch seine Artikulation zu trennen, welcher »Konkretisationen« überhaupt ihre Bestimmtheit verleiht aus dem großen Horizont unartikulierter Vorstellungs-Unbestimmtheit heraus, in der Einschränkung des Assoziativ-Möglichen auf das Wirkliche thematischer Objektivierung.

7)

Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation der hermeneutischen Logik

Als Reflexionsbegriff ist die diakritische Entwicklung weder einfach nur ein Kausalbegriff noch bloß ein reiner Sinnbegriff, vielmehr be­steht eine solche Begriffsbildung darin, eine auf wirksame Kausalbeziehungen bezogene Sinnbildung aufzuweisen, welche solchen Kausalitäten die Bedeutung der – bewegungsdynamischen – Organisation verleiht. Systematisch geht es deshalb bei dem Aufweis einer nicht nur prädikativen, sondern assoziativen Syntax auch nicht lediglich um einen weiteren Versuch, den engen Begriff der Satzsyntax zu dem einer umfassenden Textsyntax auszuweiten. Die Syntax an sich scheint das Paradebeispiel eines akausalen, reinen Sinnbegriffs zu verkörpern. Husserl unterschied die intentionalen Sinngebungen von den assoziativen Einheiten, indem sie »eine Einheit nicht nur des Zusammengebrachten, sondern Zusammengehörigen« bilden [Husserl 1972, § 43 c, S. 221].Assoziationen sind Verbindungen, die Wir­ kungszusammenhänge ausmachen, während intentionale Akte eine Darstellungs- und Ordnungsfunktion der Sinnkonstitution aufweisen. Ob es sich nun um eine Satz- oder Textsyntax handelt, in beiden Fällen reduziert sich die Ordnung auf die funktionale Ergänzung von Teilen zu einem Ganzen und die damit verbundene Leistung der Bedeutungsdifferenzierung. Wenn etwa die Prager Schule mit ihrer Theorie der funktionellen Satzperspektive die syntaktische Synthesis »Schemata«, welche »durch das Werk paratgehalten werden« [Ingarden 1965 b, § 63, S. 355].

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als die Synthesis von Bekanntem und Neuem (Thema und Rhema) in permutativen Umstellungen versteht202, dann handelt es sich hier um reine Sinnbezüge, um syntaktische Ordnungen, die allein in ihrer Form des »Zusammengehörigen« funktionaler Ergänzung betrachtet werden. Zu bewegungsdynamischen Assoziationen dagegen gehört die kausale Wirksamkeit des Zusammen- und Auseinanderbringens, der Verdichtung und Auf‌l‌‌‌ösung von elementaren Sinnzusammenhängen. Dass es konstitutionstheoretisch möglich ist, die Syntax als eine reine Sinngebung zu betrachten, wird letztlich sprachanalytisch nur von der intentionalen Funktion eines »bedeutungsverleihenden Aktes« her verständlich, einer Vorstellungsintentionalität, welche es erlaubt, Gegenstände und Sachverhalte als reine Sinneinheiten zu »vermeinen« losgelöst von allen assoziativen Kausalitäten und Zusammenhängen, in denen sie im Bewusstsein zusammengebracht werden. Die kausale Fundierung der assoziativen Syntax wird deshalb auch nur kenntlich in der kausalen Vermittlung der ihr zugrunde liegenden intentionalen Thematisierung. Beharrt die statisch-phäno­ meno­logische Betrachtung auf der strikten Trennung des Assoziativ-­ Kausalen vom Intentionalen des Aktes der Sinngebung, so entdeckt die genetische Phänomenologie die Kausalität der intentionalen Beziehung selber, insofern es sich um Erlebnisse der assoziativen Weckung von Aufmerksamkeit und Interesse handelt. Husserls genetische Analysen, sofern man sie über ihre konstitutionstheoretischen Schranken hinaus sprachanalytisch vertieft, öffnen den Weg, zur Abhebung zweier Arten von intentionaler Bezugnahme zu gelangen in der methodischen Erfassung einer von der Vorstellungsintentionalität zu unterscheidenden Wahrnehmungsintentionalität. Das Wahrnehmungsinteresse äußert sich anders als das Erkenntnisinteresse an der Konstitutions­ bestimmung in einer intentionalen Sinngebung, welche nicht bloß etwas von der assoziativen Kausalität Unterscheidbares darstellt, sich vielmehr thematisch-objektivierend auf die Assoziation in ihrer kausalen Wirksamkeit unmittelbar bezieht. Mit Blick auf die diakritisch entwickelnde assoziative Syntax zeigt sich schließlich: Die assoziative Sinnvermittlung beschränkt sich nicht nur auf die Auslösungsdynamik des Weckungserlebnisses, sondern bekommt mit der sinnstiftenden Syntax die Bedeutung einer Sinnzusammenhänge kausal restituierenden, bewegungsdynamischen Organisation. Wenn Steinthals Hermeneutik die Stilbildung hervorhebt als 202 Vgl. Dürscheid 2010; Vachek 1966.

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7) Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation

eine Sinnstiftung, welche durch ihren subjektiven Sinn über die vorstellende Objektivität von Satzbildungen hinausgeht, dann kommt sie letztlich genau deshalb methodisch nicht weiter als ein Psychologismus, weil sie keine andere Form der intentionalen Sinngebung kennt als die vorstellungsintentionale Objektivierung. Die hermeneutische Logik geht hier den entscheidenden Schritt weiter, indem sie genau diese Gebundenheit an eine vorstellungsintentionale Objektivierung als die Grenze prädikativer Satzlogik überhaupt erkennt. Ihre Ent­ deckung der logischen Relevanz der Situativität und des darauf bezogenen Wahrnehmungsinteresses bleibt jedoch methodisch zwiespältig, insofern sie diese hermeneutisch-logisch als eine Form der Äußerung lediglich von Subjektivität, nicht aber auch von wahrnehmungsintentionaler Objektivierung versteht. Damit bleibt auch hier die kausalgenetische Dimension einer diakritisch entwickelnden assoziativen Syntax unentdeckt, die deshalb nur im Rahmen einer genetisch-phänomenologisch auf den Aufweis bewegungsdynamischer Wahrnehmungsintentionalitäten abzielenden Reinterpretation hermeneutisch-logischer Deskriptionen methodisch zu gewinnen ist. Die hermeneutische Logik bereichert die intentionale, sachorientierte Sprachanalyse mit ihrer Einsicht, dass sich ein sprachlogischer Zusammenhang nicht nur daraus ergibt, worüber wir sprechen, sondern auch damit, wie wir die Sachen überhaupt ansprechen. Ausgangspunkt hermeneutisch-logischer Überlegungen ist der Gedanke, dass zum Ausdruckserlebnis nicht nur das intentionale Reden über etwas gehört, sondern auch die Situation, in der eine solche Äußerung kundgeben wird. Die formale Logik als eine reine Urteilslogik verkennt Lipps zufolge diese Situativität, in welcher neben der intentionalen Objektbeziehung, der Konstitution von Gegenständen und Sachverhalten, immer auch die Kundgabe des Subjektes als ein Sprecher gehört, der sich in der Sprechsituation situiert. Wird diese Situativität missachtet, dann entsteht eine Subjekt-Objekt-Spaltung, in der die Einheit von Sinngebung und situierender Artikulation auseinanderfällt. Die Logik orientiert sich dann nur noch daran, worüber man spricht. So werden die Urteilsformen als bereits vorkonstruierte Schemata aufgefasst, die durch das konkret gesprochene Wort nicht gestiftet, sondern nur aus­ gesprochen werden, sodass die Artikulation den Charakter der bloßen Illustrationen und beispielhaften Verdeutlichung eines allgemeinen Sachverhalts in einer besonderen Situation annimmt.203 Hermeneu203 »Die formale Logik kommt zu ihren ›Beispielen‹, sofern sie an Bekanntes an-

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tisch dagegen gehört die Okkasionalität der artikulierten Rede notwendig mit zur logischen Sinngebung. Sie setzt deshalb methodisch an bei »der Situation, so wie sie zu Wort kommt […]. Das wirklich gesprochene Wort gilt es, in dem Selbstverständnis seines Vollzugs sich ausdrücklich anzueignen.« [Lipps, S. 297] Die »Situationsbezüglichkeit des gesprochenen Wortes« [Lipps, S. 297] wie z. B. in der Feststellung Es regnet bezeichnet nicht bloß einen Sachverhalt, sondern nimmt zugleich Bezug auf den Sprecher, der damit zum Ausdruck bringt, dass er von seinen Besorgungen abgehalten wird.204 Die Artikulation stellt demnach nicht nur etwas fest, als sich in einer solchen Äußerung immer auch ein von besonderen weltlichen Umständen bestimmtes Interesse ausdrückt, wie etwa bei der Bemerkung über den Regen die »Hinderlichkeit bei dem, was man vorhat, interessiert« [ebd.]. Diese hermeneutisch-logische Auszeichnung der Situativität hält sich zwar einerseits an die hermeneutische Analyse des Zeugzusammenhangs in Sein und Zeit – Heideggers Betonung der Kontextualität eines Bewandtnis- und Verweisungszusammenhangs, der zum Dasein gehört, das sich im besorgenden Umgang mit den Dingen in der Welt orientiert. Lipps betont jedoch anders als Heidegger nicht so sehr die Einbindung alles Einzelnen in einen hermeneutischen Kontext von Sinnverweisungen, sondern die Subjektivität des situativen Ausdruckserlebnisses. Man situiert sich selbst in einer Sprechsituation, indem man sein Interesse an den angesprochenen Dingen kundgibt. So ist die Situation nicht nur eine solche, auf die ich intentional-objektivierend als eine Weltlage nur Bezug nehme, ich schaffe die Sprechsituation erst dadurch, indem ich das, was ich überhaupt für Wert halte, ausspreche und nicht einfach nur schweige. Genau darin wird die Kundgabe über ein bloßes Kommunikationsmittel zur Übermittlung von Vorstellungen und Erkenntnissen hinaus zu einer Kundgabe von Interesse: »Die mir gegebene Situation wird von mir aufgenommen. Schon darin, daß ich daran ändere, anderes lasse, verhalte ich mich zu ihr als Subjekt dieser Situation. Noch mehr – und knüpft und prädizieren läßt, was man davon weiß: Die Rose ist rot. Tatsächlich stockt hier das ernste Verständnis. In der Banalität dieser Schulbeispiele zeigt sich das widerwillig-Ausgedachte nachträglicher Ausfüllung konstruierter Schemata. Denn wirklich gesprochene Worte könnten hier nur die Bedeutung von Fällen zur Illustration der Einkleidung und Verkleidung haben, die diese Schemata gelegentlich erfahren können.« [Lipps, S. 296] 204 »Es regnet nimmt aber nicht hierauf, sondern auf das, was man vorhat, auf meine Besorgungen Bezug.« [Lipps, S. 297]

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7) Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation

das ist entscheidend: nur als je meine oder je eines ist die Situation diese Situation.« [Ebd., S. 299] Zur Kundgabe von Interesse gehört freilich immer auch die Funktion der Mitteilung: Ich äußere mein Interesse an der Sache einem Gesprächspartner, einem Anderen gegenüber in dem Bemühen um Verständigung. Bei der situationsgebundenen Verständigung geht es jedoch niemals ausschließlich um eine Verständigung nur über eine »Sache«, sondern vor allem darum, sich verständlich zu machen, sein Interesse an der Sache kundzutun. Dies geschieht nach Lipps in Form der Ich-Aussage. Seiner existenzialistischen Prämisse folgend, wonach die selbstbezügliche Situierung keinen intentional-objektivierenden Bezugssinn, sondern nur einen reinen Vollzugssinn verkörpert205, versteht er die Ich-Rede als eine im radikalen Sinne nicht gegenstandsbezügliche und damit überhaupt vorintentionale Artikulation: »Das Besondere der bin- und bist-Sätze bringt zum Vorschein, wie die »Sachlichkeit« der Rede nicht einfach in einer »intentionalen« Beziehung zum Sachverhalte besteht, sondern ein bestimmtes Verhältnis bedeutet und in der Transzendenz der Rede mit einzustellen ist: Ich sagend nenne oder melde ich mich.« [Lipps, S. 303] Da die Bekundung von ichlichem Interesse als solche vorintentional ist, kann ihre Sinngebung auch nicht aus der intentionalen Funktion der Rede, der Aussage und ihrer grammatisch-logischen Struktur, abgeleitet werden. Sachverhalte werden in der Aussage als wahr oder falsch, als wahrscheinlich oder zweifelhaft, als letztlich unentscheidbar oder unreduzierbar vieldeutig beurteilt, doch all diese Aussagemodi sagen grundsätzlich nichts darüber aus, ob die Sache für den Aussagenden überhaupt von Interesse ist. Nicht die Aussage in ihrer intentionalen Objektbezüglichkeit, sondern die subjektorientierte Logik der Gesprächsführung gibt nach Lipps deshalb das im Prinzip vorintentionale Interesse an der Aussage kund. Das Wort dient hier nicht bloß der Übermittlung von Informationen oder Stellungnehmen, sondern kann etwa einen Einspruch des Anderen aufnehmen oder auch unterbinden.206 Im Gang der Ge205 Die Unterscheidung von Vollzugs- und Bezugssinn hat Heidegger kritisch in die phänomenologische Intentionalitätskonzeption eingebracht. Vgl. dazu Kap. I,3. 206 »Die Verhältnismäßigkeit der Rede zeigt sich zunächst in deren Ziel und den Praktiken, mit denen dieses Ziel als Information, Instruktion usw. erreicht wird. […] Dem anderen wird – ihn dirigierend – z. B. eine Kenntnis vermittelt. […] Diese Verhältnismäßigkeit ist aber noch nicht die spezifische Ver­hält­nis­

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sprächsführung zeigt sich die Aufgeschlossenheit oder Unaufgeschlossenheit den Einwürfen des Anderen gegenüber, die vorliegende oder fehlende Bereitschaft, sich auf das Besprechen einer Sache überhaupt einzulassen, welche einer isolierten Aussage der Form »Ich behaupte, dass …« nicht unmittelbar zu entnehmen ist. »Erst im Gespräch z. B. entspricht – nämlich im eigentlichen Sinn des Wortes – der eine dem anderen, sofern es der Gang solchen Gespräches will, daß das Wort des einen vom anderen aufgenommen, weitergeführt, zurückgegeben wird.« [Lipps, S. 305] Die zur Verständigungssituation gehörende Aufgeschlossenheit oder Unaufgeschlossenheit lässt sich jedoch sowohl im Sinne eines sich bekundenden Wahrnehmungs- als auch Erkenntnisinteresses verstehen. Geht es um die Aufgeschlossenheit für die Sache, die man im Gespräch bespricht oder um eine Offenheit der Rede und Gegenrede dafür, sich bestimmten Sachen überhaupt zuzuwenden? Lipps unterscheidet hier nicht klar zwischen dem Erkenntnisinteresse, welches energisch danach strebt, zu wahren und möglichst systematisch vollständigen Aussagen über Gegenstände und Sachverhalte zu gelangen und dem ganz anderen sprachlichen Aufschluss darüber, ob mir solche Erkenntnisse überhaupt etwas bedeuten, d. h. ob sie für meine Wahr­ nehmung der Umwelt wichtig oder unwichtig sind, zu der vielerlei Vorurteile, Meinungen und begründete Erkenntnisse gehören von mir selbst, von anderen Menschen und auch solche, die in literarischen Dokumenten überliefert werden. Lipps’ Analyse der Gesprächssituation blendet die intentionale Dimension der Bekundung von Interesse überhaupt aus und schenkt damit auch der Wahrnehmungsintentionalität in der Gesprächsführung keine Beachtung, weswegen seine Beschreibung auseinanderfällt in eine intentionale und vorintentionale, einerseits dialektische und andererseits rhetorische Betrachtung. Dem Wahrnehmungsinteresse eine eigenständige organisierende Funktion in der Gesprächsführung zuzugestehen, liegt den methodischen Absichten der hermeneutischen Logik gänzlich fern. Die Orien­ tierung an der Aussagelogik gibt sie gewissermaßen nur halbherzig auf, indem das vorintentionale Interesse in Gestalt eines nach einsichtiger Verständigung suchenden Erkenntnisinteresses auf die Intentiomäßigkeit der Rede. […] Das Wort ist hier Mittel der Darlegung von etwas. Schon hier aber, wo sich der eine vom anderen etwas sagen läßt und insofern seine Widerrede unterbunden bleibt: schon dies, daß er auf das Wort des anderen zurückkommen, es kritisch in Gegenfragen aufnehmen kann, bestimmt auch die Diktion der ersten.« [Lipps, S. 305]

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7) Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation

nalität der Aussage, die sich auf Gegenstände und Sachverhalte bezieht, notwendig angewiesen bleibt. So wird dann die wahrnehmungsorien­ tierte Situierung der Rede ihrer fehlenden intentionalen Erkenntnis­ orientierung wegen als ein bloß privativer Modus mangelnder Verständigungsbereitschaft qualifiziert: »Im Gespräch erschließt man einander. Man zeigt sich darin als offen, verschlossen, verstockt usw. Wie der andere meine Ansprache aufnimmt, auf welcher Ebene er mir erwidert, welchen Ton er dabei anschlägt usw., gerade dies charakterisiert den Menschen, noch ehe er sich mir in dem zeigt, was er i. e. S. ist. Denn menschliche Existenz erschließt oder verschließt sich von sich aus« [Lipps, S. 305]. Im Lichte der hermeneutisch-logischen Unterscheidung Offenheit/Verschlossenheit erscheint die Situierung des Subjekts durch seine Wahrnehmungsorientierung somit als die Verweigerungshaltung einer wirklich umfassenden Verständigung durch die Erkenntnis­ orientierung gegenüber – man nimmt im Dialog die vereinzelte Position des »Ich« oder »Du« ein, aber nicht die dialektisch vermittelnde einer neutralen dritten Person. In der Verständigungssituation geht es weniger um »einen Austausch von Gedanken und Meinungen«, vielmehr »die Konkretisierung einer Sicht, die eigentlich keinem von beiden gehört« [Lipps, S. 307]. Im Bemühen um Gemeinsamkeit und Verständigung situiert man sich nicht durch den eigenen, individuellen Wahrnehmungsstandpunkt, vielmehr »entlastet« ein solches Gespräch von der beschränkten individuellen Sicht und dem Interesse ihrer Behauptung, indem die Gesprächspartner füreinander die Position eines »Zwischenmenschen« einnehmen.207 Diese mögliche Situierung durch eine neutrale dritte Person zeigt sich etwa in der um Rechenschaft bemühten Rede, wo nicht einfach nur Meinungen, persönliche Überzeugungen, Urteile und Vorurteile kundgegeben, sondern diese durch

207 Lipps zitiert Alexander von Villers und seinen Mythos vom »Zwischenmenschen«: »… ich habe einen Aberglauben an den Zwischenmenschen. Ich bin es nicht, auch Du nicht, aber zwischen uns steht einer, der mir Du heißt, dem anderen Ich bin. So hat jeder mit jedem einen anderen Zwischenmenschen mit einem gegenseitigen Doppelnamen, und von all den hundert Zwischenmenschen, an denen jeder von uns mit fünfzig Prozent beteiligt ist, gleicht keiner dem anderen. Der aber denkt, fühlt und spricht, das ist der Zwischenmensch, und ihm gehören die Gedanken« [Lipps, S. 307]. Das Einnehmen der Position des Zwischenmenschen bedeutet eine Entlastung vom eigenen Ich. Die Ver­ant­ wortlichkeit im »Fort­gang des Gesprächs« beruht im Wesentlichen auf der »Ent­lastung, die hier jeder dem anderen schuldig ist« [ebd.].

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ein λόγον διδόναι (logon didonai), das Beibringen von Sachgründen, gerechtfertigt werden.208 Vor diesem Hintergrund muss dann eine durch das individuelle Wahrnehmungsinteresse geleitete selektive Gesprächsführung, sich für bestimmte Dinge aufgeschlossen, für andere aber unaufgeschlossen zu zeigen, als die Äußerung von Selbstbefangenheit erscheinen, welche die Möglichkeit der Konsensfindung in der dialektischen Vermittlung des Individuellen durch das gemeinschaftliche Allgemeine einschränkt in dem Sinne, dass bestimmte Sachen und Sachverhalte nicht mehr artikuliert werden und damit eine systematisch-vollständige Erkenntnis, die sich nicht nur auf einige, sondern alle möglichen Gegenstände bezieht, verhindert wird. Lipps dialektisches Modell der Verständigung orientiert sich an Schleiermachers und Humboldts Hermeneutik des geselligen Gesprächs209, welche die Leistung der Erweiterung des Verstehenshorizontes hervorhebt, die eigene beschränkte Wahrnehmungsperspektive durch die Wahrnehmungsperspektive des Anderen bereitwillig relativieren zu lassen und so einen Standpunkt außerhalb seiner selbst einzunehmen. Auch hier liegt der Akzent letztlich auf der Überwindung eines Ichbewusstseins, das sich solipsistisch durch seine Wahrnehmungsorientierung situiert mit Hilfe einer überlegenen, die Grenzen der Wahrnehmung immer wieder überschreitenden Erkenntnishorizontes.210 Jede »Existenz hat die Freiheit zu sich, sich selbst der andere sein zu können« [Lipps, S. 209], d. h. den eigenen 208 Für die Rede ist wesentlich, »die Meinung des anderen, die Stellung zu etwas zu ergründen, bzw. ihn beredend oder überredend durch Geltendmachen von Gründen zu beeinflussen dadurch, daß man an seine Vernunft usw. appelliert« [Lipps, S. 306]. 209 »Der einsinnigen Folgerichtigkeit dieses irgendwo nur eben einsetzenden geschlossenen Denkens steht aber die Aufgeschlossenheit des διαλέγεσθαι gegenüber.« [Lipps, S. 309] 210 »Allein, ungestört, steht mein Erkennen immer in der Gefahr, sich in sich selbst zu verfangen.« [Lipps, S. 309] »Denn vorzüglich der andere kann es verbürgen, etwas richtig, und das meint hier: nicht einseitig, schief, verzerrt erkannt zu haben. Nur gemeinsames Besprechen einer Sache schafft die Umsicht, die hera­us­treten läßt, was von verschiedenen Seiten dafür und dagegen spricht.« [Ebd., S. 308] Lipps zitiert aus Humboldts Über die Verschiedenheit des mensch­­lichen Sprachbaues: »der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an anderen versuchend geprüft hat .... Klar und unmittelbar nur seine veränderliche Beschränktheit fühlend, muß der Mensch die Wahrheit als etwas außer ihm Liegendes ansehn; und eines ihrer mächtigsten Mittel, ihr nahezukommen, seinen Abstand von ihr zu messen, ist die gesellige Mitteilung mit anderen [Herv. d. Verf.]« [ebd., S. 308 f].

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bornierten Wahrnehmungstandpunkt zu überwinden. Die Gesprächssituation rechnet zwar mit der »natürlichen Voreingenommenheit« aller Beteiligten, aber nur, weil sie zugleich eine Aufgeschlossenheit für die Erkenntnisgewinnung einräumt, den beschränkenden Wahrnehmungshorizont immer wieder kritisch aufhebend zu entgrenzen, indem sie dem Anderen jeweils zugesteht, den eigenen Standpunkt zu beurteilen dadurch, dass der Gesichtspunkt des Anderen in die Selbstbeurteilung aufgenommen wird.211 Neben dieser dialektischen Interpretation der Gesprächsführung findet sich bei Lipps jedoch noch eine andere, nämlich rhetorische. Sie kommt zum Vorschein in der Unterscheidung von Rede und Gespräch. Die Rede verfolgt das primäre Ziel, sich mit dem Anderen über eine Sache zu verständigen. Dagegen will man im Gespräch erfahren, wer der andere eigentlich ist: »Während aber das Reden immer sachlich genommen sein will, diese Neutralität gerade die Deckung gibt, […] – bekommt man, wenn man jemanden spricht, einen Eindruck voneinander. Man erfährt die Macht, den Zauber, ebenso aber auch das Inferiore eines Menschen dabei.« [Lipps, S. 306] Rede und Gespräch unterscheiden sich demnach nicht nur durch ihre objekt- oder subjektorientierte Ausrichtung, sondern auch die zur jeweiligen Zielrichtung gehörende Wahl der sprachlichen Mittel, entweder intentional auf die Sache zu zielen oder den Anderen zu beeindrucken durch das Erzielen einer Wirkung. In der philosophischen Tradition haftet an der Rhetorik der zweifelhafte und schlechte Ruf, nur überreden zu wollen statt dialektisch zu überzeugen durch die bloße Wirkungsgewalt der Worte, wie dies etwa Nietzsches Aphorismus Vom Barockstile exemplarisch zum Ausdruck bringt.212 Das Charismatische, die Ausstrahlung einer Person zu erfahren gehört zwar mit zur Gesprächssituation, es droht 211 »Indessen – jede Sicht ist in Einstellungen gebunden. Und weil ich mit meiner natürlichen Voreingenommenheit rechnen muß, wird hier der Andere als Bürge und Richter in Anspruch genommen. Kritisch ist dieses διαλέγεσθαι, sofern es den andern als Träger möglichen Widerspruchs vorausnimmt und ihm Rechnung trägt.« [Lipps, S. 309] 212 »Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren und erzogen weiss, wird unwillkürlich nach dem Rhetorischen und Dramatischen greifen: denn zuletzt kommt es ihm darauf an, sich verständlich zu machen und dadurch Gewalt zu gewinnen […]. Dies gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit einem überreichen, drängenden Formtriebe, jene Gattung des Stiles zu Tage fördert, welche man Barockstil nennt.« [Nietzsche 1980, MA II, Nr. 144, S. 437]

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aber so die Wahrnehmungsorientierung der Rede zu einem bloß irrationalen Faktor zu werden, einer bloßen Wirkung ohne jeden Sachbezug. Durch die Dichotomie von Dialektik und Rhetorik fällt demnach genau diejenige methodische Möglichkeit gewissermaßen mitten durch, die selbstbezügliche Artikulation nicht nur als einen Mangel an sachbezogener Vorstellung und Erkenntnis, sondern als eine Form von sprachlogisch wirksamer Wahrnehmungsintentionalität zu verstehen. In dem Bemühen jedoch, dem Anderen im Gespräch verstehen zu geben, wer man eigentlich ist in der Bekundung von dem, woran einem etwas liegt, zeigt sich ein durchaus nicht irrationales, weil nämlich intentional orientiertes Interesse. Wer man selbst oder wer der Andere wirklich ist, verrät sich allein durch eine intentionale Rede, welche Gesprächsthemen selektiert und gewichtet. Man macht dem Anderen sehr schnell deutlich, ob einen der Gedankenaustausch über Kunst und Kultur, über Politik oder Sport überhaupt interessiert. Woran einem wirklich gelegen oder auch nicht gelegen ist gibt man dem Gesprächspartner zu verstehen, indem man etwa ein Thema nur beiläufig und gewissermaßen im Vorübergehen anschneidet oder aber seine zentrale Bedeutung dadurch bekräftigend unterstreicht, dass man wiederholend und insistierend immer wieder von demselben spricht. Auch zum Gespräch gehört die Verständigungssituation der Rede, der Ge­ genstand der Besprechung ist jedoch nicht das, was eigentlich interessiert: »Ein Gespräch wird angeknüpft. Die Sache, über die gesprochen wird, kann gleichgültig sein. Denn im Gespräch will man weniger sich über etwas verständigen, als daß man überhaupt Verständigung, d. i. die Linie festzulegen sucht, auf der man sich trifft mit dem anderen. Das Unverbindliche einer Unterhaltung, die zu Teilen bestritten wird, bei der Rollen einander zugespielt werden, schafft den neutralen Boden gesellschaftlichen Zusammenseins. Man will sich kennenlernen im Gespräch. Man kennt jemanden vorzüglich dann, wenn man mit ihm zu sprechen Gelegenheit hatte.« [Lipps, S. 306] Der logische Sinn einer solchen Verständigung, der es nur um die Verständigung als solche geht, erschließt sich bei Lipps jedoch nicht wirklich, denn weder handelt es sich hier um die Dialektik der Gesprächssituation, zu einer gemeinsamen Erkenntnis von Sachen und Sachverhalten zu kommen, noch um den bloß rhetorischen Effekt, sich von der Persönlichkeit des Anderen beeindrucken zu lassen: Die dialektische Verständigung ist nicht subjektorientiert und der puren rhetorischen Wirkung geht es letztlich gar nicht um Verständnis und Verständigung, das Finden einer gemeinsamen »Linie« der Gesprächsführung, sondern um ein 622 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation

letztlich falsches Spiel, in dem sich die wahre und wirkliche Person hinter einem öffentlichen Scheinbild gleichsam versteckt. Nur wenn man anders als Lipps die Gesprächssituation nicht als vorintentional, sondern als die Bekundung einer originären Wahrnehmungsintentionalität versteht, schließt sich die Logik einer solchen nicht primär sachorientierten, sondern selbstbezüglichen Gesprächsführung auf mit dem dafür exemplarischen lebensweltlichen Beispiel: dem Sondierungsgespräch. Beim Sondierungsgespräch bemüht man sich um eine gemeinsame »Linie« der Verständigung, jedoch nicht so, dass man in der Sache Übereinstimmung erzielt, sondern erst einmal das Feld absteckt, auf dem eine anschließend mögliche Verständigung über Sachfragen zu suchen und zu finden ist. Wenn es um einen Vertragsabschluß steht, treffen sich die Interessenvertreter zunächst zu einer noch unverbindlichen Unterredung, um herauszufinden, wo überhaupt mögliche Ansätze für eine Konsensfindung zu suchen sind. Jeder artikuliert dort seinen Wahrnehmungsstandpunkt in dem Sinne, dass er dem Anderen signalisiert, was für ihn von Interesse ist im Sinne eines unverzichtbaren Anspruchs, der nicht verhandelbar ist. Entweder lässt man sich dann auf einen solchen Anspruch des Anderen ein, oder man sucht den Konsens in einem ganz anderen Feld, falls sich herausstellt, dass die verschiedenen Wahrnehmungsinteressen in einem besonderen Punkt gänzlich unvereinbar sind. Das noch unverbindliche Sondierungsgespräch legt also die »Linie« einer möglichen Verständigung fest, indem es auslotet, worüber es sich in der anschließenden verbindlichen Vertragsverhandlung überhaupt zu sprechen lohnt und worüber nicht. Die Folge einer solchen Sondierung kann deshalb sein, dass es in Bezug auf die eigentlich wichtigen und entscheidenden Dinge gar keine Verständigung erreicht wird und ein für alle Beteiligten im Grunde unbefriedigender Minimalkonsens herauskommt. Das heißt aber, dass letztlich das Wahrnehmungsinteresse über den Rahmen der Konsensfindung entscheidet, d. h. dem, was schließlich durch das Erkenntnisinteresse an Verständigung und Übereinstimmung in der Sache erreichbar ist. Anders als in der Dialektik des geselligen Gesprächs, wo die nachdrückliche Behauptung eines besonderen Wahrnehmungsstandpunktes für eine privatio steht, die isolierende Vereinzelung des Individuums, erlangt sie im Sondierungsgespräch die Funktion der Stiftung einer sozialen Verbindung. Der dialektischen Betrachtung fehlt der Blick für die organisierende Funktion der wahrnehmungsorientierten Rede, die Gesprächsführung vor der Zerstreuung zu bewahren durch 623 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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die Konzentration auf bestimmte zentrale Themen. Man bekundet dem Anderen sein Wahrnehmungsinteresse dadurch, dass man nicht nur in Sätzen spricht, vielmehr bestimmte Sätze ausspricht und andere mögliche dafür verschweigt, betont, was einem zu besprechen wichtig ist oder unwichtig. Die Gedanken werden in einer solchen Bekundung von individuellem Wahrnehmungsinteresse nicht mangels dialogisch-­ dialektischer Vermittlung einfach nur nach dem sachlich-logischen Prinzip der »Folgerichtigkeit« verbunden, wie Lipps unterstellt, einem solipsistisch nur in sich selbst kreisenden Denken, das sich dem Anderen gegenüber gänzlich verschließt.213 Der Andere soll das eigene Wahrnehmungsinteresse schließlich nachvollziehen können, worin sich eine eigentümliche Leistung der Konsensfindung bekundet in der Sonderung von solchen für das gemeinsame Gespräch relevanten und irrelevanten Themen. Gerade indem sich die Wahrnehmungsorientierung in die Verständigungssituation überhaupt einbringt, öffnet sich der Gang des Gesprächs für den Anderen: Das Sondierungsgespräch wäre bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt, wenn sich die Beteiligten in der Weise dem Anderen gegenüber verschlossen zeigten, indem sie ihr Wahrnehmungsinteresse nicht wirklich öffentlich machten, sondern schamhaft verschweigen würden. Anspruch und Ertrag der hermeneutisch-logischen Analyse, eine auf die allgemeinen Regeln der Aussagelogik nicht reduzierbare Logik der Gesprächsführung aufzuweisen, klaffen leider nicht unerheblich auseinander. Das Ergebnis, das Lipps präsentiert, bringt die herbe Enttäuschung, dass die »Linie« der Gesprächsführung letztlich keine andere als die prädikative Syntax festlegt. Zwar wehrt sich die hermeneutische Logik gegen eine Schematisierung der Gesprächssituation durch die Urteilslogik und wertet dementsprechend den unverbundenen Logos, das einzelne Wort und seine situative Erschließungsfunktion der aristotelischen Tradition gegenüber philosophisch auf, für welche die Wahrheit eine Urteilsfunktion ist.214 Sie stellt aber letztlich nicht in Frage, dass Rede und Gespräch ihre Anschlussfähigkeit der prädikativen Syntax verdanken. Die »Typik der Schritte« [Lipps, S. 290], wodurch das Gespräch in seiner »Bündigkeit« begriffen wird [ebd.], entfaltet sich nicht anders als in der formalen Logik üblich als 213 »Das Wort ist aber hier überall als Wort am Platze« – und nicht als Teil eines Satzes – »als eingestellt in Begegnungen mit dem Anderen, stehen die Dinge im Blick.« [Lipps, S. 292] 214 Vgl. dazu den § 2 »Wahrheit und Richtigkeit« von Formale und hermeneuti­ sche Logik, [Lipps, S. 291 ff]

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ein Zusammenhang von Sätzen, von Urteilen und beweiskräftigen Schlüssen215, denn nur durch das Sprechen in Sätzen und Satzzusammenhängen kann sich überhaupt die Dialektik der Verständigung mit dem Anderen entfalten. Dieses methodische Dilemma muss entstehen, weil für Lipps die situative Artikulation, in der sich das Interesse an der Sprechsituation bekundet, stets in Form ausdrücklicher Ich-Aussagen geschieht – und das heißt eben nicht anders als mit Hilfe von Aussagen und ihrer grammatischen Struktur. Aussagen, in denen sich ein Interesse ausspricht, zeigen ihre Situationsgebundenheit damit, dass sie aktuell einen Standpunkt beziehen. So wird aber die Möglichkeit, ein Interesse zu artikulieren, von vornherein methodisch beschränkt auf aktuelle Interessenbekundungen, die in Form einer direkten Aussprache geschehen. Habituelle Interessenlagen werden so erst gar nicht berücksichtigt, die ihres dispositionellen Charakters wegen auch nicht direkt ausgesprochen, sondern nur indirekt durch den »Stil« der Rede erfasst werden können. Erst mit Blick auf diese indirekte Kundgabe von habituellen Interesse kann es schließlich gelingen, eine »Logik« der Gesprächsführung aufweisen, die von der grammatischen Verknüpfung von Aussagen grundverschieden ist. Der Unterschied von aktueller und habitueller Interessenbekundung lässt sich wiederum am Beispiel des Sondierungsgesprächs demonstrieren. In der Erwiderung auf einen Anspruch des Anderen kann der Sprecher in der Weise Position beziehen, indem er sein Interesse oder Desinteresse an der Weiterführung des Gesprächs in einer bestimmten Richtung bekundet. In einem Satz wie »Das kommt für mich in Frage / nicht in Frage« vollzieht sich eine Ja/Nein-Stellungnahme, die das Interesse des Anderen entweder annimmt oder ablehnt im Ein­ klang mit der logischen Form der Aussage: Der Alternative wahr/falsch entspricht hier die von relevant/irrelevant für das Interesse. Daraus er­­gibt sich aber, dass solche direkt ausgesprochenen Interessenbekundungen letztlich keinen Einfluss auf die Form der Gesprächsführung haben: Die Aussprache entscheidet zwar darüber, ob das Gespräch 215 »Es gilt eine Morphologie des Urteils aufzulösen, die im Urteil etwas ›als seiend gesetzt‹ sein ließ. Sie ist durch eine Typik der Schritte zu ersetzen, in denen Existenz sich vollzieht, d. i. bestimmend und urteilend, schließend und beweisend sich aufnimmt in der Artikulation ihrer Lage, sich auseinandersetzt mit ihresgleichen. Statt Spuren solcher Auslegung auf Schemata zu idealisieren, gilt es, ihre Bündigkeit zu begreifen. Schlüsse, Bestimmungen usw. können aber dann nicht mehr beanspruchen, als ein Einsatzfeld zu sein.« [Lipps, S. 290]

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an dieser Stelle weitergeführt wird, wie das aber geschieht, das legt die Satzbildung in Form der prädikativen Syntax fest: Hauptsätze in Urteilsform, Relativsätze, Konditionalsätze usw. Was dieser Art von Sprachanalyse entgeht, enthüllt schließlich der Vergleich mit einer nicht nur grammatischen, sondern rhetorisch-stilistischen Betrachtung der Gesprächsführung. Der »Stil« einer Rede zeigt sich mit der thematischen Zentrierung und Gewichtung der Gedanken. Genau eine solche Bedeutungsdifferenzierung durch Gewichtungen ist der Interessenbekundung in der einfachen Ich-Aussage schon von ihrer Form her verwehrt: Ja/Nein-Stellungnahmen sagen nur darüber etwas aus, ob eine Sache überhaupt Relevanz besitzt oder irrelevant bleibt, die Relevanzbeziehung als solche können sie in ihrer Bedeutung nicht gewichten. Der Zusammenhang einer solchen rhetorischen Stilbildung und der Bekundung von habituellen Interessenlagen zeigt sich an Lipps’ Unterscheidung von Rede und Gespräch. Über das Habituelle, den wahren Charakter einer Person erfahren wir Verlässliches nicht in der direkten Aussprache. Jemand kann in einer Situation nur vorgeben, dass für ihn etwas von Bedeutung ist; die aktuelle Interessenbekundung enthält immer auch die Möglichkeit der Verstellung und bewussten Täuschung. Aufschluss über das hinter solcher Aktualität bewusster Aussprachen sich verbergende Habituelle gibt so gerade nicht das, worüber man ausdrücklich sprechen will, sondern die mehr oder weniger ungewollte Art, wie man die Gesprächsführung gestaltet. Den Hinweis auf solche die Gesprächsführung leitenden dispositionellen Motive geben schließlich die rhetorischen Stilmittel der Auslassung und wiederholenden Bekräftigung. Hier zeigt sich eine »Logik« der Ge­sprächsführung in der Aufnahme eines Gesprächsfadens, der einerseits assoziiert, andererseits aber einem logischen, syntaktischen Sinnzusammenhang stiftet. Die wahrnehmungsorientierte Rede artikuliert sich durch rhetorische Stilmittel wie Auslassungen und Betonungen, das Überspringen von Themen oder nur beiläufige Ansprechen von Nebensächlichem sowie die Bekräftigung der Hauptsache durch wiederholtes Zur-Sprache-bringen desselben. Darin zeigt sich nicht nur eine verwirrende Sprunghaftigkeit der Gedankenführung, welche die durch die Grammatik vorgegebene sukzessive Ordnung der Gedanken durch assoziative Verweisungen lediglich in Auf‌lösung und Unordnung brächte. Die »Linie« der Gesprächsführung verdankt sich dem Stil der Rede und nicht etwa der Satzbildung. Man spricht zwar immer in Sätzen, doch beruht die Anschlussfähigkeit dort, wo es nicht um 626 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

7) Intentionale und kausalgenetische Reinterpretation

Vorstellungen und Erkenntnisse, sondern um Wahrnehmungen geht, in den assoziativen Zusammenhängen. Den assoziativen Gesprächsfaden, den man einmal angeknüpft hat, kann man jederzeit durch wei­tere Assoziationen auch wieder verlieren, das »Feld« der Verständigung, das man gefunden hat, kann sich an seinen Rändern gleichsam »verfransen« und damit auf‌lösen in einer assoziativ verwirrenden Gesprächsführung. Assoziative Verbindungen sind und bleiben stets von der Dynamik bedroht, dass sie sich durch wechselnde affektive Zen­trierungen wieder lösen und durch andere assoziative Verknüpfungen ersetzt werden. Auslassungen und Bekräftigungen zeigen hier ihre syntaktisch bindende und zugleich Bedeutungen differenzierende Funktion in der assoziativ-bewegungsdynamischen diakritischen Entwicklung, ein bedeutungsrelevantes »Feld« durch das Ziehen einer Grenzlinie diakritischer Relevanz abzustecken durch die Einbindung von »freien« Kausalitäten der Assoziationen in eine Wiederholungs­ bewegung sinnstiftender Artikulation, welche nicht nur Bedeutung gibt indem sie Themen setzt, sondern solche Themensetzungen auch erhält. Das wiederholte Zur-Sprache-bringen von etwas wirkt in der Gesprächssituation konzentrierend der assoziativen Ablenkung und dem Vergessen entgegen und verhindert damit aktiv die Auf‌lösung von thematischen Zentren. Damit zeigt sich in der assoziativen Syntax wiederholender Bekräftigung eine restituierende und organisierende Wirkung, welche zur Erhaltung assoziativer Verknüpfungen durch die Verdichtung thematischer Zentren beiträgt mit der diakritischen Relevanz, das ihnen anhängende thematische Feld um so fester mit dem Thema zu verknüpfen. Genau dieser entscheidende Hinweis auf eine wahrnehmungsinten­ tionale Wiederholungsstruktur der Stilbildung, wodurch die assozia­ tive thematische Verknüpfung zugleich die grammatische Funktion der Ermöglichung von syntaktischer Anschlussfähigkeit bekommt, fehlt sowohl in Steinthals psychologischer als auch in Lipps’ hermeneutischer Erklärung solcher Sprachformen jenseits des grammatisch-­ logisch Analysierbaren der prädikativen Syntax. Steinthals genetische Ableitung fixiert sich ganz auf die im Unbewussten sich abspielenden Zusammenhänge der Assoziation und Reproduktion und versäumt es damit, auf die Strukturen der Rede an der Oberfläche des Bewusstseins zu achten. Wenn das Wahrnehmungsinteresse lediglich als dis­po­sitonelle Bereitschaft für die spontane Reproduktion von Vorstellungen verstanden wird, dann verstellt dies den Blick auf die zur stilistischen Artikulation gehörende Wiederholungsdisposition. Nicht 627 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

Teil C · Kap. III – Phänomenologie der bewegungsdynamischen Organisation

nur einzelne Vorstellungen, eine ganze Wahrnehmungsbewegung artikuliert sich in dem Interesse, immer wieder Dasselbe zur Sprache zu bringen: Als zentral und bedeutend für das habituelle Wahrnehmungsinteresse zeigt sich das, was wiederholt zur Sprache kommt. Bezieht man die Arti­kulation der Wahrnehmungsbewegung – den Orientierungswechsel, die Zuwendung zu immer wieder anderen Themen – mit in die sprachanalytische Betrachtung der Gesprächsführung ein, dann erklärt sich schließlich aus der Wiederholungsstruktur der Artikulations­ be­ we­ gung die verschiedene Gewichtung thematischer Bezüge. Im Zentrum steht das, was durch die rhetorische Wiederholungshandlung immer wieder bekräftigt wird. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um eine solche auf ein und nur ein Objekt manisch fixierte Wiederholung, sondern die zur Wahrnehmungsbewegung gehörende periodisch-­rhythmische Wiederholung im Orientierungswechsel, welche sich in einer Bewegung der Ausweichung und Rückkehr zu einem thematischen Zentrum artikuliert. Der Hauptgedanke einer Rede behauptet sich im Zentrum des Wahrnehmungsfeldes, indem die Bewegung des Sprechens stets von ihm ausgeht und zu ihm zurückkommt. Alles andere, was auf dem Wege der periodischen Ausweichung auf immer wieder andere Objekte thematisch erfasst wird, gehört dagegen zur bedeutungsrelevanten Peripherie dieses themati­schen Zen­trums. Hier – in der intentionalen Wiederholungsstruktur der rhetorisch-stilbildenden Artikulation – liegt der habituelle Ursprung des gegliederten Wahrnehmungsfeldes und seiner bewegungsdynamischen Organisation. Hier – in dieser diakritischent­w ickelnden, das Bedeutungsrelevante vom -irrelevanten aussondernden intentio­nalen Wiederholungsstruktur der Gesprächsführung liegt der Ursprung des Habitualisierung eines gegliederten Wahrnehmungsfeldes als Ausdruck eines Wahrnehmungsinteresses und seiner thematischen Objektivierung. Die genetisch-phänomenologische Reinterpretation der hermeneutischen Logik der Gesprächsführung allein ergibt jedoch noch keine sprachanalytische Bestimmung der Wahrnehmungsintentionalität selbst als eine eigenständige Form reflexiver, thematischer Objektivierung. Worin besteht eigentlich genau die spezifisch wahrnehmungsintentionale thematische Setzung und Bezugnahme, die sich offenbar von der Vorstellungsintentionalität und ihrer Form der referierenden Bezugnahme, auf einen wahrnehmungsunabhängigen Gegenstand oder Sachverhalt Bezug zu nehmen, durch ihre kausale Bindung an eine affizierende Wahrnehmung unterscheidet? Wie, durch welche Form der intentionalen Thematisierung, bil628 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

8) Feldtheorie der Wahrnehmung und Anthropologie

det sich eine von der prädikativen Syntax als eine eigenständige Form von Organisation zu unterscheidende assoziative Syntax der Wahrnehmungsorientierung aus? Eine sprach- und intentionalanalytische Aufarbeitung auch musikalischer Sinngebungen ist ein »blinder Fleck« der Philosophie. Hier jedoch liegt die systematische Antwort gleichsam brach, eine assoziative Syntax und ihre wahrnehmungsintentionale Fundierung aufzuweisen, denn der musikalischen Artikulation fehlt mit der vorstellungsintentionalen Objektivierung auch die Möglichkeit, eine prädikative Syntax auszubilden. Die Antwort auf solche Fragen der mu­sikalischen Intentionalität verlangen eine eigene Untersuchung und können hier deshalb nur programmatisch und schematisch vereinfacht angedeutet werden.216 Das Beispiel der musikalischen Artikulation zeigt exemplarisch: Benennungen, also referierende Bezugnahmen, sind nicht die einzig mögliche Form der Bedeutungserfassung und intentionaler Objektsetzung. Die Musik als »Klangrede und Tonsprache« (Johann Mattheson) benennt keine Gegenstände, was jedoch nicht bedeutet, dass sie zur thematischen Objektivierung überhaupt unfähig wäre, eine bloß formlose, unorganisierte Empfindung bliebe. Ein Musikstück wird organisiert durch exponierte musikalische Themen und ihre Reprisenstruktur. Darin bekundet sich eine intentionale Themenbildung in Form der exponierenden Bezugnahme, welche ein Thema exponiert, indem sie einer Empfindung die Bedeutung eines Wiederholungsmotivs verleiht. In der musikalischen Reprisenform weist sich entsprechend die diakritische Entwicklung und Habi­ tualisierung eines Orientierungsschemas der Wahrnehmung durch die Wiederholungsbewegung und ihre assoziative Syntax aus: Anfang, Ausweichung und Rückkehr zu einem thematischen Zentrum. Die thematische Exposition eines ganzen Themenkomplexes so wenig wie das einzelne Thema stellt dabei ein Objekt der Vorstellung dar, welches der Wahrnehmung des musikalischen Verlaufs zuvorkommend erfassbar wäre: Musikalische Formen werden nicht intentional vorgestellt, sondern erschließen sich im Mitvollzug einer Wahrnehmungsbewe­ gung und ihrer intentio­nalen Orientierung auf die exponierten Themen hin. Das organisierende Wahrnehmungsinteresse zeigt sich hier in einer Disposition der Organisation, einem durch die exponierende Bezugnahme gesetzten habituellen Wiederholungsmotiv, zum thematischen Ausgangspunkt immer wieder zurückzukehren. 216 Vgl. dazu meine systematische Studie Musikalische Intentionalität. Eine Phänomenologie musikalisch-ästhetischen Erlebens. Kaletha 2018.

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Feldtheorie der Wahrnehmung und Anthropologie – Schlussbemerkungen zum phänomenologischen und transphänomenologischen Begriff der diakritischen Entwicklung

Der reine Konstitutionsbegriff von Organisation transzendiert die anthropologische Sphäre durch seinen Reflexionsbegriff, welcher die faktischen Wahrnehmungsgegebenheiten idealisiert: Auf das trans­ zendentale Ideal der vollständigen und durchgängigen Gegenstandsbestimmung bezogen217 wird letztlich auch die Funktion reproduktiver Selbsterhaltung idealisiert: Im faktischen Leben gehört zur Erinnerung die Dynamik einer Vergegenwärtigung, welche die Umorientierung und damit verbunden die Nichtvergegenwärtigung und das Vergessen einschließt. Dagegen betrachtet die konstitutionstheoretische Idealisierung die faktisch immer veränderliche und verändernde Reproduktion als eine reale Grenze, die es durch reflexive Idealisierung zu überschreiten gilt in der methodischen Rekonstruktion eines Ideal-­Möglichen der Erkenntnisgewinnung, einer ideal-identischen und vollständigen Reproduktion: Die tatsächlich immer veränderlichen Wahrnehmungen werden auf diese Weise in der Vorstellung reflektiert zu einem Unveränderlichen, so wie es nur der Begriff fassen kann in der Idee eines vollständig gegebenen Systems.218 Der konstitutionstheoretische Transzendentalismus stützt sich dabei auf die antinaturalistisch und antipsychologistisch motivierte Gewinnung einer Sphäre rein logischer Geltungen, aus der die Unter­ scheidung von reiner und anthropologisch fundierter, praktisch angewandter »denkökonomischer« Logik resultiert.219 All das, was aus dem Bereich idealer, reiner Sinngebung ausgeschlossen wird – und das sind im wesentlichen die realen kausalgenetischen Bedingungen der Assoziation und Reproduktion von Ordnungsleistungen der Vorstellungen und Begriffe wie auch die mit ihnen verbundenen denkökonomischen 217 Vgl. dazu Teil B, Kap. I,3. 218 Die systematisch-detaillierten Analysen dazu finden sich in Teil B, insbesondere Kap. II und III. 219 Husserl betont deshalb, dass er im »Streit um psychologische oder objektive Begründung der Logik […] eine Mittelstellung« einnehme [Husserl, Hua XVIII, § 43, S. 167]. Der anthropologische Charakter der Denkökonomie wird von Husserl ausdrücklich betont: »Speziell auf die Sphäre der Wissenschaft angewendet, kann der denkökonomische Gesichtspunkt bedeutsame Resultate ergeben, er kann helles Licht werfen auf die anthropologischen Gründe der verschiedenen Forschungsmethoden.« [Ebd., § 54, S. 200 f.]

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8) Feldtheorie der Wahrnehmung und Anthropologie

Symbolisierungen mit ihrer anthropologischen Entlastungsfunktion – wird damit an die Psychologie delegiert. Nun unterläuft allerdings die genetisch-phänomenologische Betrachtung der Habitualisierung von intentionalen Sinnstiftungen genau diese Distinktion von Gene­ sis und Geltung, von Rein-Logischem und Anthropologischem, in­dem sie denkökonomische Leistungen wie Substituierungen durch Symbolisierung und Verdichtung als konstitutiv für die Habitualisierung von Erkenntnissen überhaupt ansieht. Dass auch die genetische Phänomenologie an der Absonderung der logischen von der psychologischen und anthropologischen Betrachtung von Leistungen der Ordnung und Organisation festhalten kann, gelingt ihr letztlich nur durch ihre konstitutionstheoretische Idealisierung einer Rekonstruktion des Ideal-­Möglichen im faktisch Gegebenen real-möglicher Leistungen. Im Horizont eines solchen Reflexionsbegriffs der Konstitution werden Substituierungen nicht anders als in den Logischen Untersuchungen lediglich privativ vom Verlust eines logischen Geltungssinnes und seiner Ordnungsleistung her betrachtet, der sich mit der Substitution der ursprünglichen direkt erfassten, »anschaulichen« Systems der Vorstellung ergibt.220 Damit jedoch wird die methodische Möglichkeit verspielt, die Habitualisierung von Vorstellungen und Erkenntnissen, die offenbar fak­ tisch als eine ordnende und organisierende nur durch Substituierungen möglich ist, als eine realiter ursprünglich sinnstiftende anzuerkennen, statt sie am transzendentalen Ideal gemessen als eine Sinn durch Sinnverlust substituierende zu begreifen. Verdichtungen sind Substituierungen, welche nicht nur Unordnung schaffen, indem geordnete Systeme von Vorstellungen ihre Anschaulichkeit verlieren, sondern stellen ihrerseits selektiv Ordnung her durch eine Konzentration von Vorstellungen um ein thematisches Zentrum herum. Diese sich in der Substituierung von ursprünglich anschaulichen, »vollständigen« Gegebenheiten verbergende selektive Leistung der Ordnung und Organisation wird letztlich nur in einer anthropologischen Fundierung der konstitutionstheoretischen Logik begreif‌ lich. Die »Denkökonomie« von Substituierungen bringt nicht nur logischen Geltungssinn zum 220 Methodisch entscheidend für die Unterscheidung der reinen Logik von dieser anthropologisch fundierten, praktisch-angewandten Logik ist letztlich, dass die denkökonomische »Kunst und Methode« durch eine geltungstheoretische privatio charakterisiert wird, indem sie »mittels symbolischer Prozesse und unter Verzichtleistung auf Anschaulichkeit« ihre praktisch-logische Leistungs­fähigkeit erreicht. [Husserl, Hua XVIII, § 54, S. 202]

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Verschwinden, sie beinhaltet vielmehr in ihrer Leistung der schematisierenden Verbildlichung und Verdichtung eine Sinn erhaltende Funktion, die nur von einem in der Vorstellungs- und Erkenntnisorientierung wirksamen Wahrnehmungsorientierung her verständlich wird, einem habituellen Wahrnehmungsinteresse, das – diakritisch relevant und entwickelnd – den Vorstellungshorizont einschränkt, indem sie ein geordnetes Wahrnehmungsfeld ausbildet. Die genetische Phänomenologie bekommt so schließlich ein an­ thropologisches Fundament, insofern die Wahrnehmungs- als eine Umweltorientierung nicht wiederum durch eine Konstitutionsbestimmung und ihre transzendentale Begründung in einer »reinen« Er­kenntnisorientierung vermittelt ist. Die methodische Begründung der Phänomenologie kann sich so auch nicht mehr als die »prinzipielle Entscheidung zwischen Anthropologismus und Transzendentalismus« darstellen, wie Husserl das noch 1931 programmatisch verkündet. Im Rahmen einer Phänomenologie der Orientierung wird die von Husserl ungewollte anthropologisch ausgerichtete »Reform der ursprünglichen konstitutiven Phänomenologie« mit dem Nachweis einer konstitutionstheoretischen Heteronomie, einer organisierenden Außen­seite der transzendentalen Konstitution in Gestalt der bewegungsdynamischen, assoziativen Synthese der Wahrnehmungsorientierung, letztlich unumgänglich.221 Ziel einer solchen dynamischen Konzeption von Phänomenologie ist es freilich nicht, den Konstitutionsbegriff von Organisation zu destruieren oder überflüssig zu machen. Das würde auf einen erkenntnistheoretischen Reduktionismus hinauslaufen, die Leistung der sprachlichen, nominalen Identifizierung zu bestreiten, eine von der Wahrnehmungsorientierung unabhängige Erkenntnis­ 221 Vgl. Edmund Husserl: Phänomenologie und Anthropologie [in: Husserl, Hua XXVII, S. 165]. Husserls programmatischer Vortrag verwahrt sich – als Antwort auf Heideggers Sein und Zeit – gegen eine vermeintlich »notwendige Reform der ursprünglich konstitutiven Phänomenologie« [ebd., S. 164], die Husserl als »Anthropologismus« verwirft: »Während die ursprüngliche Phänomenologie als transzendentale ausgreift, jeder wie immer gearteten Wissenschaft vom Menschen die Beteiligung an der Fundamentierung der Philosophie versagt, und alle darauf bezüglichen Versuche als Anthropologismus oder Psychologismus bekämpft, soll jetzt das strikte Gegenteil gelten: Die phänomenologische Philosophie soll völlig neu vom menschlichen Dasein her aufgebaut werden.« [Ebd.] Heideggers Versuch, die Konstitutionstheorie durch eine Ontologie des Daseins zu überholen, hält jedoch in ihrer lebensphilosophisch motivierten Frontstellung am Konstitutionsbegriff der Organisation um so mehr fest. Vgl. dazu die Ausführungen zu Heidegger in Kap. I,3 sowie Kap. II,5.

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8) Feldtheorie der Wahrnehmung und Anthropologie

orientierung auszubilden. Der Phänomenologie der Orientierung als methodischer Ergänzung und Erweiterung der Phänomenologie der Konstitution geht es vielmehr darum, in genetischer Hinsicht die Fundierung der systematischen Konstitutionsbestimmung in einer solchen bewegungsdynamischen Organisation der Wahrnehmung und ihrer Form der diakritischen Entwicklung eines geordneten Wahrnehmungsfeldes aufzuzeigen. Husserls Phänomenologie der Assoziation und ihr Versuch, die Geschlossenheit der Organisation aus der Fähig­keit der Selbstreproduktion des Systems der Konstitution – dem Restitutionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution – vollständig abzuleiten, ist letztlich gescheitert. Das System der Konstitution, das sich im Unbewussten zu verlieren droht, vermag seine Geschlossenheit nicht selbst zu erhalten, sondern gerät in Husserls methodisch aufwendiger Rekonstruktion zuletzt in die Abhängigkeit einer völlig kontingenten äußeren Restitutionsbedingung in Gestalt eines auslösungsdynamischen Weckungsreizes. Nicht das systematische Erkenntnisinteresse, nur ein selektives Wahrnehmungs­ interesse und seine Leistung, einem solchen Weckungsreiz »Dauer« zu verschaffen, führt deshalb aus diesem methodischen Dilemma der Konstitutionstheorie heraus. Durch das wirksame Wahrnehmungsinteresse wird eine Umwelt als habituelles Orientierungsschema vorgegeben, welches die reproduktive Erhaltung eines notwendig realiter begrenzten und nicht idealiter unbegrenzten Systems der Erkenntnis gewährleistet.222 Das in der Konstitutionsbestimmung methodisch verleugnete organisierende Wahrnehmungsinteresse deutet in zweierlei Hinsicht auf eine anthropologische Fundierung hin: einmal als eine Leistung der Selbsterhaltung durch Wiederholung, welche über die bloße Reproduktion von Vorstellungen hinausgeht, sowie zum anderen durch eine intentionale Wahrnehmungsorientierung, die keine bloße Objekt­ vorstellung ist, sondern die Orientierung in Gestalt einer Orientierungsbewegung in einem Orientierungsraum: einer Umwelt. Helmuth Plessner sah die Auszeichnung der anthropologischen Betrachtung darin, dass sie anders sowohl als Husserls Phänomenologie als auch Heideggers Existenzialontologie das »Leben« nicht nur – sei es intentional oder in einem Existenzvollzug – als einen reinen Sinnzusammenhang der Bedeutsamkeit betrachtet, indem sie alle Fragen nach dem Lebenszusammenhang, der den Menschen in die »Natur« einbindet, durch 222 Vgl. dazu das Methodenkapitel Teil B, Kap. III,7.

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phänomenologische Reduktion methodisch ausschaltet.223 So korrigiert Heideggers Sein und Zeit zwar die konstitutionstheoretische Fixierung auf intentionale Leistungen der vorstellenden Objektivierung, indem das Dasein als ein weltorientiertes gefasst wird durch das grundlegende Existenzial des »In-der-Welt-seins«. Gleichwohl blendet Heidegger die kausalgenetische Dimension von reproduktiven Leistungen der Habitualisierung in dieser Weltorientierung aus, indem die »Faktizität« als eine solche ausschließlich des Sinnverstehens und seiner Auslegung betrachtet wird. Plessners Kritik ist freilich entgangen, dass die nicht mehr nur statische, sondern genetische Phänomenologie Husserls schließlich dazu gelangt, die kausalgenetische Vermittlung der intentionalen Sinngebung methodisch einzuholen in der Analyse der Weckung von Aufmerksamkeit und Interesse. Durch die konstitutionstheoretische Idealisierung auch der genetisch-phänomenologischen Analysen Husserls wird jedoch das nur anthropologisch fassliche »faktische Leben« methodisch letztlich übersprungen durch das einseitige Erkenntnisinteresse an der Rekonstruierbarkeit und Rekonstruktion eines vollständig habitualisierten Vorstellungssinnes »hinter« dem, was sich faktisch an Habitualisierungen einer Umweltorientierung im »System« von Vorstellungen und Erkenntnissen niedergeschlagen hat. In anthropologischer Perspektive tritt an die Stelle der Ermöglichung von Ordnung und Organisation in der Vergegenständlichung von Wahrnehmungen durch Vorstellungen und Begriffe die »biologische« Betrachtung der Welt- und Umweltorientierung in einer sich selbst organisierenden Wahrnehmungsbewegung. Gleichwohl verlangt auch dieser anthropologische Denkansatz die Klärung seines leitenden Reflexionsbegriffs in genetisch-phänomenologischer Hinsicht. Die philosophische Anthropologie arbeitet nicht nur empirisch, sondern reflektierend in Bezug auf ihren leitenden Begriff der Weltorien­ tierung menschlichen Lebens. Von Johann Gottfried Herder übernimmt sie die These, wonach sich Tiere vom Instinkt gesteuert in einer begrenzten Umwelt bewegen, während allein den Menschen seine Weltoffenheit definiert.224 Den Verlust instinktgelenkter Orientierung 223 Vgl. Plessners Vorwort zur zweiten Auf‌lage von Die Stufen des Organischen und der Mensch [Plessner, S. XIII, XIV]. 224 Auf Herders Unterscheidung des Menschen vom Tier durch die Weltoffenheit bzw. Umweltgebundenheit bezieht sich das Credo der Gehlenschen Anthro­ pologie: »Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan […]. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist

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kompensiert der Mensch deshalb durch die Vernetzung von Sinngebungen, von »Symbolen« zu »Symbolfeldern« in der Vorstellung und dem darauf beruhenden Entwurf eines geordneten Kultursystems.225 Genau hier zeigt sich jedoch, dass auch die anthropologische Bestimmung des Menschen eine konstitutionstheoretische Idealisierung leitet mit dem Primat des Vorstellbaren gegenüber dem Wahrnehmbaren in der Weltorientierung. Als »leibhaftes Wesen« [Plessner, S. XIV] liegt biologisch-anthropologisch betrachtet zwar auch für den Menschen in der Wahrnehmung der primäre, leitende Zugang zur Welt, jedoch resultiert die Ordnung und Organisation dieser Wahrnehmungs­ orientierung letztlich aus einer Vorstellungsorientierung, wo eine Transzendierung des Wirklichen auf ein Ideal-Mögliches hin vollzogen wird. Die konstitutionstheoretische Idealisierung betrifft anthro­ pologisch das Verhältnis von Umwelt und Welt, indem beim Menschen die Bindung an eine Umwelt nicht etwa einfach verschwindet, sondern im Unterschied zum Tier modalisiert wird zu einem Plural des Beliebig-Möglichen. Wie Arnold Gehlen hervorhebt, können »menschliche Gesellschaften ›ihre Umwelt wechseln‹« [Gehlen 1978, S. 81]. Der Mensch schafft sich eine Kultursphäre »aus ganz beliebigen vorgefundenen Umständen« [ebd., S. 80]. Die Modalisierung der Umweltorientierung zu einer beliebig möglichen in dem Sinne, dass sich das Kulturwesen Mensch nicht nur wie das Tier in einer einzi­ gen Umwelt orientiert, sondern »weltoffen« in annähernd beliebig vielen Umwelten orientieren kann, bedeutet, dass naturgeschichtlich begründet die Wahrnehmungsorientierung des Tieres einer primären Vorstellungsorientierung beim Menschen Platz macht. Auch wenn im Unterschied zur phänomenologischen Konstitutionstheorie diese Vorstellungsmöglichkeit keine nur ideale Möglichkeit der theoretisch-fiktiven methodischen Rekonstruierbarkeit bleibt, sondern statt dessen die anthropologisch reale Möglichkeit tatsächlich nicht nur einfacher, sondern vielfacher Wahrnehmungs- und Umweltorientierungen des Lebewesens Mensch verkörpert, so liegt auch darin eine methodische Idealisierung, welche die Frage offen lässt, wie denn das, was denn da modalisierend aufhebend vervielfältigt wird – die jeweilige für die Wahrnehmungsorientierung als ein Bewegungsspielraum notwendige begrenzende Umwelt nämlich – überhaupt zustande kommt. Auch der die Wahrheit.« [Gehlen 1978, S. 84] Vgl. in Gehlens Der Mensch insbesondere das Kapitel »Tier und Umwelt. Herder als Vorgänger« [ebd., S. 73 ff]. 225 Gehlen spricht von »Übersichtsfeldern«, in der »ganze Reihen solche Symbole in Symbolfeldern« zusammengefasst sind. [Gehlen 1978, S. 214]

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Mensch kann sich letztlich nicht nur in einer reinen Vorstellungswelt mit ihrer Grenzenlosigkeit des Vorstellbaren orientieren. Denn anders als zur Vorstellungsorientierung als »Akt« der Vergegenständlichung mit seiner Umgebung unabgrenzbarer, horizontintentionaler Verweisung gehört zur Wahrnehmungsorientierung eine Bewegung, die sich prinzipiell immer nur in Grenzen zu bewegen vermag. Die anthropologische Berufung auf »Instinktresiduen«226 reicht nicht aus, um die singuläre Umweltorientierung des Menschen zu erklären. Diese prinzipielle methodische Schranke enthüllt sich nicht zuletzt mit Blick auf die phänomenologische Feldtheorie der Wahrnehmung. Wo die philosophische Anthropologie an ihre Grenzen stößt, kann eine methodisch über die konstitutionstheoretischen Grenzen hinaus erweiterte genetische Phänomenologie weiter gehen, nämlich das Verhältnis von Welt und Umwelt durch die Verschiedenheit der intentionalen Sinngebung aufklären, ohne zur Erklärung der Wahrnehmungsorientierung auf Restbestände von determinierenden Naturgegebenheiten, wie sie die Instinkte darstellen, rekurrieren zu müssen: Dem Verhältnis von Vorstellungs- und Erkenntnisorientierung entspricht eine durch ihre Form der vorstellenden bzw. thematischen Objektivierung zu unterscheidende intentionale Sinnbildung. Wenn Gehlens Anthropologie auf die »symbolische Struktur der Bewegung«, auf »symbolische Bewegungen« als das Produkt eines »Abkürzungsprozesses« der Verdichtung verweist, »wenn die Bewegungen ihre Erfahrung durchlaufen haben und sich auf das fruchtbare Minimum verkürzt haben« [Gehlen 1978, S. 190, 191], dann lassen sich solche Verdichtungen von Wahrnehmungsbewegungen genetisch-phänomenologisch auf die diakritische Entwicklung eines begrenzenden Wahrnehmungsfeldes, d. h. ein Umwelten entwickelndes Wahrnehmungsinteresse, hin untersuchen. Es ist der Reflexionsbegriff einer bewegungsdynamischen und diakritisch entwickelnden, dispositionellen Wiederholungsbewegung, welcher im nicht nur empirisch-kausalen, sondern anthropologischen und zugleich transzendental-phänomenologischen Horizont die Möglichkeitsbedingungen der intentionalen Sinngebung von assoziativen 226 Der Mensch ist für Arnold Gehlen das »instinktverlassene Wesen« [Gehlen 1961 b, S. 23]. Die »Instinktreduktion« beim Menschen bedeutet für Gehlen, dass die Instinkte »entdifferenziert« sind [ebd., S.  61]. Gleichwohl geht Gehlen in Bezug auf den Menschen von »mächtigen Instinktresiduen exklusiver Lebenswichtigkeit« aus, etwa bei Gerüchen [Gehlen 1961 a, S. 110]. Auch Helmuth Plessner spricht von »Instinktresiduen« als »Überbleibsel der Stammesgeschichte des Menschen« [Plessner, S. XVII].

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Kausalbeziehungen der Wahrnehmungsbewegung erfasst. Nur so wird verständlich, warum die »Welt« des Menschen anthropologisch eben nicht als ein homogenes, gegenständlich zu erfassendes Vorstellungssystem, sondern nur als eine heterogene Vielheit von Umwelten existieren kann, in der sich das Lebewesen Mensch auch realiter zu bewegen und orientieren vermag. Die phänomenologische Feldtheorie der Wahrnehmung zeigt nicht zuletzt die methodische Unmöglichkeit auf, die Bildung von Um­ welten biologisch-deterministisch durch Naturkonstanten der Wahrnehmung zu begründen, wie sie »Instinktresiduen« darstellen. Auch Tiere haben Gestaltwahrnehmungen, die sich also immer auch über das Phänomenologisch-Psychologische hinaus durch biologisch-genetische Determination erklären. Es ist nun aber bezeichnend, dass der gestalttheoretische Versuch, das geordnete Wahrnehmungsfeld des Menschen als eine lediglich komplexe Erweiterung elementarer Gestalterfassungen zu begreifen, letztlich scheitert. Dass die Organisation des Wahrnehmungsfeldes nicht aus einem Reproduktionszusammenhang der Gestaltbildung resultieren kann, macht die Unmöglichkeit deutlich, die Grenze zwischen geordnetem Feld und ungeordnetem Rand strukturalistisch und gestalttheoretisch zu definieren. Der zur »Figur« gehörende »Grund« ist als solcher ein völlig indifferentes Hintergrundbewusstsein, der eine Differenzierung nach seiner Bedeutungsrelevanz überhaupt nicht enthält. Aus der Entsprechung von intentionaler Sinngebung und Gestaltwahrnehmung ergibt sich lediglich die einfache Struktur Thema – thematisches Feld, aber nicht die diakritisch relevante Thema – thematisches Feld – Rand.227 Die Diakri­ sis von Relevanz/Irrelevanz, welche die Grenze des thematisch organisierten Wahrnehmungsfeldes markiert, kann von daher nur aus einer intentional-organisierenden Wahrnehmungsbewegung verständlich werden: Als bedeutungsrelevant erweist sich dasjenige Feld, worin sich die Wahrnehmungsorientierung wirklich bewegt. Was sich dagegen außerhalb des begrenzenden Wahrnehmungshorizontes der Orientierungsbewegung befindet, gehört nicht zur Umwelt, sondern zu ihrem unorganisierten Rand. Die feldtheoretische Betrachtung beansprucht demnach die Umwelt als Umwelt, d. h. die geordnete Welt entspricht in umweltlicher Orientierung der Welt, wie sie wirklich wahrgenommen wird. Das Weltbewusstsein, insofern es unsere Wahrnehmung faktisch organi227 Vgl. dazu Teil C, Kapitel II,4.

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siert, ist auf diese Weise feldtheoretisch bestimmt keine allumfassende Sinn- und Ordnungstotalität mehr, die in einer wahrnehmungsunabhängigen Vorstellung und Erkenntnis gegeben wäre und von der die umweltliche Wahrnehmung nur einen besonderen Ausschnitt erfassen würde. Die als Umwelt erschlossene Welt gibt es niemals ohne einen Rand des Bedeutungslosen und das heißt immer auch: mehr oder weniger Unorganisierten. Die Welt als der umgebende »Rand« einer Umwelt kann freilich durch die Wahrnehmung unorganisiert zugleich durch die den Wahrnehmungshorizont überschreitende Vorstellung und ihr Erkenntnisinteresse geordnet und organisiert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese »Welt«-Ordnung in der Vorstellung auch die Ordnung der Umwelten als deren implizite »Teil«-Bestimmung enthalten würde. Die Organisation des Wahrnehmungsfeldes lässt sich ebenso wenig konstitutionstheoretisch als ein vorstellungsintentional geordnetes »Weltstück« denken wie systemtheoretisch als die bloße Ausdifferenzierung einer Systemtotalität in Teilsysteme. Gurwitschs Unterscheidung von thematischem Feld und Randbewusstsein gibt so den systematisch entscheidenden Hinweis darauf, dass die Bildung von Umwelten als solche nicht totalisierend, sondern diakritisch ist in der Aussonderung eines begrenzten, geordneten Wahrnehmungsfeldes. Die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass Vorstellungs- und Wahrnehmungsorientierung mit Blick auf die Welterschlossenheit zwei aufeinander unreduzierbare Intentionalitäten ausmachen – woraus deshalb auch zwei grundverschiedene Organisationsprinzipien folgen. Der Mensch ist im Unterschied zum Tier nicht in einer bestimmten Umwelt eingeschlossen und gefangen, sondern existiert – wie die Anthropologie von Herder bis Gehlen und Plessner zu Recht betont – ursprünglich weltoffen. Diese Aufgeschlossenheit für die Welt leugnet auch die phänomenologische Feldtheorie nicht, betont aber, dass die mögliche Überschreitung des begrenzenden Wahrnehmungs­ horizontes durch seine Umwandlung in einen entgrenzenden Vorstel­ lungshorizont nicht im Sinne einer organisierenden Konstitutions­ bestimmung zu verstehen ist: Die Wahrnehmungsorientierung kann im Falle des Weltbewusstseins – anders als bei der Konstitution eines individuellen Wahrnehmungsgegenstandes – nicht als intentional veranschaulichende Erfüllung einer wahrnehmungsvorgängigen Vorstellung und Erkenntnis verstanden werden, so, als gäbe eine Weltvorstellung ein umfassendes System der Erfahrung idealiter in einer »Leer«-Vorstellung immer schon vor, das die Wahrnehmung dann in 638 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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»Abschattungen«, also irgendwelchen vereinzelten Ausschnitten, in einer veranschaulichenden Vorstellung realiter erfasste. Das Überschreiten des »Randes« eines organisierten Wahrnehmungsfeldes, sofern es nicht nur in der Vorstellung, sondern durch die Wahrnehmung geschieht, bedeutet, in den Vorstellungshorizont durch eine organisierende Wahrnehmungsbewegung einzudringen. Das heißt jedoch gerade nicht, dass der Vorstellungshorizont als eine horizont­intentio­ nale Antizipation der Wahrnehmung die Richtung vorgäbe, so, dass die Wahrnehmungsbewegung an einer solchen Ordnung durch die Vorstellung gleichsam nur entlang liefe. Die sich erweiternde Wahrnehmungsorientierung veranschaulicht nicht bloß eine Vorstellungsorientierung und deren Ordnung und Organisation, sondern bringt ihr Orientierungsschema durch schematisierende Verbildlichung und Verdichtung selbst hervor: Durch das Setzen von immer neuen begrenzenden Wahrnehmungshorizonten vervielfältigen sich die Umfänge des Bedeutungsrelevanten, indem immer neue organisierende Wahrnehmungszentren und damit Umwelten entstehen. Bewegungsdynamisch ist diese zur umweltlichen Wahr­ neh­ mungs­orientierung gehörende Leistung der Ordnung und Organisation in doppelter Hinsicht: Sie vollzieht sich einmal in der zur räumlichen Wahrnehmungsbewegung gehörenden Fluktuation, einem Orien­tierungswechsel der Zuwendung zu immer wieder anderen Dingen, und behält von daher stets die Form der assoziativen Mehrheitserfassung. Zum anderen kommt die Synthesis der einzelnen Wahrnehmungen hier nicht durch eine vergegenständlichende Vorstellung a priori zustande, sondern in der Wahrnehmungsbewegung und durch sie, also a posteriori in einem dynamischen Prozess der assoziativen Verdichtung. Organisation entsteht hier freilich nicht aus der kausalen assoziativen Dynamik allein, sondern erst in Verbindung mit der zur Wahrnehmungsorientierung gehörenden intentionalen Sinngebung. Die Wahrnehmungsintentionalität schafft thematische Zentren, um die herum sich andere Themen verdichten, d. h. mehr oder weniger fest assoziieren. Habituell verfügbar wird diese assoziative Verdichtung durch das in der rhythmischen Wahrnehmungsbewegung sich artikulierende Wahrnehmungsinteresse und seine Wiederholungsdisposition, durch die sich ein mehr oder weniger stabiles Orientierungsschema der Bedeutungsrelevanz diakritisch entwickelt. Zur »Organisation« im Vollsinne, welche über die pure Ordnungsleistung einer Synthesis der funktionellen Differenzierung von Elementen hinausgeht, gehört die Funktion der Selbsterhaltung. An639 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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ders als bei einem durch Reproduktion sich selbst erhaltenden, beständigen System ist die Selbsterhaltung einer sich selber organisierenden Bewegung eine dynamische im Wechselspiel des Entstehens und Vergehens, der tendenziellen Auf‌lösung und restitutiven Erneuerung seiner Ordnung: Die diakritische Entwicklung organisiert das Wahrnehmungsfeld entsprechend in einem Restitutionszusammenhang, wo es darum geht, der Auf‌lösung der assoziativen Zusammenhänge durch destabilisierende, fluktuierende Interessenlagen stabilisierend entgegenzuwirken, indem die Bedeutung, welche das thematische Objekt für die ganze Wahrnehmungsbewegung hat, über die Zuwendung entscheidet und nicht das einzelne Weckungserlebnis, die okkasionelle Affektion. Der durch immer wieder andere Affektionen bedingte Wechsel der Aufmerksamkeit stellt eine permanente Quelle der Zerstreuung dar, in welcher die geordnete, um ein thematisches Zentrum herum kreisende Wahrnehmungsbewegung ihre Konzentration einzubüßen und sich damit überhaupt als eine einheitliche und das Wahrnehmungsfeld dauerhaft organisierende Bewegung aufzulösen droht. Es ist die wahrnehmungsintentionale Sinngebung assoziativer Kausalität, die solchen durch die Assoziativität des Wahrnehmungsfeldes gegebenen (Selbst-)Auf‌lösungstendenzen Einhalt gebietet: Die Bildung immer wieder neuer und anderer okkasioneller Wahrnehmungszentren aus dem affektiven, bewegungsdynamischen Kontinuum wechselnder Aufmerksamkeit heraus unterbindet wirksam das aktive Wahrnehmungsinteresse durch die Unterbrechung dynamischer Wechselwirkungen, die mit der Orientierung an der Bedeutung und nicht der attraktiven Reizqualität des Objektes verbunden ist.228 Eine wirklich bewegungsdynamische Organisation zu verkörpern heißt für die Wahrnehmungsorientierung aber auch, dass sie als eine reflexive Form thematischer Objektivierung stets eingebunden bleibt in die Kausalität des Weckungserlebnisses. Die Wiederholung einer Wahrnehmung behält so die Zweideutigkeit, durch die Orientierung an der Bedeutung die Bindung an die Affektion zu lösen oder aber gerade, wenn sie ein peripheres und eher unbedeutendes thematisches Zentrum trifft, als eine Affektverstärkung zu wirken und damit die 228 Die Wirksamkeit solcher restituierender Prozesse der bewegungsdynamischen, diakritischen Entwicklung eines geordneten Wahrnehmungsfeldes der thematischen Objektivierung kann hier nur angedeutet werden, die sich im Rahmen einer formdynamischen Analyse musikalischer Sinngebungsprozesse konkret analysieren lassen. Vgl. dazu meine systematische Studie Musikalische Intentionalität [Kaletha 2018].

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thematische Gewichtung zu verschieben.229 Das Orientierungsschema umweltlicher Wahrnehmungsorientierung stellt demnach alles andere als eine starre Formkonstante, vielmehr ein höchst beweglich-veränderliches Feld dar, in welchem sich relativ stabile thematische Zentren beständig auf‌lösen und verschieben, indem sie durch andere ersetzt werden. Die assoziative Verknüpfung immer neuer und anderer Wahrnehmungszentren führt zu einer stetigen Lockerung und zugleich Verfestigung des bereits entwickelten Schemas. Die diakritische Entwicklung solcher assoziativer Verbindungen mit der Funktion thematischer Bedeutungsrelevanz schließt das Feld, in dem sich die Wahrnehmung orientierend bewegt, gleichsam ab, indem sie das thematisch Bedeutungsrelevante umgrenzend einschließt, das Unthematische und Irrelevante als zum umgebenden »Rand« gehörend dagegen ausgrenzend ausschließt. Doch bleibt dieser geschlossene Bedeutungszusammenhang wahrnehmungsintentionaler Sinngebung stets das Moment eines kausalen Wirkungszusammenhangs, insofern auf‌lösende Tendenzen genetisch-phänomenologisch zur kausalen Motivation der intentionalen, affektiven Weckung von Aufmerksamkeit untrennbar gehören. Letztlich überwiegt jedoch die Tendenz zur Stabilisierung des Feldes, indem die intentionale Sinngebung kausaler Affektivität und Assoziativität statt – rein kausaler – Auf‌lösung nunmehr die – sinnvermittelte – Verschiebung von Wahrnehmungszentren durch ihre Aufnahme in die Wiederholungsbewegung der Wahrnehmung zur Folge hat. Es sind letztlich diese Sinnverschiebungen, welche den Reproduktionsbegriff als solchen in Frage stellen. Auch wenn der Begriff der identischen Reproduktion nicht zuletzt durch die Psychologie längst ausgehöhlt erscheint – der kausale Zusammenhang der Assoziation und Reproduktion enthält wirklich ausweisbar keine anderen als immer nur veränderliche reproduktive Leistungen – so hält doch die konstitutionstheoretische Idealisierung im erkenntnistheoretischen Interesse an der Identität des zu Reproduzierenden fest im Sinne einer prinzipiellen, methodischen Rekonstruierbarkeit des eindeutigen Wiedererkennens Desselben in einem Restitutionszusammenhang der Konstitution und Wiederkonstitution.230 Damit jedoch 229 Auch diese Doppeldeutigkeit der Affektverstärkung und der Zurückdrängung affektiver Auslösung enthüllt letztlich eine phänomenologisch-intentionalanalytisch fundierte formdynamische Analyse musikalischer Themenbildungen. Vgl. dazu Kaletha 2018. 230 Vgl. dazu insbesondere Teil B, Kap. II,3.

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wird das methodisch längst Unumgängliche umgangen, den Begriff der Reproduktion einer Revision zu unterziehen, welcher der realen Unmöglichkeit unveränderlicher Reproduktion Rechnung trägt. Es ist deshalb das philosophische Verdienst von Gille Deleuze, Wiederholung und Reproduktion formal und begriff‌lich unterschieden und damit die Grenzen der Reproduktionstheorie überschritten zu haben. Indem sich die Reproduktion auf ein vorgegebenes Identisches bezieht, welches sie reproduziert, erweist sie sich in ihrem Vollzug als abgeschlossen und endlich. Die Wiederholung dagegen verkörpert nach Deleuze mit Nietzsche gedacht eine Art ewige Wiederkehr des Gleichen, einen unabgeschlossenen, offen-unendlichen Vollzug, wo statt Identität Diversität durch permanente Sinnverschiebung erzeugt wird, sodass weder ein Identität ursprünglich konstituierender, zu reproduzierender Anfang noch ein den Ursprung und Anfang einholendes Ende der Reproduktion rekonstruiert werden kann. Deleuzes strukturalistische Interpretation der Wiederholung löst sich jedoch nicht völlig von der Reproduktionstheorie, indem sie die Reproduzierbarkeit totalisierend auf die Strukturebene verlagert. Zwar zeichnet die Wiederholung im Unterschied zur identitätsbildenden Reproduktion die Differenzbildung und damit eine Dynamik permanenter Sinnverschiebung aus, doch wird das singulär Differierende der Wiederholung als die permutative Variable einer umfassenden Struktur verstanden231, die sich als Ganze in jeder Sinn verschiebenden Wiederholung reproduziert. Es geht auf diese Weise »nichts verloren, da jede Reihe nur in der Wiederkehr der anderen existiert« [Deleuze, S. 98]. Bei Deleuze reduziert sich die zur Wiederholung gehörende Dynamik der Veränderung strukturalistisch-funktionalistisch auf eine solche reiner Sinnverschiebung. An die Stelle der kausalen Vermittlung veränderlicher Sinngebungen, wodurch sie eingebettet erscheinen in eine die Ordnung assoziierend auf‌lösende und wiederherstellenden Wiederholungsbewegung, tritt eine logifizierende strukturalistische Vermittlung, wodurch die Verschiebung letztlich jeglichen Bewegungssinn verliert, indem sie funktionalistisch zur logischen Variable eines sich vollständig selbst erhaltenden Systems der Bedeutungskonstitution wird. Aus Deleuzes Begriff der Wiederholung folgt deshalb auch keine Konzeption einer bewegungsdynamischen, diakritischen Entwicklung.

231 Die mit der Wiederholung verbundene Sinnverschiebung besteht in einem »Theater, bestehend aus Metamorphosen und Permutationen« [Deleuze, S. 84].

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Die Unterscheidung von Reproduktion und Wiederholung führt erst dann zu einer Revision der Begriffe Ordnung und Organisation, wenn sie sich mit einer Konzeption von Intentionalität verbindet, welche die Vielfalt intentionaler Bezugnahme nicht lediglich auf eine Modifikation vorstellungsintentionaler Objektivierung reduziert. Nicht zuletzt ist es der erkenntnistheoretische Antinaturalismus und Anti­ psychologismus, welcher die vorstellungsintentionale Vergegenwärtigung privilegiert ihrer Form einer schlechterdings vorreflexiven und akausalen Bezugnahme auf den reinen Sinngehalt wegen. In der klassischen philosophischen Anthropologie entsteht so der Zwiespalt, dass einerseits der kausale Ursprung menschlicher Organisation in der naturgeschichtlichen Entwicklung seiner besonderen Wahrnehmungskonstitution gesehen wird, andererseits aber die Unterstellung einer ursprünglich sinnstiftenden vorstellungsintentionalen Vergegenwärtigung dazu führt, dass die mit der intentionalen Objektivierung verbundene Ordnungsleistung gerade nicht in der Wahrnehmung verankert wird. Die philosophische Anthropologie erblickt in der beim Menschen durch die Instinktreduktion freigesetzten assoziativen Wahrnehmungsdynamik die kausale Bedingung für die objektivierende Sinngebung der Kulturstiftung. Anstatt jedoch eine die Wahrnehmungslage insgesamt stabilisierende restitutive Funktion solcher Sinnstiftungen in der Wahrnehmung zu suchen, betont sie statt dessen die Substitution der Wahrnehmung durch ein Vorstellungs­objekt mit der Funktion der Entlastung: Menschliche Wahrnehmungsdynamik als ein desorganisierender Faktor erscheint so vollständig gebändigt in ihrer Ersetzung durch ein stabiles System von Vorstellungs­ objekten, welche das Chaos durch Ordnung ersetzt. So spricht Arnold Gehlen den Körperschaften und Institutionen die Aufgabe zu, die mit der Instinkt­reduktion drohende »Reizüberflutung« gar nicht erst zuzulassen: »Ganz sicher bilden die Sitten, Rechtsgewohnheiten und Institut­ionen einer Gesellschaft die Grammatik, nach deren Regeln sich unsere Antriebe artikulieren müssen; vielleicht sind sie überhaupt die großen Vereinfacher, die jene großen Synthesen, in denen die verschiedensten Antriebe zu Gesinnungen verschmelzen, hervorbringen und von außen stützen. Sind diese haltgebenden Mächte erschüttert, dann zerfallen diese Gesinnungen in wechselnde Impulse, die stammeln und kauderwelschen, weil sie die gemeinsame Sprache verloren haben.« [Gehlen 1961 a, S. 62] Gerade hier zeigt sich in Gehlens Anthropologie die konstitutionstheoretische Privilegierung der Vorstellungsorientierung mit dem damit verbundenen statischen Regel-Ob643 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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jektivismus. Sprachliche »Grammatik« erscheint bei Gehlen nicht als sprechende, sondern gesprochene Sprache232, verfestigt zu der eines gegenständlich Vorstellbaren: gesellschaftlichen Institutionen mit ihren Regeln und Normen. Methodisch sieht die Anthropologie daran vorbei, dass sprachliche Artikulation genetisch die Bedingung ist nicht nur für die Habitualisierung einer Vorstellungs- und Erkenntnisorientierung, sondern auch einer Wahrnehmungsorientierung in ihrer intentionalen Bedeutsamkeit. Dabei handelt es sich allerdings um ein nicht systemisches sondern lebensweltliches, umweltliches Sprechen, was sich – a priori unfixierbar und unregulierbar – in einer singulären Gesprächssituation ereignet. Die Konstitution einer sprachlichen Regel-Syntax wie auch normativer Gesetzgebungen von Institutionen setzt die Ersetzung des Einzelnen der Wahrnehmung durch eine All­ gemeinvorstellung voraus. Reproduktion wird erst möglich im Feld des Allgemeinen, durch den Begriff, welcher den Vorstellungen die unveränderliche Identität des Allgemeinen verschafft, einer wirklich dauerhaften Sinnstiftung »ein für allemal«, welche bleibenden Erkenntnisbesitz garantiert. [Husserl 1972, S. 232] Weil sich innerhalb der singulären Wahrnehmungssituation keine solche vorstellungsintentionale Transzendierung des Einzelnen auf ein Allgemeines hin findet, gelangt das organisierende Wahrnehmungsinteresse und seine reflexive Form intentionaler, thematischer Objektivierung auch zu keiner reproduktiven Leistung von wahrnehmungsunabhängigen Allgemeinheiten normativer Verbindlichkeit. Die sprachliche Artikulation bildet entsprechend eine vorprädikative, noch nicht systemisch verfestigte bewegungsdynamische, assoziative Syntax aus, welche sich jeder vorstellungsintentionalen Objektivierung durch institutionelle (Sprach-)Regelungen entzieht. Wo es darum geht, nicht Vorstellungen und Begriffe, sondern ein Wahrnehmungsinteresse zu artikulieren, geschieht dies nicht generalisierend sondern individualisierend mit der Habitualisierung einer Wiederholungsstruktur, durch die sich ein thematisches Feld des Bedeutungsrelevanten stabilisiert. In der wahrnehmungsintentionalen, assoziativen Syntax artikuliert sich schließlich die Wahrnehmungsbewegung wechselnder Aufmerksamkeit in einer reflexiven Wiederholungsform, in der sich immer wieder 232 In der sprechenden Sprache (frz. parole parlante) begegnet uns nach Maurice Merleau-Ponty »die Bedeutungsintention in statu nascendi«, während die gesprochene Sprache (frz. parole parlée) objektiviert, »eine Sprachwelt und eine Kulturwelt« schafft [Merleau-Ponty 1966, S. 232].

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thematisch-gewichtend das zu Beachtende vom weniger zu Beachtenden, die Hauptsache von der Nebensache scheidet: Eine solche situativ entwickelnde Logik der Gesprächsführung arbeitet der zerstreuenden »Reizüberflutung« durch Ablenkung, den affektiven Tendenzen permanenten Orientierungswechsels, entgegen, indem sie vieles Wahrgenommene mehr oder weniger flüchtig übergeht, wie auch das, was nur beiläufig interessiert, nicht eigens thematisiert, während sie zentralen Gedanken die thematische Bedeutung von intentionalen Wiederholungsmotiven für das wiederholte Besprechen verleiht.233 Solche beweglichen Wiederholungsstrukturen der assoziativen Syntax sind es auch, welche – aller vorstellenden Objektivierung und »Reproduktion« zuvorkommend – die intentional-orientierte Wahrnehmungsbewegung habitualisierend in Form einer unartikulierten, die aktuellen Wahrnehmungen selektierenden Bedürfnislage eingehen. Die intentionale Wahrnehmungsbewegung und ihre periodische Form der Wiederholungsbewegung zeigt die Wirksamkeit und Notwendigkeit der sprachlichen Habitualisierung auch von umweltlicher Situativität: Die noch unartikulierte periodisch-räumlichen Bewegung vollzieht sich auf einer Kreisbahn, auf der alle Punkte letztlich gleich berechtigt sind, weil sie in ihrem endlosen Kreisen weder Anfang noch Ende kennt. Zur Setzung eines Anfangspunktes, von Wendepunkten und bloßen Durchgängen in einer solchen Periode kann es deshalb erst kommen durch das Wahrnehmungsinteresse und seine sprachliche Artikulation, welche bloßen Durchgangspunkten im Durchlauf der Bewegung die Bedeutung von festen Orientierungspunkten im Sinne von Ausgang und Ende gibt. In der Institutionalisierung von vorstellungsintentionalen Regelstrukturen und Normen dagegen transzendiert sich das umweltlich Wahrgenommene von vornherein auf eine »Welt«-Totalität der Vorstellung hin. Von daher wird zwar die system­ stabilisierende, anthropologische Entlastungsfunktion der substituierenden Vorstellung verständlich, nicht aber auch die ihr zugrunde liegende restitutive Selbsterhaltung einer Wahrnehmungs- und Umweltorientierung in der diakritischen Entwicklung eines organisierten 233 Wiederholungsstrukturen des artikulierten Wahrnehmungsinteresse bilden genau dann syntaktische Strukturen aus, wenn die Wiederholung nicht nur im Vollzug der Wiederholungsbewegung besteht, sondern auf der themati­ schen Setzung von Wiederholungsmotiven und ihrer intentionalen Erfassung beruht. Exemplarisch aufzeigen lässt sich dies am Beispiel musikalischer Themenbildungen und Reprisenformen. Vgl. dazu meine Studie Musikalische Intentionalität [Kaletha 2018].

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Wahrnehmungsfeldes. Weltoffenheit und Umweltorientierung stellen demnach keine anthropologischen Antithesen dar, welche auf die biologische Konstitution von Mensch und Tier zu verteilen wären, sondern ergänzen einander. Phänomenologische Begriffe entspringen einem methodischen Konstrukt, der »phänomenologischen Reduktion«, welche sich auf die Analyse von Gegebenheiten des Bewusstseins beschränkt. Die Vertiefung der »statischen« zu einer genetisch-phänomenologischen Betrachtung zeigt jedoch die kausalgenetische Vermittlung gerade derjenigen sinnstiftenden Intentionalität, welche es der »Reduktion« des Phänomenologen erlaubt, von der Kausalität vollständig ab- und nur auf die Bedeutungs- und Sinnkonstitution hinzusehen. Die Entdeckung der kausalgenetische Dimension innerhalb der phänomenologischen Sphäre vermeintlich reiner Sinngebung zeigt: »Organisation« ist weder ein purer Sinn-, noch ein reiner Kausalbegriff. Reflexionsbegriffe lassen sich offenbar nicht – sei es naturalistisch-reduktionistisch oder phänomenologisch reduktiv – regionalontologisch verorten als die Auszeichnung besonderer Sachverhalte: als Beschreibungen von Bewusstseinsphänomenen oder Naturerscheinungen. Wie der phänomenologische Reflexionsbegriff des organisierenden Wahrnehmungsinteresses kein reiner Sinnbegriff ist, so lässt sich umgekehrt der »Natur«-Begriff bewegungsdynamischer Prozesse, sofern er zu einem Reflexionsbegriff von »Selbst«-Organisation erhoben wird, keineswegs als reiner Kausalbegriff fassen. Der Reflexionsbegriff arbeitet mit einer Analogie der Ordnung des Erkenntnisobjekts mit der Form der Erkenntnisgewinnung, die sich nicht ausweisen muss durch den Nachweis, dass formale und inhaltliche Entsprechungen zwischen Sachverhalten bestehen.234 Das Bewusstsein hat so transphänomenologisch lediglich den methodi­ schen Vorrang, darüber Aufschluss zu geben, wie auch unbewusste Vorgänge so begriffen werden können, dass in ihrer mechanischen Kausalität zugleich eine organisierende Leistung sichtbar wird. Über eine bloß »beschreibende« Physik, welche nur diejenigen in der Bewegung aktuell wirksamen Bewegungsgesetze erfasst235, geht der Versuch hinaus, eine wirkende Organisation nachzuweisen, deren Wirkung nicht nur kausal, sondern zugleich intentional als die Reali­ 234 Vgl. dazu auch die methodischen Ausführungen in der Einleitung, Abschnitt V. 235 Diese Position in radikaler Gestalt einer »phänomenologischen Physik« vertraten Kirchhoff, Mach und Stallo. Vgl, dazu die historisch-systematische Darstellung bei Cassirer [Cassirer 1973, S. 96 ff].

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sierung einer Disposition zu verstehen ist. Dieser Begriff einer kausal wirksamen Disposition ist etwas, was die Gesetzesbeschreibung von Phänomenen leitet in Form eines nicht empirischen, sondern transzendentalen regulativen Prinzips, einer reinen Möglichkeitsbestimmung des Wirklichen und Faktischen. Die Reproduktionstheorie der Organisation von Hegel angefangen bis hin zu Maturana und Luhmann verkürzt den leitenden intentionalen Sinn der Bestimmung des Wirklichen durch das reflexiv Mögliche von vornherein auf den einer Aktualisierung von Ordnungsdispositionen. Bezeichnend ist der »Organismus« für Helmuth Plessner »per definitionem ein System, ein Ensemble von Funktionen auf Gegenseitigkeit« im Sinne eines »Funktionssystems« [Plessner, S. XVI]. Damit jedoch wird die organisierende Dynamik zu einer Auslösungsdynamik und bewegungsdynamische Prozesse verlieren ihren organisierenden Sinn, indem sie nur noch als destruktive Faktoren in den Blick kommen, welche Organisation zerstören statt sie aufzubauen. Die methodischen Schranken eines solchen System- und Funktionsbegriffs von Organisation werden in genetisch-phänomenologischer Analyse deutlich, indem sie auf die verschiedenen Quellen intentionaler Sinngebung reflektiert: Wahrnehmung und Vorstellung. Der Reflexionsbegriff einer wirksam organisierenden Disposition ist demnach in zweifacher Hinsicht zu verstehen: Die an der Vorstellungs­ intentionalität orientierte konstitutionstheoretische Bestimmung fasst Dispositionen als Ordnungsdispositionen auf, die als Vermögensdispositionen in einem Reproduktionszusammenhang aufgehoben sind. Die feldtheoretische Betrachtung dagegen kommt durch ihre Entdeckung der Wahrnehmungsintentionalität dazu, die organisierende Leistung als eine Bewegungsdisposition in Gestalt einer nicht geordneten, sondern ordnenden Wiederholungshandlung zu verstehen. Der Reflexionsbegriff der diakritischen Entwicklung ist auf diese Weise zunächst rein phänomenologisch gefasst. Transphänomenologisch und universell lässt er sich transformieren zu einem regulativen Prinzip intentionaler Sinnvermittlung, das konkret nach Kausalitäten sucht, mit welchen sich eine Funktion der bewegungsdynamischen Organisation aufweisen lässt. Grundlegend für die transphänomenologische Bildung eines regulativen Begriffs der diakritischen Entwicklung ist eine Konzeption von Kausalität als ein Wahrnehmungsbegriff im Sinne von organisierender Selbstreferenzialität, aus dem sich alle weiteren Begriffsbildungen ableiten. »Selbstreferenzielle« Kausalität versteht sich von daher transphänomenologisch als eine, welche nicht 647 https://doi.org/10.5771/9783495817629 .

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nur Wirkungen hat, sondern Wirkungen immer auch registriert, um damit neue Wirkungen hervorzubringen in einem Restitutionszusammenhang der diakritischen Entwicklung. Die Wahrnehmungsbewegung organisiert sich genetisch-phänomenologisch betrachtet selbst gerade nicht, indem sie umfassende (System-)Vorstellungen reproduziert. Somit lässt sich die Diakrisis, welche ein geordnetes Wahrnehmungsfeld von seiner ungeordneten Umgebung absondert, aus keiner Differenzbildung der Inklusion und Exklusion ableiten, die aus der Konstitution eines reproduktionsfähigen, geschlossenen Funktionssystems resultiert. Daraus wiederum ergibt sich transphänomenologisch der Begriff einer Wiederholungshandlung, welche weder in einer System-»Reproduktion« besteht noch in der Tautologie der Akkumulation mechanischer Wiederholung aufgeht. Von besonderer Bedeutung erweist sich dabei der »Rand«-Begriff der phänomenologischen Feld­ theorie. Die Grenze der geordneten zur ungeordneten Bewegung wird durch die Bewegungsdynamik selbst geschaffen, wodurch schließlich der physikalische Atomismus seine naturalistischen Schranken los wird, indem er durch transphänomenologische Sinnvermittlung aufgewertet wird: Die diakritische Entwicklung ist eine »mechanische Entwicklung« wie Kant sie fasste, welche allerdings zugleich immer mehr ist als bloß mechanische Kausalität, indem sie phänomenologisch-transphänomenologisch reflektiert eine intentionale Kausalität erkennen lässt, mit der sich ein geordnetes Feld durch eine verdichtende Rekursivität bewegungsdynamischer Prozesse stabilisiert.

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