Orientierung und Ander(s)heit: Spielräume und Grenzen des Unterscheidens 9783787341160, 9783787341153

Dieses Buch erprobt eine neue Form philosophischen Schreibens: In sechs abwechselnd verfassten Kapiteln bringen die beid

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German Pages 276 [277] Year 2021

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Orientierung und Ander(s)heit: Spielräume und Grenzen des Unterscheidens
 9783787341160, 9783787341153

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Liebsch | Stegmaier Orientierung und Ander(s)heit

Orientierung und Ander(s)heit Spielräume und Grenzen des Unterscheidens Burkhard Liebsch Werner Stegmaier

Meiner

Burkhard Liebsch / Werner Stegmaier

Orientierung und Ander(s)heit Spielräume und Grenzen des Unterscheidens

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4115-3 ISBN eBook  978-3-7873-4116-0

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, ­soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei ­gebleichtem Zellstoff.  Printed in Germany.

INHALT

Vorwort   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Kapitel I · Orientierung durch Unterscheiden Anhaltspunkte bei Nietzsche, Wittgenstein und Luhmann  . . . . 19 Werner Stegmaier

Einleitung. Orientierung in unübersichtlichen Situationen: Unterscheidung als Prozess und Produkt  21 | 1. Unterscheiden als Prozess der Abgrenzung: Grenzen als Anhaltspunkte der Orientierung 25 | 2. Unterscheiden als Prozess der Abgleichung: Gleichsetzungen zur Vereinfachung der Orientierung  28 | 3. Unterscheiden als zeitlicher Prozess: Zeit der N ­ euorientierung  30 | 4.  Alternativität des Unterscheidens: Entscheidungen zwischen Unterscheidungen und zwischen ihren Seiten 33 | 5. Asymmetrisierung des Unterscheidens: Wertungen als Halt in Unterscheidungen 35 | 6. Selbstunterscheidung im Unterscheiden: Distanz zum Gegenstand des Unterscheidens  37 | 7. Unterscheiden durch Sprache: Spielräume für Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit 40 | 8. Grenzen des Unterscheidens: Paradoxie und Anderheit 42 | 9. Unterschied als Produkt: Denken von Begriffen, Identitäten und Entitäten  44 | 10. Ordnungen aus Unterschieden: Unkontrollierte und kontrollierte Verallgemeinerungen  48 |  11. Agonale Ordnung von Orientierungen: Positionierung auf ­einer Seite von Unterscheidungen 56 | 12. Digitalisierung von Unterscheidungen: Technische Standardisierung globaler Orientierungsprozesse 59

Kapitel II · Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen in radikaler Krisis der Welt Alterität und Orientierung im Ausgang vom Werk ­ Hermann Brochs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Burkhard Liebsch

1. Welt und Wirklichkeit nach der Zerstörung des Kosmos  65 |  2. Das Gegebene, Unterscheiden und Vergleichen  67 | 3. Erschüttertes Weltvertrauen  69 | 4. ›Du‹ und der Andere als solcher: Ende der Alteritätsvergessenheit?  73 | 5. Flucht in die Abgeschiedenheit und das Pathos der Erfahrung  78 | 6. Die Frage nach dem Anderen – in entweltlichter Welt und entwirklichter Wirklichkeit 81 | 7. Zwischen Literatur und Philosophie  84 | 8. Direkter Ansatz bei der Begegnung mit Anderen als solchen: Dialogisten und Sozialphänomenologen bis hin zu Emmanuel Levinas  87 |  9. Diskretes Nicht-Wissen – nicht-privativ vorgestellt 93 |  10. Bezeugte Alterität als bloßer ›Rest‹?  98 | 11. Orientierung im Unübersichtlichen durch ›Beobachtung‹?  101 | 12. Chiasma von radikaler Alterität und Orientierung  107

Kapitel III · Orientierung an Alterität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Werner Stegmaier

Einleitung 117 | 1. Die Welt, in der wir uns orientieren: Sich-Zurechtfinden in und Bewältigen von Situationen  121 | 2. Selbst-Beobachtung: Beobachten des Beobachtet-Werdens  128 | 3. Andere in der eigenen Welt: Orientierung am Gesicht des Andern  133 |  4. Orientierung als Sich-Ausrichten auf Alterität: Alltägliche Orientierungstugenden 138 | 5. Ethische Orientierung an Alterität: Infragestellung der ­eigenen Moralität durch andere Moralitäten 141 | 6. Politischer Umgang mit Alterität: Abstimmung statt Übereinstimmung mit Anderen  144

6 | Inhalt

Kapitel IV · Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger ­Weltdeutungen Unterscheidbare Alterität des Anderen als Surrogat? . . . . . . . . 147 Burkhard Liebsch

1. Vom metastabilen kósmos zur Radikalität des Unterscheidens 149   |  2. Der Name der Rose : Umberto Ecos Dekonstruktion ›­mittelalterlicher‹ Orientierung  157 | 3. Anthropologische Konsequenzen: Von menschlicher ›­Unbestimmtheit‹ bis hin zu Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen 165 | 4. Zur Sozialphilosophie menschlicher Alterität  171 | 5. Alterität als Orientierung und maßgeblicher Unterschied?  176

Kapitel V · Bilanz A Angewiesenheit von Orientierung und Alterität a­ ufeinander  . . 185 Werner Stegmaier

1. Keine ›absolute Orientierung‹ 187 | 2. Alteritätszugewandte Orientierung 195 | 3. Orientierung an Alterität im akademischen Diskurs 203

Kapitel VI · Bilanz B Alterität, Orientierung und die Frage nach einer bewohnbaren Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Burkhard Liebsch

1. Alterität als umstrittene Kategorie oder als Widerfahrnis  209 | 2. Jenseits oder diesseits des Wissens  213 | 3. Alterität angewiesen auf Orientierung – in Perspektiven der Teilnahme und der Beobachtung 217 | 4. Normative Implikationen?  223

Siglen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Inhalt | 7

VORWORT

Als ein elementares »Bedürfnis der Vernunft« galt es Kant, sich zu orientieren: physisch im »Gefühl eines Unterschiedes« am »eigenen Subjekt«, das die Himmelsrichtungen richtig bestimmen kann, aber auch geistig im »Raume des Übersinnlichen«, wo tiefe Nacht herrscht, wie er meinte. In jedem Fall sollte man sich selbst orientieren, selbst denken und nicht in womöglich selbst verschuldeter Unmündigkeit verharren. Als Unmündigkeit, Konformismus oder gar Hörigkeit würde man wohl heute noch eine unbedachte Orientierung an Anderen bezeichnen, gegen die sich Kant indirekt gewandt hatte. Dagegen ist etwa ein Jahrhundert später die kritische Orientierung an Anderen zu einem Politikum geworden. So beruft man sich oft auf Rosa Luxemburg, die postulierte, unsere Freiheit sei in erster Linie »die Freiheit des Andersdenkenden«, womit sie auch die Anderslebenden und -liebenden gemeint haben könnte, wie sie heute im Zentrum einer inklusiven »Politik der Differenz« stehen, die alle – einschließlich ihrer unabsehbaren Verschiedenheit – anerkannt sehen will und niemanden ›zurück-‹ bzw. ›draußenlassen‹ möchte. So, hoffen viele, könnte es endlich möglich werden, »ohne Angst verschieden« zu sein bzw. zu bleiben oder zu werden, wie es schon Theodor W. Adorno in seinen Minima Mora­lia verlangte, ohne damit eine bloße Utopie im Auge zu haben. Wie auch immer es um die konkreten Realisierungsperspektiven einer solchen Politik bestellt sein mag, sie plädiert gewiss nicht für Fremdbestimmung anstelle der Selbstbestimmung, die Kant als Mündigkeit des Bürgers forderte. Und dennoch suggeriert sie eine früher nicht gekannte Maßgeblichkeit des ›Anderen‹ als solchen und scheint uns ans Herz zu legen, sich an seinem Anderssein zu orientieren. Wäre eine Politik, die jedem in Anbetracht seines Andersseins auf diese Weise gerecht zu werden verspricht, nicht angebracht? Oder sind alle Anderen nicht auf unübersehbare Weise 9

›anders‹, so dass allein damit, d. h. mit ihrer Alterität, keine ohne Weiteres konkretisierbare Orientierung zu verknüpfen wäre? Kann oder soll man sich an Anderen orientieren, wenn sie sich auch als ›ganz anders‹ und derart fremd herausstellen können, dass es keinerlei ›Gemeinsamkeit‹ mit ihnen geben zu können scheint? Führen uns solche Fragen womöglich in religiöses Gelände, wo niemand definitiv zu sagen weiß, ob ein ›radikal‹ oder gar ›absolut‹ Anderer überhaupt existiert (wenn nicht im theologisch längst liquidierten ›Himmel‹), ob man ihm je ins Angesicht sehen oder unter die Augen treten kann oder ob es sich letztlich nur um eine gespenstische Vorstellung handelt, die uns vielleicht gewisse ›Ahnen‹ eingeflüstert haben, wie Paul Ricœur zu bedenken gab? Schon diese Fragen machen deutlich, welch gewaltiges Irritationspotenzial in Begriffen wie Verschiedenheit, Differenz, Ander(s)heit oder Alterität liegt. In der Gegenwart sind sie zu Leitfragen einer wirkungsvollen Identitätspolitik geworden. Sie soll für Entdiskriminierung sorgen, führt zugleich aber zu neuen Diskriminierungen, weil auch und gerade hier unterschieden werden muss. Desorientiert sie mehr als sie orientiert? Wäre da nicht zu klären, was Orientierung an Ander(s)heit und darüber hinaus Orientierung überhaupt bedeutet und was sie leisten kann? Es liegt nahe, sich dazu an die umfassende Philosophie der Orientierung zu wenden, die Werner Stegmaier 2008 vorgelegt hat. Auf der andern Seite aber muss man prüfen, ob die Andersheit der Anderen oder ihre in begrifflichen Unterscheidungen nicht mehr fassbare ›Anderheit‹ das Sich-Orientieren im Denken, wie Kant es nannte, nicht so irritiert und desorientiert, dass sie damit ›nicht fertig wird‹. Das Ergebnis könnte sein, dass das Einander-ausgesetzt-sein, wie es Burkhard Liebsch zuletzt ausgelotet hat, zu kreativen Neuorientierungen führt, die die aufklärerische Vernunft nicht leisten kann. Die Philosophie der Orientierung findet wichtige Anhaltspunkte bei Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Niklas Luhmann, die Philosophie der Ander(s)heit oder Alterität bei Emmanuel Levinas, Jacques Derrida und Paul Ricœur. Orientierung und Alterität sowie dabei auch diese Autoren produktiv aufeinander zu beziehen, ist noch nicht versucht worden. Das soll in diesem schlanken Buch geschehen. Wir tun das in sechs aufeinanderfolgenden Beiträgen, in denen wir uns schrittweise weiter auf Ansätze 10 | Vorwort

des jeweils anderen beziehen und uns von ihnen zu denken geben lassen, ohne eigene dabei sogleich aufzugeben. So differenzieren sich beide Ansätze im Zeichen des andern. Dabei kommen auch Grundfragen des Sozialen und des Politischen ins Spiel. Ausgangspunkt ist das Unterscheiden als solches, die Orientierung durch Unterscheiden. Am Ende steht die offene Frage, wie Normen der Orientierung an Anderen damit zu verknüpfen sind. Bochum und Greifswald, im August 2021 Burkhard Liebsch und Werner Stegmaier

Vorwort | 11

EINLEITUNG

Womit auch immer wir in unseren Wahrnehmungen, Vorstellungen und Urteilen zu tun haben, unterscheiden wir oder ist schon unterschieden. Wo nichts unterschieden ist oder nichts sich unterscheidet, kann man sich dazu nicht verhalten. Dann tritt Orientierungslosigkeit ein, die zunächst Irritation, dann Verunsicherung, in bedrohlichen Situationen Angst und, wenn die Angst anhält, Verzweiflung und Depression auslöst. Kennt man sich nicht mehr aus, verstrickt man sich, so Wittgenstein, notorisch in philosophische Probleme. Doch dahinter könnte selbst ein philosophisches Problem stecken, das auch Wittgenstein nicht mehr gestellt hat. Orientierungs­ schwierigkeiten werden, wenn sie nicht psychotischer Natur sind, meist rasch bewältigt. Aber wenn Sich-orientieren-Können zunächst einmal Unterscheiden-Können ist, beginnend mit Rechts und Links, Oben und Unten etc. und endend mit grundlegenden philosophischen Unterscheidungen, was heißt dann Unterscheiden? Wie funktioniert es und wodurch ist es möglich? Könnte es selbst ein, wenn nicht sogar das Problem sein? Worin und warum kann es versagen? Wenn wir durch Unterscheiden Wirklichkeit erschließen, wie verbürgt es die Wirklichkeit, die sich dadurch zeigt? Hat die Orientierung durch Unterscheiden Grenzen und wenn ja, wo? Darin, dass wir unvermeidlich individuell, von unseren jeweiligen Orientierungsstandpunkten aus unterscheiden und sich so überall Differenzen auftun? Oder an der Unbegreiflichkeit von Gegebenem schlechthin im Sinne von Hans Blumenberg? Wie gehen aus Unterscheidungen Begriffe hervor? Was sind und was veranlasst Begriffsbildungen? Was geschieht in Situationen, in denen die gewöhnlich gebrauchten Unterscheidungen und Begriffe nicht ausreichen? Wenn Unterscheidungen und Begriffe, um brauchbar zu sein, situationsgerecht sein müssen, gibt es da ein Maß der Situationsgerechtigkeit und der Feinheit des Unterscheidens? Wenn 13

aber Menschen zuletzt unbegreiflich füreinander sind, wird dann jedes Unterscheiden und Begreifen Anderer nicht übergriffig? Die Risiken des Unterscheidens durch Begriffe und des Übergriffig-Werdens des Begreifens kommen als theoretisches Problem in Sicht, wo es darum geht, ob man in schwer zu übersehenden Situationen ›die Sache trifft‹. In der herkömmlichen Erkenntnistheorie blieb das jedoch am Rande. Nichtsdestoweniger bekommt man es als praktisches Problem zu spüren in Kommunikationssituationen, in denen man mit seinen Unterscheidungen, die man arglos ›treffen‹ mag, andere ›treffen‹, nämlich ›verletzen‹ kann. Schon Platon hat das in einigen seiner Dialoge vorgeführt; voll bewusst wurde es im Zug der modernen Demokratisierung der westlichen Gesellschaften, als Einordnungen in vorgegebene Rangordnungen ihre Selbstverständlichkeit verloren. Seither ist die Aufmerksamkeit auf das Unterscheiden als solches gewachsen, wird immer mehr Unterscheidungssensibilität erwartet. Die aktuelle Gender-Debatte um Identitäten und Identifikationen könnte Ausdruck dieser fortschreitenden Sensibilisierung sein. Und gerade jetzt wappnet man sich wieder mit begrifflichen Festlegungen, die ihrerseits verletzen können. Wenn zur Orientierung Unterscheidungen von unvermeidlich verschiedenen Orientierungsstandpunkten aus und in unterschiedlichen Perspektiven getroffen werden, man aber miteinander kooperieren will und kann, muss man sich beim Sich-Orientieren durch Unterscheiden immer auch an anderen orientieren; sonst bleibt man in seiner Orientierungswelt allein. Auch bei beiderseitigem Willen zur Kooperation können jedoch aus den Unterschieden der Orientierungsstandpunkte und -perspektiven, die oft erst im Zug der Kommunikation deutlich werden, ›Differenzen‹, Unstimmigkeiten entstehen, die beunruhigende Widersprüche aufbrechen lassen, das gemeinsame Handeln stören und manchmal zu ernsthaften und bedrohlichen Streitigkeiten zwischen Personen und Gruppen, wenn nicht zu Gewalt führen. Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten können nur scheinbar sein und zum Schein beruhigen. In der Orientierung an anderen Orientierungen, denen wir von Kind auf zu folgen gewohnt sind, erlahmt leicht die Sensibilität für die Situationsgerechtigkeit des Unterscheidens, und ›die Wirklichkeit‹, die dadurch verfehlt wird, kann dann ›zurückschlagen‹ – und nicht nur in der Kommunikation in Gestalt von mehr 14 | Einleitung

oder weniger heftigen Reaktionen des Anderen, sondern auch in dem, was wir ›Natur‹ nennen: Auch die ökologische Krise nach jahrhundertelangen schweren Eingriffen in sie ist ein schlagendes Beispiel für Fehlorientierungen an nicht hinreichend bekanntem Anderem. Möglicherweise haben die Gender-Debatte und die ökologische Krise, die wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, beide im Problem der Orientierung durch Unterscheiden ihre Wurzel. Es könnte, obwohl es keineswegs neu ist, das aktuellste philosophische Problem sein. Hier spätestens stellt sich das Problem der Alterität. ›Alterität‹ nennen wir heute die ›Andersheit‹ jenseits begrifflicher Unterscheidbarkeit oder, um sie von der Andersheit von begrifflich Unterschiedenem zu unterscheiden, die ›Anderheit‹. Sie wird unmittelbar und am stärksten unter Menschen erfahren. Jeder Mensch ist immer noch ›anders‹, als man ihn durch begriffliche Identifikationen, Registrierungen, Rubrizierungen, Einordnungen jeder Art unterscheiden kann. Die Anderheit aber, die man gerade bei solchen Identifizierungen erfährt, stellt philosophisch den Zugriff durch Unterscheidungen überhaupt in Frage. Sie verlangt in jedem Fall Differenzsensibilität, nicht nur generell als Sensibilität des Unter­scheidens, sondern auch und vor allem als Sensibilität in Anbetracht der radikal fraglichen Unterscheidbarkeit und Bestimmbarkeit Anderer als solcher. Der phänomenologische Befund ist deutlich: In persönlichen Kommunikationen wollen mündige Menschen nicht der subtilen Gewalt der Unterscheidungen anderer unterworfen werden; wird man von anderen auf die offenkundige oder subtile Gewalt seiner eigenen Unterscheidungen aufmerksam gemacht, kann das ebenso bedrücken. In kritischen Situationen wird man dann fragen, in welchen Grenzen Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten überhaupt notwendig sind und, wenn sie fraglos vorausgesetzt oder ausdrücklich eingefordert werden, ob man nicht daran arbeiten muss, jeweils die Anderheit des Anderen zu wahren. In modernen demokratischen Gesellschaften wird das sichtlich zu einem hohen Gut. Aus potenziell destruktiven Streitigkeiten über einen nicht erreichbaren Konsens können konstruktive Kontroversen, Dialoge, Kompromisse und Kooperationen hervorgehen. In Kontroversen verteidigt man eigene Überzeugungen. Sie können zu Dialogen Einleitung | 15

werden, in denen man bereit ist, auch Prinzipien zur Disposition zu stellen; das geschieht meist in Kompromissen, die dann Kooperationen auch jenseits von Konsensen ermöglichen. Kompromisse sind inzwischen so selbstverständlich geworden, dass sie jederzeit als ›zumutbar‹ empfunden werden; man erwartet, dass jede und jeder ›mit Kompromissen leben‹ kann. Dennoch kann man unter ihren Zumutungen leiden; die Übergriffigkeit der Unterscheidungen und Begriffe anderer, denen man sich unterworfen hat, bleibt als fortdauerndes Unbehagen an ihnen spürbar. ›Richtet‹ man sich mit ihnen ›ein‹, können daraus Dauerdiskrimierungen erwachsen: Die anhaltenden Diskriminierungen Andersfarbiger, Andersgläubiger und Andersdenkender sind hier die signifikantesten Beispiele. Man hat uns beigebracht, hier Toleranz zu üben, mit Toleranz zu antworten. Toleranz kann jedoch auch so verstanden werden, dass sie sich auf ein bloßes Ertragen beschränkt. Dann mindert man wohl die Leiden an Diskriminierungen, geht ihnen aber nicht kritisch auf den Grund und macht sie nicht konstruktiv fruchtbar. Das Nachdenken über Alterität, das auch in der praktischen Philosophie lange am Rand blieb, muss hier weitergehen. Wir haben inzwischen vor allem von Philosophen wie Emmanuel Levinas, Jacques Derrida und Paul Ricœur, aber auch von Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels gelernt, dass der Anspruch Anderer ›unter die Haut geht‹, bevor man sich ihnen begrifflich unterscheidend und vergleichend zuwendet, und dass man in der Zuwendung zu ihnen gar nicht frei ist, sondern die Sensibilität des Unterscheidens als eine Verpflichtung erfährt, die rechtliche und staatliche Verpflichtungen überbieten oder auch unterlaufen kann. Die Erfahrung der Alterität kann eingespielte Orientierungen erschüttern, und manchmal, wie in Fällen massiver staatlicher Übermächtigungen, ist sie die letzte Instanz, um diese zu erschüttern. Unser Bestehen auf universalen Menschenrechten gibt uns wohl einen starken Halt in unserer zwischenmenschlichen Orientierung. Aber hinter allgemeinen Rechten stehen einzelne Menschen, denen die Gerechtigkeit letztlich gerecht werden muss. Sie darf in einer Orientierung an der Alterität kein Abstraktum sein. Wir wollen das Problem der Alterität also produktiv wenden: Kann man sich an Alterität und mehr noch: durch sie orientieren? Oder geht sie unvermeidlich mit einem gewissen Desorientierungs16 | Einleitung

potenzial einher? Diese Fragen entfalten sich in einem ganzen Fragenkatalog: Bietet Anderheit Anhaltspunkte für die eigene Orientierung, um ihr gerecht zu werden? Ermöglichen Orientierung und Alterität einander oder schränken sie einander ein? Oder sind sie sogar aufeinander angewiesen? Wo liegt die Verantwortung dafür und wie konstituiert sich diese Verantwortung? Wo, bei wem in der Geschichte und der Gegenwart der Philosophie, in anderen Wissenschaften oder in der Literatur kann man dafür weitere Anhaltspunkte finden? Kann eine Philosophie der Orientierung anschlussfähig auch für ein Denken der Alterität sein oder fordert die Alterität eine Umkehrung im Denken der Orientierung? Und wenn wir auf den bisherigen philosophischen Diskurs der Moderne blicken: Ist das für die ›Lebbarkeit‹ des Lebens unabdingbare Unterscheiden der Lebenssituationen, der Handelnden in ihnen, der Handlungsspielräume, die sie lassen, und der Handlungszwänge, die sie ausüben, noch zusammenzubringen mit mehr oder weniger souverän unterscheidenden und entscheidenden Subjekten? Wie unterscheiden sich solche Subjekte selbst in der menschlichen Orientierung und wie nehmen sie dabei Bezug auf andere Subjekte und Rücksicht auf sie? Kann man das mit den geläufigen philosophischen Positionierungen durch -ismen abmachen? Sind Selbstpositionierungen durch solche -ismen auf der einen und Identifizierungen Andersdenkender durch sie auf der andern Seite nicht schon Abschottungen gegen die Alterität oder bestenfalls Ausdruck ihrer Tolerierung? Die beiden Autoren dieses Buches versuchen die schwierigen Spannungsverhältnisse auszuloten, die sich zwischen den noch weitgehend getrennt voneinander diskutierten Grundbegriffen Orientierung und Alterität auftun. Dabei schwebt uns keine Synthese heterogener ›Positionen‹ vor, sondern ein Diskurs, in dem wir in einander kreuzenden Beträgen einander zu denken gegeben haben, wie einerseits Alterität Orientierungsprobleme aufwirft oder auch zu lösen verspricht und wie andererseits die menschliche Orientierung auf Alterität antworten kann, es aber auch mit einer radikalen Alteritätsproblematik zu tun bekommt, die sich nicht in ihr aufheben lässt. Wir – der eine mehr in einer Beobachterperspektive auf Orientierungen, der andere mehr teilnehmend an Verstrickungen in AlEinleitung | 17

terität – wollen das durch die beiden Gravitationspunkte Alterität und Orientierung markierte hochkomplexe Themenfeld sondieren und vermessen. Dadurch sollen auch die gegenwärtigen Identitätsdiskurse einen philosophischen Rahmen bekommen. Als Zeugen werden wir immer wieder einerseits Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Niklas Luhmann, andererseits Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Paul Ricœur aufrufen, deren heterogene Philosophien so im Lichte der jeweils anderen ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen erkennen lassen. Mit unserem Dialog, der manchmal zur Kontroverse wird (und umgekehrt), riskieren wir eine neue Form philosophischer Schriften: Zwei Autoren schreiben über ein sie gemeinsam berührendes Thema, aber jeder in differenten Perspektiven und auf seine Weise, jeder anders. Die Alterität bleibt auch hier gewahrt. Wir haben uns jedoch entschieden, die sachlichen Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen; ein unmittelbarer persönlicher Austausch wie in einem sokratischen Dialog wäre wegen der grassierenden CoronaPandemie zur Zeit der Entstehung des Buchs gar nicht möglich gewesen; künstlich inszenieren wollten wir ihn nicht. Wir legen sechs Kapitel vor, die, wechselnd vom einen und vom anderen verfasst, in drei Runden Schritt für Schritt aufeinander antworten, ohne ein vorgefasstes Programm abzuarbeiten: Die Gedanken sollten sich in der Auseinandersetzung selbst entwickeln, beide Ansätze aber auch ihre eigene Kohärenz zeigen. Die erste Runde wird eingeleitet durch einen Beitrag zur »Orientierung durch Unterscheiden« überhaupt. Auf ihn antwortet der Beitrag »Alterität jenseits des Unterscheidens«. Auf ihn folgen Vorschläge, das Denken der Alterität in das Denken der Orientierung einzubeziehen. Das lässt wiederum fragen, ob dann eine ihrerseits »unterscheidbare Alterität des Anderen« zum Surrogat der ursprünglich als »radikal« gedachten ­A lterität wird. In der dritten Runde werden Ergebnisse unserer Diskussion bedacht, in Gestalt wiederum zweier »Bilanzen« A und B, die einander ihrerseits die Waage halten: Danach sind Orientierung und Alterität wohl aufeinander angewiesen, wenn Menschen ihre Welt bewohnbar machen und erhalten wollen. Aber es ist offen, ob, wie und mit welchen Mitteln das bei aller jetzt denk- und erreich­ baren Alteritätszugewandtheit der menschlichen Orientierung gelingen wird. Hier hätten weitere Forschungen anzuschließen. 18 | Einleitung

K APITEL I Orientierung durch Unterscheiden Anhaltspunkte bei Nietzsche, Wittgenstein und Luhmann  – Werner Stegmaier –

Einleitung Orientierung in unübersichtlichen Situationen: Unterscheidung als Prozess und Produkt

Wir orientieren uns, indem wir unterscheiden. Unterscheiden ist eine Orientierungsoperation, die Grundoperation der Orientierung. Orientierung und Unterscheidung sind auseinander zu verstehen. Unterscheidungen als solche waren in der Antike und im Mittel­ alter ein großes Thema der Philosophie.1 Im Zug der Verrechtlichung und Demokratisierung der griechischen Stadtstaaten musste man genauer bestimmen, womit man es zu tun hat. Im Mittelalter stand man vor dem zentralen Problem der Unterscheidung eines Unbegreiflichen, Gottes. Als in der Moderne der religiöse Glaube ins Wanken kam, suchte man nach Regeln des Unterscheidens, die absolute Gewissheit gewährleisten sollten. Dabei ging es um Einheit in Hierarchien von Unterscheidungen. Seither kämpft man mit gesellschaftlich befreienden Wirkungen um Differenz und Diversität und entdeckt die Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit als Gegengewichte zur Bestimmtheit und Gewissheit. Zentrales Problem ist nun die unfassbare Komplexität der Welt und die Orientierung in ihr. Das komplexeste Organ der Welt, das menschliche Gehirn, erfindet technisch modellierbare Intelligenz ohne das Ziel eines endgültigen Wissens. Man weiß inzwischen, dass man sich immer nur vorläufig durch immer nur vorläufige Unterscheidungen orientieren kann. Orientierung und Unterscheidung ­rücken in den Mittelpunkt. Sich zu orientieren heißt, sich in unübersichtlichen Situatio­ nen zurechtzufinden.2 Man geht heute davon aus, dass sich die menschliche Orientierung in laufender Auseinandersetzung mit immer neuen Situationen evolutionär entwickelt hat. Entsprechend vielfältig muss sie ihre Möglichkeiten zu unterscheiden differenziert haben. Neuro- und Informationswissenschaften, Psychologie und Soziologie machen viele Unterscheidungen der traditionellen Erkenntnistheorie obsolet, allen voran die Unterscheidung von Denken und Wahrnehmen. Sie sind selbst als OrientierungsentOrientierung durch Unterscheiden | 21

scheidungen in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen zu verstehen, die sich auch anders treffen lassen. So kann man hier nicht mit einer abschließenden Theorie rechnen.3 Indem man in Situationen unterscheidet, orientiert man sich. Die Vergewisserung durch Selbstbezug hat eine lange Tradition in der Philosophie. Aristoteles’ Selbstbegründung des Satzes vom Widerspruch folgte in der Moderne Descartes’ Selbstbestätigung des Denkens im cogito sum, Kants Selbstbegrenzung der reinen Vernunft, Fichtes Selbstversicherung der Freiheit und Hegels Selbs­tentfaltung des Systems der philosophischen Wissenschaften. Nietzsche mit seiner Selbstentlarvung des Philosophierens als Wille zur Macht und Wittgenstein mit seiner Anleitung zur Selbsttherapie des Philosophierens fügten der Selbstvergewisserung die Seite der Selbstverunsicherung hinzu, Gödel bewies die Grenzen der Beweisbarkeit in formalen Systemen, Heidegger verunsicherte entschieden allen Halt an vermeintlich Feststehendem, Luhmann hat mit Spencer Brown das Unterscheiden selbst zum Thema des Unterscheidens gemacht, ohne noch den Selbstbezug als Selbstbegründung zu verstehen.4 Es ist Zeit, sich der Orientierung durch Unterscheiden selbst zuzuwenden. Nach dem grimmschen Wörterbuch heißt im Deutschen5 ›unterscheiden‹ etwas mit Augen, Ohren und anderen Sinnen ›ausmachen‹, von anderem abgrenzen, z. B . ein Sternbild am Nachthimmel oder ein musikalisches Intervall (lat. discernere), metaphorisch etwas ›auseinanderhalten‹ (ähnliche Konstellationen, Dur- und Moll-Tonarten), von da aus auch etwas bezeichnen, benennen, ›unterteilen‹ (Äpfel) und Nicht-Zugehöriges nach Kriterien ›ausscheiden‹ (Birnen). Ehemals bedeutete ›unterscheiden‹ auch etwas von anderem räumlich trennen (Vögel durch Käfigwände), außerdem etwas hervorheben, betonen, deutlich machen, ausdrücklich festsetzen (ein Gebot) und etwas gegenüber anderem aufwerten (engl. distinguish). Etwas kann aber auch ›sich unterscheiden‹ (eine Farbe von einer andern), und man kann etwas ›in‹ etwas oder jemandem unterscheiden (den warmherzigen Menschen in der strengen Beamtin). Und so kann man auch sich von anderen dadurch abheben, also unterscheiden, dass man bei etwas oder jemandem einen Unter­schied macht, wo andere keinen machen oder sehen, sich also selbst durch Unterscheiden von anderen unterscheiden. 22 | Kapitel I 

All diese Spielarten des Unterscheidens, die in der alltäglichen Kommunikation, wenn auch oft schwer unterscheidbar, im Spiel sind, wurden in Wissenschaft und Philosophie mitsamt ihrem Orientierungswert bisher weitgehend ausgeblendet. Jürgen Mittelstraß etwa legt die wissenschaftliche Unterscheidung auf die »fundamentale Sprachhandlung der Prädikation« »in behauptender Intention« und mit »Begründungsverpflichtungen« fest und stellt »Orientierungen« als »pragmatische Unterscheidungen […] in bezug auf bestimmte Situationsmerkmale« daneben. 6 Niklas Luhmann hat stattdessen im Rahmen seiner soziologischen Systemtheorie und im Anschluss an die mathematikförmigen Laws of Form von George Spencer Brown7 eine Theorie der Beobachtung entwickelt, in der die Zweiseitigkeit, Entscheidbarkeit und Prozessualität des Unterscheidens zur Geltung kommt 8 , und sein Schüler Dirk Baecker und dessen Schüler Athanasios Karafillidis haben sie weiterentwickelt.9 Die systemtheoretische Schule bekennt sich insgesamt zum ›Konstruktivismus‹: Sie löst die Theorie der Unterscheidung von der metaphysischen Ontologie ab, indem sie statt bei scheinbar an sich vorhandenen Gegebenheiten oder Begebenheiten bei Kommunikationen über sie ansetzt. Für die philosophische Erschließung der Funktion des Unterscheidens in der menschlichen Orientierung reicht das jedoch nicht aus. Denn erstens umfasst Orientierung weit mehr als die Kommunikation mit anderen, und zweitens stößt das ›Konstruieren‹ von Unterschieden in unübersichtlichen Situationen rasch an Grenzen. Nietzsche einerseits und der späte Wittgenstein andererseits führen hier weiter. Auch wenn sie den Begriff selbst kaum gebrauchen, haben sie am vorurteilslosesten über die Bedingungen des Unter­ scheidens in der menschlichen Orientierung nachgedacht. Bei Nietzsche, Wittgenstein und Luhmann finden sich die stärksten Anhaltspunkte zum Thema Orientierung durch Unterscheiden. Angeregt von Spencer Brown und Luhmann haben jüngst auch Dirk Rustemeyer und Katrin Wille unabhängig voneinander »Weisen des Unterscheidens« unterschieden.10 Auch sie setzen nicht schon eine Metaphysik, Epistemologie und Logik, keine irgendwie geartete Ordnung der Welt voraus, sondern fokussieren auf den Prozess des Unterscheidens selbst, um dessen vielfältige Produktivität zu erschließen. Sie wollen erkunden, wie Ordnung durch Orientierung durch Unterscheiden | 23

Unterscheiden zustande kommt, ohne dabei auf eine Gesamtordnung der Welt oder der Gesellschaft aus zu sein, die sich eine solche entwirft. Katrin Wille hält sich dabei an den Rahmenbegriff der Praxis, die sie anhand der Unterscheidung von Wunsch und Wille illustriert, Dirk Rustemeyer an den der Kultur, um ausführlich auch die Künste einzubeziehen. Beide setzen heuristisch auf Reihungen von »Kontrasten« und »Vergleichen« und stellen das alltägliche und ›praktische‹ Unterscheiden in den Vordergrund, dem gegenüber das wissenschaftliche und künstlerische zwar erhellende, aber nicht mehr maßgebliche Spezialfälle sind. Sie lösen sich vom Postulat der Eindeutigkeit als speziellem Bedürfnis der Logik, der Mathematik und der Wissenschaften und betonen stattdessen die unverzichtbaren Funktionen der Mehrdeutigkeit in der alltäglichen und künstlerischen Unterscheidungspraxis. Dazu gebrauchen sie wohl regelmäßig den Begriff der Orientierung, stoßen aber nicht zum philosophischen Problem der Orientierung überhaupt vor. Das soll hier geschehen. Ich gehe den Weg philosophischer Heuristik weiter, um nun die Funktionen des Unterscheidens in der menschlichen Orientierung zu unterscheiden, und greife dabei, soweit möglich, auf bahnbrechende Einsichten in der Geschichte der Philosophie zurück.11 Ich gehe nun vom Begriff der Unterscheidung selbst aus – mit der Unterscheidung der Unterscheidung als Prozess (›unterscheiden‹) und als Produkt (›Unterschied‹). Ich beginne nicht schon wie die Luhmann-Schule mit einem Beobachter, der Unterscheidungen trifft, macht oder konstruiert – denn auch die Unterscheidung von Beobachtung (mit demselben Doppelsinn von Prozess und Produkt) und Beobachter ist schon eine Orientierungsunterscheidung –, sondern mit dem Prozess des Unterscheidens selbst. Ziel ist hier zunächst, die philosophische Unterscheidungs- und Orientierungsforschung wieder ein Stück weiterzuführen, um sie dann mit dem Denken radikaler Alterität zu konfrontieren.

24 | Kapitel I 

1. Unterscheiden als Prozess der Abgrenzung: Grenzen als Anhaltspunkte der Orientierung

George Spencer Brown und Niklas Luhmann haben angeregt, die Unterscheidung als Handlung oder Prozess und ihr Ergebnis oder Produkt als Form zu fassen. Der Begriff der Form (morphé) gehört zum Grundbestand der Metaphysik des Aristoteles. Er soll dort die Beständigkeit der Veränderungen der Natur (physis) zum Ausdruck bringen. Veränderung wird dabei so verstanden, dass in bestehenbleibenden Formen laufend Stoff (hyle) ausgetauscht wird, in biologischen Arten die gleichförmigen individuellen Lebewesen. So wird die Form zum Wesen (ousía): Die gleichbleibende anschauliche Form der biologischen Art (eídos) ist Aristoteles’ Modell eines an sich bestehenden Allgemeinen, unter das wechselnde Individuen fallen, und damit zugleich ein logisches Modell. Sein technisches Modell der Form, etwa einer Skulptur, die in verschiedenen Materialien ausgeführt werden kann, legt die Metaphorik der Hohlform nahe, die unterschiedlich ausgefüllt werden kann. Die Verschränkung beider Modelle prägt das Denken der Form und mit ihm das philosophische Denken überhaupt bis heute: Sie lässt das Denken selbst als Form erscheinen, das verschiedenste Inhalte fassen kann und dabei selbst immer gleich, ›rein logisches‹ Denken bleibt. Noch Kant und Hegel halten fraglos daran fest. Nach Darwin erkennt Nietzsche die Form als »flüssig« und nimmt ihr damit eben das, wofür Aristoteles sie eingeführt hatte: ihren festen Bestand.12 Ein Jahrhundert später gehen Spencer Brown und Luhmann noch weiter und setzen bei der Form als Operation der Formung an, um so ihre metaphysische Ontologisierung zu einem an sich bestehenden Wesen zu vermeiden. Sie denken die Veränderlichkeit der Form, indem sie dem geometrischen, geographischen oder geodätischen Modell der Grenzziehung folgen. Danach grenzt die Form, z. B. eine schlichte Linie im Sand oder auf Papier, lediglich zwei Seiten voneinander ab. Sie kann verwehen, durchgestrichen, ergänzt oder ersetzt werden. So wird sie zur bloßen Unterscheidung zweier Seiten und die Formung zum bloßen Unterscheiden. Obwohl die Form so nur noch abgrenzt, nicht mehr einen Inhalt umgrenzt, sprechen Spencer Brown und Luhmann weiterhin von ihrer Innen- und Außenseite. Die InnenOrientierung durch Unterscheiden | 25

seite soll nun die sein, um die es bei der Unterscheidung vorläufig geht, auf der etwas markiert, bestimmt und bezeichnet wird, die Außenseite das, wovon vorläufig abgesehen wird. Die Unterscheidung durch eine Form steht so nicht mehr für die Wahrheit eines Seins, sondern für die Gewichtung einer Orientierung. Im phänomenologischen Sinn zeigt sich durch eine bloße Abgrenzung etwas als etwas (z. B. ein ›Mann im Mond‹ durch Kontraste von helleren und dunkleren Flächen auf der unebenen Mondoberfläche). Vor Aristoteles hatte Anaximander bei der bloßen Grenze (péras) angesetzt, die er vom Unbegrenzten (ápeiron) unterschied.13 Nach dem einzig von ihm erhaltenen Spruch, wortnah übersetzt: »Woraus den Seienden ihr Entstehen ist, in dasselbe entsteht auch das Vergehen, wie es sich gehört; denn sie geben einander Recht und leisten Buße für das Unrecht nach der Ordnung der Zeit«, ist Veränderung so zu verstehen, dass Grenzen in einem prinzipiell Unbegrenzten wechseln. Anaximander sieht darin noch, in rechtlich-ethischer Metaphorik, eine ausgleichende Gerechtigkeit. Eine Grenze kann eine natürliche Grenze wie zwischen Land und Meer oder eine künstliche, eigens gezogene wie zwischen Besitztümern sein; man kann sie einerseits hinnehmen und andererseits eigens schaffen (im Beispiel eines Grenzflusses beides zugleich). Man kann die Grenzen, wiederum metaphorisch, auch von Raum und Zeit lösen und unter Verwendung der Unterscheidung von Wahrnehmen (in Raum und Zeit) und Denken (über Raum und Zeit hinaus) die Grenzziehung dem Denken zuschreiben. Denken ist für die griechische Antike eine natürliche Tätigkeit, so dass seine Abgrenzungen ihrerseits im Wesentlichen natür­liche, schlicht hinzunehmende sind; das Denken weist die natürlichen Abgrenzungen lediglich auf und bringt sie in Begriffen zum sprachlichen Ausdruck.14 In letzter Konsequenz hat Parmenides so das bloße Sein gedacht – als von einem Denken gedachtes, das seinerseits dazu gedacht ist, das Sein zu denken. In diesem Sinn sind Denken und Sein, wie er sagt, dasselbe, die Unterschiede des Denkens also auch die Unterschiede des Seins, beide aber jeder Veränderung und Wahrnehmung entzogen, schlechthin beständig, schlechthin allgemein und damit schlechthinniger Halt der menschlichen Orientierung.15 26 | Kapitel I 

Als Mathematiker und Formwissenschaftler sieht Spencer Brown ebenfalls von allen Inhalten ab. Er gibt nun einfach die Anweisung »Draw a distinction!«16 Vom Anlass der Anweisung spricht er nur andeutungsweise als von ihrem Motiv (motive) und Wert (value), später von einem Verlangen zu unterscheiden (desire to distinguish).17 Das Verlangen oder Bedürfnis zu unterscheiden ist das Bedürfnis der menschlichen Orientierung in einer Situation, in der man sich nicht auskennt und die man zu meistern hat; es war Kant, der das Sich-Orientieren in diesem Sinn als »Bedürfniß« der Vernunft in die Philosophie eingeführt hat.18 Ob und wie weit das Orientierungsbedürfnis durch eine Unterscheidung erfüllt wird, lässt sich nicht vorab bestimmen; es stellt sich erst im Fortgang des Orientierungsprozesses heraus.19 Mit anderen Worten: Die Relevanz einer Unterscheidung zeigt sich daran, dass man, wie man alltagssprachlich sagt, ›etwas mit ihr anfangen‹, das heißt die gegebene Situation so erschließen kann, dass sie dadurch erfolgreich ›bewältigt‹ wird, kurz: dass sie so orientiert, dass man ›weiterkommt‹. Unterscheidungen werden dann zu Anhaltspunkten der Orientierung in einer unübersichtlichen Situation; auch diesen Begriff bietet schon die Alltagssprache an. Die Orientierung ›hält sich‹ an Anhaltspunkte und erfährt an ihnen zugleich die Widerständigkeit der Wirklichkeit gegen willkürliche Konstruktionen. Sie können für jede Orientierung in jeder Situation andere sein und je nach dem Orientierungsbedürfnis anders und dennoch nicht beliebig verstanden werden. Man kann sie ihrerseits unterscheiden, braucht dafür dann aber wieder Anhaltspunkte. So kommt man hinter die Anhaltspunkte einer Situation nicht zurück. Sie fallen auf (z. B. ein Kirchturm einem Wanderer, der den Weg zum nächsten Dorf sucht), werden vertrauenswürdiger, wenn weitere hinzukommen (ein Wegzeiger in der eingeschlagenen Richtung, Eintragungen auf der Landkarte). Passen sie zueinander, ergeben sie für die Orientierung Suchenden Sinn in Mustern, die wiederum zu Mustern in früheren Orientierungssituationen passen können.20 Wie Hirn- und Intelligenzforschung heute bestätigen, ist erfolgreiches Unterscheiden zunächst Erkennen von Mustern aus vorläufigen Anhaltspunkten. Neben oder hinter den entdeckten Mustern tritt anderes zurück, wird unauffällig, erscheint als nicht orientieOrientierung durch Unterscheiden | 27

rungsrelevant. So entstehen durch Muster Grenzen im Unbegrenzten, von denen sich die Orientierung vorläufig leiten lässt. Erweisen sie sich als haltbar, glaubt man sie entdeckt zu haben, hält sie für real, an sich bestehend; wenn nicht, bleibt man vorsichtig und stuft sie als möglicherweise nur konstruiert oder fiktiv ein. 2. Unterscheiden als Prozess der Abgleichung: Gleichsetzungen zur Vereinfachung der Orientierung

Musterbildungen im Unterscheiden schließen Abgleichungen und Abgleichungen Gleichsetzungen ein. Bei Gleichem entfällt neuer Orientierungsaufwand, die Orientierung wird vereinfacht. Seit Leibniz geht man davon aus, dass es nichts Gleiches gibt, sondern dass dort Gleiches erscheint, wo man mit dem Unterscheiden aufhört (principium identitatis indiscernibilium).21 Es hängt also vom Unterscheiden selbst ab, ob etwas als gleich gilt oder nicht. Das »Gleichsetzen und Zurechtmachen«, notiert Nietzsche, »ist der Thatbestand, nicht die Gleichheit (– diese ist vielmehr zu leugnen  –)«.22 Gleichsetzung beruht ihrerseits auf Vergleichung. Und Wittgenstein bemerkt: »Nimm nicht die Vergleichbarkeit, sondern die Unvergleichbarkeit als selbstverständlich hin.«23 Zum Abgleichen von Anhaltspunkten einer Situation (auch von Daten in wissenschaftlichen Erhebungen) muss man nicht schon vorab einen übergeordneten Begriff oder ein leitendes Kriterium des Vergleichs (tertium comparationis) haben; beide können sich in der Orientierung erst herausstellen. Das geschieht so, dass man zwischen Anhaltspunkten oszilliert (die Bäume dort, Birken und Buchen, stehen in einer auffallend geraden Reihe, sie könnten einen Weg markieren, das sind Alleebäume; Messwerte verteilen sich auf dem Bildschirm so, dass sie eine Parabel oder eine Hyperbel bilden könnten; meine Freundinnen reagieren auf diese Geschichte so, meine Freunde so, gibt es da geschlechtstypische Unterschiede?). Die menschliche Orientierung geht zumeist weniger deduktiv und induktiv als abduktiv im Sinn von Peirce vor. Erscheinen Anhaltspunkte in etwas gleich, kann man sich in dieser Hinsicht an ihnen gemeinsam orientieren. Man kann nun vorläufig von Weiterem absehen, die Orientierung wird beschleunigt.24 28 | Kapitel I 

Das Vergleichen und Gleichsetzen hat Spielräume (auch wenn kein Ei einem andern gleicht, kann man Eier von Legehennen gleichermaßen vermarkten; aber man kann dann wieder unterscheiden, ob die Hennen in Käfige gesperrt sind oder frei auf der Wiese herumlaufen dürfen). Spielräume sind metaphorische Räume, in deren Grenzen etwas, hier das Vergleichen, ›frei spielen‹, d. h. etwas so oder anders unterscheiden oder gleichsetzen kann. Man kann sich, aus den unterschiedlichsten Gründen, auch scheuen oder weigern, etwas mit etwas zu vergleichen (im Extrem die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten mit irgendetwas anderem). Zuletzt geht es, so Wittgenstein, darum, ob etwas mit etwas ›zu tun hat‹, 25 und das kann in jeder Situation und für jede Orientierung in ihr etwas anderes sein (Legehennenbatterien mit Tierethik, Nationalsozialisten mit jetzigen Populisten). Man kann Gleichsetzungen in Familienähnlichkeiten zurücknehmen, wie Wittgenstein und auch schon Nietzsche sie nannte.26 Nietzsche hat sie philosophisch an »Sprach-Verwandtschaften«, Wittgenstein an »Sprachspielen« vorgeführt, aber z. B. auch an Photos seiner Geschwister, indem er deren Gesichtszüge schrittweise ineinander übergehen ließ; sie glichen einander in jeweils anderen Zügen, waren im Ganzen aber nicht gleich.27 Beim Abgleichen führen die einen Anhaltspunkte zu anderen Anhaltspunkten, die anderen zu wieder anderen, ohne dass man alle auf gemeinsame Begriffe bringen könnte und müsste. Sosehr Nietzsche und Wittgenstein auf der prinzipiellen Unvergleichbarkeit und den Spielräumen, wenn nicht der Willkür des Gleichsetzens bestanden, so sehr war ihnen die Unumgänglichkeit des Vergleichens bewusst. Nietzsche sah sich in einem »Zeitalter der Vergleichung«, in dem man sich, nachdem der Halt an Religion und Metaphysik zunehmend unglaubwürdig wurde, in einer »Cultur der Vergleichung« zu orientieren suche28 ; Wittgenstein arbeitete, um sich »nicht durch das allgemeine Begriffswort verführen [zu] lassen«29, methodisch mit Vergleichen. Man kann beim Vergleichen einen Anhaltspunkt oder ein Muster von Anhaltspunkten zum Maßstab für andere nehmen, also etwas von etwas unterscheiden, das man schon als feststehend betrachtet (›schau, so eine Klappbrücke habe ich schon in Holland gesehen‹). Ein bekannter Anhaltspunkt wird zum Vergleichsgesichtspunkt für einen neuen. Solche Vergleichsgesichtspunkte kann man aber auch wieder in Orientierung durch Unterscheiden | 29

Frage stellen (›diese hier, eine Wippbrücke, erinnert mehr an eine Schaukel‹) – oder auch auf ihnen bestehen (›Klappbrücke ist Klappbrücke‹). Das heißt: Beim Vergleichen kann sich das Unterscheiden selbst festlegen oder in Bewegung halten, je nachdem, wie es in der Orientierung weiterkommt. Ergiebige Vergleichsgesichtspunkte sind wiederverwendbar, können zu Erkenntnis- und Differenzierungsgewinn führen (der eine Klappbrückentyp kann hier, der andere dort von Vorteil sein), aber auch zu Stereotypen erstarren (›Holland, das Land der Klappbrücken‹).30 Durch Gleichsetzungen sieht man von Ungleichheiten ab, macht aber zugleich auf sie aufmerksam. Das haben besonders Nietzsche und Luhmann hervorgehoben:31 Unterstellt man politisch die Gleichheit aller Menschen und fordert ihre Gleichbehandlung, treten desto mehr Ungleichheiten hervor. Der Gleichheitsbedarf kann darum auf verschiedenen Feldern der menschlichen Orientierung sehr unterschiedlich sein, anders z. B. in den Medien, die immer Neues, also Ungleiches berichten müssen, als im Recht, wo streng auf Gleichbehandlung geachtet werden muss, anders in der Wissenschaft, soweit sie allgemeine Gesetzlichkeiten eruieren will, als in der Wirtschaft, in der Erziehung, im Sport oder in der Kunst, wo Vergleichen Konkurrenzen anregt und gezielt Ungleichheiten hervorbringt. 3. Unterscheiden als zeitlicher Prozess: Zeit der ­Neuorientierung

Das Unterscheiden als Prozess der Abgrenzung und Abgleichung braucht Zeit, und die menschliche Orientierung kann und muss sich auf die Zeit einstellen und mit ihr mitgehen. Die Zeit war jedoch stets eines der schwierigsten Probleme der Philosophie. Den berüchtigten Gegensatz zwischen Parmenides und Heraklit – Sein schließt Zeit aus  / alles Sein ist im Fluss, also Werden, also Zeit – hat Aristoteles so aufgelöst, dass er Zeit als Eigenschaft von Bewegungen und diese als wechselnde und damit wiederum zeitliche Eigenschaften von bleibendem Seienden unterschied; feststellbar würden Bewegungen durch die Abgrenzung eines früheren und eines späteren Zustands des Seienden. So wurde zur Bestimmung 30 | Kapitel I 

der Zeit zirkulär die Zeit selbst verwendet. Außerdem entstand das Problem, wie Zeit einerseits eine Eigenschaft von Bewegungen von Seienden und andererseits das sein kann, worin oder wonach Bewegungen verschiedener Seiender verglichen werden. 32 Darüber hin­aus ist das Sein der Zeit selbst ist nicht feststellbar, weil sie – schon nach Parmenides – stets zugleich ist, noch nicht und nicht mehr oder, wie es dann Aristoteles zuspitzt, das Jetzt immer zugleich dasselbe und ein anderes ist.33 Sagt man ›jetzt‹, ist das Jetzt, von dem man spricht, schon vergangen. Die Paradoxien oder Aporien der Zeit haben sich trotz immer neuer Versuche bis ins 20. Jahrhundert nicht auflösen lassen, bis Luhmann sie schließlich kreativ für seine Theorie nutzte – durch die Analyse des Begriffs der Unterscheidung selbst im Anschluss an Spencer Brown. Sie argumentieren so: Unterscheidung hat, als Abgrenzung oder Form, zwei Seiten. Mit der Unterscheidung stehen beide Seiten gleichzeitig, also ohne zeitliche Unterscheidung, zur Verfügung; die Unterscheidung (distinction) erscheint zeitlos. Will man mit ihr aber etwas unterscheiden, also bestimmen und bezeichnen (indication), muss man auf eine ihrer beiden Seiten gehen (rechts oder links, zutreffend oder unzutreffend, vorher oder nachher), in Spencer Browns Sprache: die Grenze »kreuzen«, die die Unterscheidung zieht. Um eine Unterscheidung zu gebrauchen, muss man also zugleich ihre beiden Seiten im Blick haben und zwischen ihnen hin und her gehen, also einen Prozess vollziehen, der Zeit braucht.34 Geht man vom Prozess des Unterscheidens in der Orientierung aus, wird aus der Aporie ein Argument: Eben dadurch, dass das Unterscheiden zugleich mit Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit arbeitet, wird die Zeit merklich, was immer sie auch sei oder wozu sie in welcher Weise gehören mag. Der Zirkel, die metaphysischen Versuchungen und ihre Paradoxien verschwinden. Phänomenologisch zeigt sich die Zeit beim Unterscheiden; sie läuft beim Unterscheiden als Zeit des Unterscheidens mit, ohne dass sie selbst bestimmt oder bezeichnet werden müsste.35 Unterschieden wird sie von der Unterscheidung erst, wenn sie nicht mehr als deren Prozess, sondern als Produkt einer besonderen Unterscheidung betrachtet wird. Dann kann sie zum festen Anhaltspunkt der Orientierung werden – indem sie durch Uhren gemessen und damit klar feststellbar Orientierung durch Unterscheiden | 31

wird. Sie erscheint dann als etwas, das es gibt wie anderes auch, als schlicht Vorhandenes. Darüber vergisst man jedoch, dass die Zeitmessung zum einen weiterhin Zeit braucht und zum anderen die Maßstäbe, nach denen sie gemessen wird (nach Aristoteles der Umlauf der Gestirne, heute die regelmäßige Frequenz elektromagnetischer Wellen bei den Schwingungen besonderer Atome) sich ihrerseits in der Zeit verändern, also wiederum ›ihre Zeit haben‹. Außerdem stehen in der menschlichen Orientierung der durch Uhren gemessenen Zeit weiterhin andere Arten des Zeit-Erlebens gegenüber (wie circadiane biologische Rhythmen oder das nachträgliche Empfinden von Kurzweiligem als lang, von Langweiligem als kurz).36 So ist die gemessene Zeit nur eine Unterscheidung der Zeit unter anderen. In schwierigen Orientierungssituationen steht das Unterscheiden zudem unter hohem Zeitdruck: Um eine Situation zu bewältigen und Schaden abzuwenden, muss unter ihren möglichen Anhaltspunkten schnell unterschieden werden. Unterschiedliche Unterscheidungen können die weitere Orientierung aber gänzlich anders ausrichten (ist das ein möglicher Weg aus der Krise oder nicht?), wobei die Unübersichtlichkeit der Situation die Wahl unter ihnen schwer machen kann. Umso mehr würde man Zeit zum Unterscheiden brauchen, oft ohne sie zu ›haben‹. Zudem können in der Zeit des Orientierungsprozesses neue Anhaltspunkte für neue Unterscheidungen auftauchen und die bisherige Orientierung umsteuern, mitunter so stark, dass sie als gänzliche Neuorientierung erlebt wird (nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber droht Entlassung, da kommt das Angebot zur Teilnahme an einem start-up-Unternehmen, und ›ein neues Leben beginnt‹). Zeit wird am stärksten im Zug solcher Neuorientierungen erfahren und unterschieden: Die Gegenwart wird spürbar Vergangenheit, Zukunft tut sich auf.

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4. Alternativität des Unterscheidens: Entscheidungen zwischen Unterscheidungen und zwischen ihren Seiten

Das zweiseitige Unterscheiden, wie es Spencer Brown und Luhmann vor Augen haben, bietet sich an, wenn etwas bestimmt und bezeichnet (marked) und dabei von anderem abgesehen wird (unmarked space). Doch Unterscheidungen sind nicht eo ipso zweiseitig. Wege können sich nicht nur in einen rechten und einen linken gabeln, sondern außerdem in halbrechter und gerader Richtung weiterführen. Und man könnte auch ohne Weg über das Feld weitergehen. Bei Farben, Tönen, Geschmäcken und Gefühlen kann man viele Nuancen unterscheiden, ohne dass man Begriffe für sie hätte. In perspektivischen Gemälden zeigen sich Unterschiede in kaum benennbaren Kontrasten wie Abstufungen der Größenverhältnisse und Abschattungen der Helligkeit und Deutlichkeit. 37 Wenn die Orientierung durch Unterscheiden mit vielfältigen Alternativen zugleich umgehen kann, darf man sich philosophisch nicht einfach an zweiseitige, logisch klar definierbare Unterscheidungen halten, sondern muss auch hier unterhalb der Begriffe bei bloßen Anhaltspunkten der Orientierung ansetzen. Gemeinsam aber ist allem Unterscheiden, dass es Alternativen eröffnet, die Möglichkeit, jeweils auf die andere Seite begrifflicher Unterscheidungen oder zu anderen Anhaltspunkten überzugehen (›sehen wir die Lage einmal so‹). Über Alternativen aber muss laufend entschieden werden. ›Ent-scheidung‹ heißt eine Scheidung so wieder aufheben, dass man in seiner Orientierung weiterkommt. Die Nötigung zum Entscheiden zwischen Möglichkeiten gehört zum Unterscheiden schon vor dessen Bewusstheit (beim Durchqueren unwegsamer Gelände muss man jeden Schritt richtig, aber ohne lange Überlegung setzen). Im Prozess der Orientierung, der Auslotung einer Situation auf Möglichkeiten hin, in ihr erfolgversprechend zu agieren (beim Gehen im Berg nicht abzustürzen), wird stets unter Ungewissheit unterschieden und entschieden. Was geht und nicht geht, zeigt sich beim Vorangehen. Das Unterscheiden, dem man dabei nur schwer ein Subjekt zuschreiben kann, erkundet die Orientierungssituation, die Entscheidung verändert sie, schafft schon eine neue Orientierungssituation und mit ihr auch wieder neue Ungewissheit. So muss man immer neu unterscheiden Orientierung durch Unterscheiden | 33

und entscheiden, mit welchen Unterscheidungen und Entscheidungen man am ehesten weiterkommt. Dabei schränken einmal getroffene Unterscheidungen und Entscheidungen die Spielräume wohl ein, in denen es weitergehen kann, geben aber nicht schon vor, mit welchen Unterscheidungen und Entscheidungen das am besten geschieht (man ist mit einem Unternehmen gestartet und muss nun Wege finden, sich mit ihm auf einem überraschend veränderten Markt zu behaupten). Denn an Unterscheidungen und Entscheidungen kann ganz unterschiedlich angeschlossen und über geeignete Anschlüsse an sie muss darum jeweils neu entschieden werden (man tauscht im Unternehmen Programme oder Personen aus, um weiterzukommen). Nur so kann sich der Orientierungsprozess für eine unbestimmte Zukunft offenhalten. Ein Modell dafür ist die Kunst. Sie ist frei am Anfang, dann lässt jede entschiedene Formung nur noch solche zu, die zu dieser passen, doch dabei bleiben immer noch alternative Möglichkeiten.38 In der menschlichen Orientierung ist der Spielraum der Entscheidungen für Unterscheidungen dennoch limitiert: durch Faktoren wie individuelle Charaktere, Vorlieben und Interessen, eingespielte Gewohnheiten und Routinen, sprachliche und kulturelle Standards, soziale Normen und juristische Gesetze, Autoritäten auf verschiedensten Feldern usw. Sie ersparen jeweils neue und ­eigene Orientierungen und damit neue Unterscheidungen und Entscheidungen. Denn die Kapazitäten der Orientierung können sich unter Menschen zwar erheblich unterschieden, sind im Prinzip aber begrenzt. Werden sie überschritten, wird das Unterscheiden und Entscheiden unter Ungewissheit überfordert, tritt Desorientierung ein, kommt Unruhe, Angst, wenn nicht Panik und Verzweiflung auf (›Epidemie – die Kinder können nicht zur Schule, wir können nicht zur Arbeit, die Großeltern vereinsamen, was jetzt?‹). Wissenschaften können gezielt Orientierung geben, weil sie das Unterscheiden gezielt limitieren: durch die inhaltliche Abgrenzung von Forschungsfeldern und durch methodische Regelungen der Anschlüsse von Unterscheidungen aneinander. Sie erhöhen die Zielgenauigkeit des Unterscheidens, schränken aber auch dessen Fokus ein. Forschungseinrichtungen, aber auch Organisationen wie Unternehmen, Banken, Ministerien, Parlamente, Parteien, Verbände, Gerichte usw. ermöglichen planvolles Han34 | Kapitel I 

deln, indem sie sich auf bestimmte Parameter des Unterscheidens und Prämissen des Entscheidens festlegen. 39 Werden die Möglichkeiten des Unterscheidens und Entscheidens auf diese Weisen eingegrenzt, steigt die Orientierungssicherheit, und der Zeitdruck entspannt sich. Brechen jedoch solche Ordnungen ein, wird das rasch als ›Chaos‹ erlebt. 5. Asymmetrisierung des Unterscheidens: Wertungen als Halt in Unterscheidungen

Zu leichteren Entscheidungen verhelfen zugleich Wertungen der beiden Seiten von Unterscheidungen. Luhmann gebraucht hier den Begriff der Asymmetrisierung: Wenn Entscheidungen für die eine Seite nahegelegt werden sollen, werden die Seiten der Unterscheidungen unterschiedlich gewichtet und in diesem Sinn vereinseitigt.40 Sie werden dann zu wertenden Unterscheidungen. Das geschieht unauffällig im Spielraum der Bedeutungen des Wortes ›Wert‹, der von wertneutralen ›formalen‹ Werten zweiseitiger Unterscheidungen (links  /  rechts, positiv  /  negativ, 1  / 0) über ökonomische und lebenspraktische Werte (günstig  / u ngünstig, gut  /  schlecht) bis zu moralischen Werten (gut  /  böse, verlangt  /  verboten) reicht.41 Die ersten lassen Entscheidungen ganz frei (›beides möglich‹), die zweiten empfehlen die eine Seite der Unterscheidung (›besser dies als jenes‹), die dritte fordert, die andere Seite auszuschließen (›dies, nicht jenes‹). Nietzsche hat in Zur Genealogie der Moral gezeigt, wie fließend die lebenspraktische Unterscheidung gut  / schlecht in die moralische gut  /  böse übergeht. Dabei sind positive Werte wie Glück, Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit oft schwer zu bestimmen und darum strittig, während es für die negativen, Unglück, Versklavung, Ungerechtigkeit, Täuschung, meist allseits plausible Anhaltspunkte gibt. Beides zusammen, die Asymmetrisierung von Unterscheidungen und der Ausschluss ihrer negativen Seite, geben der Orientierung Halt und festigen sie. Ethiken können darauf aufbauen. Aber auch dieser Halt ist nicht unerschütterlich. Denn vor allem die positiven Werte sind stark kulturabhängig und können darum im Kulturenvergleich fragwürdig werden.42 Entscheidungstheorien Orientierung durch Unterscheiden | 35

entgehen dem, wenn sie bestimmte Präferenzen (wie Rationalität oder Glücks- oder Gewinnstreben) schon voraussetzen; dann werden Entscheidungen auch statistisch berechen- und vorhersagbar. Solche Präferenzen sind in der menschlichen Orientierung jedoch keineswegs eindeutig; situative Abweichungen, Mehrfachmotivationen, Profilierungsbemühungen43 , gezielte politische Provokationen, religiöse Fundamentalismen, aber auch schon bloße Ironisierungen und Ridikülisierungen gängiger Werte schaffen neue Entscheidungsspielräume.44 Auch persönliche Idiosynkrasien und Abwehrhaltungen können einer Orientierung Halt geben. Dann stützt sie sich auf ihre eigenen Asymmetrisierungen. So wird die Wertesituation ihrerseits unübersichtlich; in modernen Gesellschaften befindet sie sich in ständigem Wandel. Menschliche Orientierung muss darum lernen, auch Wertungen in Unterscheidungen zu sichten, verschiedene Wertunterscheidungen zu gewichten und zu entscheiden, welche Unterscheidungen zu welcher Zeit in welchen Situationen angemessen sind. Wert­ orientierung ist nicht nur Orientierung an Werten, sondern auch über Werte. Sie geht dann in eine reflektierte Moral im Umgang mit Moralen über.45 Anfänglich individuelle Abweichungen (eine frugale Lebensweise mitten im Wohlstand, eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft) können sich in gesellschaftlichen Transformationsprozessen rasch verbreiten und gesamtgesellschaftliche Umorientierungen auslösen (Rettung des Erdklimas vs. Ernährungs-, Mobilitäts- und Heizungsluxus, Entdiskriminierung vs. Bestehen auf Traditionen). Während Neuorientierungen in neuen Situationen alltäglich sind, werden derartige Neuentscheidungen über wertende Unterscheidungen als Umorientierungen erfahren: ›das Leben‹ im Ganzen wird dann ›anders‹, als ›neue Zeit‹ erlebt – und findet in neuen asymmetrischen Unterscheidungen neuen Halt (klimaschädlich  /  k limaneutral, politisch korrekt  /  inkorrekt).

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6. Selbstunterscheidung im Unterscheiden: Distanz zum Gegenstand des Unterscheidens

Entscheidungen über Unterscheidungen drängen die Frage auf, wer oder was da unterscheidet und entscheidet. Die indoeuropäischen Sprachen und die Tradition der europäischen Philosophie legen für Prozesse Akteure nahe, die sie betreiben. Aus dem Wehen des Windes wird der Wind, der weht, aus dem Bewusstseinsstrom das Bewusstsein, das sich etwas bewusst macht, aus dem Pronomen ›ich‹ ein Ich, das denkt und dabei über Unterscheidungen entscheidet.46 Im Prozess des Unterscheidens wird etwas unterschieden, an dem die Orientierung dauernden Halt finden soll, von Aristoteles noch eine Substanz, an der Eigenschaften wechseln oder die sie von sich aus austauscht; in der Moderne werden daraus Täter, die aus Geschehen Tätigkeiten machen, Kräfte, die bestimmte Bewegungen vorantreiben, Subjekte, die sich von alldem Vorstellungen bilden. Hinter oder über alldem kommt als Schöpfer und schlechthin Tätiger Gott zu stehen und als Form der Unterscheidung die Einheit des sich aus sich selbst entwickelnden Systems, wie es exemplarisch Hegel gedacht hat.47 Beobachtbar sind jedoch nur die Prozesse selbst, einschließlich der Prozesse des Beobachtens. Das hinzugedachte Subjekt dieser Prozesse kann, aufgrund seiner Unbeobachtbarkeit, im Fall der menschlichen Orientierung wieder in einem weiten Spielraum unterschieden werden, etwa als Mensch, Seele, Bewusstsein, Person, Vernunft, Geist oder auch als Gesellschaft mit ihren Unterscheidungen wie Wissenschaft, Medien, Politik usw. Das individuelle Subjekt kann man ausstatten mit einem Leib, der es am Leben erhält, einer Umgebung, von der sich der Leib nährt, mit einer Gesellschaft, die ihm seine Sprache beibringt und seine Funktionen zuteilt, usw. und es so mit Handgreiflichem vernetzen. Man kann es aber auch von alldem trennen und als völlig autonom, als allein vorstellendes und denkendes Subjekt etablieren, das mit freiem Willen Verantwortung für all seine Unterscheidungen und Entscheidungen übernimmt. Das ist von ausschlaggebender Bedeutung für Ethik, Recht und Politik. Und doch wird nach Nietzsche hier lediglich im »Bann bestimmter grammatischer Funktionen« ein Unterscheidendes vom Unterscheiden unterschieden.48 Schließt Orientierung durch Unterscheiden | 37

man an ihn und Wittgensteins radikaler Konsequenz daraus »Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht« an, 49 bleibt nur der Rückgang auf das Unterscheiden selbst. Und ihn hat wiederum Luhmann versucht.50 Luhmann setzt beim Begriff der Beobachtung als Einheit von Unterscheiden und Entscheiden an. Auch die Beobachtung ist Prozess und Produkt zugleich; Luhmann denkt sie als Prozess des Gebrauchs einer Unterscheidung (distinction) zur Bezeichnung (indication) von etwas als Gegenstand; dieser Gegenstand ist der dann bestimmte Unterschied als Produkt der Unterscheidung. Um aber etwas als etwas zu beobachten, muss die Beobachtung sich selbst vom Beobachteten unterscheiden (sonst bleibt es bei bloßen Vorstellungen, Fiktionen oder Träumen). Diese Unterscheidung kann das Beobachtende, was immer es sei, an seinem Beobachten nicht unmittelbar beobachten; dazu bedarf es weiterer und nun vermittelter Beobachtungen. Sie verlaufen in einem Netzwerk von vergleichenden Beobachtungen früherer eigener Beobachtungen und der Beobachtungen von anderen. Dabei zeigt sich, dass etwas immer auch anders beobachtet (wahrgenommen, vorgestellt oder gedacht) werden kann, als man es selbst beobachtet. So erscheint die eigene Beobachtung als besondere und eigentümliche Beobachtung, und ›hinter‹ dieser wird dann nach der grammatischen Konvention ein besonderer und eigentümlicher Beobachter als Akteur vermutet. Zwischen der eigenen Beobachtung und dem, was sie beobachtet, tut sich eine Distanz auf, und diese Distanz wird von der menschlichen Orientierung als Spielraum genutzt, sich nur vorläufig an Anhaltspunkte zu halten: die Distanz des ›Sich-Orientierensan …‹. Luhmann spricht selbst vom »Orientierungswert« von Anhaltspunkten für die Unterscheidung von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung51, und im Spielraum von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung wird das ›Subjekt‹ oder ›Selbst‹ der Beobachtung geortet und bestimmt. Es ist zunächst einmal das ›Selbst‹ der Orientierung: Das Subjekt der Orientierung, des Beobachtens, des Unterscheidens und des Entscheidens zwischen Unterscheidungen, das so unterschiedlich identifiziert wird, ist nichts anderes als die Orientierung selbst, die auf diese Weise ihrerseits als Subjekt behandelt wird.52 Schon Nietzsche hat es in der berühmten Rede seines Zarathustra »Von den Verächtern des Leibes« schlicht 38 | Kapitel I 

»das Selbst« genannt und gezeigt, wie es, als bloßer Selbstbezug des Unterscheidens, wechselnd als »Leib«, »Seele«, »Ich«, »Sinn«, »Vernunft« und »Geist« bezeichnet wird.53 Luhmann fasst dieses Selbst der menschlichen Orientierung im Rahmen seiner soziologischen Systemtheorie als Beobachtungssystem, das sich in Differenz zu seiner (jeweiligen) Umwelt setzt, und führt so die Differenz von System und Umwelt, seine eigene Leitunterscheidung, ein. Die Differenz von System und Umwelt spezifiziert die Differenz von Orientierung und Situation; wie die jeweilige Orientierung jeweils auf ihre Situation, so reagiert das jeweilige Beobachtungssystem auf seine Umwelt.54 Da nun Leib und Bewusstsein, die am Menschen unterschieden werden, ihre Umwelt jeweils anders beobachten, der Leib über Reize, das Bewusst­ sein über Vorstellungen, müssen sie nach Luhmann als besondere Beobachtungssysteme verstanden werden. Sie sind dann auch ihrerseits füreinander Umwelt bzw. beobachten einander als solche: Das Bewusstsein ist rundum Einflüssen des Körpers ausgesetzt, nimmt aber nur selektiv, d. h. in seiner spezifischen Beobachtungsweise, dessen Informationen auf (z. B. als Schmerz, der schwer lokalisierbar sein kann); und es kann seinerseits das Verhalten des Leibes nur in engen Grenzen beeinflussen (z. B. die Motorik, aber nicht die Verdauung oder die Vernetzung der Gehirnzellen). So gehen Bewusstsein und Leib weder ineinander auf, noch sind sie voneinander getrennt. In Luhmanns Terminologie sind sie »strukturell gekoppelt«, d. h. sie kommunizieren nur in bestimmten Bahnen miteinander. Dasselbe gilt für »Funktionssysteme« der »Kommunikation der Gesellschaft« wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Kunst. Es wird jeweils anders beobachtet und unterschieden: vom Menschen nach den in ihm gekoppelten Beobachtungssystemen, von den Funktionssystemen der Kommunikation der Gesellschaft nach deren jeweiligen Leitunterscheidungen oder »Codes« wie wahr  /  falsch in der Wissenschaft oder recht  /  unrecht im Recht. So bilden sich unterschiedliche Orientierungswelten aus, zwischen denen Mensch und Gesellschaft oszillieren, ohne dass ›hinter‹ ihnen eine zentrale Steuerung zu finden wäre. Gott in diesem Sinn ist tot.

Orientierung durch Unterscheiden | 39

7. Unterscheiden durch Sprache: Spielräume für Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit

Die diffizil sich einspielende und diffizil bleibende Distanz des Beobachtens zum Beobachteten oder des Unterscheidens zu den produzierten Unterschieden findet ihren Halt vor allem in der auf diese oder jene Weise Subjekte und Objekte unterscheidenden Sprache, die Sprache ihren Halt wiederum in der Kommunikation der Gesellschaft. Wir betreten damit das Feld der Sozialität des Unterscheidens. Der Gebrauch der Sprache verlangt in der Orientierung besonders hohe Aufmerksamkeit. Sprachliche Zeichen werden zwar so gestaltet, dass sie sich auffällig von ihrer Umgebung unterscheiden; eben deshalb aber müssen ihre Unterscheidung voneinander und die Regeln ihrer Verknüpfung miteinander aufwendig eingeübt werden. Sprechen muss eigens gelernt werden, und die Beherrschung der Sprache zur Stiftung von gut verständlichem und überzeugendem Sinn in der Kommunikation erfordert hohe Bewusstheit auch noch in ihrem routinierten Gebrauch. Nietzsche hat die Bewusstheit des Unterscheidens und die Bewusstwerdung überhaupt hypothetisch vom Bedarf nach leichter und schneller Verständigung in Notsituationen abgeleitet. 55 Sprachliche Unterscheidungen dienen danach nicht so sehr der möglichst getreuen Wiedergabe von außersprachlich Gegebenem, sondern der Orientierung, wie man schwierige Situationen in Kooperation mit andern erfolgreich bewältigen kann. Nietzsche setzt darum auch nicht bei der wissenschaftlichen, sondern bei der alltäglichen Sprache und Kommunikation an, die Voraussetzung aller weiteren Kommunikation ist. Erst die wissenschaftliche Sprache und Kommunikation, die Gegebenes auf für alle gleich gültige Begriffe bringen will, drängt auf explizites und eindeutiges Unterscheiden. Die europäische Philosophie in ihrem Hauptstrom und auch noch der frühe Wittgenstein setzte jedoch bei diesem spezifischen Sprachgebrauch an, als er in Anschluss an Gottlob Frege die Sprache dem Ideal der Klarheit der mathematischen Logik unterwarf und dadurch die Entwicklung der logischen Analyse der Sprache vorantrieb. 56 Er sah jedoch bald, dass er mit dem theoretischen 40 | Kapitel I 

Ideal der eindeutigen Begriffe den Sinn der vielfältigen Unterscheidungspraxis der alltäglich gebrauchten Sprache überging: die jeweils hinreichende Eindeutigkeit der Verständigung in konkreten Situationen. Sie kommt durch die Orientierung an den Anhaltspunkten der Situation selbst zustande: Bietet die Situation für beide Seiten hinreichende Anhaltspunkte, kann ein einziges Wort genügen, um präzise ein erwünschtes Handeln auszulösen – in Wittgensteins Beispiel das Zureichen einer Platte unter Bauhandwerkern zu einem genauen Zeitpunkt an einem genauen Ort auf den bloßen Ausruf »Platte!« hin. 57 Wird es in bestimmten Fällen nötig, klar zu machen, was mit ›Platte‹ (im Unterschied zu anderen Bausteinen) gemeint ist, zeigt man schlicht auf sie. 58 Dabei rechnet man damit, dass miteinander Arbeitende ›sich auskennen‹. Reicht das Hinzeigen nicht aus, kann man weitere Wörter oder Gesten hinzufügen, so lange, bis in dieser Situation unter diesen Kommunizierenden die hinreichende Verständigung darüber erreicht ist, wohin die Platten kommen und wie sie abgelegt werden sollen. Die Spielräume der Bedeutungen der Zeichen werden weitgehend durch die Situationen eingegrenzt, in denen sie gebraucht werden. Nichts anderes geschieht im Grundsatz auch bei wissenschaftlichen (einschließlich juristischer) Definitionen: Man grenzt die Bedeutungsspielräume von Begriffen so lange durch weitere Begriffe ein, bis sie für den Gebrauch der jeweiligen Wissenschaft hinreichend eindeutig sind und man auf sie hin kooperativ handeln kann. Im Ganzen entsteht hinreichende Orientierung auch in der Kommunikation durch jeweilige Entscheidungen für weitere Unterscheidungen. In der alltäglichen und weitgehend auch in der professionellen Unterscheidungspraxis wie der der Bauhandwerker besteht daher nur begrenzter Bedarf, nach definitiven Bedeutungen der gebrauchten Wörter zu suchen, wie ihn die auf die logische Analyse der Sprache setzende Philosophie generell unterstellt. Eindeutig definierte Bedeutungen, soweit sie außerhalb der Mathematik und Logik überhaupt möglich sind, wären für die alltägliche Verständigungspraxis sogar kontraproduktiv. Denn damit der Gebrauch der Zeichen sich unterschiedlichen Situationen anpassen kann (man kann Katzen, seine Arbeit, Partner*innen und die Menschheit lieben und doch nicht in derselben Weise), muss er Spielräume für Mehrdeutigkeit lassen, an denen DefinitionsversuOrientierung durch Unterscheiden | 41

che dann verzweifeln können. Grund sind wiederum Kapazitätsgrenzen: Man kann nicht unbegrenzt viele Worte für die sprach­ liche Orientierung in unbegrenzt vielen Situationen lernen. Durch den auf situative Eignung ausgerichteten Sprachgebrauch kann man Eindeutigkeit auch gezielt vermeiden. Das ist oft dann angezeigt, wenn es in Kommunikationen um die Personen der Kommunizierenden selbst geht. Man macht sie nur in besonderen Fällen, meist im Lauf von Streitigkeiten, direkt zum Gegenstand von Unterscheidungen (›mit dir kann man nicht reden, du willst immer nur recht haben‹). Denn entschiedene Bestimmungen anderer Personen können diese leicht in ihrer Selbstbestimmung verletzen, wenn nicht sogar demütigen (›wie kannst du so etwas sagen?‹); solche Direktheit bedarf eines besonderen Rahmens wie der Erteilung von Zeugnissen, Verkündung von Diagnosen oder Urteilen oder Fest- und Trauerreden.59 Im Unterscheiden anderer Menschen zieht man ansonsten den indirekten Modus vor: Man fragt andere nicht direkt über sie aus, sondern befragt, wenn nötig, Dritte und auch das nur mit Vorsicht. Das Unterscheiden wird dadurch komplexer: Man muss nun auch die Aussagen Dritter und Vierter voneinander unterscheiden und ihre Glaubwürdigkeit gegeneinander abwägen. So setzt man, um Konflikte zu vermeiden und weitere Kooperation zu ermöglichen, nicht nur in der professionellen, sondern auch in der Alltagsdiplomatie bewusst auf Mehrdeutigkeit. 8. Grenzen des Unterscheidens: Paradoxie und Anderheit

Das durch Definitionen vereindeutigte Abgrenzen, so wichtig und unabdingbar es in den Wissenschaften und im Recht ist, stößt auch an inhärente Grenzen, die man ebenfalls nicht gerne wahrhaben will. Zum einen können Unterscheidungen, die mit ihrem negativen Wert auf sich selbst bezogen werden, zu Paradoxien führen wie im berühmten Beispiel dessen, der sagt, er lüge mit dem, was er sagt: Nach der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge sagt er die Wahrheit, wenn er sagt, dass er lügt, und zugleich nicht die Wahrheit, wenn es wahr ist, dass er lügt. So wird auch die Unterscheidung von Recht und Unrecht paradox, wenn man sie auf sich selbst anwendet: Es kann dann zum Unrecht werden, überhaupt Recht 42 | Kapitel I 

und Unrecht zu unterscheiden. Von den Paradoxien der Zeit war oben schon die Rede. Bei solchen Selbstbezügen (wird die Unterscheidung mit dem positiven Wert auf sich selbst angewendet, entsteht eine bloße Tautologie) blockiert das Unterscheiden, kommt nicht weiter, und man muss dann Wege suchen, die Blockade aufzulösen oder mit Luhmann die Paradoxien zu entparadoxieren. Das geschieht mit weiteren Unterscheidungen entweder auf defensive Art, indem man die Paradoxien durch weitere Definitionen logisch entschärft (z. B. durch ein Verbot des Selbstbezugs)60 , oder auf pragmatische, indem man sie durch andere Unterscheidungen verdeckt oder invisibilisiert (z. B. die Paradoxien der unanschaulichen Zeit durch den Begriff der anschaulichen Bewegung). Man kann aber auch auf kreative Art mit beiden Seiten der Unterscheidung weiterarbeiten (z. B. mit Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, um dadurch einen neuen Begriff der Zeit zu gewinnen, oder mit Wahrheit und Lüge, um in der alltäglichen und politischen Kommunikation friedliche Diplomatie statt aggressiver Rechthaberei zu ermöglichen). Im letzten Fall werden aus einschränkenden Denkhindernissen, wie Luhmann es vorgeführt hat 61, weiterführende Denkmittel: Die Grenzen des theoretischen Unterscheidens werden erweitert und irritierende Paradoxien halten sie bewusst. Ethisch gerät das definitive Begreifen-Wollen, wie angedeutet, in der inter-individuellen Kommunikation, besonders im face-à-face, an Grenzen. Was im wissenschaftlichen Zugriff auf die Natur zur Routine geworden ist, das Eingreifen in sie mit eigenen Begriffen, wird im face-à-face als Übergriffigkeit spürbar: daran, dass man andere mit seinen Unterscheidungen aufbringen, verärgern, verletzen kann, sei es bei Identifikationen ihrer selbst, sei es bei der Beschreibung von Dritten und Drittem. Nicht erst persönliche Charakterisierungen (›ich sage dir das auf den Kopf zu‹), auch schon gängige Bewertungen (›du bist nun einmal ein Beamter‹) und schlichte Einordnungen (›ja, wenn man aus Afrika stammt‹) können hier irritieren, die einen mehr, die andern weniger. 62 In der Kommunikation unter Anwesenden bedarf es darum noch erhöhter Aufmerksamkeit auf den Zeichengebrauch und besonderer Orientierungstugenden wie Umsicht, Rücksicht, Weitsicht, Vorsicht, Vorau­ssicht und Nachsicht. Philosophen wie Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, Bernhard Waldenfels und Burkhard Liebsch setzen die Analyse des Orientierung durch Unterscheiden | 43

Unterscheidens hier an. 63 Danach erscheinen andere immer noch anders, als man sie mit sprachlichen Unterscheidungen unterscheiden kann, oder ›ganz anders‹ (tout autrement), inkommensurabel; für die Unterschiedenheit vom Unterschieden-Werden selbst ist ›Anderheit‹ zum ethischen Terminus geworden. Mit der Rücksicht auf die Anderheit gibt man die eigene und unvermeidlich egozentrische Unterscheidungs-, Entscheidungs- und Wertungshoheit auf oder mit einem Wort die Deutungshoheit des Unterscheidenden in der traditionellen Subjektphilosophie. Man öffnet sich für inkommensurable Orientierungen anderer – auf die Erfahrungen eben ihrer Inkommensurabilität hin. Nietzsche hat die Identifikationsmacht schon der alltäglichen Sprache, das Angleichen der Anderheit Anderer zum »Ähnlichen, Gewöhnlichen, Durchschnittlichen, Heerdenhaften« oder dem »Gemeinen« im Sinn des Allgemeinen und Aggressiven als »Gewalt« erlebt und beschrieben, als die »gewaltigste«, »welche über den Menschen bisher verfügt« hat. Umso mehr forderte er Rücksicht auf die »Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen« ein. 64 In hochdifferenzierten modernen demokratischen Gesellschaften sind sie mehr als eine Minderheit. Aber auch sie müssen weitgehend die eingespielte Sprache gebrauchen, um sich im Alltag zu verständigen, auch, wenn sie über sich selbst sprechen. So können sie auch ihre eigenen Selbstdeutungen als Selbstdiskriminierungen wahrnehmen: »Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr …«65 Je feiner Menschen zu unterscheiden lernen, desto mehr leiden sie an der Unfeinheit von Unterscheidungen. 9. Unterschied als Produkt: Denken von Begriffen, Identitäten und Entitäten

In Sprachen liegen Unterschiede als Produkte von Unterscheidungen vor. Sie erscheinen dann ihrerseits als Gegebenheiten, werden als an sich bestehende angenommen. Sie gelten als selbstverständlich, was sie keineswegs sind, wie man heute an lange fraglosen 44 | Kapitel I 

Unterschieden wie zwischen Herrschern und Untertanen, Reichen und Armen, Weißen und Schwarzen, Männern und Frauen leicht sehen kann. In scheinbar gegebenen Unterschieden, die sich jedoch in der Situation einer Zeit ergeben, wird von den Prozessen des Unterscheidens und deren Motiven abgesehen; die Produkte werden von den Prozessen gelöst. Unterschiede scheinen dann vorhanden und lassen sich als lehrbares Wissen in definierbare Ordnungen (z. B. biologische, ethnologische, soziologische, kulturologische) bringen; auf sie werden soziale und politische Ordnungen aufgebaut (z. B. im Zweiten Deutschen Kaiserreich ein Männer- und Klassenwahlrecht) und aus ihnen Legitimationen abgeleitet (z. B. zur Kolonialisierung anderer Länder). Ein Produkt des Unterscheidens ist auch die Selbstunterscheidung ›des Denkens‹, das in der europäischen Philosophie weitgehend als gegeben vorausgesetzt wurde. Es wurde seit der griechischen Antike in einen asymmetrischen Gegensatz zum Wahrnehmen gesetzt, um vom Zeitlichen ein Zeitloses, vom Veränderlichen ein Seiendes, vom Werden ein Sein, vom Haltlosen einen festen Halt der Orientierung zu unterscheiden (Abschn.  1). Das Denken wurde selbst zu einem zeitlosen Akteur gemacht (Abschn.  6). Descartes verwendete die Figur des Selbstbezugs, die man in der Antike noch mied, weil man infinite Regresse, d. h. unendliche Entgrenzungen fürchtete, um das Denken sich seiner eigenen und nun einzig gewissen Existenz versichern zu lassen; sie sollte das Sicherste sein, das es gibt. Als immer deutlicher wurde, dass das, was das Denken unterscheidet, nicht schon an sich besteht, und auch nicht das Denken selbst – nach der Kritik der reinen Vernunft ist nur wirklich, was begrifflich fassbar und sinnlich wahrnehmbar ist, das Denken ist aber per definitionem nicht sinnlich wahrnehmbar  –, übertrug Kant die Asymmetrie der Unterscheidung von Denken und Wahrnehmen in die von Spontaneität und Rezeptivität. Das Denken war nun, was immer es auch sonst sein mochte, der Akteur schlechthin. Darauf konnte der Deutsche Idealismus seine Systeme bauen. ›Das Denken‹ schafft Begriffe und aus seinen Begriffen Welten. Aber es sind gedachte Welten, Welten ›im‹ Denken. Bei der Bildung von Begriffen überhaupt wird in Unterscheidungen deren alternative Seite weniger abgewertet (Abschn.  5) als abgeOrientierung durch Unterscheiden | 45

blendet oder, wie bei Hegel, dialektisch aufgehoben. Aus zwei- oder mehrstelligen Unterscheidungen, die Alternativen offenhalten, werden einstellige Begriffe, die durch weitere einstellige Begriffe definiert werden können. So wird die Bedeutungsvielfalt alltäglicher Unterscheidungen gezielt ausgeschlossen, die Entscheidbarkeit im Unterscheiden wird invisibilisiert, die Orientierung gefestigt: Es kommen Identitäten, Entitäten und Qualitäten aller Art zustande, auf die man sich dauerhaft beziehen kann. Gefestigte oder, nach Nietzsches Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, aus flüssigen Metaphern erstarrte Begriffe verführen dazu, sie ontologisch zu hypostasieren, darunter auch das Denken selbst. Ordnungen aus physikalischen Entitäten wie Kräften, Energieformen, Schwingungen, Feldern oder Quanten, die nicht unmittelbar zu beobachten sind, geben der Orientierung über Naturprozesse einen kaum noch bezweifelbaren Halt; für soziale und politische Ordnungen wie Nationen, Staaten und Herrschaftsformen, die ebenfalls auf dem Weg der ontologischen Hypostasierung entstehen, kann man kämpfen und, wenn es zum Äußersten kommt, sogar sein Leben opfern. Nachdem man im Zug des 19. Jahrhunderts gegen die Idealisierung des Denkens, seiner Begriffe und seiner Ordnungen zunehmend skeptisch geworden war, brach Nietzsche vollends mit ihr. Die Entidealisierung und Wiederverflüssigung, die er betrieb, hält bis heute an. Die »Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie«, schrieb er, sind »allesamt Sensualisten«, »nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik …«66 Philosoph*innen arbeiten weiter an begrifflichen Ordnungen, doch zumeist ohne noch an die absolute Zeitlosigkeit der Ordnungen eines ›reinen‹ Denkens zu glauben. Zugleich zeigt sich, wie schwer Denken als solches fassbar ist. Es geschieht, ohne dass sich ein Akteur ausmachen lässt, läuft unaufhörlich weiter, lässt sich nicht aus- und einschalten, es kann, im Schlaf oder im Koma, verschwinden und dann wieder erwachen. Man verfügt über das Denken noch weniger als über das Gedächtnis, auf das es sich beim Gebrauch von Sprachen und Zeichen stützt; ein Gedanke kann einem einfallen und wieder verschwinden. Achtet man auf das Denken selbst, unterscheidet man es als Bewusstsein und das, was da unterscheidet, als Selbstbewusstsein, so dass es sich selbst bestätigt; doch das sind nur Selbstunterschei46 | Kapitel I 

dungen des Denkens, nichts, was sich ohne Weiteres beobachten ließe. Auch das ›man‹, von dem ›ich‹ hier spreche, ist eine grammatische Hilfsgröße, die den Schein erweckt, als wisse man, worum es sich handelt. Aber man kann sich anhand solcher Hilfsgrößen orientieren. Auch was wir ›Denken‹ nennen, ist eine Hilfsgröße unserer Orientierung. Der alltägliche (deutsche) Sprachgebrauch gibt, auch wenn er grammatisch zu Aktionen Akteure assoziiert und so auch zu den Vorgängen des Denkens ein denkendes Subjekt (Abschn.  6), ein anderes Bild vom Denken: Er lässt ein weites Spektrum vielfältiger Funktionen des Denkens erkennen. Es reicht vom bloßen Aufmerken (›denke daran‹) über ein Glauben (›ich denke, es verhält sich so‹), Vorstellen (›denke dir Folgendes‹), Phantasieren (›er hat sich da etwas ausgedacht‹), Meditieren (›darüber muss ich in Ruhe nachdenken‹), Erinnern (›denken wir einmal zurück‹), Berücksichtigen (›bedenke, dass da auch andere betroffen sind‹), Einfühlen (›sie kann sich da gut hineindenken‹) und willentliches Beabsichtigen (›ich gedenke so zu verfahren‹) bis zum methodischen wissenschaftlichen Denken (›lass uns das Schritt für Schritt durchdenken‹). 67 Das Letztere hat die Philosophie zum Maßstab alles übrigen Denkens gemacht. Dabei gehen weitere charakteristische Unterscheidungen und Nuancierungen des Denkens verloren, etwa, dass man ›klar‹ oder ›geheimnisvoll‹, ›zielführend‹ oder ›umwegig‹, ›tief‹ oder ›oberflächlich‹, ›traditionell‹ oder ›innovativ‹, ›konform‹ oder ›abweichend‹, ›idealistisch‹ oder ›nüchtern‹ denken kann. In jedem Fall ist Denken nicht unmittelbar beobachtbar. Man unterstellt es anhand gewisser Anhaltspunkte. Am schärfsten hingesehen hat hier wiederum Wittgenstein. 68 Nach ihm ist Denken »im wesentlichen eine Tätigkeit des Operierens mit Zeichen [:] Diese Tätigkeit wird mit der Hand ausgeführt, wenn wir schreibend denken; mit dem Mund und Kehlkopf, wenn wir sprechend denken; und wenn wir denken, indem wir uns Zeichen oder Bilder vorstellen.« Und dabei kann man »kein Agens, das denkt, angeben. Wenn du dann sagst, daß in solchen Fällen der Geist denkt, dann würde ich deine Aufmerksamkeit lediglich auf die Tatsache lenken, daß du eine Metapher gebrauchst, daß der Geist hier in einem andern Sinn ein Agens ist als dem, in dem man von der Hand sagen Orientierung durch Unterscheiden | 47

kann, daß sie das Agens beim Schreiben ist.«69 Was man ›Denken‹ nennt, ist ein bisher undurchschaubarer »Mechanismus«, bei dem, sobald wir ihn »nachträglich […] beschreiben« wollen, »alle die vielen feineren Vorgänge […] verloren gegangen sind.«70 Diese Vorgänge haben dennoch gemeinsam, dass die menschliche Orientierung durch sie Distanz zur unmittelbar wahrgenommenen Situation gewinnt und so versuchsweise ›über sie hinausblicken‹ kann, etwa, um Pläne für anstehendes Handeln durchzuspielen. Dazu muss Denken weder ›transzendent‹ noch ›a priori‹ noch nach logischen Regeln geordnet sein. Es schafft, so wie wir es erleben, lediglich Spielräume gegenüber der jeweiligen Situation. Als ungeordnetes, ›schweifendes‹ Denken kann es auf ›Einfälle‹ kommen, als ›überfliegendes‹ Denken Anhaltspunkte für mögliche Ordnungen sammeln. Es ist stets Teil eines umfassenderen Orientierungsprozesses und dabei offen für Alternativen und Veränderungen. Wittgenstein ist, um den ontologischen Hypostasierungen von Begriffen zu Entitäten zu entgehen, auf die Grundstimmungen der menschlichen Orientierung, Beunruhigung und Beruhigung71, zurückgegangen, fragte, warum die »Festsetzung einer Regel […] uns beruhigt, nachdem wir so schwer beunruhigt waren. Was uns beruhigt, ist offenbar, daß wir ein System sehen, das diejenigen Gebilde (systematisch) ausschließt, die uns immer beunruhigt haben, mit denen wir nichts anzufangen wußten und die wir doch respektieren zu müssen glaubten.«72 Beruhigung entsteht in der menschlichen Orientierung durch dauerhafte und übersichtliche Ordnungen aus Identitäten und Entitäten, die ihre immer möglichen Alternativen überblenden. Sie werden durch Verallgemeinerungen und Verknüpfungen von Unterschieden möglich. 10. Ordnungen aus Unterschieden: Unkontrollierte und kontrollierte Verallgemeinerungen

Um sich im unablässigen Heranströmen neuer Ereignisse halten zu können, muss die menschliche Orientierung vereinfachen, Komplexität reduzieren und sich Bestände über die Zeit hinweg sichern. Das geschieht durch Verallgemeinern. Es beginnt damit, 48 | Kapitel I 

dass gegebene Anhaltspunkte gleichgesetzt und Muster gebildet (Abschn.  2) und die Muster in Begriffe gefasst werden (Abschn.  9). Begriffe können durch umfassendere Begriffe weiter verallgemeinert, Ordnungen zu umfassenderen geordnet werden. Die Spielräume sind hier nahezu unbegrenzt. Man kann in unterschiedliche Richtungen, in unterschiedlichen Horizonten und in unterschiedlichen Graden verallgemeinern. Philosoph*innen leisten hier das Äußerste. Umso mehr müssen sie ihre Verallgemeinerungen kontrollieren. Begriffe und Ordnungen bestehen so wenig wie Dinge an sich; die menschliche Orientierung schafft sie sich, um Übersicht zu gewinnen. Danach sind Verallgemeinerungen Abkürzungen; Nietzsche fasst, was wir Orientierung nennen, im Ganzen als »Schematisir- und Abkürzungskunst«.73 Die Kunst der übersichtlichen Abkürzung besteht darin, stets nur so weit zu verallgemeinern, dass die Abkürzungen zur Orientierung verhelfen, nicht sie irreführen. Kant hat in der Einleitung zu seiner Logik-Vorlesung dazu sorgfältig »Horizonte unsrer Erkenntnisse« unterschieden und zugleich empfohlen, über »das Volumen des Raums für unsre Erkenntnisse« nicht besorgt zu sein: Sie werden sich wohl immer weiter vermehren, aber man wird auch »neue Methoden und Prinzipien« erfinden, um sie zu »verkürzen«, und auch diese Kunst wird ihre »Genies« hervorbringen.74 Verallgemeinerungen überschießen leicht. Ein Alltagsbeispiel: Man will zum ersten Mal einen Gebrauchtwagen kaufen und beobachtet nun, wie der Gebrauchtwagenhändler den Kauf zu steuern sucht und geschickt auf bestimmte Modelle hinführt, die er offenbar loswerden will. Man typisiert: So verhält sich also ein Gebrauchtwagenhändler. Man geht auch noch zu einem anderen Gebrauchtwagenhändler und sieht, er geht ähnlich vor. Man generalisiert: Offenbar verhalten sich alle Gebrauchtwagenhändler so. Das bedeutet lediglich, dass man nun nichts mehr anderes erwartet: Man stereotypisiert, verfestigt den rasch generalisierten Typus (griechisch stereós heißt ›fest, starr‹). Um sich das Stereotyp nicht selbst zuzuschreiben, führt man es auf Wesenseigenschaften zurück (›es gehört nun einmal zum Wesen eines Gebrauchtwagenhändlers, dass er …‹): Man essentialisiert. Bewährt sich das schließlich gekaufte Auto nicht, schreibt man dem GebrauchtwaOrientierung durch Unterscheiden | 49

genhändler die Schuld zu: Man moralisiert. Man misstraut nun Gebrauchtwagenhändlern generell: Man diskriminiert. Verärgert über den Handel, verallgemeinert man weiter und hält Händler überhaupt für professionelle Betrüger: Man diskreditiert. Schließlich geht man aufs Ganze und greift den Kapitalismus an: Man radikalisiert und polemisiert. Die Orientierung ist in jeder Hinsicht aus dem Ruder gelaufen. Jeder Schritt war voreilig und muss also kontrolliert werden, der Typisierung müssen haltbare Anhaltspunkte, nicht vage Verdachtsmomente, der Generalisierung beobachtbare Gleichheiten einer großen Menge, nicht nur einzelne Fälle zugrunde liegen. Beide dienen der Vereinfachung und Beschleunigung und damit genuinen Bedürfnissen jeder Orientierung. Die Stereotypisierung, die Essentialisierung, die Asymmetrisierung durch moralische Qualifizierung und schließlich die polemische Radikalisierung gehen dagegen weit über die beobachteten und beobachtbaren Gegebenheiten hinaus, führen in Richtungen und Horizonte, die nur noch wenig mit ihnen zu tun haben. Sie stellen die Orientierungsfähigkeiten selbst in Frage. Im Gefühl dauerhafter Beeinträchtigungen können sich ganze Völker in einen Hass auf andere Völker versteigen, bei denen sie die Schuld für das eigene Unglück suchen (›Die Juden sind unser Unglück!‹); vorschnelle Verallgemeinerungen können mörderisch werden. In der menschlichen Orientierung sind Verallgemeinerungen aber immer auch Widerständen an anderen Erfahrungen ausgesetzt. In der Kommunikation mit andern können sie nicht nur bestärkt, sondern auch in Frage gestellt, in der Kooperation mit andern evident widerlegt werden (›Meinem Gebrauchtwagenhändler konnte ich vertrauen, mein Wagen läuft seit Jahren anstandslos‹, ›Im größten Unglück hat mir ein Jude geholfen‹). Man lernt dann, dass Verallgemeinerungen immer entscheidbar sind, dass sie stets revidiert werden können und kontrolliert werden müssen (wobei auch dies eine Verallgemeinerung ist). Und eben das heißt, dass eine Orientierung lernt. Hier werden Wissenschaften vorbildlich: Sie bestehen in disziplinierten Verallgemeinerungen. Wie Orientierungen lernen, kann man aber auch schon im alltäglichen small talk, in Gesprächen über ›kleine‹, unbedeutende Dinge beobachten. Sie verlaufen exemplarisch in doppelter Kontin50 | Kapitel I 

genz, wie Luhmann sie im Anschluss an Talcott Parsons genannt hat: Die andere Seite kann jeweils anders antworten oder handeln, als die eine erwartet hat, und beide wissen das. So müssen sie sich in der Gesprächssituation laufend neu orientieren, unter Ungewissheit entscheiden, wie sie die Kommunikation fortführen wollen. Wittgensteins Plattenleger (Abschn. 7) führen keinen small talk; sie arbeiten in einer bereits gut eingespielten sozialen Ordnung, die ihnen eine reibungslose Kooperation ermöglicht. Richtung, Horizont und Grad der Verallgemeinerung sind hier denkbar übersichtlich: Ein bestimmter Typus brauchbarer Platten, u. U. einmal von dieser, einmal von jener Form, soll jeweils auf eine bestimmte Weise an einen bestimmten Ort verlegt werden. Bis sich dabei eine effiziente Ordnung eingespielt hat, kann es in der wechselseitigen Orientierung jedoch Probleme bis hin zu offenen Konflikten gegeben haben (›aber so macht man das doch nicht‹). Doch wenn, so Luhmann, in gemeinsamen Orientierungsschwierigkeiten »zur eigenen Verhaltensunsicherheit auch die Verhaltenswahl eines anderen unsicher ist und vom eigenen Verhalten mitabhängt, entsteht die Möglichkeit, sich genau daran zu orientieren«.75 Will man weiterkommen, sucht man dann Wege, wie man sich in Rücksicht auf die Haltungen des andern in der jeweiligen Situation am besten orientieren und Probleme vermeiden kann. Man versucht die Orientierung des andern in die eigene einzubeziehen. Da keiner Einsicht in das Bewusstsein des anderen und auch nur begrenzt in sein eigenes Bewusstsein hat, kommt es, so Wittgenstein, dabei nicht darauf an, was er meint: »Wenn man aber sagt: ›Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‹, so sage ich: ›Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.‹«76 Man achtet stattdessen auf sein Verhalten und dessen Ergebnis. Passt es, kann man weitermachen. Kooperation setzt nicht schon Konsens im Sinn eines gemeinsamen Bewusstseins übereinstimmender Meinungen voraus, und gäbe es ihn, würde er nicht schon erfolgreiche Kooperationen garantieren, weil jeder ihn wieder auf seine Weise in Handeln umsetzen könnte. Im small talk geht es gerade um Meinungen und nicht um Ergebnisse. Hier sucht man nach Themen, und Themen lassen sich hier nahezu beliebig verallgemeinern.77 Ein small talk ist ein Orientierungsprozess: Beide Seiten suchen sich anhand dessen, was Orientierung durch Unterscheiden | 51

sie sagen und wie sie dabei unterscheiden und verallgemeinern, übereinander und aneinander zu orientieren. Themen sind die Anhaltspunkte eines Gesprächs, die Beiträge zu ihnen weitere Anhaltspunkte, die dann Muster ergeben. Der Begriff ›Thema‹ kommt von griechisch títhaemi, setzen, aufstellen, zur Aufgabe machen: Die gemeinsame Aufgabe eines Gesprächs ist, unterschiedliche Beiträge zu gemeinsamen Themen zu leisten. Daher müssen Themen für beide Seiten anschlussfähig sein, beide müssen etwas dazu sagen können, und darum redet man zunächst gerne über Wohlbekanntes wie das augenblickliche Wetter. Daran kann man dann wiederum beobachten, ob, wie schnell und wie weit verallgemeinert wird (›Warm? Ja, es ist schön warm heute, aber das Klima erwärmt sich jetzt so, dass bald ganze Länder im Meer versinken und riesige Hungersnöte ausbrechen werden‹). Auch wenn es, anders als beim Autokauf, beim augenblicklichen Wetter um ›weiter nichts geht‹, muss man einschätzen, ob man auf solche statements eingehen, wie weit man hier mitgehen oder, wenn man die Dinge anders einschätzt, was man durchgehen lassen will oder nicht. Es geht hier weniger darum, ob richtig ist, was gesagt wird, sondern welche Figur man dabei macht, dass man es sagt.78 Auch hier spielen schon Regeln und Ordnungen mit wie ›das Gegenüber reden und ausreden lassen‹, ›ruhig bleiben‹, ›Streit vermeiden‹ usw. »Alle diese strukturierenden Erwartungen erlauben eine Orientierung im Gespräch.«79 Sie erlauben auch, Themen zu wechseln, aber nur dort, wo bestimmte ›Punkte‹ des bisherigen Themas günstige Übergänge zu einem andern zulassen: Anhaltspunkte werden dann zu Angelpunkten, um die sich ›die Richtung des Gesprächs dreht‹ (›Erderwärmung, ja, und was tut unsere Regierung dagegen?‹). Die Übergänge oder ›Anschlüsse‹ in Luhmanns Sprache können locker, dürfen aber nicht beliebig sein; sie müssen das Verallgemeinerungsniveau halten (also nicht: ›Die Kanzlerin trug ein golddurchwirktes Jackett, als sie sich neulich zur Erderwärmung äußerte‹); sie müssen passen. Da bei der Kontrolle der Anschlüsse über Passungen große Spielräume bleiben, hat keine der beiden Seiten den Verlauf des Gesprächs in der Hand; keine kann den small talk einseitig kontrollieren wie Interviews oder Arbeitsgespräche. Bleibt das Gespräch lange bei einem bestimmten Thema oder kehrt es immer wieder zu ihm zurück und wird 52 | Kapitel I 

das Thema nach unterschiedlichen Richtungen ausgelotet und in Reichweite und Grad seiner Verallgemeinerungen durchgegangen, spielen sich für diese Gesprächsbeziehung spezifische Ordnungen und damit eine wechselseitige Kontrolle ein. Man lernt, wohin und wie weit man mit dem oder der andern gehen kann. Dabei kommen auch Fragen der Macht ins Spiel. Im small talk fällt es auf, wenn jemand einseitig und gezielt Themen setzt (›genug jetzt mit Wetter und Klima, was machen Sie eigentlich beruflich?‹); er oder sie wirkt dann dominant, übernimmt erkennbar die Kontrolle und setzt damit auch ein Verallgemeinerungsniveau. Das wird meist gerne hingenommen, wenn die oder der Führende im Gespräch bei den angesprochenen Themen deutliche Orientierungsüberlegenheiten beweist, sich also auskennt. Das Gespräch versachlicht sich, Beiträge werden als mehr oder weniger einleuchtende Argumente wahrgenommen. Doch auch Argumente sind nicht einfach gut oder schlecht, sondern können unterschiedlichen Gesprächspartner*innen unterschiedlich einleuchten, so dass man hier dieses, dort ein anderes Argument ›bringen‹ muss; Argumente in der Kommunikation stehen so wenig an sich fest wie Gegebenheiten der Natur. Man muss auch sie zur Orientierung stets gewichten, das heißt wiederum: ihre Anhaltspunkte, Horizonte und Reichweite erkunden und einschätzen. Man nimmt nicht einfach ihre Allgemeingültigkeit hin, sondern prüft, kon­ trolliert die Art ihrer Verallgemeinerung. Moralisierungen und polemische Radikalisierungen stoßen hier zudem an Grenzen der jeweils aktuellen political correctness; Profilierungsbedürfnisse der Gesprächspartner*innen können freilich umso mehr reizen, solche Grenzen ironisch oder provokant zu überspielen, um weitere Möglichkeiten der Verallgemeinerung auszutesten. So wird die Kontrolle der Argumente und der mit ihnen verbundenen Verallgemeinerungen ihrerseits komplex und unübersichtlich. In den Wissenschaften scheint sich das völlig zu ändern; in ihrer methodischen Disziplin scheinen sie nur mit kontrollierten Verallgemeinerungen zu arbeiten und so zu völlig zuverlässigen Ordnungen zu kommen. Formalwissenschaften wie Logik, Mathematik und Informatik sind Kontrollinstrumente von hoher Perfektion. Dennoch könnte die »Wirklichkeit«, so Nietzsche, ihnen gegenüber »unsäglich {anders} complicirt« sein. 80 Es ist seinerseits Orientierung durch Unterscheiden | 53

wissenschaftlich immer deutlicher herausgearbeitet worden, wie stark sich die Anhaltspunkte, Richtungen und Grenzen der Verallgemeinerung in den Realwissenschaften unterscheiden und wie sehr sie von spezifischen Situationen abhängen. Anhaltspunkte können hier messbare Daten, durch Quellen belegte Fakten oder beobachtbares Verhalten, aber auch fiktive Identitäten und Entitäten sein; man kann wissenschaftlich verallgemeinern in Gestalt von Hypothesenbildungen oder von ideengeleiteten Erzählweisen und auf Grund von Experimenten oder von dichten Beschreibungen; man kann die Verallgemeinerungen verknüpfen nach klassischen logischen Schlussverfahren, durch statistische Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten oder mit Hilfe von Epochen- oder Kulturvergleichen; situative Bedingungen wie vorhandene Gerätschaften in Laboren, Kommunikationsbedingungen in Forschungsinstituten, Chancen für Projektfinanzierungen und Karriereaussichten können die jeweiligen Forschungen in unterschiedliche Richtungen führen81; dabei ergeben sich auch unterschiedliche Kriterien der Objektivität oder Standards der Verallgemeinerung, über die man sich von Fall zu Fall orientieren muss. 82 Auch methodisch disziplinierte realwissenschaftliche Forschung läuft im Rahmen offener Orientierungsprozesse ab. Dass in den mathematischen Naturwissenschaften mit kontrollierten Abkürzungen exakte Berechnungen und Prognosen möglich geworden sind, spricht für die zunehmend treffendere Wahl und Verarbeitung von Anhaltspunkten. Aber auch in dieser Wahl sind zahlreiche Paradigmenwechsel eingetreten. Die Kontrolle der doppelt kontingenten Kommunikation in wissenschaftlichen Disziplinen ist eine gezielte Engführung der Orientierung. Philosophie, die es zu ihren Aufgaben zählt, Übersicht über die menschliche Orientierung im Ganzen zu schaffen, kann nicht bei solchen Engführungen bleiben. Sie kann sich zwar durchaus erfolgreich auf wissenschaftsnahe Formen wie Wissenschaftstheorie oder logische Analyse der Sprache oder rechtsförmige Begründung ethischer Entscheidungen spezifizieren, sich auf bestimmte Themenfelder wie Anthropologie, Sozial-, Kunst- oder Religionsphilosophie beschränken und ihre Methoden jeweils darauf einrichten, darf dabei aber nicht den Überblick darüber verlieren, was sie dadurch ausschließt. Sie hat als Disziplin die Freiheit, neue, bisher 54 | Kapitel I 

übersehene oder ausgeschlossene Anhaltspunkte zu Themen zu machen und von ihnen aus groß angelegte neue Verallgemeinerungen zu wagen, die dann zur Neuorientierung der Philosophie im Ganzen führen können. Emmanuel Levinas zum Beispiel hat die Ethik von einem bisher kaum beachteten Anhaltspunkt, dem faceà-face, und Jacques Derrida die Metaphysik-Kritik von der Schrift her aufgezogen, und beide haben die Philosophie von Grund auf erneuert. Nietzsche, der zahllose neue Anhaltspunkte und Themen ins Spiel der Philosophie brachte, hat dabei, vielleicht auch sich selbst, vor der gefährlichen »Philosophen-Wuth der Verallgemeinerung« als ihrer »Erbsünde« gewarnt. Philosophen (und inzwischen natürlich auch Philosophinnen) machen, so Nietzsche, aus »ungefähren Fingerzeigen«, also Anhaltspunkten, sehr schnell »unbedingte« Wahrheiten. Sie verallgemeinern sie mit »poetischen Metapher[n]« und kommen dann leicht zu »falschen Verdinglichung[en]«, aus denen ganze Metaphysiken entstehen können. 83 Gerade die Philosophie ist mit ihren hohen und höchsten Verallgemeinerungen immer in Gefahr, Fiktionen und Idealisierungen aufzusitzen. Umso mehr bedarf sie der Kontrolle ihrer Verallgemeinerungen. Nach Kant nehmen Philosophen im Unterschied zur Mathematik ›gegebene‹ Begriffe auf. 84 Sie entgrenzen deren Bedeutungsspielräume, um sie neu zu begrenzen, und versuchen so, ihre ordnenden Begriffsgefüge im Ganzen auf neue Situationen der menschlichen Orientierung einzustellen (so wie es hier mit den Begriffen der Orientierung und der Unterscheidung selbst geschieht). Nietzsche hat zu seiner Zeit eine »Experimental-Philosophie« vorgeschlagen, die bereit ist, unter dem Namen des Nihilismus die Gültigkeit aller gängigen philosophischen Verallgemeinerungen und Wertungen außer Kraft zu setzen, um neue und weiterführende Orientierungen zu wagen, diese dann aber ihrerseits stets kritisch zu prüfen. 85 Mit Wittgenstein ist umso mehr zurückzufragen, wie philosophische Begriffe alltäglich gebraucht werden und in genau welchen Schritten, mit welchen Methoden und Argumenten man sie verallgemeinern und zu Entitäten hypostasieren will. So empfiehlt es auch der amerikanische Pragmatismus 86 , und so verfährt mutatis mutandis Luhmann mit seiner philosophisch hochbedeutsamen soziologischen Systemtheorie. Orientierung durch Unterscheiden | 55

Für ihn wie für Nietzsche und Wittgenstein ist das letzte Kriterium auch der Ordnung von Unterschieden in einer Theorie oder Philosophie die bloße Passung. 87 Passungen bewähren sich in der Orientierung dadurch, dass sie auf evidente Weise weiterführen, wobei die Evidenzen unterschiedlicher Art sein können. Sie lassen weite Spielräume für vielfältige Anschlussmöglichkeiten und deren Kontrolle zu. In der Philosophie sind Anhaltspunkte hier neben der systematischen Verknüpfung ihrer Begriffe nach logischen Verfahren vor allem die Entwicklung ihrer Begriffe in der Geschichte der Philosophie einerseits und ihre Plausibilität und Haltbarkeit in der Gegenwart andererseits. Wittgenstein geht dabei auf das erste Bedürfnis der Orientierung, die Übersicht, zurück: »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus‹«, und folgert daraus, dass der »Begriff der übersichtlichen Darstellung […] für uns von grundlegender Bedeutung« ist. 88 Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist Wittgensteins grundlegender Begriff dafür, philosophische Verallgemeinerungen zu kontrollieren und von ihren Irreführungen zu therapieren. Er versucht das durch eine extrem sorgfältige, über Jahrzehnte fortgeführte Beobachtung der Ent- und Eingrenzung der in der Philosophie gebrauchten Begriffe und ihres Wechsels zwischen weiteren und engeren Horizonten der Verallgemeinerung. 89 11. Agonale Ordnung von Orientierungen: Positionierung auf einer Seite von Unterscheidungen

In schwer entscheidbaren und darum meist strittigen Fällen der alltäglichen, wissenschaftlichen und philosophischen Orientierung bezieht man ›Position‹. Man ›vertritt‹ sie im Bewusstsein, dass auch andere Positionen vertretbar sind. In der Philosophie werden daraus Grundorientierungen wie Empirismus und Rationalismus, Materialismus und Idealismus, Realismus und Antirealismus, Kog­nitivismus und Nonkognitivismus usw. Von solchen Positionen aus werden dann weitere Orientierungsentscheidungen getroffen. Nach Kant wird die Vernunft auf diese Weise dogmatisch und pole­misch gebraucht 90 , gegen »fremde Vernunft« gerichtet.91 Sie wird kämpferisch, agonal. Sofern die gegnerischen Seiten dennoch 56 | Kapitel I 

eine »allgemeine Menschenvernunft« anerkennen, »worin ein jeder seine Stimme hat«, müsste der Streit, so Kant, durch »eine reife Kritik« aufzuheben sein92; lassen sie die Argumente der anderen Seite nicht gelten, bleibt es bei Positionen, von denen ›Schulen‹ ausgehen können, die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte halten. Philosophische Positionen können sich so stark unterscheiden, dass die Orientierungen füreinander nicht nur unplausibel, sondern auch unverständlich werden. Mit der ›Position‹ oder der ›eigenen Stimme‹ ist der Standpunkt einer Orientierung bezeichnet, metaphorisch der Ort, an dem man steht und von dem aus man beobachtet, unterscheidet und spricht. Er ist allen durch ihre individuellen Lebensumstände und Bildungsgeschichten mitgegeben; man kann ihn weiterbilden und verändern, hat dann aber immer noch einen Standpunkt. Zu ihm ist alle Orientierung relativ, von ihm aus setzt man sich mit anderen Orientierungen auseinander. ›Relativismus‹ in diesem Sinn ist grundlegend und unvermeidlich. Je nach der Weite oder Enge, Beweglichkeit oder Starrheit seiner Orientierungshorizonte kann man genötigt sein, sich, wo Alternativen sich auftun, mit seinem Orientierungsstandpunkt auf der einen Seite der jeweiligen Unterscheidung zu positionieren, in Dingen des alltäglichen Lebens ebenso wie in der Nutzung von Medien, in der Moral, in der Religion, in der Erziehung, in der Ökonomie, in der Politik, in der Kunst und, wenn man in die Wissenschaft oder in die Philosophie geht, auch in ihnen. Durch Positionierungen entscheidet man, woran man mit seinen eigenen Unterscheidungen anschließen will, und wird damit seinerseits für andere leicht unterscheidbar. Unter dem Namen von ›-ismen‹ bilden sich im wissenschaftlichen Streit mehr oder weniger scharf gezogene ›Frontlinien‹, an denen man ›kämpfen‹, und ›Lager‹, in denen man sich versammeln kann; indem man sich mit verbreiteten Forschungsmeinungen identifiziert oder mit ihnen identifiziert wird, gewinnt man Profil; der wissenschaftliche Wettbewerb wird gut überschaubar. ›Positionen‹ gibt es in übersichtlichen topologischen Ordnungen verschiedener Spielarten wie Koordinatensystemen, Reihenfolgen, Katalogen, Bilanzen, Stufenleitern, Hierarchien usw. Hier ist stets ein Ordnungsrahmen vorausgesetzt oder mitgedacht, der seinerseits von anderen unterschieden und Orientierung durch Unterscheiden | 57

ihnen in einem weiteren Ordnungsrahmen zugeordnet werden kann. Eine solche Übersicht scheint so befriedigend, dass kaum gefragt wird, wie es jeweils zu einer Positionierung gekommen ist, warum sich der eine hier, die andere dort positioniert. Man schätzt es im Gegenteil, wenn jemand an seinen Positionen festhält; man kann sich dann auf sie oder ihn verlassen. Aber Positionierungen sind auch Orientierungshindernisse: Indem man sich zu einer Position ›bekennt‹, bleibt man auf der ­einen Seite einer Unterscheidung stehen, bricht den Orientierungsprozess hier ab. Man macht Halt im Orientierungsprozess, um in seiner Orientierung Halt zu finden. Der Halt wird bestärkt durch die Überzeugungsgemeinschaften, die sich hinter ›-ismen‹ versammeln: Sie können sich leichter ›durchsetzen‹ und ›halten sich‹ länger als ›Einzelmeinungen‹. Nietzsche hat dies schon zu seiner Zeit scharf kritisiert: »Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse«. Durch eine Positionierung sperrt man sich gegen andere Meinungen und Andersdenkende, zuletzt gegen Alterität überhaupt. Dennoch blieb Nietzsche zuversichtlich. Er fährt fort: Der sich Positionierende »ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist, selber stark.«93

58 | Kapitel I 

12. Digitalisierung von Unterscheidungen: Technische Standardisierung globaler Orientierungsprozesse

Durch die Digitalisierung der Kommunikation nimmt das Unter­ scheiden eine standardisierte und globalisierte Form an. Die Standardisierung ist im Prinzip einerseits formalwissenschaftlichmathematischer, andererseits technischer Art: Man rekonstruiert aus der digitalen 0/1-Unterscheidung, mit der sich elektronische Schaltkreise ein- und ausschalten lassen, so weit wie möglich alle übrigen Unterscheidungen, die dadurch de-asymmetriert, wertfrei und kulturunabhängig werden. Die informationstechnische Vereinfachung ermöglicht durch geeignete Algorithmen standardisierte Ordnungen von wachsender Komplexität. Die menschliche Orientierung wird so in einem ungeahnten Maß zugleich entlastet und gesteigert: Rechner sind Unterscheidungsmaschinen mit wiedergabetreuen Gedächtnissen; sie machen nahezu jede gewünschte Information überall schnell auffindbar; sie können zahllose Orientierungsprozesse übernehmen und zuverlässiger ausführen als Menschen, etwa in Navigationsgeräten, in der Beobachtung des Kaufverhaltens von Kund(inn)en, im Börsenhandel, in der Steuerung von Maschinen, in der Logistik des Flugverkehrs bis hin zur Selbststeuerung von Drohnen und Automobilen. Mit hinreichendem Material aus bisherigen Orientierungen (Big Data) können sie ihre Orientierungsentscheidungen laufend optimieren. Unterscheidungs- und Entscheidungsmaschinen schaffen jedoch zugleich neue Ungewissheiten und Risiken. Sie sind von technischen Bedingungen abhängig: Strom muss fließen, Geräte müssen funktionieren, Netze dürfen nicht zusammenbrechen, übertragene Daten müssen vor Missbrauch geschützt sein. Von Computern kennen gewöhnliche Nutzer*innen nur die Nutzeroberflächen, auf denen sie sich erst wieder zu orientieren lernen müssen. Armin Nassehi, ein erklärter Luhmann-Schüler, will Luhmanns Unterscheidungen auch für das Verständnis der »digitalen Gesellschaft« fruchtbar machen. Er versucht »die Digitalisierung als eine gesellschaftliche Kulturerscheinung zu verstehen«.94 Damit stellt er sie unter einen Orientierungsgesichtspunkt: Es sei »sicher eine der grundlegenden Erfahrungen unser Zeit, dass sich BedeutunOrientierung durch Unterscheiden | 59

gen immer weniger auf eine ontologische Grundvoraussetzung zurückführen lassen« und man »nur noch Horizonte«, »kein Boden mehr« habe.95 Die errechneten Daten bildeten die Welt nicht ab, sondern verdoppelten sie und bauten sie dann in die Welt ein.96 Die Errechnung halte sich wie das menschliche Gehirn an »Muster«. Nassehis leitende, vielfach wiederholte These ist, dass mit der Digitalisierung der Kommunikation der Gesellschaft kein Bruch, keine »Disruption« eintrete: Sie sei durch die nach Luhmann binären Leitunterscheidungen der Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft (wie interessant  /  uninteressant in den Medien, zahlungsfähig  /  zahlungsunfähig in der Wirtschaft usw.) seit Jahrhunderten vorbereitet. Damit würde eine grundlegende Unterscheidungstechnik durch die Digitalisierung lediglich weiter bestärkt. Das könnte jedoch kurzsichtig sein. Denn zum einen nimmt die digitale De-Asymmetrierung den menschlichen Orientierungsentscheidungen viel von ihrem Halt. Zum andern lässt die Binarisierung keine Spielräume für Nuancen, Mehrdeutigkeit und Anderheit mehr, sofern diese nicht ihrerseits binarisiert und dadurch vereindeutigt werden können. Einfälle im Denken und Zufälle im Leben, die Neuorientierungen hervorrufen können, lassen sich zwar ebenfalls durch maschinelle Randomisierung programmieren, verlieren dann aber ihren emotionalen und motivationalen Charakter. Wird dieser wiederum in likes und dislikes binarisiert, lässt er sich nur nachträglich angeben und wird dadurch de-funktionalisiert. Stattdessen hat man stets mathematisch definierte und strukturierte Identitäten und Entitäten vor sich. So hat man auch Entscheidungen über die technische Standardisierung der Orientierung selbst bzw. über ihre Inanspruchnahme (z. B. in Gestalt von Navigationsgeräten oder Suchmaschinen) zu treffen. Sollen nicht nur die Bürokratie und technische Fertigungsprozesse, sondern auch die Pflege alter Menschen in Heimen durch Rechner und Roboter standardisiert werden? Bei welchen Anhaltspunkten soll die Digitalisierung ansetzen, was soll für ihre Zwecke vergleichbar gemacht werden? Dann das Zauberlehrling-Problem: Wird die künstliche Intelligenz, die im Rahmen der Digitalisierung der menschlichen Lebenswelt entwickelt wird, vom Menschen beherrschbar bleiben oder sich ihm gegenüber verselbständigen?97 60 | Kapitel I 

Hier ist man neu auf die eigenen und individuellen und das heißt: je anderen Orientierungsfähigkeiten angewiesen. Durch die Digitalisierung entsteht auch eine neue Gleichzeitigkeit: Zwar braucht jeder elektronische Prozessschritt ebenfalls Zeit, aber so verschwindend geringe und nicht erlebbare Zeit, dass sich eine Quasi-Gleichzeitigkeit ergibt. Das menschliche Leben wird in einem nie gekannten Maß übersichtlich: in Gestalt statistischer, nach unterschiedlichen Horizonten differenzierbarer Modellierungen. Aber damit wird das menschliche Leben noch nicht als Einheit fassbar. Stattdessen entsteht mit der fortschreitenden Differenzierung und Komplexierung eine neue Unübersichtlichkeit, die zu einem Leitbegriff unserer Zeit geworden ist. Eben das macht die übersichtliche Orientierung im Unterscheiden notwendiger denn je.

Orientierung durch Unterscheiden | 61

K APITEL II Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen in radikaler Krisis der Welt Alterität und Orientierung im Ausgang vom Werk ­Hermann Brochs  – Burkhard Liebsch –

Jeder Mensch […] ist nur als ein Supplement aller übrigen zu betrachten. Johann W. Goethe1 Jeder Mensch [ist] ein anderer und nur gleich in der Angst vor dem jeweils anderen. Peter Härtling 2 Vor allem stehen wir heute vor der Tatsache, daß der Andere, der reine Andere, schwer zu finden ist. José Ortega y Gasset 3

1. Welt und Wirklichkeit nach der Zerstörung des Kosmos

Längst leben wir angeblich nicht mehr in einer Welt, der ›substanzielle‹ Wirklichkeit, Beständigkeit und Verbindlichkeit zukommt, wie man sie in der aristotelischen Metaphysik beschrieben findet, an der sich das scholastische Mittelalter noch orientieren konnte, bis sich an der Schwelle zur Neuzeit der entsprechende kosmologische, ontologisch-metaphysische und ethische Interpretationsrahmen einfach aufzulösen schien. Nach der Auflösung des scholastischen Weltbildes, schreibt Hermann Broch4 in seinem posthum veröffentlichten Essay Zur Geschichte der Philosophie, sei an diesen Rahmen kaum mehr geglaubt worden5; und schließlich sei er »einfach nicht mehr vorhanden« gewesen. 6 Lange Zeit habe man aber nicht recht begriffen, wie das geschehen konnte, was dies genau bedeutete und welche Folgen sich daraus ergeben mussten. In der Tat ist es bis heute erstaunlich, wie einer vormals ›substanziell‹ verfassten Welt dergleichen widerfahren und wie sich ihre vormalige Beständigkeit überhaupt derart auflösen konnte, dass sie schließlich scheinbar jeglicher Verbindlichkeit entbehren musste. War die zuvor unterstellte Substanzialität der Welt dann nicht bloß Schein bzw. pure Illusion? Haben wir es hier also mit einem aufklärenden Desillusionierungsprozess zu tun, der uns früher oder später ganz unvoreingenommen, von philosophischen Vorurteilen unbeeindruckt, zu realisieren zwingt, wie es um das Bestehen der Welt, um ihre Beständigkeit und Verbindlichkeit in Wahrheit bestellt ist – nämlich, dass all das jeglicher Substanzialität entbehren muss? Oder ist es ein Vorurteil, der Rahmen eines Weltbildes könne sich derart auflösen oder einfach ›verschwinden‹, dass von einem ›substanziellen‹, unanfechtbaren Bestehen der Welt selbst, von der man sich früher ein anderes ›Bild‹ gemacht hat, einfach keine Rede mehr sein kann? Wie verhalten sich eigentlich Welt und Weltbild zueinander? Sind beide gleichermaßen einer radikalen Veränderbarkeit ausgesetzt, die sich mit der Zeit oder durch die Zeit selbst ergeben kann? Besagt das die verbreitete Rede von der Verzeitlichung der Welt7, die nach der Einschätzung einiger Beobachter dieses ProDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 65

zesses inzwischen dazu geführt hat, dass Letztere sich geradezu in einer radikalen Weltlosigkeit aufzulösen droht? Worauf auch immer dies im Einzelnen zurückgeführt wird – ob auf den philosophischen Okkasionalismus und Nominalismus des späten Mittelalters 8 , auf den Aufbruch der neuzeitlichen Physik in ein unendliches Universum9, auf die Säkularisierung10 und die Karriere moderner Auffassungen von Subjektivität11, auf den romantischen Individualismus12 , die moderne »Massengesellschaft«13 und den alles geradezu »verdampfenden« Kapitalismus14 oder auf die gegenwärtige Temporalisierung der Lebensverhältnisse, die sie weitgehend »liquidiert«, wie Zygmunt Bauman schreibt15 –, das Ergebnis gilt nun ironischerweise seinerseits vielen als neue Selbstverständlichkeit. Demnach hat nichts und niemand ›substanziell‹ Bestand, alles ist andauernder Veränderung (durch Anderes) und Veranderung (durch Andere) so unterworfen, dass grundsätzlich jederzeit aus allem Anderes und aus jeder und jedem Andere werden können – falls sie nicht ohnehin schon ›Andere‹ sind, wie es von Artur Rimbaud über Fernando Pessoa bis hin zu Paul Ricœur mit Bezug auf das ›Ich‹ oder das ›Selbst‹ nahegelegt wird. Gegebenenfalls münzt man diese Lage, die früher als eine Not erfahren worden wäre, zur Tugend bzw. zum eigenen Machtvorteil um: Einer Welt, deren Wirklichkeit in einen derart nachgiebigen Aggregatzustand übergegangen ist, kann man sich umso leichter bemächtigen, als sie sich widerstandslos in die okzidentale Programmatik einer souveränen und technisch versierten Subjektivität einzufügen scheint, der es angeblich vor allem um ihre eigene Selbsterhaltung und -steigerung geht, wie es eine einschlägige Ideengeschichte lehrt.16 An diese knüpfte auch Carl Schmitt mit seiner verächtlichen Kritik der Romantik an, der er vorwarf, die angeblich beliebig differenzierbare Wirklichkeit der Welt auf eine »interessante Vieldeutigkeit« zu reduzieren, die eine allein sich selbst verpflichtete, im Grunde willkürliche Subjektivität nur noch zum Anlass »ästhetischer« Anregung nehme, mit der es ihr – wie es das Leben Lord Byrons, Charles Baudelaires und Friedrich Nietzsches beweise – aber niemals ernst werde; schon gar nicht in einem normativ verbindlichen Sinn.17

66 | Kapitel II 

2. Das Gegebene, Unterscheiden und Vergleichen

Bekannt genug ist, dass diese Deutung in einen radikalen poli­ tischen Dezisionismus mündete, der die Vieldeutigkeit differenzierbarer Dinge und die Promiskuität der auf sie nicht mehr eindeutig zu beziehenden Worte am Ende der tödlichen Macht eines unter allen Umständen »Recht« behaltenden »Führers« und seiner Gefolgsleute auszuliefern bereit war, dem wenigstens noch eine, nämlich eine »deutsche Substanz […] außerhalb der Differenzierung und der ästhetischen Verwandlung«18 zu Gebote stehen sollte. Diese Geschichte soll hier nicht nacherzählt, sondern stattdessen das Erbe jener neuen Selbstverständlichkeit bedacht werden, die von Karl Marx über Marshall Berman bis hin zu Zygmunt Bauman durchschimmert, wo festgestellt wird, dass sich seit dem Anbrechen der Moderne tiefgreifend verwandelt habe, womit wir normalerweise als Wirklichem zu tun zu haben glauben, das sich unterscheiden lässt und an dem man sich orientieren kann. Die frühere Selbstverständlichkeit, dass die Welt als Inbegriff des Gegebenen gelten kann, dessen Wirklichkeit sich unterscheiden lässt und in jeder Hinsicht Orientierung bietet, hat, wie es scheint, längst dem gegenteiligen Vorurteil Platz gemacht, dass gar nichts in diesem schlichten Sinne ›gegeben‹ ist. Demzufolge wäre nichts als wenigstens Unterscheidbares einfach ›da‹; vielmehr würde sich alles Unterscheiden und alles Unterscheidbare einer oktroyierten Differenzierung oder Konstruktion verdanken. Nichts ist gegeben; ›das Gegebene‹ sei ein bloßer Mythos; in Wirklichkeit sei dagegen ›alles konstruiert‹, heißt es. Unterschiede lägen demnach niemals einfach vor, sondern verdankten sich e­ inem Unterscheiden, das sie als solche überhaupt erst hervorbringt und nicht etwa in der Welt aufliest.19 Letztere würde sich demnach darauf beschränken, sich passiv der Differenzierbarkeit, der Kon­ struk­tion und Oktroyierbarkeit von Differenzen darzubieten. Das Gleiche würde für alles gelten, was als ›gleich‹ wahrgenommen und vorgestellt wird. Es gibt demnach nichts schlechterdings Gleiches. Gleiches kommt als solches allenfalls am vorläufigen Ende von Unterscheidungsprozessen zum Vorschein, 20 von denen ganz und gar abhängen soll, ob etwas in gleichsetzender Weise »zurechtgemacht« wird, wie Friedrich Nietzsche schreibt, und ob es infolgedessen als Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 67

gleich gilt oder nicht.21 Und das soll laut Ludwig Wittgenstein wiederum auf Vergleichung beruhen, die sich prima facie zunächst auf nicht zu Vergleichendes bezieht. Damit will Wittgenstein offenbar sagen, dass Vergleichbarkeit keineswegs selbstverständlich ist. Selbstverständlich im Sinne von: in jedem Falle zunächst vorauszusetzen sei vielmehr die Unvergleichbarkeit dessen, was dann doch verglichen und gegebenenfalls gleichgesetzt wird.22 Infolge wiederholter Gleichsetzungen kann dann allerdings ganz in Vergessenheit geraten, wie es überhaupt zur Vergleichbarkeit, zu Vergleichen und schließlich zu Gleichsetzungen von zunächst Ungleichem bzw. Verschiedenem kommen konnte, das als Gleichgesetztes seine Verschiedenheit einbüßen kann, zumal wenn man Unterschiede als Produkte von Unterscheidungen stereotypisiert und essentialisiert zum Zweck der Moralisierung, der Diskreditierung oder Polemisierung gegen Andere. Am Ende kann oder will man sich dann kaum mehr vorstellen, dass das zunächst Verschiedene, dann Gleichgesetzte, nicht einfach von sich aus gleich oder in anderer Weise identisch ist. Während die genealogische Aufklärung über das Zustandekommen von Unterschieden durch Unterscheidungen geltend macht, dass diese niemals einfach in der Welt vorkommen wie Dinge, suggeriert eine derartige Praxis der Gleichsetzung schließlich das genaue Gegenteil und legt Andere auf geradezu verdinglichte Differenzen einfach fest. Infolge dieser Aufklärung gilt es nunmehr als selbstverständlich, dass nichts und niemand einfach (an sich bzw. ohne eigenes Zutun) ›gleich‹ oder ›identisch‹ ist, wohingegen eine gleichsetzende und gleichmachende Praxis des Unterscheidens schließlich Unterschiede geradezu zementieren kann, die den Anschein erwecken, wie natürliche Vorkommnisse in der Welt zu sein, »deren Dinge ein für alle Male sind, was sie zu sein scheinen«, wie José Ortega y Gasset schreibt.23 So werden Unterschiede schließlich selbstverständlich hingenommen und man gewöhnt sich derart an sie, dass gänzlich aus dem Blick gerät, wie sie selbstverständlich werden konnten – was nach aller Erfahrung allerdings niemals völlig ausschließt, dass das scheinbar ganz Selbstverständliche, Zweifellose, einfach Vorauszusetzende seinen quasi-evidenten, tatsächlich aber sekundären Charakter weitgehend wieder einbüßt.

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3. Erschüttertes Weltvertrauen

Das kann so weit gehen, dass nicht einmal mehr als sicher erlebt wird, dass sich unter den eigenen Füßen nicht jederzeit ein Riss auftun kann, dass solide anmutende Wände nicht nachgeben werden und dass man im Privaten nicht jederzeit radikale Schutzlosigkeit zu gewärtigen hat. In seinen Berichten über den Archipel GULAG hat Alexander Solschenizyn nicht umsonst das genaue Gegenteil zu der maßgeblichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts erklärt. Die Erfahrung des Stalinismus hatte ihn schließlich gelehrt, dass im Prinzip jedem jederzeit willkürliche Verhaftung drohen und infolgedessen jede Selbstverständlichkeit, Sicherheit und Verlässlichkeit erschüttert werden kann. »Die Schöpfung bricht in tausend Stücke, wenn Sie es zischen hören: ›Sie sind verhaftet!‹ Wenn schon Sie verhaftet werden – wie soll dann etwas anderes vor diesem Erdbeben verschont bleiben?« Unfähig, dies zu begreifen, »vermögen die Raffiniertesten und die Einfältigsten unter uns in diesem Augen­ blick aus der gesamten Erfahrung ihres Lebens nichts anderes herauszupressen als dies: ›Ich?? Warum denn??‹« – Eine Frage, »die schon zu Millionen und Abermillionen Malen gestellt wurde und niemals eine Antwort fand. […] Ver-haf-tet-wer-den, das ist: ein Aufblitzen und ein Schlag«, wodurch »das Gegenwärtige sofort in die Vergangenheit versetzt und das Unmögliche zur rechtmäßigen Gegenwart wird«.24 Wenn das, ›wie aus heiterem Himmel‹, im Prinzip jedem jederzeit geschehen kann, selbst den devotesten Gefolgsleuten und selbst den engsten Verwandten eines Diktators wie Josef Stalin, dann kann scheinbar überhaupt nichts mehr als selbstverständlich bzw. verlässlich gelten – es sei denn genau dieses Wissen. Wie auch immer man sich zu »verstecken« versucht hat »vor der Welt« – »eines Tages steht die Welt vor der Tür und schreit, Hände hoch, und schreit, kommt heraus, mit den Händen über dem Kopf. Und dann geht man hinaus, die Hände über dem Kopf«25 – schlagartig oder nach und nach realisierend, dass ›in der Welt‹ zu sein bedeutet, Anderen jederzeit ›auf Gedeih und Verderb‹ rückhaltlos ausgeliefert werden zu können, mit unabsehbaren Konsequenzen, die – vor allem seit es Staaten gibt 26 – das Schlimmste heraufbeschwören, als das längst nicht mehr der Tod, sondern endloses Leiden gelten muss, das wie in den Folterkellern der DiktaDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 69

toren von jeglicher Welt, die ihren Namen verdient, abgeschnitten bleibt. Als gesichert könnte angesichts dieser historischen Erfahrung am Ende nur noch gelten, dass sich jeder beliebige andere als ein ›Anderer‹ herstellen kann, der die entsprechende Angst vor dem Anderen als solchem bestätigen wird. Infolgedessen kann jegliches Ansinnen, in der Welt heimisch und womöglich irgendwo sesshaft zu werden, als gänzlich sinnlos erscheinen 27 – und eine Art Heimat wird allenfalls noch in einem radikalen Exiliertsein zu erfahren sein, in dem man sich in keiner Weise mehr darauf verlassen mag, von Anderen gegebenenfalls verschont zu werden. Jean Améry hat das als irreversible Zerstörung des »Weltvertrauens« beschrieben, die der Gefolterte am eigenen Leib erlebt und die niemals ›wiedergutgemacht‹ werden kann, wenn er dies überlebt. Dann mag er irgendwann wieder Tritt fassen, ohne einer Psychose zu verfallen, in der die Unzuverlässigkeit aller Dinge täglich auf dramatische Weise erfahren wird. Doch bleibt er geprägt von der tiefen Erschütterung seiner leiblichen Integrität, die zuvor im Vertrauen darauf bestand, dass »die Hautoberfläche […] mich ab[schließt] gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will«.28 Die literarisch dokumentierte Erschütterbarkeit eines jeden, der ganz nach Belieben verhaftet und der Gewalt Anderer schonungslos ausgeliefert werden kann, wurde zur generalisierten Erfahrung einer Epoche, die jegliches ›selbstverständliche‹ Vertrauen in Andere, auf dem offenbar auch das Weltvertrauen beruht, als eine psychologische Naivität dastehen lässt, die nur so lange Bestand haben kann, wie sie nicht der willkürlichen Gewalt Anderer ausgesetzt wird.29 Diese aber lehrt – nunmehr nicht nur im Einzelfall, sondern im Sinne einer verallgemeinerbaren Bilanz dieser Epoche –, dass auf die Welt und auf Andere, die das In-derWelt-Sein verbürgen müssten, nicht selbstverständlich Verlass sein kann, ›wenn es drauf ankommt‹. Und in diesem Sinne konnte man den Schluss ziehen, sich in der Welt wie in einem Exil zu befinden, mache fortan die »Befindlichkeit« aller aus, ganz gleich, ob sie es nun bewusst realisieren oder nicht.30 Phänomenologisch verhält es sich allerdings so, dass es gar nicht möglich ist, sich ohne eine gewisse ›Naivität‹ leiblicher Vollzüge in der Welt zu befinden, die ständig zu einer gewohnheitsmäßi70 | Kapitel II 

gen Normalität hin tendieren. Gerade der Gefolterte ist in diesem Sinne auf eine therapeutische Renormalisierung seines leiblichen In-der-Welt-Seins vital angewiesen, mag sie auch oft genug scheitern, so dass kein Weiterleben mehr möglich erscheint. Davon lässt die Normalität der Anderen, die willkürliche Verhaftung und Folter nicht am eigenen Leib erfahren mussten, umso weniger etwas ahnen, wie sie sich vor einer traumatogenen Übertragung jener Erschütterbarkeit auf ihr eigenes Leben fürchten und nichts derart abwehren wie die Zerstörung ihres Weltvertrauens. So bleibt es der überlieferten Prosa und der poetischen Literatur der Überlebenden und der Exilierten überlassen, diese Erschütterbarkeit und Zerstörbarkeit als gültige Erfahrung einer Epoche schriftlich festzuhalten 31, deren bilanzierte Verluste man längst wieder relativiert, um zu dem Schluss zu kommen, die Menschheit sei trotz allem auf einem erstaunlich guten Weg der Besserung.32 Auf diese Weise triumphiert ein Fortschrittsdenken, in dem selbst die millionenfache Verhaftung, Internierung und Vernichtung Anderer keine nachhaltige Spur hinterlässt. Längst hat sich anscheinend auch die Philosophie in dieser Lage wieder beruhigt und kehrt zum Erstaunen (thaumazein) als ihrem ursprünglichen Antrieb zurück, nachdem es zwischenzeitlich den Anschein hatte, als könne ihm das Erschrecken – nicht nur als mysterium tremendum in der Religionstheorie – angesichts der Erschütterbarkeit der menschlichen Verhältnisse Konkurrenz machen.33 In seinen wegweisenden, bis heute maßgeblichen Untersuchungen über Das Normale und das Pathologische (1944/50) hatte der französische Epistemologe Georges Canguilhem gezeigt, wie das Erschrecken angesichts von Schmerz und Leid selbst zu einer negativen Quelle des Erstaunens werden kann.34 So kann es geschehen, wenn der krank Gewordene sich fragen muss: ›Warum passiert das mir, warum so, warum so früh, in meinen jungen Jahren?‹35 – und wenn er sich mangels verständlicher Antworten in ein unheilbares Leiden am Schmerz selbst verstrickt, sei es nun ein physischer oder ein psychischer infolge des durch nichts wiedergutzumachenden Verlusts eines oder einer Anderen, sei es auch deren schrecklicher und erschreckender Schmerz. Wer Letzteren nicht einmal ahnt, schien Canguilhem zu suggerieren, kann im Grunde nicht wissen, was es ›wirklich‹ heißt, auf der Welt und ›zur Welt‹ zu sein. Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 71

Nicht schon im naiven, ungetrübten Eingelebtsein in die Welt, wie es wenig später Merleau-Ponty als être au monde beschrieben hat 36 , vielmehr in dessen schmerzhafter Unterbrechung und Verstörung, Verletzung und Verwundung erfahren wir demnach, was es ›wirklich‹ bedeutet, von Geburt an auf der Welt und ›zur Welt‹ zu sein. So könnte man auch verstehen, was Hannah Arendt in ihrem Essay Dichter wider Willen über Hermann Broch schreibt: dass es gelte, »die philosophische Dignität der Schmerzerfahrung zu entdecken«.37 Nachträglich realisieren wir, in Jean-Luc Nancys Worten, dass Geborensein bedeutet, »exponiert« zu sein38; und zwar rückhaltlos, in Schmerz und Leid auf Andere angewiesen und ihnen zugleich ›auf Gedeih und Verderb‹ ausgeliefert, wie es schon in der aristotelischen Politik anklingt, wo es heißt: »Wie der Mensch in seiner Vollendung das edelste aller Lebewesen ist, so wiederum losgerissen von Gesetz (nómos) und Recht (díkē) das schlimmste von allen.«39 Letzteres lehrt jedoch allenfalls eine extreme, exzessive und radikale Gewalt, deren äußerste Möglichkeiten von niemandem im Vorhinein – wenn überhaupt je – zu ermessen sind und denen jedes Opfer früher oder später erliegen muss. Insofern steht ganz und gar in Frage, ob sie sich überhaupt ›in Erfahrung bringen‹ lassen und ob wir je ›angemessen‹ vom Schlimmsten sprechen können. Gleichwohl schreibt Broch im Tod des Vergil verallgemeinernd, der Mensch müsse »des Schreckens inne werden, nicht aus Selbstqual, wohl aber, weil nur in solch erkennendem Innewerden der Schrecken zu überwinden ist, weil nur dann es möglich wird, durch des Schreckens hörnerne Pforte hindurch ins Sein zu gelangen« (TV, 100) – von dem sich Broch jedoch erklärtermaßen einen platonischen und lebensbejahenden Begriff gemacht hat (PS1, 18  f.). Zwar soll die Wahrheit der philosophischen theoría, d. h. hier: des theoretischen Erkennens dessen, was in Wahrheit ›ist‹40 , nur dank eines »erst im Leide […] zum sehenden Auge« werdenden Sehen zugänglich werden (TV, 24). Aber Broch hofft darauf, dass es auf diesem Wege zu einem über jeglichen Schrecken, über jedes Leid und jede Angst erhabenen Sein aufschließen kann, das mit dem Guten zusammenfallen sollte.41 Diese Hoffnung artikuliert er allerdings im Lichte einer offenbar das Gegenteil besagenden Zeitdiagnose, der zufolge auch 72 | Kapitel II 

die Philosophie vom Verlust der »Allgemeinverbindlichkeit des Platonischen« ausgeht (PS1, 47). Insofern scheint sie sich mangels verlässlicher Rückendeckung bei einem ohnehin »unbeweisbaren« System platonischer »Werte« geradezu selbst aufgegeben zu haben, so dass die Aussicht auf einen »neuen Platonismus« all jenen kaum mehr einleuchten wird, die sich »geistig orientieren« wollen und sich nunmehr als jeglichen metaphysischen Weltbezugs beraubte »abstrakte Subjekte« ironischerweise als bloß »physikalische Personen« isoliert in einer Objektwelt vorfinden, die ihnen nichts mehr sagt (PS1, 55  f., 88, 91). Darauf könnte gemünzt sein, was Broch in seinem Roman Die Verzauberung den Protagonisten Miland sagen lässt: »Der Mensch, der allein ist, verliert die Wahrheit« (V, 222). An dieser an Nietzsche 42 erinnernden Stelle ist aber nicht eine idealisierte, bereits feststehende platonische Wahrheit, sondern eine »Wahrheit des Herzens« gemeint, der zugetraut wird, jeden aus seiner Isolation und Einsamkeit zu »erlösen« (V, 224  f.). Wie aber sollte das möglich sein, wird wenige Seiten zuvor gefragt, wenn sich bislang (in der Philosophie) allein auf die »Sicherheit des ›Ich bin‹« sich Verlassende nicht »dem Du zuwenden«, um auf diese Weise zu erfahren, dass sie nicht allein und durch sich selbst, sondern in Verbindung und durch die Verbindung mit der »Sicherheit eines ›Du bist‹« existieren (V, 195)? 4. ›Du‹ und der Andere als solcher: Ende der Alteritätsvergessenheit?

So taucht die Frage nach dem Anderen als solchem in einer zwischen Philosophie und Dichtung lavierenden Literatur auf, die darauf denkbar schlecht vorbereitet war, orientierte sie sich doch an einem platonischen, idealisierten, von sublunaren Beziehungen scheinbar in keiner Weise abhängenden Weltbild sowie am cartesianischen Paradigma eines Verlangens nach Gewissheit, das – wenn überhaupt – allein auf dem Wege eines monologisch-radikalen Zweifels befriedigt werden konnte, der sich nicht einmal auf ­einen transzendenten ›ganz Anderen‹ namens Gott noch verlassen mochte. Schließlich gilt dieser radikale Zweifel auch und gerade einem dieu trompeur bzw. mauvais génie, dem Descartes’ MeditaDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 73

tionen die Selbstgewissheit des cogito ausdrücklich entgegensetzen. Dabei bestätigt sich ein weiteres Mal, dass der noch in der Scholastik aufrechterhaltene Rahmen des platonischen Weltbildes zerbrochen ist und dass das auf sich allein zurückgeworfene, geradezu weltlose Ich aus sich heraus dafür keinen Ersatz zu bieten vermag. Wie sollte unter solchen Voraussetzungen noch dem »ins Sinnlose geratenen Weltgeschehen der ihm innewohnende humane Sinn wiedergegeben werden«, fragt Broch in einer Notiz zu Mythos und Dichtung bei Thomas Mann – und gibt selbst die Antwort: Nicht etwa auf dem Weg cartesianischer Selbstvergewisserung, sondern »in der Unordnung und in dem Leid der Menschheit« auf dem Weg einer »Rückverwandlung eines chaotischen Seins in ein mythisches Organon«, wie es nicht die Philosophie, wohl aber poetische Literatur hervorzubringen vermag (SL1, 31). Das jedenfalls schien James Joyce’s Ulysses bewiesen zu haben.43 Sollte gleichwohl auch die Philosophie in der »Unordnung« und im »Leid« neu einsetzen, um jenen Sinn wieder oder ganz neu zu entdecken, ohne sich dabei einfach auf ein zerbrochenes Weltbild zu berufen, das kaum mehr glaubhaft erscheint? Und müsste sie sich im gleichen Zuge dem ›Du‹ bzw. dem Anderen als solchem zuwenden, um aus dem Sozialen herauszuarbeiten, was schierer Unordnung und heillosem Leid zu widerstehen verspricht? Verfügte sie längst über eine entsprechende Lösung – wenn nicht im Vertrauen auf eine weise »Vorsehung«, die laut Kant weltgeschichtlichen Fortschritt verbürgt, so doch mit Hegel, der gerade aus der Negativität des prima facie Zufälligen den Endzweck und finalen Triumph eines Geistes ableitete, dem er letztlich die Aufhebung alles Vernunftwidrigen zutraute? Und hatte er nicht seine Vorstellung von der »Vernunft (in) der Geschichte« gerade auf die ›sozialen‹ Verhältnisse der Menschen, der Völker und Staaten gegründet? Seine Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte lassen sich tatsächlich so lesen.44 Und doch konnte man speziell gegen Hegel den Vorwurf erheben, er habe den Anderen als solchen gar nicht gekannt. In der »prinzipiell trostlosen« Form, die die Philosophie geradezu programmatisch seit Kant und Hegel bis hin zu Jürgen Habermas angenommen hat45 , habe sie allenfalls von ­einer Vielzahl von individuellen und bürgerlichen Subjekten sowie von ihren agonalen und antagonistischen Konflikten usw. gehan74 | Kapitel II 

delt, sich aber zu keiner Zeit wirklich dem Anderen als solchem zugewandt. Mehr noch: Sie kenne gar kein ›Beim-Anderen-sein‹, ungeachtet ihrer Theorien der Liebe, der Achtung, der Ehre, der Anerkennung und der Würde, die man Anderen zuerkennt, ohne all das aber im Verhältnis zu ihnen zu entdecken, wie es dann nach Wilhelm v. Humboldt, Ludwig Feuerbach, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Gabriel Marcel u. a. geschehen wird, die den Anderen überhaupt erst als ›zweite Person‹ bzw. ›Du‹ zur Sprache zu bringen beginnen, zu dem man sich verhält und an das man sich wendet, statt es nur als diskursiven Gegenstand gelten zu lassen, über den man spricht und schreibt. Ist der Andere als solcher überhaupt ein Gegenstand wie jene objektive Person, die Broch moderner Welt­ losig­keit verfallen sieht? Bis heute wird der Vorwurf erhoben, die überlieferte Philosophie kenne den Anderen als solchen gar nicht – oder sie habe ihn einmal gekannt, aber seither ›vergessen‹. Genau so (zweideutig) spricht Marcel Hénaff unter Berufung auf Levinas geradezu von einer tiefen »Alteritätsvergessenheit«46 , die indirekt auch schon bei Buber und Rosenzweig zur Sprache gekommen war. Aber hatte nicht gerade Hegel, gegen den sich Letztere wandten, dem Verhältnis zum Anderen als solchem zur Geltung verholfen (wie Jacques Derrida in seinem frühen Essay Gewalt und Metaphysik energisch gegen Levinas vorbrachte)? Und hat man nicht längst vorher vom Sichhineinversetzen in den Anderen gesprochen? Hatten schottische Moralisten wie Francis Hutcheson nicht bereits den moral sense entdeckt und die Bewunderer von Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759) auf ihren Spuren eine sympathische oder empathische Sensibilität beschrieben, auf die man sich bis hin zu Michael Tomasello noch heute beruft, wo davon die Rede ist, man könne und solle sich in die ›Perspektive‹, den ›Gesichts-‹ und ›Standpunkt‹ Anderer ›hineinversetzen‹, um die Dinge einmal ›mit ihren Augen zu sehen‹ und verstehend nachzuvollziehen, was sie fühlen und denken …?47 Ist das aber nicht eine bloße Redensart? Streng genommen kann zweifellos niemand etwas mit den Augen des Anderen selbst sehen. Wir können, lehrt ja auch eine bekannte Philosophie »jemeinigen« Daseins, weder das Leben eines Anderen leben noch, genau genommen, an seiner Stelle sterben, um ihm auf diese Weise seinen Tod Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 75

›abzunehmen‹. Wir können nicht einmal dieses oder jenes hier und jetzt an seiner Statt fühlen. Und wenn wir etwas aus seiner Per­ spek­tive sehen wollen, muss er beiseitetreten … Das mag banal anmuten, doch wird genau das vielfach rasch vergessen, wo man von Perspektiven nur metaphorisch spricht und dann umstandslos deren Substituierbarkeit und Kompossibilität unterstellt. Sieht man etwas von zwei oder allen möglichen Seiten, nämlich von sich und von fremden Sichtweisen oder Standpunkten aus, dann, so scheint es infolgedessen, hat man die jeweilige Sache ganz erfasst, nicht viel anders, als es sich Leibniz vorstellte, als er in der Monadologie (Abschnitt 57  f.) beschrieb, wie man eine Stadt ganz erfassen kann, wenn man alle Perspektiven durchläuft, in denen sie sich darbietet. Während man aber von einer räumlichen Perspektive zu einer weiteren übergehen kann, ist es streng genommen völlig ausgeschlossen, die Perspektive eines Anderen selbst einzunehmen, um ›in seine Haut zu schlüpfen‹, wie es sprichwörtlich heißt. Man steckt nicht nur im Einzelfall, sondern niemals in der Haut eines Anderen und kann sich insofern niemandem substituieren.48 »Jeder könnte der Andere sein, aber er kann es nicht« (Helmuth Plessner49) – wie auch immer sich jede(r) selbst bereits als verändert und verandert herausstellen mag.50 Daraus folgt weder, dass jede(r) ontologisch in der ›Jemeinigkeit‹ ihres bzw. seines Daseins ganz und gar wie auf einer Insel eingeschlossen bleiben müsste, noch auch, dass das ontologisch als Mitsein begriffene Dasein alle Probleme des Mit-, Nach- und Einfühlens von sich aus schon überflüssig machen würde, wie es Heidegger explizit behauptet hat.51 Von sich aus ist das formal-ontologisch begriffene Mitsein derart unbestimmt, dass es anscheinend alle vorstellbaren Formen von Ko-Existenz zulässt: ein gleichgültiges Nebeneinanderherleben ebenso wie ein Miteinander im Modus eines rücksichtslosen Gegeneinander52 , das an Kants »ungesellige Geselligkeit« denken lässt, ein sentimentales Sicheinfühlen in alles und jeden ebenso wie mitleidslose Gewalt, ein identitäres Aufgehen im ›Man‹, in dem man es genießt, sich scheinbar in keiner Weise von Anderen zu unterscheiden und in einer massenhaften Vergemeinschaftung aufzugehen, ebenso wie ein betontes Sichabheben von allen Anderen als ›besonderes‹, ›fremdes‹ oder vermeintlich ›ganz anderes‹ Individuum, das als solches 76 | Kapitel II 

mit niemandem mehr auch nur das Geringste gemein haben dürfte, also nichts – bis auf eben dies paradoxerweise: ›ganz anders‹ zu sein. Vor dem Hintergrund eines derart formal gefassten Mitseins wird die Sorge verständlich, wie man sich zwischen Ununterscheidbarkeit und Individualität, Gleichheit und Differenz als ›jemand‹ positionieren kann und soll, der sich als solcher auch für Andere und im Unterschied zu wieder Anderen als ›jemand‹ wiedererkennbar, bedeutsam, verlässlich usw. erweisen möchte bzw. sollte. So trachtet auch der Heimkehrer in Brochs Der Tod des Vergil danach, der »Ununterscheidbarkeit« zu entfliehen (TV, 204) – womit an dieser Stelle auf den ersten Blick nur eine Indifferenz von Gutem und Bösem gemeint ist. Gemäß Brochs Zeitdiagnose droht Ununterscheidbarkeit jedoch auch in jeder anderen Hinsicht.53 Auch die eigene Existenz droht von Anderem ununterscheidbar zu werden, wenn zwischen der Zeit vor und nach dem Leben allenfalls ein »gradueller Unterschied« besteht, so dass man nicht einmal dessen sicher sein kann, »ob man überhaupt war« (UG, 17). In dieser Frage offenbart sich eine tiefgreifende Ambivalenz: Vermutlich möchte niemand der Ununterscheidbarkeit verfallen, niemand aber auch diskriminierenden Unterscheidungen zum Opfer fallen, die jede(n) auf genau eine ontische Differenz festzunageln drohen. Jede(r) möchte sich demnach von Anderen anders unterscheiden und unterschieden wissen, nicht nur als Einzelne(r) und Bürger(in), sondern gegebenenfalls auch von Bürgern überhaupt, die sich für besonders ›human‹ halten, während sie sich gegenseitig doch nur verachten (auch sich selbst 54 – wie es Eugène Delacroix, Nietzsche und Robert Musil aufgefallen ist). Dabei erweisen sie sich als »tragisch ungeeignete«, »sozial gebundene« Figuren, die schon deshalb außerstande zu sein scheinen, »zur Gänze« zu erfassen, worum es im menschlichen Leben überhaupt geht (SL1, 255). Kein Wunder, dass Dichterinnen wie Else Lasker-Schüler meinten, die Flucht ergreifen zu müssen – zurück zu sich selbst und »ins Grenzenlose«, wenn sie sich infolge verdinglichender, diskriminierender und verächtlicher Unterschiede von Anderen verkannt und geradezu »erstickt« fühlten. 55 Das nährt allerdings radikale Zweifel an der Vermutung, es müsse im Grunde jeder und jedem an Unterscheidbarkeit und Nichtdiskriminierung liegen. Für diese ›Anderen‹ jedenfalls muss das offenbar nicht gelten. Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 77

5. Flucht in die Abgeschiedenheit und das Pathos der Erfahrung

Auch Broch liebäugelt immer wieder mit einem radikalen Rückzug aus der sozialen Welt derer, die Andere ihren diskriminierenden, verdinglichenden und repressiven Unterscheidungen unterwerfen wollen. Allen voran die »Spießer«, die sich seinerzeit massenhaft einem fürchterlichen, dämonischen Fortschritt anschlossen, an dessen Spitze der von ihnen ermächtigte »Führer« dann erklärte: »Nur eine Grenze kennen wir: Wer nicht zu unserem Volke gehört, für den rühren wir keinen Finger […], von uns hat er nichts zu erwarten.«56 Entweder man geht demnach in der identitären Masse eines solchen Volkes auf, in dem man sich ›von den eigenen Leuten‹ gerade nicht unterscheiden will, oder man hat seine eigene Vernichtung zu gewärtigen. Das macht verständlich, wie Broch den Spießer als »das Dämonische schlechthin« einstufen konnte, aus dem das Nazitum seine ganze Kraft bezogen habe (S, 239, 326). 57 Und zwar die Kraft einer Vergleichgültigung Anderer als solcher, die schließlich jeden in die »nachbarlose Einsamkeit« und »verbindungslose« Verlassenheit eines sozialen Niemandslands stoßen musste (S, 264  f., 273, 305). Broch spricht von »dämonischer Vereinzelung«, die schließlich in ein auch von seinen eigenen Dämonen verlassenes Leben münde. 58 Ein solches Leben erscheint ihm als Inbegriff der Isolation, in der jede(r) gerade im »völkisch« und rassistisch aufgemotzten Sozialen dem Anderen und sich selbst fremd werden muss.59 Dagegen liebäugelt er selbst auf der Spur der Mystik Meister Eckharts mit einem desozialisierten, »abgeschiedenen« Leben eines freiwillig Weltfremden (UG, 136; S, 254, 338), der von allem derart losgelöst lebt, dass er in der namenlosen Unmittelbarkeit seines Daseins »keine Worte mehr« findet und infolgedessen an keinem »welterzeugenden Wechselspiel von Frage und Antwort« mehr Anteil nehmen kann. 60 Mystische Einsamkeit und Abgeschiedenheit werden »im Letzten« jedem zugesprochen; zugleich aber wird radikaler Zweifel daran geweckt, ob sie im Geringsten Schutz vor der repressiven, dämonischen und identitären, »unheilschwangeren« Gewalt der Anderen verspricht und ob man so Zuflucht vor dieser Gewalt suchen kann. Gibt es überhaupt noch eine Fluchtmöglichkeit für ein »frageentkleidetes, antwortentkleidetes«, »zum Nichts zerknirschtes« Ich am Boden eines »Schacht[es], auf 78 | Kapitel II 

dessen tiefstem Grunde« es »nackt« und »selber zur Nacht geworden« »west« (TV, 65, 68, 157)? Muss es nicht die »Flucht vor der Flucht« ergreifen und jeden Gedanken an eine in weltfremder Abgeschiedenheit zu findende Geborgenheit aufgeben? Statt sich mit der »auf jenem mystischen Urgrund menschlicher Abgeschiedenheit« drohenden »Verweisung auf das Nichts und auf die Stummheit« einfach abzufinden, erwägt Broch in seinem Essay Theologie, Positivismus und Dichtung schließlich, ob in dieser Lage nicht »bloß das Pathos der Erfahrung als fruchtbarer Nährboden gelten kann« und ob nicht auf dessen Basis eventuell »eine Totalität des Weltbildes wieder zu erzeugen« wäre, das dem Menschen »in der Nacht seiner Irrationalität, im Strome seines dunklen Geborenwerdens und Sterbens« wieder eine »Stellungnahme zum rationalen Sinn seines Lebens« möglich machen könnte (vgl. DI, 63; PS1, 232  f.). Dieses Pathos kommt zunächst als Grundlage eines Wahrheit und Evidenz verbürgenden Gefühls in Betracht (DI, 4161), in dem sich das eigene Leben als nicht »verfehlt« erweisen könnte. Dann aber herrscht Skepsis vor: Auch in einem solchen Pathos und Gefühl ist anscheinend »weder ein Urstoff noch ein Urgrund« als zureichende Basis einer solchen Stellungnahme aufzuweisen, so dass »nichts übrig bleibt« als das Fragen danach, wodurch wir zu ihr herausgefordert werden und wie diese Herausforderung sodann anzunehmen wäre (DI, 43). Sosehr Broch mit der unverlierbaren, dauernden Gültigkeit eines platonischen, auf »Unendlichkeit gerichteten« Weltbildes melancholisch sympathisiert haben mag (DI, 12; V, 244), sosehr realisiert er doch, dass dieses endgültig zerbrochen ist, so dass nur vom Pathos sublunaren Lebens selber noch auszugehen ist, wenn man ermitteln möchte, wie nicht verfehltes Leben unter diesen Umständen gegebenenfalls noch möglich wäre. 62 Von den Wissenschaften, die inzwischen weitgehend bestimmen, was man früher ›Weltbild‹ genannt hat, ist in dieser Hinsicht keine Hilfestellung zu erwarten, unterwerfen sie sich doch weitestgehend Ansprüchen der Mathematisierbarkeit, von denen ihr Wissenschaftsstatus im Kern abhängt, wie schon Kant festgestellt hatte (PS1, 171). Allenfalls werfen sie noch gewisse »Erkenntnisreste« ab, die es grundsätzlich als fraglich erscheinen lassen, ob das, wovon nicht verfehltes Leben abhängt, überhaupt noch als ›Problem‹ irgendwelcher Erkenntnis gelten kann. Tangieren die WissenschafDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 79

ten der Moderne überhaupt »die großen Fragen des Todes, der Liebe, des Nebenmenschen«? Und wohin soll man sich, falls nicht, wenden, wenn auch der »mystischen Einsamkeit der Seele« keine Antworten zu entnehmen sind? »Gibt es hiefür einen Weg?«63 Alle Romanfiguren Brochs sind Wanderer64 , »Ausgeworfene der Zivilisation«, die »im Grauen unerlösbarer Ziellosigkeit« nach Orientierung oder Heimkehr suchen (DI, 8; SL1, 331, 362). Nachdem »das mittelalterlich-theologische Weltbild in die endgültige Phase seines Liquidierungsprozesses« getreten ist (S, 732), nehmen es diese Figuren wie auch die eigentümlich unheroischen ›Helden‹ Robert Musils, James Joyce’s und Rainer M. Rilkes mit dem Exil auf, das die »Physiognomie« nicht nur der deutschen Literatur bestimmt, wie Broch in einer Notiz zu Musil schreibt (SL1, 96  f.). Es geht nicht allein um ein nationales, ethnisches oder persönliches Exil, sondern um die jede(n) existenziell umtreibende Frage, wie zwischen einem ruinierten, vergangenen ›kosmischen‹ Weltbild einerseits und weltfremder Abgeschiedenheit andererseits überhaupt noch ›welthaftes‹ und ›wirkliches‹ Leben möglich sein soll, das in keiner Weise mehr als selbstverständlich irgendeiner Ordnung zugehöriges aufzufassen ist. Insofern spricht Broch von einem »metaphysisch ausgestoßenen« Menschen« (DI, 68). Im Roman Die Unbekannte Größe reduziert sich die Gegenwart dieses existenziell zunächst unbestimmten Lebens schließlich auf den »merkwürdig geringen Punkt« eines »atmenden, jungen Menschen«, der sich zwar »eingeordnet in das Geschehen der Welt« weiß, der dabei aber realisiert, in dieser Einordnung niemals aufzugehen (UG, 96). Nachdem die angeblich zuvor »wohnliche Ordnung des Kosmos« (S, 18) endgültig zerstört, jeder »aus dem Geflecht des Seienden entlassen« und auf sein weltloses Ich reduziert zu sein scheint (UG, 108; SL1, 193), findet man sich in »verwaister Einsamkeit« »in die Freiheit geworfen« (S, 217, 330  f.), wo allenfalls noch eine gewisse »Verständigung« stattfindet65 , aber keiner mehr wirklich »den anderen im Dunkeln« sieht (S, 339, 729). Bestenfalls hält man sich in dieser Lage noch an einen schlichten Anstand. 66 Aber man weiß nicht einmal, ob und in welchem Sinne man überhaupt lebt. Ist Leben im vorherrschenden Unfrieden nach Maßgabe der wie auch immer zweckmäßig erscheinenden Verkäuflichkeit von allem und jedem in einem bloßen »Herdenjetzt« nicht »eine Art Sterben« (TV, 34, 48, 80 | Kapitel II 

326; H, 64, 82)? Broch brandmarkt die gängige »pathetische« Rede vom »Reichtum des Lebens« als ein Anzeichen »äußerster Verworfenheit«, die sich in Wahrheit auf ein »schmachvolles Gewimmel« der Menschen in ihrer »armseligen Zweibeinigkeit« reduziere (PS1, 34, 42  f.), deren ganzes Bewusstsein, Reden und Tun sich auf volitio beschränke, auf willentliche Wertverleihung, die nur auf die »tiefste Entwürdigung« des jeweils gewerteten Objekts hinauslaufe, das von sich aus womöglich eben gar nichts ›wert‹ sei (PS, 37, 44, 94). 67 Wer wie die Dichter eine derart dem Leben verpflichtete Welt darstelle, wie sie ist, werde nicht gehört und riskiere, sein Dasein als allenfalls geduldeter Gast oder als Paria abseits der Anderen, »hinaus­ getrieben« aus jeglicher Gemeinschaft, fristen zu müssen. 68 6. Die Frage nach dem Anderen – in entweltlichter Welt und entwirklichter Wirklichkeit

Unter diesen Vorzeichen findet sich der einzelne, die Welt rückhaltlos, wie sie ist, erfassende Mensch zunächst vollkommen desorientiert wieder: Im »Gestrüpp des Richtungslosen« (S, 17; TV, 163) erscheint die Welt als »unendlich vielfältig« (PS1, 147, 212  f.). Jedem Ding scheint eine »unausdeutbare Deutbarkeit« zu eignen und dabei »unentwirrbar« und »unstimmig alles miteinander verwoben«69, ohne sich noch von sich aus sprachlicher Artikulierbarkeit anzubieten. Die Dinge erweisen sich in ihrer »Stummheit« und »Neutralität« als geradezu »grausam«70 , und ihr Sein wird in »metaphysischer Rücksichtslosigkeit« schließlich »zu reiner Funktionalität« aufgelöst (H, 113  f.). Die Beziehungslosigkeit zwischen Dingen und Worten deutet Broch unter Verweis auf Hugo v. Hofmannsthals Lord-ChandosBrief als Sprachverlust und -verzweiflung, die ihm als Vorschein furchtbaren Elends vorkommt.71 Er sieht einen »anarchischen Zustand der Welt« heraufziehen, wo sich rechts und links, woher und wohin72 , Sicheres und Unsicheres nicht mehr deutlich unterscheiden lassen73 , so dass in solcher genereller Ununterscheidbarkeit74 und Uneindeutigkeit alles Empirischen75 ein enormer Wirksamkeitsdruck entsteht, der sich anscheinend nur noch bewältigen lässt, wenn man sich dazu entschließt, gegebenenfalls rigoros und Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 81

rücksichtslos »Ordnung« zu machen76 – ohne die geringste Aussicht allerdings, je wieder eine Ordnung als richtige oder wahre zur Geltung bringen zu können. Wahrheit und Zeit stehen unter diesen Voraussetzungen grundsätzlich in keinem erkennbaren und welthaften Verhältnis mehr (S, 306). Die Welt erscheint als genauso »grundlos« wie der Blick und die Gehässigkeit der Protagonistin Loßka in dem Roman Die Unbekannte Größe (UG, 95). Diese Diagnose wird historisch grundiert durch die Erfahrung des Krieges und der weitgehenden Entwirklichung, mit der sie einhergegangen ist. Nach dem Ersten Weltkrieg wusste man nicht einmal mehr genau anzugeben, was unter einem Ereignis zu verstehen ist (DI, 31, 59). Im Roman 1918 · Huguenau oder die Sachlichkeit (1931) ist dementsprechend von einem weitgehenden Verlust von Wirklichkeit die Rede, der auch die Philosophie nicht unbeschädigt gelassen habe. Ist sie nicht »angesichts des Zerfalls ihres Objekts […] selbst zu bloßen Worten zerfallen«? Und hat nicht auch sie eine »Vereinsamung des Ichs« heraufbeschworen, das sich nunmehr als vollkommen unfähig erweist, so etwas wie verbindliche Wirklichkeit neu zu etablieren (H, 228)? Immerhin: Die daraus abzuleitende »Bankrotterklärung« könnte einen Neuanfang nach sich ziehen, wenn sich der Mensch »der Wirklichkeit wieder zu[wendet]« und »den Quell seines Wissens« in der »lebendigen Erfahrung« wiederentdeckt (H, 151) – notfalls eben auch entgegen einem auf Mathematisierung abzielenden Wissenschaftsanspruch, der mit einer weitgehenden Verachtung »für die übrige und nicht mathematische Welt« einhergeht, an deren Stelle bestenfalls eine Art »Verstandesgemeinschaft« von Wissenschaftlern treten kann (UG, 65, 116). Verbirgt sich in diesem Anspruch am Ende eine »Flucht vor dem eigenen blinden Sein« und eine »Ablehnung des Du«, ohne je eine humane Welt neu errichten zu können, die »bloß von Individuum zu Individuum sich spinnt«77, aber gewiss nicht aus dem Humus der Erde aufsteigt78 , den Autochthone exklusiv für sich in Anspruch nehmen wollen? Geht nicht jede Anstrengung der Mathematisierung von einer vorgängigen Lebenswelt aus, deren Wirklichkeit nur ›zwischen uns‹ Gestalt annehmen kann, wenn man sich auf Erwiderung hin aneinander wendet?79 Broch hatte diese Fragen nicht als sozialphilosophisch differenziert entfaltete vor Augen. Zwar wusste er um das Werk Edmund 82 | Kapitel II 

Husserls (PS1, 91), der von seiner frühen Theorie der Arithmetik her fundierenden Sinnesleistungen auf der Spur war, die überhaupt erst Spielräume geometrischer u. a. Mathematisierung eröffnen. 80 Aber wie diese Leistungen mit der Einbindung leiblicher Subjekte in eine soziale Welt zusammenhängen, in der sie einander als ›Du‹ begegnen und deren Wirklichkeit sie allein durch ihre dia- und synchronen Verhältnisse ausformen, das hat auch Husserl selbst erst nach und nach entdeckt, wie seine 1920 einsetzenden nachgelassenen Schriften zur Intersubjektivität 81 und seine Cartesia­ nischen Meditationen (1929) beweisen, deren Rezeption durch Emmanuel Levinas, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty und Paul Ricœur, Alfred Schütz und Aron Gurwitsch vor allem überhaupt erst die Frage nach Grundlagen einer sozialen Welt systematisch aufgeworfen hat. Als deren Kernproblem arbeiten diese Meditationen den Begriff des Anderen, die Beziehung zu Anderen als solchen und deren originäre Möglichkeit heraus, die Philosophen des Mitgefühls, der Einfühlung, der Empathie und der Sympathie immer schon vorausgesetzt hatten, ohne sie eigens zu prüfen. Jetzt erst wird es vollends rätselhaft, wie und ob wir überhaupt zu Anderen als solchen in Beziehung stehen und wie dies möglich ist, falls es überhaupt möglich ist, ohne letztlich doch einem fatalen Solipsismus verhaftet zu bleiben. Nach wie vor ist man sich offenbar dessen nicht wirklich sicher, ob wir es hier mit einem lösbaren Problem, mit einem ungelösten und womöglich unlösbaren Rätsel oder gar mit einem Geheimnis zu tun haben. 82 Wittgensteins berühmter Satz »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus‹« wirft nun die Schwierigkeit auf, um was für eine Art des Sich-nicht-Auskennens es sich hier handelt. 83 Geht es darum, den (rechten) Weg zu Anderen oder von Anderen her nicht zu kennen, ihn verloren zu haben oder wiederfinden zu müssen? Ließe sich ein solcher Weg in eine »Landschaft der Praxis« einzeichnen, von der Merleau-Ponty beiläufig sprach?84 Handelt es sich hierbei um eine angemessene Metaphorik? Verfügen wir überhaupt über Kriterien für die fragliche Angemessenheit?85 Wäre eine solche Landschaft topografisch zu erschließen und zu dokumentieren? Handelt es sich um eine Problematik der epistemischen Orientierung im Richtungslosen, Vielfältigen, Uneindeutigen, Ununterscheidbaren, Unstimmigen, Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 83

Stummen, Neutralen, Grundlosen, Entwirklichten, Unentwirrbaren und doch mannigfaltig Verwobenen? Und sollte man sich nun in allen diesen Hinsichten von einer Sozialphilosophie der Alterität Orientierung versprechen, die jeglichen platonischen, metaphysischen Rückhalts in einem überkommenen kosmischen Weltbild entbehren muss, um stattdessen im Pathos des Ausgesetztseins in Unordnung und Leid und aus dem Verhältnis zum Anderen bzw. zum ›Du‹ den von Broch so schmerzlich vermissten »humanen Sinn des Weltgeschehens« wiederzugewinnen – oder ihn vielmehr überhaupt erst unvoreingenommen zu ermitteln? 7. Zwischen Literatur und Philosophie

Wie kaum ein anderer dichtender Autor seiner Zeit hat Hermann Broch die seinerzeit aktuelle Verfassung dieses Weltgeschehens vieldimensional zu erfassen und poetisch darzustellen versucht, darin wohl nur Robert Musil vergleichbar. Das Wissen, das er dabei einbringt, reicht von der antiken Mythologie über die gesamte politische Geschichte des Abendlandes und die Geschichte der Philosophie bis hin zur modernsten Mathematik seiner Zeit und zur Apologie einer menschenrechtlich fundierten Demokratie. 86 Vielleicht hat Hannah Arendt recht, wenn sie ihn als »Dichter wider Willen« charakterisiert, der offenbar bezweifelte, dass es ein ganz und gar prosaischer, argumentativer Diskurs, wie ihn angeblich Philosophen pflegen, mit der Vieldimensionalität jener Orientierungsschwierigkeiten je aufnehmen könnte. Brochs Romane, denen er offenbar genau dies abverlangte, verzichten dabei vielfach auf überkommene narrative Grundstrukturen, zeigen sich ganz unbekümmert um Fragen der Spannung und um jeglichen endism, sei es im Guten, sei es im Schlechten, und sind erstaunlicherweise ihrerseits gesättigt mit philosophischen, historischen und zeitdiagnostischen Ausführungen, die ihre Leser daran zweifeln lassen, ob die so oft zitierte Hegel’sche Aufgabenbestimmung der Philosophie als eines ›ihre Zeit in Gedanken erfassenden‹ Diskurstyps überhaupt systematisch zu erfüllen ist. 87 Auf tausenden von Seiten demonstrieren Brochs Romane, wie die Zeit der Gegenwart, in der sie spielen, gleichsam erodiert, unter quasi tektonischen Ver84 | Kapitel II 

werfungen leidet und ganz neue, unvorhergesehene Aggregatzustände anzunehmen beginnt, ohne dass bereits absehbar wäre, ob und inwieweit in Zukunft überhaupt noch topografische Modelle zu ihrer systematischen Beschreibung ausreichen werden. Noch Merleau-Pontys Rede von einer »Landschaft der Praxis« evoziert Ordnungsvorstellungen, die sich in Zeiten massiver, brutaler und beschleunigter Liquidierungen nur noch beschränkt halten lassen. Ob sich überhaupt noch eine Philosophie vorstellen lässt, die mit solchen Entwicklungen mitzuhalten verstünde und ihnen nicht nur nach-denkend hinterherhinken müsste, steht dahin. Das zeigt sich auch in Brochs philosophischer Melancholie, die sich mehr an einem irreparabel versehrten alten Weltbild orientiert, als dass sie sich an ›zukunftsfähigen‹ Konzepten versuchen würde. Möglicherweise ist freilich das für erledigt und überwunden Gehaltene ›an der Zeit‹. Doch Broch verfolgt beileibe keine bloß restaurativen Absichten. Das zeigt sich, wo er seine Protagonisten rigoros in einer geradezu entwirklichten Wirklichkeit einer entweltlichten Welt situiert, die ihnen die Frage, was die Welt und die Wirklichkeit, in der sie erfahrbare Gestalt annimmt, als solche überhaupt ausmacht, problematisch, rätselhaft und geheimnisvoll erscheinen lässt. Liebäugelt Broch anfangs noch mit einem neuen Mythos, dem allein er zeitweise zuzutrauen schien, dies – nach dem Vorbild des Ulysses – zeitgemäß zur Sprache zu bringen, so verzichtet er schließlich auf jegliche tradierte Form literarischer Darstellung und lässt seine Protagonisten ihrer eigentümlich unweltlichen Welt und unwirklichen Wirklichkeit schutzlos ausgesetzt erscheinen, um den Leser nahezulegen, gerade daraus könnte eines Tages eine Philosophie, die sich dieses Ausgesetztseins, der »Dignität« der Erfahrung von Schmerz, Leid und Unordnung endlich annimmt, ableiten, was man möglicherweise als ›humane‹ Orientierung bezeichnen dürfte. 88 Mit aller Vorsicht allerdings, denn auf den ersten Blick führen Brochs Romane doch nur vor Augen, wie eine irreparable Orientierungslosigkeit die Menschen zu beherrschen beginnt, der sie mit restaurativen Absichten allein nichts mehr glaubwürdig entgegenzusetzen vermögen. Inzwischen verfügen wir über eine hochdifferenzierte Vorstellung davon, was unter problematischer Orientierung, unter Orientierungsbedarfen und Orientierungsleistungen zu verstehen ist Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 85

und was man sich von all dem verspricht. 89 Nach wie vor ist aber nicht deutlich, was zu all dem die Karriere einer Sozialphilosophie der Ander(s)heit des Anderen beiträgt, wie man sie auf die moderne Philosophie der Sprache (bzw. der Rede), der Zweiten Person, auf den Dialogismus und schließlich auf eine ethisch ausgerichtete Philosophie der Alterität zurückführt. Bemerkenswert an Brochs Werk ist, dass er auf das Problem, das Rätsel oder Geheimnis des ›Andersseins‹ des Anderen in dem Maße – und ganz ohne vorherige Absicht – stößt, wie er die Folgen der Erosion eines überkommenen, stabilen Weltbildes nachzeichnet, das sich an der Metaphysik einer ›gegebenen‹ Ordnung orientiert hatte, längst aber einem neuen Weltverständnis weichen musste, in dem schlicht ›Gegebenes‹ scheinbar gar keinen Platz mehr hat. So sehen die Leser Brochs das Problem, Rätsel oder Geheimnis des Anderen als solchen dadurch radikal zum Vorschein kommen, dass keine solche Ordnung mehr zu überzeugen vermag. Wenn das so ist, was bleibt uns dann anderes, als ›zwischen uns‹ neu anzufangen, ohne uns auf eine ›gegebene‹ Ordnung zu berufen und so, dass wir erst einmal realisieren, was bzw. wer wir im Verhältnis zueinander mangels einer solchen Berufungsmöglichkeit sind? Der Philosophie spielen Brochs Romane diese Frage gewissermaßen zu, ohne sie mit ihren literarisch-poetischen Mitteln ganz ausschöpfen und wirklich bewältigen zu können. Die kulturgeschichtliche und gegenwartsdiagnostische Sättigung, die sie auszeichnet, ist gleichzeitig ihre Schwäche in systematischer Hinsicht. So entwirft Broch u. a. ein außerordentlich dichtes, gelegentlich aber auch überzeichnet anmutendes Bild von der wahrgenommenen Gefahr, ganz und gar der Ununterscheidbarkeit oder diskriminierenden Unterscheidungen zu verfallen, zeigt aber nicht, inwiefern es jeder und jedem darauf ankommen muss, von Anderen anders unterschieden zu werden oder sich von ihnen anders zu unterscheiden. Und er beschwört ein komplexes Szenario der Desorientierung im Richtungslosen, Vielfältigen, Uneindeutigen, Ununterscheidbaren, Unstimmigen, Stummen, Neutralen, Grundlosen, Entwirklichten, Unentwirrbaren und doch mannigfaltig Verwobenen herauf, kann aber nicht zeigen, wie in dieser Lage eine Sozialphilosophie der Alterität bzw. der Ander(s)heit Orientierung versprechen könnte, die über keinen platonisch-metaphysischen 86 | Kapitel II 

Rückhalt in einem überkommenen kosmischen Weltbild mehr verfügt und wie gesagt stattdessen im Pathos des Ausgesetztseins, in Unordnung und Leid anzusetzen hätte, um gegebenenfalls aus dem Verhältnis zum Anderen den von Broch vermissten »humanen Sinn des Weltgeschehens« wiederzugewinnen. Umgekehrt wäre eine solche Sozialphilosophie, wenn sie ›ihre Zeit in Gedanken zu erfassen‹ sucht, auf eine dichte Beschreibung dieser Zeit angewiesen, die auch sie nicht allein mit eigenen Mitteln leisten kann.90 So zeichnet sich im Werk Brochs ein Chiasma von Literatur und Philosophie ab, das die noch Jahre später (etwa bei Jürgen Habermas) so streng angemahnte Einhaltung ihrer Gattungsunterschiede längst unterläuft, aber nicht etwa deshalb, weil Brochs Romane auf unzulässig-frivole Weise poetisieren, was richtigerweise diskursivargumentativ verhandelt werden sollte, sondern weil sie poetisch zur Sprache bringen und dabei zugleich überhaupt erst zu denken geben, was als ›ausgesetztes‹ Leben zu begreifen wäre, das offenbar erst als solches rückhaltlos dem Anderen begegnet. 8. Direkter Ansatz bei der Begegnung mit Anderen als solchen: Dialogisten und Sozialphänomenologen bis hin zu Emmanuel Levinas

Wie das geschehen kann, ohne dass man sich dabei auf eine bereits ›gegebene‹ Ordnung der Welt und auf eine orientierungswirksame Wirklichkeit stützen könnte, in der sie Gestalt annimmt, das haben erst moderne Dialogisten (v. a. mit Buber), die Sozialphänomenologie (v. a. im Ausgang von Husserl), die Sozialontologie (mit und gegen Sartre) und schließlich eine anti-ontologische Ethik (angeregt von Levinas) zu zeigen versucht, die direkt beim Anderen als solchen ansetzen. Erst diese Richtungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts haben systematisch die Frage zu klären versucht, wie uns Andere als solche überhaupt begegnen, was dabei unter ›Begegnung‹ zu verstehen ist, wie sie verfehlt und neu angebahnt werden kann; auch und gerade dann, wenn sich herausstellt, dass man scheinbar zunächst oder letztlich ›nichts‹ miteinander gemeinsam hat (wie es Feinde glauben mögen) oder dass man einander fremd ist und bleiben muss, wenn nicht im Sinne sozialer EntDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 87

fremdung, so doch im Sinne eines Einanderentzogenseins, das uns vollständiges ›Kennenlernen‹ und völlige ›Vertrautheit‹ ebenso verwehrt wie jegliche Symbiose und ein wenigstens vorübergehendes Einswerden miteinander. Erst in diesen Richtungen der jüngeren Philosophie ist dabei auch deutlich geworden, dass Beziehungen zu Anderen als solchen nicht primär eine Frage des Wissens sind, das man voneinander haben, miteinander austauschen und übereinander gewinnen kann; gegebenenfalls auch mit raffinierten digitalen Mitteln, die uns inzwischen ›restlos‹ zu erfassen drohen. An die Stelle des Wissens (an dem freilich eine sogenannte »soziale Epistemologie« bis heute unverdrossen festhält) sind dessen ungeachtet nicht-epistemische Beziehungsmodalitäten getreten. Miteinander ›in Verbindung treten‹ kann man überhaupt nur dank eines einseitigen und dann auch gegenseitigen Anspruchs, auf den ein Anderer Antwort zu geben verspricht, ohne dass es dazu eigens eines Sprechaktes bedürfte. Dieser Anspruch widerfährt uns, bevor er epistemisch vergegenwärtigt werden kann. Dabei muss man Anderen Gehör und in gewisser Weise auch Vertrauen schenken, bevor es überhaupt zu einer Beurteilung dessen kommen kann, was sie sagen. Aus dem Sagen geht gegebenenfalls Gesagtes hervor, dem man glaubt, bevor man es kritisiert, usw. Das Widerfahren, Angesprochenwerden, Antworten, Versprechen, Schenken, Glauben, Vertrauen und Sagen haben sich als Momente einer religio, einer Rückbindung an den Anspruch des Anderen erwiesen91, den man gewiss zurückweisen und leugnen kann, der aber ›immer schon‹ im Spiel ist, so dass man sich nicht nicht zu ihm verhalten kann, wie es auch die systemische Kommunikationstheorie lehrt. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht auch weigern könnte, Anderen zu glauben, ihnen zu antworten, Vertrauen zu schenken, etwas zu versprechen usw. Aber all das sind ›Optionen‹ bzw. Verhaltensspielräume, die sich erst eröffnen, wenn man bereits in einer ›Beziehung‹ zum Anderen steht. Und eine solche Beziehung besteht eben nicht wie von allein, etwa dank einer vermeintlich substanziellen genealogischen und familialen, ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, dank einer sozialen Vergemeinschaftung oder politischen Vergesellschaftung. Das ist der radikale Grundgedanke, der alle genannten Richtungen der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts umtreibt: Eine Beziehung zum Anderen als solchem kann überhaupt nicht in einer 88 | Kapitel II 

Weise ›bestehen‹ wie ein dinglicher oder substanzieller ›Bestand‹. Selbst wo man auf langjährige und verlässliche Beziehungen nur ›zurückgreift‹ oder sie ›reaktiviert‹, wohnt der entsprechenden Wiederanknüpfung ein radikales Moment des Neubeginns inne. Kein iteratives Zurückkommen auf eine vorgängige Beziehung kann demnach je nur auf eine Wiederholung oder Fortsetzung hinaus­ laufen, selbst wenn es sich genau darin zu erschöpfen scheint. Während sich gängige Kommunikationstheorien von Niklas Luhmann bis hin zu Bruno Latour tatsächlich weitgehend auf die Beschreibung von Wiederanknüpfungsmöglichkeiten an vorgängige Kommunikation konzentrieren, insistiert die von Buber und Husserl, Sartre und Levinas angeregte Sozialphilosophie nach wie vor auf der Frage, ob Kommunikation, die ihren Namen auch verdient, je überhaupt stattfindet und wovon das abhängt. Ist das, was man vom eristischen Wortgefecht über die akademische Disputation und den angeblich herrschaftsfreien Dialog, das Tele­fonieren und den öffentlichen talk bis hin zum scypen, zoomen, chatten, twittern und posten leichtfertig Kommunikation nennt, nicht in Wahrheit das Gegenteil davon? Verdienen Worte, die man sich ›an den Kopf wirft‹ wie Steine, Argumente, mit deren scheinbar unwiderstehlicher Kraft man Andere unnachsichtig zur Zustimmung zu bewegen versucht, rhetorische Manöver, die öffentlich Eindruck machen und dadurch überzeugen sollen, oder Mails und Nachrichten, die man auf elektronischen Wegen per ›CC‹ an diverse Adressaten verschickt, überhaupt noch ›kommunikativ‹ genannt zu werden? Verwässern sie nicht alle Unterscheidungen zwischen ›analoger‹ Begegnung mit Anderen und Reden über sie, zwischen bildloser face-to-face-Konfrontation und virtuell-digitaler Vermittlung, zwischen ›zweiter‹ und ›dritter‹ Person, zwischen Angesicht und image, Mündlichkeit und Schriftlichkeit? Oder ist das eine anachronistische Polemik seitens derer, denen tatsächlich gar keine Kommunikationstheorie zur Verfügung steht, der zu entnehmen wäre, was es bedeuten müsste, Anderen als solchen zu begegnen, mit ihnen zu sprechen und kommunikativ in Verbindung zu bleiben, und die uns insofern Orientierung bieten könnte? Ohne dezidiert Anspruch auf eine solche Theorie zu erheben, die zeigen könnte, wie Kommunikation möglich ist und ›funktionieren‹ kann, haben Dialogisten wie Buber und ethische Kritiker Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 89

des Dialogbegriffs wie Levinas doch wenigstens negativ anzugeben versucht, was nicht in Wahrheit ›Kommunikation‹ genannt zu werden verdient. So lobt Levinas eine »diskrete Abwesenheit […], von der aus sich der gastfreundliche Empfang« des Anderen vollziehe92 , und unterstellt auf diese Weise, Kommunikation könne in Wahrheit niemals stattfinden, wo nicht auch die unaufhebbare Abwesenheit des Anderen als des Anderen auf ›gastliche‹ Weise und diskret respektiert werde.93 Wie schon Buber neigt Levinas dabei zu einem polemischen Begriff von Sozialität, gegen die er den Verdacht hegt, die radikale, immer wieder auch als »absolut« eingestufte Alterität des Anderen aufzuheben und auf diese Weise nicht etwa dialektisch zu bewahren, sondern zu unterdrücken. Ganz ähnlich denunzierte Buber in seiner Schrift Ich und Du (1923) die Sozialität als eine Art Gefängnis, in dem die Anderheit des Anderen nur verkümmern könne und letztlich zugrunde gehen müsse.94 Bei der Lektüre von Aldous Huxleys nur wenige Jahre später (1932) erschienener Dystopie Brave New World fühlt man sich unwillkürlich daran erinnert, sollte diese jegliches Allein- und Fürsichseinkönnen tilgende Welt doch vollkommen ausschließen, dass irgendjemand ›draußen‹ und unintegriert bleibt. In einer seiner frühesten Schriften schlägt Levinas Mitte der 1930er Jahre offenbar in die gleiche Kerbe, wo er auf der Suche nach einem Ausweg aus einer Sozialität ist, die alle, mit oder ohne Rücksicht auf ihre wie auch immer geartete ›Differenz‹, zu integrieren verspricht. Allerdings gehen seine philosophischen Aspirationen noch weit darüber hinaus, handelt es sich unter der Überschrift évasion doch um eine Flucht aus dem Sein selbst.95 Ganz auf dieser Linie liegt sein ca. viereinhalb Jahrzehnte später verfasster Text über den Dialog, wo dieser auf der Getrenntheit eines jeden, auf dessen Einsamkeit und deren Widersetzlichkeit gegen jegliche Aufhebung in irgendeiner Einheit insistiert. Die als absolut eingestufte Nicht-Integrierbarkeit eines jeden sei allemal besser als alles, behauptet Levinas, was man einer idealen Beziehung, einer allseits integrierten Gesellschaft oder einem nichts ›draußen‹ lassenden Sein je verdanken könne. So geraten die soziale Beziehung, die politische Vergesellschaftung und die Sozialontologie gleichsam auf einen einzigen Nenner 90 | Kapitel II 

einer radikalen ethischen Kritik, die sich immer wieder an diesem einen Punkt entzündet: Weder das Soziale noch das Politische könne uns in seiner Seinsverhaftung je lehren, was uns der Andere als solcher, als unaufhebbar Anderer, ethisch angehen müsse. Letzteres beweist die auf den Bürger (politēs) beschränkte aristotelische Politik genauso wenig wie die tendenziell ›kosmopolitische‹ Erweiterung dieses Begriffs, die man in der spanischen Spätscholastik erkennen kann, die Philosophie des moral sense, wie sie von den schottischen Moralisten entwickelt worden ist, oder die Empathieund Sympathiekonzeptionen von David Hume und Adam Smith über Max Scheler bis hin zu den Sozialpsychologen der Gegenwart. Sie alle finden bei Levinas so gut wie gar keine Erwähnung und erst recht keine Gnade. Erklären uns alle diese Lehren nicht lediglich, wie uns der Andere ethisch ›nahestehen‹ kann, insofern er ›zu uns gehört‹ (als Mitbürger), uns ›angehört‹ (als Verwandter), uns ›mitfühlen‹ lässt als armes, bemitleidenswertes, bedauernswertes, hilfsbedürftiges, so oder so schwaches Geschöpf (das uns in diesen Hinsichten ähnlich vorkommt)? Steht nicht jedes Mal im Vordergrund, dass der Andere zuallererst gewisse genealogische, ethnische, politische oder psychologische Bedingungen erfüllen muss, nach deren Maßgabe er uns dann auch ethisch etwas angehen kann? So plausibel das nach wie vor in einer überbordenden Literatur erscheinen mag, die es mit dem Anderen ›gut meint‹, für Levinas handelt es sich um eine völlige Verkehrung des grundlegenden ethischen Sachverhaltes! Nicht von uns selbst geht das Ethische aus, wenn uns der Andere ›emotional‹, verwandtschaftlich, sozial oder politisch nahesteht. Das Ethische liegt vielmehr gerade umgekehrt in der ›Nähe‹ (proximité) des Anderen, die überhaupt nicht von uns, von unseren Gefühlslagen, sozialen Beziehungen und politischen Strukturen abhängen soll. Der Andere, heißt das, ist als solcher nicht ethisch maßgeblich, insofern er gewisse Vorbedingungen emotionaler, genealogischer, sozialer oder politischer Nähe erfüllt. Er ist vielmehr unabhängig von all dem, d. h. heißt: als radikal, wenn nicht gar absolut Fremder, das ethisch Maßgebliche par excellence.96 Dies entspringt bei Levinas keiner ›vernünftigen‹ Überlegung, von der sich ein bereits irgendwie ›vorhandenes‹ Subjekt selbst erst überzeugen müsste, damit der Anspruch des Anderen mit guten, Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 91

anerkennenswerten Gründen Bestand haben kann; vielmehr beruft sich Levinas auf das unvermeidlich, wie er offenbar meint, aus dem Widerfahrnis der Alterität des Anderen hervorgehende Ereignis seiner Transzendenz.97 Dabei beunruhigt ihn offenbar nicht das Problem, ob es wirklich bedingungslos gutzuheißen ist, dieser Transzendenz als einer radikal befremdlichen ausgesetzt zu sein, die sich jeglichem Wissen, Verstehen und Begreifen entzieht, so dass gar nicht zu ›erfahren‹ ist, was es letztlich mit ihr auf sich hat. Unnachgiebig, sogar um den Preis einer Zurückweisung des Erfahrungsbegriffes selbst und einer Phänomenologie, die sich ihm verpflichtet98 , besteht Levinas vielmehr darauf, dass es nur dieser Transzendenz zu verdanken sei, dass wir nicht in der Immanenz unseres Selbst (bzw. des »Selben«), des Ontischen und des Ontologischen befangen bleiben und es stattdessen wirklich mit radikal ›Anderem‹ zu tun bekommen. Nicht nur verlangt er eine Auskehr aus dem ›Selben‹ bzw. aus dem Selbst99, das sich einem Anderen zuzuwenden hätte, dessen Alterität dialektisch als ›Differenz‹ zu denken und infolgedessen in der seit Hegel bekannten dreifachen Bedeutung ›aufzuheben‹ wäre. Vielmehr geht es ihm um eine Auskehr auch aus dem Schema der Identität von Identität und Differenz selbst, in dem diese Aufhebung klassisch gedacht worden ist ‒ außerhalb derer es für Hegel schlechterdings gar nichts geben konnte, wovon noch vernünftig Rechenschaft abzulegen wäre. Demgegenüber geht Levinas so weit, das ›pathologische‹ Widerfahrnis der Alterität des Anderen, deren unbeweisbare, allenfalls zu bezeugende ethische Bedeutung wir uns nach seiner Überzeugung nolens volens zuziehen, als paradoxerweise jedem Dialog voraus­gehenden »Dialog« mit dem Anderen aufzufassen, der durch die Alterität des Anderen ›immer schon‹ eröffnet worden sein soll, bevor ein gegenseitiges Gespräch überhaupt beginnen kann.100 Auf diese Weise entkoppelt Levinas diesen verfremdeten Begriff des Dialogs von allen Vorstellungen von Reziprozität, Gegen- oder Wechselseitigkeit, ohne die praktisch keine gängige Dia­log­t heorie auskommt. Dementsprechend vermisst man bei ihm jegliche affirmative Referenz auf traditionell hervorgehobene Dimensionen eines commercium, der urbanitas und der civilitas, die sämtlich auf solchen Vorstellungen beruhen.

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9. Diskretes Nicht-Wissen – nicht-privativ vorgestellt

Kann Levinas so aber nicht allenfalls zeigen, wie das ethische ›Vorzeichen‹ ins Spiel kommt, unter dem seiner Ansicht nach alle menschlich-kommunikativen Verhältnisse stehen, auch und gerade die der Gewalt, die man Anderen antut, sowie der Vergleichgültigung ihrer Ansprüche? Kann damit der Dialog als eine wesentlich von anderen kommunikativen Verhältnissen zu unterscheidende Weise des Gesprächs miteinander sein Bewenden haben? Für Buber musste es auf dieses Prädikat tatsächlich entscheidend ankommen; und es konnte ihm nicht genügen, eine radikale ethische Herausforderung zum Dialog als solche zu bedenken, ohne dann in Betracht zu ziehen, wie es nicht nur zu wechsel- und gegenseitigem Aneinandervorbei- oder Aufeinandereinreden, sondern zu einem Dialog kommen kann, der seinen Namen wirklich verdient. Auch Buber läuft allerdings Gefahr, dies aus dem Auge zu verlieren, wo er suggeriert, es komme ›letztlich‹ nur auf einen Anderen an, der ›zählt‹ (nämlich auf Gott, von dem Buber als »wahrem Du« spricht, ohne dabei in Rechnung zu stellen, wie sich hier die Frage dialogischer Erwiderung sollte stellen können; DP, 77). Dabei hatte Buber selbst auf eine seines Erachtens »unüberbrückbare Vielheits-Anderheit« hingewiesen (DP, 235), die zweifellos das Problem aufwirft, ob es nicht darauf ankommt, wie, mit wem, unter welchen Umständen, vordringlich sowie auf wessen Kosten ein Dialog zu suchen, zu führen und womöglich auch zu einem gewissen Erfolg zu bringen wäre, sei es im Privaten, sei es im Politischen und Öffentlichen.101 Levinas sagt wie auch Buber wenig über konkrete (familiale, freundschaftliche, nachbarschaftliche, regionale, politische, nationale und transnationale) Bedingungen und Ordnungsbezüge, von denen effektiv zustande kommende oder auch versagte, scheiternde und gelingende Dialoge doch vielfach abhängen. Infolgedessen wird in ihren Schriften auch nicht deutlich, wie der mit den Einen geführte Dialog den Dialog mit Anderen ausschließt, wenn nicht endgültig, so doch hier und jetzt. Niemals wird ein Dialog mit allen Anderen möglich sein. Kein konkret geführter Dialog wird jemals die Endlichkeit der Bedingungen seines Zustandekommens, der zur Verfügung stehenden Zeit und der Selektivität derjenigen, die in seinen GeDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 93

nuss kommen, überwinden können. Mag dem Dialog auch die von Levinas mit Descartes so sehr betonte Unendlichkeit des Anderen als unbedingte Maßgabe vorausliegen, einen unendlichen Dialog können wir doch nicht führen, allenfalls einen schier nicht-endenwollenden, der früher oder später in die völlige Erschöpfung aller Beteiligten münden müsste. Muss man daran erinnern, dass nur leibhaftige Subjekte zu einem Dialog bereit, willens und fähig sein können, die in ihrer unvermeidlich pluralen Anderheit nicht wissen können, wie ein tatsächlich geführter, endlicher Dialog auch seinem Sinn gerecht werden könnte? Haben wir davon auch nur die geringste Vorstellung? Ist über diesen Sinn schon alles gesagt, wenn man ihn rückhaltlos von der unaufhebbaren Alterität des Anderen her denkt? Werden wir jemals wissen, ob uns ein Dialog mit dem Anderen als solchem gelungen ist? Und sollten wir das überhaupt epistemisch sicherzustellen versuchen? Oder liefe das auf den Anfang vom Ende des dialogischen Verhältnisses zum Anderen selbst hinaus? Sollten wir es demgegenüber besser mit einem diskreten, nicht-privativ gedachten Nicht-Wissen in dieser Hinsicht bewenden lassen und uns zu ihm auch bekennen? Kann man schon den Anderen in seiner radikal befremdlichen Alterität nicht ›in Erfahrung bringen‹, so dass er sich jeglichem Wissen entzieht, wie sollte man dann je beurteilen können, ob es zu einem wirklich dialogischen Verhältnis zu ihm gekommen ist und ob diesem irgendein Erfolg beschieden war? Vielmehr hat es nun den Anschein, als müssten wir ein für allemal die Entscheidung darüber aus der Hand geben, ob wir je mit Erfolg einen Dialog geführt oder auch nur zu eröffnen vermocht haben und ob das überhaupt eine Angelegenheit unseres ›Vermögens‹, unseres ›Könnens‹, unserer ›kommunikativen Kompetenz‹ sein kann102 , die sich vor allem durch sogenannte Perspektivenübernahme und durch Ja- / Nein-Stellungnahmen zu erhobenen Geltungsansprüchen mit Anderen ins Benehmen setzt. Buber hatte sich viel weiter vorgewagt, wo es ihm darum ging, ›positiv‹ anzugeben, was einen Dialog auszeichnen müsste, der seinen Titel verdient, insofern er in der ›Nähe‹ des Anderen als solchen geführt wird. Keine der folgenden, zwar revisionsbedürftigen, aber doch gewiss nicht nebensächlichen Bestimmungen ist dagegen bei 94 | Kapitel II 

Levinas anzutreffen103: Weder die »unmittelbare Berührung« des Anderen, die von einem wirklichen Dialog zu erwarten sei (DP, 66), noch das wirkliche ›Gemeintsein‹ des Anderen (DP, 99), weder das in ihn zu setzende Vertrauen (DP, 129) noch gar die zwischen Ich und Du sich ereignende »volle Gegenwärtigkeit« (DP, 104) oder die »Lebendigkeit« der jeweiligen dialogischen Beziehung (DP, 47). Dabei teilt Buber, der die unmittelbare Gegenwart des Anderen sucht, mit Levinas, der sie gerade in einer unerreichbaren Nähe zu finden meint, eine nachdrückliche Technikskepsis und Zurückweisung aller Mittelbarkeit, Medialität und Bildlichkeit.104 Beide fragen sich dabei nicht, ob das zunächst von Buber umschriebene »dialogische Dasein« (DP, 168), das dazu bestimmt zu sein scheint, das Gespräch mit dem Anderen als Anderem zu suchen, um nicht in seinem Fürsich-sein isoliert zu bleiben und infolgedessen zugrunde zu gehen, durch diese Zurückweisung gänzlich überfordert zu werden droht. Erfordert nicht jede Nähe und Gegenwart zugleich eine ›vermittelnde‹, die Alterität des Anderen aber nicht aufhebende Diskretion, ohne die beides unmöglich gedeihen kann? Müssen wir nicht eine Vermittlung ohne Aufhebung in Betracht ziehen? Zwar hat Levinas an einer Schlüsselstelle seines ersten Hauptwerkes, Totalität und Unendlichkeit (1961), einen Hinweis darauf gegeben, wie solcher Diskretion auf die Spur zu kommen wäre. Auch an dieser Stelle fällt allerdings zuerst auf, wovon Levinas nicht handelt. Er spricht nicht, wie die rhetorische Tradition, davon, was man besser diskret für sich behalten sollte, weil es einem andernfalls von Anderen enteignet werden könnte.105 Er spricht weiterhin nicht von Anstandsregeln und Empfehlungen wie der, sich nicht gehen zu lassen, sich an Ort und Stelle, vor allem in Anwesenheit von Mächtigen, diskret und klug zwischen cacher und découvrier eigener Gedanken zu bewegen106 , sich nicht unbedacht, ohne Scheu oder schamlos und indiskret Anderen gegenüber zu öffnen107, sich nicht wie gewisse »gemeine Naturen« ohne Rücksicht auf die Verletzbarkeit des Anderen zu verhalten, vielmehr Anderen als »geheimnisvollen und unergründlichen« Wesen zu begegnen und deren Vertrauen auf diese Weise zu verdienen (KG, 262, 56). Levinas empfiehlt weder wie der in diesen Fragen lange Zeit maßgebliche Balthasar Gracián in seinem Handorakel in diesem Sinne ausdrücklich Diskretion als Gegenteil einer fragwürdigen Eloquenz Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 95

noch einen Takt, der alles meidet, was Anderen unangenehm sein könnte, und stets bedenkt, »was in die Sphäre des Gesprächs, d. h. überhaupt in diese harmonische Welt gehör[t]« (KG, 242), und aller Negativität schließlich Zerstreuung vorzieht ‒ eine Zerstreuung, von der Goethe Ausgewanderte sagen ließ, man habe sie »nie nötiger gehabt« als jetzt, wo uns »vielleicht […] bald der Rauch bei Tage und die Flammen bei Nacht den Untergang unsrer Wohnungen und unsrer zurückgelassenen Besitztümer [verkündet]«, »was uns in der Stille schon Schmerzen genug [bereitet]«, als dass wir es zulassen könnten, dass es »durch öftere Wiederholung tiefer in die Seele« eindringen kann.108 Die Diskretion lokalisiert Levinas, den ein schon oft diagnostizierter Zivilisationsbruch trennt von einer Welt, deren Bestehen und (Pseudo-)Harmonie noch mit Mitteln der Zerstreuung aufrechtzuerhalten war, auch nicht bloß wie Georg Simmel weitgehend in der Binnensphäre enger und privater Beziehungsformen wie der Ehe und der Freundschaft109, »fern der Öffentlichkeit, im Schweigen«, wo sie Georges Bataille vermuten würde, geschützt vor einer heute nichts mehr verschonenden Frivolität, die sich das Recht herausnimmt, jederzeit »alles zu sehen«, und so das Ende jeglichen Geheimnisses heraufbeschwört, wie Mario Vargas Llosa unlängst argwöhnte.110 Vielmehr entdeckt Levinas Spuren der Diskretion im »gastfreundlichen Empfang«, der sich sehr wohl auch in aller Öffentlichkeit vollziehen kann, obgleich ihn Totalität und Unendlichkeit auf »das Feld der Intimität« bezieht, das Levinas offenbar zunächst »der Frau« bzw. der altérité féminine vorbehalten sieht.111 Macht sie (allein) es möglich, dass die Anwesenheit des Anderen »auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist, von der aus sich der gastfreundliche Empfang schlechthin [par excellence]« vollziehen können soll (s. o.)? Stiftet sie, und sie allein, in der Intimität, kraft ihres Empfangs, »das Du der Vertrautheit« und damit zugleich eine »Sprache ohne Worte, Ausdruck im Verborgenen« ‒ noch vor allem Dialog, wie ihn Buber mit der »Kategorie« der Ich-Du-Beziehung zu fassen versuchte?112 An dieser Stelle überschlagen sich die Schwierigkeiten. Warum soll überhaupt ›sie‹, die Frau, bzw. die möglicherweise viel weiter zu fassende weibliche Alterität jenen Empfang stiften? Handelt es sich hier um eine fragwürdige Anlehnung an Geschlechterrollen 96 | Kapitel II 

und -bilder, von denen aus es zu Stereotypen nicht weit ist? Ist etwa die Frau gemeint, die das Haus bewohnt, den Herd hütet und nur so alle Anderen dort willkommen heißen kann, ihnen eine Bleibe gewährt und sie auf diese Weise überhaupt erst ›existieren‹ lässt?113 Wie vermöchte sie das je allein? Setzt sie (bzw. Levinas) dabei nicht allemal eine Ökonomie voraus, in der die sie tragenden Rollen weitgehend vertauschbar erscheinen? Worin liegt überhaupt die fragliche Diskretion? Allein »in der Gegenwart« des Anderen – (nur) darin, dass die Frau den Anderen auf diskrete Weise auch abwesend sein lässt? Nur wortlos und im Verborgenen? Verallgemeinert die Ethik der Bleibe (demeure) hier nicht eine kontingente Situation, die auf ihre Voraussetzungen hin gar nicht befragt, sondern als ethisch fundamental ausgegeben wird? Gastfreundlicher Empfang hat jedenfalls nicht nur ›im Haus‹, eine Bleibe stiftend, ihren Ort. Sie zeigt sich auch an Grenzen und in aller Öffentlichkeit, wie es Europa nicht erst seit 2015, im Zeichen der sogenannten Flüchtlingskrise, und bis heute erlebt. Bei dem, was sich hier zeigt, handelt es sich nicht bloß um weltweit ventilierte Bilder von ›Massen‹ von Migranten und Flüchtlingen, sondern darum, wie deren Aufnahme einen Dialog überhaupt erst anzubahnen verspricht, den uns die schiere Alterität des Anderen keineswegs aufnötigt, wie es stellenweise der Dialog-Text von Levinas suggeriert. Diese Alterität steht und fällt in praktischer Hinsicht mit der Gastlichkeit derer, die sich auch zu ihr verhalten, aber so, dass Erstere nicht kraft irgendeiner Aufnahme, Integration oder Inklusion aufgehoben oder gar getilgt wird. In genau diesem Sinne wird auch das Neugeborene gastlich bei den Lebenden aufgenommen, wo die Aufnahme die ureigene Angelegenheit mehrerer ist. Ihm, als infans (d. h. nicht sprechend, nicht reden könnend), sind die und der Fremde darin verwandt, dass sie die Sprache der Anderen nicht sprechen und sich auf eine Weltlosigkeit zurückgeworfen sehen, aus der das Neugeborene ursprünglich zu uns kommt und aus der, wenn man in sie zurückgefallen ist, nichts anderes herauszuführen verspricht als eine Aufnahme, ein Empfang, der Andere auf diskrete Weise abwesend und dabei zugleich in ihrer Verletzlichkeit abgeschirmt sein lässt. Eine Gastlichkeit, die in diesem sehr weiten Sinne keinen Schutz vor Gewalt verspricht, ist keine. Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 97

Dabei droht auch von ihr selbst Gewalt auszugehen; z. B. dann, wenn sie die Beherbergten dazu nötigt, zu reden, sich infolgedessen Vorschriften angemessener Kommunikation zu unterwerfen und sich ›restlos‹ integrieren oder inkludieren zu lassen. Keinem sozialen und politischen Verlangen würde sich Levinas heute wohl mehr widersetzen als gerade diesem, obwohl oder vielmehr gerade weil es so überaus populär geworden ist und in der politischen Öffentlichkeit inzwischen geradezu als eine Selbstverständlichkeit durchgeht, die kaum noch infrage gestellt wird. Allen Anderen haben wir angesichts ihrer Alterität ›diskret‹ zu begegnen, würde er vermutlich fordern, allerdings konkrete Antworten auf die Frage, wie man im Lichte dieser Forderung ›ins Gespräch kommen‹ und es gut führen soll, vermissen lassen; vor allem dort, wo das gesuchte Gespräch unweigerlich wechsel- und gegenseitige Formen annehmen muss. Wer Letzteres nicht anerkennt, läuft Gefahr, die Apologie jenes »Dialogs vor dem Dialog«, auf dem Levinas ‒ Buber und allen Lobrednern auf zwischenmenschliche Zwiesprache widersprechend ‒ besteht, in eine Selbstverleugnung derjenigen umschlagen zu lassen, von deren Diskretion es ganz und gar abhängt, ob ein wirkliches Gespräch auch zustande kommt, das nicht unter der Last gewaltträchtiger Ansprüche auf Selbstentäußerung und -enthüllung im Gesagten, auf transparente Verständigung und Übereinstimmung alsbald zu verkümmern oder zu ersticken droht. 10. Bezeugte Alterität als bloßer ›Rest‹?

So nimmt die Diskussion um das, was bereits bei Buber Anderheit heißt und bei Levinas als altérité vielfältig zur Sprache kommt, anscheinend eine normative Wendung. Wurde nicht suggeriert, das Gespräch mit dem Anderen sollte nicht ›ersticken‹ oder ›verkümmern‹? Und zwar auch und gerade dann nicht, wenn sich die fragliche Anderheit oder Alterität als außerordentlich und unaufhebbar befremdlich erweist, so dass wir anscheinend niemals werden wissen können, mit wem wir es ›letztlich‹ zu tun haben, weder bei Feinden oder Fremden, noch bei uns Nahestehenden oder bei uns selbst, die wir selbst in zweideutiger Weise wie ›Andere‹ sind?114 Ist gerade dieses Nicht-Wissen nun auf nicht-privative Art 98 | Kapitel II 

und Weise zu denken, d. h. so, dass es nicht etwa einen Mangel an Wissen anzeigt, das wir allemal vorziehen würden, sondern dafür steht, dass uns Andere auf eine Weise entzogen sind, die gerade ihre Alterität ausmacht und insofern auch Vertrauen zu ihnen, als Anderen, und Glauben an sie ermöglicht? Könnten wir wissen bzw. kontrollieren, woran wir mit Anderen ›wirklich‹ sind, wie es ein sattsam bekanntes Diktum anstelle von ›riskantem‹ Vertrauen ja empfiehlt, wäre Letzteres im Grunde vollkommen entbehrlich. Und nichts kann ganz und gar ausschließen, dass wir zumal im Zeichen der digitalen Medien längst auf dem Weg dahin sind, dass Andere als weitestgehend algorithmisch erfassbar gelten – bis auf einen zu vernachlässigenden ›Rest‹. Nicht von einem solchen Rest aber handeln Buber und Levinas, wo sie beschreiben, wie aus dem Verhältnis zum Anderen eine unauslöschliche ethische Irritation hervorgeht, die Letzterer mal als uns aufgetragene Verantwortung, mal als Gerechtigkeit kennzeichnet, die wir dem Anderen als solchem schulden. Aber woher will er das wissen? Handelt es sich auch hier um eine nicht-epistemische Problematik? Kann es insofern nicht darum gehen, diese Irritation irgendwie zu ›verifizieren‹? Oder wenn, dann auf andere, nicht ›beweiskräftige‹ Art und Weise, etwa auf dem Weg einer attestation, einer Bezeugung, wie Levinas selbst mehrfach schreibt? Ist damit die Schwelle zur Theologie, gleich welcher Provenienz, bereits überschritten, wie viele argwöhnen, die ohnehin meinen, mit dem ständigen Verweis auf eine uns wenn nicht absolut, so doch radikal entzogene Alterität gerate jede Philosophie, die ihren Namen – unter den von Kant beschriebenen kritischen Maßgaben – noch verdienen will, an eine definitive Grenze legitimer philosophischer Rede? Und lehrt geschichtliche Erfahrung nicht zur Genüge, dass die Menschen mit rücksichtsloser Gewalt gegeneinander vorgehen und dass sie insoweit überhaupt keine untilgbare Verantwortung und Gerechtigkeit zu kennen scheinen? Levinas ist der Letzte, der das beschönigen möchte, zeigt er sich doch davon überzeugt, dass wir im Zeichen einer fatalen Herrschaft des Krieges leben müssen, der angeblich schon Heraklit auf der Spur war. Wie dem auch sei115: Setzt das Adjektiv ›rücksichtslos‹ nicht allemal voraus, dass bereits etwas ›im Spiel ist‹, was die Gewalt als solche zu kennzeichnen zwingt? Liegt in der leibhaftiDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 99

gen Existenz Anderer nicht etwas, was ›gegen die Gewalt spricht‹, die man ihnen antun kann? Ist das nur ihr schmerzempfindlicher Körper oder bereits ein ethisches Gebot, sich nicht am Leben und Sterben Anderer schuldig zu machen?116 Lässt sich beides klar unterscheiden? Levinas beruft sich auf ein »Zeugnis der Unendlichkeit« des Anderen wie andere auf die Stimme des Gewissens.117 Aber mir scheint, dass seine Sozialphilosophie (denn darum handelt es sich erklärtermaßen) durchaus hypothetisch aufgefasst werden kann. Etwa im Sinne der Frage, was folgt daraus, wenn wir von der bezeugten Bedeutung der Alterität des Anderen ausgehen. Und was, wenn nicht, wie es anscheinend in Kommunikationstheorien der Fall ist, die wie diejenige Luhmanns den Anderen je nur als zu Beobachtenden gelten lassen und dabei den unschätzbaren Vorteil scheinen einstreichen zu können, soziale und politische Orientierung zu bieten, wo eine radikale Philosophie der Alterität auf den ersten Blick nur Warnschilder aufstellt, auf denen zu lesen steht: ›Hier gibt es nichts zu wissen und in Erfahrung zu bringen!‹ ›Hier entzieht sich der Andere jeglicher Vorstellung und jeglichem Vergleich!‹ ›Jenseits seiner Erfahrbarkeit, Vorstellbarkeit und jeder komparativen Differenz liegt nur eine radikale oder gar absolute Fremdheit, in die wir ihm nicht folgen können und nicht zu folgen versuchen sollten!‹ ›Hier sind nur Spuren von Spuren seiner Alterität zu finden, aber niemals er selbst!‹? Usw. Beschränkt sich jene Philosophie der Alterität am Ende darauf, vor allzu guter Orientierung zu warnen, nach der man besorgt in einer Zeit verlangt, die notorisch im Verdacht steht, es mit überhaupt keiner Wirklichkeit mehr zu tun zu haben, die von sich aus ausreichend Orientierung bieten könnte? Ist das Beste, was sie zu bieten hat, nachdrückliche Erinnerung daran, wie unsere gesamte Erfahrung, all unser Vorstellen, Differenzieren, Vergleichen und Bewerten in eine Position der Nachträglichkeit zu dem versetzt ist, was uns zunächst widerfährt, ohne dass wir dem je zuvorkommen könnten? Handelt es sich im Grunde um eine groß angelegte Apologie des Pathischen, die ihrerseits dieser Nachträglichkeit gar nicht entkommen kann – und womöglich nur glauben macht, der uns widerfahrenden Alterität des Anderen sei von vornherein etwas Bestimmtes zu entnehmen, sei es im Sinne uns gegebener Verant100 | Kapitel II 

wortung, sei es aufgegebener Gerechtigkeit, die wir jedem Anderen als solchem schulden? Wartet sie nun ihrerseits mit einer vermeintlich eindeutigen, in jeder Hinsicht guten und für alles ›menschliche‹ Leben maßgeblichen Orientierung auf?118 Auch in dieser Frage ist längst ein radikaler Streit entbrannt, von dem sich nicht absehen lässt, wie er je zu schlichten sein sollte. Während die einen meinen, wir seien weder von Natur aus, aufgrund einer gewissen Erblichkeit oder unvermeidlich aufgrund der uns angeblich innewohnenden Stimme des Gewissens irgendetwas schuldig oder an etwas schuld, halten die anderen dagegen, gerade eine solche ›Nicht-Schuld‹, ›Unschuld‹ oder ›Unfähigkeit zur Schuld‹ öffne bereits dem Schlimmsten, nämlich indifferenter Gewaltausübung in jedweder Form, Tür und Tor.119 In dieser verfahrenen Lage helfen möglicherweise Theorieangebote weiter, die wenigstens eines noch versprechen: Übersichtlichkeit. Wenn schon weder die Natur noch auch die Welt oder irgendeine Wirklichkeit ohne weiteres genug Orientierung bietet, könnte dann nicht eine übersichtliche Aufklärung darüber weiterhelfen, was es mit diesem Begriff auf sich hat? 11. Orientierung im Unübersichtlichen durch ›Beobachtung‹?

Die Romane Hermann Brochs führen die vielen Hinsichten vor Augen, in denen nach dem Zusammenbruch des platonischscholastischen Weltbildes des europäischen Mittelalters massive Orientierungsprobleme auftreten mussten.120 Wo sie dem Pathos menschlicher Erfahrung auf die Spur kommen, machen sie darüber hinaus ansatzweise deutlich, wie diese Probleme im Verhältnis zum Anderen ihrerseits neu aufgefasst werden könnten, geben sie aber nur einer Sozialphilosophie der Alterität zurück, ohne sie bereits auszuformulieren. Weit entfernt, mit fertigen Lösungen aufzuwarten, vertieft diese Philosophie ihrerseits anscheinend nur die Verlegenheit des Sich-nicht-Auskennens mit dem Anderen als solchem und damit, was es überhaupt bedeuten könnte, sich im Verhältnis zum Anderen und zu Dritten, angesichts ihrer Singularität und Pluralität, zu orientieren. Mehr noch: Sie radikalisiert diese Verlegenheit bis zu einem Punkt, wo man sich fragen muss, Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 101

ob nicht gerade wenigstens zwischenzeitliche Desorientierung ihre zentrale Angelegenheit ist121 – allerdings so, dass diese nicht bloß privativ, als Mangel an schmerzlich vermisster Orientierung, aufzufassen ist. Prima facie widerstreitet das jedem philosophischen Interesse mit seinem Verlangen nach »übersichtlicher Darstellung«. Doch sollte man sich nicht Übersicht über sämtliche menschlichen Orientierungsprobleme inklusive aller Schwierigkeiten zu verschaffen versuchen, die alle möglichen Formen von Desorientierung aufwerfen? Wäre die übergeordnete Maßgabe dann die, uns auch im Hinblick auf diese Formen zu re-orientieren, um es so weiterhin mit ­einer Wirklichkeit aufnehmen zu können, die, wie Nietzsche schrieb, »unsäglich anders complicirt« erscheint, ohne uns dabei noch auf eine Ontologie, Kosmologie oder Metaphysik zu stützen?122 Dann würden wir nicht mehr wie noch Max Scheler nach der »Stellung des Menschen im Kosmos« fragen und dabei eine universale Ordnung als gegeben unterstellen, in der es nur noch darum ginge, uns richtig in ihr zu ›verorten‹, sei es auch nur im Sinne der von Helmuth Plessner beschriebenen »exzentrischen Positionalität«, die sich zumindest virtuell von jeglichem örtlichen bzw. räumlichen Verhaftetsein sollte lösen können. Sollten unter diesen Vorau­ssetzungen allerdings neue Ordnungen möglich werden, so müssten alle Begriffe, die dabei zugrunde gelegt werden, radikaler Neubefragung ausgesetzt werden, um begriffliche Anachronismen zu vermeiden, die suggerieren, Orientierung könnte heute noch bedeuten, was mit diesem Wort einmal gemeint gewesen sein mag, als man es ohne weiteres, auch in analogen Metaphorisierungen, räumlich aufgefasst hat. In dieser Lage erfasst das Sich-nicht-Auskennen auch dieses Wort selbst und alle Theorien, die es bemühen, um zu zeigen, wie wir uns durch und an Unterscheidungen orientieren – gerade auch an solchen, die sich zwischen uns abzeichnen, die wir aber auch eigens treffen und nutzen, um uns von Anderen aus den verschiedensten Gründen abzuheben, sei es als Nachbarn, Mitmenschen oder Mitbürgern im Zeichen einer »Politik der Differenz«, sei es als Gegnern oder Fremden im Zuge sogenannter »Identitätspolitik«, sei es nur zum Zweck ästhetischer Distinktion »feiner Unterschiede«, wie sie Pierre Bourdieu beschrieben hat, sei es aus bloßem Standesdünkel und schierer Überheblichkeit. 102 | Kapitel II 

In dieser komplexen Lage versprechen nun Theorien ausgezeichnete Übersicht, in die wie in diejenige Luhmanns mehr oder weniger alles scheint eingehen zu können, was sich möglichst unvoreingenommen beobachten und in einer neutralen Theoriesprache abbilden lässt. Ausdrücklich ist Luhmanns großer Entwurf mit dem Titel Soziale Systeme (1984) als Grundriß einer allgemeinen Theorie mit universalem Anspruch angelegt. Unter Kapitelüberschriften wie »System und Funktion«, »Sinn«, »Doppelte Kontingenz«, »Kommunikation und Handlung«, »System und Umwelt« etc. will sie offenbar demonstrieren, wie unter Verwendung dieser operativen Begriffe, zu denen an erster Stelle auch die der Beobachtung und der Unterscheidung zählen, »alles Soziale« zum Thema werden kann.123 Demnach lässt sich auch neutral beobachten, wie Unterscheiden als solches stattfindet, ohne dabei spezielle Voraussetzungen (wie etwa ein sich aus eigener Kraft von allem Anderem und allen Anderen unterscheidendes Subjekt) geltend zu machen. Demzufolge sollten alle vorstellbaren Arten und Weisen des Unterscheidens festgestellt werden und in die Theorie eingehen können; auch solche, in denen das zu Unterscheidende erst originär zum Vorschein kommt und kein vorgängiges tertium comparationis zur Verfügung steht. So reicht der Anspruch dieser Theorie vom ›ausmachen‹ von etwas mit eigenen Sinnen über das ›abgrenzen‹ (lat. discernere), (metaphorisch) ›auseinanderhalten‹ und ›unterteilen‹ bis hin zum ›hervorheben‹, ›betonen‹, ›deutlich machen‹, ›ausdrücklich festsetzen‹ von etwas und zur Aufwertung (engl. distinguish) und schließt das reflexive ›sich unterscheiden‹ von etwas (im Gegensatz zu etwas anderem) und von jemandem im Unterschied zu Anderen ein, die ihrerseits Unterschiede machen (wo wieder andere keinen machen oder sehen), sich also selbst durch Unterscheiden von anderen unterscheiden. So kann scheinbar jegliches Unterscheiden zum Gegenstand einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme werden, von denen jedes seine eigene Umwelt hat, sich von ihr abgrenzt, sich im Verhältnis zu ihr selbst erhält und dabei beobachtet – einschließlich der Beobachtungen anderer Systeme, die sich gegenseitig beim Beobachten beobachten. Offensichtlich verdankt sich allerdings die Rede von einem Beobachter, heiße er auch System, ihrerseits einer Unterscheidung, die nicht unverfänglich ist. Ist denn alles SoDas Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 103

ziale ›beobachtbar‹ – sowohl zwischen sozialen Systemen wie auch als Gegenstand einer Theorie, die ihre Verhältnisse zur Sprache bringt? Und kann in jedem Falle gleichsinnig von Arten und Weisen des Unterscheidens und Beobachtens die Rede sein? Beobachten kann zweifellos in höchst unterschiedlicher Weise stattfinden: im kalten Blick des Sezierenden ebenso wie im gierigen Blick des Voyeurs, in der gespannten Aufmerksamkeit eines Kommentators ebenso wie in der gebannten Neugier des Naturforschers oder in der ›teilnehmenden‹ Methodik des Ethnologen – und sogar angesichts des Anderen, dessen Augenfarbe und Gesichtszüge man ›studiert‹. Genau dagegen hat nun Levinas Einspruch eingelegt, indem er feststellte, wer Andere derart mustere, um irgendein Merkmal an ihnen zu identifizieren, habe sie in Wahrheit überhaupt nicht angesehen.124 Demnach stehen die Begriffe Ansehen und Beobachten phänomenologisch für zwei ganz und gar verschiedene Sachverhalte – sowohl, wenn es sich um einseitige Prozesse handelt, als auch dann, wenn man einander, wechsel- oder gegenseitig, ansieht bzw. beobachtet. Beides zugleich scheint gar nicht möglich zu sein: Den Anderen, den ich ansehe, kann ich unvermeidlich nicht zugleich auch noch beobachten; und umgekehrt: der Andere, der sich von mir beobachtet fühlt, kann sich nicht nebenbei auch noch von mir angesehen wissen. Levinas’ Einspruch läuft darauf hinaus, dass eine vermeintlich allgemeine soziale Theorie, die mit einem generalisierten Beobachtungsbegriff arbeitet, das Verhältnis zum Anderen als solchem, in dem wir stehen, ob vis-à-vis oder nicht, grundsätzlich verfehlt. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Sie tendiert dazu, von ›Anderen‹ unterschiedslos so zu sprechen, als mache deren Unterscheidung von Dritten, denen wir nicht ›begegnen‹, keinen wesentlichen Unterschied. Und sie realisiert nicht, dass zwischen uns, als Anderen, die füreinander Andere sind und sich so begegnen, nicht allein ein auch überall sonst anzutreffendes Unterscheiden stattfindet, sondern eine Fremdheit ins Spiel kommt, der wir in dem Maße nicht auf dem Weg des Unterscheidens habhaft werden können, wie sie sich uns radikal (wenn auch nicht absolut) entzieht. Diese nicht etwa Unterscheidungen und Vergleichen entspringende, sondern uns widerfahrende Fremdheit125 gerät nicht in das Netz dieser Theorie, die sie infolgedessen auch nicht als Moment des Sozialen 104 | Kapitel II 

verbucht. Was uns widerfährt (wie par excellence die Alterität des Anderen), ›beobachten‹ wir nicht, sosehr es im Nachhinein unsere Aufmerksamkeit beanspruchen mag, die jedoch immer zu spät kommt. Diese Zeitstruktur des Pathischen entgeht einer Theorie des Unterscheidens, die Letzteres grundsätzlich als Beobachtbares einstuft, dabei alle Arten und Weisen des Beobachtens auf einen einzigen Nenner bringt und damit ihrerseits gleich macht, was keineswegs dasselbe ist.126 Genau das kaschiert zunächst auch Broch, wenn er als Konsequenz aus der relativistischen Physik feststellt, die »Schranke zwischen dem Beobachtungssubjekt und dem objektiven Beobachtungsfeld« sei gefallen, und zwar so, dass »der Mensch […] heute als ›physikalische Person‹ […] ständig im Objektbereich anwesend« sei (PS1, 305). Angesichts der neueren Literatur seiner Zeit, speziell von Joyce, kommt er zu dem gleichen Ergebnis: »Das Werk soll selbst aus der Beobachtung entstehen, der Beobachter ist immer mitten drin« (SL1, 78). Dabei hat er freilich selbst entdeckt, wie er und seine Protagonisten sich selbst, ihrer Welt und ihrer Wirklichkeit fremd werden mussten – darin paradoxerweise einander ähnlich, aber doch so, dass die Fremdheit schließlich in eine »Begegnung mit dem radikal anderen« führen muss. So beugt sich Broch über das »Wesenlose der Tiefe« der Seele, um in einer mit Anderen zu teilenden Welt »zum wahren Bleiben zu finden«127, und muss dafür den Preis einer »fürchterlichen Übersteigerung der Fremdheit« zahlen, in der er bzw. seine Protagonisten als ganz und gar »Ausgestoßene« erscheinen – jede(r) für sich und im Verhältnis zu Anderen.128 Für Walter Jens fügt er sich damit in die Zeit Robert Musils, Franz Kafkas, Gottfried Benns und der sogenannten Existenzphilosophie ein, die uns wie zuvor schon Broch als in die Welt »Geworfene« beschreibt. Im Vergleich zu einer Theorie des Sozialen, zu der seinerzeit Alfred Schütz und viele andere lange vor Luhmann ansetzten129, kann die Literatur hier wiederum den großen Vorteil ihrer außerordentlichen poetischen Sensibilität, ihres Gespürs für ein Wahrnehmen und für ein Schreiben, das ›an der Zeit ist‹, ausspielen, ohne gleich wie eine solche Theorie Gefahr zu laufen, sich dabei operativer Begriffe zu bedienen, die selbst radikal Fremdes gleich machen, wie es offenbar der Fall ist, wenn man sich eines indifferenten Begriffs der Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 105

Beobachtung von Beobachtungen bedient. Umgekehrt kann jedoch die Literatur, die poetisch zeigt, was dabei auf dem Spiel steht, nicht einmal dann, wenn es sich wie bei Broch und Musil im Sinne Milan Kunderas um »denkende Romane« handelt130 , mit eigenen Mitteln begrifflich verständlich machen, worum es sich bei diesem Fremden (als nicht Beobachtbarem) handelt – und inwiefern es darauf ankommen müsste, ihm ›gerecht‹ zu werden. Hegel hatte darauf eine klare und schroffe Antwort: Mit radikal Fremdem ist ›geistig‹ überhaupt nichts anzufangen. Es lässt sich nicht einmal denken.131 Im Zeichen des ›Du‹ bei Wilhelm v. Humboldt und Ludwig Feuerbach, dann im Zeichen des Anderen bei Franz Rosenzweig, Martin Buber, Gabriel Marcel und Emmanuel Levinas setzt eine bemerkenswerte Gegenbewegung ein, die gerade in dem, was wir angesichts Anderer nicht ›restlos‹ wahrnehmen, beobachten, vorstellen, vergegenwärtigen, erinnern, wissen und erkennen können, den Anlass zu einer längst fälligen Umdeutung des Sozialen realisiert. Nicht im Sinne eines privativen Verständnisses dieses ›Restes‹, sondern im Sinne einer radikalen Revision sozialen Lebens, das nicht mit ›uns selbst‹, mit einem weltlosen ego cogito oder transzendentalen Ich einsetzt132 , sondern zuallererst Antwort gibt auf das, was ihm widerfährt, ohne dieses ›was‹ immer schon als ›etwas‹ identifizieren zu können. Gerade weil wir das nicht können (und nicht etwa nur mangels besseren Wissens), vertrauen wir Anderen; nur weil wir letztlich nicht wissen, mit wem wir es bei ihnen und bei uns selbst zu tun haben, glauben wir ihnen und an sie – und vielleicht auch an uns selbst. Nur deshalb machen nicht-epistemische, nicht beweisbare, allenfalls zu bezeugende (und deshalb auch dem Verrat ausgesetzte133) ›Beziehungen‹ zu Anderen als solchen das Soziale aus, auf dem schließlich auch alles Wissen und jede Technik aufruht. So bringt die Sozialphilosophie ›fremder‹ und ›befremdender‹ Alterität gewissermaßen einen Nährboden des Sozialen zum Vorschein, der nicht immer schon von einer Praxis des Unterscheidens abhängt, in dem sich, wenn es nach Luhmann geht, nur ein- und gegenseitiges (Sich-)Beobachten manifestiert, ohne dass man erkennen könnte, wie dies unterschiedliche Formen annehmen kann und inwiefern es in Beziehungen zu Anderen gänzlich ausgeschlossen ist, sie zu ›beobachten‹. Andere, die ich in Empfang nehme, sei 106 | Kapitel II 

es eine Fremde, sei es ein neugeborenes Kind, ›beobachte‹ ich nicht. Vielmehr öffne ich ihnen im wörtlichen oder übertragenen Sinne die Tür, bevor ich überhaupt in die Lage versetzt sein kann, sie zu unterscheiden, sei es auch nur von den ›eigenen Landsleuten‹, die mit Ihresgleichen ganz und gar ›unter sich‹ bleiben wollen, womöglich nicht einmal ahnend, dass sie auf diese Weise das Soziale selbst ruinieren müssen, das es nur gibt, solange man nicht bloß ›immer schon‹ unterschiedene bzw. unterscheidbare Andere als solche hereinlässt und nur noch einen einzigen, jede(n) bestimmenden Unterschied gelten lassen will: den zwischen identitär Vergemeinschafteten und zurückgewiesenen, verachteten oder schließlich gehassten ›Anderen‹ … 12. Chiasma von radikaler Alterität und Orientierung

Im Ausgang von beiden Paradigmen – von dem der Geburt und der gastlichen Aufnahme von Fremden – zeigt sich der Ertrag einer Sozialphilosophie der Alterität, die von Anderen gerade nicht von vornherein als zu beobachtenden und zu unterscheidenden handelt, sondern von der Asymmetrie der Inanspruchnahme durch sie ausgeht, die auf unsere lebensspendende Antwort angewiesen ist. In dem Maße, wie Andere tatsächlich eine für sie zuträgliche Antwort auf ihre Inanspruchnahme erfahren, kommen sie ›zur Welt‹ (erstmals oder wieder) und haben die Chance, an deren Wirklichkeit auch teilzuhaben. Dazu bekennen sich schließlich ausdrücklich responsive und listenings communities (Benjamin Barber), die grundsätzlich jedem als Anderem Zutritt gewähren, auch wenn eine zunächst unbedingte, nur nachträglich zu limitierende Hospitalität die schwierigsten politischen Probleme aufwirft. Diese sind auf der Basis einer Apologie der Alterität allein gewiss nicht lösbar, die den Eindruck erweckt, sich der Dringlichkeit praktischer Unterscheidungen (etwa: wem unter notorisch beschränkten Umständen mit begrenzten Ressourcen vorrangig Anspruch auf Beachtung, Versorgung usw. einzuräumen ist) gar nicht stellen zu müssen. Jeder Andere ist doch nur Anderer unter anderen Anderen, Dritten, unbekannten Nachbarn, Mitbürgern, Zeitgenossen … und Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 107

rückt somit von vornherein, nicht erst nachträglich (worauf auch Levinas insistiert), in eine Dimension der Tertialität ein, die unvermeidlich klassische Probleme der Gerechtigkeit aufwirft, welche niemals allen an Ort und Stelle und zugleich gerecht werden kann. In diesem Sinne gibt es überhaupt keine ›umfassende‹ Gerechtigkeit, sondern nur eine Vielzahl diverser Gerechtigkeiten mit selektiven und exklusiven Kehrseiten. Sublunar steht uns überhaupt keine Gerechtigkeit offen, die nicht auch ungerecht wäre. Die sozialphilosophisch-politische Diskussion hat diese Fragen, z. T. im Anschluss an entsprechende Deutungsangebote von Levinas, z. T. aber auch kritisch weit über ihn hinausgehend, bereits ausgiebig zur Sprache gebracht. Ohne sie an dieser Stelle im Einzelnen nachzuvollziehen, kann man doch als Zwischenergebnis festhalten, dass sich diese Diskussion im Kern um ›unaufhebbare‹, nicht privativ vorzustellende Alterität dreht, die nicht etwa nur ein Versagen jedes Versuchs anzeigt, den Anderen im Register der Selbigkeit oder der Selbstheit als ›jemanden‹ konkret zu identifizieren. Im ›Überschuss‹ seiner Alterität über jegliche Identifikationsmöglichkeit hinaus soll vielmehr die Quelle einer produktiven Beunruhigung in der Frage liegen, ob wir diesem oder jenem Anderen überhaupt gerecht geworden sind oder je gerecht werden können – auch über jede Billigkeit, equity und über jeden ›besonderen‹ Einzelfall hinaus.134 Wo diese Beunruhigung im Spiel bleibt, wird jeglicher Selbstgerechtigkeit einer Politik, Ethik und Moral der Weg verbaut, die glauben macht, mit der Alterität des singulären Anderen in einer Pluralität von vielen anderen Anderen, noch lebenden und bereits toten oder nach uns kommenden, nach Maßgabe irgendeiner alten oder neuen Weltordnung fertig werden zu können – so dringlich das Verlangen nach einer solchen Ordnung auch erscheinen mag angesichts der bekannten ökologischen, demografischen und polemogenen Verwerfungen, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben. Wie auch die jüngste Pandemie deutlich macht, droht gerade in dieser Zeit eine Renaturalisierung des menschlichen Lebens und der menschlichen Gattung im Ganzen135, über deren Zukunft die ›Biologie‹ entscheiden wird (wenn nicht selbst verschuldeter Krieg) – sei es die Biologie der offenbar langlebigsten Wesen auf dieser Erde (Viren), mit deren Ausdauer kaum eine andere Lebensform mithalten kann, sei es die Biologie toxi108 | Kapitel II 

scher und in kürzester Zeit dramatisch erhitzter Lebensumstände mit den Folgeproblemen verschärfter Armut und der Unfähigkeit, Angehörige wenigstens noch würdig zu bestatten, um so ein Minimum an ›Kultur‹ aufrechtzuerhalten. Ironischerweise drohen wir uns so, als auf biologisches Schicksal Reduzierte, auf neue Weise fremd zu werden, d. h. gerade dadurch, dass wir nur noch bekannte Probleme der Selbsterhaltung in problematischen Umweltbeziehungen aufzuwerfen scheinen, in denen eine befremdliche Alterität, ein Mangel an Bestimmtheit oder ein Leiden gerade daran, bis auf einen womöglich zu vernachlässigenden ›Rest‹ erfassbar zu sein136 , gar keinen Platz mehr haben würde. Nicht ausgeschlossen erscheint immerhin, dass wir auf dem Weg in eine Zukunft sind, in der mit unaufhebbarer Fremdheit und mit nicht ›restlos‹ zu erfassender Alterität, die in ›Unterschieden‹ und auf sie sich gründenden Orientierungen nicht aufgeht, buchstäblich niemand mehr etwas ›anfangen‹ könnte. Schließlich geben die Verteidiger dieser Begriffe selbst zu, dass sich das und der Fremde bzw. eine Alterität, die dem Unterscheiden nicht ganz und gar zu Gebote steht, nicht als ›etwas‹ identifizieren lässt. Ob ihre Positionen dennoch überzeugen, hängt wesentlich davon ab, ob es in Zukunft noch irgendjemandem Sorge machen wird, sich auf eine Welt und auf eine ihr Gestalt verleihende Wirklichkeit zuzubewegen, die kein Draußen (Michel Foucault), kein Nicht-Identisches (Theodor W. Adorno), keine Exteriorität (Emmanuel Levinas), nichts Reales (Jacques Lacan), Neutrales (Maurice Blanchot, Roland Barthes) oder radikal Fremdes (Bernhard Waldenfels) mehr kennen würde. Alle diese Autoren beunruhigt offenbar zutiefst die Aussicht auf eine Welt und Wirklichkeit, der in keiner Weise mehr zu entkommen wäre, nicht einmal auf dem Weg zum Mars oder, eines fernen Tages, im Prozess einer noch weiter weg führenden Emigration auf der Flucht vor der Sonne … Bereits 1908 schrieb Broch mit äußerster kulturkritischer Verve: »Wir stehen im Zeitalter des Verkehrs; das ist die Climax.« Danach »bleibt nichts mehr. Toll geworden wird sich der Verkehr um die überbekannte Erde drehen, eine Energie, die kein äußeres Ziel finden kann und hysterisch wird« – umso mehr, wie Kultur, Reisen und Bildung längst als Atavismen erscheinen.137 Ob sich »abseits« von all dem noch Auswege finden lassen werden, lässt Broch offen Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 109

(PS1, 11  ff.). Von ähnlichen Sorgen umgetrieben schrieb Karl Jaspers kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: »Alles Geschehen ist nun von ›innen‹. Von einem Außerhalb […] können keine fremden Mächte […] mehr einbrechen« – allerdings in der Hoffnung, wenigstens »in der eigenen Gegenwart« könne noch »Außerordentliches« beginnen.138 Die Frage, die uns alle diese Autoren als Desiderat hinterlassen haben, lautet nun aber, ob wir das, ›was‹ sich unserer Gegenwart und allen unseren Fähigkeiten der Vergegenwärtigung, der Repräsentation, der Imagination und Antizipation entzieht, ohne bereits als ›etwas‹ erkennbar zu sein, wenn nicht in bereits bestimmter, so doch wenigstens bestimmbarer Weise zu etwas herausfordert, woran wir uns orientieren können und sollten. Liegt speziell in unaufhebbarer Alterität ›nur‹ ein Moment der »Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit als Gegengewicht zur Bestimmtheit und Gewissheit«?139 Wer oder was ›braucht‹ ein solches Gegengewicht? Ein leibhaftiges Subjekt, das es weder mit Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit noch mit Bestimmtheit und Gewissheit allzu lange aushält? Oder ein soziales System, für das möglicherweise das Gleiche gilt, oder ein orientierungsbedürftiges Leben, das jederzeit darauf angewiesen zu sein scheint, sich »in unübersichtlichen Situationen zurechtzufinden«, und dabei Gefahr läuft, möglicherweise zu gut orientiert zu bleiben und zu wenig davon zu wissen, was es bedeuten kann, sich nicht mehr auszukennen, zwischenzeitlich oder endgültig irrezugehen – aber auch innezuhalten, zu verweilen, Richtungs- und andere Bestimmungen zu suspendieren, um sich für das zu öffnen, was gewissermaßen quer liegt zu deren orientierender Ausrichtung in ästhetischen, moralischen, politischen u. a. Hinsichten? Messen wir hier mit »einem nicht vorhandenen Maasstabe«? wäre mit Nietzsche zu fragen.140 Und wäre einer gewissen Desorientierung des Sichauskennens nicht auch ein positiver Sinn beizulegen? Genau das, scheint mir, geschieht in einer Philosophie der Alterität, die zwar nicht so weit geht, menschliches Irregehen einfach zu affirmieren und geradewegs gar zu einer guten ›Irre‹ zu erklären141, wohl aber darauf insistiert, dass es in gewisser Weise gut ist, sich mit Anderen nicht ›auszukennen‹, sie nicht jeweils bloß für ein alter ego oder für Andere unserer selbst zu halten und nicht 110 | Kapitel II 

zu meinen, sie sähen die Dinge nur von einer anderen Seite, aus einer anderen Perspektive (die wir grundsätzlich ebenso gut einnehmen könnten). Es ist keineswegs unverfänglich, zu unterstellen, alles Wirkliche lasse sich von mindestens zwei ›Seiten‹ her auffassen, wenn dabei vorausgesetzt wird, man könne allemal auch auf die Seite des Anderen wechseln (wenigstens virtuell oder imaginär). Mit den Augen Anderer kann ich streng genommen gar nichts sehen, auch nicht an ihrer Stelle. Wir mögen ersetzbar oder in gewissen pragmatischen und systemischen Kontexten funktional äquivalent sein; aber wir sind nicht substituierbar, auch nicht virtuell.142 Niemals kann der bzw. die Andere eine bloße Außenseite sein, von der ich vorläufig absehen könnte, um wenig später doch auf sie überzuwechseln. Andere bleiben uns als solche entzogen, jedes Mal aufs Neue, selbst im subtilsten Nach- und Einfühlen, im Mitleid, in Empathie und Sympathie. Und diesem Entzug kann ich durch kein wie auch immer modifiziertes drawing of distinctions zuvorkommen oder entgehen, das angeblich einem tief verwurzelten desire to distinguish oder einem »Bedürfnis der Vernunft« im Sinne Kants entspringt.143 Dieses erschiene nur als ›allzumenschliches‹, wenn es unter allen Umständen, auch angesichts des Anderen als des Anderen, darauf aus wäre, sich möglichst umgehend auszukennen, um die jeweilige Situation zu meistern. Niemand wird bestreiten, dass es ein solches Bedürfnis geben kann, ja dass es sich in vielen Situationen geradezu alternativlos aufdrängt. Doch es könnte sein, dass eines Tages das Leben auszusetzen oder zum Ende zu kommen droht in dem Wissen, man sei nur zurechtgekommen und habe letztlich alles, alles bis auf den Tod, versteht sich, gemeistert. Hat man auf diese Weise womöglich nur alles getan, »um die Zeit zu vernichten«? wäre wiederum mit Broch zu fragen (DI, 36; H, 64). Ist jederzeit um passende Bemeisterung bemühtes so wie auch nur »zweckmäßiges Leben eine Art Sterben« (DI, 39; H, 82)? Hat es womöglich »niemals gelebt« – wie jene Abgehetzten, die Besitz nur erwerben, »um von ihm besessen zu werden« (S, 322, 365)? Sollte dieses Leben »nicht Sterben heißen« (TV, 326)? Ähnlich wie das Leben Kafkas, über das dieser an seinen Freund Max Brod schrieb: Ich lebe auf einem »schwachen oder gar nicht vorhandenen Boden […], über einem Dunkel, aus dem die dunkle Gewalt nach ihrem Willen hervorkommt und […] mein Leben zerstört. Das Schreiben Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 111

erhält mich, aber ist es nicht richtiger zu sagen, daß es diese Art Leben erhält?« Und führt das nicht dazu, dass »ein solcher Schriftsteller fortwährend […] stirbt [und sich] beweint« in der »Angst zu sterben, weil er noch nicht gelebt hat«? »Ich habe mich«, lautet die fatale, bereits vor dem Tod absehbare letzte Konsequenz, »durch das Schreiben nicht losgekauft. Mein Leben lang bin ich gestorben, und nun werde ich wirklich sterben. Mein […] Tod wird um so schrecklicher sein […], da ich ja nicht gelebt habe.«144 Dem Ansinnen, alles durch Orientierung meistern zu wollen, um jeweils ›passend‹ zurechtzukommen, droht das gleiche Schicksal: Wer nur zurechtgekommen ist, hat womöglich gar nicht gelebt und war ironischerweise zu gut darin, sich immer neu zu orientieren. Desorientierung durch radikale Alterität kann so wie ein Gegengift erscheinen, »auf dass nicht umsonst gelebt werde« (SL1, 86) – Anderen zum Dank, die uns immerhin davor zu bewahren versprechen, am Ende nur um uns selbst gekreist zu sein und weder von Besitz noch vom Zurechtkommen, Bewältigen und Bemeistern möglichst alles anderen je losgekommen zu sein. Wer in diesem Sinne nur zurechtkommen will, wird gerade als homo capax bzw. sujet capable möglicherweise scheitern müssen, allem »Willen zur Macht« zum Trotz, der sich dagegen sperren mag. Die sich hier aufdrängende Frage, woran man gegebenenfalls scheitert, wird allerdings auch die Sozialphilosophie der Alterität, so wie sie im 20. Jahrhundert entfaltet wurde, nicht befriedigend beantworten. Wie es scheint, bringt sie mit Nachdruck Dimensionen einer unaufhebbaren ethischen Irritation und Irritation des Ethischen selbst zur Geltung, die verhindert, dass wir je uns selbst genug sein können, ohne aber dabei sogleich zu lehren, was ›mit ihr anzufangen‹ und wie sie infolgedessen zu ›bewältigen‹ sein soll, um auf diese Weise auch zu orientieren. So zeichnet sich in einem Widerfahrnis- und Erfahrungsfeld zwischen Alterität und Orientierung ein Chiasma ab, in dem unsere Orientierungen als ›irritierte‹ daran gehindert werden mögen, auf fatale Weise allzu gut ›zurecht‹ zu kommen, und die Alterität als ›orientierte‹ davor bewahrt werden mag, über eine bloße Irritation nicht hinauszugelangen, von der man am Ende gar nicht wüsste, wozu sie herausfordert. Eine bloße Herausforderung ohne orientiertes ›Wozu‹ müsste eigentümlich leer bleiben; eine Orientierung dagegen, die nicht realisiert hätte, 112 | Kapitel II 

was es heißt, sich angesichts Anderer nicht ›auszukennen‹ und insofern ›alteritär irritiert‹ zu sein, bliebe am Ende in all ihrem Zurechtkommen und Bewältigen eigentümlich blind, wüsste sie doch nie, ob sie überhaupt je eine soziale Form angenommen hat.

Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen  | 113

K APITEL III Orientierung an Alterität  – Werner Stegmaier –

Einleitung

Am Horizont der Frage nach der Orientierung erscheint das Problem der Alterität. Man kann bis zum Horizont sehen, aber nicht über ihn hinaus und auch nicht ihn selbst. Burkhard Liebsch fragt, ob die menschliche Orientierung, soweit sie in der Beobachtung und Bewältigung der Situation besteht, nicht an ihre Grenzen gerät, wo es um die Anderheit Anderer geht: sofern die begrifflichen Festlegungen einer Orientierung gegen Andere übergriffig werden. Andere werden ohne und oft gegen ihren Willen identifiziert, auf Begriffe festgelegt, die ihnen widerstreben können. Das beginnt mit scheinbar objektiven Ordnungsbegriffen, Registrierungen jeder Art in Identitätsausweisen wie Mann  /  Frau  /  divers, Alter, Staatsangehörigkeit, Religionszugehörigkeit, setzt sich fort in mehr oder weniger diskriminierenden Zuordnungen wie schwarz  /  weiß, hete­ ro­sexuell  /  homosexuell  /  t ranssexuell, unterer  /  mittlerer  /  höherer Schulabschluss, selbständig  /  a ngestellt  /  a rbeitslos, gesundheitlich guter  /  schlechter Zustand usw. und in wertenden Typisierungen wie regelkonform  /  rebellisch, zuverlässig  /  unzuverlässig usw. und endet in informellen Stereotypisierungen (›na ja, ein Italiener, aha, eine Zigeunerin, oh, ein Jude‹) und aggressiven Verunglimpfungen (›vor Leuten wie Ihnen muss man sich vorsehen‹, ›alle Geschäftsleute sind Betrüger, alle Politiker sind Verbrecher‹). Die Anderheit Anderer kann nicht erst unter solchen expliziten Identifikationen, sondern schon unter einem unbeabsichtigten Identifiziert-Werden leiden und wer sensibel für sie ist, kann sich dagegen empören. Die Sensibilität für die eigene Anderheit und die Anderer1 lässt sich wahrnehmen am Stumm-Werden, dem erstarrten Blick, der Betretenheit, der scheuen Abwendung, den irritierten Rückfragen, wenn übergriffig identifiziert wird, und schließlich an entschiedener Abwehr im Alltag (›Wie kann man so etwas sagen?‹), in der Politik (›Das sind bösartige Unterstellungen!‹) und mit Hilfe der Rechtsprechung (›Ich werde Sie anzeigen wegen übler Nachrede, wenn nicht Verleumdung nach StGB § 187‹). Die Übergriffigkeit von identifizierenden Begriffen fällt durch solche Reaktionen oft überhaupt Orientierung an Alterität | 117

erst auf. Auf den Horizont wird man erst aufmerksam, wenn das Bild vor ihm sich überraschend bewegt. In der Kommunikation unter Menschen, die sich unvermeidlich von unterschiedlichen Standpunkten aus orientieren, sind auch Verletzungen der Alterität, des Anders-Seins oder der Anderheit der Anderen, schwer zu vermeiden. Andere Orientierungsstandpunkte und -bedürfnisse führen naturgemäß zu anderen Unterscheidungen der jeweiligen Situationen und der Anderen in ihnen. Soweit Begriffe eigene Beobachtungen über den eigenen Gesichtskreis hinaus verallgemeinern, werden sie unvermeidlich übergriffig. Man rechnet unwillkürlich damit, dass Andere die eigenen Begriffe teilen, ohne das wirklich voraussetzen zu dürfen, oder mutet ihnen das bewusst zu, um selbst leichter mit diffizilen Situationen zurechtzukommen. Alterität ist darum ein Grundproblem der zwischenmenschlichen Orientierung. Die Philosophie der Alterität macht darauf zu Recht aufmerksam und hält das Misstrauen gegen alle Orientierung wach, die in ihren Orientierungsbemühungen aggressiv und in ihnen Orientierungserfolgen selbstgerecht wird. Dass es Menschen in ihrer Orientierung immer auch mit Alterität zu tun haben, Alterität zur Grundsituation der Orientierung gehört, wird durch die Idee des Konsenses leicht verdeckt. Die Erwartung von Konsens im Sinn der Übereinstimmung des Denkens unterschiedlicher Menschen lässt die Alterität leicht vergessen, auch dann, wenn man glaubt, ihn durch ›gute‹ Argumente herstellen zu können. Denn man kann das Denken anderer nicht beobachten, nicht ›sehen‹, was ›hinter‹ den geäußerten Meinungen steht und was die anderen ›mit ihnen verbinden‹, und selbst in e­ iner idealen ›herrschaftsfreien Kommunikation‹ können dieselben Argumente vom jeweiligen Gegenüber in seiner Situation und von seinem Standpunkt aus anders verstanden werden. So wenig wie ›Dinge an sich‹ gibt es auch keine per se richtigen Argumente; Argumente können die einen überzeugen, die anderen nicht, und die, die sie nicht überzeugen, können nicht einfach als ›unvernünftig‹ abqualifiziert und dadurch aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Sie könnten sich anders und vielleicht sogar hellsichtiger und weitblickender orientieren.2 Da die anderen immer nur ihre Zeichen ›haben‹, um sich mitzuteilen, und man immer nur diese Zeichen ›sehen‹ kann, wie es Wittgenstein im oben zitierten § 504 der 118 | Kapitel III 

Philosophischen Untersuchungen prägnant formuliert hat (Kap.  I, 10), 3 kann man nie feststellen, ob man, wörtlich übersetzt, ›gemeinsamen Sinnes‹ ist. Alles ›jenseits der Zeichen‹, Meinen, Glauben, Wissen, Vorstellen, Denken, Beabsichtigen, Rechtfertigen usw. und so auch Konsense darin, denkt man sich hinzu, um Anhaltspunkte und Halt in der Orientierung aneinander zu finden, tut aber auch dies jeweils vom eigenen Standpunkt aus. Man glaubt dann jenseits der Anderheit zu ›wissen, mit wem man es zu tun hat‹ und was die anderen ›im Sinn haben‹, und meint, sie darauf verpflichten zu dürfen. Auch die Idee des Konsenses ist in diesem Sinn übergriffig. Dass Zeichen, um im Alltag in unterschiedlichen Kontexten gebraucht werden zu können, Spielräume ihrer Bedeutung haben müssen (Kap.  I, 7), heißt auch, dass sie Spielräume für Alterität lassen. So aber bewegt man sich in der Interaktion und Kommunikation miteinander immer auch in einem Spielraum des Missverstehens, und man tut gut, so Nietzsche, selbst Freunden »von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn« (JGB 27).4 Und selbst verstanden zu werden, fährt Nietzsche in einer nachgelassenen Aufzeichnung fort, kann beleidigen. Selbst Lob kann demütigen, wenn es vom Falschen kommt, wenn Andere, die anders erleben und denken, freudig mitteilen, mit einem übereinzustimmen, und »gute Freunde« glauben, sie wären stets einen Sinnes mit einem.5 Die »Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen« können auch unter voreiliger Zustimmung und Anerkennung selbst unter Freundschaft und Liebe leiden, »sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert, wünscht, fürchtet, als der Andere«. 6 Hermann Broch hat das in seinen Romanen und Essays umfassend dargestellt. Dass unter den Bedingungen menschlicher, an unterschiedliche Standpunkte gebundener Orientierung die Annahme oder Forderung nach Übereinstimmung in den Erlebnissen und den Begriffen für sie, die schon Nietzsche und Wittgenstein abgewiesen haben, verfehlt ist, beginnt in der alltäglichen, aber auch wissenschaftlichen, politischen und juristischen Kommunikation immer mehr aufzufallen. In modernen demokratischen Gesellschaften ist man im Ganzen sehr viel sensibler für die Alterität geworden als, soziologisch betrachtet, in überkommenen Stammes- oder StandesgeOrientierung an Alterität | 119

sellschaften, in denen man sich fraglos in vorgegebene Ordnungen einfügte. Man lässt sich die Alterität auch nicht mehr von Predigern einer allen gemeinsamen, in allen gleich funktionierenden und zu gleichen Schlüssen kommenden Vernunft ausreden, und viele rebellieren, wenn autoritäre Regime versuchen, mit den Freiheitsrechten auch die Alterität wegzudrücken.7 Manche bestehen inzwischen so sehr auf ihrer Alterität, dass sie keinerlei Identifikationen durch andere mehr dulden wollen, dazu ihrerseits eine gezielte Identitätspolitik einfordern und so in ein Dilemma geraten. Das Leiden an der und die Empörung über die Missachtung der Alterität ist, wie Burkhard Liebsch ausführt, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Europa und seinem Einflussbereich zu einem Hauptthema ebenso der Literatur wie der Philosophie geworden. Es wurde, weil man litt und sich empörte, stark ethisch aufgeladen. Doch philosophisch ist das nur ein erster Schritt. Die ethische Behandlung des Problems, so wünschenswert sie sein mag, führt rasch ihrerseits in neue, nun normative Festlegungen aller, an denen viele wieder leiden und gegen die sie sich erneut empören können. Man muss das Problem der Alterität darum tiefer legen. Es könnte im Unterscheiden, im Sich-Orientieren durch Unterscheiden überhaupt gründen, wie es eingangs entfaltet wurde, und auf dieser Ebene auch zu lösen sein. Das Unterscheiden als solches ist bisher kaum in Beziehung zur Alterität gesetzt worden, auch nicht von mir selbst. Doch eine Philosophie der Orientierung kann nicht nur zeigen, wie es zum Problem der Alterität kommt (Kap.  I, 8), sondern auch, wie alltäglich mit ihm umgegangen wird. Wenn Alterität der Horizont, also die unüberschreitbare Grenze des Sich-Orientierens durch Unterscheiden ist, hat man mehr als die Alternative, das Sich-Orientieren ethisch einzuschränken. Man kann sich, durchaus auch um der eigenen Orientierung willen, an der Alterität Anderer orientieren, seine Orientierung auf sie einstellen und so verfeinern, dass man sich im Umgang mit anderen besser orientieren kann. Das soll in diesem Kapitel gezeigt werden. Ich setze in meiner Antwort auf Burkhard Liebsch (Kap.  II) mit dessen Bedenken ein, beim Sich-Orientieren gehe es vornehmlich um ein Bewältigen und Meistern der Situation und damit auch der Andern, die in ihr begegnen, und versuche im Anschluss an Nietzsche zu zeigen, wo die Alterität in der Orientierung ihren ur120 | Kapitel III 

sprünglichen Ort hat (1). Dann frage ich nach, ob Luhmanns Leitbegriff der Beobachtung tatsächlich keinen Raum für Alterität lässt, wie Burkhard Liebsch befürchtet (2). Darauf diskutiere ich die auch für ihn offene Frage, welchen Beitrag Levinas zu einer lebbaren Philosophie der Alterität leisten kann (3). Nach diesem kritischen Teil versuche ich in einem zweiten konstruktiven Teil in aller Kürze zu zeigen, wie Alterität im Sich-Orientieren an Anderen unauffällig gelebt wird, in der alltäglichen (4), der ethischen (5) und der politischen Orientierung (6). 1. Die Welt, in der wir uns orientieren: Sich-Zurechtfinden in und Bewältigen von Situationen

Man darf den Begriff der Orientierung nicht zu eng fassen, wenn man ihn philosophisch fruchtbar machen will. Wenn Orientierung die Leistung ist, »sich in einer Situation zurechtzufinden, um Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sich die Situation beherrschen lässt«, 8 gehört zu ihr vor dem ›Bewältigen‹ und ›Meistern‹ der Situation das ›Sich-Zurechtfinden‹ in ihr. Die Vermutung, dass ›Bewältigen‹, ›Meistern‹ und ›Beherrschen‹ an Nietzsches Willezur-Macht-Gedanken anklingt, ist nicht verfehlt. Denn Situationen sind für Orientierungen zunächst unübersichtlich, ungeordnet, chaotisch, und Nietzsche setzte eben hier an: Man müsse sich nach dem Unglaubwürdig-Werden aller Metaphysik, wie sie auch viele seiner Zeitgenossen, unter ihnen Hermann Broch, empfanden, »hüten«, der »Welt« vorab eine bestimmte Ordnung zu unterstellen.9 Und gegen solche Unterstellungen entwickelte er den Gedanken der Willen zur Macht (im Plural): Danach kann grundsätzlich alles auf alles reagieren, einander einbinden, einander aussondern, Ordnungen schaffen und zerstören, und das macht in der Sprache der Philosophie der Orientierung verständlich, warum jede Situation anders aussehen kann als die vorige. Der Begriff des Willens zur Macht hat ebenso wie der Begriff der Situation philosophisch den Sinn, hinter alle scheinbar vorgegebenen Ordnungen der Welt auf ihre prinzipielle Unberechenbarkeit und Veränderlichkeit zurückzugehen.10 Die Veränderung der ›Welt‹ oder der ›Wirklichkeit‹ hat, wie man in der Moderne gelernt hat, keinen, so Nietzsche, Orientierung an Alterität | 121

»›nothwendigen‹ und ›berechenbaren‹ Verlauf […], weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht«.11 Zum auffälligsten Anhaltspunkt dafür wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts die darwinsche Evolution der Lebewesen, die nicht mehr auf Konstanz, auf keinerlei festen Bestand mehr baut und auch keinen Fortschritt in einer bestimmten Richtung erwarten lässt, sondern allein von der Fortzeugung individueller Lebewesen miteinander vorangetrieben wird und der Variation und Selektion, die sich daraus ergibt. Auch in der Physik gelten, wie sich bald zeigte, die lange als schlechthin notwendig betrachteten newtonschen Gesetze nur in bestimmten Grenzen; wenn nicht sie selbst, so evoluierte die Formulierung von ›Naturgesetzen‹ auf immer wieder überraschende Weise; und noch immer haben wir keine einheitliche Theorie für sie; sie sind im Gegenteil ebenfalls unübersichtlich geworden. Neben der Philosophie hat auch die Literatur stark darauf reagiert: Der Kosmos, die ›schöne Ordnung der Welt‹, an die man in Antike und Mittelalter noch glauben konnte, hat sich im Sinn von Hermann Broch, wie Burkhard Liebsch zeigt, seit dem 19. Jahrhundert immer offensichtlicher aufgelöst, auch und gerade in den gesellschaftlichen Verhältnissen (Kap.  II, 1). Die Unübersichtlichkeit der Welt im Ganzen, die seither eingetreten ist, wird in jeder Lebenssituation manifest: Man muss stets erst sehen, was wie womit zusammenhängt, was welchen Einfluss worauf hat und welche Ordnungen sich da zeigen. Eben dazu ist Orientierung notwendig – Nietzsche sagte ›Interpretation‹, die ihrerseits ›Wille zur Macht‹ ist. Das Sich-Zurechtfinden in Situationen dürfte heute schwieriger sein denn je, und das Bewältigen der jeweiligen Orientierungssituation kann man davon nicht wirklich trennen: Das ›Sich-Zurechtfinden‹ ist schon ein Teil des ›Bewältigens‹, wenn auch nur für den Sich-Orientierenden selbst, nicht schon für Andere. ›Sich-Zurechtfinden‹ und ›Bewältigen‹ sind darum auch nicht als ›Theorie und Praxis‹ zu unterscheiden; die Phänomenologie der Orientierung unterläuft auch diese Unterscheidung. In der Sprache der Orientierung halten wir uns an ›Anhaltspunkte‹, von denen wir, wenn ihr ›Halt‹ sich als nicht haltbar erweist, zu anderen übergehen. Wir halten uns also immer nur vorläufig und mit Vorsicht an sie. Im Fortgang unserer Orientierungsprozesse können Anhaltspunkte 122 | Kapitel III 

einander ausstechen, zurücklassen, vergessen lassen (wie beim Wandern oder Segeln sich einander ablösende markante Zeichen in der Umgebung, in alltäglichen Gesprächen ein Thema das andere, in der Physik etwa Maxwells Gleichungen die einmal sehr starke Äther-Hypothese, in der Philosophie die These des Nihilismus die Gottes-Hypothese). Das heißt: Schon im Prozess des alltäglichen Sich-Zurechtfindens in einer Situation setzen sich Anhaltspunkte gegeneinander durch. Und auch bei dem, was wir Denken nennen, lässt sich das beobachten, wie Nietzsche in einer nachgelassenen Aufzeichnung festgehalten hat: Der Gedanke ist in der Gestalt, in welcher er kommt, ein vieldeutiges Zeichen, welches der Auslegung bedarf, genauer, einer willkürlichen Einengung und Begränzung {bedarf}, bis er endlich eindeutig wird. Er taucht in mir auf – woher? wodurch? das weiß ich nicht. Er kommt, unabhängig von meinem Willen, gewöhnlich umringt und verdunkelt durch ein Gedräng von Gefühlen, Affekten und {Begehrungen, Abneigungen, auch von} andern Gedanken, oft genug von einem ›Wollen‹ oder ›Fühlen‹ kaum zu unterscheiden. Man zieht ihn aus diesem Gedränge, reinigt ihn, stellt ihn auf seine Füße, man sieht, wie er geht {dasteht, wie er geht, Alles in einem erstaunlichen presto u doch ganz ohne das Gefühl der Eile}: wer das Alles thut, – ich weiß es nicht und bin {sicherlich} mehr Zuschauer dabei als Urheber dieses Vorgangs. Man sitzt dann über ihn zu Gericht, man fragt: ›was bedeutet er? was darf er bedeuten? hat er Recht oder Unrecht?‹ – man ruft andere Gedanken herbei {zu Hülfe, man vergleicht ihn}. Denken ist {erweist sich} dergestalt {beinahe als} eine Art Übung und Akt der Gerechtigkeit, bei dem es einen Richter, eine Gegen-Parthei, auch {sogar} ein Zeugenverhör {im Ganzen also viele Subjekte u. nicht nur Ein Subjekt} giebt, dem ich ein wenig zuhören darf – freilich nur ein wenig: das Meiste{, so scheint es,} entgeht mir.12

Nietzsche beobachtet, dass auch scheinbar ›theoretische‹ Gedanken aufkommen, um eine Situation, hier eine philosophische Problemsituation, zu bewältigen und dabei wiederum Selektions- oder, in seiner Sprache, Wille-zur-Macht-Prozessen unterliegen. Die Resultate sind dann ebenfalls vorläufige Anhaltspunkte, die nie völlig gewiss werden, auch nicht in ausgearbeiteten begrifflichen Ordnungen. Um das zu sehen, darf man nicht schon wie die stark an den mathematischen Naturwissenschaften orientierte Philosophie der Neuzeit von einem vorab definierten und disziplinierten Orientierung an Alterität | 123

Zeichengebrauch, sondern muss von der Flüssigkeit der Begriffe in ihrem alltäglichen Gebrauch ausgehen und damit auch der ›Dinge‹, die durch sie unterschieden und bezeichnet werden. So schreibt Nietzsche später in Zur Genealogie der Moral: ›Entwicklung‹ eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. (GM II 12)

Was wir für feste Dinge und feste Ordnungen von Dingen halten wollen, um uns an sie halten zu können, sind im Zug unserer Orientierungsprozesse vorläufige Resultate von interpretatorischen Überwältigungsprozessen, die einander laufend überholen und mit denen sich so auch laufend unsere Orientierung verändert. Sie hat auch kein schon feststehendes Subjekt. Gedanken, sagt man, hat man ›im Kopf‹, ohne dass man sagen könnte, was das denn für ein ›In-Sein‹ sein soll; sie ›fallen‹ einem ›ein‹, ohne dass sich feststellen ließe, von wo aus sie wohin ›fallen‹. Einem Orientierungsprozess, wie Nietzsche ihn beschreibt, wird in einem weiteren Orientierungsprozess ein Akteur zugeschrieben. Das »Man« in Nietzsches Aufzeichnung zum Denken fungiert nur als vorläufige Hilfsgröße, als Anhaltspunkt, der sich dann nicht halten lässt. Das ›Subjekt‹, weit entfernt davon, ›transzendental‹ zu sein, konkretisiert sich erst, wenn es sich eines ›Gedankens‹ annimmt und ihn sich für Zwecke der Orientierung zurechtlegt, die es dann als ›seine‹ Orientierung versteht. Dabei macht es sich, wie Nietzsche scharf beobachtet, zum Richter über die Haltbarkeit des Gedankens. So ist es, wenn man genauer hinsieht, ›Subjekt‹ eines momentanen Entscheidungsprozesses, in dem der Gedanke und das ihn Denkende zusammen, wie Aristoteles sich einst ausdrückte, ›zum Stehen kommen‹ (anánkae stāenai) – nun aber auf Zeit und nur scheinbar in Gestalt feststehender Einheiten oder Entitäten. So zerfällt jenes »Man« in »viele Subjekte« unterschiedlicher Perspektiven, die keine souveränen 124 | Kapitel III 

Subjekte im traditionellen Sinn sind; Nietzsche hat die versuchsweise Einfügung »{im Ganzen also viele Subjekte u. nicht nur Ein Subjekt}« in seine Aufzeichnung zum Denken von Gedanken wieder durchgestrichen. So bleiben im Denken, kritisch beobachtet, nur immer neue Überraschungen durch die Evolution von Gedanken, und zu ihnen gehört auch der Gedanke des Denkenden, das die Gedanken zu seinen eigenen erklärt und dadurch zu einem Subjekt wird. Die Figur kehrt bei Levinas und seiner Fassung der Alterität wieder (Kap.  III, 3). Sie schließt nicht aus, dass das sich an sich selbst haltende Denken weitläufige Ordnungen schafft, auf die es sich dann verlässt. Aber diese Ordnungen können immer wieder an der ›Wirklichkeit‹ scheitern, die komplexer ist, als menschliches Denken sie sich je denken kann, zumal wenn es bedenkt, dass sein Organ, das menschliche Gehirn, das komplexeste Gebilde in der irdischen Welt überhaupt sein dürfte. In einer solchen entschlossen entidealisierenden, rückhaltslos realistischen Beschreibung steht die menschliche Orientierung nicht als autonomes Subjekt über der Situation, um sie aus der Höhe ›theoretisch‹ zu betrachten und dann ›praktisch‹ zu bewältigen, sondern muss selbst als Teil der Situation betrachtet werden. So ist zu verstehen, dass sich mit der Orientierung über die Situation die Situation schon verändert: Die Orientierungssituation ist eine andere, nachdem man sich in ihr über sie orientiert hat, ›man‹ geht dann schon anders mit ihr um, wirkt anders in ihr mit. Man hat sie bis zu einem gewissen Grad schon ›bewältigt‹, indem man sich ›in ihr zurechtgefunden‹ hat; dann aber muss man auch noch ›etwas mit ihr anfangen‹ können und ›greift‹ dann auch beobachtbar für andere in sie ›ein‹. Doch nicht erst dann hat Orientierung es mit Alterität zu tun: Sie meldet sich schon beim ›Sich-Zurechtfinden‹. Denn da man in unbegrenzt komplexen Situationen in einer unbegrenzt komplexen Welt nur Anhaltspunkte hat, die sich darin als haltbar erweisen können oder auch nicht, könnte die ›Wirklichkeit‹ immer noch anders sein und werden, als man sie sich zurechtgelegt hat. Wenn Alterität das ist, was sich beim Unterscheiden den Unterscheidenden immer noch entzieht, so wahrt schon die Orientierungssituation als solche in ihrer Unübersichtlichkeit und Unerschöpflichkeit ihre Alterität gegen alle Versuche, sich in ihr über sie zu orientieren. Situationen, könnte man pointiert sagen, Orientierung an Alterität | 125

sind anders, als man sie übersehen kann, und darum auch anders, als man sie sich zurechtlegt, um sich in ihnen zurechtzufinden und sie zu bewältigen. Trotz aller Ängste, die hier aufkommen, hat man es dabei durchaus immer mit ›Wirklichkeit‹ zu tun, aber mit einer Selektion ihrer immer neuen Variationen. Ihre Unübersichtlichkeit und Unerschöpflichkeit ist nicht zu bewältigen, man wird mit ihr nie fertig, es bleiben immer Ungewissheiten. Man kann sich im Sinn von Burkhard Liebsch nie ›zu gut‹ orientieren. Weil die laufend sich verändernde Situation und damit die ›Wirklichkeit‹, die man ›vor sich‹ hat, zuletzt stets ungewiss bleibt, muss man sich im Zug seiner Orientierungsprozesse unter den unübersehbar vielen möglichen Anhaltspunkten beim Sich-Zurechtfinden in ihr stets für bestimmte Anhaltspunkte entscheiden, wenn man überhaupt ›weiterkommen‹ will. Das ist kein Dezisionismus, wie man ihn Carl Schmitt zugeschrieben hat, um an den hergebrachten idealistischen Festlegungen der Politik festhalten zu können, und auch kein Oktroy oder Willkür, wie man sie dem Konstruktivismus unterstellt (Kap.  II, 2). Denn Orientierungsentscheidungen schließen stets an Anhaltspunkte an, die die jeweilige Situation von sich aus bieten muss. Ohne sie verliert sich die Orientierung in Fiktionen. Weder Anhaltspunkte der Situation noch ihre Wahl in einer Orientierung aber sind willkürlich; man kann sie nicht beliebig deuten; die Kontexte, auch wenn sie ihrerseits nur in passenden Anhaltspunkten bestehen, lassen das nicht zu; sie müssen zusammenpassen, wenn sie die Orientierung leiten sollen, und das geht nicht beliebig. Soweit die Orientierungsentscheidungen, die man laufend anhand solcher Anhaltspunkte zu treffen hat, beängstigen, und sie beängstigen sichtlich bis heute auch Philosoph*innen, die an den alten Standards scheinbar gesicherter Gewissheiten hängen, kann das zu Verzweiflung und verzweifelter Abwehr führen; während Kierkegaard sich vor Angst und Verzweiflung noch in den religiösen Glauben gerettet hat, wurden von Philosoph*innen im 20. Jahrhundert die angeblichen Schrecken des ›Nihilismus‹, des ›Relativismus‹ oder der ›postmodernen Beliebigkeit‹ beschworen. Aber wir können nicht mehr von scheinbar absoluten Werten ausgehen. Gerade sie haben sich, und eben das bedeutete ›Nihilismus‹ im 19. und 20. Jahrhundert, als nicht mehr haltbar erwiesen; jede Orientierung ist nun einmal eine Orientierung von einem Stand126 | Kapitel III 

punkt aus, also ›relativ‹ zu ihm; von ihm aus aber kann man gar nichts ›Beliebiges‹, sondern nur entsprechend Orientiertes tun. So greift die ›nihilistische‹ und ›relativistische‹ Verzweiflung, die mit der unvermeidlichen Ungewissheit der menschlichen Orientierung oder der Alterität der Welt selbst nicht zurechtkommt, ins Leere, wenn sie weiterhin nach einem absoluten Halt greift, und kann dann in pessimistische und depressive Haltungen münden – auch wenn man mit den Verrichtungen des alltäglichen Lebens noch ganz gut zurechtkommt, wie Hermann Broch es etwa in seinem Roman mit dem bezeichnenden Titel Die Schlafwandler exemplarisch schildert. Die Phänomenologie der menschlichen Orientierung hat darauf eine pragmatische Antwort: Die erste und grundsätzlichste Orientierung an der Alterität der Situation ist, wie schon angedeutet, die Vorsicht, verstanden als die alltägliche Praxis, sich immer nur unter Vorbehalt, immer nur vorläufig für bestimmte Anhaltspunkte zu entscheiden und eben keinen endgültigen Halt in seiner Orientierung zu erwarten, der sich dann leicht als unhaltbar erweisen kann. Durch Vorsicht stellt man sich auf die Alterität der Situation, deren immer bleibende Ungewissheiten und unablässige Veränderungen ein, die man nie vollständig übersehen und erfassen kann; mit ihr bleibt man sich des Risikos aller Orientierungsentscheidungen unter Ungewissheit bewusst. Dadurch hält man sich aber zugleich für alternative Handlungsmöglichkeiten offen, für neue Orientierungsentscheidungen in neuen Situationen. Man lernt auf diese Weise allmählich in seiner Orientierung, sich auf überraschende Situationen einzulassen, unvermutet Weiterführendes in ihnen zu entdecken, Experimente zu wagen und sich, wenn sie sich nicht bewähren, wieder gegen sie zu entscheiden. Das Beobachten und Bewältigen einer Situation ist dann weniger ein Überwältigen und Übergriffig-Werden als eine Herausforderung der Orientierung selbst, angesichts der Alterität der Situation ›mit der Zeit zu gehen‹. Die Alterität wird tendenziell dann übergangen, wenn man es, wie man sagt, ›mit einer Situation aufnimmt‹ und mit ihr ›etwas anfängt‹, wenn das Sich-Zurechtfinden in einer Situation in ein Handeln übergeht, das die Situation auch für andere verändert. Beim entschiedenen Handeln geht man auch Risiken ein, die leicht auf die Kosten anderer gehen können. Auch das geschieht aber imOrientierung an Alterität | 127

mer nur zeitweise und nur so lange, bis die Alterität der Situation und der anderen in ihr sich zurückmeldet und allzu eigenmächtigem Handeln ihre Widerstände entgegensetzt. ›Wirklichkeit‹ erfährt man, wie oft betont wurde, eben an solchen Widerständen gegen das eigene Verfügen-Wollen über sie.13 Selbst rücksichtslose Abenteurer*innen rechnen stets vorsichtig mit den Widerständen, die ihnen die ›Wirklichkeit‹ entgegensetzt. Und es kann anderen Ängste nehmen, wenn sie sehen, wie jemand in Situationen bestehen kann, an deren Widerstände sie sich selbst nicht herangetraut haben. Meistens ›kommt man‹ mit erfahrungsgesättigter Vorsicht in der Orientierung ›gut durchs Leben‹. Anders hätten Menschen in der Evolution ihrer Orientierungsweisen kaum überleben ­können. 2. Selbst-Beobachtung: Beobachten des Beobachtet-Werdens

Niklas Luhmann, der die soziologische Systemtheorie zu philosophischem Rang gebracht hat,14 scheint mit seinem Konstruktivismus, zu dem er sich ausdrücklich bekennt, alle Alterität auszuschließen: Für uns ist nur, was wir unterscheiden können. Luhmann arbeitete zwar laufend mit dem Begriff der Orientierung; aber auch er hat ihn nicht zum Thema seiner Theorie gemacht, so dass der Begriff auch ihm nicht den Blick für die Alterität öffnete. In seinem Werk spielen wohl Derrida mit seinem Theorem der différance, der sich beim Unterscheiden in neuen Kontexten unmerklich verschiebenden Unterscheidung, und gelegentlich Foucault mit seiner Kontingentsetzung aller Ordnungen und ihrer Beschreibungen, nicht aber Autoren wie Levinas und Ricœur eine Rolle. So kann man in ihm einen von denen sehen, die noch in jüngster Zeit die ›radikale Alterität‹ außer Acht gelassen haben. Und dennoch zielt Luhmanns Theorie auf Individualität: Nach seinem Leitbegriff der Beobachtung sind es individuelle Beobachtungssysteme, die jeweils ihre Umwelt beobachten; die Umwelt ist also kein Tatbestand an sich, sondern das, was das jeweilige Beobachtungssystem auf seine Weise von ihr beobachtet. Dies dürfte heute der konsequenteste Weltbegriff sein, auch für eine Philosophie der Orientierung. Luhmanns soziologische System128 | Kapitel III 

theorie sucht gleichwohl wie jede Theorie nach Gleichheiten und Gesetzlichkeiten, aber in differenzierter Weise. Das beginnt schon mit ›dem Menschen‹ selbst, unter dessen Namen je ein physisches, psychisches und soziales Beobachtungssystem auf seine Weise seine Umwelt, darunter auch die beiden anderen Beobachtungssysteme, beobachte (Kap.  I, 6). Darin setzt er die Menschen zunächst gleich, um daraus dann die Ungleichheiten ihrer Beobachtungen zu entwickeln. Sein Begriff der Beobachtung meint nicht schon, wie Burkhard Liebsch nahelegt, die ›kalte Musterung‹ von anderem und anderen. Luhmann will mit ihm vielmehr zum einen die antike Trennung von Denken und Wahrnehmen und zum andern die moderne Trennung von Subjekt und Objekt aufheben oder unterlaufen, soweit sie metaphysischen oder transzendentalphilosophischen Zwecken dienten. Er entdifferenziert, um neue Differenzierungen möglich zu machen: So können Beobachtungen verschiedenster Art beachtet und unbelastet durch die alten Unterscheidungen miteinander ins Spiel gebracht werden. Dass etwas beobachtet wird, heißt zunächst nicht mehr, als dass es von einem Standpunkt aus in einem begrenzten Gesichtsfeld oder Horizont registriert wird, dies aber auf vielfältig differenzierbare Weisen; das begriffliche Unterscheiden und Bezeichnen oder das Feststellen ist nur die manifesteste und für die traditionelle Philosophie bedeutsamste. Im Sinn Nietzsches wird in einer Perspektive beobachtet, im Sinn Wittgensteins ist das Beobachten selbst der blinde Fleck des Beobachtens, der sich selbst beim Beobachten nicht beobachten kann.15 Es kann sich darum auch nicht, wie es Des­cartes für das Denken postulierte, seiner eigenen Existenz versichern und als unmittelbar gewiss annehmen. Das Beobachten kann sich selbst nur vermittelt beobachten: indem es andere Beobachtungen dabei beobachtet, wie sie es beobachten, also auf dem Weg über seine Umwelt. Bei Menschen gehören dazu auch die wechselseitigen Beobachtungen der drei Beobachtungssysteme, die in ihnen »strukturell gekoppelt« sind: Die Psyche mit ihren Empfindungen und Vorstellungen reagiert auf den Leib und dessen Wahrnehmungen der Welt außer ihm und der Leib wieder auf die Psyche oder das Bewusstsein und deren Vorstellungen, die er mit seinen Wahrnehmungen und internen Prozessen wie Lust und Unlust, Freude und Schmerz auslöst, und dies immer in begrenzten, eigens dafür Orientierung an Alterität | 129

ausgebildeten Kanälen und also nur partiell. Auch diese Beobachtungssysteme und ebenso die durch Sprache konstituierten funktionalen Beobachtungssysteme der Kommunikation der Gesellschaft durchschauen nie völlig, was in den jeweils anderen vorgeht; das würde ihre jeweiligen Kapazitäten völlig überfordern und den Sinn der Differenzierung aufheben. Als letztlich undurchschaubare und unfassbare Umwelten füreinander sind auch Beobachtungssysteme andere füreinander im Sinn der Alterität. Zugespitzt kann man sagen, dass in Luhmanns Grundunterscheidung von System und Umwelt, eine Spielart der Unterscheidung von Orientierung und Situation,16 ›Umwelt‹ für ›Alterität‹ steht. Und der Beobachtungsbegriff steht dem nicht entgegen, sondern macht es denkbar. Ein Beobachtungssystem aber, das die Funktion hat, in dieser Weise seine Umwelt zu beobachten, ist ihm dabei zugleich ›ausgesetzt‹: Es wird durch sie stimuliert und irritiert, unter Umständen auch attackiert, bevor es etwas in ihr gezielt beobachten kann. Es beobachtet die Alterität nicht als solche, was im Sinn ebenso von Niklas Luhmann wie von Burkhard Liebsch widersprüchlich wäre: Durch ihre Unterscheidung und Bezeichnung wäre die Alterität schon getilgt. Was in der Umwelt im Sinn von George Spencer Brown unterschieden und bezeichnet wird, wird dadurch Teil des Systems, wird in dessen Unterscheidungen und Bezeichnungen und deren Ordnungen eingebaut. So wird auch eine übersichtlich gemachte Situation Teil der Orientierung, die sie sich übersichtlich gemacht hat und die mit dieser Ausstattung nun weiter vorangeht. Eine die Beobachtung stimulierende Irritation ist im lateinischen Wortsinn und auch im aktuellen Verständnis ein Reiz durch Unbekanntes, Ungewisses, Unfeststellbares, potentiell Gefährdendes; es lässt ein Beobachtungssystem eben deshalb aufmerken, weil es zunächst nicht einordnen kann, wovon der Reiz ausgeht. Nach Luhmann sind Irritationen noch ununterschiedene Informationen,17 Informationen, die noch keine sind, aber durch nähere Erkundung, Unterscheidung und Bezeichnung werden können (ein merkwürdiges Geräusch, das sich als Rascheln eines Igels im Laub herausstellt, eine süffisante Bemerkung, hinter der man eine Retourkutsche entdeckt). Man kann so auch Anhaltspunkte einer Situation als Irritationen verstehen, die Orientierungsversuche motivieren. In summa sind Irritationen gleichsam Verlautbarungen der Alterität 130 | Kapitel III 

der Situation; sie stellen unablässig vor das Immer-noch-anderssein-Können der von einer Orientierung beobachteten Situation, d. h. ihre Alterität, und stoßen Beobachtungen an, durch die sie dann unterschieden und bezeichnet werden. Das aber kann gelingen oder auch nicht. Das Beobachtungssystem bzw. die jeweilige Orientierung kann sich der irritierenden Alterität der Umwelt bzw. Situation auch durch Festlegungen entziehen, durch die sie sich Halt schaffen. Aber die Alterität meldet sich durch neue Irritationen immer wieder zurück, regt das Beobachtungs- bzw. Orientierungssystem zu wieder neuen Beobachtungen an und sorgt so dafür, dass es für die Unerschöpflichkeit der Situation bzw. seiner Umwelt offen bleibt. Alterität ist, wenn man so will, auch der Antrieb der luhmannschen Beobachtungen und insofern der dunkle Hintergrund der Systemtheorie.18 Teil der Umwelt von Menschen sind auch und vor allem andere Menschen. Menschen irritieren Menschen am stärksten, sofern deren Orientierung von der eigenen abweicht und diese dadurch verunsichert (›Bin ich auf dem richtigen Weg, wenn doch alle andern einen andern gehen?). Darum ist es stets von Interesse zu beobachten, wie andere beobachten. Andere könnten andere Handlungsmöglichkeiten in der Situation entdecken und sie so vielleicht überlegener meistern. Im Blick auf die Beobachtungen und Orientierungsentscheidungen der andern beginnen die meisten die eigenen zu reflektieren, sie an denen anderer zu spiegeln, zwar weiterhin unvermeidlich vom eigenen Standpunkt aus, dem jedoch beobachtbar anders beobachtende und entscheidende Orientierungen gegenüberstehen. So aber gelangt man durch vergleichende Beobachtung anderer Beobachtungen zur Selbstbeobachtung. Dies ist der realistisch zunächst gangbare Weg: Man beobachtet sich selbst weitgehend über die Beobachtung von Fremdbeobachtungen, und zu diesen Fremdbeobachtungen gehören manchmal dann auch Beobachtungen, wie andere einen selbst beim Beobachten beobachten und ihre Beobachtungen vielleicht auch aussprechen. Daraus kann man dann seine Schlüsse ziehen, ohne ihrer je sicher sein zu können: Denn auch hier man kann nur die Beobachtungen, nicht die Bewusstseine ›hinter‹ ihnen beobachten. Wird man von anderen auf bestimmte Weise beschrieben, durch Begriffe bezeichnet oder identifiziert, muss man sich wiederum entscheiden: Man Orientierung an Alterität | 131

kann solche Identifikationen übernehmen oder auch nicht, sie zum Teil seiner Identität machen oder nicht.19 Bewusstseine bauen ihr ›Ego‹, wie Luhmann es gerne ausdrückt, immer auch aus ›Alter‹ auf, da sie von anderen jenseits ihrer Zeichen letztlich nichts wissen können, aber aus Alterität. Orientierung an anderer Orientierung (in der Sprache der Philosophie der Orientierung) ist der Modus, der Menschen von Kind auf trägt, und auch noch als Erwachsener muss man sich in den meisten Dingen an Anderen orientieren, deren ›Hintergründe‹ man immer nur begrenzt durchschaut. Orientierung an anderer Orientierung ist darum immer auch Orientierung an Alterität, in Luhmanns soziologischer Systemtheorie ebenso wie in der Philosophie der Orientierung. Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass es befremdet, sich seinerseits beim Beobachten beobachtet zu sehen. Sartre hat sie umfassend beschrieben und mit hohem Theorieaufwand philosophisch gedeutet.20 Im Mittelpunkt steht für ihn die Scham eines, der beim heimlichen Beobachten durchs Schlüsselloch entdeckt wird und, nachdem er sich ganz Subjekt seiner Beobachtungen wähnte, sich plötzlich als Objekt einer fremden Beobachtung sieht. Der Blick durchs Schlüsselloch ist jedoch eine Sondersituation. Zum einen wird man unablässig beim Beobachten beobachtet (z. B. Schüler*innen durch ihre Lehrer*innen und umgekehrt, aber auch als Kundin oder Kunde in einem Laden oder beim schlichten Passieren einer Fußgängerzone, in der man aneinander vorbeikommen muss), ohne sich daran zu stören. Nur durch wechselseitige Beobachtung ist kooperative Orientierung möglich, weit mehr noch als beim Unterricht, Einkaufen und Bummeln bei der Arbeit, am Markt, in der Politik, in den Medien, in der Kunst usw. usw. Es ist der starre Blick eines oder einer Fremden auf das eigene unbefangene Beobachten, der befangen macht, das Fixiert-Werden: Von ihm scheint eine Gefahr auszugehen wie von einer Waffe, die auf einen gerichtet ist. Der oder die Andere, die man nicht kennt und deren Absichten man nicht kennt, wirkt dann als Gefahr, die Alterität wird gefährlich: Man fühlt sich schutzlos der Ungewissheit und Unsicherheit seiner eigenen Orientierung ausgesetzt, muss reagieren, ohne dass klar ist, worauf und wie. Irritiert versucht man dann, seinerseits den Anderen oder die Andere in deren Beobachtungen zu beobachten, um sich in der ungewöhnlichen Inter­a ktions- und 132 | Kapitel III 

Kommunikationssituation des nun gegenseitigen Fixierens zurechtzufinden. Es kann eine Weile hin und her gehen, bis man sich vollends befremdet und verunsichert voneinander abwendet – oder aber sich entschließt, aufeinander zuzugehen und die Situation zu klären (›Kennen wir uns denn?‹), also herauszufinden, wie es zur Verletzung der Alterität durch die Fixierung gekommen ist. Statt den Blick des oder der Anderen abzuwehren, ist man nun bereit, sich an ihrer Alterität zu orientieren. Luhmanns Theorie erweckt mit ihrer außerordentlich hohen Komplexität den Eindruck, als hätte sie alle Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung (und der Selbstbeobachtung durch Fremdbeobachtung ebenso wie der Fremdbeobachtung durch Selbstbeobachtung) durchreflektiert, durch die Unterscheidung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung (und, was die Theorie selbst betrifft, dritter Ordnung) in die Theorie integriert und dadurch die Alterität ab- oder aufgearbeitet. Aber die Interaktions-, Kommunikations- und Orientierungspraxis unterscheidet nicht nach Ordnungen und Ebenen, sie hält sich an ein Mehr oder Weniger der Distanzierung von Anderen und der Zuwendung zu ihnen, an Grade und Modi, in denen man sich der Alterität aussetzt und die nicht scharf voneinander unterschieden sind. Am stärksten setzt man sich der Alterität in der Situation des face-à-face, des Von-Angesicht-zu-Angesicht, aus. Ihr hat Luhmann keine Aufmerksamkeit geschenkt, hier endet seine soziologische Systemtheorie in der Tat. Im Mittelpunkt steht sie dagegen für Levinas. 3. Andere in der eigenen Welt: Orientierung am Gesicht des Andern

Die Situation des face-à-face ist eine ganz alltägliche, aber die dichteste und spannungsvollste Situation der zwischenmenschlichen Orientierung. In ihr wird abgeschätzt, ob man ›einander versteht‹, und entschieden, ob und wie man weiter miteinander kooperieren will. Sie ist darum hochriskant für die Orientierung beider Seiten, und das macht sie sehr komplex: Man sieht einander wohl in die Augen, aber ohne einander zu fixieren; um die AggresOrientierung an Alterität | 133

sivität des Fixierens zu vermeiden, wendet man, nach e­ inem offenbar uralt eingefleischten Ritual, zu dem man nicht erst erzogen werden muss, den Blick rasch wieder ab und erst nach gehöriger Zeit der oder dem Anderen wieder zu.21 Man ›behält‹ die Augen des Gegenübers nur ›im Auge‹, genauer in der Peripherie des Gesichtsfelds, sieht stattdessen nur vage auf das Gesicht und ›die Erscheinung‹ des Gegenübers im Ganzen und auch dies immer nur auf Momente. Selbst Liebende, die sehr lange Blicke in die Augen des Andern wagen können, müssen sie nach kurzer Zeit wieder voneinander abwenden. Jemandem ›tiefer in die Augen‹ zu sehen, verrät bereits besondere Absichten, freundliche, einladende, gewinnende, aber auch feindliche, prüfende, abweisende. ›Von Blicken durchbohrt‹ zu werden, ist unerträglich; Kinder erproben gerne, wie lange sie das aushalten. Mit vorsichtigen Orientierungsblicken im face-à-face tastet man ab, was man doch nicht sehen kann, welche Absichten Andere mit einem haben, versucht das Unbekannte des Gegenübers auszuloten. Menschen und vielleicht, was für uns schwer zu beurteilen ist, auch Tiere müssen in langen Evolutionen gelernt haben, ›in Gesichtern zu lesen‹, in einem ›Augenblick‹ dem Gegenüber ›an den Augen abzulesen‹, was es ›mit ihm auf sich hat‹. Man kann sich, jedenfalls im Rahmen einer bestimmten Kultur, an Gesichtern orientieren, auch hier immer mit Vorsicht und Vorbehalt. Orientierungsblicke auf oder in die Augen eines Gegenübers sind in der Tat, wie Burkhard Liebsch bemerkt (Kap.  II, 11), kein Unterscheiden und Bezeichnen im Sinn Spencer Browns und Luhmanns, jedenfalls kein Bezeichnen. Denn tatsächlich sieht man in den Augen anderer nichts, es sei denn mit Hilfe der Apparate von Augenärzt*innen; aber das ist nicht das, was man sehen will, wenn man sich am Gesicht anderer über sie orientiert. Man sieht stattdessen, ohne es wirklich zu beobachten, die Öffnung und die Blickrichtung der Augen, die Neigung des Kopfes dabei, die Hebung der Augenbrauen, die Öffnung, Weitung, Zuspitzung, Rundung des Mundes, die Bewegung des Faltenwerks im Gesicht usw., die ganze bei Menschen hochdifferenzierte Mimik, die, wie die psychologische Forschung sagt, in micromoments erfasst wird, ohne dass ihr komplexes Zusammenwirken durchschaut würde. In der Orientierungssituation des face-à-face unterscheidet man aufs 134 | Kapitel III 

feinste, wofür man nur die dürftigsten Begriffe hat; alles wird zum Anhaltspunkt und Zeichen der wechselseitigen Orientierung. Mit Orientierungsblicken ›sieht man andere an‹, wie Burkhard Liebsch es nennt, ohne sie zu identifizieren. Wohl hat inzwischen die Informationstechnologie Geräte bereitgestellt, Gesichter präzise wiederzuerkennen und in ihnen auch eine Anzahl von Emotionen (Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit, Überraschung) zu identifizieren, doch nur, soweit der Ausdruck dieser Emotionen stereotyp ist. Darüberhinaus besagt er wenig über die Persönlichkeit und schon gar nichts über die Anderheit des oder der Andern: Die digitale Gesichtserkennungstechnologie dient vor allem Überwachungsbehörden, die an Alterität keinerlei Interesse haben. Dagegen sind Orientierungsblicke, könnte man sagen, Blicke auf die Alterität der oder des Anderen. Nach Simmel, um ihn ebenfalls zu zitieren (Kap.  II, 9), ist es »erstaunlich, wieviel wir von einem Menschen bei dem ersten Blick auf ihn wissen. Nichts mit Begriffen Ausdrückbares, in einzelne Beschaffenheiten Zerlegbares; wir können vielleicht durchaus nicht sagen, ob er uns klug oder dumm, gutmütig oder bösartig, temperamentvoll oder schläfrig vorkommt.« Deutlich würden beim ersten Anblick eines Anderen und einem Blick in seine Augen nicht »allgemeine Eigenschaften, die er mit unzähligen andern teilt«, sondern seine »Individualität« in der unmittelbaren Situation. Weil sie überreich an Information und doch ohne begriffliche Artikulation ist, spricht Simmel von »Offenbarung« des anderen Menschen. Das Gesicht sei »das Symbol all dessen, was das Individuum als die Voraussetzung seines Lebens mitgebracht hat, in ihm ist abgelagert, was von seiner Vergangenheit in den Grund seines Lebens hinabgestiegen und zu beharrenden Zügen in ihm geworden ist«.22 Und doch kann das Gegenüber sich noch als ganz anders herausstellen, als man vermutet hat, und dies nicht nur nach dem ersten Augenblick, sondern auch noch nach Jahrzehnten des Zusammenlebens. Man wird sich der oder des Anderen nie völlig sicher. Ihre Alterität behauptet sich auch gegenüber allen Orientierungsblicken, die nach ihr suchen. Sieht man dem Gegenüber ins Gesicht und gar in die Augen, bietet man zugleich sein eigenes Gesicht dar, setzt sich auch ihm in seiner eigenen Alterität aus, die man vielleicht verbergen möchte. Levinas, der die Situation des face-à-face zu einem zentralen phäOrientierung an Alterität | 135

nomenologischen Anhaltspunkt seiner Philosophie der Alterität (altérité) machte, hat aus ihr denkbar starke philosophische Folgerungen gezogen. Danach beraubt das face-à-face die beiden Gegenüber auf einen Moment aller Möglichkeit, die Situation zu bewältigen, zu meistern, zu beherrschen. Indem es die radikale, durch Unterscheidungen und Bezeichnungen unerreichbare Alterität (altérité radicale) des oder der Anderen bloßlegt, wirkt es anarchisch (an-archique), 23 es kehrt, wie auch Levinas sagt, die »Orientierung« um von der unvermeidlichen Orientierung des Seins von sich selbst aus zur Orientierung am Andern (orientation inévitable de l’être »à partir de soi« vers »Autrui«). Dies sei, so Levinas, der Hauptpunkt seines Werkes.24 Weil der Andere (l’Autrui) dabei aber jenseits des eigenen Orientierungshorizonts in seiner Exteriorität (extériorité) unerreichbar bleibt, werde seine Alterität zum Gegenstand des Begehrens (désir).25 Weil die Alterität sich für ihn jeder »Theorie« im Sinn der klassischen »Ontologie« entzieht, 26 deutet Levinas sie ebenfalls von Anfang an ethisch, doch nun auf eine bisher unerhörte Weise: als eine Inanspruchnahme durch den Anderen, die alles Denken, alle Überlegung, alle Theorie, aber auch die eigene Orientierung unterläuft. Er tut das in einer extremen historischen Situation, der Erfahrung der willkürlichen Ermordung der europäischen ­Juden unter der Naziherrschaft, die von einer so aufgeklärten und scheinbar mit bestdurchdachten theoretischen und praktischen Philosophien ausgestatteten Kultur wie die deutsche und europäische nicht verhindert wurde. Sie hatte sichtlich keinen oder zu wenig Sinn für Alterität und Exteriorität. So blieben Alterität und Exteriorität für Levinas der letzte Anhaltspunkt zur Rettung des Ethischen vor der Verzweiflung am Humanismus überhaupt. Seine Konsequenzen aus der radikalen Alterität sind darum ebenfalls radikale: Levinas erkennt in der unmittelbaren Begegnung mit Anderen in ihrer Andersheit eine Inbesitznahme durch diese bis hin zur Besessenheit (obsession) und Geiselschaft (otage), die zu einer unbegrenzten Verantwortung für sie (responsabilité) nötigt, wer es auch sei. Hinter der Philosophie taucht wieder die Religion auf: Die Anderheit des Andern werde so anders erfahren wie die Anderheit Gottes, des schlechthin Unsichtbaren und Unbegreiflichen, und so werde, schließt Levinas zurück, im Anderen auch 136 | Kapitel III 

Gott erfahren. Und es sei die unbegrenzte Verantwortung für Andere, in der man selbst erst wahrhaft Subjekt werde, nämlich Subjekt dieser Verantwortung; man verdanke also nicht wie für Sartre erst sein Objekt-Sein, sondern auch schon sein Subjekt-Sein den unfassbaren Anderen. Nach Burkhard Liebsch wird durch die radikale Alterität, wie Levinas sie ansetzt, Dialogen der Boden entzogen, sofern Dialoge, wie für Buber, irgendeine Art von Gemeinschaft und Gegenseitigkeit voraussetzten, und damit auch einer dialogisch abgestimmten gewaltfreien Sozialphilosophie (Kap.  II, 9). Und sicherlich ist fraglich, ob die Erfahrung der radikalen Alterität beim Blick in das Gesicht des Gegenüber, wie Levinas sie sich denkt, die Gewaltbereitschaft faktisch innehalten lässt, ob die bloße Unfähigkeit zum Widerstand von Anderen, die meiner Gewalt, sei es begrifflicher oder physischer, ausgesetzt sind, in mir den ethischen Impuls auslöst, sie nicht zu demütigen, nicht zu verletzen, nicht zu töten.27 Das face-à-face mag in gesitteten Dialogen die Übergriffigkeit des Begreifens eindämmen. Zu viele Beispiele brutaler Gewaltausübung, zumal unter der Naziherrschaft, sprechen jedoch gegen die letzte Hoffnung auf die gewaltfreie Wirkung der radikalen Alterität gegen die Gewalt. Philosophisch macht die Radikalität von Levinas’ Ansatz ihn wohl verlockend, und so hat eine lange Diskussion an ihn angeschlossen und weiter vieles Bedeutsame über Alterität zutage gebracht. Das hohe Pathos aber, das Levinas schon in seiner Sprache einsetzt und das seinen Ansatz von Anfang an über die alltägliche Erfahrung hinaushebt, 28 macht ihn auch fragwürdig. Das muss meines Erachtens nicht bedeuten, dass man zu Begriffen einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Gemeinschaft zurückkehren muss: Man liefe so Gefahr, mit der radikalen Alterität, wie Levinas sie versteht, auch die Alterität zu suspendieren, wie sie in der Orientierung überhaupt und insbesondere in der Orientierung an anderer Orientierung in aller Nüchternheit ständig erfahren und beachtet wird. Eben in der nüchternen Orientierung an unvermeidlich anderen Orientierungen könnte, wie Burkhard Liebsch es nennt, ein »diskretes, nicht-privativ gedachtes Nicht-Wissen« vom Andern sichtbar werden, das einen Dialog auch ohne das Prinzip der Gegenseitigkeit möglich macht, eine »Diskretion« als »Vermittlung ohne Aufhebung« (Kap.  II, 9). Ich versuche, einschlägige ErOrientierung an Alterität | 137

gebnisse der Philosophie der Orientierung zusammenfassend, jenes diskrete Wissen in drei kurzen letzten Punkten zu umreißen.29 4. Orientierung als Sich-Ausrichten auf Alterität: Alltägliche Orientierungstugenden

In der Orientierung an anderen Orientierungen kann man sich für andere interessieren, mit ihnen vergleichen, an ihnen messen, vor ihnen auszeichnen, sie überbieten, verletzen, demütigen wollen usw. und dies unterschiedlich in unterschiedlichen Situationen und gegenüber unterschiedlichen Personen, und da kann vieles zusammenspielen. Man hat es auch hier oft mit einer hochdifferenzierten Gemengelage und also schwer überschaubaren Situationen zu tun. Wird ein Verhalten als vorbildlich wahrgenommen und wiederholt es sich regelmäßig, sieht man darin eine ›Tugend‹. Das altertümlich anmutende Wort hat sich bis heute gehalten; anders als englisch virtue, französisch vertue und italienisch virtù verweist es nicht auf ›Männlichkeit‹ (lateinisch virtus), sondern auf bewährte ›Tauglichkeit‹ auch und gerade von Frauen. Levinas sucht, wie Burkhard Liebsch schon erwähnt hat (Kap.  II, 9), die Tugenden zur Wahrung der Alterität besonders bei Frauen und findet sie in der gastlichen Aufnahme Anderer im Eigenen. Man kann eine solche Tugend auch schon in der Toleranz sehen, die sich freilich in bloßer Duldung erschöpfen kann, sicher aber in einer unbefangenen Aufgeschlossenheit für andere Lebens- und Denkweisen und den Fähigkeiten zum Zuhören-Können in Gesprächen und zu unaufdringlicher Empathie für die Lebensabenteuer anderer. ­Eigens auf Alterität eingestellt sind Wohlwollen und Freundlichkeit. Mit Takt und Höflichkeit sucht man bewusst Andere nicht in ihrer Alterität zu verletzen. Mit Güte, die wiederum Levinas besonders hervorhebt, ist man bereit, das eigene Dasein in den Dienst Anderer zu stellen, wenn sie das brauchen. Mit alldem richtet sich menschliche Orientierung auf Alterität aus. Dazu ist, wie Levinas es anmahnt, ein Perspektivenwechsel nötig. Nach Burkhard Liebsch wird dabei erwartet, »man könne allemal auch auf die Seite des Anderen wechseln (wenigstens virtuell oder imaginär)«, und er wendet dagegen ein: »Mit den Augen des 138 | Kapitel III 

Anderen kann ich streng genommen gar nichts sehen, auch nicht an seiner Stelle.« (Kap.  II, 12) Das trifft gerade nach der Philosophie der Orientierung fraglos zu: Man bleibt auch bei Perspektivenübernahmen stets an den Standpunkt seiner Orientierung gebunden, auch wenn er sich selbst laufend verschiebt und man von ihm aus seine Horizonte begrenzen und erweitern kann. Man kann die Perspektiven anderer immer nur in der eigenen Perspektive sehen. Das reicht aber aus, um in seiner Orientierung auf andere Perspektiven und mit ihnen auf die Alterität anderer aufmerksam zu werden. Eben weil man sie nicht originär, nur imaginär einnehmen kann und darauf auch von Anderen gestoßen wird, die sich in ihrer Perspektive nicht vertreten lassen wollen (›Ich brauche deinen Rat und deine Hilfe nicht‹), ist man im oben genannten Sinn doch durch sie irritiert, und diese Irritation bewirkt oder kann doch bewirken, dass man sich von der eigenen Situation, seinem eigenen Standpunkt und seinen eigenen Perspektiven versuchsweise distanziert; Denken und Imagination haben auch darin ihre Funktion. Eben weil man mit Irritationen dieser Art, denen enttäuschende Zurückweisungen folgen können, oft schwer zurechtkommt, geht man ins Ethische und spricht von Tugenden. Im Blick auf die Alterität aber haben sich Tugenden eingespielt, die eher unauffällig geblieben sind, weil sie als weitgehend selbstverständlich gelten. Darum werden sie auch in philosophischen Ethiken weniger, wenn überhaupt beachtet und nicht mit hohen Werten verknüpft: die alltäglichen Orientierungstugenden. In der deutschen Sprache lauten ihre Namen meist auf ›-sicht‹: Da ist zuerst die Fähigkeit, anhand von relevanten Anhaltspunkten, zu denen auch die gehören, die von anderen ins Spiel gebracht werden, Übersicht über die Situation zu gewinnen. Mit Umsicht ist man imstande, seine Horizonte zu erweitern und über die unmittelbar gegebene Situation ›hinauszublicken‹. Sie schließt die Bereitschaft ein, alternative Hinsichten auf die Gegebenheiten einer Situation und andere Absichten wahrzunehmen, mit ihr umzugehen: die Rücksicht auf andere Gesichtspunkte, Betroffenheiten, Bedürfnisse und Interessen. Mit der schon genannten Vorsicht achtet man auf Widerstände und Einwände und vermeidet, sich zu früh einseitig auf bestimmte Anhaltspunkte festzulegen. Mit Weitsicht hält man seine Orientierung auch für künftig möglicherweise relevant Orientierung an Alterität | 139

werdende Gesichts- und Anhaltspunkte offen und für andere Perspektiven, die sich geltend machen, wenn man die eigenen durchzusetzen versucht. Mit Umsicht, Rücksicht, Vorsicht und Weitsicht kann man die Fähigkeit zur Voraussicht entwickeln. Um anderen Gesichtspunkten gerecht zu werden, kann Einsicht in das Fehlgreifen eigener Beobachtungen, Einschätzungen und Begrifflichkeiten notwendig werden, aber auch Nachsicht mit dem Fehlgreifen anderer. Dadurch wächst die Klarsicht und schließlich die Zuversicht, im Austausch mit anderen in seiner Orientierung weiterzukommen. Solche Tugenden sind weder ›egoistisch‹ noch ›altruistisch‹, weil es stets um das ›Miteinander-Zurechtkommen‹ unvermeidlich unterschiedlicher Orientierungen geht, an dem beide Seiten Interesse haben. Auch diese Unterscheidung wird unterlaufen; die Orientierungstugenden fallen nicht unter das gewohnte moralische Wertungsschema. Stattdessen ermöglichen sie, mit Alterität nicht wie mit einer ständigen Beschwernis zu leben, sondern sie auszuleben als etwas, wovon auch die eigene Orientierung lebt, wodurch sie laufend angeregt und bereichert wird. Dass hier so viel von ›Sicht‹ die Rede ist, dürfte darauf verweisen, dass man sich zunächst und zumeist überhaupt auf Sicht orientiert, das heißt stets ›im Auge behält‹, dass und wie die Situation sich verändert, in der und über die man sich orientiert. Mit der Orientierung auf Sicht ist man fähig, ›sich auf immer neue Situationen einzustellen‹ und gegebenenfalls neue Orientierungsentscheidungen zu treffen, zumal in der oft schwer voraussehbaren und noch schwerer steuerbaren Interaktion und Kommunikation mit anders denkenden und lebenden Anderen. Das geschieht, wenn es geschieht, in der Tat weitgehend ›diskret‹, das heißt ohne dass e­ igens davon gesprochen würde. Es zeugt dennoch von einem ›Wissen‹ über die Situation. Wenn man bereit ist, andere Hinsichten ›ins Auge zu fassen‹, ›schwenkt‹ man, und wenn man die Ansichten anderer übernimmt, ›lenkt‹ man meist stillschweigend auf sie ›ein‹; nur wenn die Ansichten anderer sich überraschend mit den eigenen zu decken scheinen, mag man das freudig begrüßen und, wenn sie mit der eigenen Orientierung so unverträglich sind, dass sie unerträglich werden, gegen sie protestieren. Aber auch dann ›respektiert‹, d. h. wörtlich ›berücksichtigt‹ man Alterität. Da aber selbst hinter habermasschen Konsensen, die die Rücksicht auf Al140 | Kapitel III 

terität zu erübrigen scheinen, noch ›strategische Absichten‹ stecken können, kann man auch mit den besten Orientierungstugenden kaum, wie Burkhard Liebsch befürchtet, »zu gut orientiert« sein (Kap.  I, 10  f.). Die Übersicht, die man immer nur auf Zeit gewinnt und die man braucht, um überhaupt zum Handeln befähigt zu sein, kann mit jeder Änderung der Situation wieder in Unübersichtlichkeit umschlagen. Man ›weiß‹ stets, ohne dabei etwas positiv zu wissen, dass in der Interaktion und Kommunikation mit anderen auf ›gute‹ Orientierung rasch wieder Irritation und Desorientierung folgen kann. Die alltäglichen Orientierungstugenden sind ethisch auch deshalb unscheinbar geblieben, weil es für das Sich-Zurechtfinden in immer anderen Situationen und das Zurechtkommen mit ihnen keine Regeln gibt, die sich normieren, als Pflichten universalisieren, geschweige denn verrechtlichen ließen. Der Erfolg im Gelingen von Orientierungen, gerade von dialogischen, lässt sich auch nicht utilitaristisch messen; die Kriterien des ›Nutzens‹ können ganz unterschiedliche sein. Das diskrete (Nicht-)Wissen (Kap.  II, 9) der alltäglichen Orientierungstugenden hält gerade von vorschnellen Generalisierungen und Universalisierungen ab. 5. Ethische Orientierung an Alterität: Infragestellung der ­eigenen Moralität durch andere Moralitäten

Wo Selbstgerechtigkeit aufkommt, die Burkhard Liebsch bei der standpunktgebundenen und damit unvermeidlich egozentrischen Orientierung befürchtet (Kap.  II, 12), setzt die auffällig ethische Orientierung ein. Die alltäglichen Tugenden der Orientierung an Alterität spielen sich gewöhnlich unauffällig im Rahmen des Milieus oder der Kultur einer Gruppe oder Gesellschaft ein, werden durch lange Übung erworben und dann so selbstverständlich, dass sie nur noch auffallen, wenn sie verletzt werden; dann werden sie angemahnt und mitunter auch als Pflichten eingefordert (›Sie müssen da vorsichtiger sein‹, ›Denke doch einmal daran, was die Betroffenen davon halten müssen‹). Zwischen, aber auch innerhalb von Kulturen werden jedoch Konflikte unter verschiedenen Moralen oder Moralitäten möglich, mehr oder weniger deutlich artiOrientierung an Alterität | 141

kulierten Systemen der Unterscheidung von Gut und Böse. Auch sie werden meist nicht bewusst gewählt wie manchmal Religionen, sondern drücken unter den jeweiligen Lebensbedingungen relevante Wertschätzungen aus. Sie bleiben als Normen auch bestehen, wenn sie gelegentlich unterlaufen oder nicht beachtet werden. So geben sie der Orientierung der Beteiligten festeren Halt und werden umso mehr gegen andere aus anderen Milieus oder Kulturen ›hochgehalten‹ und gelegentlich erbittert verteidigt. Nietzsche und Luhmann haben gründlich beschrieben, wie gerade Moralen zu Streit führen, polemogen werden können. Dass man es mit anderen Moralen zu tun haben kann, denen Andere mit derselben Überzeugung folgen wie man selbst der eige­ nen, gehört zu den stärksten Erfahrungen der Alterität, und hier wird es am schwierigsten, sie zu respektieren. Aber es geht, auch in der alltäglichen Orientierung, die sich damit neue Horizonte erschließen kann. Um hier zu unterscheiden, kann man der »moralischen Orientierung«, der selbstverständlichen Orientierung an einer bestimmten Moral, die »ethische Orientierung« gegenüberstellen, in der diese selbstverständliche Moral in Frage gestellt wird; Luhmann hat von »ethischer Reflexion der Moral« gesprochen.30 Die ethische Orientierung in diesem Sinn ist eine Moral im Umgang mit anderen Moralen. Hier kann man nicht mehr wie in der moralischen Orientierung innerhalb von eingespielten Lebensgemeinschaften Gegenseitigkeit erwarten, sondern muss mit Misstrauen, Aggressivität, vielleicht Gewaltbereitschaft rechnen – und Selbstzweifeln: Denn eine solche ethische Orientierung verlangt ja zuallererst, die eigene Moral zugunsten anderer zu suspendieren. Das ist, wie die Berücksichtigung anderer Perspektiven überhaupt, nur begrenzt möglich und wird in Ethiken darum als ›supererogatorisch‹ geführt, als etwas, das man nicht verlangen und darum auch nicht normativ regeln kann. Der Verzicht auf Gegenseitigkeit könnte dennoch erst der Alterität entsprechen: gerade nicht von Anderen zu verlangen, was man selbst zu tun bereit ist. Er überschreitet die ›Goldene Regel‹ und darf sich nicht dadurch beirren lassen, dass er einseitig bleibt. Er kann in Paradoxien führen wie die der Toleranz auch für Intoleranz, des Kampfs um Frieden, der selbst kriegerisch werden kann, der Gerechtigkeit, die für die Gleichheit Anderer kämpft, ohne dass sie sie gleichsetzen darf, der 142 | Kapitel III 

Menschenwürde, die ein allgemeines Rechtsgebot sein soll, während doch im Sinn der Alterität jede und jeder selbst zu bestimmen hätte, worin die eigene Würde liegt, der Verantwortung für Andere, die nach Levinas generell unbegrenzt ist und doch in jedem konkreten Fall begrenzt werden muss, weil einem auch für Dritte Verantwortung zufallen kann, und schließlich Derridas Gabe, die, weil sie keine Gegengabe erwarten darf, sich noch nicht einmal ihrer selbst bewusst sein darf, um nicht im Stolz auf sich doch eine Gegengabe zu finden. Nietzsche hat die Moral immer wieder in solche Paradoxien getrieben bis hin zu ihrer »Selbstaufhebung« im Wissen ihrer »unmoralischen« Ursprünge; Luhmann war für solche Paradoxien durchaus offen, auch ohne auf eine Sozialphilosophie auf dem Boden »›fremder‹ und ›befremdender‹ Alterität« hinauszuwollen, wie Burkhard Liebsch sie einfordert (Kap.  II, 11). In jedem Fall wird in der Moral im Umgang mit anderen Moralen das Ethische, die Einschätzung des Guten im Zusammenleben der Menschen, nicht vermindert, sondern gesteigert – um die Dimension der Alterität auch von Moralen. Von ›Erfolg‹, nach dem Burkhard Liebsch fragt, ist in einer solchen ethischen Orientierung noch schwerer zu sprechen. In der Orientierung überhaupt liegt er einfach darin, dass man sich weiter orientieren, sich in neuen Situationen zurechtfinden und mit ihnen zurechtkommen kann – das heißt: nicht in Desorientierung verfällt. Denn wenn stets gesagt wird, man suche ›Halt‹ in der Orientierung, dann steht da ja im Hintergrund, dass man immer ›fallen‹ oder die bisherige Orientierung mit der Zeit ›verfallen‹ kann. Nach diesem Sprachgebrauch, der unablässig bemüht wird und den man darum nicht unterschätzen darf, ist es bereits ein beträchtlicher Erfolg, sich in seiner Orientierung ›halten‹, also weiter ›gut orientieren zu können‹; denn man kann darin immer auch versagen. In der Interaktion und Kommunikation wird jede Seite ihren Erfolg zunächst darin sehen, ob sie ihre Absichten und Zwecke erreicht. Folgen Gespräche aber, wie in der Regel in der Wissenschaft und der Philosophie, dem Zweck der Erörterung und Vertiefung eines gemeinsam interessierenden Themas, treten einseitige Zwecke zurück oder werden zurückgewiesen. Es wird dann, wenn nicht um spezifische Lösungen spezifischer Probleme, wiederum um die Möglichkeit der bloßen Fortsetzung des Gesprächs überhaupt geOrientierung an Alterität | 143

hen, das man dann einen ›Dialog‹ im ausgezeichneten Sinn nennt. Hier sieht dann vieles nach Gegenseitigkeit aus. Aber auch sie kann rasch brüchig werden, und es braucht alle Orientierungstugenden, um sie über divergierende Interessen hinweg aufrecht zu erhalten. 6. Politischer Umgang mit Alterität: Abstimmung statt Übereinstimmung mit Anderen

Politik muss stets mit anders Denkenden und anderes Wollenden rechnen, und sie kann sie nur schwer vorab auf gemeinsame Werte, Normen und Zwecke festlegen, muss stattdessen auch sie, wenn nötig, erst aushandeln. So hat Politik es in eminentem Maß mit Alterität zu tun, und auch sie hat gelernt, sich an Alterität zu orientieren. Das ist daran zu erkennen, dass Ausnahmen, z. B. autoritäre Politikstile, jedenfalls in ›westlichen‹ Gesellschaften unangenehm auffallen. Erfahrene demokratische Politiker*innen werden kaum erwarten, dass, so Burkhard Liebsch, »wir auf dem Weg in eine Zukunft sind, in der mit unaufhebbarer Fremdheit und mit nicht ›restlos‹ zu erfassender Alterität, die in ›Unterschieden‹ und auf sie sich gründenden Orientierungen nicht aufgeht, buchstäblich niemand mehr etwas ›anfangen‹ kann« (Kap.  II, 12). Sie müssen, im kommunalen bis hin zum globalen Horizont, mit anders Denkenden und anderes Wollenden ›etwas anfangen‹ können, um Probleme, die sich einer Gesellschaft oder der Weltgesellschaft im Ganzen stellen, und sei sie auch noch so heterogen, zusammen mit den unterschiedlichsten Partner*innen durch kollektiv verbindliche Entscheidungen Lösungen zuzuführen, mit denen nie alle einverstanden sein werden. Das scheint, zumal in schweren Krisen, am ehesten zu gelingen, wenn man von dem Alterität ausschließenden Wissens-Modus in den Alterität berücksichtigenden Orientierungs-Modus geht. 31 Die menschliche Orientierung, die alltägliche wie die ethische und die politische, von der ökonomischen, künstlerischen und pädagogischen ganz zu schweigen, braucht in unaufhebbarer Alterität kein Gegengewicht der Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit zur Bestimmtheit und Gewissheit und damit zur Selbstgerechtigkeit (Kap.  I, Einleitung; Kap.  II, 12), da gebe ich Burkhard Liebsch völlig recht. Sie hat es. Und sie ist so damit 144 | Kapitel III 

beschäftigt, sich unter Ungewissheit in immer neuen Situationen zurechtzufinden und mit ihnen zurechtzukommen, dass trotz Hermann Brochs düsterer Aussichten das Leben lebenswert bleibt, wohl auch für künftige Generationen.

Orientierung an Alterität | 145

K APITEL IV Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen Unterscheidbare Alterität des Anderen als Surrogat?  – Burkhard Liebsch –

Responsabilité d’Autrui – voilà le sens. Le sens = l’être est orienté. Emmanuel Levinas1 Die Herrschaft des Anderen […] ist in dem Sinne diffus, dass niemand der Andere ist und dass jeder es ist. So findet eine Zirkulation der ALTERITÄT statt. Sie ist immer woanders. Jean-Paul Sartre 2

1. Vom metastabilen kósmos zur Radikalität des Unterscheidens

»Durch den Umfang und die Tiefe der Verwandlung alles menschlichen Lebens hat unser Zeitalter die einschneidendste Bedeutung.« Mit diesem Satz leitete Karl Jaspers 1955, also zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sein geschichtsphilosophisches Hauptwerk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte ein, ohne allerdings seinen Lesern gleich anschließend zu verraten, worin die beobachtete umfassende und tiefe Veränderung »alles menschlichen Lebens« lag, woher sie seines Erachtens rührte, wie sie sich zeigte und wohin sie in absehbarer Zeit führen würde.3 Möglicherweise liegt das gerade daran, dass Jaspers die fragliche Veränderung für derart evident hielt, dass er an ein gleichsinniges Verständnis des gegenwärtigen Zeitalters aufseiten seiner Leser meinte einfach anknüpfen zu können und es deshalb gar nicht eigens erläutern zu müssen. Dabei schreibt sich Jaspers in ein modernes Bewusstsein irreversibler Zeitlichkeit ein, die man bereits im 18. Jahrhundert als zunehmend temporalisierte und durch menschliches Tun immer weiter beschleunigte charakterisiert hat. Daran schließen sich bis heute teils hysterisch anmutende, jedenfalls empirisch kaum zureichend fundierte Zeitdiagnosen an, denen zu entnehmen ist, eine generalisierte, allgemein um sich greifende Beschleunigung habe mehr oder weniger alle Lebensbereiche rückhaltlos erfasst, so dass quasi alles und jede(r) ständig ›anders‹ und ›verändert‹ werde; und das auch noch ständig zunehmend. Wie auch immer man solche Diagnosen kritisch beurteilen wird, eines scheint jedenfalls sicher zu sein, nämlich dass »die Veränderung der ›Welt‹ oder der ›Wirklichkeit‹ […], wie man in der Moderne gelernt hat, keinen, ›nothwendigen‹ und ›berechenbaren‹ Verlauf« hat, wie Werner Stegmaier mit Bezug auf Friedrich Nietzsche schreibt (Kap.  III, 1).4 Wenn darüber hinaus nicht länger absehbar ist, was sich unter dem Druck neuzeitlicher, mehr oder weniger alle(s) und jede(n) erfassender Temporalisierung wie, wodurch, wie schnell und durchgreifend ändert, wird es zwingend erforderlich, sich in Anbetracht dieses Befundes selbst zu orientieren – wobei zunehmend zweifelNach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 149

haft erscheint, ob und inwiefern Welt und Wirklichkeit ihrerseits überhaupt als ›orientierend‹ gelten können. In Frage steht nicht zuletzt, inwieweit man sich nicht nur in der Welt und im Wirklichen, sondern an der Welt und am Wirklichen überhaupt orientieren kann – sei es nur, um bis auf weiteres zurechtzukommen, damit es irgendwie weitergeht (wobei gar nicht gewiss erscheint, dass ›es‹ überhaupt noch weitergeht, was auch immer), sei es, um zu verhindern, dass es so weitergeht wie bisher (was Walter Benjamin als katastrophal erschien5), sei es, um diese Lage zugunsten eigenen Machtzuwachses auszunutzen – wobei dieses »um … zu« bereits einen orientierenden Ausweg aus drohender Desorientierung zu weisen scheint. So können weitgehender Schwund an nicht-kontingent ›Gegebenem‹ und in diesem Sinne an Sein einerseits und Ermächtigung zu eigener Fortsetzung des Kontingenten andererseits Hand in Hand gehen. So ernüchternd es erscheinen mag, dass quasi alles und jede(r) auch anders sein bzw. werden könnte und dass nichts und niemand auf absehbare Weise als ›notwendig‹ (oder auch als unabdingbar, als unersetzbar usw.) gilt, so sehr eröffnet dies doch unerhörte Spielräume menschlicher Freiheit, die sich in einer solchen Lage allerdings auch rasch überfordert sehen könnte, wenn ihr das Kontingente als gänzlich Arbiträres erscheint, das der Beliebigkeit zu verfallen neigt. 6 Übergeneralisierte Zeitdiagnosen wie diese können sehr leicht zu Rufen nach autoritärer Macht verleiten, die mit einer derart ›unübersichtlichen‹ Lage, in der man sich auf nichts und niemanden mehr scheint verlassen zu können, Schluss zu machen verspricht.7 Und sie verleiten zu konservativen Rückprojektionen einer angeblich ›substanziellen‹ Beständigkeit der Welt und der Bilder, die sich die Menschen von ihr gemacht haben, in Epochen vor dem Anbruch der Neuzeit. 8 In solchen Projektionen wird die innere Stabilität der Antike, des Mittelalters und der Renaissance möglicherweise allerdings erheblich überschätzt. Was Stephen Toulmin und June Goodfield die Discovery of Time genannt haben und von Stephen J. Gould als Time’s Arrow beschrieben wurde, hat in der Neuzeit zweifellos nicht nur den biblischen Rahmen der Schöpfungsgeschichte gesprengt, die man noch im 18. Jahrhundert auf wenige Jahrtausende beschränkt glaubte, in denen sich die Genesis der Welt vollzogen haben soll. Die Neuzeit hat nicht nur gezeigt, dass 150 | Kapitel IV 

alles viel älter und irreversibel aus anderem hervorgegangen ist; sie hat auch deutlich gemacht, dass in diesem Sinne alles und jede(r) kontingent bleiben wird, so dass auch die menschliche Gattung auf dem Weg in eine unabsehbare Zeit sein muss, die sie anscheinend auch noch selbst beschleunigt. Infolgedessen könnte für künftige Generationen erst recht gelten, was der englische Theologe und Kosmologe Thomas Burnet bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts in seiner Sacred Theory realisierte: »Es scheint uns, als bewohnten wir nicht dieselbe Welt wie unsere ersten Vorväter, ja als gehörten wir kaum demselben Menschengeschlecht an.«9 Inzwischen glauben offenbar viele, dass sich derart einschneidende Veränderungen bereits innerhalb einer einzigen Generation vollziehen.10 Vilém Flusser ging so weit, zu behaupten, die historische Erbschaft irgendwelcher Vorfahren könne uns rein gar nichts mehr bedeuten. »Die ganze philosophische, politische und soziale Historizität ist Anachronismus.«11 Wie es scheint, taugt sie jedenfalls nicht mehr dazu, uns in der Zeit zu orientieren – was auch der Futurismus schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts gelehrt hatte, indem er jegliche verbindliche Geschichtlichkeit förmlich verwarf, die Jaspers mit seinem Buchtitel ungeachtet der seinerzeit jüngsten Einschnitte in die Geschichte wie die beiden Weltkriege, die Totalitarismen, das Desaster des Dritten Reiches und die Atombombe zu rehabilitieren versuchte.12 Für Jaspers konnte »das Letzte« als das Ziel, auf das sich die Menschheit zubewegt, nur ein »alles überschattender Maßstab« sein13 – ungeachtet (oder vielmehr gerade wegen) der gegenwärtig festzustellenden »radikalen Verwandlung des Menschseins«, in der ›es‹ angeblich »ständig anders werden« muss.14 Die entsprechende Erfahrung einer alles und jeden rückhaltlos erfassenden Kontingenz und Alterität prägt seit langem das Selbstverständnis der Moderne, die man in dieser Hinsicht immer wieder dem antiken Kosmos und dem scholastischen Weltbild des Mittelalters gegenübergestellt hat, das anscheinend nicht die Welt selbst als kontingent begriffen hat und insofern verlässliche Orientierung in ihr und an ihr ermöglichte.15 Mehr oder weniger brutale Kontingenz kannten indessen auch die Menschen der Urzeit schon – und sicher auch noch die Menschen des Mittelalters und der Renaissance, mochten sie sie auch ›rationalisiert‹ haben als Eingriff wenig wohlwollender Götter, Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 151

der Fortuna oder eines schicksalhaften Verhängnisses.16 So ›substanziell‹ beständig der kósmos der alten Griechen und noch der prä-apokalyptische orbis der Christen nachträglich erscheinen mag, nichts bewahrte Letztere doch vor Unbilden des Wetters, vor Missernten, Epidemien, sozialen Desastern und äußerster Gewalt, die sie sich als Gläubige womöglich selbst zurechnen mussten, auf die Gefahr hin, sich für ihre Schuld ›höllische‹ Strafen zuzuziehen. Nichts entlastete sie von der existenziellen Notwendigkeit, sich an und in einer metastabilen Weltordnung richtig zu orientieren, an der sie überhaupt nichts glaubten ändern zu können. Wie es scheint, zwang gerade diese Weltordnung sie zu radikalsten Differenzierungs- und Identifikationsversuchen, vor allem im Verhältnis zu Ungläubigen und Ketzern, die sie von der Vorbereitung auf ihr wahres Leben hätten abbringen können, auf das sie nur im Anderen der Zeit hoffen konnten. Dagegen gilt wenigstens das Leben vor dem Tod heute, in den Gesellschaften des Westens, als weitgehend versicherbar, wie auch immer es um dessen postmortale Aussichten bestellt sein mag. Sowohl im Vergleich zu versichertem als auch im Vergleich zu teilweise wieder ›entsichertem‹, prekärem Leben heute erscheint ›vormodernes‹ Leben als rückhaltlos widrigen Umweltbedingungen, Krankheiten und Gewalttaten ausgesetztes und außerordentlich gefährdetes. So gesehen ist es verständlich, wenn es sich verzweifelt an vermeintlich absolut verlässlich orientierenden Weltdeutungen auszurichten versuchte. Dagegen ist es in der Moderne zugleich mit einer historisch beispiellosen Absicherung normalisierter Lebensverhältnisse zu einer weitgehenden Erosion ihrer verlässlichen Deutbarkeit im Rahmen sogenannter Weltbilder und Weltanschauungen gekommen, was Orientierungsprobleme nach sich gezogen hat, die zuvor unbekannt gewesen zu sein scheinen; bis hin zu der Frage, ob und wie man überhaupt in einer paradoxerweise gemeinsam geteilten Welt lebt bzw. leben kann und will – und was man sich unter einem entsprechenden Weltbegriff vorstellen soll. Eingehender Auseinandersetzung mit dieser in der politischen Theorie der Gegenwart u. a. bei Hannah Arendt, Jean-Luc Nancy, Luce Irigaray und Jacques Rancière radikal aufgebrochenen Frage17 weichen allerdings identitäre Phantasmen aus, die darauf hinauslaufen, die eigenen weltanschaulichen Orientierungen in einem naturalisierten, ethni152 | Kapitel IV 

sierten und homogenisierten Sosein an Ort und Stelle zu verankern und sie auf diese Weise möglichst jeglichem Zweifel zu entziehen – auch um den Preis, Andere radikal auszuschließen, von denen man sich gegebenenfalls abgrenzt, um wenigstens auf diese Weise zu erfahren, wer man ist. Wer so verfahren will, muss heute wissen, dass die Orientierungen der Einen längst nicht mehr ohne weiteres auch die Orientierungen der Anderen sind (wie es im Rahmen der »geschlossenen Welt« [Alexandre Koyré] des Mittelalters noch der Fall gewesen sein mochte). Aber das bedeutet nicht, dass die religiösen, metaphysischen oder politischen Orientierungen Anderer auch unbedingt ernst genommen bzw. respektiert und als solche geachtet werden müssten. Man kann mit ihnen, wie wir wissen, auch rigoros diskriminierend verfahren. Wie, dazu hat Carl Schmitt einen prägnanten und aus seiner Sicht ganz und gar zeitgemäßen Vorschlag gemacht. Distinguo ergo sum.18 Auf diese schlichte Formel brachte er den identitären Notstand von denjenigen, die sich anders nicht zu helfen wissen, als bei Bedarf auch bei gewaltsamen Unterscheidungen von Anderen Zuflucht zu suchen, um sich in einer Welt wenigstens etwas orientieren zu können, die ihnen scheinbar gar keinen verlässlichen Anhalt in der Frage mehr bietet, was es mit ihrem Leben auf sich hat.19 Notfalls muss man demnach auch zu Mitteln der Feinderfindung greifen, um sich dessen vergewissern zu können. Denn Andere präsentieren sich eben nicht ohne weiteres von sich aus als eindeutig unterscheidbare ›Andere‹. Und zwar gerade dann nicht, wenn es am meisten darauf ankommt, im Fall der Feindschaft nämlich. Die hinterhältigste – von Schmitt als »diabolisch« eingestufte – Raffinesse des radikalen Feindes liegt speziell darin, sich ›uns‹ bis zur Ununterscheidbarkeit und insofern bis zur Gleichheit ähnlich zu machen und sich auf diese Weise jeglicher eindeutigen Identifizierbarkeit zu entziehen. Lässt er sich aber von Anderen nicht unterscheiden, muss man endlich entscheiden, wer es ist. Im Grenzfall muss die Entscheidung an die Stelle der Unterscheidung treten, riskiert ironischerweise aber, als pure Dezision, die den entscheidenden Unterschied einfach setzt, jeden ›wirklichen‹ Unterschied zwischen irgendwelchen Anderen und ›echten‹ Feinden zu verfehlen – vorausgesetzt, einen solchen Unterschied ›gibt es‹ überhaupt.20 Wer vollkommen souverän glaubt entscheiden zu können, wer der Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 153

Feind ist, mag sich auf diese Weise der »Homogenität« seiner eigenen Identität versichern 21, kann aber nicht zugleich glaubhaft machen, Letztere auf eine ›objektive‹ Identifikation des Feindes gründen zu können. Das gilt für Zeiten, in denen man einen absoluten Feind wie den Teufel überall vermuten musste, wie auch für Zeiten, in denen man mangels eines entsprechenden Weltbildes notfalls zu transitiven Mitteln der Verteufelung und der Verketzerung von Feinden glaubt greifen zu müssen. Wie u. a. die Karriere des Bösen in der politischen Rhetorik 22 und die ›fundamentalistische‹ Gewalt der Gegenwart hinlänglich beweisen, ist die Zeit der Denunziation von Ungläubigen, Ketzern, ›bösen‹ Feinden und Verrätern der eigenen Sache noch längst nicht vorbei; und sie wird vielleicht nie ganz vorbei sein. Es lohnt sich nicht nur deshalb, sich die entsprechende Vorgeschichte zu vergegenwärtigen.23 Diese zeigt auch, in welche Differenzierungs- und Orientierungsnöte Menschen stürzen, die sich offenbar von Geburt an dazu gezwungen sehen, zu unterscheiden und zu entscheiden, worauf es in ihrem Leben ankommt. Erst in der Moderne wird dieses Problem jedoch als solches erkannt und zum Thema einer Anthropologie, die sich fertiger Antworten in dieser Hinsicht weitgehend enthält. So rekurriert sie nicht länger auf eine Teleologie des Guten oder des Gerechten, die menschlichem Leben angeblich von Natur aus innewohnt und insofern von vornherein auch angibt, worauf es in ihm ankommt. Bis heute mangelt es zwar nicht an entsprechenden Reteleologisierungsversuchen, die sich v. a. auf Aristoteles und Thomas von Aquin berufen.24 Aber als Reteleologisierungsprojekte bestätigen auch sie gerade den Befund, von dem die moderne Anthropologie nach Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes und René Descartes ausgehen musste: dass die Menschen »schwach, affizierbar und zerstörbar« geboren werden25 und sich dabei rückhaltlos auf Andere angewiesen erfahren, ohne von vornherein zu wissen, ob und wie sie mit ihnen zusammenleben können. In diesem Sinne wird fortan auf dem Spiel stehen, ob sie mit ihnen überhaupt eine (›soziale‹) Welt teilen, die durch kein vorgegebenes Weltbild verlässlich verbürgt ist, und wie sie sich sowohl in ihr als auch an ihr orientieren können, ohne sich dabei auf eine naturale Teleologie zu stützen. Infolgedessen stoßen sie auf radikale Probleme der Unterscheidung als solcher, d. h. nicht nur auf die Frage, welche 154 | Kapitel IV 

konkreten Unterscheidungen u. U. für sie von ›entscheidender‹ Bedeutung sein müssen und woran sie sich dabei orientieren (wenn nicht am Guten oder Gerechten, dann ev. an Macht, Nützlichkeit oder Gewinn etc.), sondern darüber hinaus auf die Frage, was es heißt, zu unterscheiden – sich und Andere, sich von Anderen und von anderen Anderen, die ihrerseits Unterscheidungen vornehmen oder sich mit anderen Unterscheidungen konfrontiert sehen, die sie möglicherweise nicht hinnehmen können und deshalb zu radikalen Auseinandersetzungen zwingen, in denen nicht zuletzt die Unterscheidbarkeit von Anderen selbst fraglich wird. Steht ihnen diese zur Disposition? Sind allemal wir es, die sich unterscheiden oder unterschieden werden, wie es gegenwärtig gewisse Spielarten einer »Politik der Differenz« glauben machen, die entscheidende Unterscheidungen zum vorrangigen Gegenstand mit polemischer Energie geführter Auseinandersetzungen erheben, in denen vor allem darauf insistiert wird, als ›Andere(r)‹ gesehen und anerkannt zu werden? Geht es insofern in den Unterschieden, die man in Verhältnissen zu und zwischen Anderen geltend macht, um Anerkennungskämpfe gegeneinander, wie man sie von Hegel bis Axel Honneth und Paul Ricœur beschrieben hat? Unterscheidet man sich reziprok voneinander, um die eigene Identität sozial anerkannt zu finden, indem man gegeneinander vorgeht? Gibt eine entsprechende Moral der Anerkennung die allemal entscheidende Orientierung vor, indem sie die Annahme nahelegt, jede(r) komme allemal als Anerkennungsbedürftige(r) zur Welt und darin liege geradezu das Worumwillen menschlichen Lebens überhaupt? Auf diese Weise wird sowohl die Problematik der Orientierung als auch die des Unterscheidens von vornherein enggeführt und nicht im vollen Umfang entfaltet, wie es Werner Stegmaier in einschlägigen Büchern ausführlich getan hat. Auf der Basis jener Moral wird ja angenommen, man unterscheide sich voneinander und gegenseitig umwillen reziproker Anerkennung, die von vornherein die entscheidende Orientierung vorgeben soll. Sekundär kommt es dann nur noch darauf an, wie der entsprechende Kampf um Anerkennung bzw. des Anerkennens, wie sich Hegel ausgedrückt hat, auszutragen ist. Im Folgenden nehme ich eine andere Spur auf, die, weit entfernt, diesen Zusammenhang von Unterscheidung und Orientierung als Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 155

spezifisch modernen und bis heute zentralen Gegenstand sozialer und politischer Auseinandersetzungen erscheinen zu lassen, längst vorher, nämlich bereits in der metastabilen Weltordnung des Mittelalters, auf die Problematik dieses Zusammenhangs als solche aufmerksam gemacht hat. Das zeigt vorzüglich Umberto Ecos Roman Der Name der Rose, den man nicht einfach als ›postmoderne‹, insofern anachronistische Deutung dieser Zeit abtun sollte, denn dem Autor (der das selbst nahegelegt hat 26) gelingt es, sich und seine Leser imaginativ derart in das Mittelalter hineinzuversetzen, dass glaubhaft wird, wie sich quasi dekonstruktive Probleme der Unterscheidung ironischerweise genau dort entzünden, wo man am entschiedensten an vermeintlich klaren, unzweideutigen und schließlich radikalen Unterscheidungen und Orientierungen glaubte festhalten zu müssen. Ohne wie Flusser einer anachronistischen »Wiederkunft des Mittelalters« das Wort zu reden 27, warnt uns Eco auf diese Weise zugleich vor einer typisch modernen Überheblichkeit, die alles Neue sich selbst bzw. der ›Neuzeit‹ zuschreibt 28 , der man allerdings auch nicht absprechen kann, explizit zum Vorschein gebracht zu haben, was wie jene Problematik zuvor nur latent geblieben war. Wie dies geschieht, wird im Anschluss an Eco mit Blick auf die Anthropologie der Moderne von den Aufklärern bis hin zu Hans Blumenbergs aus dem Nachlass herausgegebener Beschreibung des Menschen deutlich, die mit großem Aufwand herausarbeitet, wie das Unterscheiden im Verhältnis zu Anderen zu einer Herausforderung wird, der man nicht im Zuge pseudocartesianischer bloßer Selbstvergewisserung (nach dem Motto distinguo ergo sum) beikommt, der es nur darum zu tun wäre, sich mit allen Mitteln, auch mit Mitteln radikaler Diskriminierung wie der Verteufelung und der Verketzerung, von Anderen zu unterscheiden und auf diese Weise auch sich selbst zu behaupten. Die Frage, warum man jener Herausforderung so nicht gerecht wird, führt uns auf die Spur uns nicht zur Disposition stehender Alterität und damit zugleich an die Grenzen von Unterscheidungen, die wir gegebenenfalls vornehmen, um uns an letzteren zu orientieren, und an Grenzen von Orientierungen, die wir möglicherweise für ›entscheidende‹ halten.

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2. Der Name der Rose : Umberto Ecos Dekonstruktion ›­mittelalterlicher‹ Orientierung

Wenn die Welt tatsächlich und eindeutig in Zahlen, Gewichten und Maßen eingerichtet wäre oder in der Form eines Buches vorläge29, das man nur richtig und genau genug zu lesen bräuchte, um sich in ihr orientieren zu können, dann, so scheint es, bedürfte es keiner Wächter des göttlichen Wortes (NR, 52, 509), das angeblich ›am Anfang war‹ und von dem sich angeblich alles Existierende seit jeher ableitet – einschließlich der Frage, ›zu welchem Ende‹ es da ist. Mit seinem großen Roman Der Name der Rose hat der Semiotiker Umberto Eco jedoch plausibel gemacht, warum der Glaube an die entsprechende Offenbarung des Ursprungs und der finalen Bestimmung der Schöpfung keineswegs solcher Wächter entbehren konnte. An deren Spitze setzte Eco nicht umsonst den blinden Benediktinermönch Jorge, der davon überzeugt ist, dass jeder, der das einzige in der Bibliothek seiner Abtei im ligurischen Apennin noch erhaltene Exemplar des als verschollen geltenden zweiten Buches der aristotelischen Poetik über die Komödie und das Lachen entdeckt und es liest, vergiftet werden muss. Schließlich könnte man diesem Buch entnehmen, dass auch über Gott, die Welt und die Vernunft noch gelacht werden darf. Bedeutet Lachen selbst über das Heiligste nicht, es als solches zu ruinieren? Läuft es nicht auf eine unumschränkte Ermächtigung der sich über alles und jeden Erheiternden hinaus? Führt es nicht eine »verkehrte Welt« vor Augen, ohne sich dabei auf karnevalistische Ausnahmezeiten beschränken zu lassen, die früher oder später vom tristen Ernst eines ›normalen‹ Lebens wieder eingeholt werden, das man bis heute unter Berufung auf Thomas Hobbes als nasty, brutish and short charakterisiert? Enthüllt es mit der karnevalistischen Verkehrung aller Verhältnisse und ihrer Bedeutungen die Wahrheit einer radikalen ›Verkehrbarkeit‹ von allem und jedem? Vertauscht es Ernst und Lachen bis zu einem Punkt, wo am Ende niemand mehr weiß, ob und inwieweit das Ernste lachhaft und das Lachhafte ironischerweise ›ernst‹ ist oder werden kann? Mündet das in die Zerstörung jeglicher zuvor als ›substanziell bestehend‹ vorgestellten Ordnung der Welt, oder kommt gerade in der karnevalistischen, vor nichts und niemandem halt machenden Verkehrung und IroNach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 157

nisierung die menschliche Vernunft in der Welt als ihr gerecht werdende erst zu sich selbst (NR, 168) – und zwar auf unvermeidlich ›gottlose‹ Art und Weise? Verdient sie als solche Vertrauen oder größtes Misstrauen angesichts der Anmaßung, uns von jeglicher Angst zu befreien, die uns an ein dem Tod verfallenes Leben fesselt (NR, 170  f.)? Befreit das Lachen über Gott und die Welt zu einer ihrerseits heiteren Vernunft? Oder muss man auch dem Lachen mit großem Ernst begegnen, wenn es geradezu gefriert angesichts humorloser, ›teuflischer‹ Subjekte, deren Macht anscheinend »niemals von einem Zweifel erfasst wird« und zu keinem wirklichen Lächeln imstande ist, das Andere nicht als bedrohlich auffassen müssten?30 Die Macht dieser Subjekte ›ist nicht zum Lachen‹, sondern für die von ihr Bedrohten von tödlichem Ernst, über den keine heiter scheinende Grimasse des jeweiligen Machthabers hinwegtäuschen sollte. Gewiss: Historiker haben sich oft gefragt, warum man sich über den korpulenten Luftmarschall Hermann Göring, den hinkenden Propagandaminister Joseph Goebbels und den schnauzbärtigen Diktator Adolf Hitler – als Karikaturen ihrer eigenen Vorstellungen von einem »rassereinen« blonden »Arier« – nicht vor Lachen ausgeschüttet und sie auf diese vergleichsweise schonende Art politisch entmachtet hat. Bedurfte es nicht lediglich einer minimalen parodistischen Überzeichnung, um sie in der ganzen Lächerlichkeit ihres anmaßenden Auftretens zu entlarven? Dazu sahen sich jedoch offenbar nur wenige Künstler vom Format eines Charly Chaplin in der Lage. Waren die Betreffenden einmal an die Macht gelangt, blieb all jenen, die ihnen zum Opfer fallen sollten, jegliches Lachen schließlich im Halse stecken. Man muss deshalb bezweifeln, ob es das Lachen bzw. irgendeine höhere Art menschlichen Humors wirklich mit allem und jedem aufnehmen kann, um selbst über das Todernste noch zu triumphieren. Doch genau das fürchtet der alte Mönch und untersagt deshalb jegliches Lachen. Man muss es, so glaubt er, von Anfang an im Keim ersticken, denn wenn es einmal angefangen hat, weiß man nicht, ob und wo es je enden wird. Deshalb greift er schließlich zu radikalen Maßnahmen, als er einsieht, dass William von Baskerville das Buch entdeckt hat: Jorge versucht, das ganze Buch des Aristoteles aufzuessen, um so seinen eigenen Leib zum Grab der Subversion zu machen, die mit dem nächsten Leser unaufhörlich ihren Lauf 158 | Kapitel IV 

nehmen würde, wie er glaubt, nachdem sich die labyrinthische Bibliothek seiner Abtei nicht durch ihre verwirrende Anlage selbst verteidigen konnte und somit die Gefahr heraufbeschwor, dass die Bücher früher oder später wie von selbst miteinander kommunizieren würden, von Pergament zu Pergament gewissermaßen, um auf diese Weise auf die Spur des Tabuisierten zu führen.31 Dem alten, vor einer Serie von Morden nicht zurückschreckenden Mönch Jorge ist es um die unbedingte Gewährleistung absoluter Orientierung in einer Welt zu tun, deren Ordnung offenbar schon dadurch gefährdet werden konnte, dass jemand sie ernsthaft und unvoreingenommen zu studieren begann. Das Lesen in den Büchern bzw. im Buch der Natur wird früher oder später die Leser auf dieser Spur dazu ermächtigen, sich über diese Ordnung zu erheben, um auf diese Weise eine fatale, die Stabilität der Welt selbst bedrohende Desorientierung heraufzubeschwören. Mit dieser Ordnung konnte es jedoch nicht sehr weit her sein, wenn sie derartige Maßnahmen wie die radikale Unterdrückung jeglichen Lachens nötig hatte. Dabei schien doch ganz klar zu sein, worum es in ihr ging: um eine letzte und endgültige Unterscheidung, um die Unterscheidung zwischen (ewigem) Leben und Tod nämlich, an der man sich unbedingt zu orientieren hatte (NR, 61). Die wichtigste, für Leben und Tod maßgebliche Orientierung bestand geradezu in dieser Unterscheidung. Demgemäß ist das Einzige, worüber man wirklich nachdenken muss, der eigene Tod – als Beginn des Weges zum ewigen Leben. Wenn das so ist, sollte man umgehend seine Bücher wegwerfen, läuft man doch Gefahr, die knappe, sich ständig verkürzende Zeit bis zum stets nahen Ende zu vergeuden (NR, 87  f., 111). Worauf es ankommt, ist abgesehen vom eigenen Tod bloß die innere Vorbereitung auf die Apokalypse aller, in der sich nur »die Auserwählten freuen können über die glücklich vollbrachte Zerstörung der alten Welt« mit all ihrer Verderbnis (NR, 516). Dabei kann man einer uralten, an Heraklit erinnernden »Sehnsucht nach Ekpyrosis« nachgeben und sich schweigend in einen »endlosen formlosen Abgrund« zurückfallen lassen, der so mal als »heraklitisches Urelement«, mal als mystisch-mittelalterliche Dimension meditativer Versenkung, mal als modernes ›Nichts‹ erscheint (NR, 17, 614, 616). So schreibt Williams früherer jugendlicher AdNach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 159

latus, Adson von Melk, als alter Mann an der Schwelle des Todes: »Bald schon werde ich wiedervereint sein mit meinem Ursprung, und ich glaube nicht mehr, daß es der Gott der Herrlichkeit ist, von welchem mir die Äbte meines Ordens erzählten, auch nicht der Gott der Freude, wie einst die Minderen Brüder glaubten, vielleicht nicht einmal der Gott der Barmherzigkeit. Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier … Ich werde rasch vordringen in jene allerweiteste, allerebenste und unermeßliche Einöde, in welcher der wahrhaft fromme Geist so selig vergehet. Ich werde versinken in der göttlichen Finsternis, in ein Stillschweigen und unaussprechliches Einswerden, und in diesem Versinken wird verloren sein alles Gleich und Ungleich, in diesem Abgrund wird auch mein Geist sich verlieren und nichts mehr wissen von Gott noch von sich selbst noch von Gleich und Ungleich noch von nichts gar nichts. Und ausgelöscht sein werden alle Unterschiede, ich werde eingehen in den einfältigen Grund, in die stille Wüste, in jenes Innerste, da niemand heimisch ist« (NR, 634  f.). Dabei war das ganze vorherige Leben geprägt von der Qual, die abstrakt als entscheidend erkannten Unterschiede konkret richtig markieren zu müssen. Wenn es im Leben nur um den (eigenen) Tod bzw. um das ewige Leben geht, kommt, so dachten die Katharoi, die »Reinen« (NR, 193), die einfach gute Menschen (boni homines) sein wollten, nur eines zur Vorbereitung infrage: ein idealisiertes Leben in weitestgehender, besitzloser Armut. 32 Ihr Verlangen nach Armut aber wurde ihnen gnadenlos als stolzes Bezeugen der für sich in Anspruch genommenen Wahrheit, d. h. als Hoffart, ausgelegt, für die sie schwer zu büßen hatten (NR, 71, 305  ff.), zumal sich die Kirche mit Papst Johannes XXII. (1245–1334) eben erst dazu aufzuschwingen begann, sich alle weltliche Macht zu unterwerfen und sie an Reichtum weit zu übertreffen. So lösen ausgerechnet die Katharer33 mit ihrem Anspruch auf Reinheit die Inquisition aus – eine der gewaltsamsten Manifestationen jenes »Sinns für Unterschiede, der unsere Vernunft ausmacht«, wie Eco den Mönch William sagen lässt (NR, 194). Den Inquisitoren wird es obliegen, den einen Unterschied, auf den es angesichts einer überwältigenden Vielfalt anderer Unterschiede im Labyrinth der Welt entscheidend ankommt, erst einmal als solchen auszumachen. Aber wie soll das überhaupt möglich sein, fragt Adson an William gewandt: »Meis160 | Kapitel IV 

ter […], mir schwirrt der Kopf, ich finde mich nicht mehr zurecht.« »Inwiefern?«, erwidert der Angesprochene. Antwort: »Vor allem im Hinblick auf die Unterschiede zwischen den Ketzergruppen. […] Im Augenblick macht mir die Problematik der Unterscheidung als solche zu schaffen« (NR, 248  f.). Auf diese Weise nimmt das an Wittgensteins Definition eines philosophischen Problems erinnernde Sich-nicht-Auskennen hier die Form nicht irgendeiner Orientierungsschwierigkeit unter vielen anderen, sondern einer spezifisch philosophischen an. Diese liegt hier primär darin, wie man überhaupt ›unterscheiden‹ können soll, weniger darin, woran man sich dabei im Einzelfall zu orientieren hat. Die vorgegebene Orientierung am einzig wahren Leben und in diesem Sinne am Tod lehrt offenbar keineswegs, wie man ihr entsprechend konkret unterscheiden soll, was jeweils richtig und falsch ist bzw. zu diesem Leben führt. Die unbedingte Orientierung verschärft im Gegenteil die Not der Unterscheidung – bis zu einem Punkt, wo es für den überaus klugen und erfahrenen William gar keinen anderen Ausweg mehr zu geben scheint, als jegliche Vorstellung klarer und unzweideutiger Unterscheidungen im Unterscheidbaren aufzugeben. Statt wie seine Mitbrüder alle inquisitorischen Anstrengungen endlos zu radikalisieren und infolgedessen die höchste und anscheinend beste, über Leben und Tod entscheidende Orientierung in äußerste Gewalt umschlagen zu lassen, verzichtet er darauf, überhaupt noch auf klare und deutliche Unterscheidbarkeit des in diesem Sinne Entscheidenden zu bauen – und riskiert so eine ihrerseits der Ketzerei verdächtige Untreue zur alles entscheidenden Orientierung, hier der Glaubensentscheidung. Die menschliche Vernunft mag in der Sensibilität eines jeden angelegt sein und sich als sinnliche Fähigkeit mehr oder weniger bewähren, etwa minimas differentias odorum, feinste Geruchsnuancen, auszumachen (NR, 539); aber als sinnliche verbürgt sie keineswegs auch das scheinbar alles entscheidende, richtige Unterscheiden unter besonderen Umständen.34 Und die »Problematik der Unterscheidung als solche« geht ihr überhaupt erst auf, wo sie sich mit der Furcht konfrontiert sieht, das Entscheidende womöglich gar nicht mehr deutlich unterscheiden zu können. So entspringt aus der Frömmigkeit selbst die Sorge, es unerkannt mit dem Antichrist zu tun zu bekommen. Die Inquisitoren mühen sich darum, Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 161

den entscheidenden Unterschied, den zwischen Rechtgläubigen und Ketzern, »klar zu sehen«. Aber das führt nur dazu, dass am Ende alle verdächtig werden; und zwar genau in dem Maße, wie sich der Verdacht radikalisiert, man könnte den entscheidenden Unterschied womöglich nicht »klar« genug gesehen haben. Deshalb gibt William das Amt des Inquisitors, das er anfangs selbst innehatte, schließlich auf, »weil er den Unterschied nicht mehr hinreichend klar zu sehen vermochte« und am Ende an der ›klaren‹ bzw. ›richtigen‹, absolut verlässlichen Unterscheidbarkeit des unbedingt zu Unterscheidenden selbst nicht mehr zu besänftigende, radikale Zweifel hegt – ganz im Gegensatz zu all jenen, die von sich glauben mochten, »den Beistand des Herrn« zu genießen, »der nicht nur den Unterschied zu erkennen lehrt, sondern der seine Erwählten mit dieser Differenzierungsfähigkeit gleichsam durchtränkt«, so dass sie als Heilige gelten können, »eben weil sie zu differenzieren vermochten. Das und nichts anderes ist die wahre Heiligkeit. Aber warum vermochte William in dieser Sache nicht mehr zu differenzieren? Er war doch sonst ein so scharfsichtiger Mann, und was die Erscheinungen der Natur betraf, so konnte er noch die kleinsten Unterschiede und die geringsten Verwandtschaften zwischen den Dingen erkennen …« (NR, 158). Sollte es sich etwa so verhalten, dass Andere, im Gegensatz zu den Erscheinungen der Natur, ein radikales, unüberwindliches Problem der Ununterscheidbarkeit heraufbeschwören, gegen das weder die menschliche Vernunft im Allgemeinen (als »Sinn für Unterschiede«) noch ein ausgeprägtes inquisitorisches Gespür im Besonderen je etwas ausrichten wird? Das Beispiel Williams zeigt: Selbst wer scheinbar die kleinsten natürlichen Unterschiede erkennen kann, läuft Gefahr, zu kontaminieren oder zu vermischen, was verschieden ist bzw. verschieden bleiben muss und folglich unbedingt unterschieden werden sollte – wie eben vor allem Ketzer; und zwar gerade auch dann, wenn sie die Ordnung der Welt wieder ins rechte Lot zu bringen versprechen, indem sie sich so radikal und konsequent wie nur möglich einem gottgefälligen religiösen Leben verpflichten. Sind in dieser Hinsicht aber nun »Fratizellen, Patarener, Waldenser und Katharer und unter letzteren die Bogomilen aus Bulgarien und die Häretiker aus Dragovitsa« verschieden oder im Grunde gleich? Die Antwort des Abtes lautet unnachsichtig: »Sie sind alle dasselbe, weil 162 | Kapitel IV 

sie allesamt Ketzer sind, weil sie die Ordnung der zivilisierten Welt auf den Kopf stellen« (NR, 192). Wenn man von Ketzerei spricht, meint man sie im Allgemeinen und alle Formen samt und sonders. Infolgedessen breitet sie sich auf der Seite ihrer Gegner wie von allein aus, die sie überall vermuten müssen, so dass sie Mühe haben, sie genau zu lokalisieren (NR, 252). »›Wo liegt die Wahrheit?‹ ›Manchmal nirgendwo‹, antwortet[] William traurig.« Nicht nur weiß er nicht klar zwischen Ketzern und Ketzern zu unterscheiden. Auch sein Kontrahent, der Abt, kommt nicht recht weiter mit seiner scheinbar so überaus verlässlichen Regel: »Ich weiß, daß alle diejenigen Ketzer sind, welche die Ordnung, in der das Gottesvolk lebt, auf den Kopf stellen« (NR, 195). Aus der Sicht der Ketzer sind das nun gerade die Papsttreuen, die Verräter des rechten Glaubens. Nüchtern betrachtet ergibt sich: »Jeder ist ketzerisch, jeder ist rechtgläubig« – je nachdem, wo von aus man die Lage betrachtet (NR, 258). »Die Scheidelinie, die zwischen gut und böse verläuft, ist ungemein subtil …« – was sich nun als eine Verharmlosung des radikalen Sachverhalts darstellt: dass überhaupt keine ›klare‹ Unterscheidbarkeit verbürgt ist und somit jede Orientierung, die von Letzterer abhängen würde, zum Scheitern verurteilt sein muss (NR, 285).35 Der »Feind des Gottesvolkes« ist gewiss da. Aber wo? Um wen handelt es sich? Und wer ist befugt, das zu beurteilen? »So was Schwieriges möchte ich nicht entscheiden müssen«, ruft der Bruder Nicolas von Morimond aus (NR, 118). Die Inquisitoren aber verlangt es, diesen Feind zu identifizieren und möglichst unschädlich zu machen. Und sie haben Hoffnung, glauben sie doch, dass er »unfähig [ist], seine wahre Natur vollkommen zu verbergen, so menschenähnlich er sich auch zu machen versucht«, so dass er gelegentlich »kaum andere Züge« aufweist »als jene, die wir in diesem Augenblick an unserem Gegenüber erblicken« (NR, 63). Raffiniert, wie er offenbar ist, versteht er es, sich den Feinden der Feinde des Gottesvolkes bis zur Ununterscheidbarkeit ähnlich zu machen, so dass gerade die größte Ähnlichkeit mit den vermeintlich Rechtgläubigen am meisten unter Verdacht stehen muss. 36 Im Zeichen dieses Verdachts treibt er sein Unwesen zuvörderst in den Richtern (NR, 45, 69), die noch die Strenggläubigsten dahin treiben, sich schlimmster Verbrechen zu bezichtigen, bis vor dem Gericht der Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 163

peinlichen Befragung jegliche Unterscheidbarkeit von Delirien, die aus der schieren Angst vor Folterqualen hervorgehen, und justiziablen Geständnissen kollabiert (NR, 495). Am Ende liegen die Inquisitoren selbst mit ihren feinsten Unterscheidungen von Rechtgläubigen, Ketzern und anderen Ketzern immer falsch, da sie ihre Verdachtsmomente nicht begrenzen können. Zudem überlebt das Ketzertum als solches jede Anstrengung endgültiger Vernichtung aller Ketzer, mag man auch noch so unnachsichtig »den Tag der Großen Strafe vorwegnehmen« in massenhafter Vernichtung aller Verderbten, um den Lauf der Ereignisse bis zum Jüngsten Gericht zu beschleunigen (NR, 288, 291, 489  ff.). In diese Versuchung gerät man, weil eben nicht alles auf eine causa prima zurückgeht, auf die Thomas von Aquin glaubte zurückschließen zu können, um aus ihr alles Spätere hervorgehen zu lassen (NR, 43, 184, 602). In einem derart gesicherten Universum bräuchte man, so scheint es, keinerlei weitere Orientierung, und man könnte sich dem Lauf der Dinge einfach überantworten. Tatsächlich aber hat man es mit »Wechselwirkungen ohne Plan« zu tun, in deren Durcheinander nichts bleibt als »die Wahrheit der Zeichen« (NR, 625). Nicht etwa eindeutig zurückführbare Wirkungen setzen sich fort, sondern »Zeichen von Zeichen« werden weitergegeben, ohne dass man Zugang zu den Dingen selbst hätte.37 Dabei weiß man nicht, welche Zeichen nur scheinbar etwas bedeuten. Und ihre Vielgestaltigkeit und Zweideutigkeit lässt sich durch keine auctoritas mehr ausräumen (NR, 17, 40, 138, 406, 571). So kann es dazu kommen, dass »der wache Sinn für […] Differenz« erlöscht und ein »Sturz in die Abgründe der Identität« die Folge ist (NR, 315). Sogar dem Hohen Lied Salomos lassen sich die gleichen Worte zur Bezeichnung des Gegensätzlichen entnehmen – dank einer unerklärlichen Weisheit, die »die himmlischen Dinge mit irdischen Namen« benennt und den »Tod als Wunde und die Freude als Flamme und die Flamme als Tod und de[n] Tod als Abgrund und de[n] Abgrund als Verdammnis und die Verdammnis als Lust und die Lust als Passion« erscheinen lässt (NR, 319). So hat schließlich überhaupt keine forma substantialis mehr Bestand. Alles löst sich vielmehr in accidentia auf. Und dagegen hilft es in keiner Weise, einfach distinctiones zu setzen, als ob sich so eine ontologische Beständigkeit einer Weltordnung wiederherstellen ließe, 164 | Kapitel IV 

die sich doch überhaupt keiner menschlichen Leistung verdanken sollte. Es scheint, als lasse sich der Strom der Erscheinungen nicht mehr im Bett der Substanzen halten und lasse sie gleichsam über die Ufer treten oder zersetze sie (NR, 250  f., 551). So wird die Welt als unverbrüchlicher Kosmos bereits im Mittelalter zweifelhaft. Wer sie durchquerte, dem stellte sie sich ohnehin als Labyrinth dar, aus dem nicht wieder herauszufinden ist, wenn man des rechten Glaubens entbehrt.38 Jetzt aber nimmt sie gleichsam einen neuen Aggregatzustand an, dessen ›liquide‹ Ordnung nicht zu erkennen ist. Deshalb kann man auf den Gedanken kommen, dass man »alle Möglichkeiten in Betracht ziehen [muss], jede Ordnung und jedes Chaos« (NR, 531). Am Ende weiß man nicht, ob man in der Hölle oder im Paradies ist, ob man träumt oder schreibt (NR, 543, 558). Weil wir immer schon in der Welt sind, die von sich aus nicht darüber Auskunft gibt, wie sie zu verstehen ist und woran man sich in ihr zu halten hat, werden wir ganz und gar darauf zurückgeworfen, sie selbst zu deuten, ohne ihr noch eine Ordnung einfach ablesen zu können. Man glaubt, Nietzsche avant la lettre zu lesen. 3. Anthropologische Konsequenzen: Von menschlicher ›­Unbestimmtheit‹ bis hin zu Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen

In der Neuzeit wird man aus der beschriebenen Lage radikale Schlüsse ziehen: als in der Welt Seiende und von Natur aus sind wir »nichts« (August L. Schlözer), jedenfalls nichts endgültig Bestimmtes, also können wir zu allem Möglichen werden und uns – selbstbestimmt – dazu ermächtigen, der Welt eine Ordnung zu oktroyieren, die sie keinesfalls von sich aus hat. 39 Hier setzt im 18. Jahrhundert eine deteleologisierte, insofern mit dem Weltbild der mittelalterlichen Scholastik brechende Anthropologie gewissermaßen ›von unten‹ an. Wenn Jean-Jacques Rousseau von perfectibilité spricht, so meint er gerade keine naturgegebene Ausrichtung des Neugeborenen auf irgendein Maß, auf eine Norm oder idealisierte Vollkommenheit, sondern eine kontingente Bildsamkeit, um deren industriose, staatskonforme, aber auch ›humanistische‹ Ausrichtung es v. a. diesseits des Rheins pädagogischen Aufklärern wie Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 165

Hermann S. Reimarus, Christoph M. Wieland, Friedrich Herbart, Friedrich I. Niethammer und Wilhelm von Humboldt zu tun ist. Diese Anthropologie geht von Johann G. Herder über Helmuth Plessner bis hin zu Arnold Gehlen und Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen verallgemeinernd und reduktiv derart vor, dass sie ein isoliertes, minimal ausgestattetes Lebewesen direkt mit einer lebensbedrohlichen Umwelt konfrontiert und sich unter dieser Voraussetzung fragt, wie dieses Lebewesen überhaupt überleben kann. Demnach ist jede(r) von Natur aus zunächst wenn nicht ›nichts‹, so doch nur ein vergleichsweise depraviertes Tier40 , dem zum Überlebenkönnen alles zu fehlen scheint, es sei denn, es versteht aus der Not seiner weitgehenden »existenziellen Entbundenheit« von allen natürlichen normativen Vorgaben, aus seinem »untierischen Ausgesetztsein«41 und aus seiner Retardation gewissermaßen eine Tugend zu machen, indem es sich exponiert und dabei gerade aus seiner Unspezialisiertheit selbsttätig und durchsetzungsfähig unvermutete Anpassungsleistungen ableitet.42 Diese führen dazu, dass ein solches Lebewesen nach und nach überall zu leben und zu siedeln lernt (DM, 80). Anscheinend hat es »Sinn für alles«, was dafür wichtig ist, und kommt über der »grundlosen Tiefe« seiner eidetischen Unbestimmtheit bis auf weiteres mit allem irgendwie zurecht (DM, 19, 83). Weit entfernt, sich dabei nur in seinem naturgegebenen Sosein zu erhalten43 oder dieses einfach zu ›entwickeln‹, verändert es sich selbst und seine Umwelt bis zur Unkenntlichkeit. Auf geschichtlichen Wegen seiner Anpassungsleistungen, Selbststeigerungen und Transformationen ins Unbekannte zersetzt es am Ende jede Möglichkeit, ihm noch ein invariantes Wesen zuzusprechen. Aufgrund seiner »physiologischen Frühgeburt« (DM, 45, 381) erweist sich jede(r) Einzelne zunächst als weitgehend lebensunfähig. Jede(r) überlebt nur mit Hilfe Anderer; und jeder ›objektive‹ Weltbezug kann sich nur im Zusammenleben mit ihnen ergeben. Alle Objektivität, schreibt Gehlen, erweist sich als sozial bzw. als Du-bezogen (DM, 166, 187). Nur unter dieser ontogenetischen Voraussetzung wird auch Welt vorstellbar, verfügbar und veränderbar.44 So geht aus dem deteleologisierten Kosmos des Mittelalters langfristig das Bewusstsein einer paradoxerweise alles fundierenden, aber abgründigen und nicht finalisierten Sozialität hervor, die 166 | Kapitel IV 

jedoch zunächst nicht als solche zur Sprache kommt, derart dominiert die Frage, was die Menschen ›von Natur aus‹ sein mögen, wenn sie nicht von vornherein eindeutig bestimmt sind. Längst rechnet die daran anknüpfende Anthropologie nicht mehr mit invarianten Wesensmerkmalen einer menschlichen Natur, sondern begreift diese (wie schon Plessner) als rückhaltlos zu historisierende. Demnach kann ›der Mensch‹ derart tief sogar in seine biologische Ausstattung eingreifen, dass eine künftige – oder sich vor unseren Augen bereits vollziehende – »Mutation der Menschheit« (Pierre Bertaux) absehbar wird. Jüngste bio-chemische Entwicklungen wie die sog. Genschere (CRISPR), für deren Entdeckung Emmanuelle Chapentier 2020 der Chemie-Nobelpreis verliehen wurde, bestätigen das nur. Der Sog, der von solchen Entwicklungen ausgeht, ist derart stark, dass die Frage nach dem Anderen als solchem, dessen überlebenswichtige Bedeutung von den Anthropologen der Moderne grundsätzlich gesehen worden ist, kaum noch eine Rolle spielt. Wenn sie überhaupt aufgeworfen wird, dann im Zeichen einer nahezu aussichtslos erscheinenden Defensive angesichts bio-technischer und -politischer Perspektiven, die von der Therapie von Gendefekten bis hin zu utopisch anmutenden Hoffnungen auf genetische Selbstoptimierung reichen. Die entsprechende liberale Eugenik betrifft indessen keineswegs direkt den Menschen, sondern Menschen in ihren generativen, irreduzibel pluralen Verhältnissen zueinander.45 Auch die besorgte Rede von der »Zukunft der menschlichen Natur«46 , die man schier endloser Manipulierbarkeit ausgeliefert sieht, neigt dazu, den Plural zu tilgen und wie Francis Fukuyama nur die menschliche Gattung in den Blick zu nehmen. Fukuyama spricht, nachdem das von ihm ausgerufene »Ende der Geschichte« nicht eintreten wollte, nun umstandslos vom »Ende des Menschen«, ohne in Betracht zu ziehen, wie die Einen bio-technisch in das Leben Anderer als solcher eingreifen und ob sie dabei an heikle Grenzen stoßen.47 Genau das war der Punkt, an dem Jürgen Habermas gegen eine Eugenik Einspruch eingelegt hat, die Gefahr laufe, die Autonomie des Einzelnen aus dem Blick zu verlieren, sei es auch mit den besten Absichten. Auch diese aber müssten sich seines Erachtens an der mindestens antizipierten Zustimmung derjenigen bemessen, denen Eingriffe in ihr biologisches Sein zugutekommen sollen (falls Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 167

es nicht bloß um »Konsumentenwünsche« derjenigen geht, die in ihren Nachkommen ihr eigenes biologisches Potenzial optimiert sehen möchten). So unterstellt Habermas jedenfalls, diejenigen, die so oder so biologisch über die Zukunft Anderer bestimmen, stünden bereits in einem Verhältnis zu ihnen; und zwar auch dann, wenn Letztere noch gar nicht existieren. Wie aber kommt es überhaupt zu einem solchen Verhältnis? Nur weil ohnehin eine »stetige Zufuhr von Andersheit« stattfindet, wie es Hans Jonas formulierte?48 D. h. weil geschlechtliche Fortpflanzung stattfindet, die man mit dem französischen Molekularbiologen François Jacob als eine »Maschine zur Erzeugung von Anderem« auffassen könnte?49 Unterscheidet sich ›Anderes‹ nicht von ›Anderen‹? Sind und verhalten sich Andere nicht anders als irgendetwas beliebiges Anderes? Erweisen sie sich nicht paradoxerweise als ›anders (als) anders‹? Wenn nicht, wären sie dann nicht beliebigen Dingen insofern gleichzustellen, als man sie voneinander unterscheiden kann, als sie infolgedessen als verschieden gelten könnten und einer allgemeinen Vernunft zu unterstehen scheinen, die man als »Sinn für Differenzen« bzw. als entsprechende Sensibilität beschrieben hat? Wie akut sich diese Fragen nach wie vor auch in anthropologischer Hinsicht darstellen, hat zuletzt Blumenbergs in vieler Hinsicht an Gehlen anschließende Beschreibung des Menschen deutlich gemacht. 50 Wie schon Herder und Gehlen geht Blumenberg vom Befund der Verlassenheit des bzw. der Menschen von aller instinktmäßigen Vorsorge der Natur aus und fragt sich unter dieser Voraussetzung, wie »Subjekte von gleicher Leibhaftigkeit« Fremderfahrung machen. 51 Er stellt sich eine Urszene vor, in der ein Mensch zum ersten Mal einem Anderen begegnet (BM, 247  ff.), wobei die bloße Gattungszugehörigkeit nur noch eine weitgehende »Unberechenbarkeit Anderer« vorgibt und kein ›Wesen‹ mehr meint (BM, 260  f.). Was man ausgehend von Aristoteles oder Thomas von Aquin animal sociale genannt hat, erkläre sich gerade daraus (BM, 286) – und nicht etwa aus irgendeiner vorweg garantierten Verbindung, Verbundenheit, Ähnlichkeit oder Verwandtschaft. Diese zu höchster und präventiver Aufmerksamkeit zwingende Unberechenbarkeit spitzt Blumenberg sogleich im Sinne einer einzigen Alternative zu: Freundschaft und Feindschaft erscheinen ihm 168 | Kapitel IV 

als grundsätzlich gleichwertige Auflösungen einer Situation, in der niemand weiß, woran er mit dem Anderen jeweils ist (BM, 248  f.). Blumenberg entfaltet die Dramatik dieser Situation in anthropogenetischer Perspektive, indem er sich in die ursprüngliche Lage derer versetzt, die beim Heraustreten aus einem sie zuvor schützendem Biotop (wie beim Verlassen des Urwaldes auf dem Weg in die Savannen des vorgeschichtlichen Afrika) bedenken mussten, dass sie allseits, vor allem aber hinterrücks, gesehen werden konnten. Darin lokalisiert Blumenberg den Ursprung der Reflexion: In dieser Lage war zu bedenken, dass man schutzlos gesehen werden kann, wenn man selbst etwas sehen will (BM, 140). So erwiesen sich die ersten aufrecht gehenden Menschen als dorsal außerordentlich verletzbar.52 Und ihre Vor- und Rücksicht galt vor allem möglichen Feinden, die jederzeit a tergo auftauchen konnten und deshalb zu präventiven Dispositionen zwangen, was Blumenberg ausdrücklich für bis heute entscheidend hält (BM, 561). So soll jegliche Prävention vor allem der Abwehr der Angst dienen, überraschenden Angriffen zum Opfer zu fallen, die unheimlicherweise von jedem ausgehen können, wenn gewisse Sicherungen kulturellen Lebens nicht davor schützen, die genau das leisten sollen: sich relativ ungefährdet ›sehen lassen‹ zu können.53 Selbst wenn solche Sicherungen aber vorliegen, bleibt es dabei: Man muss wissen, sich gegenseitig preisgegeben zu sein, wie es bereits bei Hobbes anklingt, der es bekanntlich als »das Größte« definierte, was Menschen vermögen: Andere zu töten. Dabei bleibt es auch bei Blumenberg, wenn er den Menschen als ein Wesen charakterisiert, das seinesgleichen tötet (BM, 610); und zwar nicht bloß in defensiver Absicht, sondern um Anderen zuvorzukommen.54 An der Frage, ob das gegebenenfalls nötig werden kann, entscheidet sich, wer Freund oder Feind ist (BM, 272  f., 685). Allerdings bleiben auch ›Freunde‹ von außen »undurchsichtig« (wie man selbst; BM, 259, 266, 661). Sie begegnen einander als zwei »sich absolut setzende[], alles auf sich zentrierende[] Nullpunkte[]« der Weltorientierung55 , die den Verdacht wecken, der jeweils Andere wolle »auch Ich sein« bzw. dessen Platz usurpieren. In dieser Frage lässt sich allerdings keinerlei Gewissheit erreichen, so dass sich das darin gegründete Misstrauen anscheinend nicht ausräumen lässt. Gleichartige Leiber bleiben füreinander »undurchdringlich« (BM, 149, 837). Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 169

Und gerade das bestimmt entscheidend die Visibilität aufrecht gehender Lebewesen, wie es die Menschen sind (BM, 114). Mögen sie sich auch noch so sehr imaginativ in die »Perspektive« des jeweils Anderen hineinzuversetzen versuchen, sie bleibt »uneinnehmbar« in allen Bedeutungen dieses Wortes (BM, 128). Nichts erlaubt verlässlich, auf sein Inneres zu schließen (BM, 309  f.). Nie können wir wissen, wer der Andere wirklich ist und dessen »Fremderfahrung« in originär »Selbstgegebenes« transformieren. »Leibhaftige Fremd­ erfahrung« erscheint so als ein in sich widersprüchlicher Ausdruck (BM, 148). Wer der Andere wirklich ist, was er selbst erfährt, wie er uns sieht, sich uns vorstellt und denkt, bleibt uns originär unzugänglich. Von all dem haben wir keine absolute Evidenz, und davon darf es auch gar keine originäre Selbsterfahrung geben, wenn der Andere ›Anderer‹ soll bleiben können.56 Genau diese Aporetik hat erst Edmund Husserl in seinen Cartesianischen Meditationen herausgearbeitet, an die die ganze neuere Sozialphilosophie der Alterität von Emmanuel Levinas und Paul Ricœur bis hin zu Bernhard Waldenfels anknüpft. Blumenberg unterschlägt allerdings weitgehend die Paradoxie, die anscheinend in Husserls Rede von einer »bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« liegt. 57 Es kann sich dabei nur um eine Zugänglichkeit des original Unzugänglichen als solchen handeln; und gerade diese soll nun die Alterität des Anderen ausmachen – im Unterschied zur Alterität der Dinge, die sich in vielerlei Hinsicht in der Endlosigkeit ihrer weiteren Erfahrbarkeit als vergleichsweise ›anders‹ darstellen oder erweisen können, ohne sich aber je als in sich unzugänglich zu erweisen. 58 Ihnen eignet keinerlei ›In-sichsein‹, das uns radikal entzogen sein könnte. Andere sind demnach anders ›anders‹ als alles Andere, das man differenzieren und vergleichen kann, und zwar ungeachtet der unbestreitbaren Tatsache, dass sie in ihrem verkörperten bzw. leibhaftigen Sein Anteil an der Sphäre identifizierbarer Dinge haben. 59 Schließlich ›zeigen‹ sie sich ja auch, wenn auch schamhaft, diskret und womöglich sogar auf ein »Recht auf Opazität« sich berufend (BM, 792, 802), wenn sie darauf bestehen, nicht auf ihre Visibilität reduziert zu werden; und zwar auch und gerade dann, wenn sie sich anderen so zu präsentieren versuchen, wie sie sind (BM, 857). Ganz »visibilitätsfrei« vermöchte vielleicht ein »ganz Anderer«, ein 170 | Kapitel IV 

Gott, zu sein, der nicht darauf angewiesen wäre, gesehen, gehört und bezeugt zu werden (BM, 840). Andere aber, die leibhaftig in Erscheinung treten müssen und insofern allenfalls radikal anders, aber niemals ›ganz‹ bzw. absolut anders sein können60 , bedürfen der Bezeugung durch Andere, gerade weil sie in ihrem Erscheinen nicht aufgehen können. Dass es sich so verhält, ist allerdings nicht zu beweisen. 61 4. Zur Sozialphilosophie menschlicher Alterität

Es ist keine Frage des Wissens, was als nicht im Erscheinen Anderer Aufgehendes dennoch nicht gleichgültig sein kann, wenn genau das sie als Andere ausmacht: Sie erscheinen uns, treten uns gegenüber – sei es als von wieder Anderen unterscheidbare Freunde, sei es als Feinde, Anders-, Ungläubige oder Häretiker62 , als Verwandte, Nachbarn, Mitbürger oder anonyme Zeitgenossen –, in jedem Falle aber als in ihrem Erscheinen niemals ›restlos‹ Identifizierbare. Wie auch immer man dieses Erscheinen mustern mag, um Merkmale an ihm zu entdecken, die Andere reidentifizierbar machen sollen, man wird ihrer Alterität nicht habhaft. Und gerade das soll nicht etwa privativ, als ein Mangel an Wissen, dem gewisse ›Reste‹ entgehen, aufzufassen sein, sondern uns auf die Spur dessen führen, wie uns Andere als solche in Anspruch nehmen, ohne sich dabei je unserem Diskriminierungsvermögen ganz zu unterwerfen. Mag dieses sich auch noch so intensiv daran abarbeiten, Andere nach Freund-Feind-Kategorien zu sortieren, die radikale Alterität Anderer kommt dem vom ersten Moment an zuvor, indem sie uns ansprechen oder auf andere Weise in Anspruch nehmen. Wenn das stimmt, greift alles Unterscheiden Anderer zu kurz und bekommt ihre Alterität nicht zu fassen. Andererseits ›gibt es‹ bzw. widerfährt uns diese Alterität niemals ohne Bezug auf Andere, die konkret (sei es auch technisch, medial, digital, virtuell vermittelt) in Erscheinung treten. Der ›Entzug‹ der Alterität kann nicht gleichsam am Bezug auf sichtbare, hörbare, fühlbare, verschiedene, mehr oder weniger ähnliche … Andere vorbei zur Geltung kommen, die nach ihren äußeren Merkmalen zu unterscheiden, zu reidentifizieren, zu sortieren, erkennungsdienstlicher Behandlung, Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 171

sozialer Diskriminierung und politischer Verachtung zu unterwerfen sind. So gesehen eignet sich der an Husserl anschließende Diskurs über die Alterität des Anderen nicht für eine Theologisierung der Alterität, die man, gewiss nicht ganz zu Unrecht, Levinas und seinen Bewunderern vorgeworfen hat; handelt es sich doch allemal um eine Alterität, die sich menschlichem Diskriminierungs- bzw. Unterscheidungsvermögen widersetzt und wohl nur als derartige Widersetzlichkeit auch zum Zuge kommt. Das aber bedeutet, dass sie gebunden bleibt an das Inerscheinungtreten leibhaftiger, endlicher und sterblicher Subjekte, deren unaufhebbare Alterität durch nichts zu beweisen ist. Was zu beweisen ist, fällt allenfalls in den Bereich anfechtbaren Wissens. Doch dass wir es angesichts Anderer mit ›etwas‹ nicht epistemisch in Erfahrung zu Bringendem und streng genommen nicht einmal überhaupt mit ›etwas‹ (ontisch Einzustufendem) zu tun haben, das uns dennoch nicht gleichgültig lassen kann bzw. lassen sollte, kann nicht überzeugend als Wissen statuiert werden. 63 In den Texten, die von der epistemisch nicht fassbaren Alterität des Anderen handeln, hat es sogar den Anschein, als wolle man gar nicht wissen, worum es sich bei ihr genau handelt, so als weise man jeglichen Anspruch, sich ihrer vergewissern zu können, ausdrücklich zurück – aus der Sorge heraus, dass man füreinander eines Tages keinerlei Rätsel und keinerlei Geheimnis mehr bedeuten könnte. 64 Nicht auszuschließen ist, dass diese Texte keineswegs nur einer sich von sich aus als unaufhebbar erweisenden Alterität auf der Spur sind, dass sie vielmehr darauf angelegt sind, alle epistemischen Wege zu ihr zu verbauen. (So verweist auch Levinas auf eine eigentümliche »Höhe« [hauteur, le haut], aus der der Andere als solcher begegne 65 – darin der Vertikalität gothischer Kathedralen nicht unähnlich66 –, ohne dass sie uns je erreichbar sein dürfte.) Und das, obgleich Philosophen, die sich der Alterität des Anderen politisch angenommen haben, genau darin die radikalste Form der Gewalt meinen erkannt zu haben, gar nicht ›gesehen‹ zu werden. Noch schlimmer, als entrechtet, ausgebeutet, gedemütigt, nicht anerkannt oder verachtet zu werden, ist es demnach, in den Augen Anderer insofern nicht einmal zu existieren, als sie einen gar nicht wahrnehmen oder derart ›übersehen‹, ignorieren oder ver172 | Kapitel IV 

gleichgültigen, dass man am Ende in überhaupt keinem Verhältnis zu ihnen mehr zu stehen scheint. Wer entrechtet, ausgebeutet, gedemütigt oder verachtet wird, kann dagegen immerhin noch Widerstand leisten, aufbegehren, Revolten und Revolutionen anstrengen. Wer aber für Andere quasi nicht existiert, dem drohen selbst diese Möglichkeiten abzugehen, so dass er bei lebendigem Leibe zu einem sozialen Tod verurteilt scheint. 67 Noch vor allen Menschenrechten, auf deren Gewährleistung jede(r) Anspruch hat, und selbst vor jenem »Recht auf Rechte«, das Hannah Arendt ihnen glaubte vorordnen zu sollen, muss so gesehen die faktische Möglichkeit liegen, Andere überhaupt ansprechen und in Anspruch nehmen zu können. Wenigstens als jemand, der dazu grundsätzlich in der Lage wäre und darauf auch einen Anspruch haben sollte, müsste jeder ›gesehen‹ werden. Und zwar noch vor jedem Kampf um irgendwelche ›Differenzen‹, um Anerkennung oder gewisse Rechte usw. Das heißt aber nicht, dass jede(r) um jeden Preis ›gesehen‹ werden will – gegebenenfalls auch um den Preis des Reduziertwerdens auf die jeweilige Sichtbarkeit. Nicht umsonst spricht Blumenberg mit Blick auf Sartre von einer »grauenhaften Sichtbarkeit« (BM, 808), die nicht nur in der absoluten Einseitigkeit und »Ständigkeit des Gesehenwerdens« bis in das Intimste hinein liegen kann, wie man sie Gott unterstellt hat. 68 Ganz, jederzeit und rückhaltlos ›gesehen‹ zu werden, erscheint nicht nur in der atheistisch-antitheologischen, einen derartigen göttlichen Blick zurückweisenden Literatur als eminente Gewalt. Das Gleiche gilt auch für eine poli­ tische Theorie, die nachweist, wie ein alles überwachender Staat vergleichbare Ambitionen verfolgen kann – von Jeremy Benthams Panoptikum über George Orwells 1984 bis hin zur jüngsten chinesischen Propaganda einer rückhaltlosen »Ehrlichkeit«, der man bereits ganze Millionenstädte wie Rongcheng und Shanghai unterworfen hat, in denen niemand mehr etwas zu ›verbergen‹ haben soll. Dagegen reklamiert die ›westliche‹, in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts radikalisierte Apologie des Anderen eine radikale Un-Sichtbarkeit jedes Anderen, die sich nicht auf ein rätselhaftes oder geheimnisvolles Residuum bezieht, an welches das Wissen bislang nicht heranreicht, wie auch immer Letzteres uns gegenwärtig bereits und in Zukunft mit digitalen Mitteln im Griff haben Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 173

mag. Vielmehr beruft sie sich auf ein Jenseits des Wissens, d. h. auf ein gänzliches Entzogensein der radikalen Alterität des Anderen, gegen die überhaupt kein epistemisches Mittel etwas ausrichten kann und soll. Anhand für das Soziale so zentraler Phänomene wie des Vertrauens zeigt sie auf, wie entscheidend die Bedeutung dieses Entzogenseins ist 69: Anderen vertrauen wir nämlich nicht bloß mangels besseren Wissens, das sie kontrollieren könnte, wie es eine penetrante Redeweise suggeriert, sondern gerade angesichts ihrer unverfügbaren Alterität. Ich vertraue Anderen als solchen und stifte auf diese Weise auch ihre Vertrauenswürdigkeit – aber nicht etwa, weil ich zum bloßen Notbehelf einer solchen Auslieferung an sie greifen muss, da ich nicht zu kontrollieren vermag, woran ich mit ihnen bin (vgl. Kap.  I, 10). Wir wollen also in der umfassendsten Bedeutung des Wortes ›gesehen‹ und nicht nur visuell ›wahrgenommen‹, d. h. vor allem auch: gehört werden. Aber wenn wir als von Anderen Wahrgenommene und Andere Wahrnehmende auch vertrauen und Vertrauen verdienen wollen, können wir im Grunde niemals wollen, uns selbst oder Andere als auf unsere und deren Sichtbarkeit und weitere Wahrnehmbarkeit reduziert vorstellen zu müssen. Wenn Baltasar Gracián den Anderen auffordert: »Sprich, damit ich dich sehe«70 und wenn dieser im Sinne von Roland Barthes antwortet: »Hör mir zu, wisse, daß ich existiere«71, so kann nicht gemeint sein, im jeweiligen Gesehen- und Gehörtwerden aufgehen zu wollen, sondern nur, darin zugleich als Andere(r) frei und auf diese Weise allem Unterscheiden, Diskriminiert- und Identifiziertwerden entzogen zu bleiben. Das heißt, man will nicht so angeschaut werden, dass man befürchten muss, als Unterschiedene(r), Verschiedene(r), Identi­ fizierte(r), Sortierte(r) und schließlich Diskriminierte(r) im ›Blick‹ der Anderen aufzugehen und ihm geradezu zum Opfer zu fallen. Man begehrt vielmehr nach einem anderen Blick bzw. nach einer Wahrnehmung, die den jeweils Anderen nicht um seine Alterität bringt. Ob diese Gefahr besteht, ob man sich dessen bewusst ist, wie man ihr zu begegnen sucht usw., ist wiederum nicht zu beweisen, nur in einem nicht-epistemischem Wahrheitsmodus zu bezeugen. Wir mögen als verkörpert und leibhaftig Existierende in der Welt vorkommen und insofern sichtbar, registrierbar, klassifizierbar 174 | Kapitel IV 

und auch (als nicht mehr ›Brauchbare‹, ›Behinderte‹, ›Kranke‹, ›zu Alte‹ usw.) aussortierbar sein. Aber als in der Welt Seiende sind wir doch nicht ganz und gar »von dieser Welt«.72 Das jedenfalls bezeugt eine weit zurückreichende exilistische Literatur, die ausgehend von Außenseitern, Verbannten und Vertriebenen nach und nach deutlich gemacht hat, dass nicht nur sie, sondern alle im Grunde nicht ›restlos‹ zum Leben mit und unter Anderen dazugehören können. In Anlehnung an Hegels Geschichte der Freiheit könnte man geradezu sagen: Erst waren einige im Exil, dann viele, schließlich alle.73 Bei Autoren wie Albert Camus und Wolfgang Borchert ist und bleibt wirklich jede(r) ›draußen‹, wenn nicht buchstäblich »vor der Tür«, wie bei Letzterem, so doch einer Unzugehörigkeit in der Zugehörigkeit zu sozialem und politischem Leben überantwortet74 , die sich nie ganz tilgen lässt. Eine reichhaltige Literatur von Karl Ph. Moritz über Friedrich Hölderlin, Georg Büchner und Georg Trakl bis hin zu Heinrich Mann, Jean Améry, Sandor Márai, Imre Kertész, Peter Härtling und vielen anderen orientiert sich an dieser Unzugehörigkeit, unabhängig vom sozialen Status, den die Betreffenden als Emigranten oder als Vertriebene, als Rückkehrer oder vermeintlich Integrierte genossen haben mögen. So oder so orientierten sie sich an einem exilistischen ›Draußenbleiben‹, an dem jede(r) als Andere(r) Anteil hat und das sich so lange nicht aufheben lässt, wie die Stimme jener Apologie der Alterität noch nicht verstummt ist. Ob es dazu kommen wird, steht allerdings dahin. Es erscheint nicht völlig ausgeschlossen, dass uns eine Zukunft bevorsteht, in der es niemanden mehr überzeugen würde, dass wir auf nur zu bezeugende Art und Weise ›Andere‹ sind und auch ›draußen‹ bleiben sollten, ohne je in irgendeiner Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft aufgehen zu wollen, sei es auch im Zeichen einer Politik inklusiver »Einbeziehung des Anderen«, die sich längst auch eine entsprechende wohlmeinende Pädagogik auf die Fahnen geschrieben hat, die jeder und jedem einen Platz in der Mitte gesellschaftlichen ­Lebens zubilligen und niemanden ›zurücklassen‹ möchte.

Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 175

5. Alterität als Orientierung und maßgeblicher Unterschied?

Als historische Antwort auf die Programmatik rigoroser rassistischer Exklusionen, die auf das genaue Gegenteil hinausliefen, ist das nur allzu verständlich. Aber traut man sich nicht in beiden Fällen – sei es durch Exklusion, sei es durch Inklusion – einen weitestgehenden Zugriff auf die Alterität Anderer zu, die man für eine Angelegenheit ihrer Verschiedenheit und Diversität hält, welche man sich per Ausschluss vom Leib zu halten versucht (wie auch der dem Anschein nach liberale »Ethnopluralismus« eines Alain de Benoist) oder als angeblich nur ›bereichernde‹ integrieren und rückhaltlos anerkennen möchte? In beiden Fällen kann alles Unterscheiden Anderer auf eine einzige, vermeintlich klare und Subjekten der Unterscheidung zur Disposition stehende orientierungswirksame Maßgabe hinauslaufen: Andere nach eigenem Gutdünken auszuschließen oder sie ohne Wenn und Aber in jeder Hinsicht einschließen zu wollen. Beide Fälle laufen darauf hinaus, die Lehren, die uns sei es ›postmoderne‹, sei es ›dekonstruktive‹ Analysen der Problematik der Unterscheidbarkeit als solcher wie im Falle Umberto Ecos erteilt haben, nicht ernst zu nehmen. Zu den wichtigsten dieser Lehren gehört, dass eben diejenigen, die alles Unterscheiden souverän in der eigenen Hand behalten wollen, Gefahr laufen, rigorose Gewalt heraufzubeschwören, die Andere nicht etwa als ›Verschiedene‹ und Unterscheidbare einfach vorfindet, sondern mangels ›klarer‹ Differenzierbarkeit zu Mitteln dezisionistischer Selbstermächtigung in einer Welt greift, in der es rückhaltlos der Verantwortung unserer sozialen Verhältnisse selbst überlassen bleibt, mit einer unaufhebbaren Alterität umzugehen, der weder mit rigorosen Exklusionen noch mit alle umfassenden Inklusionen je beizukommen sein wird. Insofern irritiert der Diskurs der Alterität, der darauf hinweist, zutiefst und scheint wenig dazu geeignet zu sein, unserer Orientierung in einer vielfach als außerordentlich ›unübersichtlich‹ beschriebenen Welt zugute zu kommen. Man könnte auch sagen: Er desorientiert, insofern er uns auch jede vermeintlich gute, gerechte und gewaltkritische Orientierung, auf die man sich in dieser Lage eindeutig glaubt stützen zu können, aus der Hand schlägt und in diesem Sinne zumindest vorübergehend die »Kraft zur Entbestim176 | Kapitel IV 

mung« vor allem von Gegensätzen hat75 , an denen man sich auf fragwürdige Weise orientiert, wenn man ihre (etwa im Taoismus vielfach bedachte) Interferenz und Auflösung nicht realisiert. In der Entbestimmung des vermeintlich Eindeutigen und eindeutig Gegensätzlichen geht es aber nicht darum, jegliche Orientierung zu zerstören, sondern sie vor einer Selbstgerechtigkeit zu bewahren, die uns glauben ließe, nach gewissen Normen, Regeln und Maximen mit dem, was ›draußen‹ bleibt, und mit denjenigen verfahren zu können, die in alternativen Zugehörigkeiten und Mitgliedschaften nicht aufgehen.76 So gesehen kann die Funktion der Vernunft in dieser Lage nicht allein die sein, mit Lebensunsicherheit irgendwie zurechtzukommen, wie es Blumenberg nahelegt (BM, 74) – ob mit oder ohne weitergehende ›pragmatische‹ Orientierung am richtigen, guten, besseren oder noch besseren Leben, wie sie von Platon über Kant bis hin zu Alfred N. Whitehead beschrieben worden ist. Verhält sich menschliche Vernunft überhaupt zum Anderen, ohne sich jener tiefen »Alteritätsvergessenheit« schuldig zu machen, die zuletzt Marcel Hénaff – zweifellos in Anspielung auf Heideggers Rede von einer »Vergessenheit der Differenz als solcher« (Kap.  II, 4)77 – quasi der ganzen abendländischen Philosophiegeschichte zum Vorwurf gemacht hat, so muss sie sich auf ein immer neues Desorientiertwerden durch eine irritierende Alterität einlassen, mit der sie nicht gemäß klarer Normen oder anderer Maßgaben wird verfahren können. Sie ›muss …‹ kann hier nur bedeuten, dass es unvermeidlich ist, will man dem vorbeugen, dass sich das ›Vergessene‹ gewaltsam in Erinnerung bringt. Wie es scheint, mündet diese ganze Problematik in die Frage nach einer Gewalt, die wir weder einfach hinnehmen noch auch abschaffen können. Bis auf Weiteres ist aber die Beunruhigung, die darin liegt, einer fadenscheinigen Ruhe allemal vorzuziehen, die uns glauben machen würde, wir seien dem und den Anderen bereits gerecht geworden oder das sei in einer besseren, bereits angebrochenen Zukunft zweifellos möglich. Dafür bürgen heute weder politische Utopien noch auch Finalisierungen der Weltgeschichte oder Eschatologien, die mit Jaspers oder anderen Geschichtsphilosophen auf »das Letzte« hoffen lassen. In einem zwischenzeitlichen, praktischen Leben, das sich einer angeblich alles verändernden Zeitlichkeit ausgesetzt sieht, kommt Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 177

es weniger auf weit zurückliegende Ursprünge oder ferne Ziele, die als solche ohnehin von einem weitgehenden Glaubwürdigkeitsverlust betroffen sind, als vielmehr darauf an, sich im Verhältnis zu Anderen zu orientieren.78 Was zwischenzeitlich geschieht und möglich wird, hängt wie etwa die jetzt gebotene Sorge für Andere, der Sinn gegenwärtig zu realisierenden Zusammenlebens und geteilter Solidarität eben nicht von der Einsichtigkeit einer ursprünglichen arché oder von einem alles terminierenden télos ab. Wenn uns weder eine Archäologie unseres natürlichen Seins noch auch eine Teleologie geschichtlicher Vernunft lehrt, was, wie und im Hinblick worauf zu tun ist, bleibt dann anderes, als sich jetzt mit Anderen über all das ins Benehmen zu setzen? Wenn aber darüber hinaus nicht länger als ausgemacht gelten kann, wer denn diese ›Anderen‹ sind (wenn nicht schlicht und einfach Mitglieder der eigenen polis, Mit-, »Reichs-« oder Weltbürger in einem bereits fest etablierten syngenealogischen oder politisch-rechtlichen, faktischen oder bloß eingebildeten Rahmen), ist auch die Frage nicht zu umgehen, was sie als Andere überhaupt ausmacht, sofern sie nicht einfach als Andere von unseren Gnaden gelten sollen, die wir selbst darauf festlegen, wer sie sind – wie Angehörige, Freunde, Nachbarn oder auch Feinde, von denen wir uns um jeden Preis unterscheiden sollten, wenn es nach Carl Schmitts eigentümlich diabolisch verschärftem Katholizismus geht. Nicht zuletzt die radikale Gewalt, die aus solchen Ansätzen hervorgegangen ist, hat schließlich zur Besinnung auf die Alterität der Anderen geführt, die uns in keiner Weise zur Disposition stehen soll. So wurde sie jeglichem theoretischem und praktischem ›Zugriff‹ radikal entzogen – auch unserem Unterscheidungs- und Distinktionsvermögen, unseren Diskriminierungen und unserem Begehren nach Anerkennung. Speziell bei Levinas geschieht dies so radikal, dass man sich fragen muss, wie zu einem angeblich absolut Anderen überhaupt so etwas wie eine soziale ›Beziehung‹ denkbar sein soll, in der niemand nur unter dem einseitigen Blick eines Anderen existiert, sondern auch Wechsel- und Gegenseitigkeit möglich wird, in der er sich uns weiterhin entziehen mag, ohne je in einer Art von Relation aufzugehen. Dabei kommt es unweigerlich zu Unterscheidungen – wenn nicht gleich zwischen ›Freunden‹ und ›Feinden‹, wie es ein diabolisch-polemogenes Politikverständnis 178 | Kapitel IV 

glauben machen will, so doch zwischen Nächsten und Nachbarn, Dritten, Mitbürgern und anonymen Zeitgenossen, die uns in unterschiedlichsten Dimensionen der Verwandtschaft und der Ähnlichkeit, der Zugehörigkeit und der Mitgliedschaft mit der Frage konfrontieren, ob überhaupt und wie gegebenenfalls mit ihnen in einer paradoxerweise gemeinsam geteilten Welt zu leben sein soll, die es als solche, soziale und politische, nur durch uns selbst gibt – nicht weil wir uns ohnehin in einen metastabilen Kosmos oder in ein neuzeitliches Universum versetzt sehen. Wie Werner Stegmaier ausführlich gezeigt hat, ist kaum zu bestreiten, dass in einer solchen Lage Orientierungsproblemen ein hervorragender Stellenwert zukommen muss79 – gerade weil es nicht mehr zureicht, sich einfach an etwas zu orientieren, was bereits eindeutig genug ›da‹ wäre, um dafür in Betracht zu kommen. Das Gleiche gilt für die Orientierung an jemandem. Keine schlichte Orientierung an etwas oder an jemandem kann heute noch mehr als ›bis auf weiteres‹ und im Rahmen einer jeweils gegebenen Situation genügen, betont Werner Stegmaier (Kap.  III, 1). Eben deshalb wird jede Philosophie der Orientierung zur reflexiven Besinnung auf Orientierung über Orientierungen gezwungen und muss die Frage aufwerfen, was sie unter heutigen, weitgehend deteleologisierten und temporalisierten Bedingungen leistet, die uns anscheinend jederzeit in unerwartete Richtungen verschlagen können, ohne dass man sich zwischenzeitlich noch an Ursprüngen und letzten Zielen ausrichten könnte. Wenn sie nun antwortet, Orientierung sei die Leistung, sich – »wenn [!] man überhaupt [!] weiterkommen will« – »in einer Situation zurechtzufinden, um Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sich die Situation beherrschen lässt« (Kap.  III, 1), und zwar mit Hilfe bestimmter entscheidender, puren Dezisionismus meidender Anhaltspunkte, so ist das ernüchternd. Sich irgendwie zurechtfinden wollen, um überhaupt weiterzukommen (falls man das will), das klingt nach einem hypothetischen und volitional bestimmten Minimalziel der Vermeidung von Ausweglosigkeit und Lähmung. Wenn aber das Sichzurechtfinden und Weiterkommen bereits Ausdruck jenes »Willens zur Macht« sein soll, dem sich Nietzsche verschrieben hat, stellt sich die Frage, ob der nicht auf mehr hinauswollen müsste als auf »bloße Fortsetzung überhaupt«, wovon auch immer – wenn Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 179

schon nicht der Suche nach der Verwirklichung des Guten bzw. des Bestmöglichen, wie manche sie mit Aristoteles und Platon bis heute beschreiben, oder wenigstens nach einer unvermeidlich nicht-idealen Gerechtigkeit, wie man sie von Kant bis John Rawls und Judith Shklar unter Berufung auf einen unabdingbaren Sinn für Ungerechtigkeit für unverzichtbar gehalten hat, oder – wenn all das aussichtslos ist – nach äußerster Intensität eines sich verschwendenden Lebens, dem es nicht darauf ankommt, es länger als unbedingt nötig unter unerträglichen, ›unlebbaren‹ Bedingungen auszuhalten …80 Lässt man sich so oder so auf Andere ein, wird man, wie Werner Stegmaier feststellt (Kap.  III, Einleitung), die Erfahrung machen, dass sie sich kommunikativ »unvermeidlich von unterschiedlichen Standpunkten aus orientieren«. Man wird also feststellen, dass die Orientierung des Einen nicht ohne weiteres die Orientierung des Anderen ist, nicht einmal dann, wenn beide sich der gleichen Worte, Symbole und Zeichen bedienen. 81 Genau damit müsste man sich wiederum zurechtfinden, bevor an irgendeine Form der Bewältigung der daraus sich ergebenden Situation zu denken wäre. Werner Stegmaier betont wiederum mit Recht, dass in diesem Falle das Sich-Zurechtfinden zunächst »nur für den Sich-Orientierenden selbst, nicht schon für Andere« gelten würde. Genau hier stellt sich, wenn man damit nicht ›weiterkommt‹, das Problem des Ausgleichs differenter Orientierungen gleichsam im Durchgang durch die Alterität des Anderen, die man, wenn ihr tatsächlich radikale Bedeutung zukommt, niemals ganz und gar in der eigenen Gegenwart aufheben kann. Unter dieser Voraussetzung muss man sich dann im Verhältnis zu Anderen, deren Alterität in unaufhebbarer Art und Weise irritiert, an ihnen orientieren, wobei die Orientierung als Teil der Situation (wie sie Werner Stegmaier beschreibt) wiederum wohl nicht zugleich hinsichtlich dieser Situation selbst orientieren kann. Im Verhältnis zum Anderen kann ich jedenfalls nicht zugleich außerhalb dieses Verhältnisses stehen und in beiden Hinsichten zugleich so gut wie möglich orientiert sein. Meine Orientierung in der einen Hinsicht hat meine zumindest vorübergehende Desorientierung in der anderen Hinsicht als Kehrseite. Es scheint, dass das, was man gewöhnlich ›Beziehung‹ zu Anderen nennt, nur um den Preis zu haben ist, dass man zumindest zeitwei180 | Kapitel IV 

lig, solange man sich im Verhältnis zu ihnen befindet, das Orientiertsein hinsichtlich dieser Beziehung selbst einbüßt. Vermutlich hatte bereits Martin Buber genau dies im Sinn, als er die Rede vom bzw. zum Anderen als ›Du‹ strikt, wahrscheinlich zu strikt, von der Rede über Andere als Dritte trennte. 82 Dabei leuchtet doch sofort ein, dass man durchaus in einem ›dialogischen‹ Verhältnis zu Anderen um sie als Dritte weiß und dass umgekehrt jedes Reden über Andere als Dritte gleichsam unter dem Vorbehalt steht, sich von dem Moment an womöglich ganz anders darzustellen, in dem man ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt. Dies kann aber niemals gänzlich situationslos geschehen, wie es Buber stellenweise nahegelegt hat. Selbst wenn zwischenzeitlich in einem anscheinend unvermittelten, geradezu ›weltlosen‹, alles Andere ausblendenden Miteinander jegliche Orientierung aussetzt 83 , früher oder später wird sich doch wieder eine Lage einstellen, in der es darauf ankommt, sich »durch Unterscheiden« zu orientieren84 , wie Werner Stegmaier schreibt, wo er die – vorerst offen bleibende – Frage aufwirft, ob »das Problem der Alterität« nicht womöglich genau darin auch »gründet«, so aber, dass Alterität zugleich als »Horizont, also [als] die unüberschreitbare Grenze des Sich-Orientierens durch Unterscheiden« gelten muss (Kap.  III, 1). Dabei fragt es sich, ob es überhaupt ›das‹ Problem der Alterität gibt und ob es sich gleichsam topografisch zähmen lässt, indem man beispielsweise auf phänomenologisch vielfach durchgespielte Modelle wie die Perspektivik und Horizontstruktur menschlicher Erfahrung zurückgreift. 85 Zum ›Problem‹ der Alterität bemerkt Ricœur, Letztere erweise sich (ironischerweise) als anders als sie selbst, so dass der Begriff bis auf weiteres unumgänglich äquivok bleibe. Andernfalls höbe nämlich »die Andersheit sich auf, indem sie das Selbe wie sie selbst wird  …«. 86 Dieser Befund ist auch gegen Levinas zu wenden, in dessen Werk sich zwar vielfältige und prima facie ganz heterogene Spuren einer altérité finden, die ihm offenbar zuerst als erotische begegnet ist. 87 Doch Alterität ist weder für die Andere als weibliche noch auch für den oder die Anderen im Allgemeinen zu reservieren. Sie tritt vielfältig auf, in uns selbst als intransparent verkörpert Existierenden, so dass auch das Selbst förmlich comme un autre vorzustellen ist, im Verhältnis zum Nächsten, zu Dritten, zu anonymen Zeitgenossen, Vor- und Nachfahren, Toten und Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 181

Ungeborenen; aber auch als jegliches Vergleichen von ›Anderem‹ (das sich als ›anders als‹ wieder Anderes erweist) Unterlaufendes oder Transzendierendes. So lässt sich Alterität schwerlich eindeutig topografisch ›orten‹, sei es in uns selbst, sei es im Anderen, im Subversiven oder Transzendenten jenseits ihrerseits vielfältiger Grenzen unserer Erfahrung. Insofern entzieht sie sich auch einer Philosophie, die auf ihr aufbauen möchte wie auf einem verlässlichen Fundament bzw. auf einem verlässlichen Grund. Auf Alterität lässt sich womöglich gar nichts ›gründen‹, so wenig wie auf Situationen und Orientierungen. Zunächst grund-los, an-archisch orientieren wir uns in Situationen, die sich jederzeit als andere herausstellen können, wenn es denn zutrifft, dass sie unvermeidlich etwas ›draußen‹ lassen, jenseits gewisser Grenzen, die sie niemals ganz überschreiten können. Es gibt ja keine absolute Situation aller möglichen Situationen, in der sie alle aufgehoben zu denken wären. Dementsprechend kann es wohl auch keine Orientierung aller Orientierungen geben; zumal, wenn eine Orientierung eine andere durchkreuzt und sich als mit heterogenen Orientierungen inkompossibel erweist. Wir wissen nur: ›es gibt‹ Situationen; und ›es gibt‹ Orientierungen, in denen wir uns so oder so unvermeidlich und ›immer schon‹ vorfinden, die in vielfältigster Art und Weise von innerer und äußerer Ander(s)heit affiziert sind, ohne dass immer deutlich wäre, ob und wie letztere überhaupt maßgeblich werden muss. Ironischerweise hat gerade Levinas, indem er die Ander(s)heit des Anderen zur Meisteralterität erhob88 , dem Diskurs über Alterität keinen Gefallen getan, glaubte er auf diese Weise doch offenbar das Überborden einer ubiquitär auftretenden, uns selbst, Andere und die Welt verändernden und verandernden Alterität in den Griff zu bekommen, um ihr eine ethisch eindeutige Bedeutung beimessen zu können. Dafür spricht, wie er sie als imperativische »gute Gewalt« 89 beschreibt, die uns nicht aus der Verantwortung für den Anderen entlasse und geradezu zu Geiseln dessen mache, wonach ›er‹ verlange. Träfe das zu, so müsste die Befreiung aus dem Sein, aus aller Dialektik und zwanghaften Identität, für die der Diskurs der Alterität zunächst zu stehen schien90 , umschlagen in eine neue Form der Subordination bzw. erzwungener Unterwerfung oder freiwilliger Knechtschaft; und aus der unübersehbaren 182 | Kapitel IV 

Vielfalt schillernder ›Differenzen‹, die uns zu unterscheiden und zu orientieren zwingen, würde genau eine nicht-äquivoke ethische Bedeutung des Anderen unanfechtbar herausragen – als wären wir nicht gerade darin rückhaltlos darauf angewiesen, miteinander und im Dissens erst herauszufinden, wer der oder die jeweils ›nächste‹, ›wichtige‹, ›relevante‹, Beachtung verdienende, unserer Unterstützung bedürftige oder auch in Schach zu haltende Andere jeweils ist. Keinesfalls kann die Ethik der Alterität, die nur einem nicht-äquivoken ›Anderen‹ verpflichtet scheint, den sublunaren Schwierigkeiten des Sichorientierens und des (Sich-)Unterscheidens einfach entgehen. Indem sie sich für diese öffnet, kann sie allerdings zugleich deutlich machen, wie sich die Alterität des Anderen jeglichem Sichorientieren, Unterscheiden, Zurechtkommen und Weitermachen entzieht und gegebenenfalls auch widersetzt. Infolgedessen kann es zu einem merkwürdigen Paradox kommen: Aufklärung über den Zusammenhang von Orientierung und Alterität hat womöglich desorientierende Folgen, wenn sich Letztere in keiner Reorientierung aufheben lässt, die eindeutig besser wäre. Eine derart eindeutige Richtungsorientierung ist uns, wie es scheint, endgültig abhanden gekommen. Doch das ist kein bloß resignatives Resultat. Wie Umberto Eco anhand des Mönchs William zeigen kann, beginnt vielleicht erst mit dem Verzicht auf vermeintlich eindeutiges Wissen in dieser Hinsicht die ›menschliche‹ Hinwendung zum Anderen als solchem. Erst wo wir uns eingestehen, uns nicht von uns aus genügend auszukennen und letztlich überhaupt nicht ›auskennen‹ zu können, wo es um Andere als solche geht, wo wir uns insofern als rückhaltlos ihnen ausgesetzt begreifen, gibt es womöglich eine Chance, ihnen überhaupt zu begegnen. Doch das enthebt uns in keiner Weise der Frage, wie und woran wir uns im Zeichen des Anderen in einer verwirrenden Pluralität anderer Anderer orientieren können und sollten.91 Nach dem befreienden Verlust vermeintlich eindeutiger, allerdings höchst gewaltträchtiger Orientierungen, mit dem wir seit dem Anbrechen der Neuzeit weiterhin leben müssen – und endlich leben dürfen –, taugt eine univoke Alterität nicht als probates Surrogat, das uns in dieser Hinsicht entlasten könnte.

Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen | 183

K APITEL V Bilanz A Angewiesenheit von Orientierung und Alterität ­aufeinander  – Werner Stegmaier –

1. Keine ›absolute Orientierung‹

Im Wandel des Orientierungsverhaltens, wie er sich in den geistesgeschichtlichen Epochen abzeichnet, die wir zu unterscheiden pflegen, lässt sich ein Zug zur Freigabe von mehr Kontingenz erkennen. Auf sie kann dann, in Burkhard Liebschs Zuspitzung, mit krass verengten Unterscheidungstechniken und Identifikationsangeboten wie dem des Freund-Feind-Denkens nach Carl Schmitt reagiert werden, das autoritären Politikstilen entgegenkommt. Autoritäre Politik scheint inzwischen auf der ganzen Welt wieder Konjunktur zu haben – nun aber wird sie entschlossen, wenn auch nicht immer erfolgreich, von großen Teilen der Bevölkerungen offen und mit internationaler Unterstützung bekämpft. Die in vielem kontingenten demokratischen Entscheidungsprozesse werden, jedenfalls in der westlichen Wahrnehmung, auf Dauer von der überwiegenden Mehrheit der Menschheit vorgezogen. Autoritäre Macht, die eine ›absolute Orientierung‹ für sich beansprucht, muss immer weiter in die Extreme, auch die Extreme der physischen Gewalt, gehen, erzeugt dadurch immer stärkere Widerstände und muss darum immer mehr um ihren Sturz fürchten. In der Dynamik einer global pluralisierten Welt erweisen sich alle absoluten Prätensionen als durchsichtig, brüchig und unhaltbar. Umso mehr kommt es auf die Orientierungs- und Lebenskunst der Einzelnen an, mit Orientierungsangeboten jeder Art kritisch umzugehen.1 Alle können nun, sofern sie über die entsprechenden Informationen verfügen, sehen und, sofern sie die Wahl haben, entscheiden, worauf sie sich in ihren politischen Orientierungen einlassen. Doch natürlich können Informationsangebote und Wahlmöglichkeiten politisch nach wie vor stark und oft noch stärker als ehedem beschränkt sein. Dann steht man vor oft sehr persönlichen Entscheidungen, den Kampf gegen solche Beschränkungen, oft unter schweren Opfern, aufzunehmen oder nicht. Burkhard Liebsch überprüft die Sehnsucht nach einer ›absoluten Orientierung‹ an anderer Stelle: an der macht- und ideenpolitisch aufschlussreichen mittelalterlichen Welt- und GlaubensordBilanz A | 187

nung, soweit wir sie noch nachvollziehen können. Er zieht dazu einen ihrer besten Kenner, Umberto Eco, heran, der versucht hat, sie in seinem auch philosophisch ungemein erhellenden Roman Der Name der Rose pointiert darzustellen. Für unsere Zwecke, der Klärung der Beziehung von Orientierung und Alterität überhaupt, reicht es aus, uns an diese ebenso originelle wie durchdachte Darstellung zu halten. Wir nutzen sie als Gedankenexperiment, in dem historische Nachweisbarkeiten zurücktreten können. ›Absolute Orientierung‹ wird hier in Gestalt eines blinden Mönchs präsentiert, der die geheiligte Ordnung der Welt, an die er glaubt, mit allen Mitteln zu verteidigen trachtet – und damit scheitert. Die Leitidee ist, dass das Absolute, wie Burkhard Liebsch dargestellt hat, den Humor, die Komik, das Lachen nicht erträgt. Denn sie lassen Absolutes einfach nicht gelten, gehen auf Distanz zu ihm, konfrontieren es in mehr oder weniger derben Witzen, Erzählungen, Komödien mit alltäglichen Lebenssituationen, in denen seine Prätensionen lächerlich werden. Humor ist die Kontraindikation gegen Sakralisierung: In diesem Sinn betrieb Nietzsche im aufbrechenden Nihilismus am Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner ›fröhlichen Wissenschaft‹ die Ent-täuschung aller absoluten Orientierungen.2 Eco macht in seinem fröhlichen, genüsslich karikaturistischen Roman, in dem sich auf unterhaltsame Weise ein Mord nach dem anderen ereignet, seinen Mönch Jorge zum Hüter einer einmaligen Bibliothek, in deren gesammelten Schriften die nach ihm ewige Orientierung niedergelegt ist, und konstruiert dafür symbolisch einen so verwinkelten Bau, dass nur dieser Mönch sich hinreichend in ihm orientieren kann. Die absolute Orientierung, die alle so leiten und verpflichten soll, dass sie keine Neuorientierung mehr erfordert, also aus dem Prozess der Orientierung eine ewige gültige Weltdeutung macht, wird als undurchsichtiges Geheimwissen aufbewahrt, das nur Auserwählten zur Verfügung steht, die dann die Macht haben, auf ihre Weise das mitzuteilen, was ihnen angemessen scheint. So bringt der Mönch konsequent all die ums Leben, die mit dem Buch des Aristoteles über die Komödie und das Lachen in Berührung kommen, dem Buch des für die mittelalterliche Theologie maßgeblichen Autors, das als verschollen gilt, in Ecos Erzählung aber in dieser Bibliothek noch vorhanden ist. Niemand soll vom Lachen wissen und mit dem Leben 188 | Kapitel V 

davonkommen. So wird das Leben im Kloster düster, es dünnt infolge der Morde nach und nach aus, und am Ende brennt die ganze Anlage mitsamt seiner unschätzbaren Bibliothek ab. Die absolute Orientierung ist zerstört und gerettet zugleich: Ihre materielle Dokumentation ist verloren, aber sie existiert weiter in den Köpfen der Inquisitoren, die nichts von Humor wissen dürfen und wollen. Die Inquisitoren als mächtige Herrscher über das Wissen vom ewig Gültigen aber bringt Eco nach einer anderen Seite in Schwierigkeiten. Er führt einen externen Beobachter ein, den Sonderinquisitor William, den inmitten von Kirchenkämpfen nicht der Papst, sondern der Kaiser zur Aufklärung all der Morde entsendet. Eco bildet ihn dem Nominalisten William von Ockham nach, der an absolute Orientierungen nicht mehr zu glauben geneigt ist, und erzählt das Ganze aus dessen Perspektive, die er nochmals durch die Perspektive von Williams jungem Adlatus und Schreiber bricht, der die Geschichte in großem Zeitabstand und damit in ­einer schon veränderten Orientierungssituation niederschreibt; Eco selbst will dessen Niederschriften aufgefunden haben. Als Nominalisten glauben die drei an kein scheinbar an sich bestehendes, in Begriffen vorhandenes Allgemeines mehr, sondern halten sich an die Zeichen und Worte, in denen sich, immer perspektivisch, Menschen untereinander mitteilen. So können sie beobachten, wie die bestallten Inquisitoren daran scheitern, die absolute Orientierung durch geeignete Unterscheidungen in haltbare Begriffe zu fassen. Die Inquisitoren müssen die prätendierte absolute Orientierung weniger gegen den Humor – ernst ist es hier allen, nur William gesteht Eco eine leise Ironie zu – als gegen unzulässige Abweichungen von ihren Unterscheidungen verteidigen, in ihren Augen gegen Häresien oder Ketzereien, die ihrerseits ein Unbedingtes, Absolutes für den gemeinsamen christlichen Glauben suchen und meist weit kompromissloser als die ›rechtgläubigen‹ Inquisitoren. Man hat es nach heutigen Begriffen mit Alteritäten zu tun, die einander hart bekämpfen. Burkhard Liebsch legt das Problem jedoch tiefer und lokalisiert es hier »primär darin, wie man überhaupt ›unterscheiden‹ können soll, weniger darin, woran man sich dabei zu orientieren hat«. Denn man hat ja, aus der Sicht Williams, seines Adlatus, des angeblichen Herausgebers Eco und damit auch der Leser*innen der Erzählung, Bilanz A | 189

nur die Zeichen, mit denen man unterscheidet. Aber die Zeichen sind nicht haltlos: Man bezeichnet durch sie Unterscheidungen, die man anhand von Anhaltspunkten trifft – im Fall der Morde sind das kriminalistische Indizien, in denen William nach und nach ein Muster findet, das zur Aufklärung führt. Er kann sich an ihnen durchaus erfolgreich orientieren – Eco stellt ihn als meisterlichen Kriminalisten dar –, und er kann es in dieser Situation nur anhand von zueinander passenden Anhaltspunkten. Und am Ende findet er auch den Weg durch die gezielt desorientierend angelegte Bibliothek und rettet damit sich und seinen Adlatus. Auf dieser Ebene führt Eco vor, wie sich auch und gerade Nominalisten, die sich auf die immer unterschiedlich deutbaren Zeichen verlassen, durchaus erfolgreich orientieren können. Für den religiösen Glauben an einen unsichtbaren Gott, zu dessen Geboten es gehört, sich keine Bilder und Begriffe von ihm zu machen, der also in aktuellen Begriffen ein schlechthin Anderer bleiben will, wird die Orientierung an Zeichen und den Anhaltspunkten, an die die Zeichen anknüpfen können, ein besonders schwieriges und letztlich unlösbares Problem. So lässt Eco selbst die klügsten Inquisitoren und ihre Mitarbeiter, denen, vorgeblich im Namen Gottes, die härtesten Mittel, darunter brutale Foltern, zur Verfügung stehen, daran scheitern. Da hier alle ›äußeren‹, d. h. von allen beobachtbaren Zeichen täuschen können und so der unbedingte Glaube selbst die letzte Instanz ist, brauchen die Inquisitoren Geständnisse der ›Ketzer‹ selbst, in denen sie ihre Überzeugungen und Beweggründe bekunden; sie müssen sie selbst als verkehrt erkennen und ihnen abschwören. Aber gerade unter Androhung schwerster Foltern ist kaum Aufrichtiges und Richtiges zu erwarten. So kommen, in dieser extremen Situation, in der Tat Zweifel an der Unterscheidbarkeit überhaupt auf – doch nur in Sachen absoluter Glaubensgewissheit, nicht in jeglicher Orientierung überhaupt, nicht im alltäglichen Leben und nicht in Williams kriminalistischer Orientierung an den Zeichen. Es ist die ›absolute Orientierung‹, die in die Krise gerät, nicht die Orientierung als solche. Und wie durch den Humor, so öffnen sich auch durch das Scheitern der Inquisition die Spielräume der Orientierung wieder, in der es nichts Absolutes gibt und geben kann und jeder seinen Weg suchen und finden muss. Am Ende gehen in Ecos Roman alle ihrer Wege. 190 | Kapitel V 

Der Nominalist, der nicht mehr an die Realität, das An-sichBestehen, die Unbedingtheit oder Absolutheit allgemeiner Begriffe und allgemeiner Ordnungen glaubt, ist über die päpstlichen Inquisitoren schon hinaus, weil er sieht, dass Unterscheiden immer auch eine Sache des Entscheidens ist, welche Unterscheidung und welche Seite der jeweiligen Unterscheidung von Fall zu Fall gewählt wird (Kap.  I, 4); er kann sich, um es selbstbezüglich auszudrücken, in seiner eigenen Orientierung orientieren, beobachten, warum er wie in welcher Situation unterscheidet und entscheidet. So gewinnt er, in Ecos moderner Adaption, auch zu seinen eigenen Entscheidungen für Unterscheidungen ironische Distanz und kann wenn nicht über sie lachen, so doch den Spott über sie ertragen. Die Einsicht in die Entscheidbarkeit der Unterscheidungen aber schließt das Recht Anderer zu anderen Unterscheidungen ein, und der Nominalist in Ecos Roman rechnet mit ihnen und beweist dabei mehr Rücksicht, Umsicht, Weitsicht und Voraussicht als alle andern. Mit seinen ausgeprägten Orientierungstugenden kommt er weiter, findet er Wege auch durch das festgemauerte Labyrinth der ›absoluten Orientierung‹, dessen Hüter sich selbst zerstören müssen, wenn sie sie untergehen sehen. Er löst die kriminalistischen Orientierungsprobleme und löst zugleich die Glaubwürdigkeit der absoluten Orientierung auf. In einer absoluten Orientierung wäre alles immer schon unterschieden und entschieden, man stünde nicht vor einer Wahl, sondern wäre in allem fest gebunden und fände rundum Halt. Um es paradox zu formulieren: Eine absolute Orientierung würde Orientierung überhaupt erübrigen. Aber man fiele damit aus der Zeit, und in der Orientierung als fortlaufendem Orientierungsprozess geht es eben darum, in seinem Weltverständnis ›mit der Zeit gehen‹ zu können. Eine ›absolute‹, der Zeit und den unablässigen Veränderungen, die sie mit sich bringt, enthobene und in diesem Sinn ›unbedingte‹ Orientierung müsste sich eo ipso nicht in unübersichtlichen Situationen zurechtzufinden und mit ihnen zurechtzukommen, sondern alles wäre schon vollkommen übersichtlich und ›absolut klar‹, und so geben es die mittelalterlichen ›Summen‹ auch vor, die freilich nur Auserwählte studieren können. 3 Orientierung wird, im Großen und Kleinen, eben dann notwendig, wenn man verstanden hat, dass es für Menschen, die sich die Welt durch vielfältige AnBilanz A | 191

haltspunkte, Zeichen und Sprachen in unterschiedlichen Perspektiven erschließen, nichts Fertiges, Endgültiges und zeitlos Allgemeingültiges und in diesem Sinn ›Absolutes‹ gibt und geben kann. Eine Philosophie der Orientierung kam, wie beschrieben, 4 in einer vergleichbaren Situation der Geistesgeschichte auf, am Ende des 18. Jahrhunderts, als auf dem Höhepunkt der Aufklärung in Europa wieder alles, nun jedoch in Distanz zu Gott und Kirche, hinreichend ›klar‹ zu werden versprach und eine ›absolute Orientierung‹ durch ›bloße Vernunft‹ möglich zu werden schien; das große Zeitdokument dafür ist D’Alemberts und Diderots Encyclopédie raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. 5 In Deutschland brachte da der entschiedene Christ Friedrich Heinrich Jacobi den praktizierenden Juden und hochgerühmten Aufklärer Moses Mendelssohn mit der Frage in Bedrängnis, ob dessen Freund, der verstorbene Lessing, ebenfalls ein Held der Aufklärung, Spinozist gewesen sei, was, in Deutschland, damals auch bedeutete: ein durch und durch verwerflicher Atheist. Wenn aber Mendelssohn das Christentum für vernünftig halte, wozu er, der den Juden ein emanzipiertes Leben in den christlichen Staaten ermöglichen wollte, sei es aus Überzeugung, sei es aus Vorsicht, sich bekannte, dann sollte er sich nach Jacobi vernünftigerweise auch zu ihm auch bekennen. So würden sich Glaube und Vernunft in einem Wissen vom Absoluten versöhnen. Die ›Alterität‹ von Juden und Christen wurde vom Christen Jacobi bewusst übersprungen, Mendelssohn und mit ihm sein Freund Lessing sollten vereinnahmt werden. Damit konfrontiert verwies Mendelssohn auf das Bedürfnis der so leicht fehlgehenden spekulativen Vernunft, sich am ›gesunden Menschenverstand‹ »zu orientieren«, der dann seinerseits durch die ausgefeilte Unterscheidungstechnik der Vernunft »korrigiert« werden könne. 6 Er machte das vermeintlich Unbedingte abhängig von Bedingungen der alltäglichen Orientierung, wie sie im ›gesunden Menschenverstand‹ zum Ausdruck kommen, und hielt es so in der Schwebe. ›Sich orientieren‹ hieß für ihn zunächst ›Innehalten‹ mit Unterscheidungen, die übergriffig zu werden drohen, um über ihren Gebrauch reflektiert zu entscheiden. Aufs neue standen sich so ›absolute Orientierung‹ und ›Sich-Orientieren‹ gegenüber. Und nun setzte sich das immer neue ›Sich-Orientieren‹ gegen das starre Festhalten an ›absoluten Orientierungen‹ durch. 192 | Kapitel V 

Kant, der dem über der Konfrontation gestorbenen Mendelssohn post mortem zu Hilfe zu kommen und zugleich die Brauchbarkeit seiner Kritik der reinen Vernunft auch in dieser Frage demonstrieren wollte, erweiterte umsichtig den durch Jacobi enggeführten religionsphilosophischen Diskurs auf das ›Sich-Orientieren‹ überhaupt, nicht nur ›im Denken‹, sondern auch im Raum. Dabei zeigte sich, dass ›Sich-Orientieren‹ weder als Wahrnehmen noch als Denken, also nicht mehr nach der herkömmlichen Scheidung des Erkennens in Wahrnehmen und Denken, zu fassen ist, der auch er, Kant, noch folgte. Rechts und links kann man, war seine frühe ebenso schlichte wie irritierende Einsicht, kann man weder wahrnehmen noch zirkelfrei logisch bestimmen. Nach Kant brauchte und durfte man sich hier aber auch nicht auf den gesunden Menschenverstand verlassen, der für ihn nichts Haltbares bot. Vielmehr habe die reine Vernunft, die sich zu absoluter Erkenntnis fähig hält, dort, wo sie mit ihren Prinzipien in der gegebenen Welt nicht weiterkommt, selbst das »Bedürfniß«, »sich zu orientiren«.7 Konkret zeigte sich das für Kant in der Frage, ob man allein mit den Pflichtbegriffen der reinen praktischen Vernunft leben kann oder nicht doch hoffen können muss, in der Erfüllung seiner Pflichten auch glücklich zu werden, hoffen auf einen gütigen Gott, der nach seiner Einsicht und auf seine Weise, die sich den Menschen nicht erschließen, die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Kant machte dabei den erstaunlichen Schritt, den Begriff der Vernunft selbst zu paradoxieren: Er konzipierte den Begriff eines »Vernunftglaubens«, 8 mit dem die reine Vernunft über sich selbst hinausgeht, die Bedingtheit ihrer vermeintlichen Unbedingtheit erkennt und sich auf die Bedürfnisse des konkreten Lebens einlässt. Sie muss sich nach Kant jener Hoffnung und jenem Glauben nicht ergeben, sie kann entscheiden, ihrem Bedürfnis zu folgen oder nicht; die ›absolute Orientierung‹, soweit es sich beim ›Vernunftglauben‹ an Gott weiterhin darum handelt, ist stets bedingt durch die Entscheidung der Einzelnen für oder gegen sie. Die aus einem Bedürfnis kommende Entscheidung für eine – lebens­wichtige – Unterscheidung kam mit Kants Abhandlung »Was heißt: Sich im Denken orientiren?« vor die Unterscheidung überhaupt und damit auch vor alle scheinbar an sich bestehenden Unterschiede zu stehen. Auf diese Weise kam der Begriff der Orientierung in den philosophiBilanz A | 193

schen Diskurs, und hierin besteht sein eigentlicher Sinn. Er wurde darin so plausibel, dass die Vernunft schließlich selbst als ein Orientierungsmittel unter anderen eingestuft wurde.9 Kant ging es bei seiner Frage weiterhin um eine definitive Klärung, nun des Problems, ob und wie weit auf dem Gebiet der Moral und Religion die Annahme von ›Absolutem‹ unter Lebensbedingungen haltbar ist. Um weiterhin etwas Festes in der Hand zu haben, wollen heute manche, auch wenn sie die Vorordnung des ›Sich-Orientierens‹ vor dem ›Erkennen‹ und dem ›Wissen‹ anerkennen, auf ein »Orientiertsein« bauen, in dem der Prozess der Orientierung abgeschlossen ist. Von einem solchen Orientiertsein erwartet man sich zwar keine ›absolute Orientierung‹ mehr, aber doch eine von langer Hand erworbene Grundlage für alles übrige Wissen.10 Eine solche Annahme mag ihr gutes Recht haben. Vieles in einer lange eingespielten Orientierung ändert sich kaum noch und erscheint dann als mehr oder weniger gefestigtes Wissen. Ein solches Wissen beruhigt – was aus der Sicht einer Philosophie der Alterität jedoch beunruhigt, eben weil mit den Veränderungen auch Anderheiten randständig zu werden drohen (Kap.  IV, 5). Doch kann man hier wiederum beruhigen: Unter Lebensbedingungen ist ein Orientiertsein eben nur so lange haltbar, wie die Situation sich nicht signifikant ändert, so dass sie neue Orientierungsbemühungen herausfordert, und die Situation ändert sich, wie gesagt, schon durch das Orientiertsein als solches, das die Situation wieder anders sehen und in ihr neue Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen lässt. In einem beruhigten Orientiertsein orientiert man sich anders, als wenn man unter dem Druck neuer Umstände und unter entsprechender Ungewissheit neue Orientierungsentscheidungen treffen muss. Und dann melden sich auch Alteritäten aller Art zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Nietzsches Rede vom Nihilismus sich zu verbreiten begann, brachte man jenes Orientiertsein auf den Begriff von ›Weltanschauungen‹ oder ›Weltbildern‹, die sich in jedem Leben ausbilden, fest fügen und sich lebenslang erhalten sollten. Davon konnte es nun freilich unbegrenzbar viele geben, und so wurden wiederum Übersicht schaffende Philosophien und Psychologien der Weltanschauung nötig, die sie nach generellen Merkmalen rubrizierten.11 Dagegen hat bereits Wittgenstein 194 | Kapitel V 

die Nähe des »Ich kenne mich nicht aus« und der »übersichtlichen Darstellung«, zu der es nötigt, zu einer ›Weltanschauung‹ in Frage gestellt, wenn nicht abgewiesen.12 ›Weltanschauungen‹ und ›Weltbilder‹ halten sich heute kaum mehr ein Leben lang und zeugen inzwischen eher von starr gewordenen und ideologiegeneigten Orientierungsfähigkeiten.13 In der Orientierung durch Unterscheiden und deren Grenze an der Alterität geht es stets um die Orientierung als Prozess, in dem es ein Orientiertsein in feststehenden Unterschieden immer nur unter spezifischen Bedingungen und auf Zeit gibt. Dass es sie immer nur auf Zeit gibt, hat eben mit der irritierenden und nie feststehenden Alterität zu tun, auf die die menschliche Orientierung vor allem bei anderen Menschen stößt. Sie hält den Orientierungsprozess am nachhaltigsten in Gang. 2. Alteritätszugewandte Orientierung

Burkhard Liebsch treibt darum andererseits das Bedenken um, »ob es überhaupt ›das‹ Problem der Alterität gibt«, ob man es in ein Problem zusammenfassen, aber auch, ob man es in viele ›Alteritäten‹ zerfallen lassen darf. Er befürchtet, dass man es schon dadurch »gleichsam topografisch zähm[t]«, dass man »auf phänomenologisch vielfach durchgespielte Modelle wie die Perspektivik und Horizontstruktur menschlicher Erfahrung zurückgreift«, mit deren Metaphorik die menschliche Orientierung in den ersten Grundzügen verständlich gemacht werden kann (Kap.  IV, 5). Stattdessen demonstriert er die »Unberechenbarkeit Anderer« an »anthropologischen Konsequenzen«, wie sie von Herder über Nietzsche und Gehlen bis hin zu Blumenberg am ›Mängelwesen‹ Mensch geltend gemacht wurden.14 Danach hat das Bewusstsein mit seinem erschließenden Denken und seiner ordnenden Vernunft, auf die die metaphysische Tradition der westlichen Philosophie so stolz gewesen ist, bis sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker ihre Grenzen zeigten, die Instinktsicherheit des menschlichen Handelns so geschwächt, dass eine Orientierung nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch die verbliebenen Instinkte unsicher und ungewiss geworden ist. Nach Burkhard Liebschs Hinweis hat Blumenberg dabei die Verletzlichkeit des Menschen Bilanz A | 195

schon durch seinen aufrechten Gang in den Blick genommen, seine Angreifbarkeit von Seiten, die er mit seinem Schauen in jeweils eine Richtung nicht gleichzeitig überschauen kann. Das verweist freilich aufs neue auf die Standpunkthaftigkeit und Perspektivik der menschlichen Orientierung. Und da Bewusstseine einander nicht durchschauen können, was durch den Ansatz einer allen gemeinsamen Vernunft leicht verdeckt wurde und wird, haben sie nach Blumenberg füreinander den Charakter eines »alles auf sich zentrierenden Nullpunktes des Welthorizontes«.15 So erleben sich Menschen gerade als bewusste noch stärker einander ausgesetzt. Die Metaphorik der Perspektivik könnte hier vollends unersetzbar und in diesem Sinn eine »absolute« Metaphorik sein.16 Andere ›sehen‹ einander von ihren jeweiligen ›Standpunkten‹ aus wie ›Fluchtpunkte‹, auf die sie wie in zentralperspektivischen Bildern hinsehen, um einander als Ganze in den Blick zu bekommen, ohne dass es da irgendetwas Aufschlussreiches zu sehen gäbe:17 Sie müssen sich zugleich an peripheren Anhaltspunkten wie Blicken, Gesichtern, Gebärden, Verhaltensweisen, Äußerungen usw. orientieren, um ›einen Eindruck‹ ihrer unthematischen und unerreichbaren Anderheit zu bekommen. Das reicht fürs Erste jedoch meist aus, um im Sinn von Husserls »bewährbarer Zugänglichkeit des original Unzugänglichen«18 in Kooperationen miteinander eintreten zu können, deren Erfolg wiederum aus den beiden Perspektiven unterschiedlich beurteilt werden kann. Mit wachsender Vertrautheit wird Vertrauen aufgebaut, d. h. es werden Anhaltspunkte für Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit (oder ihr Gegenteil) ausgemacht, an die Kooperierende sich halten, ohne auch hier jemals letzte Gewissheit zu haben. So werden Wege zum Umgang mit der Alterität erschlossen, ohne dass die Alterität als solche bestimmt würde. Sie bleibt unter Menschen immer ›Problem‹, und es nimmt nie eine einfache, leicht zu übersehende Form an. Man tritt, denke ich, auch Levinas zu nahe, wenn man ihn darauf festlegt, er wolle der Zuwendung zum Anderen eine ethisch allzu »eindeutige Bedeutung« (Kap.  I V, 5) geben. Denn auch Levinas sieht ja die Spielräume, die man hat, sich von Anderen in ihrer Not in Besitz nehmen zu lassen oder nicht. Eben weil sich diese Spielräume vielfältig deuten lassen, setzt er die Alterität nicht epistemologisch, sondern ethisch, wenn nicht religiös an und spricht dabei 196 | Kapitel V 

in pathetischen und vielfach deutbaren Gleichnissen. Das Ethische ist ebenso wie das Religiöse weniger als das Faktische an Anhaltspunkte der Situation gebunden, es kann sich als bloßes ›Sollen‹ oder, bei Levinas, als unentrinnbares ›Müssen‹ äußern. Im Sinn der Verantwortung für den Anderen, zu der Levinas aufruft, ist jedoch die Nicht-Bedeutung im Sinn der Nicht-Beachtung umso verletzender, an die Burkhard Liebsch erinnert, zumal in Gestalt eines bewussten Übersehens des Anderen. Das Übersehen ist im Deutschen bezeichnenderweise doppeldeutig, und als solches gehört es zu jeder Orientierung: Versucht man in einer Situation alles, was in ihr irgendwie relevant sein könnte, zu übersehen, übersieht man zwangsläufig Einzelnes und Einzelne, blickt über sie hinweg, sieht sie nicht (man sieht, um das Sprichwort umzukehren, vor lauter Wald die Bäume nicht). Das wirkt jedoch nicht verletzend (ein Bekannter betritt einen Raum voller Menschen, sieht sich um und sieht mich nicht). Übersieht man Andere aber bewusst, dann sieht man sie wohl, will sie jedoch nicht sehen. Das heißt dann: Man ist von einer oder einem Anderen wodurch auch immer derart irritiert, dass man sich auf dieses paradoxe Sehen einlässt, im Wissen, dass man dabei seinerseits beobachtet wird. Man riskiert bewusst die Brüskierung und gegebenenfalls die Demütigung der Anderen, die Kommunikation wird immer schwieriger, eine Kooperation kaum mehr möglich, worunter man dann selbst unter Umständen zu leiden hat. So verschwindet auch bei diesem paradoxen ›Übersehen‹ die Alterität nicht, sondern macht sich gerade als Problem bemerkbar. Ist jemand gegenüber Anderen in einer Machtposition, mag ihm oder ihr das gleichgültig sein. Dann wird ihm oder ihr aber die Verletzung der Alterität auch im Übrigen gleichgültig sein, sei es, dass ihm oder ihr die Sensibilität dafür fehlt oder dass sie hier aussetzt (man kennt die Beispiele von Kommandeuren von Vernichtungslagern, die für ihre Hunde hochsensibel blieben). Ansonsten kann das Übersehen im Sinn des Über-jemanden-Hinwegsehens auch eine Vorgeschichte in eigenen Verletzungen haben. In jedem Fall zeigen solche Irritationen, wie schwer es sein kann, mit Alterität zurechtzukommen, die sich immer dann zurückmeldet, wenn die betreffenden Anderen in irgendeiner Weise wieder ›in den Blick kommen‹. Es beunruhigt die eigene Orientierung immer, dass Andere andere Standpunkte, Perspektiven und Horizonte haben, die Bilanz A | 197

sie selbst nicht teilen kann. Zieht man sich jedoch in die unvermeidliche Egozentrik seiner eigenen Orientierung zurück oder ›geht auf Konfrontation‹ mit Anderen, zeigt man damit die Enge der eigenen Horizonte, die Begrenztheit seiner Orientierungsfähigkeiten und die Dürftigkeit seiner Orientierungstugenden und setzt sich damit erst recht den Anderen aus (Kap.  III, 4). Wie wäre, fragt Burkhard Liebsch weiter, unter den Bedingungen einer letztlich unberechenbaren Orientierung an Anderen eine tragfähige Sozialphilosophie möglich? Als ihr Fundament oder doch unverzichtbares Element erwartet er weiterhin die »Wechsel- und Gegenseitigkeit«, die ehemals durch die Annahme einer allen gemeinsamen Vernunft garantiert schien. Geht man von der Standpunkthaftigkeit und Perspektivität der individuellen Orientierungen aus, kann man eine solche Wechsel- und Gegenseitigkeit nicht mehr einfach voraussetzen, sondern muss sehen, wie sie  – in bestimmten Bereichen – zustande kommt. Man strebt sie in zwischenmenschlichen Orientierungen sicherlich an, um mit deren Differenzen zurechtzukommen, und dies gerade in modernen Demokratien, die auch dazu konstituiert sind, die individuellen Orientierungen so weit wie möglich freizusetzen. Um dennoch ein auskömmliches Zusammenleben zu gewährleisten, appelliert man darum überall an ›Gemeinschaft‹, was zeigt, wie wenig selbstverständlich sie geworden ist.19 Wo Werbungen und Appelle nicht ausreichen, setzt man auf Werte und Normen, die wiederum an sich bestehen, für alle gleich und also auch wechselseitig gelten sollen, und drängt auf Regeln und Gesetze, die man nach den Maßstäben der jeweiligen Werte und Normen formuliert. Doch es zeigt sich dann, dass etwa in einer Pandemie, die von allen ein solidarisches Verhalten fordert, auch Werte und Normen, Regeln und Gesetze von Anderen jeweils anders wahrgenommen und ernstgenommen und von manchen auch missbraucht werden, so dass man sich nicht auf sie allein verlassen kann. So muss man ›Maßnahmen ergreifen‹, um sie ›durchzusetzen‹, und die Einhaltung der Maßnahmen auch kontrollieren. Kontrollen aber, als Formen der Machtausübung, können gegebenenfalls in Gewaltausübung übergehen. So kann, realistisch betrachtet, die Forderung nach Wechsel- und Gegenseitigkeit gerade zu schwerer und manchmal empörender Verletzung der Alterität führen. 198 | Kapitel V 

In der Mehrheit der Fälle wird darum anders verfahren. In funktionierenden Demokratien werden die Maßnahmen von Anfang an auf die Schwierigkeiten abgestimmt, solidarisches Verhalten zu erreichen: Man lässt sie zunächst breit diskutieren, um die möglichen Widerstände zu erkunden, und, wenn sie dann erlassen werden, zumeist stillschweigend gewisse Spielräume des »Informalen« gegenüber dem »Formalen«, damit sie in individuellen Situationen auf geeignete Weise angewendet werden können, kontrolliert also nur, was ohnehin nicht anders möglich wäre, in begrenztem Umfang.20 Es ist für alle sinnvoller, sich, anstatt abstrakten Regeln stur zu folgen, an ihnen zu orientieren und so in geregelten Spielräumen der Alterität der jeweiligen Situation gerecht werden. Auch diese Art von Toleranz hat sicherlich Grenzen, insbesondere bei der Verhütung von Verbrechen und in großen Gefahren; doch dies ist ein nur schmaler, wenn auch besonders auffälliger Bereich der gesellschaftlichen Regelungen. Demokratische Politik muss mit Orientierungsspielräumen für Anderheit im Denken und Verhalten rechnen und sie, wo es durchführbar ist, auch schaffen. Die Einhaltung moralischer Normen und die Achtung moralischer Werte, die man ohnehin nicht durch Ordnungskräfte kon­ trollieren kann, wird, nüchtern betrachtet, durch sozialen Druck, also durch die bestehenden Gemeinschaften selbst, auf mehr oder weniger subtile Weise gewährleistet. Dadurch vor allem entstehen und erhalten sich Gemeinschaften als ›Lebensgemeinschaften‹. Moralischer Druck aber kann die Alterität zugleich am schwersten bedrohen. Wie verheerend er sich auswirken kann, sieht man am besten, wenn die breite Mehrheit einer Gemeinschaft oder Gesellschaft Normen und Werte lange geteilt und hart auf ihrer Einhaltung, auch in Form von Gesetzen, bestanden hat, sie dann aber im Wandel der Werte obsolet geworden sind: Man kann dann nachträglich oft nur noch schwer nachvollziehen, warum derart auf ihnen bestanden wurde, etwa in Fällen der Diskriminierung von Juden und Farbigen, der Benachteiligung von Frauen oder der Ächtung abweichender sexueller Orientierungen. Es kann dann immer noch sehr lange dauern, bis der Wandel der Werte und Normen auch in einklagbare juristische Gesetze eingeht, die dafür sorgen können, dass Gleiche wohl gleich, aber auch, im Sinn von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, Ungleiche ungleich behandelt werden.21 Bilanz A | 199

So können Werte, Normen und Gesetze, die Gegen- und Wechselseitigkeit garantieren sollen, Spielräume für Alterität einerseits nehmen, andererseits schaffen. Die Erfahrung von Alterität ist hier der Motor, auf Neueinschätzungen mit Neuorientierungen und auf Neuorientierungen mit Neuregelungen zu reagieren. So schwer die Dialektik der Einschränkung der Freiheit der Einen um der Freiheit der Anderen willen theoretisch aufzulösen ist, scheint man in der alltäglichen Orientierung und bis zu einem gewissen Grad auch in der demokratischen Gesetzgebung gut mit dem Problem umgehen zu können. Das nur begrenzt geregelte Zusammenspiel von individuellen, sozialen und juristischen Orientierungen lässt in funktionierenden Demokratien Stimmen für Alterität zu Wort kommen und bietet am ehesten Chancen, dass sich – mit der Zeit und auf Zeit – wechselseitiger Respekt, also moralisch codierte Rücksicht, einstellt. Aus dieser Sicht könnte eine Sozialphilosophie statt auf Konsens oder Übereinstimmung im ›Sinn‹ von Regeln, die unter differenten Orientierungen ohnehin kaum zu erwarten ist und Opferung der Alterität bedeuten würde (Kap. III,  6), auf ein sich verdichtendes bewegliches Netz individueller, sozialer und politischer Kooperationen bauen, die sich im Lauf der Zeit mit all den Spielräumen einspielen, die die Orientierung an anderen Orientierungen lässt und die zur Ausbildung der spezifischen Orientierungstugenden anregt (Kap.  III, 4). Gewalt wird man auch so nicht ausschließen, auf lange Sicht aber eher eindämmen können. In einer sozial routinierten Orientierung an anderen Orientierungen wird eine »dezisionistische Selbstermächtigung«, wie Burkhard Liebsch sie befürchtet, und werden »rigorose Exklusionen« ebenso wie »umfassende Inklusionen« (Kap.  IV,  5) jedoch weniger wahrscheinlich. So wenig wie eine ›absolute Orientierung‹ kann es dabei eine ›absolute Beruhigung‹ geben, einfach weil gerade Kommunikationssituationen sich laufend ändern, dadurch immer neu beunruhigen und neue Orientierungen erfordern. Stattdessen entsteht, worauf auch Burkhard Liebsch hinweist (Kap.  IV, 5), ein Oszillieren zwischen Beruhigung und Beunruhigung, Reorientierung und Desorientierung. Oszillationen sind nicht einseitig zu steuern und nicht generell zu bestimmen: Wenn Orientierungen immer auch in Desorientierungen verfallen, daraus Reorientierungen hervor200 | Kapitel V 

gehen und diese wieder in Desorientierungen verfallen können, lässt sich nicht sagen, was da Ursache und Wirkung ist und wer oder was wen oder was bestimmt. Es ist der Sinn des Begriffs der Oszillation, zu einfache Unterscheidungen von Ursache und Wirkung, Bestimmen und Bestimmt-Werden, Bedingen und BedingtWerden zu unterlaufen; wohlfeile Schuldzuschreibungen, die gefährlichsten Angriffe auf die Alterität, werden schwieriger. Umso mehr wird man nach Normen rufen. Aber sie sind, wie angedeutet, selbst Teil der Orientierung, hier der sozialen Orientierung, und ihr nicht vorgeordnet. Sie können sich in bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausbilden oder nicht, eigens artikuliert werden oder nicht, in Gestalt von Gesetzen von Fall zu Fall geltend gemacht werden oder nicht – stets liegen dem Orientierungsentscheidungen zugrunde. Levinas dürfte jedoch richtig gesehen haben, dass man ohne den Druck von Normen nahezu unwillkürlich in den Modus der moralischen Orientierung übergeht, wenn man der Not Anderer ansichtig wird, in der sie sich selbst nicht mehr helfen können. Alle Spielräume der Orientierung schließen sich dann, man ›muss jetzt einfach helfen‹. Das braucht nicht face-à-face zu geschehen, aber es geschieht, wenn man in der Notsituation der Einzige und damit ›der Nächste‹ ist, der helfen kann und dem so die Verantwortung ›zufällt‹, ohne dass man die Freiheit hätte, sie erst zu ›übernehmen‹ (jemand bricht neben mir plötzlich zusammen). Man mag dann immer noch Alternativen haben und kann der Verantwortung ›ausweichen‹, aber nur mit ›schlechtem Gewissen‹, das an die eigene Verantwortung in genau dieser Situation erinnert, in der man sie nicht an irgendjemanden oder die Allgemeinheit ›abgeben‹ kann. Man wird dann sicherlich nach seinen eigenen ›moralischen Vorstellungen‹ helfen und kann mit ihnen auch wieder übergriffig werden, eine Hilfe aufdrängen, die die oder der Andere vielleicht gar nicht will; darauf aufmerksam geworden, wird man in den Modus der ethischen Orientierung übergehen, in dem man die eigene moralische Orientierung im Blick auf die Anderer in Frage stellt (Kap.  III, 5). Darin ist man, wie Levinas gezeigt hat, nicht ›souverän‹, sondern erfährt sich als unmittelbar dem oder der Anderen verpflichtet. Der oder die Andere als Andere in ihrer jeweiligen Eigenart und Situation könnten auch in einer Philosophie der Orientierung stärkere AnBilanz A | 201

haltspunkte für eine Sozialphilosophie im Sinn der Alterität sein als vermeintlich allgemein verbindliche Normen. Und das gilt für die Orientierung überhaupt. Man steht man nie ›über‹ den individuellen, standpunktgebundenen Orientierungen, hat auch als Philosoph*in keinen ›Theorie‹- oder ›Meta‹Standpunkt auf ›höherer Ebene‹. Man kann einen solchen Standpunkt wohl einnehmen und ist gerade als Philosoph*in, die mit ihren Verallgemeinerungen aufs Ganze gehen muss, versucht, es zu tun. Doch man orientiert sich auch dann in einer Situation. Eine Theorie ist im Wortsinn eine ›Übersicht‹ von einem höheren Rang aus wie in einem antiken ›Theater‹: Man kann unter bestimmten Bedingungen zu bestimmten Zeiten dort hinaufsteigen, aber man sitzt nicht immer schon dort; die menschliche Orientierung kann Theorien (im Plural) entwickeln und zu bestimmten Zwecken nutzen, beginnen kann sie damit nicht. Reflexionen der oder ›über‹ die Orientierung und auch professionelle Reflexionen in Gestalt von Philosophien der Orientierung oder der Alterität sind immer Teil eines Orientierungsprozesses; sie können ihn weiterbringen, sich aber auch in ihm isolieren und verselbständigen; an Biographien von Philosoph*innen lässt sich das leicht ablesen. Es war vor allem Nietzsche, der das gesehen und betont mit seiner ›Psychologie‹ und ›Genealogie‹ (in Ecce homo auch an seinem eigenen Beispiel) herausgearbeitet hat. Seine provokante Formel von ›Willen zur Macht‹ sollte andeuten, dass sich auch in philosophischen Orientierungsprozessen immer etwas durchsetzen kann, worüber man selbst nicht verfügt, sondern von dem man getrieben ist und das vorgreifend Orientierungsentscheidungen trifft, bevor man sie recht reflektiert hat. Eine realistische Philosophie kann und, denke ich, muss das ernstnehmen: Anders als isolierte oder souveräne Subjekte sind die nietzscheschen ›Willen zur Macht‹ so gedacht, dass sie stets aufeinander reagieren, ohne einander ganz zu durchschauen, also, wenn man so will, Andere im Sinn des Alteritätsdenkens füreinander sind.

202 | Kapitel V 

3. Orientierung an Alterität im akademischen Diskurs

›Alterität‹, ›Andersheit‹, ›Anderheit‹ ist, anders als ›Orientierung‹, ein noch akademischer, dem fachlichen Diskurs vorbehaltener Begriff. Aber er repräsentiert ebenso wenig ein nur akademisches Problem: Im Anschluss an viele andere Autor*innen hat Burkhard Liebsch zahllose Anhaltspunkte für die alltägliche Bedeutsamkeit der Alterität gerade in der Gegenwart aufgewiesen, sozial, moralisch und politisch.22 Weltweit ist man sensibel, vielleicht sensibler denn je geworden nicht nur gegen alle physischen, sondern auch psychischen Verletzungen, für Gewaltausübung jeder Art, die sich schon in bestimmten Identifikationen zeigen kann.23 Manche werden hier ein Luxusproblem sehen, aber es ist das Problem, dem moderne demokratische Gesellschaften nicht entgehen, weil eben sie sensibel dafür gemacht haben. Gerade, wo man die Demokratisierung einer Gesellschaft durch Gewaltmaßnahmen aufzuhalten versucht, verfeinert es sich unaufhaltsam weiter. Denn mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel können nun (fast) alle auf der Welt wissen, was anderswo in der Welt geschieht. Philosophisch betrachtet, führt die unvermeidlich standpunktbezogene Orientierung, wie ich zu zeigen versuchte, das Problem der Alterität immer mit sich, und es wird, worauf Burkhard Liebsch insistiert, eklatant, wenn eine Orientierung allzu leicht zu gelingen scheint und sich dadurch selbst so fraglos wird, dass sie die Achtsamkeit auf Andere verliert, die sich von ihren Standpunkten aus anders orientieren. Wird eine Orientierung selbstgerecht, erregt sie heute Anstoß. Man wird darum auch im eigenen Interesse an ­einem auskömmlichen Zusammenleben mit Anderen deren andere Orientierungen berücksichtigen, schon um mit ihnen ›klarzukommen‹ und Irritationen, unangenehmen Auseinandersetzungen und bedrohlichen Übergriffen nach der einen oder der anderen Richtung ›zuvorzukommen‹. In der Orientierung mit Rücksicht auf andere Orientierungen tut sich eine große Spannweite auf vom bloßen ›Nachmachen‹ Anderer über das teils taktische, teils taktvolle Respektieren anderer Orientierungen bis hin zu ihrer einsichtigen Förderung und Bestärkung in dem, was wir auch jetzt noch ›Güte‹ und ›Liebe‹ nennen. Die ›Anerkennung‹ und der Kampf um sie, der heute so Bilanz A | 203

stark diskutiert wird, ist ein wichtiger, aber nur ein Teil davon.24 Orientierung an Alterität umfasst aus Burkhard Liebschs und meiner Sicht weit mehr: den umsichtigen Umgang mit Anderen in all dem, was man sich hüten muss, allzu selbstverständlich und selbstgerecht an den eigenen Vorstellungen zu messen und auf die eigenen Begriffe zu bringen, die dann, gerade im Kampf um Anerkennung, übergriffig werden können. In der Orientierung an Alterität braucht man dazu keine Dogmen, Theorien und Systeme; es reicht aus, behutsam darauf zu achten, dass nicht neue Ideologien oder gar eine »cancel culture« daraus entstehen. Orientierung an Alterität kommt, die Schrecken aller Arten von Vergewaltigungen immer vor Augen, als Orientierung weit mehr aus unauffällig gelebter Orientierungskunst und sie kann zu alltäglicher Routine werden. Wo sie nicht gelingt, treten Psychologie und Psychotherapie, Soziologie und Sozialpolitik, Pädagogik, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, Kommunikationswissenschaft und Medien, Politikwissenschaft und praktische Politik auf den Plan, um das Ihre zu tun.25 Eine philosophische Orientierung aber können sie in der Philosophie der Alterität finden. Wenn Burkhard Liebsch in seinem Werk die »Radikalität« der Alterität stark macht – auch gegen eine Philosophie der nur ›alteritätszugewandten‹ Orientierung –, so tut er, was Philosoph*innen in der Regel tun, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen: Er geht bewusst bis zum Extrem, um mit der »Magie des Extrems« zu wirken, wie Nietzsche sie nannte und in der er selbst Meister war.26 Aber für Philosoph*innen der Alterität ist das ein besonderes Problem; denn gerade die Feinheiten der Alterität können dann leicht abgeblendet werden. Burkhard Liebsch entgeht dem, indem er als Phänomenologe die Anhaltspunkte der Alterität in der menschlichen Orientierung in denkbar großer Erfahrungsbreite sorgfältig erschließt, ohne sie wiederum in ein allgemeines System zu pressen; er zieht es oft vor, im Frage-Modus zu bleiben. Auf diese Weise kontrolliert er seine Verallgemeinerungen und hält sie zugleich in den Grenzen alltäglicher Plausibilitäten (Kap.  I, 10). So empfahl einst Moses Mendelssohn zu verfahren, als er die Philosophie der Orientierung ins Leben rief. Sicherlich gehe auch ich, wenn ich die Orientierung zum Leitbegriff der Philosophie mache und damit den gewohnten Gebrauch 204 | Kapitel V 

des Begriffs der Orientierung entgrenze, ins Extrem. Der Begriff der Orientierung wird inzwischen im Alltag, in der Politik und in den Medien, in Moral und Religion, in Kunst und Wissenschaft so allgegenwärtig verwendet, dass dieser Schritt nun an der Zeit sein mag; die Philosophie kann ihn nun im Sinn Kants als »gegebenen Begriff« aufnehmen, 27 um mit ihm das menschliche Weltverstehen überhaupt zu erschließen. Der Begriff der Orientierung wird besonders in der deutschen Sprache, einer der bedeutsamsten und wirkungsmächtigsten Sprachen der Philosophie, so weit und tief, so vielfältig und zugleich integrativ benutzt, dass man nach der Einheit und Vielfalt seines Sinns gar nicht mehr fragen zu müssen glaubte: Er wurde scheinbar selbstverständlich. Sein Gehalt aber ist enorm: Er ermöglicht, das menschliche Weltverstehen nicht nur am umfassendsten und vielfältigsten zu erkunden, ohne es, anders als der früher leitende Begriff der Vernunft, von Anfang an vom tierischen abzugrenzen und dadurch massiv zu verkürzen. Er ist, inmitten des ›Nihilismus‹ und ›Relativismus‹, die aufkamen, als der Glaube an die reine Vernunft und ihre idealistische Weltkon­ struktion vor zweihundert Jahren einzubrechen begann, und deren Begriffe unter Philosoph*innen auch heute noch Schrecken verbreiten, ein positiver Begriff – eben weil Orientierung weitgehend gelingt, wenn auch stets unter Ungewissheit und mit der Gefahr, in Desorientierung zu verfallen.28 Zugleich ist er ein nüchterner, nicht schon durch moralische Ideale überhöhter Begriff; weil Orientierung erkennbar immer auch fehlgehen kann, verdeckt er nicht durch Drängen auf ›Wahres, Gutes und Schönes‹ die Realitäten des menschlichen Lebens. Er verweist, ohne etwas vorzuschreiben, auf beobachtbare Anhaltspunkte, wird von ihnen getragen und trägt sie seinerseits. Wittgenstein hat das mit der Umkehrung einer geläufigen Metapher ausgedrückt: »Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.«29 Der Begriff der Orientierung ist auch ein kritischer Begriff, weil man anhand seines Gebrauchs zeigen kann, in welchen Grenzen sich die menschliche Orientierung bewegt und welche Bedürfnisse und Spielräume sie hat. Er schließt, was hier von besonderem Belang ist, überall auch die Rücksicht auf Alterität ein. Weil Orientierung weitgehend gelingt, schafft ihr Begriff schließlich Zuversicht, dass Bilanz A | 205

sie auch weiter gelingen wird, macht er Mut, ohne dass man dazu auf Imperative, Ideale oder Utopien einschwören müsste. Und bis zu einem gewissen Grad ist er alternativlos: Es ist nicht die Frage, ob man sich durch Unterscheidungen in der Welt orientieren will oder nicht, man unterscheidet immer schon und entscheidet dabei auch über immer mögliche alternative Unterscheidungen. 30 Er gibt auf diese Weise dem Halt, wofür wir keinen anderen geeigneten Begriff mehr haben als eben den der Orientierung. Der Begriff der  – in meinem Sinn alteritätszugewandten – Orientierung könnte ­darum der Leitbegriff einer Philosophie für unsere Zeit sein. Doch auch Philosophien der Orientierung und der Alterität werden im akademischen Diskurs unvermeidlich als ›Positionen‹ gegenüber anderen Positionen wahrgenommen (Kap. I, 11). Und da Philosophien bei allen Unterschieden ihrer leitenden Begriffe vielfach ineinander eingreifen, einfach weil sie alle die Sprache der Philosophie sprechen, werden sie gegeneinander auch unvermeidlich übergriffig. Die Beispiele ›ungerechter Behandlung‹ von Philosophien durch andere Philosophien sind Legion. Auch Philosophien der Orientierung und der Alterität können einander als ›Positionen‹ behandeln und sich so voneinander abgrenzen. Und wenn sie miteinander konfrontiert und in ›Lager‹ eingeteilt werden, die gegeneinander antreten, mag es auch zu Verzerrungen im Bild der jeweils anderen kommen. Alteritätszugewandte Philosoph*innen werden damit rechnen und können es in Kauf nehmen; manches klärt sich so auch und bekommt schärfere Konturen. Und darauf könnte es hier und in der Philosophie überhaupt vor allem ankommen: nicht mehr auf eine gemeinsame und womöglich allen als verbindlich angesonnene Philosophie – darüber ist die Philosophie der Orientierung ebenso wie die Philosophie der Alterität hinweg –, sondern auf klare Linien in der Erschließung der menschlichen Orientierung, die es stets mit anderen Orientierungen, mit Anderheit, mit Alterität zu tun hat.

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K APITEL VI Bilanz B Alterität, Orientierung und die Frage nach einer bewohnbaren Welt  – Burkhard Liebsch –

Der kommt nicht weit, der weiß, wohin er geht. Napoleon1 Hast du, o Andere, je bedacht, wie unsichtbar wir füreinander sind? Fernando Pessoa 2

1. Alterität als umstrittene Kategorie oder als Widerfahrnis

Etymologisch verweist der Begriff der Alterität gewiss auf ehrwürdige Ursprünge, lässt er sich doch auf das bei Platon und Aristoteles ontologisch bzw. kategorial bestimmte Andere (heteron) im Unterschied zum Selben (tauton) zurückführen, das als Verschiedenes (re-)identifiziert werden kann. Nicht so Fremdes – im Altgriechischen als xenon, im Lateinischen unter Adjektiven wie peregrinus, externus und alienus firmierend –, das begrifflich dem Selbst (­autos, ipse), nicht dem Selben (idem) gegenübersteht. In beiden Hinsichten ist jedoch heute die Rede von Alterität gebräuchlich. Meist wird Alterität zunächst auf den ›personalen‹ Anderen bezogen (als alter ego, als anderen von zweien oder auch ›Du‹; the other, l’autrui) und dabei sowohl abgehoben von mehr oder weniger unbestimmten ›anderen‹3 , Sonstigen (alii; others; autres) als auch von der Verschiedenheit (varietas, diversitas) oder Andersartigkeit (alteritas, difference) von allem Anderem, wobei anzunehmen ist, dass es niemals einen Anderen ohne das Andere geben kann. Der andere Mensch bedeutet immer auch das Andere als der Mensch.4 Anonyme, auf alles ›Andere‹ zu beziehende Alterität und personale Alterität erweisen sich als unauflöslich miteinander verschwistert, so dass es schwierig ist, etwa einen verallgemeinerten »Humanismus der Alterität […] – mit Adorno: des Nicht-Identischen« zu verteidigen, so als sei ›die‹ Alterität eindeutig die des menschlichen, vorzugsweise als ›Du‹ auftretenden Anderen.5 Tatsächlich wird Alterität in einem solchen Fall von vornherein ›moralisch‹ begriffen und mit einer Praktischen Philosophie der Anerkennung der Differenz bzw. unaufhebbarer Nicht-Identität des Anderen verknüpft, die man heute als Anderheit oft von der Andersheit von verschiedenem ›Anderem‹ abhebt, ohne dass freilich klar wäre, ob und wie dies je eindeutig gelingen könnte. 6 Vielfach ungeachtet dieser Weichenstellungen ist Alterität in den letzten Jahrzehnten zu einem Leitkonzept und prätentiösen Modewort aufgerückt, dem man eine beispiellose, allerdings mit bedenklichen kollateralen Folgen einhergehende Erfolgsgeschichte Bilanz B | 209

bescheinigt hat. Sehr schnell erfuhr der Begriff eine Pluralisierung wie in der Rede von Alteritäten, die anscheinend auch noch ubiquitär anzutreffen waren.7 Infolgedessen sah sich selbst der bzw. das »ganz Andere« einer »unendlichen Alterität«8 , die zeitweise Gott vorbehalten zu sein schien, von einer namenlosen Alterität konterkariert und mit ihr gleichsam kontaminiert, von der nichts ausgenommen ist und die alle(s) und jede(n) daran hindert, je ganz es, er oder sie selbst bzw. mit sich selbst identisch zu sein. Derrida leitete daraus den Befund einer radikalen Erschütterung jeglicher Zugehörigkeit, von was oder wem zu wem oder was auch immer, ab. Nichts und niemand gehört demnach je ganz sich selbst oder Anderen zu. Alterität unterwandert alle(s) und jede(n). Man spricht kritisch auch von einer Universalisierung der Alterität, die mit einer Verwässerung ihrer Bedeutung einhergeht, wenn es heißt, sie beziehe sich auf »irgendwie Anderes«9, sie sei »immer woanders« und »zirkuliere« fortwährend.10 Niemand ist demzufolge der oder das Andere. Aber Ander(s)heit durchdringt jede(n), so dass man den Schluss ziehen konnte, jede(r) sei ein(e) Andere(r) im Verhältnis zu sich selbst und zu Anderen. Jede(r) erfährt auch an sich selbst eine permanente Alteration, Veränderung oder Veranderung, die bis zur Auflösung jeglicher Ordnung gehen kann.11 So kann auch die Karriere der Alterität selbst ironischerweise in deren Selbstauflösung münden. Wenn sie buchstäblich überall anzutreffen ist (wenn auch stets ›woanders‹), kommt dem, was Derrida mit Blick auf Hegel »Andersheit im allgemeinen im Herzen des Logos« nannte12 , anscheinend gar keine spezielle Bedeutung mehr zu. Um dem vorzubeugen, wird Alterität vielfach in spezifischer Hinsicht attribuiert: So spricht Hans R. Jauss von der Alterität der Literatur des Mittelalters und von dessen Alterität im Verhältnis zu ›unserer Zeit‹, die sich wie in der dekonstruktiven Revision Umberto Ecos jedoch in dieser Epoche wiedererkennen kann. Von hermeneutischer Seite ist allerdings bis heute strittig, wie dies zu deuten ist: ob als Horizontverschmelzung (Hans-Georg Gadamer), in der die fragliche Alterität des historischen Zeitenabstands wie angeblich in der dialogischen »Erfahrung des Anderen«13 aufgeht oder sogar getilgt wird14 , ob als Aneignung und Erkenntnis des Vergangenen als »des Fremden im Eigenen« (Jauss15) oder als dessen »Andersheit« gerade nicht aneignende Inklusion (Herfried Münkler16), die 210 | Kapitel VI 

»die Fremdheit des Fremden vorfindet und sie nur um den Preis verstehen kann, daß sie ihre unaufhebbare Andersheit anerkennt« (Ricœur17). Auch das ist umstritten: Setzt diese Anerkennung eine die fragliche Andersheit von vornherein virtuell umschließende »Einheit« voraus18 oder widerfährt die Alterität vielmehr als ›unaufhebbare‹ so, dass sie sich auf befremdliche Art und Weise in der Beziehung zu ihr zugleich entzieht und es erst gar nicht zu einer solchen Einheit kommen lässt? Diese Frage führt von der Alterität aus, die zunächst in der zeitlichen und historischen Distanz zu einer früheren Vergangenheit lokalisiert wurde, auf die Alterität, die sich im Affiziertwerden eines Selbst von einer solchen Vergangenheit abzeichnet.19 Wie, fragt in diesem Sinne Ricœur, wird ein menschliches Selbst von Alterität bzw. Andersheit heimgesucht? Gewiss nicht erst im Versuch, Vergangenes zu erkennen. Vielmehr wohnt ihm Andersheit von Anfang an inne. Sie kommt nicht »von außen zur Selbstheit hinzu«, etwa um »deren solipsistische Verirrung zu verhindern«, sondern macht sie zuvor schon mit aus. Dabei insistiert Ricœur allerdings auf dem vieldeutigen Charakter der Andersheit, um strikt zu vermeiden, »daß das Andere sich […] auf die Andersheit eines Anderen reduziert«20 – womöglich mit der Folge, das Selbst diesem ›Anderen‹ auch zu unterwerfen, wie es stellenweise bei Levinas den Anschein hat, wo er es als »Geisel« des Anderen beschreibt. Die erste Form der »Alteration des Eigenen«21 erfahren wir vermittels unserer leiblichen Existenz, durch die das eigene Selbst im Verhältnis zu sich selbst als anders und darüber hinaus geradezu »als ein Anderer« (comme un autre22) erscheinen kann, wobei es jeglichem willentlichen Vorsatz und insofern sich selbst voraus­ geht. Die leibliche Existenz aber nimmt nur in Verhältnissen zu Anderen und durch sie Gestalt an, in denen die Ander(s)heit des Anderen zum Vorschein kommt, der uns anspricht und den wir auf Erwiderung hin ansprechen und in Anspruch nehmen, ob als ›Nächsten‹, als Nachbarn, Mitbürger oder Fremden. Dabei kommt Alterität nicht etwa als eine ›Eigenschaft‹ von Anderen, sondern kraft der Beziehung zu und zwischen ihnen als Erfahrung der Nichtzugänglichkeit in der Zugänglichkeit und in diesem Sinne als Fremdheit zur Geltung. Wie vor allem Bernhard Waldenfels im Anschluss an Edmund Husserls Cartesianische Meditationen Bilanz B | 211

betont, geht es hier weniger um ein Verhalten zur Fremdheit des Anderen, die man gegebenenfalls anerkennt und als relationale oder essentielle, relative oder totale kategorisiert23 , sondern um ein pathisches Verhalten von der Fremdheit des Anderen her, die als gegenüber jeder Bezugnahme auf den Anderen vorgängige zugleich als nicht verfügbare erscheint. Das wird verfehlt, wenn man ›die‹ Alterität im Zeichen guten Willens als moralisch vereindeutigte gegenseitiger, umkämpfter Anerkennung unterwirft, in der es vor allem darum geht, sich der Verweigerung oder Unterdrückung von Andersheit zu widersetzen. Dabei kommt es durch forciertes othering auch dazu, dass Andere förmlich zu ›Anderen‹ gemacht werden bzw. dass ihre zurückgewiesene oder unterdrückte, diskriminierte und umkämpfte Alterität geradezu »produziert« werde, heißt es.24 Von radikaler Alterität kann dann allerdings nicht mehr die Rede sein, so heftig und polemisch die um sie entbrennenden politischen Kämpfe auch ausfallen mögen, wenn Minderheiten, die auf ihrer Andersheit bestehen, aber auf ihre Beachtung und Anerkennung keine Aussicht mehr zu haben scheinen, Mittel der Gewalt in Betracht ziehen. Selbst in Kämpfen um Beachtung und Anerkennung, wo es anscheinend nur noch um Alterität als deren Gegenstand geht 25 , kommt aber angesichts Anderer unvermeidlich eine unverfügbare, befremdliche Alterität im Widerfahrnis ihres Anspruchs ins Spiel. Darauf insistiert die Phänomenologie der Alterität mit unverkennbar anti-epistemischer und anti-volitionistischer Stoßrichtung. Ohne eine Hermeneutik, die das und den Anderen zu ›verstehen‹ sucht, und ohne eine geschichtliche Erkenntnis befremdlicher Vergangenheit gering zu schätzen oder gar für schlechterdings undenkbar zu halten, besteht sie doch auf einer unaufhebbaren Widersetzlichkeit radikaler Alterität, die ihr Attribut verdient, in jeglicher Bezugnahme auf sie und in jeder Form ihrer Thematisierung. Es ist wichtig zu sehen, wie sehr sich die in Mode gekommene Thematisierung radikaler Alterität insofern von der ältesten Semantik, an die sie sich anlehnt, und speziell von der ontologischen Metaphysik abhebt, in deren Rahmen sie sich dem menschlichen Wissen zunächst als kategorisierbar und erkennbar darzustellen schien.

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2. Jenseits oder diesseits des Wissens

Dass alle Menschen nach Wissen streben, wie Aristoteles gleich zu Beginn seiner Metaphysik schreibt, schien seinerzeit gar keiner näheren Begründung zu bedürfen. Wo sie an Grenzen bisherigen Wissens stoßen, müsste es nur mehr zu wissen geben – bis das Wissen an seine eigenen Grenzen gerät, die es nicht durch weiteres Wissen zu überwinden vermag. Kann man, derart epistemisch orientiert, überhaupt weiter vordringen als bis zu dieser, von Kant selbstkritisch ausgeloteten endlichen Situation? Oder ist diese ihrerseits nur das passagere Erscheinungsfeld einer alles Endliche überschreitenden, unendlichen geistigen Dynamik, die schließlich alle Grenzen aufzuheben verspricht, auch diejenigen des kritischen Denkens selbst noch?26 Dieser Dynamik könnte sich allenfalls noch radikal Fremdes widersetzen, aber Hegels ›System‹ zufolge nichts mehr, was zu erfassen, zu verstehen oder zu begreifen wäre.27 Auch das schien keiner weiteren Begründung bedürftig. Ein Jahrhundert später hält sich philosophisches Denken jedoch nicht mehr daran. Es wendet sich gegen seine eigene Trennung von allem, was nicht Denken ist – eine Trennung, die Philosophen wie Gabriel Marcel nun wie ein Exil vorkommt; es erweist sich zweideutig als »appetite de l’Autre« und öffnet sich radikaler Alterität, ohne zu wissen, »si cet Autre c’est l’Être« oder was sonst – möglicherweise auch ganz Anderes, was sich jeglicher Aufhebung widersetzt.28 Es öffnet sich wieder dem Anderen – wie schon einst, bevor es sich als »im wesentlichen griechisches« etablierte, suggerierte ergänzend Emmanuel Levinas, der zu bedenken gab, »ob es nicht angebracht ist, das System [Hegels], und sei es rückwärts, durch eben die Tür zu verlassen, durch die man es, wie Hegel meint, betritt«.29 Sollte man daraus etwa den Schluss ziehen, die im Zeichen von ›Athen‹ überlieferte philosophische Literatur sei beiseite zu legen, um – auf welchen ›Umwegen‹ auch immer, etwa über die zahllosen Konzentrations- und Vernichtungslager der Moderne – nach ›Jerusalem‹ zurückzukehren, um erst auf diese Weise dem ›Anderen‹ wieder auf die Spur kommen zu können, den man mittels der Bibel bereits eindeutig als ›Gott‹ meint identifiziert zu haben?30 Gewiss nicht; denn es lässt sich kaum bestreiten, dass die Frage nach dem Anderen als solchem, der jeglicher eindeutigen IdentiBilanz B | 213

fikationsmöglichkeit zunächst entzogen ist, ›unvoreingenommen‹ überhaupt erst in der Moderne zur Sprache gekommen ist 31 – wesentlich durch Hegel angeregt und dann auch in sprachkritischer Weise, die dieser Frage jegliche Selbstverständlichkeit entzieht und sie gerade dadurch überhaupt erst als radikale zum Vorschein kommen lässt. Schon die Frage, um was es unter dem Titel des ›Anderen‹ überhaupt geht, scheint nunmehr verfehlt, verlangt sie doch nach ›etwas‹ zu Bestimmendem, von dem man wiederum wissen möchte, um was oder um wen es sich handelt. Alternativ kommt auch ein Glaube in Betracht, der das Gleiche leisten soll: Identifikation (wenn auch nur auf negativem Wege) eben jener Alterität, an der sich keinerlei Aufhebung bewährt. Nachweislich ist es auch bei radikalen Verfechtern eines derartigen Alteritätsbegriffs zu solchen Identifikationen gekommen, die angeblich auf die Spur Gottes führen. Diejenigen, die das wissen oder glauben machen wollen, betreiben nach Ansicht ihrer Kritiker eine massive Retheologisierung der Alterität, die sie um ihr ganzes Irritationspotenzial zu bringen droht, das wir gerade dem Befund verdanken, dass weder per Wissen noch auch durch Glauben in Erfahrung zu bringen ist, worum es sich unter dem Titel Alterität ›eigentlich‹ handelt. Wenn ihr ›Witz‹ nicht etwa nur darin liegt, auf die Spur von etwas oder von jemandem zu führen, das bzw. der sich als ›anders als …‹ erweist und somit vergleichsweise bestimmbar wäre, wenn er vielmehr darin liegt, dass sich Alterität paradoxerweise anders als sie selbst erweist, ohne in irgendeine Selbigkeit oder Selbstheit wieder einzuscheren, wie Ricœur meinte, ist ihrer schlechterdings auf keine Weise Herr zu werden.32 Was auch immer irgendwie ›ist‹, ›existiert‹ oder ›gegeben‹ zu sein scheint, kann auf irreduzibel vielfältige Art und Weise ausgesagt werden. Das ist seit Platons Parmenides und Sophistes altbekannt. Jetzt aber scheint eine sprachlich nicht zu bändigende, multiple Alterität potenziell allem zu eignen, was sich als ›anders‹ erweisen kann. Ich verändere mich dauernd, schrieb schon Michel de Montaigne. »Jeden Tag neue Einfälle, und unsere Launen bewegen sich« mit den »Flügeln der Zeit«. Nichts wollen wir anscheinend mit Beharrlichkeit. »Von mir selbst habe ich nichts Ganzes aus ­einem Stücke, nichts Einfaches, nichts Festes ohne Verwirrung 214 | Kapitel VI 

und ohne Beimischung anzuführen, nichts, was ich in ein Wort fassen könnte. Distinguo ist das allgemeine Glied meiner Logik. […] Und es befindet sich ebensoviel Verschiedenheit zwischen uns und uns selbst als zwischen uns und andern.«33 Wie aber sollte man dieser Verschiedenheit überhaupt noch Herr werden, wenn wir mitsamt unseren Worten permanenter Alteration ausgesetzt sind? Erfasst uns das, was Blaise Pascal divertissement nannte, nicht rückhaltlos? Müssen wir daraus nicht schließen, dass wir »keinerlei Beziehung zum Sein« haben bzw. dass sich »Dauerhaftigkeit, Beständigkeit, Fülle, Substanz« allenfalls »auf seiten dessen« finden, »was radikal anders ist, fremd, nicht-mein«?34 Sind wir nicht immer anderswo und anderswer? »Was morgen sein wird, wird anders sein, und was ich sehen werde, werden Augen sehen, erfüllt von einem neuen Blick«, ergänzte Fernando Pessoa, der glaubte, seit jeher ein Anderer gewesen zu sein, keinerlei Identität zu besitzen, sich gleichwohl aber »andern« zu müssen, um nicht in sich selbst gefangen zu bleiben.35 Wer permanenter Alteration ausgesetzt ist, sei es durch die Zeit, durch sich selbst oder durch Andere36 , kann nicht wissen, wer er im nächsten Moment, morgen oder demnächst sein wird; zumal nicht in einer Welt, die ihrerseits grundsätzlich jederzeit und auf unabsehbare Art und Weise ›anders‹ erscheinen bzw. werden kann.37 Dennoch gebe ich mein Wort, um mich an den Anderen zu binden, der ich sein werde, damit Andere sich auf mich verlassen können. 38 Aber wer weiß, wer er, wer weiß, wer wir morgen sein werden? Niemand kann das wissen. Doch es ist zu bezeugen, antworten Philosophen der Alterität, die geltend machen, durch die Zeit, die Welt und durch die Existenz Anderer uns selbst widerfahrende Alterität sei nicht das Ende jeglicher Sozialität, sondern ihr eigentliches Feld der Bewährung39 – nicht obwohl, sondern gerade weil sie sich uns entzieht. Wo sich nichts meinem Wissen entzieht, brauche ich Anderen nicht zu glauben; und wo weitgehendes Wissen wenigstens möglich wäre, kommt das Vertrauen, das ich ihnen schenke, allenfalls als unzulänglicher Ersatz bis auf weiteres in Betracht, nicht aber als eine Gabe, die ihre Vertrauenswürdigkeit allererst stiftet oder rehabilitiert. Anderen zu glauben und Vertrauen in sie zu haben erfordert, dass beides Anderen als solchen gilt, deren Alterität sich unserem Zugriff in jeder Hinsicht entzieht; und zwar radikal, Bilanz B | 215

nicht nur vorübergehend oder aufgrund misslicher Umstände, die uns daran hindern, zu wissen, woran wir ›wirklich‹ mit ihnen sind. Seine ausgeprägteste und zugleich gefährlichste Manifestation hat dieses Verlangen zu wissen in der Paranoia des diktatorischen Machthabers, der alles daran setzt, mit Mitteln der Indiskretion, der Überwachung und Verfolgung zu erfahren, woran er mit Anderen ist, was sie über ihn denken und was sie möglicherweise gegen ihn vorhaben. Am Ende wird es ihm allenfalls helfen, alle Anderen umzubringen, um jeglichen Verdacht auszuräumen. Wer unanfechtbares Wissen über Andere anstrebt, muss allein bleiben. Und wenn das Verlangen nach transparentem Wissen über Andere ihren Tod heraufbeschwört, so ist die Philosophie der Alterität ihrem Leben verpflichtet, indem sie Letztere über jegliche Verschiedenheit, in der sie sich komparativ als ›anders als …‹ erweisen können, über jegliche Distinktion, Differenz und Diskriminierung hinaus als ›Andere‹ gelten lässt.40 Nicht aber auf der Basis eigener Großzügigkeit oder weil sie über vermeintlich privilegierte, in der Sache beweiskräftige Erfahrungen verfügt, sondern weil sie sich der Gefahren bewusst ist, die darin liegen, sich Andere als solche lediglich als in Modi des Wissens und Glaubens erfahrbare vorzustellen. Nicht umsonst revidiert deshalb die Philosophie der Alterität wie bei Levinas auch den Begriff der Erfahrung und bestreitet, vom Anderen könnten wir eine adäquate oder überhaupt irgendeine ›Vorstellung‹ haben.41 Dadurch gerät sie in die schwierigsten Probleme: Kann die Alterität des Anderen unter einer solchen Voraussetzung zum Vorschein kommen? Bedeutet sie anderes und mehr als nur einen Mangel an Wissen? Und kann ihr ein orientierungswirksamer Sinn zukommen? Oder steht der Begriff der Alterität nur dafür, dass Andere jegliche Orientierung unterlaufen? In diesem Falle könnte man sich niemals an Alterität orientieren42 , wie es allerdings gerade Levinas geltend gemacht hat, indem er kurz und knapp notierte: »Terme de l’orientation: absolu = visage présent en personne. Source de sens – Autrui.«43 Mit guten Gründen schreibt Werner Stegmaier, die dem Anderen als solchem zugeschriebene (!) Exteriorität und Alterität habe für Levinas zum letzten Anhaltspunkt der Rettung des Ethischen vor der Verzweiflung angesichts einer Gewalt werden müssen, die 216 | Kapitel VI 

beliebige Andere ihrer tödlichen Willkür zum Opfer fallen ließ und dabei glauben machte, dem könne sich rein gar nichts in den Weg stellen, kein realer und kein moralischer Widerstand, wie man ihn mit der Stimme des Gewissens, mit einer Deontologie à la Kant, mit einer Ethik im Zeichen des Guten, mit einer tradierten Sittlichkeit oder Tugendlehre verknüpft gesehen hat. Von einer Apologie bloßer »Orientierungstugenden wie Umsicht, Weitsicht, Vorsicht, Rücksicht und Nachsicht« ist Levinas dabei allerdings weit entfernt, vielleicht allzu weit, entrückt er die Alterität des Anderen doch so unnachsichtig in eine buchstäblich weltfremde Exteriorität, dass man glauben könnte, sie sei vor jeglichem, sei es gewaltsamem, sei es ›gut gemeintem‹ Zugriff sicher.44 Als Kehrseite dieses scheinbar über alle Gewalt erhabenen Ansatzes45 könnte es sich erweisen, dass er wenig darüber sagt, wie man dieser Exteriorität je soll gerecht werden und was in diesem Sinne praktisch zu tun wäre. Darüber hinaus fasst er die Alterität des Anderen als eine zunächst einseitigasymmetrisch uns ansprechende und in Anspruch nehmende, lässt aber weitgehend offen, wie sie in wechsel- und gegenseitige soziale Beziehungen eingehen kann, wo uns niemals ein absolut Anderer begegnet. 3. Alterität angewiesen auf Orientierung – in Perspektiven der Teilnahme und der Beobachtung

Obgleich Levinas das Attribut ›absolut‹ nicht selten strapaziert und auf diese Weise seinerseits eine verabsolutierte ethische Orientierung nahelegt, muss er zugeben, dass jede(r) Andere nur eine(r) unter vielen sein kann, in einem hyperkomplexen Zusammenleben, in dem mit einer solchen Orientierung nicht mehr auszukommen ist – wie es scheinbar im Rahmen eines scholastischen Weltbildes noch möglich war, das tatsächlich aber eminent gewaltträchtige Differenzierungsprobleme aufgeworfen hat (Kap.  IV). Diese lassen sich vielleicht vermeiden, wenn man unser Angewiesensein auf Orientierung und Unterscheidung eigens untersucht und dabei herausarbeitet, was Letztere überhaupt leisten können und was nicht. Verzichtet man auf ›absolute Orientierung‹, die nicht nur »in die Krise« geraten, sondern geradezu unmöglich geworden zu Bilanz B | 217

sein scheint, braucht man, so Werner Stegmaiers optimistischer Befund, immerhin nicht »an der Orientierung« bzw. an jeglicher Orientierungsmöglichkeit als solcher zu verzweifeln, vorausgesetzt, man sieht ein, dass »es nichts Absolutes gibt und geben kann und jeder seinen Weg suchen und finden muss« – ohne sich dabei je noch auf ein vorgegebenes Woher und Wohin stützen zu können. Womöglich erweisen sich alle unsere aus biogenetischer Ferne kommenden Wege als Irrwege, an deren Ende nur der Tod steht, der unser Scheitern besiegelt.46 Zwischenzeitlich kommt es auf Orientierung an in der nach wie vor andauernden »Epoche des Provisorischen« (Paul Valéry 47), wo alles und jede(r) nur bis auf weiteres Bestand haben kann, um sich früher oder später als ›anders‹, ›verändert‹ oder ›verandert‹ herauszustellen und zu vergehen. Daraus scheint zwingend zu folgen, dass nunmehr das »zentrale Problem die Komplexität der Welt und die Orientierung in ihr« sein muss, die »immer nur vorläufig« gelingen kann und erneute Desorientierung hinzunehmen hat. Von außen betrachtet mag sich das als eine Art Oszillieren – und insofern als etwas zutiefst Irritierendes – darstellen, um welche (Des-) Orientierung es sich im Einzelfall auch immer handelt. Anders verhält es sich aus der Binnenperspektive jener, die zwischen passageren und hinnehmbaren, einschneidenden und am Ende ›unannehmbaren‹, weil das Leben selbst geradezu unlebbar machenden Desorientierungen unterscheiden müssen. Zu letzteren gehört der Verdacht, der nach und nach jegliches Vertrauen zerstören kann, sowie der mit ihm verschwisterte Verrat, vor allem dann, wenn er sich nicht eindeutig lokalisieren lässt. Die Literatur ist Legion, die belegt, dass ohne Vertrauen bzw. in permanentem Verdacht menschliches Leben auf Dauer gar nicht möglich ist. Das Gleiche kann vom Verrat gesagt werden, zumal wenn ihn nicht bloß einer verübt hat, sondern wenn er zu einer vergifteten, überall zu vermutenden Normalität wird, die schließlich das ganze In-der-Welt-sein in Mitleidenschaft zieht. Im 20. Jahrhundert bezeugt eine reichhaltige, von Philosophen allerdings wenig beachtete Literatur von Sergej P. Melgunows Bilanz des Roten Terrors (1922) über Julien Bendas La trahision des clercs (1927) bis hin zu Margret Boveris Bericht über den Verrat im 20. Jahrhundert (1956) und Warlam Schalamows Erinnerungen an die Kolyma, das Lagersystem Dalstroi 218 | Kapitel VI 

und den Artikel 58 der ehemaligen sowjetischen Verfassung, auf dem es wesentlich beruhte 48 , wie exzessiver, schließlich das ganze politische System erfassender Verrat an allem und jedem zu einer Zerstörung des Glaubens führen konnte, überhaupt noch eine ›menschliche‹ Welt mit Anderen zu bewohnen und zu teilen. Wie auch immer man jeweils das Verratene als solches genau fassen müsste: aus den entsprechenden Dokumenten geht hervor, dass eine solche Welt ihren Namen nicht verdient, wenn man nicht wirksam vor Verrat geschützt ist.49 Gewissermaßen auf dem Weg e­ iner negativistischen Gegenprobe hat sich daraus die wichtigste und unverzichtbarste Orientierung ergeben, deren Schwanken (bzw. Oszillieren) zwischen Treue und Verrat, Vertrauen und Misstrauen als schlechterdings unerträglich erscheint. Wie verhält sich dazu eine Unterscheidungen und Orientierungen in ihrem anscheinend ständigen Oszillieren zunächst nur beobachtende Theorie? »In der Dynamik einer global pluralisierten Welt erweisen sich alle absoluten Prätensionen als durchsichtig, brüchig und unhaltbar«, heißt es in Kap. V, 1. Aber drohen dramatische, die Lebbarkeit unseres Lebens vital betreffende Unterscheidungen wie die zwischen Vertrauen Verdienendem und Misstrauen, zu befürchtendem Verrat und um sich greifendem Verdacht nicht in verallgemeinerten Zeitdiagnosen wie jenen unterzugehen, die uns glauben machen, wir lebten in einer hyperkomplexen, konnektiven, immerzu beschleunigten und früher oder später angeblich ›alles‹ ändernden Zeit? Suggerieren solche Diagnosen nicht einen Blick von außerhalb auf diese Zeit, über den tatsächlich gar niemand verfügen kann? Auch als theoretischer Beobachter bleibt man doch Teilnehmer, mit Haut und Haaren unter Umständen der gleichen Gewalt wie jener ausgesetzt, die die Opfer der totalitären Staatsgewalt, des Bürgerverrats50 , wie er sie hierzulande möglich gemacht hat, und der Diskriminierung zu erleiden hatten. Angesichts dieser Gewalt sahen sie sich dazu gezwungen, sich auf unverzichtbare Orientierungen zurückzubesinnen, ohne die es, wie sie meinten, ein wirklich ›lebbares‹, menschliches Leben überhaupt nicht geben kann, das seinen Namen verdient. Kann dem ein philosophischer Situationismus gerecht werden, der generell in allen Orientierungsproblemen auf die gleichen Schwierigkeiten stößt: wie Komplexität zu reduzieren ist, um die jeBilanz B | 219

weilige Lage ›erfolgreich‹ zu bewältigen, um womöglich »etwas mit ihr anfangen« zu können, was auch immer? Die ganze »Relevanz einer Unterscheidung« soll sich ja genau daran zeigen (Kap.  I, 1). In der Lage des Verratenwerdens, wo alles darauf ankommt, nicht mehr verraten zu werden, gibt es insofern eine deutliche Orientierung, aber gegebenenfalls gar keine Unterscheidung, wo Misstrauen angebracht ist und wo nicht. Selbst außerordentlich Erfahrene, die jahrelang unter solchen Bedingungen überleben mussten, die sich also mit ihnen auskennen müssten, werden keine Orientierungsüberlegenheit für sich in Anspruch nehmen. Vielleicht gibt es dergleichen gerade in den ›existenziellsten‹ Angelegenheiten menschlichen Lebens gar nicht. Dass es irgendwie ›weitergeht‹ und sich irgendein jeweils ›passendes‹ Verhalten finden wird, mit dem man unter solchen Bedingungen noch halbwegs (»mehr schlecht als recht«, wie es sprichwörtlich heißt) zurechtkommt, mag sein. Doch wenn der Begriff der Orientierung derart weit gefasst ist, dass er auch schlechteste Orientierungen einschließt, die gerade noch so zu überleben, weiterzuleben und zurechtzukommen gestatten, wie soll man sich dann an einem solchen Begriff orientieren? Gewiss lassen sich mit Werner Stegmaiers Philosophie der Orientierung schlechtere, beleidigende, demütigende, entwürdigende oder weniger zu was auch immer passende Orientierungen von womöglich besseren unterscheiden. Wollte man mit ihr aber einen Metastandpunkt einnehmen51, um das generelle ›Funktionieren‹ von Orientierungen, Desorientierungen und Reorientierungen zu untersuchen, kann der Eindruck entstehen, in funktionaler Perspektive würden inhaltliche Unterschiede aus dem Blick geraten, auf die es gerade jenen ›entscheidend‹ ankommt, die ein vitales Orientierungsproblem haben. Könnte es insofern nicht sein, dass ein gewisser Metabegriff, den man sich in einer theoretischen Beobachterperspektive von Orientierung macht, seinerseits keine bietet – abgesehen davon, dass man versteht, wie sich Orientierungen jedweder Art auf Unterscheidungen stützen und ihrerseits möglich machen, um Alternativen zu eröffnen, über die dann zu entscheiden ist? »Über Alternativen […] muss laufend entschieden werden«, wenn sich Alternativen, gleich welcher Art im Einzelnen, eröffnen (Kap.  I, 4). Aber werden es für die Betreffenden wirkliche Alternativen sein, 220 | Kapitel VI 

wenn sie sich wie in der Gefangenschaft auf Nichtigkeiten reduzieren? Und haben wir nicht auch die Freiheit, nicht zu entscheiden – wie es von Hermann Melville über Gilles Deleuze bis hin zu Giorgio Agamben diskutiert worden ist? Kehrt nicht in der Überzeugung, »dass Unterscheiden immer auch eine Sache des Entscheidens« sei (Kap. V, 1), eine bekannte Vorstellung von Souveränität wieder, wie sie Friedrich Nietzsche mit seiner Rede vom Willen zur Macht im Sinn gehabt haben mag? Mit Recht insistiert Werner Stegmaier, dass man diesen nicht dezisionistisch auslegen muss, hat sich doch das Unterscheiden und die Orientierung als ein hochkomplexes Geschehen erwiesen, in dem kein Ich oder Selbst, keine Person und kein ›Mensch‹ selbstherrlich die Führung haben kann – so wenig, dass sogar dem Geschehen des Unterscheidens selbst Subjektstatus zuzuschreiben ist. »Das Subjekt der Orientierung, des Beobachtens, des Unterscheidens und des Entscheidens zwischen Unterscheidungen, das so unterschiedlich identifiziert wird« – sei es als Mensch, als Ich, als Selbst, als Bewusstsein oder Vernunft – »ist nichts anderes die Orientierung selbst, die auf diese Weise ihrerseits als Subjekt behandelt wird« (Kap.  I, 6). Aus nietzschescher Sicht käme auch eine »Vernunft des Leibes« in Betracht, die uns vor allem zunächst sinnlich orientiert, bevor wir uns orientieren können. Wenn es das »denkende, vorstellende Subjekt« schlicht »nicht gibt«, das Letzteres zu leisten hätte, »bleibt nur der Rückgang auf das Unterscheiden selbst«, argumentiert Werner Stegmaier. Dabei ist es für ihn »nicht die Frage, ob man sich durch Unterscheidungen in der Welt orientieren will oder nicht, man unterscheidet immer schon und entscheidet dabei« unvermeidlich (Kap. V, 3). Man hat demzufolge nicht die Wahl, nicht in irgendeiner Art und Weise zu unterscheiden und dabei auch zu entscheiden bzw. entscheiden zu müssen. Umgekehrt können sich bestimmte Orientierungen und Unterscheidungen – angefangen bei der vertikalen und horizontalen Orientierung im Raum, ohne die wir in einen unerträglichen Schwindel geraten müssten – derart aufdrängen, dass es abstrakt erscheint, darauf zu insistieren, dass man grundsätzlich »immer auch anders« unterscheiden und sich anders orientieren könnte. Theoretisch, in einer Außenperspektive, mag Letzteres zutreffen. Doch aus der Binnenperspektive derer, die mit oder ohne Bezug auf Bilanz B | 221

ein zur Legende gewordenes statement Martin Luthers sinngemäß bspw. sagen: ›Hier stehen wir. Wir können nicht anders, als dies … als ungerecht zu empfinden‹, stellt sich dies als alternativlos und in diesem Sinne als quasi-evident dar.52 Dementsprechend werden sie ihre darauf aufbauende, zwar grundsätzlich anders mögliche, subjektiv aber alternativlose Überzeugung an Andere adressieren, der festgestellten Ungerechtigkeit gelte es entgegenzuwirken. Dabei kann das Widerfahrnis von Ungerechtigkeit keineswegs als schlechterdings unanfechtbare Erfahrung gelten, so ›zwingend‹ bzw. unbestreitbar es subjektiv auch erscheinen mag. Andere können dann immer noch in Abrede stellen, es habe sich ›wirklich‹ um Ungerechtigkeit (dieser oder jener Art) gehandelt. Das ändert aber nichts daran, dass in Gefühlen von Zorn, Wut und Empörung angesichts eklatanter Ungerechtigkeit Widerfahrnisse zum Ausdruck kommen, die mit der Kraft bestimmter Negation besagen, dies … sei in seiner Ungerechtigkeit schlechterdings inakzeptabel und eine andere Deutung gar nicht möglich. Auf diese Weise wird das Widerfahrene keineswegs umstandslos zu einer Art Berufungsinstanz, durch die man subjektiv wie objektiv ›Recht hat‹ gegen Andere. Ihm kommt aber doch die Kraft einer Quasi-Evidenz zu, an der es sich zunächst zu orientieren gilt und die verlangt, was und wie infolgedessen unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zu unterscheiden ist. Ähnlich verhält es sich mit Erfahrungen des Verratenwerdens, mit willkürlicher Verhaftung und Vertrauensmissbrauch. Wie könnte man unter dem Eindruck von Denunziation und willkürlicher Verhaftung ohne rechtliches Verfahren anders, als Verrat durch Mitbürger und Entrechtung seitens des Staates zu beklagen? Wie sollte in Gefangenschaft schließlich nicht jegliches Vertrauen in eine gemeinsam geteilte Welt erschüttert werden, wenn keinerlei Aussicht auf ein faires Verfahren, auf gerechtes Urteil und Entlassung mehr besteht? (Diese Fragen erheben sich keineswegs nur, wenn sie einen selbst betreffen. Man denke nur an die gegenwärtige Machtpolitik Xi Jinpings in Hongkong und an die Repression jeglicher Opposition in Vladimir Putins Russland und in Aljaksandr Lukaschenkos Belarus.)

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4. Normative Implikationen?

Speiste sich nicht seit dem 18., erst recht aber im 20. Jahrhundert aus der Negativität solcher Erfahrungen die politisch normative Affirmation von Orientierungen, an denen unter allen Umständen festzuhalten ist? (Fragt sich nur: wie?) Dazu zählen gewiss in erster Linie die Menschenrechte, aber auch der Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes und weitere starke normative Ansprüche wie der, niemand solle gedemütigt werden (jedenfalls nicht durch die systemischen Rahmenbedingungen vergesellschafteten Lebens, denen er unterworfen ist, wie Avishai Margalit argumentierte53). Damit sind freilich nicht einmal unsere wichtigsten normativen Orientierungsprobleme effektiv behoben. Denn sowenig Regeln und Gesetze ihre eigene Anwendung bestimmen können, so wenig geben allgemeine normative Orientierungen eindeutig vor, wie sie praktisch zu befolgen wären. Insofern verlangen sie nach weiteren Orientierungen, ohne dass gleich klar sein könnte, nach welchen – und wie sie sich bewähren sollten. Wo konkret eine Verletzung jener Rechte, der Würde oder eine Demütigung vorliegt und wie dem praktisch entgegenzuwirken wäre, geht aus den entsprechenden Normen keineswegs unmissverständlich hervor, so dass in beiden Hinsichten eine Sensibilität gefordert ist, der keine normativistischen Zügel anzulegen sind. Selbst aus der Negativität einschlägiger Gewalt hervorgegangene starke Normen, die keinerlei Anleihe bei einer metaphysisch verbürgten Ordnung und absoluten Orientierung mehr machen, entheben uns nicht all jenen Schwierigkeiten, welche die Philosophie der Orientierung beschrieben hat. Ob und wie wir uns an politisch-rechtlich unverzichtbaren normativen Orientierungen ausrichten sollten und können, bleibt allemal in dissensuellen Auseinandersetzungen zu ermitteln, die sich nur zwischen uns abspielen können, die wir füreinander ›Andere‹ sind und bleiben; und zwar in dem starken Sinn, den die Alteritätsphilosophie des 20. Jahrhunderts diesem Begriff beigemessen hat, ohne uns dabei vermeintlich eindeutige Orientierungen an die Hand zu geben. Vielleicht ist sogar die nicht stillzustellende Beunruhigung, die in der offenen Frage liegt, ob und wie wir uns an ›der‹ offenbar äquivoken Alterität auch orientieren können bzw. sollten, der wichtigste Ertrag einer Philosophie, welche die radikale HerausBilanz B | 223

forderung ernst nimmt, die aus diesem sich jeglicher eindeutigen Bestimmbarkeit entziehenden Begriff hervorgeht. Zwar kann man sich an Alterität zu orientieren versuchen (wenn man die einschlägigen Texte von Levinas, Derrida, Ricœur und Waldenfels etwa kritisch im Hinblick auf diese Frage neu liest 54). Man wird dann aber gewärtigen müssen, wie »Alterität so irritierend wird, dass man sich nicht mehr an ihr orientieren kann«, dass sie vielmehr »alle Orientierung in Frage stellt«, wie Werner Stegmaier schreibt.55 Dieser Philosophie kommt er weit entgegen, wenn er Alterität als den letztlich nicht ›greifbaren‹, uns entzogen bleibenden Horizont aller Orientierung begreift, wenn er sich auf diese Weise ein »Bild von unerreichbarer Alterität machen« will und darauf insistiert, auf diese Weise würde keineswegs »die Alterität als solche bestimmt«; vielmehr bleibe sie »unter Menschen immer ›Pro­blem‹« – oder, wenn es hier nichts wie bei Problemen sonst üblich zu ›lösen‹ gibt, Rätsel, Geheimnis oder Mysterium. Vor fragwürdiger Emphase ist allerdings zu warnen, wenn die Gefahr besteht, gerade im Rahmen eines radikalisierten Alteritätsdiskurses »konkrete Alteritäten in den Spielräumen der menschlichen Orientierung verschwinden oder unbedeutend erscheinen zu lassen« (Kap. V, 3). Um dies so weitgehend wie nur möglich zu vermeiden, fasst die Sozialphilosophie der Alterität Letztere stets nur als Überschuss über den konkret, innerweltlich, hier und jetzt, in der Nähe oder aus der Ferne begegnenden Anderen hinaus auf und insistiert von Anfang an auf den Dimensionen der Tertialität und Pluralität des Sozialen: Es gibt ›den‹ Anderen nur als einen unter Dritten und vielen anderen Anderen, die wir niemals alle zugleich beachten können. Infolgedessen kommt es auch hier, inmitten dieser vielfältigen, weltweit ausstrahlenden Alterität zu radikalen, anscheinend nicht zu behebenden Orientierungsproblemen: Während wir den einen Anderen sehen, übersehen wir den Nächsten; während wir die Nächsten sehen, vergessen wir die Übernächsten; und wo schließlich alle Mitmenschen oder Weltbürger bedacht werden, verschwindet in deren kosmopolitischer Ferne womöglich jegliche Nähe, die sie in ihrer Singularität ausmacht.56 Tatsächlich verschwindet so auch beim doppeldeutigen ›Übersehen‹, auf das Werner Stegmaier aufmerksam macht, die Alterität nicht. Ob es dagegen etwas ausrichtet, »immer das ausgeschlossene Andere im Auge zu behalten« (Kap. V, 224 | Kapitel VI 

3, Schluss), erscheint allerdings ebenfalls als zweifelhaft. Die Versuchung ist groß, eben das, was man im 20. Jahrhundert unter Titeln wie Exteriorität und Alterität, Außen, Außer-Ordentliches und Fremdes zur Sprache gebracht hat, doch wieder einzuholen in einen inklusiven Diskurs, durch den sich schließlich Hegel ganz und gar bestätigt sehen könnte. Handelt es sich bei jenem »Auge« nicht um jenes »Auge des Begriffs« eines vernünftigen (wenn auch monocularen57) Sehens im Rahmen der philosophischen Lebensform der theoría, die die Philosophen seit alters glauben macht, »bewaffnet« mit ihren Mitteln der Vernunft bräuchten sie sich »nicht vor irgendwelchem Stoffe [zu] scheuen«58 und ihrem Willen zu begreifen werde sich letztlich nichts widersetzen? Dagegen hat die Sozialphilosophie der Alterität einen diametral entgegengesetzten Weg verfolgt: Alterität begegnet uns nicht nur als ›Anderes‹ eines seit alters epistemisch eindeutig orientierten Denkens, das die Differenz alles ›Anderen‹ in einer höheren Identität aufzuheben vermag, auf diese Weise über es verfügt und es seinem Willen und seiner Macht unterwerfen kann. Alterität geht uns in der radikalen Asymmetrie der Inanspruchnahme vom Anderen auch so voraus, dass wir immer zu spät kommen, um sie zu unterscheiden, zu identifizieren, zu begreifen. Daher rührt die starke Stellung, die dem Vokativ seit Franz Rosenzweig und Martin Buber in dieser Philosophie zukommt, auch wenn sie ihn nicht eindeutig religionsphilosophisch bzw. theologisch auf jenes Paradigma eines Anrufs zurückführt, in dem zur Antwort gegeben wird: »Hier bin ich!«59 Sozialphilosophisch-profan und säkular ernüchtert wird daraus die geradezu anti-volitionistische Einsicht, dass wir von Anfang an überhaupt nur ›passioniert‹ als von Anderen in Anspruch Genommene und sie in Anspruch Nehmende existieren, die je nur ›da‹ sind bzw. sozial existieren, insoweit sie in diastatischer Nachträglichkeit 60 auf den Anruf und Anspruch des Anderen Antwort geben. 61 Alle Fragen von Wechsel- und Gegenseitigkeit sind in dieser Perspektive demgegenüber ebenso von sekundärer Bedeutung wie Fragen ihrer willentlichen Bestimmung. Mit dem uns immer schon zuvorgekommenen, insofern uneinholbaren Anspruch des Anderen beginnt alles – vor uns also, nicht mit uns selbst. So verstehe ich Husserl, wenn er schreibt: »Der Andere ist der erste Mensch, nicht ich.«62 Bilanz B | 225

Nach diesem ›Ersten‹ fragen können wir allerdings je nur als bereits in ›sozialen‹, aber asymmetrischen Verhältnissen Lebende, die in ihren Auseinandersetzungen mit Anderen in Erfahrung bringen müssen, was es mit ihm auf sich hat. Noch vor allen Rechten, die man Anderen dabei zubilligen mag (etwa auf ›andere Unterscheidungen‹), kommt es dabei darauf an, sich überhaupt auf solche Auseinandersetzungen einzulassen und dabei Andere als solche auf hospitable Weise hereinzulassen. Wo das nicht geschieht, wird ein soziales Verhältnis verweigert oder dessen Radikalität kaschiert, etwa wenn man glauben macht, in sozialer Beziehung stünden allemal syngenealogisch miteinander Verbundene, Mitbürger, politisch Verbrüderte oder Zeitgenossen im Horizont einer alle einschließenden Menschheit, d. h. so oder so bereits vergemeinschaftete oder vergesellschaftete Wesen. All das sind jedoch Reduktionsformen jener Alterität des Anderen, die uns aus einer untilgbaren, uns vorausliegenden Fremdheit heraus anspricht und in Anspruch nimmt. Wenn wir das unsererseits tun, geht die Asymmetrie einseitiger Inanspruchnahme in Formen von Wechsel- und Gegenseitigkeit ein, in denen rückhaltlos jedesmal neu auf dem Spiel steht, wer wir im Verhältnis zueinander, füreinander oder auch gegeneinander sind und als wer wir uns dabei verstehen wollen. Mit Spencer Brown und Niklas Luhmann könnte man von einem re-entry von Alterität in die Verhältnisse eben derjeniger sprechen, die wir als ›Andere‹ verstehen und die uns die »Alterität des Wahren« zu denken geben. 63 Was bedeutet das aber? Wie müssten wir uns dementsprechend zueinander verhalten? Und welche Folgen hätte das praktisch? Möglicherweise werden wir auf diese Fragen niemals eine befriedigende Antwort erhalten, die nicht Gefahr läuft, die Alterität, die man eben erst als uns radikal entzogene beschrieben hat, als solche doch wieder ›einzugemeinden‹ in einen hypermoralischen inklusiven Diskurs des guten Willens, des Gutmeinens, der Anerkennung jedes ›Anderen‹. 64 Dabei ist noch nicht klarer geworden, wie Alterität und Differenz, Praktiken des Unterscheidens und Orientierungen miteinander so zu verbinden wären, dass das radikalisierte Alteritäts- und Differenzdenken, wie es vor allem bei Levinas und Derrida anzutreffen ist, einem praktischen Orientierungsverständnis nicht einfach zum 226 | Kapitel VI 

Opfer fällt, das seinerseits darauf angewiesen sein könnte, sich von subjektiv nicht verfügbaren radikalen Erscheinungsformen von Alterität und Differenz irritieren zu lassen. Paradoxerweise könnte es an derartiger Irritation gerade dort fehlen, wo man unentwegt ein Loblied auf das Anderssein, auf die Verschiedenheit und Pluralität aller Menschen singt, sei es unter Berufung auf Theodor W. Adorno, auf Hannah Arendt oder auf zahlreiche Vertreterinnen einer »Politik der Differenz« wie Iris M. Young, Martha Minow, Nancy Fraser, Seyla Benhabib, Judith Butler, Luce Irigaray und viele andere, die immer wieder Gefahr läuft, alle Differenzen indifferent erscheinen zu lassen bzw. einzuebnen. Diese Gefahr droht offensichtlich, wenn nur allgemein und in diesem Sinne unterschiedslos von einer zu achtenden, ethnischen, geschlechtlichen, geschichtlichen oder identitären Differenz so die Rede ist, als würde aus dieser allein schon folgen, wozu sie herausfordert. Wenn das aber nicht überzeugt, geraten wir dann in den Strudel einer »Apologie der Differenz um der Differenz willen, die im Grenzfall sämtliche Differenzen indifferent macht«, wie Ricœur befürchtete?65 Kann gerade eine Apologie der Differenz in Indifferenz und insofern in Differenzvergessenheit umschlagen? Besteht dieser Verdacht zu Recht auch gegenüber Positionen, die eine der Achtung der Verschiedenheit Anderer verpflichtete Differenzsensibilität zum Programm gemacht haben? Sind gerade diese Positionen nicht in Wahrheit weit entfernt davon, sich etwa zu ethnischen Differenzen indifferent zu verhalten? Bezeugen sie nicht eine unbedingte Hospitalität im Verhältnis zu den mannigfaltigen Ander(s)heiten, die sich nicht diskursiv artikulieren oder an ihrer Artikulation gehindert werden? Demonstriert der Diskurs der Differenz nicht sogar die Bereitschaft, unaufhebbarer Ander(s)heit gerecht werden zu wollen? Ist man nicht erklärtermaßen willens, selbst die radikale Differenz Anderer zu achten, die uns als Fremdheit begegnet? Entzieht sich diese aber nicht jeglicher Anerkennbarkeit und jeglichem politisch ›guten Willen‹?66 Wird dieser Frage nicht Rechnung getragen, läuft dieser Diskurs Gefahr, zu konterkarieren, wovon er handelt. Er kann nicht beides zugleich haben und synthetisieren: die unaufhebbare Alterität und die niemanden ›draußen‹ lassende Inklusion. 67 Vergessen wir nicht, wie beunruhigend der Gedanke ist, jeder Andere könne sich als in unannehmbarer Art und Weise befremBilanz B | 227

dend ›anders‹ erweisen, wenn die Alterität in überhaupt keiner Identität aufgeht, auch nicht in der des ›Anderen‹ im Verhältnis zu Selbigkeit und Selbstheit. Spätestens im Fall polemogener Verfeindung geraten wir an die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten, uns noch ›menschlich‹ zu verhalten, wenn wir realisieren, dass es für Feinde, diese in allen erdenklichen Arten und Weisen auf Schädigung, Verletzung, Verwundung und womöglich Vernichtung Anderer sinnenden ›Anderen‹, keinen Platz mehr zu geben scheint in einer gemeinsam geteilten Welt. 68 Und zwar gerade deshalb, weil sie jedes differenzierte Verhältnis zwischen Alterität und Orientierung kollabieren lassen in der Fixierung auf bestimmte ›Andere‹, die sie als ihre Feinde ›liquidieren‹ wollen. Wie es einschlägige historische Erfahrungen lehren, haben wir es in solchen Fällen mit einer scheinbar eindeutigen, sich der Hyperkomplexität unserer Welt mit einem Schlag entledigenden Fusion von Alterität und Orientierung zu tun: Diese ›Anderen‹ sind zu vernichten; und alles andere wird zweitrangig. Die Orientierung an einer entsprechenden ›Endlösung‹ verspricht mit dem Problem, Rätsel, Geheimnis oder Mysterium der Alterität ein für allemal Schluss zu machen. Möglicherweise markiert sie eben deshalb den Fluchtpunkt allen ›identitären‹ Denkens, dem es um die ›Reinigung‹ des Eigenen von jeglicher sogenannter Heterogenität zu tun ist.69 Die Probe darauf, ob wir uns der extremen Gewalt zu widersetzen vermögen, die daraus folgen kann, steht allemal noch aus. Diese Probe haben auch wir selbst zu bestehen, wenn es darum geht, eine gemeinsame Welt auch mit jenen zu teilen, die mit ›Endlösungen‹ gleich welcher Art sympathisieren. Mit dieser Frage öffnet sich der Ausblick auf ein weites Feld der Forschung, die die Begriffe Alterität und Orientierung strikt unter der Bedingung neu zu konfigurieren hätte, dass es nicht zu deren Fusion kommt70: Werden wir nicht in Anbetracht der Negativität polemogener Prozesse dazu herausgefordert, uns auf Orientierungen zu besinnen bzw. Orientierungen überhaupt erst zu etablieren, die eine solche Welt aufrechtzuerhalten erlauben? Wenn wir uns derartigen Prozessen widersetzen, müssen wir uns dann nicht darauf besinnen, worumwillen wir das tun? Was würde es bedeuten, eine Welt aufrechtzuerhalten, die nicht gleichsam die Kehrseite der Vernichtung radikaler Feinde aufweisen müsste? Diese wären 228 | Kapitel VI 

nicht nur umwillen eigener, klar von ihnen unterschiedener Identität auszumachen, wie es Carl Schmitt in nicht selten paranoid anmutenden Überlegungen gemäß der Devise distinguo ergo sum beschrieben hat, sondern so zu behandeln, dass am Sinn einer trotz allem gemeinsam bewohnbaren, hospitablen Welt festzuhalten ist.71 Dafür, wie das geschehen könnte, gibt es allerdings kein Patentrezept. Doch ganz ohne einen derartigen teleonomen Bezug auf dasjenige, worum es gerade dann geht, wenn alle Beziehungen zwischen Alterität und Orientierung gewaltsam reduziert werden, ist hier kaum weiterzukommen. Schließlich ist es die mit Anderen doppelsinnig geteilte Welt, in der wir Orientierungsbedarf haben; und zwar unbedingt dann, wenn er am schwersten zu befriedigen ist. Das ist der Fall einer wie nichts anderes befremdlichen Gewalt, die alles zu ruinieren droht, welche Gründe man auch immer haben mag, zu ihr zu greifen und Andere mit ihr zu überziehen. Wenn wir das nicht wollen (und im Grunde nicht einmal wollen können), wenn uns vielmehr daran liegt, eine gemeinsam geteilte Welt aufrechtzuerhalten, müssen wir unsere Orientierungen daran hindern, sich auf Kosten einer nur noch zu vernichtenden Alterität mit schierer Gewalt durchzusetzen. Vielleicht wäre dies nur ein Minimum, immerhin würde so aber eine Welt bis auf weiteres bestehen bleiben können, deren Bestand von jedem Zurechtkommenwollen und von jedem Streben nach gutem, besserem oder auch gerechtem Leben vorausgesetzt wird. So gesehen kommen die Philosophie der Alterität, die sie als mehr oder weniger beunruhigende geradezu überall anzutreffen meint, einerseits und die Philosophie der Orientierung andererseits, die diesem Phänomen in zahllosen Verästelungen nachgegangen ist, in einem Punkt überein: im Sinn der Aufrechterhaltung einer geteilten Welt, ohne die weder die Alterität des befremdlich Anderen noch auch irgendeine Desorientierung je zu einer gemeinsamen, allen Menschen ungeachtet ihrer abgründigen Differenzen zugemuteten Herausforderung werden müsste. Es bleibe dahingestellt, ob in der Besinnung genau darauf die Philosophie »ihr Proprium« hat, das sie, in Jürgen Habermas’ Worten, »verraten« würde, »wenn sie – und sei es auch im begründeten Bewusstsein einer Überforderung – den holistischen Bezug auf unser Orientierungsbedürfnis preisgäbe«.72 Auch das kann man mit Bilanz B | 229

Niklas Luhmann zweifellos als eine Form der Reduktion von Komplexität auffassen und wiederum orientierungstheoretisch rekonstruieren. Damit ist über den möglicherweise vorrangigen Inhalt der fraglichen Orientierung allerdings noch nichts gesagt, die keineswegs auf deren anachronistische Verabsolutierung hinauslaufen muss, lehrt doch die Philosophie der Alterität, dass jede Orientierung, die Andere einbezieht und ihnen als solchen gilt, ihnen auch dialogisch zu verstehen und zu denken gegeben werden muss. Erneut stoßen wir so auf ein re-entry und zugleich auf ein ­re-exit: Alterität, die unseren sozialen Verhältnissen selbst innewohnt, wird zum Diskussionsgegenstand; aber so, dass sie sich uns dabei wiederum entzieht. Nie ist sie nur ›Gegenstand‹; nie aber auch reines Widerfahrnis, ohne sich einer gewissen Thematisierbarkeit anzubieten. In ihrer Thematisierung liegt allerdings eine besondere Gefahr, die als solche eigens zu bedenken wäre, sehen wir doch, wie eine gelegentlich verabsolutierte und vereindeutigte Alterität zu einer scheinbar unanfechtbaren Orientierungsmaßgabe erhoben werden kann, wie man Spiele der Aneignung mit ihr treiben und wie man sie mit einer eminent gewaltträchtigen Orientierung zu fusionieren versuchen kann. Dazu kann es nur kommen, wenn man sich – im Gegensatz zu allen vorangegangenen dialogischen Beiträgen in diesem Band – nicht damit begnügt, zu untersuchen, wie Alterität nach Orientierung verlangt und sich gegen sie sperrt und wie umgekehrt jede Orientierung von Alterität herausgefordert und überfordert wird. Wer über eine solche chiasmatische Problemstellung hinaus erwartet, etwa alle menschliche Orientierung ganz und gar auf Alterität hin ausrichten oder Alterität umgekehrt auf eine bestimmte Orientierung festlegen zu können, beschwört eine Gewalt herauf, der wir uns in der Aufrechterhaltung unaufhebbarer Spannungsverhältnisse zwischen Alterität und Orientierung mehrfach widersetzt haben. So gesehen ist es kein schlechtes Ergebnis, wenn hier in jeweils drei Anläufen vom Begriff der Alterität und vom Begriff der Orientierung her nicht nur nach Überkreuzungen der entsprechenden Denkwege gesucht, sondern auch akzeptiert wurde, dass Alterität und Orientierung ohne Synthese bleiben müssen. Alternativen dazu lassen sich gewiss denken, aber es ist zu befürchten, dass sie in der einen oder anderen Weise auf Formen von Gewalt hinauszulaufen drohen, denen wir uns auch widersetzen sollten – 230 | Kapitel VI 

jedenfalls dann, wenn wir uns vorrangig um die Welt zu sorgen haben, ohne die sich die hier herausgestellten Spannungsverhältnisse zwischen Alterität und Orientierung nicht explizieren lassen. So zeichnet sich ein neues Desiderat ab: Weit stärker noch als zu jener Zeit, in der Kant einem physischen und geistigen »Bedürfnis der Vernunft« das Wort redete, um sich und seine Leser »im Denken« zu orientieren73 , irritiert die Verfassung der Welt gegenwärtig menschliche Orientierungsfragen. Müssen sich diese heute nicht wesentlich auf ›Andere‹ beziehen, weil sich auch die Welt im Horizont der Globalisierung längst als eine ›soziale‹ erwiesen hat – sei es auch nur deswegen, weil sich die vorherrschende Art des Wirtschaftens geradezu als eine »Weltvernichtungsmaschine« (Arundhati Roy74) herausgestellt hat, mit deren Konsequenzen sich nun weltweit alle auseinandersetzen müssen?

Bilanz B | 231

SIGLEN

BM

Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frank­ furt  /  M. 2006.

DI

Hermann Broch, Die Idee ist ewig. Essays und Briefe, München 1968.

DM

Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131986.

H

Hermann Broch, 1918 – Huguenau oder die Sachlichkeit [1931], Frankfurt  /  M. 1980.

KG

Claudia Schmölders (Hg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 1979.

KGW Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Neunte Abteilung. Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, hg. v. Marie-Luise Haase u .a., 13 Bde., Berlin  /  New York  /  Boston 2001-2. KSA

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München  /  Berlin  /  New York 1980 [textidentisch mit KGW III–VIII].

NR

Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1986.

PS1

Hermann Broch, Philosophische Schriften 1. Kritik. Kommentierte Werkausgabe Bd. 10/1, Frankfurt  /  M. 1977.

S

Hermann Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Kommentierte Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt  /  M. 21980.

SL 1

Hermann Broch, Schriften zur Literatur 1. Kritik. Kommentierte Werkausgabe Bd.  9/1, Frankfurt  /  M. 1975.

TV

Hermann Broch, Der Tod des Vergil, München 31968.

UG

Hermann Broch, Die Unbekannte Größe [1933]. Kommentierte Werkausgabe Bd. 2, Frankfurt  /  M. 1977.

V

Hermann Broch, Die Verzauberung. Kommentierte Werkausgabe Bd.  3, Frankfurt  /  M. 21980.  233

ANMERKUNGEN

Kapitel I: Orientierung durch Unterscheiden Sven K. Knebel, Art. »Unterscheidung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  11, Basel 2001, 308–310. 2 Vf., Philosophie der Orientierung, Berlin, New York 2008, 2; gekürzte und überarbeitete englische Fassung, übers. v. Reinhard G. Mueller: What is Orien­tation? A Philosophical Investigation, Berlin, Boston 2019, 5. 3  Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer, Kritik der reinen Theorie, Tübingen 2018. 4  Wie Dorothee Schmitt, Das Selbstaufhebungsargument. Der Relativismus in der gegenwärtigen philosophischen Debatte, Berlin, Boston 2018, zeigt, sind Selbstbegründungsargumente ebenso wie Selbstaufhebungsargumente überall ins Wanken gekommen. 5  Zum griechischen, lateinischen, französischen und englischen Wortfeld des Unterscheidens vgl. Katrin Wille, Die Praxis des Unterscheidens. Historische und systematische Perspektiven, Freiburg, München 2018, 47  f. In der Philosophie der Orientierung bin ich noch wenig auf die Unterscheidung als solche eingegangen. 6  Jürgen Mittelstraß, Art. »Unterscheidung«, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von dems. u. a., Stuttgart, Weimar 1995/96, Bd.  4 , 429–31. Vgl. dagegen Joachim Bromand, Guido Kreis (Hg.), Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010. 7  George Spencer Brown, Laws of Form [1969], Limited Edition, Portland, Oregon o. J., deutsch: Laws of Form / Gesetze der Form, übers. v. Thomas Wolf, Lübeck 1997. 8  Vgl. v. a. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, 374–391; Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, 48–65; »Frauen, Männer und George Spencer Brown« (1988), in: N. L., Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hg. u. eingel. von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main 1996, 107–155. 9  Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt am Main 2005; Athanasios Karafillidis, Soziale Formen. Fortführung eines soziologischen Programms, Bielefeld 2010. 10  Dirk Rustemeyer, Ordnungen des Wirklichen. Weisen des Unterscheidens in Philosophie, Künsten und Wissenschaften, Freiburg, München 2017; 1 

 235

Katrin Wille, Die Praxis des Unterscheidens. Historische und systematische Perspektiven, Freiburg, München 2018. 11  Vgl. Vf., Courageous Beginnings. 25 Situations of New Orientations in the History of Philosophy, Hodges Foundations for Philosophical Orientation, Nashville, Tennessee 2019 (www.hfpo.com), und Formen philosophischer Schriften zur Einführung, Hamburg 2021. 12  Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral II, 12. Zur Interpretation vgl. Vf., Nietzsches ›Genealogie der Moral‹. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, 70–88. 13  Es ist unklar, ob Anaximander selbst diese Begriffe schon zur Verfügung standen. Sie könnten erst von Aristoteles stammen. 14  Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen euro­ päischer Rationalität, 2., überarb. Aufl. Stuttgart 2008, unterscheidet in diesem Sinn eine »Unterscheidungsphilosophie« der frühen und klassischen griechischen Antike von der »Bewusstseinsphilosophie« in der Moderne, die das unter­scheidende Denken in das Bewusstsein zurücknimmt, es einer Außen­welt gegenüberstellt und mit der Unterscheidung von Subjekt und Objekt operiert. 15  Parmenides charakterisiert das Sein zwar bildlich z. B. als ›kugelrund‹ und ›vollkommen‹, im übrigen aber durch den Ausschluss alles Zeitlichen, da dies auch nicht sein kann. In seinem Lehrgedicht führt er, um jenes Sein glaubhaft zu machen, eigens eine neue unsterbliche Göttin ein, die mit höchster Autorität spricht. Vgl. Vf., Formen philosophischer Schriften zur Einführung, 19–22. 16  Spencer Brown, Laws of Form, 3. 17  Spencer Brown, Laws of Form, 1 (»There can be no distinction without motive, and there can be no motive unless contents are seen to differ in value.«); 69/60. Nach Tatjana Schönwälder, Katrin Wille, Thomas Hölscher, George Spencer Brown. Eine Einführung in die »Laws of Form«, Wiesbaden 2004, 75 (2. Aufl. 2009, 77), geht es Spencer Brown bei diesem Motiv »um die Bedingungen des Aufrechterhaltens einer Unterscheidung, die erfüllt sein müssen, damit auf die unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann«, also um die Stabilisierung einer bereits getroffenen Unterscheidung. Spencer Brown setzt das jedoch nicht voraus und fängt nicht so an. In jenem »Verlangen« sehen Schönwälder, Wille, Hölscher »keine weitere Bedingung für das Unterscheiden« (193, 2. Aufl. 195). Nach Felix Lau, Die Form der Paradoxie. Eine Einführung in die Mathematik und Philosophie der »Laws of Form« von G. Spencer Brown, Heidelberg 2005, 4., unveränd. Aufl. 2012, 35, handelt es sich bei jenem »Motiv« lediglich darum, »etwas als unterschiedlich im Wert zu erkennen«. Als »›Ort‹« des Beobachtens oder Unterscheidens und Bezeichnens benennt Lau »das Leben« (109). Man sieht die Verlegenheit. 18  Immanuel Kant, »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, in: Akademie-Ausgabe, Bd.  V III, 131–147, hier: 137. 236 | Anmerkungen

19  Seit

Kant wurde die Vernunft selbst im Fortgang des philosophischen Orientierungsprozesses zu einem von vielen Mitteln der Orientierung. Vgl. Helmut F. Spinner, »Der Mensch als Orientierungswesen: Identität und Alterität aus der Sicht der Doppelvernunft«, in: Wolfgang Eßbach (Hg.), wir / ihr / sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000, 39–68. 20  Vgl. Vf., Philosophie der Orientierung, 229–268. 21  G. W. Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain, II. Buch, Kap.  27. 22  Friedrich Nietzsche, Nachlass 1887, 10[19], in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [= KSA], München, Berlin, New York 1980, Bd.  12, 465, KGW IX 6, W II 2, 127 [KGW IX = Neuedition des späten Nachlasses in differenzierter Transkription, 13 Bde., Berlin, Boston 2001–2022]. 23  Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen [1948], in: Werkausgabe, Bd.  8, Frankfurt am Main 1984, 555. 24  Luhmann nennt das »Differenzminimierungsprogramm« (Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, 341). 25  Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Betrachtungen (Ms 107), in: Wiener Ausgabe, hg. v. Michael Nedo, Bd.  2, Wien 1994, 150. 26  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 67; Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.  20. 27  Vgl. Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album, München 2012, 268  f. 28 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr.  23. 29 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen [1948], in: Werkausgabe, Bd.  8, 555. Vgl. Wittgenstein, Das Blaue Buch, in: Werkausgabe, Bd.  5, 37  ff. 30  An der Universität Bielefeld hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft 2017 einen Sonderforschungsbereich »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« eingerichtet, der in vielen Teilprojekten kontextsensibel seinerseits auf feinste Differenzierungen des Vergleichens ausgerichtet ist. Vgl. www.uni-bielefeld.de/sfb1288/documents/SFB1288_Forschungsprogramm.pdf, vorbereitend Angelika Epple, Walter Erhart (Hg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt, New York 2015, und darin insbesondere Susan Stanford Friedmann, »Warum nicht vergleichen?«, 63–83. S. auch Andreas Mauz, Hartmut von Sass (Hg.), Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Würzburg 2011. 31 Vgl. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 341  f.; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 368, 408–410; Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, 111–117; Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, 1026. Luhmann streicht die alte aristotelische Paradoxie heraus, dass, wenn Gleiches gleich behandelt werden soll, Ungleiches ungleich behandelt werden muss. Nietzsche hat im Zug der Demokratisierung der Gesellschaft die Tendenz zur Gleichsetzung nicht nur der Rechte aller Menschen, Anmerkungen | 237

sondern auch der Menschen selbst beklagt, weil er die Unterschiede in den persönlichen Orientierungen nicht verlorengehen sehen wollte. Vgl. dazu Vf., Orientierung im Nihilismus. Luhmann meets Nietzsche, Berlin, Boston 2016, 302–375. 32 Aristoteles, Physik IV 10–14. 33 Aristoteles, Physik IV 11, 219 b 12  f. Vgl. Hegels Bestimmung der Zeit in der Enzyklopädie von 1830, § 258: Die Zeit »ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist«. 34  Vgl. zu Spencer Brown Schönwälder, Wille, Hölscher, George Spencer Brown, 178–181 (2. Aufl. 180–183), bei Luhmann u. a. »Gleichzeitigkeit und Synchronisation«, in: N. L., Soziologische Aufklärung, Bd.  5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, 95–130, hier: 100; Soziologie des Risikos, Berlin, New York 1991, 44  f.; Die Wissenschaft der Gesellschaft, 80; Die Kontrolle von Intransparenz (1998), hg. v. Dirk Baecker, Frankfurt am Main 2017, 106–113. 35  Auch Husserl arbeitet in seiner Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins aus den Jahren 1893–1917 (in: Husserliana X, hg. v. Rudolf Boehm, Haag 1966) mit der Differenz von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit am Beispiel des Hörens einer Melodie: Ihre Töne werden einerseits nacheinander, also ungleichzeitig, und zugleich gleichzeitig, im Nachklingen der vorausgehenden Töne und der Erwartung der folgenden (Retention und Protention), gehört und als ›Abschattungen‹ unterschieden. Husserl setzt in seiner Analyse aber noch eine absolute Zeit jenseits des ›Bewusstseinsstroms‹ voraus, Luhmann nicht mehr. 36  Vgl. Ernst Pöppel, Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart 1985. 37  Die Kontrastbildung in der Wahrnehmung wird neurophysiologisch verstärkt durch die sogenannte laterale Hemmung: Die Aktivität einer Nervenzelle hemmt die Aktivität ihrer Nachbarn. – Alfred North Whitehead führt, ohne das schon gewusst zu haben, in seiner radikalen Verzeitlichung der Realität seine 8 categories of existence auf contrasts hinaus (Process and Reality [1929], corrected edition by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne, New York, London 1978, 22). In ihnen zeigen sich actual entities, momentane Gegebenheiten, die durch begriffliche Unterscheidungen je anders bestimmt werden können. Die letzteren setzt Whitehead als eternal objects voraus und bleibt darin Platonist. 38  Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995. 39 Vgl. Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 2000, 3. Aufl. 2011. 40  Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, 631. 41  Vgl. A. Hügli, S. Schlotter, P. Schaber, A. Rust, N. Roughley, Art. »Wert«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  1 2, 2004, 556–583. 238 | Anmerkungen

Andreas Urs Sommer, Werte: Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016. 43  Vgl. Hans-Georg Moeller, Paul J. D’Ambrosio, You and Your Profile. Identity after Authenticity, New York 2021. 44  Vgl. Jörg Bergmann, Thomas Luckmann (Hg.), Kommunikative Kon­ struk­tion von Moral, 2 Bde., Opladen, Wiesbaden 1999. 45  Vgl. Vf., Philosophie der Orientierung, 541–626, und Orientierung im Nihilismus. Luhmann meets Nietzsche, 235–271. 46  Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.  16–20, und Zur Genealogie der Moral I, Nr.  13. Zum interkulturellen Sprachenvergleich im Anschluss an Nietzsches Bemerkungen vgl. Rolf Elberfeld, Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung, Freiburg, München 2012, 2. Aufl. 2013, bes. 80 u. 190–228. Im Unterschied etwa zum altchinesischen und japanischen Denken kann in der europäischen Philosophie »das Phänomenfeld eines subjektlosen ereignishaften Geschehens«, aus dem die Vorstellung eines Subjekts erst hervorgeht, kaum zum Thema werden (216, 221). 47  Vgl. Dirk Rustemeyer, »Formen von Differenz – Ordnung und System«, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd.  1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart, Weimar 2004, 76–91, hier: 77–80. 48 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.  20. 49  Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung / Tractatus logico-philosophicus, 5.631. 50  Vgl. vor allem Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 83–87. 51 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 83. 52  Vgl. Vf., Philosophie der Orientierung, 293–302. 53  Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, I. Teil, Von den Verächtern des Leibes. 54  Vgl. Vf., Orientierung im Nihilismus. Luhmann meets Nietzsche, 46–59, 138–140, 152–154, 376–402. 55  Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr.  354. 56  Vgl. Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung / Tractatus logico-philosophicus. Vgl. Stefan Majetschak, Ludwig Wittgensteins Denkweg, Freiburg, München 2000. 57 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 2, 8, 19–21. 58  Hartmut von Sass, »Orientation, Indexicality, and Comparisons«, in: Journal of Transcendental Philosophy 1 (2020), 219–242, nennt das im Anschluss an die Philosophie der Orientierung die Indexikalität der Orientierung. 59  Vgl. Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen [1974], üers. v. Hermann Vetter, Frankfurt am Main 1977. 60  Vgl. etwa Nicholas Rescher, Paradoxes. Their Roots, Range, and Resolu42  Vgl.

Anmerkungen | 239

tion, Chicago, Ill., 2001, oder R. M. Sainsbury, Paradoxes, 3rd ed. Cambridge u. a. 2010, deutsch: Paradoxien, Stuttgart 2001. 61  Vgl. Vf., Orientierung im Nihilismus. Luhmann meets Nietzsche, 107–113. 62 Vgl. Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge, Mass. 1996, deutsch: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, übers. Gunnar Schmidt und Anne Vonderstein, Berlin 1997. 63  Vgl. die große produktive Synthese Burkhard Liebschs in: Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale, 2 Bde., Freiburg, München 2018. 64 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.  27, Nr.  268. 65 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr.  354. 66 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr.  372. Unter »Praktik« versteht Nietzsche nicht Praxis im Gegensatz zu Theorie, sondern ohne Theorie. Vgl. Vf., Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V.  Buchs der »Fröhlichen Wissenschaft«, Berlin, Boston 2012, 517–520. 67  Vgl. Vf., Philosophie der Orientierung, 333–337. 68  Vgl. Vf., »Schreiben / Denken : Nietzsche – Wittgenstein«, in: NietzscheStudien 46 (2017), 184–218. 69 Wittgenstein, Das Blaue Buch, Werkausgabe, Bd.  5, 23  f. 70  Ludwig Wittgenstein, The Big Typescript (TS 213), in: Wiener Ausgabe, Bd.  11, 2000, 149  f. 71 Vf., Philosophie der Orientierung, 162–167. 72 Wittgenstein, The Big Typescript, 281. 73  Nietzsche, Nachlass 1886/87, in: KSA, Bd.  1 2, 190 (5[16]) / KGW IX 3, N VV 3, 174. Vgl. Vf., »Weltabkürzungskunst. Orientierung durch Zeichen«, in: Josef Simon (Hg.), Zeichen und Interpretation, Frankfurt am Main 1994, 119–141. 74  Immanuel Kant’s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, Abschn. VI, in: AA IX, 44. 75 Luhmann, Soziale Systeme, 166. 76 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 504. 77 Vgl. André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt am Main 1999, 179–210, zur Theoretisierbarkeit des Themas ›Thema‹ im Rahmen der soziologischen Systemtheorie. Zum Thema des Themas in Luhmanns Werk vgl. v. a. Soziale Systeme, 212–216. 78  Vgl. die noch immer unübertroffenen Analysen des small talk von Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959, deutsch: Wir spielen alle Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, aus dem Am. v. Peter Weber-Schäfer, München, Zürich 2003, und Forms of Talk, Philadelphia 1981, deutsch: Rede-Weisen. Formen der Kommunikation in sozialen Situationen, hg. v. Hubert Knoblauch, Christine Leuenberger, Bernt Schnettler, Konstanz 2005. Luhmann beruft sich immer wieder gerne auf Goffman. 79  Athanasios Karafillidis, Soziale Formen. Fortführung eines soziologischen Programms, Bielefeld 2020, 148. 240 | Anmerkungen

80 

Nietzsche, Nachlass 1885, 34[249], KSA, Bd. 11, 505, KGW IX 1, N VII 1, 5 (mit {} werden nachträgliche Einfügungen Nietzsches in seine Aufzeichnungen gekennzeichnet). 81 Vgl. die einschlägigen Standardwerke von Karin Knorr-Cetina, The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science, Oxford 1981, deutsch: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main 1984, erweiterte Neuauflage 2002; dies., Epistemic Cultures. How the Sciences make Knowledge, Cambridge, Mass., London 1999, deutsch: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt am Main 2002. Knorr-Cetina geht programmatisch von Wissenschaftsdisziplinen zu »Wissenskulturen« und von Methoden zu »Orientierungen und Praktiken« über und bricht »mit herkömmlichen Begriffen von Wissen«. Sie setzt keine »Einheit der Wissenschaft«, noch nicht einmal einer bestimmten Disziplin, voraus, ist also selbst vorsichtig mit Verallgemeinerungen. Stattdessen will sie durch Vergleiche »Unterschiede zwischen Bereichen« von »Wissensmaschinerien« herausarbeiten, ohne »Akteure« herauszustellen (Wissenskulturen, 11–15, 20). 82 Vgl. Lorraine Daston, Peter Galison, Objectivity, New York 2007, deutsch: Objektivität. Aus dem Am. v. Christa Krüger, Frankfurt am Main 2007. 83 Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, Nr.  5. Nietzsches Beispiel ist hier sein eigener Lehrer Schopenhauer mit seiner Willens-Metaphysik. 84 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 712–738, B 740–766 (»Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche«). 85  Nietzsche, Nachlass 1888, 16[32], KSA, Bd.  13, 492, KGW IX 9, W II 7, 144 (nachträgliche Einfügung zu einer nachträglichen Einfügung: »{{Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe}}«). In seinen Aphorismen-Büchern hält Nietzsche seine eigenen kühnen Verallgemeinerungen unauffällig, aber gezielt in Schach, indem er die Aphorismen wechselseitig perspektiviert und subvertiert (vgl. Vf., Nietzsches Befreiung der Philosophie, passim; Jakob Dellinger, »Vorspiel, Subversion und Schleife. Nietzsches Inszenierung des ›Willens zur Macht‹ in Jenseits von Gut und Böse«, in: Marcus Andreas Born, Axel Pichler (Hg.), Texturen des Denkens. Nietzsches Inszenierung der Philosophie in Jenseits von Gut und Böse, Berlin, Boston 2013, 165–187). Die Metaphysizierung etwa seines Wille-zur-Macht-Gedankens verhindert Nietzsche durch die wechselnden Formen seiner philosophischen Schriften (vgl. Vf., Nietzsche im Nietzsche-Haus. Die Entwicklung des Wille-zur-Macht-Gedankens, Nietzsche lesen, Heft 5, hg. von Timon Georg Boehm, Sils-Maria 2020). Den Anstoß zur Kritik vorschneller Verallgemeinerungen in der Wissenschaft gab ihm Francis Bacon: Nietzsche nennt ihn den »ersten Realisten in jedem grossen Sinn des Wortes« (Ecce homo, Warum ich so klug bin, Nr. 4). 86  Vgl. Andreas Hetzel, Jens Kertscher, Marc Rölli (Hg.), Pragmatismus. Anmerkungen | 241

Philosophie der Zukunft?, Weilerswist 2008; Dennis Sölch, »Von Emerson bis Whitehead«, in: Michael Festl (Hg.), Handbuch Pragmatismus, Stuttgart, Weimar 2018, 297–303. 87  Vgl. Nietzsche, Wahrheit und Lüge 1, KSA 1.880; Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 137–139, 182, 339, 409, 572; Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft; Vf., Philosophie der Orientierung, 256–263. 88 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 122  f. Vgl. Vf., »Philosophie als übersichtliche Darstellung. Wittgensteins Abgrenzung von Oswald Spengler und der Philosophie und Psychologie der Weltanschauungen«, in: Dennis Sölch (Hg.), Wittgenstein und die Philosophiegeschichte, Freiburg, München 2021, 281–312. 89  Vgl. Vf., »Bilder, Klänge und Gedanken als Orientierungsfaktoren: Anhaltspunkte bei Nietzsche und Wittgenstein«, in: Wittgenstein-Studien 12 (2021), 61–89. 90 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 738–757  /  B 766–785 (»Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs«). 91 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 821  /  B 849. Vgl. Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin, New York 2003. 92 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 752  /  B 780, A 747  /  B 775. 93 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr.  632. 94  Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019, 26. 95 Nassehi, Muster, 215. 96 Nassehi, Muster, 108  f. 97  Vgl. Nick Bostrom, Superintelligence. Paths, Dangers, Strategies, Oxford 2014, deutsch: Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution, übers. v. Jan-Erik Strasser, Berlin 2014.

Kapitel II: Das Auftauchen der Frage nach dem Anderen Johann W. Goethe, Italienische Reise, Frankfurt am Main 1976, 448. Peter Härtling, »Der arme Weise. Ein Plädoyer«, in: Wer vorausschreibt, hat zurückgedacht. Essays, Frankfurt am Main 1990, 51–54, hier: 54. 3  José Ortega y Gasset, »Der Intellektuelle und der Andere« [1940], in: Triumph des Augenblicks – Glanz der Dauer, München 1963, 280–289, hier: 289. 4  Zitiert werden seine Werke im Folgenden nach: Hermann Broch, Die Unbekannte Größe [1933]. Kommentierte Werkausgabe Bd.  2 , Frankfurt am Main 1977 [= UG]; Die Verzauberung. Kommentierte Werkausgabe Bd.  3, Frankfurt am Main 21980 [= V]; Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Kommentierte Werkausgabe Bd.  1, Frankfurt am Main 21980 [= S]; Die Idee ist ewig. Essays und Briefe, München 1968 [= DI]; 1918 – Huguenau oder die Sachlichkeit [1931], Frankfurt am Main 1980 [= H]; Der Tod des Vergil, München 31968 [= TV]; 1 

2 

242 | Anmerkungen

Schriften zur Literatur 1. Kritik. Kommentierte Werkausgabe Bd.  9/1, Frankfurt am Main 1975 [= SL1]; Philosophische Schriften 1. Kritik. Kommentierte Werkausgabe Bd.  10/1, Frankfurt am Main 1977 [= PS1]. 5  Vgl. DI, 45; H, 113. 6  Bis auf ein womöglich weitgehend unerkanntes Fortwirken von Restbeständen der entsprechenden Überlieferung; vgl. PS1, 194, 207. 7 Vf., Verzeitlichte Welt. Zehn Studien zur Aktualität der Philosophie Karl Löwiths, Stuttgart 22020. 8  Carl Schmitt, Politische Romantik [1919], Berlin 31968, 123, 138, 140  f. 9  Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt am Main 1973; ders., Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt am Main 1976; ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd.  1–3, Frankfurt am Main 1981; Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt am Main 1980; Benjamin Nelson, Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt am Main 1986. 10  Broch, SL1, 193; Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt am Main 21983, 15. 11  Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen 1967, 39; Eugen Fink, Nietzsches Philosophie [1960], Stuttgart 31973, 154. 12  Vgl. Seyla Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Frankfurt am Main 2006, 40. 13  Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 31993, 511; Elena Pulcini, Das Individuum ohne Leidenschaften. Moderner Individualismus und Verlust des sozialen Bandes, Berlin 2004, 134  ff. 14  Karl Marx, »Manifest der kommunistischen Partei«, in: Die Frühschriften, Stuttgart 1971, 525–560, hier: 529; Marshall Berman, All That is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity, London 1998; Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, 637. 15  Zygmunt Bauman, Liquid Modernity, Oxford, Malden 2000. 16  Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Dia­ gnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976. 17 Schmitt, Politische Romantik, 222, 27. 18  Gottfried Benn, »Kunst und Drittes Reich«, in: Gesammelte Werke 3. Essays und Aufsätze, Wiesbaden, Zürich 1968, 861–884, hier: 881. 19  Zwiespältig liest sich in dieser Hinsicht die Definition der Phänomenologie als einer »Kunst des Unterscheidens, also des Unterschiedes« bei P. Ricœur, wenn er einerseits von einem nur klärenden Unterscheiden handelt, dann aber dieses Klären als ein »Instituieren von Unterschieden« deutet; vgl. Paul Ricœur, »Phänomenologie des Wollens und Ordinary Language Approach«, in: Helmut Kuhn, Eberhard Avé-Lallemant (Hg.), Die Münchner Phänomenologie, Den Haag 1975, 105–124, hier: 116. Anmerkungen | 243

So behauptet man unter Berufung auf Leibniz’ principium identitatis indiscernibilium, dass Gleiches allenfalls dort erscheint, wo das Unterscheiden aufhört. Gottfried W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig 1915, II. Buch, Kap.  X XVII, 239–262. S. o. Kap. I 2, S.  28. 21  Nietzsche, Nachlass 1887, 10[19], KSA, Bd.  1 2, 465. 22  Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd.  8, Frankfurt am Main 1984, 555. Vgl. Kap. I 2, S.  28. 23  Ortega y Gasset, »Der Intellektuelle und der Andere«, 286. 24  Alexander Solschenizyn, Der Archipel GULAG, Bern 1974, 15  f. 25  Marie L. Kaschnitz, »Der Deserteur«, in: Lange Schatten. Erzählungen, München 131978, 142–148, hier: 148. 26  Die als »Kernfrage unserer Epoche« die mögliche »Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates« heraufbeschwören – lt. Warlam Schalamow, Über Prosa, Berlin 2009, 30; vgl. Kate Millet, Entmenschlicht. Versuch über die Folter, Hamburg 1993, 17, 97  f. 27  Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1988, 62. 28 Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, 44, 58. 29  Tatsächlich hat jene Erfahrung allerdings eine längere Vorgeschichte, die hier außen vor bleiben muss. Bereits infolge der Inflation der 1920er Jahre fragte sich der junge Heinrich Mann: »Wozu konnte man […] noch Vertrauen haben?« Die allzu einfache Antwort lautet bereits an dieser Stelle generalisiert: »Zu gar nichts: begriff die junge Generation.« Heinrich Mann, »Die Kriegsund Nachkriegs-Generation« [1938], in: Die Heimsuchung des europäischen Geistes. Aufsätze, München 1973, 59–76, hier: 62. 30  Christa Wolf, Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Darmstadt, Neuwied 81984, 105. 31  Vgl. bspw. George Steiner, der zu dem Schluss kommt, man könne nach jener Erfahrung im Grunde gar nicht mehr anders als »beständig [zu] leben mit zutiefst erschrockener Seele« (In Baubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur, Frankfurt am Main 1972, 56). 32  Steven Pinker, Gewalt, Frankfurt am Main 2013. 33  Vgl. Hannah Arendt, »Hermann Broch und der moderne Roman« [1949], in: dies., Hermann Broch, Briefwechsel 1946 bis 1951, Frankfurt am Main 1996, 175–184. 34  Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, München 1974, 65. 35  Vgl. David G. Morris, Geschichte des Schmerzes, Frankfurt am Main 1996. 36  Vgl. die Ausführungen zum Schmerz in Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Berlin 1966, 119. 37  Hannah Arendt, »Einleitung«, in: Hermann Broch, Dichten und Erkennen. Essays. Bd.  I, Zürich 1955, 5–42, hier: 20; auch in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, München 2001, 125–165, hier: 141. 20 

244 | Anmerkungen

Zit. n. Jacques Derrida, Berühren. Jean-Luc Nancy, Berlin 2007, 69. Politik, 1253 a, 30–35. 40  Vgl. Hans-Georg Gadamer, Lob der Theorie, Frankfurt am Main 1983, 43  f. 41  Vgl. Helmuth Kuhn, Das Sein und das Gute, München 1962. 42 Dessen Fröhliche Wissenschaft oft mit den Worten zitiert wird, »mit Zweien beginnt die Wahrheit« (Sämtliche Werke. Bd.  3, 517, Nr.  260). 43  Tatsächlich beurteilt Broch die Aussicht auf einen neuen Mythos viel skeptischer, als es hier den Anschein hat (vgl. SL1, 89, 91), wo Joyce geradezu als der Homer der Moderne gilt (DI, 69, 83, 109, 114; S, 732). Schließlich wird rundweg bestritten, dass sich die Sehnsucht nach einem neuen Mythos befriedigen ließe (SL1, 314). Was er zu leisten hätte, nämlich die Erde wieder bewohnbar erscheinen zu lassen, ist erst recht nicht von der Physik zu erwarten, die heute privilegiert von der Erde handelt. In dem abstrakten System, das sie beschreibt, kann man nicht wohnen (SL1, 396). Zu Hermann Broch und Joyce, diesem Kronzeugen einer alle(s) und jede(n) rückhaltlos erfassenden permanenten Alteration, die er im »Welt-Alltag« des berühmten Bloomsday vor ­Augen führt, vgl. Wolfgang Iser, »Der Archetyp als Leerform. Erzählschablonen und Kommunikation in Joyces ›Ulysses‹«, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, 369–408, hier: 373, 390. 44  G. W.  F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd.  I. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1994. 45  Vgl. Vf., Bernhard H. F. Taureck, Trostlose Vernunft? Vier Kommentare zu Jürgen Habermas’ Konstellation von Philosophie und Geschichte, Glauben und Wissen, Hamburg 2021. 46  Marcel Hénaff, Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, Bielefeld 2014, 171, 174, 176, 179; Paul Ricœur, »Emmanuel Levinas: penseur du témoignage«, in: Jean-C. Aeschliman (Hg.), Répondre d’autrui, Neuchâtel 1989, 17–40, hier: 31 zum »oubli de l’autre«. Wieder aufgenommen wurde jener Begriff u. a. von Karen Gloy, Alterität. Das Verhältnis von Ich und dem Anderen, Leiden, Boston 2018, 12; vgl. die Rezension d. Vf. im Philosophischen Jahrbuch 126/I (2019), 159‒162. 47  Vgl. Michael Tomasello, Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, Berlin 2020, sowie die Rez. d. Vf. in: Philosophischer Literaturanzeiger 73, Nr. 3 (2020), 253–264. 48 Vgl. Niko Strobach, »Realität und Metaphorik der Perspektive«, in: Hartmut v. Sass (Hg.), Perspektivismus, Hamburg 2019, 61–76. 49  Helmuth Plessner, Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1976, 103. 50  Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin, New York 21977. Paul Ricœurs Buchtitel Soi-même comme un autre (Paris 1990), übersetzt mit: Das Selbst als ein Anderer (München 1996), steht zur Einsicht Plessners nicht im Widerspruch, denn das implikative 38 

39 Aristoteles,

Anmerkungen | 245

›als‹ läuft keineswegs auf eine schlichte Gleichsetzung von Selbst und Anderem hinaus. So ist auch Fernando Pessoa nicht zu verstehen, der beschrieben hat, wie es ist, sich als geradezu »geandert« zu erfahren; vgl. Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt am Main 2006, 107, 143. 51  Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Gesamtausgabe Bd.  29/20, Frankfurt am Main 21992, 301. 52  Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151984, § 26. 53  Vgl. zur vieldimensionierten Ununterscheidbarkeit S, 272, 281, 298, 300. 54  Vgl. SL1, 112, 203; TV, 50, 139. 55  Else Lasker-Schüler, »Weltflucht«, in: Jürgen Schutte, Peter Sprengel (Hg.), Die Berliner Moderne 1885‒1914, Stuttgart 1993, 364. 56  Zit. n. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München, Zürich 52002, 301  f. Broch spricht in diesem Zusammenhang von einer »Verkehrung ins Gegenmenschliche«; TV, 21. 57  Vgl., mit Blick auf Karl Kraus, die Rede von einer Welt-Apokalypse, die infolge des Aufkommens des Spießertums drohe, in: SL1, 271–275. 58  TV, 86, 91. Von Brochs massenpsychologischem Hintergrund dieser Thesen sehe ich hier ab; vgl. Hermann Broch, Politische Schriften, Frankfurt am Main 1978, 39, wo deutlich wird, dass der »Spießer« allenfalls eine neuere Erscheinungsform einer weit älteren Paarung von Archaismus, Infantilität und Banalität sein kann. 59  Darauf bezieht sich die Rede von falscher Einsamkeit, die in einer wirklichen Gemeinschaft nicht herrschen sollte (V, 301). Die »große« (›richtige‹?) Einsamkeit weiß dagegen, dass jede(r), gleichsam in sich »hinabgelassen, versenkt in [s]ein eigenes Jenseits«, in seiner »Verborgenheit […] unerreichbar« bleibt (V, 86, 174). Womöglich stammen aus dieser »Ferne unserer Unendlichkeit […] unsere Blicke her«. Aus dieser »Unerfaßlichkeit eigenen Seins« heraus suchen wir die »eigene, nackte Unendlichkeit« und die des Anderen (V, 87, 191), fragen »ferneträchtig […] nach dem Bestand des eigenen Selbst« (TV, 73), das gleichwohl geradezu in »Annäherungslosigkeit« verharren kann (S, 243). Darin zeigt sich »vertrauteste Fremdheit, fremdeste Vertrautheit« und »fernste Nähe, abgeschieden, fremdheitserfüllt« (TV, 143, 149), ja die Hyperbolik einer »Überferne in der Ferne« als »innerste Grenze beider«, an die jede(r) im Verhältnis zu Anderen stößt (TV, 114) – ohne je genau zu wissen, ob sie / er selbst spricht oder die / der Andere in ihr/m (S, 265). Auch hier wird eindeutige Unter­scheidbarkeit schließlich unmöglich. 60  V, 80; TV, 116; PS1, 169, 173, 175, 244; SL1, 61, 202. Die Namenlosigkeit verspricht zunächst Schutz, dann aber heißt es: Wer keinen Namen mehr hat, lebt im Ungeschehenen (Die Schuldlosen, 25, 29). 61  Das auch bei Vincent van Gogh in dessen »Wiedersuchen der Ursensation« erkannte Pathos stuft Broch allerdings als »beweisloses« ein (vgl. PS1, 12, 39, 167). 246 | Anmerkungen

62 

Vgl. V, 228; UG, 133. UG, 244  f. – So lässt es Broch als zweifelhaft erscheinen, was er einmal quasi definitorisch, aber zweideutig, festgeschrieben hat: Die Philosophie »erschöpft sich im Problem des Problembegriffs« (PS1, 41). 64  Auch der Sesshafte, schreibt Broch (V, 30), wandert, er will es bloß nicht wissen, weil er an sein eigenes Fortgehenmüssen nicht erinnert werden will. »Wer wandert, der läuft vor dem Tod davon«, ohne recht zu wissen, wo das Menschliche und Bleibende zu finden wäre (V, 55). So muss er wie Camus’ Sisyphos immer von vorn beginnen (V, 150  f., 177). Zum existenziellen bzw. existenzial-ontologischen Motiv der Wanderschaft vgl. Gabriel Marcel, Homo viator, Paris 1945; Paul Ricœur, Gabriel Marcel et Karl Jaspers. Philosophie du mystère et philosophie du paradoxe, Paris 1948, 139, 407. 65  Aber so, suggeriert Broch, dass im Wort nicht mehr »das Unberührbare aufbewahrt« wird (V, 79). 66  Die Schuldlosen, 49; 270; S, 735. 67  Technik lässt nichts außerdem gelten, so scheint es, SL1, 243. 68  TV, 11, 13. Auch in diesem Kontext machen sich tiefgreifende Ambivalenzen bemerkbar, spricht sich Broch doch auch »radikal« gegen jegliche Vergemeinschaftung aus (DI, 27), sieht aber diejenigen, denen jegliche Gemeinschaft abgeht, »in das unerbittlich Fremde hineingleiten« (H, 316). 69  SL1, 217; TV, 27; S, 328. 70  DI, 51, 58; H, 197. Die Stummheit der Welt beginnt mit Renaissance, die nur noch eine Sprache messbarer Dinge kenne (PS1, 197, 237). 71  TV, 129; SL1, 217, 220, 252, 305–310, 322. 72  UG, 51. »Aus dem Spurlosen ins Spurlose gehend«, gibt »nichts […] mir Antwort«; vgl. V, 381, 360. 73  UG, 48  f., 128  f.; S, 260. 74  S. o., Anm. 53. 75  S, 731; PS1, 51. 76  PS1, 64; S, 268, 270. 77  Mit der »zarten und furchtbaren Bitte an das andere Sein, daß es sich öffne. Bitte um Aufnahme, zartes und furchtbares Angebot des eigenen Ichs« (UG, 122). 78  Wie es noch Robert P. Harrison, The Dominion of the Dead, Chicago, London 2003, nahelegt; vgl. H, 98, 227; V, 170, 212, 341. 79  Vgl. UG, 116, 120, zum Verhältnis von Welt und Mathematik, sowie zur sozialphilosophischen Problematik der Erwiderung Karl Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« [1928], in: Sämtliche Schriften 1, Stuttgart 1981, 9–197. 80  Jacques Derrida, Das Problem der Genese in Husserls Philosophie, Zürich, Berlin 2013; ders., Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München 1987. 63 

Anmerkungen | 247

die Bände XIII–XV der Husserliana, die sich auf nachgelassene Texte der Jahre 1920–1935 beziehen. 82  Vgl. Gabriel Marcel, Position et approches concrètes du mystère ontologique [1933], Paris 21967. 83  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1977, 82, Nr.  122. 84  Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik [1955], Frankfurt am Main 1974, 241. 85 Negativ lautet die entsprechende Auskunft bei Bernhard H.   F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie, Frankfurt am Main 2004. Dies betrifft die im Orientierungsdiskurs nicht zu umgehende, vielfach zwischen terranen und maritimen Metaphern schwankende Begrifflichkeit im Kern. (Man denke an Jean-François Lyotards Rede von Archipelen, an Jacques Derridas Gestade oder an Charles Taylors moralische Topografie.) Welche die jeweils richtige bzw. angemessene ist, lässt sich anscheinend nicht objektiv entscheiden. Insofern nährt das den Verdacht einer gewissen Desorientierung in der Metaphorik der Orientierung selbst. 86  Hermann Broch, Menschenrecht und Demokratie. Politische Schriften, Frankfurt am Main 1978; ders., Politische Schriften, Frankfurt am Main 1978. Die Form, die jene Apologie im Rahmen einer »totalen Demokratie« und »Diktatur der Humanität« schließlich annimmt, bleibt hier ganz außer Betracht. 87  G. W.  F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], Werke 7 (Hg. Eva Moldenhauer, Karl M. Michel), Frankfurt am Main 1986, 26. 88  Was hier weitgehend ausgespart bleiben musste: Diese Orientierung beruft sich schließlich auf ein »irdisches Absolutes« (bzw. Verabsolutiertes) wie das, was Menschen unter keinen Umständen angetan werden darf (DI, 153). So rekurriert diese Maßgabe auf die Negativität des Erlittenen – und nicht auf einen erneuerten Platonismus. 89 Werner Stegmaier (Hg.), Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt am Main 2005; ders., Philosophie der Orientierung, Berlin, New York 2008; ders., Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, Berlin, Boston 2016. 90  Vgl. Rüdiger Bubner, »Die Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt«, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1973, 210–243. 91  Vgl. Vf., Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Bd.  I / I I, Freiburg i. Br., München 2018. 92  Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br. 1987, 222; Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, Paris 1990, 166. 93  Die sich anschließenden Überlegungen knüpfen an folgenden Aufsatz d.  Vf. an: »Dialogisches Dasein auf der Suche nach der verlorenen Diskre81  Vgl.

248 | Anmerkungen

tion ‒ im Rückblick auf Martin Buber und Emmanuel Levinas«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 67, Nr.  2 (2020), 444–463. 94  Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, 108 [= DP]. 95  Emmanuel Levinas, De l’évasion. Ausweg aus dem Sein [1935] (frz. / dt.), Freiburg i. Br. 2005. 96  Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br. 21987, 185. 97  Emmanuel Levinas, »Dialog«, in: Burkhard Liebsch (Hg.), Emmanuel Levinas: Dialog. Ein kooperativer Kommentar, Freiburg i. Br. 2020, 25–53. 98 Levinas, Die Spur des Anderen, 197  f., 200, 206, 266; Dominique Janicaud, La phénoménologie dans tous ses états, Paris 2009; Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien 2014. 99  Dass Levinas das Selbst und das Selbe oft nicht auseinanderhält, hat vielfach berechtigte Kritik hervorgerufen, die hier nicht im Einzelnen auszubreiten ist. 100  Levinas, »Dialog«, Abschnitt 27. 101  Ein Grundproblem der Politischen Philosophie der letzten Jahre, vor allem bei Jacques Rancière; vgl. Vf., »Unterwegs zu einer neuen Art, die Erde zu ›bevölkern‹? Jacques Rancière, die Literatur und die Politik«, in: Erik M. Vogt, Michael Manfé (Hg.), Jacques Rancière und die Literatur, Berlin, Wien 2020, 89–109. 102  In Habermas’ jüngster Geschichte der Philosophie bspw. spielt diese Fragestellung so gut wie keine Rolle. Erst ganz am Ende des zweiten Bandes wird der (scheinbare) Pleonasmus, den »Anderen als Anderen« gleich zu behandeln, nachgeschoben (Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd.  2, Berlin 3 2019, 794). Aber es fehlt jeglicher Bezug auf Überlieferungen und Autoren, die für die unaufhebbare Alterität des Anderen sensibilisiert haben. 103  Zumindest nicht in direktem Zusammenhang mit dem Dialog-Begriff, muss man einschränkend sagen. Denn das Thema der Berührung bspw. beschäftigt Levinas vielfach. 104  Vgl. Johannes Bennke, Dieter Mersch (Hg.), Levinas und die Künste, Bielefeld, i. E. 105  Claudia Schmölders (Hg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 1979, 17 (= KG). 106  KG, 26, 29, 108. 107  KG, 39, 44, 48, 50, 65, 125. 108 Johann W. Goethe, »Unterhaltung deutscher Ausgewanderten«, in: Werke. Bd.  6, Hamburg 61965, 137‒139. 109  Georg Simmel, »Psychologie der Diskretion« [1906], in: Schriften zur Soziologie, Frankfurt am Main 1983, 151‒158. Simmel hielt es zunächst für eine »banale Selbstverständlichkeit«, »dass alle Beziehungen zwischen Menschen auf dem Wissen ruhen, das der eine von dem anderen hat«. Dieses Wissen sei aber gleichsam verwoben »mit dem, was er von ihm nicht weiß«. Gerade das Anmerkungen | 249

gebe der jeweiligen Beziehung »ihren Ton, ihren Umfang, ihr Tiefenmaß«. So spricht sich Simmel gegen die Vorstellung »vollkommene[r] gegenseitige[r] Durchsichtigkeit« aus, auf die das Wissen vom Anderen und des Anderen hinauslaufen könnte. Tatsächlich aber kommt das Wissen vielfach über eine bloße »Bekanntschaft« nicht hinaus, die wir bezeichnenderweise gerade für »die oberflächlichste Beziehung« reservieren, in der man kaum mehr als »Notiz voneinander genommen« hat. So gesehen liegt im Bekanntsein ein »Mangel eigentlich intimer Beziehungen« ohne Bezug auf »das, was ein jeder an und in sich« ist. Die Bekanntschaft gibt sich scheinbar mit einer »der Welt zugewandten« Fassade zufrieden. Doch hält sie sich, statt den Anderen darauf zu reduzieren, als diskrete von der Kenntnis alles dessen fern, »was er nicht positiv offenbart«. So beschränkt sie sich nicht darauf, Respekt vor dem »Geheimnis« des Anderen, »vor seinem direkten Willen, uns dies oder jenes zu verbergen«, zu bezeigen, sondern wahrt von sich aus eine Distanz, in der es ausgeschlossen zu sein scheint, dem Anderen ›zu nahe zu treten‹ und ihn auf diese Weise zu kränken. »Selbst im intimen Verhältnis« zu ihm sollte diese Distanz nicht wie beim »Kammerdiener« »ohne weiteres verschwinde[n]« und stets dessen eingedenk sein, dass bereits die »bloße Kenntnisnahme« gewisser Dinge »ein Zunahetreten« bedeuten kann. Simmel spricht von einem »Rechtsgefühl in Bezug auf die hiermit bezeichnete Sphäre, deren Grenze freilich nicht ohne weiteres festzulegen ist«, zumal für den psychologisch Sensiblen »die Menschen unzählige Male ihre geheimsten Gedanken und Beschaffenheiten« oft unfreiwillig verraten, »gerade weil sie ängstlich bemüht sind, sie zu hüten«. Demnach verhält es sich unvermeidlich so, dass jeder vom Andern mehr weiß, »als dieser ihm willentlich offenbart, und vielfach solches, dessen Erkanntwerden ihm, wenn er es wüsste, höchst unerwünscht wäre«. So wahrt die Diskretion paradoxerweise eine Grenze, die sie immer schon überschritten hat. »Selbst dem besten Willen zur Diskretion« kann es nicht gelingen, sich im Verhältnis zum Anderen »des geistigen Antastens ›alles dessen, was sein ist‹, zu enthalten«. Doch widersetzt sie sich einer aktiven Indiskretion, die »ebenso gewalttätig und moralisch unzulässig sein« kann »wie das Horchen an verschlossenen Türen«. Dabei schwankt Simmel bemerkenswert, wo es darum geht, was bei der Diskretion, die man dem Anderen entgegenbringt, auf dem Spiel steht. Soll die Beziehung zum Anderen nur in einer gewissen, diskret gewahrten »Undeutlichkeit oder Unanschaulichkeit« bleiben, damit ihr »Reiz« nichts einbüßt? Soll sie auf diese Weise vor einer Ernüchterung bewahrt werden, die unvermeidlich droht, wenn man sich zu ›kennen‹ glaubt und ihre Fortsetzung insofern als zwecklos erscheint? Geht es darum, nicht aus Mangel an (ein- oder gegenseitiger) Diskretion, »in eine reizlos banale Gewöhnung, in eine Selbstverständlichkeit, die keinen Raum für Überraschungen mehr hat«, zu verfallen, bzw. darum, sich einer »fruchtbare[n] Tiefe der Beziehungen, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes ahnt und ehrt, die auch das sicher Besessene täglich von 250 | Anmerkungen

neuem zu erobern reizt«, bewusst zu bleiben? Für Simmel kann ‒ abgesehen von derartigen psychologischen Überlegungen ‒ ausdrücklich kein Zweifel daran bestehen, »daß prinzipiell eine Diskretionspflicht besteht, wie unsicher auch ihre Grenzen sich zeigen«. Damit scheint er andeuten zu wollen, dass dieses zu Ehrende keineswegs als dem Anderen nicht zu entwendendes Eigentum oder als Arkanes der Zudringlichkeit Anderer absolut entzogen ist, sondern durch Indiskretion sehr wohl ›angetastet‹ werden kann. Andernfalls bedürfte es einer solchen Pflicht gar nicht. Dabei bleibt allerdings ungeklärt, woher eine solche Pflicht rühren soll, die Simmel an anderer Stelle auch als »freiwillige Reserve« bezeichnet, die sich darin manifestiert, den Anderen vor eigener Zudringlichkeit des Sehens, des Hörens, des Wissens zu verschonen. So gesehen handelt es sich nicht um eine Pflicht, sondern um eine Art Selbsteinschränkung, die realisiert, dass die Beziehung zum Anderen ihren Namen gar nicht verdienen kann, wenn sie die ihr innewohnende Alterität nicht auch von sich aus wahrt, um es mit Levinas zu sagen, der so sehr ›vom Anderen her‹ denkt, dass das Verhalten zum Anderen allzu wenig in den Blick kommt. Pointiert gesagt: Ohne Diskretion kann die Alterität des Anderen sozial nicht gewahrt werden. 110  Georges Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978, 77; Mario Vargas Llosa, Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Berlin 2013, 161  ff. 111 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 222; Totalité et infini, 166. 112 Ebd. 113  Existieren heißt für Levinas explizit bleiben (können, dürfen …) ‒ dank Anderer und wird auf diese Weise radikal sozial gedacht. 114  Leben bedeutet, ein Anderer zu sein und sich selbst insofern nicht zu kennen, schreibt Pessoa. Und wer uns zu kennen meine, verkenne uns nur aus größerer Nähe (Das Buch der Unruhe, 107, 124). 115  Vgl. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 19; Totalité et infini, 5, sowie zur Revision dieser Vorstellung Vf., »›Herrscht‹ Krieg ‒ seit je her, gegenwärtig und auf immer? ›Polemologische‹ Überlegungen zur Frage, ob wir ihm ausgesetzt oder (auch) ausgeliefert sind«, in: Christian Ciocan, Paul Marinescu (eds.), Conflict and Violence. Studia Phænomenologica XIX (2019), 103‒127; Vf. (Hg.), Radikalität und Zukunft des Krieges, Baden-Baden 2021. 116  Vgl. die beißenden Einwände, die Ingeborg Bachmann dagegen geltend macht, dass die Opfer unter Berufung auf ein biblisches Gebot oder auf ­einen kategorischen Imperativ »auch noch für Einsichten herhalten müssen. Es bedarf dieser Einsichten gar nicht. Wer weiß denn hier nicht, daß man nicht töten soll?« Und warum muss man Kindern erst nachträglich beibringen, dass die fraglichen Opfer immerhin ›auch Menschen‹ waren und dass man ihnen deshalb nicht das antun darf, was man ihnen eben doch angetan hat? Ingeborg Bachmann, »Unter Mördern und Irren«, in: Das dreißigste Jahr. Erzählungen, München 221988, 66–87, hier: 80. Anmerkungen | 251

Paul Ricœur, »L’herméneutique du témoignage« [1972], in: ders., Lectures 3. Aux frontières de la philosophie, Paris 1994, 105–138. 118  Vgl. Emmanuel Levinas, Carnets de captivité et autres inedits. Œuvres 1, Paris 2009, 263, 303. Ich komme darauf in meinem zweiten Beitrag (Kap.  I V) zurück. 119  Vgl. die Zwischenbilanz d. Vf., »Verfehlte Ethik und politische Schuld. Zur systematischen Aktualität von Karl Jaspers’ Abhandlung Die Schuldfrage (1946) ‒ mit Blick auf John K. Roths The Failures of Ethics (2015/8)«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 51 (2019), 125–164. 120  Wie ich im Kap.  I V zu zeigen versuche, hat jedoch gerade eine vermeintlich absolute Orientierung massive Gewalt heraufbeschworen, der eine Aufklärung über das, was Orientierung leisten kann und was nicht, entgegenzuwirken vermag. In dieser Hinsicht produktiv verstehe ich Werner Stegmaiers Philosophie der Orientierung, ohne mich (so wenig wie er) einer melancholischen Verlustdiagnose anzuschließen, die dem Absoluten nachtrauert. 121  Wobei an den eigentümlichen Begriff (entre-temps) zu denken ist, wie ihn Levinas von ›innerweltlicher‹ Zwischenzeit abhebt. 122  Nietzsche, Nachlass 1885, 34[249], KSA, Bd. 11, 505. 123  Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 21985, 9. Hier wird allerdings zugleich einem naiven Verständnis von ›Abbildbarkeit‹ des Sozialen widersprochen. 124  Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, 201  ff., 211. 125  Vgl. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt am Main 1997, 20  ff. 126  Vgl. bspw. Claus-Artur Scheier, Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne, Hamburg 2016, 34, 74. 127  Walter Jens, Statt einer Literaturgeschichte, Pfullingen 7 1978, 225, 45  f. 128 Jens, Statt einer Literaturgeschichte, 232, 227; vgl. Hermann Broch, Pasenow oder die Romantik [1931], Frankfurt am Main 1969, 96, 120, 125; ders., 1903 · Die Esch oder die Anarchie [1903], in: S, 181–382, hier: 297. 129  Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [1932], Frankfurt am Main 21981. 130  Milan Kundera, Der Vorhang, Frankfurt am Main 2008, 84–88, 96  ff. 131 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, 32, 42. 132  Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, Frankfurt am Main 2007, 252  ff. 133  Das ist beileibe kein neues Thema. Bereits Gabriel Marcel fragte, ob das »Wesen des Menschen nicht darin liegen« könnte, »ein Lebewesen zu sein, das bezeugen«, aber auch sich und Andere verraten kann. Gabriel Marcel, Sein und Haben [1935], Paderborn 1954, 104, 115, 128. Woran genau Verrat geübt wird, bleibt dabei allerdings undeutlich. Im Lichte der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit totalitären Systemen gab der Jurist Böckenförde die Ant117 

252 | Anmerkungen

wort mit seinem Begriff des Bürgerverrats (den Marcel nicht im Sinn hat). Vgl. Ernst-W. Böckenförde, Staat, Nation, Europa, Frankfurt am Main 1999, 99, 276  ff. Bei Ricœur geht es 1948 bereits um »trahison« als »essence de notre monde« (Ricœur, Gabriel Marcel et Karl Jaspers, 118, 221). Siehe auch die Bilanz in Kap. VI. 134  Vgl. Werner Stegmaier, »Recht und Billigkeit in der Gegenwart. Anhaltspunkte bei Friedrich Nietzsche, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida«, in: Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hg.), Recht und Billigkeit. Zur Geschichte der Beurteilung ihres Verhältnisses, Tübingen 2021, 533–571. 135  Vf., »Soziales Leben und massenhafter Tod. Naturgeschichte, historisches Gedächtnis und menschliche Sterblichkeit«, in: Journal Phänomenologie 54 (2020), 66–79. 136  Vgl. Gerhard Gamm, Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt am Main 2000; Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001. 137  Vgl. Philipp D. Knobloch, Johannes Drerup, Dilek Dipcin (Hg.), On the Beaten Track. Zur Theorie der Bildungsreise im Zeitalter des Massentourismus, Stuttgart 2021. 138  Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt / M ., Hamburg 1955, 192, 17. 139  Um eine Frage Werner Stegmaiers im Kapitel I dieses Bandes aufzugreifen. 140  Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, Sämtliche Werke, Bd.  11, 884. 141  Vgl. in Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, 235, die Anm. zu James Joyce. 142  Auch Levinas kann seinen Begriff der Stellvertretung (substitution) deshalb nur paradox entfalten: als Stellvertretung von Nicht-Substituierbaren und für Nicht-Substituierbare (Jenseits des Seins, Kap.  IV). 143  Immanuel Kant, »Was heißt: Sich im Denken orientieren?«, in: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 131–147, hier: 137. 144  Franz Kafka, »Brief an Max Brod«, in: Wort und Sinn, Paderborn 1968, 420  f.

Kapitel III: Orientierung an Alterität Burkhard Liebsch, Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008. 2  Auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1996, 7  f., setzt Orientierungen nicht einfach gleich. Er argumentiert hier ähnlich wie Luhmann: Ein »wohlverstandener Universalismus« bringt die »relationale Struktur von Andersheit 1 

Anmerkungen | 253

und Differenz […] gerade zur Geltung«. Danach machen Gleichsetzungen Ungleichheiten erst recht sichtbar und »hoch empfindlich« für sie: »Einbeziehung heißt hier nicht Einschließen ins Eigene und Abschließen gegens Andere. Die ›Einbeziehung des Anderen‹ besagt vielmehr, daß die Grenzen der Gemeinschaft für alle offen sind – auch und gerade für diejenigen, die füreinander Fremde sind und Fremde bleiben wollen.« Gleichheit bzw. Gleichsetzung wird für Habermas dadurch zum ethischen Problem: Die Einbeziehung des Anderen bei aller Fremdheit soll nach Habermas auf »ethisches Wissen« (38) aufgebaut werden, das mehr als »ein intersubjektives Gebrauchswissen« (39) sein soll. Das wird man gerne zugestehen. Doch bei der Konzeption eines solchen universalen ethischen Wissens kann die Erfahrung von Alterität, wie die Philosophie der Alterität sie phänomenologisch ausweist, wieder leicht aus dem Blick geraten. Immerhin macht auch Habermas zögernd das Eingeständnis, dass es nicht gleich gute Argumente für alle gibt (61  f.). Es gibt sie nur dann, wenn gezielt gleiche Argumentationsvoraussetzungen und -bedingungen hergestellt und gewährleistet werden, wie es bis zu einem gewissen Grad im Wissenschafts- und Universitätsbetrieb möglich ist. Das berechtigt jedoch nicht, diesen zum Vorbild und Maßstab aller Kommunikation, z. B. der ökonomischen, politischen, moralischen, religiösen oder künstlerischen, zu machen, woran man sich in der herkömmlichen Philosophie gewöhnt hat, um möglichst überall Alterität zu minimieren. Im Übrigen arbeitet auch Habermas laufend mit dem Begriff der Orientierung, ohne ihn je zu explizieren. 3  Zur näheren Interpretation der Bemerkung vgl. Vf., »Zwischen Kulturen. Orientierung in Zeichen nach Wittgenstein«, in: Wilhelm Lütterfeld, Djavid Salehi (Hg.), »Wir können uns nicht in sie finden«. Probleme interkultureller Verständigung und Kooperation, Wittgenstein-Studien 3 (2001), 53–67. 4 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.  27. Vgl. zur Interpretation Vf., Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, 346–351. 5  Nietzsche, Nachlass 1886, 1[182], KSA, Bd.  1 2, 50  f., KGW IX 2, N VII 2, 80. – Man muss, um es zu wiederholen (Kap.  I, 10), Konsens von Kooperation unterscheiden: Kooperation wird durch Kompromisse in dem Sinn möglich, dass man die Übereinstimmung in Meinungen und Überzeugungen bewusst zugunsten eines abgestimmten Handelns anheimstellt, das jeder auf seine Weise verstehen kann und mit dem er oder sie eigene Zwecke verfolgen kann. Erst wenn das Handeln sich nicht auf diese Weise, sei es im Alltag, in der Wirtschaft oder in der Politik, erfolgreich abstimmen lässt, beginnt man zu fragen, ob und wie weit man gemeinsamen Sinnes ist, und macht das dann zur Entscheidungsfrage. Vgl. Vf., »Diplomatie der Zeichen. Orientierung im Dialog eigener und fremder Vernunft«, in: Josef Simon, Werner Stegmaier (Hg.), Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt am Main 1998, 139–158. Burkhard Liebsch und ich erwarten in diesem Band keinen Konsens; wir begnügen uns mit dialogischer Kooperation bei der Erörterung der Beziehung von Orientierung und Alterität. 254 | Anmerkungen

Jenseits von Gut und Böse, Nr.  268. Unberührt davon bleibt der Zeichengebrauch in Logik, Mathematik und mathematischen Naturwissenschaften, der vorab so streng diszipliniert wird, dass es auf Meinungen und Überzeugen nicht ankommt und man leichter zu gemeinsamen Ergebnissen findet. 8 Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 2. 9 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr.  109. 10  Vgl. Vf., Friedrich Nietzsche zur Einführung, Hamburg, 3. Aufl. 219, 167–170. 11 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr.  22. 12  Nietzsche, Nachlass 1885, 38[1], KSA, Bd.  11, 595  f., KGW IX 12, Mp XVI, 23 r. Durchstreichungen im Manuskript sind als solche wiedergegeben, {} kennzeichnen nachträgliche Einfügungen. – Die moderne Kognitionspsychologie stimmt dem im Grundsatz zu, ohne sich näher auf Philosophen wie Nietzsche oder Wittgenstein einzulassen. Vgl. etwa Rainer Reisenzein, »Denken und Emotionen«, in: Joachim Funke, Peter A. Frensch (Hg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie – Kognition, Göttingen u. a. 2006, 475–484. Man hält sich jedoch nach wie vor weitgehend an Einteilungen wie Wahrnehmung, Denken, Fühlen, Wollen, Handeln aus der traditionellen Philosophie, die weiterhin als selbstverständlich hingenommen werden, und benutzt, wie etwa der Herausgeber des Handbuchs Joachim Funke in seinem Beitrag »Denken: Ansätze und Definitionen«, 392–399, Metaphern wie »geistiges Auge« und »Wendung nach innen«. Platons Bestimmung des Denkens als Gespräch der Seele mit sich selbst und Descartes’ cogito gelten als gesicherte Gewissheiten (vgl. auch Joachim Funke (Hg.), Denken und Problemlösen, Göttingen u. a. 2006, Vorwort). 13  Vgl. A. Homann, Art. »Widerstand II«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Darmstadt, Bd.  12, 709–711. 14  Vgl. Robert Spaemann, »Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie«, in: Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, Frankfurt am Main 1990, 49–73. 15  Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung / Tractatus logico-philosophicus, 5.631–5.634. 16  Vgl. Vf., Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, 153  f. 17 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 118  f. 18  In modernen Gesellschaften steigert sich die Irritabilität (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 789–801). Danach »ist der Irritationspegel der Gesellschaft auf Grund der Freistellung von Funktionssystemen für Eigen­ dynamik gestiegen in einem Maße, das sich jeder Koordination entzieht und über gegenseitige Irritation der Funktionssysteme in Selbstirritation der Gesellschaft umschlägt« (795). Man kann hier Hermann Broch in Theoriesprache lesen. 6 Nietzsche, 7 

Anmerkungen | 255

Vgl. Vf., Philosophie der Orientierung, 452–459. Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, 310–364, deutsch: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. v. Traugott König, Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1991, 457–538. Sartre setzt dabei noch das ego cogito, ego existo voraus. 21 Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 385–388. 22  Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, in: G. S., Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd.  11, Frankfurt am Main 1992, 722–727. 23  Emmanuel Levinas, Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag 1961, deutsch: Totalität und Unendlichkeit [eig. Unendliches]. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg  /  München 1987, 8  f., 94, 154, 270 / 43  f., 169  f., 260  f., 424  f. 24 Levinas, Totalité et Infini, 191  f. / 312  f. 25 Levinas, Totalité et Infini, 3–5 / 35–38. 26 Levinas, Totalité et Infini, 12  f. / 50  f. 27  Vgl. zum Näheren Vf., Emmanuel Levinas zur Einführung (zuerst Freiburg  /  Basel  /  Wien 2002), Neudruck Hamburg 2009, 3. Aufl. 2019. 28  Vgl. Vf., Emmanuel Levinas zur Einführung, 128–131. 29  Hegel spricht von »absoluter Diskretion«, wo jedes Individuum seine Maximen gemäß dem kantischen kategorischen Imperativ nur nach seinen Begriffen seiner Vernunft auf ihre Widerspruchsfreiheit hin prüfen und zu seiner Pflicht machen kann. So kann der eine für böse halten, was der andere für gut hält; so können sie es mit einem jeweils anderen Guten und Bösen zu tun haben, nicht zu gemeinsamen Pflichten kommen, moralisch also absolut getrennt (diskret) sein. Wissen sie das aber und anerkennen sie einander darin, ist es der »absolute Geist«, der sie das »versöhnende Ja« aussprechen lässt, »worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen«. Geist ist danach die versöhnende Aufhebung der beiderseitigen moralischen Diskriminierung des jeweils Anderen. Auch Hegel verbindet diese versöhnende Aufhebung mit der Religion, der »offenbaren«, christlichen Religion. Danach ist Christus »der erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen«, das zugleich ein Nicht-Wissen ist, ein Wissen von der unvermeidlichen Andersheit des Wissens von Gut und Böse, das nicht privativ ist (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Theorie Werkausgabe in 20 Bdn., hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, Bd.  3, 493  f.). 30  Niklas Luhmann, »Ethik als Reflexionstheorie der Moral«, in: Ders., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main 2008, 270–347; Vf., Philosophie der Orientierung, 591–626. 31  Vgl. Vf., »Orientierung in der Corona-Krise. Vom Wissens-Modus in den Orientierungs-Modus«, in: Information Philosophie 2020/3 (September 19  20 

256 | Anmerkungen

2020), 8–23, wiederabgedruckt in: Markus Heidingsfelder, Maren Lehmann (Hg.), Corona. Weltgesellschaft im Ausnahmezustand?, Weilerswist 2020, 167–184.

Kapitel IV: Nach dem (befreienden) Verlust eindeutiger Weltdeutungen Emmanuel Levinas, Carnets de captivité et autres inedits, Œuvres 1, Paris 2009, 263, 303. 2  Jean-Paul Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, 669, 634. 3  Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt am Main, Hamburg 1955, 11. 4 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe (Hg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari), München 1980, Bd.  5, Nr.  22. 5  Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Illuminationen, Frankfurt am Main 21980, 230–250, hier: 246. 6  Vgl. Hans Blumenberg, Carl Schmitt, Briefwechsel 1971–1978, Frankfurt am Main 2007, 302. 7  Vgl. dazu die aktuellen Bestandsaufnahmen bei Dominik Finkelde und Rebekka Klein (Hg.), In Need of a Master. Politische Theologien im Zeitalter der Immanenz, Berlin 2021. 8  Vgl. bspw. Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität [1969], Frankfurt am Main 1976, 13, 27, 95; ders., Im Mittelpunkt. Bruchstücke eines Tagebuchs, Wien 1977, 20  f., der sich hier gegen gewisse »existenzialistische« (Orientierungs-)»Obsessionen« wendet, die er auf den Verlust des bis zur Renaissance noch in hohem Ansehen stehenden Kosmos zurückführt. Dieser Autor empfiehlt an anderer Stelle (wenig überzeugend) eine Rekosmisierung, gibt aber auch zu bedenken, dass man der Auslieferung an eine unabsehbare und heillose Geschichte nicht zu entkommen versuchen sollte, ohne »die Verpflichtungen [zu] akzeptier[en], die uns der historische Augenblick auferlegt« (ebd., 210). 9  Zit. n. Stephen J. Gould, Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, München 1992, 68; vgl. Stephen Toulmin, June Goodfield, Entdeckung der Zeit, Frankfurt am Main 1985. 10  Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, Teil II. 11  Vilém Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1997, 133, 135. 12  Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte – Ästhetik – Dokumente, Reinbek 2009. 13 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 235. 1 

Anmerkungen | 257

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 223, 225. Jaspers schwankt dabei bezeichnenderweise zwischen einem in der Geschichte zu findenden finalen Sinn einerseits und einer Sinngebung andererseits, die auf jeglichen Anspruch der ›Sinnfindung‹ verzichtet und in realer Geschichte vor allem Scheitern oder Sinnlosigkeit (à la Theodor Lessing) entdeckt (13, 224). 15  Dabei ist doch radikale Kontingenz bereits im Gedanken einer revozierbaren Schöpfung impliziert, die das Bestehen des Kosmos, den Aristoteles als unentstanden und unvergänglich begriff, nicht für immer verbürgt erscheinen ließ – von apokalyptischen Offenbarungen einmal ganz abgesehen, die immer wieder das Ende der Welt erwarten ließen, das allerdings auch infolge menschlichen Überdrusses und durch Geringschätzung des »Besten, was je gewesen ist«, eintreten kann. In diesem Sinne zitiert Karl Löwith ein Fragment aus dem 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr., in dem ein radikaler »Weltverlust« prophetisch angekündigt wird. Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen 1967, 15  ff. 16  Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels, Frankfurt am Main 1985. 17  Der ›Witz‹ der Theorien der Genannten liegt m. E. allerdings darin, dieses Aufbrechen bereits in den antiken Ursprüngen eines politischen Weltbegriffs herauszuarbeiten. 18  Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, Berlin 1991, 314. 19  Notfalls, so Schmitt, muss man einen Feind »erzeugen« bzw. erfinden, wenn sich gerade keiner identifizieren lässt, »um nicht im Leeren zu stehen«, d. h. um zu wissen, wer man ist − wenigstens im Gegensatz zum Feind, wenn sich schon sonst keine andere Möglichkeit findet, sich einer eigenen Identität zu versichern. Ich sterbe nicht, bekennt Schmitt, »denn mein Feind lebt noch«. Solange ich einen Feind habe, existiere ich. Ich unterscheide mich vom Feind (notfalls durch Feinderfindung), also bin ich; also kann ich dessen gewiss sein, dass ich bin und sogar wer ich bin. Schmitt, Glossarium, 115, 199, 202, 213; vgl. Vf., »Zum politischen Potenzial gegenwärtiger Furcht. Auf Hobbes’, Nietzsches und Freuds Spuren«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 70, Nr.  7 (2016), 618‒643. 20 Vf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, 188, 268, 409. 21 Ein allerdings tatsächlich niemals realisierbares Unterfangen; vgl. Étienne Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg 2006. 22  Man denke nur an die berüchtigte axis of evil. 23  Vgl. unter diesem Aspekt Lothar Baier, Die große Ketzerei. Verfolgung und Ausrottung der Katharer durch Kirche und Wissenschaft, Berlin 1984, insbesondere die lehrreichen Gegenwartsbezüge (ebd. 183–195). Diese unterlaufen die in den letzten Jahren vieldiskutierte »Alterität des Mittelalters« als einer 14 Jaspers,

258 | Anmerkungen

scheinbar im Ganzen deutlich von unserer Zeit abgerückten Epoche. Vgl. die vielfachen Revisionen dieser Vorstellung in: Anja Becker, Jan Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Berlin 2012. 24  Vgl. Robert Spaemann, Reinhard Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 21985. 25  Marsilius von Padua zit. n. Thomas Leinkauf, Grundriss. Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350‒1600), Bd.  1, 2, Hamburg 2017, 830. 26  Umberto Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, München 6 1986, 69  ff., 76  ff. 27 Flusser, Nachgeschichte, 143–154. Auch Eco erwägt allerdings die Möglichkeit eines neuen Mittelalters, allerdings mit Blick auf die »neuen AntiMetaphysiken der Abwesenheit und der Differenz«, die ihrerseits einige Mühe damit hatten, sich von bekannten Traditionen negativer Theologie abzugrenzen. Ob ihnen das gelungen ist, ist hier nicht zu erörtern. Vgl. Umberto Eco, Über Gott und die Welt, München, Wien 31985, 107. 28 Vgl. zu diesem Begriff die Bestandsaufnahme von Friedrich Jaeger, »Neuzeit als kulturelles Sinnkonzept«, in: ders., Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd.  1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, 506–531. 29  Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1986, 35, 38, 356 [= NR]; Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 21989. 30  Vgl. NR, 143, 593  ff., 604, 607. 31  NR, 54, 611, 622, 366. 32  Nach wie vor sind der Ursprung, die Ableitung des Namens wie auch die Existenz einer einheitlichen Bewegung des Katharismus umstritten (Baier, Die große Ketzerei, 10  f., 14). Abgesehen davon geht es im Folgenden jedoch um die Problematik des Unterscheidens als solche, die Eco sehr gut herausarbeitet. 33  Abgesehen von Waldensern, Humilaten und anderen häretischen Bewegungen, die seit dem 12. Jahrhundert in zuvor nie gekanntem Ausmaß auftraten und eine in Reichtum schwelgende Kirche herausforderten. 34  Vgl. Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 2005. 35  Nebenbei bemerkt: Man weiß, welch zentrale Rolle dem clairement et distinctement Erkennbaren in der Philosophie der Neuzeit seit Descartes zugekommen ist. Vgl. Hans Poser, René Descartes, Stuttgart 2003, 37  ff. Ecos Roman lässt sich zweifellos als Dekonstruktion dieser Rolle lesen. 36  Offensichtlich hat Carl Schmitt, der Theoretiker des Politischen, seine radikale, pseudo-cartesianische Devise distinguo ergo sum ganz und gar auf diese katholische Vorstellungswelt aufgepfropft. 37  Zum semiotischen Hintergrund dieser These vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, Kap.  D, 4; ders., Lector in fabula, München, Wien 1987, Kap.  8. 38  NR, 201; Jan A. Komenský, Die Welt als Labyrinth und andere Schriften, Anmerkungen | 259

Leipzig 1984; Klaus Schaller, Die Pädagogik des Johann Amos Comenius, Heidelberg 1962; Jan Patočka, »Comenius und die offene Seele«, in: ders., Kunst und Zeit. Kulturphilosophische Schriften, Stuttgart 1987, 175–190. 39  Günther Buck, Rückwege aus der Entfremdung, Paderborn, München 1984, 136  ff.; Manfred Riedel, Erklären oder Verstehen? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978, 209. 40  Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131986, 84, 260, 314 [= DM]. 41  DM, 21, 39, 109, 115, 133, 321, 351. 42  DM, 60, 92, 115, 131. 43 Im Sinne der »Existenzerhaltung« erscheint so das Leben als Wert schlechthin (DM, 16, 63, 71, 391). 44  Vgl. DM, 241, 252, 339, 343, 402. 45  Vgl. Vf., In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität, Zug 2016. 46  Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 42002. 47  Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen, München 2004. 48  Hans Jonas, Medizin, Technik und Ethik, Frankfurt am Main 1987, 160; ders., Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 31982, 49. 49  François Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung, Berlin 1998, 136; ders., Das Spiel der Möglichkeiten. Von der offenen Geschichte des Lebens, München 1983, 18. 50  Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt am Main 2006 [= BM]. 51  BM, 239, 245, 571. 52  Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, Frankfurt am Main 2007, 300; BM, 143  f. 53  BM, 565, 567, 863  f. 54  BM, 779, 275, 566, 592  f., 852. 55  Vgl. BM, 301, 831; Elmar Holenstein, Menschliches Selbstverständnis. Ichbewußtsein, intersubjektive Verantwortung, interkulturelle Verständigung, Frankfurt am Main 1985, Kap.  2. 56  BM, 56  ff., 147, 284, 316. 57  Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 1977, § 52. 58 Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, 45, 115  f., 123, 139. 59  Paul Ricœur leitet daraus seine Verschränkung von Selbigkeit (mêmeté) und Selbstheit (ipséité) ab; vgl. Das Selbst als ein Anderer, München 1996. 60  Vgl. Jacques Derrida, Politik der Freundschaft [1994], Frankfurt am Main 2002, 311  f.; John D. Caputo, Michael J. Scanlon (eds.), God, the Gift and Postmodernism, Bloomington, Indianapolis 1999, 135. 61  Vgl. zur Frage der Bezeugung und des Zeugnisses Vf., Prekäre Selbst260 | Anmerkungen

Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012. 62 Das ist beileibe keine veraltete Kategorie, wenn man bedenkt, dass Ricœur die menschliche Existenz im Allgemeinen als »hérétique« eingestuft hat; vgl. Paul Ricœur, Gabriel Marcel et Karl Jaspers. Philosophie du mystère et philosophie du paradoxe, 152. 63  Das gilt auch für die berühmte ontologisch-ontische Differenz, gegen die freilich die unaufhebbare Alterität des Anderen abgegrenzt wird; wie und ob überzeugend, kann hier nicht vertieft werden; vgl. Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 91990, 40, 53–59, wo diese Differenz ausdrücklich nicht als »Relation« bzw. »Distinktion« gedacht wird. Davon setzt auch Levinas sich energisch ab; aber im Zeichen einer Nicht-In-Differenz, die er bei Heidegger verfehlt sieht; vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 150  ff.; ders., Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, 29–55. Beide bleiben dabei weitgehend auf eine Kritik des »Selben« fixiert und verfehlen ihrerseits die Frage nach einer Selbstheit, der allein die unaufhebbare Alterität des Anderen etwas sagen könnte. Das ist der Ansatzpunkt Ricœurs. 64  Vgl. Vf., »Bewegt von dem, was übrig bleibt? Zwischen Musil und (frühem) Blumenberg«; Vortrag im Rahmen der intern. Tagung »Musil und die Phänomenologie« in Verbindung mit der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und dem Institut für Literaturforschung, dem Kärntner Literaturarchiv und dem Musilinstitut Klagenfurt, 15.–17. 4. 2021; https://seafile.aau.at/f/ad79 4068ffe941b69c60/ 65 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 38, 120. 66  Aber die filigransten von ihnen öffnen sich auf jenseitiges, durch die bemalten Fenster der Kathedralen verklärtes Licht hin, während es Levinas, der sich von jeglicher Metaphysik des Lichts abzuwenden scheint, um die unerreichbare Höhe einer Stimme geht. In beiden Fällen aber haben wir es mit energischen Versuchen der Öffnung auf eine lichthafte oder stimmliche Transzendenz des Anderen hin zu tun, die so weit wie nur möglich allem menschlichen Zugriff entrückt wird. In diesem Sinne konnten auch die Kathedralen schon nicht hoch genug sein … 67 Nicht nur in manchen Ethnien Afrikas scheint das bis heute die schlimmste Strafe zu sein: sozial geächtet, nicht einmal mehr ›gesehen‹ und infolgedessen zum Tode verurteilt zu werden. 68  Vgl. Jean Starobinski, Das Leben der Augen, Frankfurt  /  M., Berlin, Wien 1984, 103. 69  Vgl. Vf., Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Bd.  I I: Elemente einer Topografie des Zusammenlebens, Freiburg i. Br., München 2018, Teil F. 70  Balthasar Gracián, »Über die kluge Konversation«, in: Claudia Schmölders (Hg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 1979, 154‒161, hier: 157. Anmerkungen | 261

Roland Barthes, »Zuhören«, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, 249–263, hier: 255. 72 Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, 175. 73  Vgl. Vf., »Welt ‒ Exil ‒ Faktizität. Eine Übung in hermeneutischer Zirkularität«, Ms. i. E. 74  Vgl. Zygmunt Bauman, Gemeinschaften, Frankfurt am Main 2009, 85. 75  Um es mit François Julliens Laotse-Deutung zu sagen, die in Desorientierung nicht bloß eine Beraubung (privatio, steresis) von Orientierung, sondern eine eigentümliche, nicht dialektisch fassbare Art der Offenheit erkennen lässt; vgl. François Jullien, Schattenseiten. Vom Bösen oder Negativen, Berlin, Zürich 2005, 148. In einer solchen Perspektive ergibt es durchaus Sinn, wie mir scheint, von jemandem, dem es an dieser Offenheit gebricht, zu sagen, er sei ironischerweise zu gut orientiert. – Auch Roland Barthes hat dagegen fernöstliche Weisheit wie das berühmte Wu wei aufgeboten; Roland Barthes, Wie miteinander leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977, Frankfurt am Main 2007, 148  f. 76  Hier frage ich mich, ob Werner Stegmaier nicht genau das auch im Sinn hat, wenn er einer besonders sensiblen Orientierung zuschreibt, ebenfalls nicht nach Regeln und Normen zu verfahren und insofern für die der jeweiligen Situation und Umwelt innewohnende Alterität außer-ordentlich aufgeschlossen zu sein (Kap.  II, 4/5). Offen bleibt dabei, ob es nur zu zwischenzeitlichen Re- oder Umorientierungen oder auch zu einer Auskehr aus dem Orientieren selbst kommt; vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008, XVII, 320. Zwar wird anerkannt, dass wir auch geradezu von Irritationen leben; doch bleibt das Ziel stets eine (Wieder-)Beruhigung (ebd. 162, 164), die geradezu als das Maß jeglicher Orientierung beschrieben wird. Gleich darauf kommt allerdings eine »Beunruhigung von Beruhigungen« zur Sprache (ebd. 165). 77  … deren Kritik allerdings ihrerseits die Alterität des Anderen vermissen lässt; vgl. Heidegger, Identität und Differenz, 59. Auch in Unterwegs zur Sprache (Pfullingen 1959 / 61979) sowie im früheren Brief über den Humanismus gelten Phänomene wie das Antworten, die Rede und die Trauer niemals wirklich dem Anderen als solchem und dessen »Nähe«. 78  In diesem Sinne heißt es bei Emil Angehrn: »Auf dem Spiel steht kein abschließender Sinn, sondern eine im geschichtlichen Vollzug sich realisierende Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens – die keiner ›vertikalen‹ Ergänzung bedarf und nicht durch das Brüchigwerden absoluter Orientierungen selber haltlos wird«; Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart, Berlin, Köln 1991, 179. 79  Fraglich aber ist, ob im Sinne einer ihrerseits geradezu fraglosen »Selbstverständlichkeit«, die allen neuzeitlichen und modernen Erosionen einer vermeintlich zuvor metastabilen Welt standgehalten haben soll (Stegmaier, Philosophie der Orientierung, XVII), und zwar so, dass dort, wo Orientierung 71 

262 | Anmerkungen

zwischenzeitlich geschwächt wird oder verloren geht, nur immer neuer Reorientierungsbedarf entsteht (320). Insofern hätten wir es mit einem immer neuen Oszillieren zwischen Desorientierungen und Orientierungen zu tun, deren ›Sinn‹ allein Letztere bestimmen würden. Dahingestellt bleibe hier, ob bspw. Versuche der »Entbestimmung« des Differenzierten und Gegensätzlichen, wie sie ausführlich von François Jullien beschrieben worden sind, in eine Umorientierung unseres Verständnisses von Orientierung als solcher münden. Die Folge davon wären aufklärungsbedürftige Äquivokationen. Was Jullien zwischen Okzident und Fernem Osten unternimmt, indem er bspw. kontrastives und dialektisch widersprüchliches Denken so gewissermaßen kreuzt, dass dieses in jenem sich spiegeln kann (und umgekehrt), werden manche als desorientierend empfinden, denn selbst zwischen Gut und Böse werden dabei Grauzonen erkennbar, von denen Jullien anscheinend behaupten möchte, dass sie unweigerlich ›im Spiel‹ sind, was eine allzu klare Grenzziehung nur verkennen könnte. Vgl. Emil Angehrn, Joachim Küchenhoff (Hg.), Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, Weilerswist 2014. Insofern müsste gerade die vermeintlich klarere Orientierung als die weniger angemessene gelten. Aber wie will man das entscheiden, wenn ein derart tiefgreifender Konflikt sich abzeichnet, in dem offenbar wiederum die Orientierung des Einen nicht zugleich die Orientierung des Anderen sein kann? – Im Übrigen kann Philosophie als radikales Unternehmen der Infrage­stellung des Selbstverständlichen als solchen gelten. Wenn sie noch etwas dergleichen gelten lässt, dann allenfalls als wieder, wenigstens vorübergehend, selbstverständlich Gewordenes. 80  Vgl. Flusser, Nachgeschichte, 172  ff. 81  Vgl. Vf. (Hg.), Die Grenzen der Einen sind (nicht) die Grenzen der Anderen. Neuere Beobachtungen, Berlin 2020. 82  Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962. 83  Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 21977. 84  Sei es auch nur, weil man den Ort, die Kreuzung oder Gabelung, wo man sich begegnet ist, auf verschiedenen Wegen wieder verlassen muss; vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 289, zum ›Chi‹, wie es auch im Chiasma steckt, auf das sich Merleau-Ponty in seinem Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare (München 1986) reichlich zur Charakterisierung von Begegnung gestützt hat. 85  Carl F. Graumann, Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität, Berlin 1960. 86 Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 426. 87  Emmanuel Levinas, Eros, littérature et philosophie. Essais romanesques et poétiques, notes philosophiques sur le thème d’éros. Œuvres 3, Paris 2013. 88  Und sie zugleich jeglicher Einordnung in die großen platonischen Gattungen und in das Eine (hen) und Verschiedene gemäß der aristotelischen Anmerkungen | 263

Metaphysik (Buch X, 8) entzog, auf die man traditionell die Ander(s)heit oder alteritas als Übersetzung von heterotês bei Aristoteles und des heteron bei Platon zurückführt. Platon, »Sophistes«, in: Sämtliche Werke Bd.  3 (übers. v. Friedrich D.  E . Schleiermacher), Hamburg 1985, 255 e, sowie Paul Ricœur, »L’attestation: entre phénoménologie et ontologie«, in: Jean Greisch, Richard Kearney (Hg.), Paul Ricœur. Métamorphoses de la raison herméneutique, Paris 1991, 381–403, hier: 399  f.; Paul Ricœur, »De la métaphysique à la morale«, in: Revue de Métaphysique et de Morale, no. 4 (1993), 455–477, hier: 459, 469. Hier besteht Ricœur auf der Polysemie der Alterität, um zu vermeiden, dass die »métacatégorie de l’autre« auf die »altérité de l’autrui« reduziert wird. Siehe auch Paul Ricœur, »Multiple étrangeté«, in: Hendrik J. Adriaanse, Rainer Enskat (Hg.), Fremdheit und Vertrautheit. Hermeneutik im europäischen Kontext, Leuven 1999. 89 Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 107. 90  Unentbehrlich zum Verständnis dessen ist nach wie vor Jacques Derrida, »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas’«, in: Die Schrift und die Differenz, 120–235, ein Text, in dem der Begriff der Orientierung bezeichnenderweise systematisch überhaupt keine Rolle spielt. 91  Zu den politischen Konsequenzen im Anschluss an Levinas, die ihm keineswegs völlig fremd waren, vgl. bspw. Pascal Delhom, Alfred Hirsch (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Emmanuel Levinas’ Philosophie des Politischen, Berlin, Zürich 2005; Emmanuel Levinas, Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin 2007.

Kapitel V: Bilanz A 1  Vgl.

Verf., »Orientierungskunst«, in: Günter Gödde, Jörg Zirfas (Hg.), Kritische Lebenskunst heute. Analysen – Orientierungen – Strategien, Stuttgart 2019, 6–13. 2  Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, V. Buch, Nr.  3 43. Nietzsche überschreibt diesen ersten Aphorismus des 1887 der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 angehängten V. Buches »Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat«: Es geht um eine philosophische Nüchternheit, Gelassenheit und Heiterkeit auch gegenüber der »ungeheuren Logik von Schrecken«, die Nietzsche mit dem Nihilismus heraufziehen sieht. Vgl. Vf., Nietzsches Befreiung der Philosophie, 191–120. 3  Vgl. Vf., Formen philosophischer Schriften, 79–83. 4 Vf., Philosophie der Orientierung, 62–96. 5  Vgl. Vf., Formen philosophischer Schriften, 144–154. 6  Moses Mendelssohn, »Mendelssohn an die Freunde Lessings«, in: M. M., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. v. Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971  ff., Bd.  III/2, 198–202. 264 | Anmerkungen

7 

Immanuel Kant, »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, 137–138. Kant, »Was heißt: Sich im Denken orientiren?«, 140–142. 9  Hans Lenk, Helmut F. Spinner, »Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick. Zur Rationalismuskritik und Neufassung der ›Vernunft‹ heute«, in: Herbert Stachowiak (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd.  3: Allgemeine philosophische Pragmatik, Hamburg 1989, 1–31. 10  Vgl. etwa Günter Abel, »Quellen der Orientierung«, in: Andrea Bertino, Ekaterina Poljakova, Andreas Rupschus, Benjamin Alberts (Hg.), Zur Philosophie der Orientierung, Berlin, Boston 2016, 147–169, und ders., »Orientierung als Herausforderung der Philosophie«, in: Ulrich Dirks, Astrid Wagner (Hg.), Abel im Dialog. Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie, Bd.  2, Berlin, Boston 2018, 1043–1058. 11  Vgl. Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Gesammelte Schriften, Bd.  V III, Stuttgart, Göttingen 1960, und Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin, Göttingen, Heidelberg 51960. 12 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 122  f. – Vgl. Vf., »Philosophie als übersichtliche Darstellung. Wittgensteins Abgrenzung von Oswald Spengler und der Philosophie und Psychologie der Weltanschauungen«, in: Bernhard Ritter, Dennis Sölch (Hg.), Wittgenstein und die Philosophiegeschichte, Freiburg 2021, 281–309. Das ist jedoch nicht überall durchgedrungen. Vgl. Felix Mühlhölzer, Braucht die Mathematik eine Grundlegung? Ein Kommentar des Teils III von Wittgensteins Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Frankfurt am Main 2010, 21, nach dem Wittgenstein »die Frage nach der ›Weltanschauung‹ […] mit einem emphatischen ›Ja‹ beantwortet«. 13  Zur Abgrenzung des Begriffs der Orientierung von denen der Weltanschauung und des Weltbilds vgl. Vf., »Weltbild, Weltorientierung«, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale Theologische Enzyklopädie, 3. Aufl., 4 Bde., Göttingen 1986  ff., Bd.  4, 1996, 1255–1259. 14  Kap.  I V, 3. Vgl. Andrea Christian Bertino, ›Vernatürlichung‹. Ursprünge von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd.  58), Berlin, Boston 2011. 15 Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 301. Blumenberg deutet hier die »Urszene der Hominisation« mit den ausgefeilten begrifflichen Mitteln der Phänomenologie als »singuläre Unbestimmtheit der Entscheidung über Freund-Feind-Verhältnisse«. 16  Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], Frankfurt am Main 1998, 10. 17  Vgl. Vf., Philosophie der Orientierung, 206–213. 18  Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, 52, S.  144. 8 

Anmerkungen | 265

Liebsch, Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale, 2 Bde., Freiburg, München 2018, 624–652. 20  Vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main 2000, 258–265. So kann sich auch schon in Verwaltungen gegen ›Macht‹ eine unscheinbare ›Gegenmacht‹ aufbauen, die Rigorositäten erschwert. 21 Aristoteles, Nikomachische Ethik, V 6, 1131  a 22. 22  Vgl. v. a. Liebsch, Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale. 23  Vgl. Burkhard Liebsch, Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008. 24  Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main 1992; ders., Kritik der Macht, Frankfurt am Main 2000; ders., Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018. 25  Vgl. Gödde, Zirfas (Hg.), Kritische Lebenskunst. 26  Nietzsche, Nachlass Herbst 1887, W II 2, KGW IX 6, 72, 10[94], KSA 12.510. Vgl. Vf., »Wie kommen philosophische Neuerungen in die Welt? Nietzsches extreme Problemstellungen und -lösungen und das Beispiel des Sokrates«, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), 1–25. 27 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 728  /  B 756. 28  Dorothee Schmitt, Das Selbstaufhebungsargument. Der Relativismus in der gegenwärtigen philosophischen Debatte, Berlin, Boston 2018, hat in einer vorzüglichen Studie gezeigt, dass sich das, was heute in verschiedenen Versionen ›Relativismus‹ genannt wird – und auch die Philosophie der Orientierung würde wohl dazugerechnet –, nicht durch Selbstaufhebung widerlegen lässt (362). Solche Widerlegungsversuche schließen vielmehr ihrerseits »tiefliegende absolutistische Hintergrundannahmen« ein (375). 29  Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Nr.  248; Werkausgabe, Bd.  8, 5.  Aufl., durchgesehen von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1992, 169. Vgl. Vf., »Die Gewissheit der Orientierung. Zu Wittgensteins letzten Notaten. Ein Versuch«, in: Wittgenstein-Studien 10 (2019), 37–71, hier: 67. 30  Wollte man sich, um das alte Selbstbezüglichkeitsargument nochmals aufzurufen, dagegen entscheiden, zu unterscheiden und sich zu orientieren, müsste man auch dazu schon unterscheiden und sich orientieren. 19  Burkhard

Kapitel VI: Bilanz B Zit. n. Reinhold Schneider, Verhüllter Tag, Köln, Olten o. J., 216. Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt am Main 2006, 319. 3  Karl Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« [1928], in: Sämtliche Schriften, Bd.  1, Stuttgart 1981, 9–197, hier: 71, 154. 4  Vgl. Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen«, 77, sowie 1 

2  Fernando

266 | Anmerkungen

Andreas Gelhard, Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005, 217, 247  f. 5  Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1999, XLV. 6  Noch in Rudolf Eislers Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Berlin 21904, 35, wird jedoch alteritas als Anderheit erläutert, die zugleich für Verschiedenheit stehen soll. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, 164  f. Arendt fasst die alteritas als eine »merkwürdige Eigenschaft, die allem Seienden als solchem eignet« und eine Negation (anders-als) beinhaltet – im Gegensatz zur Besonderheit, die »nur dem Menschen eigen« sei, insofern sich jeder »selbst von Andern zu unterscheiden« weiß. Den Begriff der Alterität beziehe ich im Folgenden auf die Rede vom Selbst im Gegensatz zur Selbigkeit, wie sie auch Dingen zukommt, die kein Verhältnis zu sich selbst aufweisen und als Selbiges nur reidentifizierbar sind. Über jene Besonderheit und ihren Gegensatz zum Allgemeinen geht die Anderheit allerdings hinaus, wie sie bei Buber auftritt: Bei ihm wird die Anderheit für den Anderen als Gegenüber im Dialog reserviert und nicht (wie in der zitierten Stelle bei Arendt) bloß als Produkt des Sichselbstunterscheidens von Anderen gefasst; Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, 157, 207, 233  ff. 7  Anja Becker, Jan Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Berlin 2012, 10, 148; Emily S. Lee (Hg.), Living Alterities. Pheno­ menology, Embodiment, and Race, New York 2014. 8  Jacques Derrida, Politik der Freundschaft [1994], Frankfurt am Main 2002, 311  f. 9  Becker, Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept, 5, 41, Anm. 215. 10  Jean-Paul Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, 634, 669. 11 Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, 724. 12 Derrida, Politik der Freundschaft, 234. 13  Hans-Georg Gadamer, »Gibt es auf Erden ein Maß?«, in: Philosophische Rundschau 32 (1985), 1–26, hier: 8. 14  Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt am Main 1985, 27. 15  Hans R. Jauss, Wege des Verstehens, München 1994, 17  f.; Becker, Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept, 22. 16  Herfried Münkler, Bernd Ladwig (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, 37. 17  Paul Ricœur, Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung, München 1988, 143. Ricœur hat sich hier offenbar weit entfernt von seinem früheren Verständnis einer ›allgemein-menschlichen‹ Alterität, die jeden Anderen nur als »charakterlich« verschieden, aber als Mensch gleich gelten lassen sollte – mit der Konsequenz, dass uns »nichts Menschliches fremd« Anmerkungen | 267

wäre, wie es ein altes Diktum von Terenz besagt. Vgl. Paul Ricœur, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, Freiburg i. Br., München 21989, 86  f., 179. 18  Vgl. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit, München 1991, 70; vgl. ebd. 250. 19  Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, 38. 20  Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 334, 382  ff. 21 Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 390. 22  »Ich bin ein […] Anderer in der Art, wie ich ich bin«, schrieb schon Pessoa, Das Buch der Unruhe, 107. 23  Vgl. Becker, Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept, 27. 24  Jacques Derrida, »Responsabilité et hospitalité«, in: Autour de Jacques Derrida. Manifeste pour l’hospitalité – aux Minguettes –, Paris 1999, 111–124. Von einer »production of [naturalized] otherness« sprechen bspw. Michael Hardt und Antonio Negri in: Empire, Cambridge, London 2001, 125  ff. 25  Vgl. Paul Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen. Wiedererkennen. Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006, 311. 26  Ralf Simon, »Das Unbegrenzte und die Wiederholung der Grenzen. Überlegungen zur Begriffslogik des Grenzbegriffs im Anschluss an Paul Celan«, in: Burkhard Liebsch (Hg.), Die Grenzen der Einen sind (nicht) die Grenzen der Anderen. Neuere Beobachtungen, Berlin 2020, 313–333. 27  »Gäbe es so etwas, was der Begriff nicht verdauen, nicht auflösen könnte, so läge dies als die höchste Zerrissenheit, Unseligkeit da. Aber gäbe es so etwas, so wäre es nur der Gedanke selbst, wie er sich selbst erfaßt.« G. W.  F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Band I. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1994, 181. 28  Paul Ricœur, Gabriel Marcel et Karl Jaspers. Philosophie du mystère et philosophie du paradoxe, Paris 1948, 353. Der Begriff der Aufhebung erscheint hier immer wieder kursiviert auf Deutsch in betonter Absetzung von ihm. 29  Emmanuel Levinas, »Hegel und die Juden« [1971], in: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt am Main 1992, 177–181, hier: 178, 181. 30  Vgl. Christian Meier, Von Athen nach Auschwitz: Betrachtungen zur Lage der Geschichte, München 2002. 31  Wobei man sich allerdings dazu gezwungen sah, längst geläufige Gedankengänge negativer Theologie kritisch zu wiederholen; vgl. Dirk Westerkamp, Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, München 2006. 32  Siehe Anm. 86 zu Kap.  I V. 33  Michel de Montaigne, Essais, Frankfurt am Main 21980, 104  f., 111. 34  Vgl. Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, Frankfurt am Main 1989, 26, 128. 35 Pessoa, Das Buch der Unruhe, 91, 107, 143.

268 | Anmerkungen

36  Vgl.

die Rede von einer »unendlichen Passage« bei Federico Ferrari, Jean-Luc Nancy, Die Haut der Bilder, Zürich, Berlin 2006, 103. 37  So spricht Federico Ferrari von einem ständigen Transfer, der »kein Prozeß der Identifikation mit dem anderen oder der Projektion auf den anderen [bedeutet] – das würde bereits definierte Subjekte voraussetzen –, sondern die Erfahrung einer Exposition an die Alterität, die die Psyche konstituiert«. Ferrari, Nancy, Die Haut der Bilder, 106. 38  Wie das möglich ist und für verlässliche soziale und politische Lebensformen von ausschlaggebender Bedeutung werden kann (nicht nur in Hannah Arendts Einschätzung), wird in so gut wie allen Beiträgen vernachlässigt, die unter Berufung auf Søren Kierkegaards »Leben in Differenzen«, in kritischer Wendung gegen Carl Schmitts Verlangen danach, in einer occasionellen Welt »wieder [›klassisch‹ bzw. ›klar‹] unterscheiden zu lernen«, oder mit Gilles Deleuze’ Apologie vagabundierender Differenzen die Auflösung alles Substanziellen anscheinend bedenkenlos affirmieren. Vgl. Gabriel Marcel, Sein und Haben, Paderborn 1954, 43  ff.; Ricœur, Gabriel Marcel et Karl Jaspers, 112  f., 295; Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996; Vf., Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 2008; ders., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012. 39 Ricœur, Gabriel Marcel et Karl Jaspers, 385, 395. Die Bewährung gilt hier einem als »ineffable«, »infini« und »incommensurable« beschriebenen Du, das im Modus des Vokativs zur Sprache kommt (166  f.). 40  Gerade nicht also als bloß anders ›als‹, worin Löwith die Einsicht aufgehen lässt, dass »ein jeder der andern […] anders als jeder andere« ist (»Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen«, 66). 41  Wie kann man dann aber derart ›bestimmt‹ von der Alterität des Anderen handeln, wie es Levinas in quasi empiristischer Art und Weise tut, fragt Derrida. Vgl. Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i.  Br., München 21987, Kap. 4., sowie die unvergleichliche Auseinandersetzung mit Levinas in Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, 158, 174, 181, 189  f., 231, 234. 42  Das gilt offensichtlich für jene »radikale Andersheit im Verhältnis zu jeder möglichen Gegenwart«, die Derrida schließlich zur différance radikalisiert hat, insofern sie nämlich »von jedem Prozeß der Vergegenwärtigung, der sie aufruft, sich in Person zu zeigen, unterschlagen« wird. Doch wie sollte man davon wissen können, wenn die ›Unterschlagung‹ nicht als solche in der ›unterschlagenden‹ Gegenwart ihre Spuren hinterlassen würde? Vgl. Jacques Derrida, »Die Différance«, in: Randgänge der Philosophie, Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1976, 6–37, hier: 28. Auf der folgenden Seite figuriert diese Andersheit

Anmerkungen | 269

sogleich als »absolute«. Diese Rede aber ergibt m. E. keinen rechten Sinn und kann erst recht keiner Philosophie der Orientierung entgegenkommen. 43  Emmanuel Levinas, Carnets de captivité et autres inédits. Œuvres 1, ­Paris 2009, 264. 44  Man könnte sogar so weit gehen, Levinas die Hypostasierung einer Exteriorität vorzuwerfen, die am Ende jegliche Spur einer Alterität vermissen lässt, die einem menschlichen Selbst noch zu denken geben und es zu einer Antwort herausfordern könnte; vgl. Paul Ricœur, »Emmanuel Levinas: penseur du témoignage«, in: Jean-C. Aeschliman (Hg.), Répondre d’autrui, Neuchâtel 1989, 17–40, hier: 20  f. 45  Vgl. kritisch dazu: Vf. (Hg.), Der Andere in der Geschichte. Sozialphilo­ sophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Levinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹, Freiburg i. Br., München 22017. 46  So ähnlich hat es Karl Jaspers beschrieben in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Hamburg, Frankfurt am Main 1955, 224, 234  f. 47  Karl Löwith, Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens, Göttingen 1971, 95. 48  Sergej P. Melgunow, Der rote Terror in Russland 1918–1923 [Nachdruck von 1924], Berlin 2009; Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen [1927], Frankfurt am Main 1983; Margret Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, Reinbek 1956; Warlam Schalamow, Über die Kolyma. Erinnerungen, Berlin 2018; Warlam Schalanov [sic!], »Artikel 58«. Die Aufzeichnungen des Häftlings Schalanov, Köln 1967. 49  Die philosophische Aufklärung über die entsprechenden Aussichten fällt allerdings sehr skeptisch aus; vgl. Judith N. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge 1984, 177. 50  Siehe Anm. 133 zu Kap.  I I in diesem Band. 51  Was, wie mir Werner Stegmaier postalisch versichert hat, nicht im Sinne seiner Philosophie der Orientierung ist. Deshalb liegt es mir fern, sie etwa auf einen solchen ›Standpunkt‹ festzulegen. 52  Vgl. dazu die Beschreibungen eines politischen Negativismus in: Burkhard Liebsch, Andreas Hetzel, Hans Rainer Sepp (Hg.), Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Sonderband Nr.  32 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Berlin 2011; Burkhard Liebsch, Hannes Bajohr, »Geschichte, Negativismus und Skepsis als Herausforderungen politischer Theorie: Judith N. Shklar«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62, Nr.  4 (2014), 633‒659. 53  Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge, London 1996. 54  Das ist ein Desiderat, dessen Einlösung durch die vorangegangenen Überlegungen lediglich angeregt werden soll, aber keineswegs schon geleistet wird. 55  Postalisch am 14. Juni 2021. So wird eine wichtige Konvergenz unserer Beiträge markiert. 270 | Anmerkungen

56  Vgl.

Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München, Wien

1998. 57  Bei Hegel ist wie auch bei Kant bezeichnenderweise von nur einem Auge die Rede; vgl. Manfred Riedel, Erklären oder Verstehen? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978, 200. 58 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, 32, 42. 59  Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Main 51996, 440; Emmanuel Levinas, Ethik und Unendliches, Graz, Wien 1986, 81. 60  Vgl. Bernhard Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015, 24. 61  Wobei sich Fremd- und Selbstbezug nicht säuberlich im Sinne eines Vorrangs des einen vor dem jeweils anderen voneinander trennen lassen; vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008, 13, 294. 62  Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921‒1928. Husserliana XIV, Den Haag 1973, 418. 63  Gemäß einem Ausdruck Hans-Georg Gadamers in: Hermeneutik im Rückblick. Gesammelte Werke Bd.  10, Tübingen 1995, 155. 64  Sosehr der offenkundig ressentimentgeladene Duktus Arnold Gehlens Kritik verdient, so wenig können die u. a. von diesem Autor vorgebrachten Bedenken gegen eine ›tolerante‹ Moral niemanden ausschließender acceptance einfach von der Hand gewiesen werden; vgl. Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt  /  M., Bonn 1969, 145, wo das fragwürdige Ergebnis bereits feststeht: »die Anderen haben die Macht«. 65 Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 346. 66  Georg Simmel hat jene Sensibilität unter Verweis auf den Geruchssinn erläutert, den er als den ›dissoziierendsten‹ aufgefasst hat. Einander ›nicht riechen‹ zu können, wie es sprichwörtlich heißt, deutet tatsächlich auf eine Dimension der Alterität hin, die unserem Willen wie auch jeglicher Anerkennbarkeit weitgehend entzogen ist. 67  John D. Caputo, Michael J. Scanlon (eds.), God, the Gift and Postmodernism, Bloomington, Indianapolis 1999, 135. 68  Vgl. Alain Finkielkraut, Die vergebliche Erinnerung. Vom Verbrechen gegen die Menschheit, Berlin 1989, 85; Vf., Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010. 69  Vgl. Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, 21, 45, 65, 170, 382, 654. 70  In diesem Sinne geht aus der Phänomenologie der Alterität dort, wo sie einer Philosophie der Orientierung entgegenkommt, eine deutliche normative Implikation hervor, die hier abschließend nur anzudeuten ist. 71  Die Idee einer bewohnbaren Welt ist so neu nicht, entscheidend ist (heute) allerdings, wie die ihr abzuverlangende Hospitalität bzw. Gastlichkeit zeitgemäß zu revidieren ist. Dabei spielt eine als nicht aufhebbar gedachte Alterität eine entscheidende Rolle. Vgl. bspw. Paul Ricœur, »Gott nennen«, Anmerkungen | 271

in: Bernhard Casper (Hg.), Gott nennen, Freiburg i. Br., München 1981, 45–79, hier: 73; Paul Ricœur, »On Interpretation«, in: Alan Montefiore (Hg.), Philosophy in France Today, Cambridge 1983, 175–197, hier: 186; Burkhard Liebsch, Michael Staudigl, Philipp Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte ‒ Kulturelle Praktiken ‒ Kritik, Weilerswist 2016. 72  Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1, Berlin 32019, 13. 73  Immanuel Kant, »Was heisst: sich im Denken orientieren?«, in: Schriften zur Metaphysik und Logik 1. Werkausgabe Bd. V (Hg. W. Weischedel), Frankfurt am Main 1977, 265–283. 74  Arundhati Roy, »Durch das Tor des Schreckens«, in: DIE ZEIT, no.  16 (2020), 4  f.

272 | Anmerkungen

NAMENREGISTER

Adorno, Theodor W.  9, 109, 209, 227 Adson von Melk (Romanfigur)  160 Agamben, Giorgio  221 Améry, Jean  70, 175 Anaximander  26, 236 Angehrn, Emil  178  f., 262 Arendt, Hannah  72, 84, 152, 173, 227, 267, 269 Aristoteles  22, 25  f., 30–32, 37, 124, 154, 158, 168, 186, 188, 199, 209, 213, 236, 263 Bachmann, Ingeborg  251 Bacon, Francis  241 Baecker, Dirk  23 Baier, Lothar  258  f. Barthes, Roland  109, 174, 262 Bataille, Georges  96 Barber, Benjamin  107 Barthes, Roland  262 Baudelaire, Charles  66 Bauman, Zygmunt  66  f. Ben­da, Julien  218 Benhabib, Seyla  227 Benjamin, Walter  150 Benn, Gottfried  105 Benoist, Alain de  176 Bentham, Jeremy  173 Berman, Marshall  67 Ber ­taux, Pierre  167

Blanchot, Maurice  109 Blumenberg, Hans  13, 156, 166, 168–170, 173, 177, 195  f., 265 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  252 Borchert, Wolfgang  175 Bourdieu, Pierre  102 Boveri, Margret  218 Broch, Hermann  65, 72–75, 77–82, 84–87, 101, 105  f., 109, 111, 119, 121  f., 127, 145, 245–248, 255 Brod, Max  111 Buber, Martin  75, 87, 89  f., 93–96, 98  f., 106, 137, 181, 225, 267 Büch­ner, Georg  175 Burnet, Thomas  151 Butler, Judith  227 Byron, George Gordon  66 Camus, Albert  175, 247 Canguilhem, Georges  71 Chapentier, Emmanuelle  167 Chaplin, Charly  158 Christus 256 d’Alembert, Jean-Baptist le Rond 192 Darwin, Charles  25, 122 Delacroix, Eugène  77 Deleuze, Gilles  221, 269 Dellinger, Jakob  241 Derrida, Jacques  10, 16, 18, 43, 55, 75, 128, 143, 210, 224, 226, 248, 264, 269 273

Descartes, René  22, 45, 73, 94, 129, 154, 255, 259 Diderot, Denis  192 Eco, Umberto  156  f., 160, 176, 183, 188–191, 210, 259 Eisler, Rudolf  267 Eliade, Mircea  257 Ferrari, Federico  269 Feuerbach, Ludwig  75, 106 Fichte, Johann Gottlieb  22 Flusser, Vilém  151, 156 Foucault, Michel  109, 128 Fraser, Nancy  227 Frege, Gottlob  40 Friedmann, Susan Stanford  237 Fukuyama, Francis  167 Funke, Joachim  255 Gadamer, Hans-Georg  210, 271 Gehlen, Arnold  166, 168, 195, 271 Gödde, Günter  158 Gödel, Kurt  22 Goebbels, Joseph  158 Goethe, Johann Wolfgang  64, 96 Goffman, Erving  240 Goodfield, June  150 Gö­ring, Hermann  158 Gould, Stephen Jay  150 Gra­cián, Baltasar  95, 174 Gurwitsch, Aron  83 Habermas, Jürgen  74, 87, 140, 167  f., 229, 249, 253  f. Hardt, Michael  268  Harrison, Robert P.  247 Härtling, Peter  64, 175 274 | Namenregister

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22, 25, 37, 46, 74  f., 84, 92, 106, 155, 175, 210, 213  f., 225, 238, 256, 268, 271 Heidegger, Martin  22, 76, 177, 261  f. Hénaff, Marcel  75, 177 Heraklit  30, 99, 159 Her­bart, Friedrich  166 Herder, Johann Gottfried  166, 168, 195 Hitler, Adolf  158 Hobbes, Thomas  169 Hofmannsthal, Hugo von  81 Höl­derlin, Friedrich  175 Hölscher, Thomas  236 Homer 245 Honneth, Axel  155 Humboldt, Wilhelm von  75, 106, 166 Hume, David  91 Husserl, Edmund  83, 87, 89, 170, 172, 196, 211, 225, 238 Hutcheson, Francis  75 Huxley, Aldous  90 Irigaray, Luce  152, 227 Jacob, François  168 Jacobi, Friedrich Heinrich  192  f. Jaspers, Karl  110, 149, 151, 177, 257  f., 270 Jauss, Hans Robert  210 Jens, Walter  105 Jo­han­nes XXII.  160 Jonas, Hans  168 Jorge (Romanfigur)  157–159, 188 Joyce, James  74, 80, 105, 245, 253 Jullien, François  262  f.

Kafka, Franz  105, 111 Kant, Immanuel  9  f., 22, 25, 27, 45, 49, 55–57, 74, 76, 79, 99, 111, 177, 180, 193  f., 205, 213, 217, 231, 237, 256, 271 Karafillidis, Athanasios  23 Ker ­tész, Imre  175 Kierkegaard, Søren  126, 269 Knorr-Cetina, Karin  241 Koyré, Alexandre  153 Kraus, Karl  246 Kundera, Milan  106 Lacan, Jacques  109 Laotse 262 Lasker-Schüler, Else  77 Latour, Bruno  89 Lau, Felix  236 Leibniz, Gottfried Wilhelm  28, 76, 244 Lessing, Gotthold Ephraim  192 Lesssing, Theodor  192, 258 Levinas, Emmanuel  10, 16, 18, 43, 55, 75, 83, 87, 89–100, 104, 106, 108  f., 121, 125, 128, 133, 135–138, 143, 148, 170, 172, 178, 181  f., 196, 197, 201, 211, 213, 216  f., 224, 226, 249, 251–253, 261, 264, 269  f. Loßka (Romanfigur)  82 Löwith, Karl  256, 258, 269 Luhmann, Niklas  10, 18, 22–25, 30  f., 33, 35, 38–39, 43, 51  f., 55, 59  f., 89, 100, 103, 105  f., 121, 128–133, 142  f., 226, 230, 237  f., 253, 255 Lukaschenko, Alexandr  222 Luther, Martin  222 Luxemburg, Rosa  9 Lyotard, Jean-François  248

Machiavelli, Niccolò  154 Mann, Heinrich  175, 244 Má­rai, Sandor  175 Marcel, Gabriel  75, 106, 213, 247, 252 Margalit, Avishai  223 Marsilius von Padua  259 Marx, Karl  67 Maxwell, James Clerk  123 Melgu­now, Sergej P.  218 Melville, Herman  221 Mendelssohn, Moses  192, 204 Merleau-Ponty, Maurice  16, 72, 83, 85, 263 Miland (Romanfigur)  73 Mi­now, Martha  227 Mittelstraß, Jürgen  23 Mon­taigne, Michel de  214 Moritz, Karl Philipp  175 Münkler, Herfried  210 Musil, Robert  77, 80, 84, 105  f. Nancy, Jean-Luc  72, 152, 227, 269 Napoleon 208 Nassehi, Armin  59  f. Negri, Antonio  268 Nicolas von Morimond (Roman­ figur) 163 Niethammer, Friedrich I.  166 Nietzsche, Friedrich  10, 18, 22  f., 28–30, 35, 37  f., 40, 44, 46, 49, 53, 55  f., 58, 66  f., 73, 77, 102, 110, 119–125, 129, 142  f., 149, 165, 179, 188, 194, 202, 204, 221, 237, 241, 254  f., 264 Ockham, William von  189 Ortega y Gasset, José  64, 68 Orwell, George  173 Namenregister | 275

Parmenides  30  f., 214, 236 Parsons, Talcott  51 Pascal, Blaise  215 Peirce, Charles Sanders  28 Pessoa, Fernando  66, 208, 215, 246, 251, 268 Platon  14, 177, 180, 209, 214, 255, 263 Plessner, Helmuth  76, 102, 166  f., 245 Putin, Vladimir  222 Rancière, Jacques  152 Rawls, John  180 Reimarus, Hermann Samuel  166 Ricœur, Paul  10, 16, 18, 66, 83, 128, 155, 170, 181, 211, 214, 224, 227, 243, 246, 253, 260  f., 264  f., 267, 271 Rilke, Rainer Maria  80 Rimbaud, Arthur  66 Rosenzweig, Franz  75, 106, 225 Rousseau, Jean-Jacques  165 Roy, Arundhati  231 Rustemeyer, Dirk  23  f. Sa­lo­mo  164 Sartre, Jean-Paul  83, 87, 89, 132, 137, 148, 173 Sass, Hartmut von  239 Schalamow, Warlam  218, 244 Scheler, Max  91, 102 Schlözer, August L.  165 Schmitt, Arbogast  236 Schmitt, Carl  66, 126, 153, 178, 187, 229, 258  f., 269 Schmitt, Dorothee  235, 266 Schopenhauer, Arthur  241 Schönwälder, Tatjana  236 Schütz, Afred  83, 105 276 | Namenregister

Shklar, Judith N.  180 Simmel, Georg  96, 135, 249–251, 271 Sisyphos 247 Smith, Adam  75, 91 Solschenizyn, Alexander Issajewitsch 69 Spencer Brown, George  22  f., 25, 27, 31, 33, 130, 134, 226, 236 Stalin, Josef  69 Steiner, George  244 Stekeler-Weithofer, Pirmin Taureck, Bernhard H. F.  248 Taylor, Charles  248 Terenz 268 Thomas von Aquin  154, 168 Tomasello, Michael  75 Toulmin, Stephen  150 Trakl, Georg  175 Valéry, Paul  218 Van Gogh, Vincent  247 Vargas Llosa, Mario  96 Waldenfels, Bernhard  16, 43, 109, 170, 211, 224 Whitehead, Alfred North  177, 238 Wieland, Christoph Martin  166 Wille, Katrin  23, 236 William von Baskerville (Roman­ figur)  158, 160–163, 183, 189  f. Wittgenstein, Ludwig  10, 13, 18, 22  f., 28  f., 38, 40  f., 47  f., 51, 55, 56, 68, 83, 118  f., 129, 161, 194, 255, 265 Xi, Jinping  222 Young, Iris M.  227