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German Pages 271 [272] Year 2014
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Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth
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Patrick Schulte
Wirtschaftsethik und die Grenzen des Marktes
Mohr Siebeck
IV Patrick Schulte: geboren 1980; 2008 Magister Artium Philosophie und Anglistik; 2009 1. Staatsexamen Philosophie und Englisch; 2010–2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie, Ruhr-Universität Bochum; 2012 Promotion; 01/2013–10/2013 Referent Projekt nexus der Hochschulrektorenkonferenz; seit 11/2013 Referent für EU-Forschungsförderung, Ruhr-Universität Bochum.
e-ISBN PDF 978-3-16-153307-5 ISBN 978-3-16-152563-6 ISSN 2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. gesetzt, von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
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Meinen Eltern in Dankbarkeit
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Vorwort Die vorliegende Publikation beruht auf der Dissertation, die ich im Juli 2012 am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum eingereicht und anschließend verteidigt habe. Für die Drucklegung wurden kleinere Umstellungen des Textes vorgenommen. Viele Personen haben mich während meiner Zeit als Doktorand unterstützend begleitet. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Klaus Steigleder, der mir während meiner Zeit als Doktorand am Arbeitsbereich Angewandte Ethik vielerlei wertvolle Ratschläge und Hinweise gegeben hat und für eine sehr kollegiale und von anerkennendem Austausch geprägte Zusammenarbeit gesorgt hat. Besonders dankbar bin ich für das in mich gesetzte Vertrauen, mir eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter übertragen zu haben. Die vergangenen Jahre wurden so zu meinen intensivsten und spannendsten ‚Lehrjahren‘, aus denen ich eine Vielzahl neuer Erkenntnisse und Denkanstöße mitnehme. Ich danke zudem den Teilnehmern des Kolloquiums des Promotionsstudiengangs Philosophie der Ruhr-Universität Bochum für Anregungen und Kritik. Ich möchte darüber hinaus den Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums des Arbeitsbereichs Angewandte Ethik, Joschka Haltaufderheide, Simone Heinemann, Janelle Pötzsch, Corinna Rubrech, Hannes Stappmanns, Klaus Steig leder, Thomas Weitner und Daniela Zumpf meinen persönlichen Dank aussprechen. Im gemeinsamen Austausch konnte ich weitere wertvolle Anregungen sammeln. Ich danke außerdem Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth als Herausgebern der Schriftenreihe „Perspektiven der Ethik“ für die Aufnahme meiner Arbeit. Nicht zuletzt möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Matthias Kettner danken für die Unterstützung bei der Bewerbung um ein Promotionsstipendium. Besonderer Dank gilt meinem Freund Thomas Weitner, der mich durch bestechende Kritik in vielen fachlichen Auseinandersetzungen dazu angeregt hat, manche Urteile zu überdenken bzw. zu revidieren. Ich möchte meinem Freund Carlo Böhnk dafür danken, dass er immer für mich da ist. Persönlich danken möchte ich meiner Frau Katharina Schulte, deren liebevoller Unterstützung und Bestätigung ich mir immer sicher sein konnte.
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Vorwort
Ich danke meinem Sohn Jona dafür, dass er mich jeden Tag zum Lachen bringt und mir zeigt, was wichtig ist. Dortmund, Januar 2014
Patrick Schulte
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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Einleitung
.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Teil I: Die deutschsprachige Wirtschaftsethik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Teil 2: Die Grenzen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Teil 3: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Teil I: Die deutschsprachige Wirtschaftsethik
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Ökonomische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.1 Ökonomische Ethik als Anreiz- und Institutionenethik . . . . . . . . . . . . 8 1.1.1 Grundlagen und Begründung der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.1.2 Ökonomische Ethik als Anreiz- und Institutionenethik . . . . . . . 16 1.2 Ökonomische Ethik und normative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.1 Die Gesellschaft als Institution der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.2 Systematischer Vorrang der politischen Ordnung vor dem Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.2.3 Ökonomische Ethik und die ‚Solidarität aller‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.2.4 Die Interdependenz von Produktion und Verteilung . . . . ����������� 26 1.3 Ökonomische Ethik: Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.3.1 Der Vorrang politischer Ordnung und die Implementation von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.3.2 Marktwirtschaft und die ‚Solidarität aller‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.3.3 Rekonstruktion der Ethik durch die Ökonomik . . . . . . . . . . . . . 38 2. Integrative Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.1 Diskursethik und integrative Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.2 Integrative Wirtschaftsethik: Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.2.1 Angewandte, Bereichs- oder Aspektethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.2.2 Ökonomismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2.3 Sachzwangkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
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Inhaltsverzeichnis
2.2.4 Individualethik, Unternehmensethik und Ordnungsethik . . . 57 2.2.5 Republikanischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.2.6 Wirtschaftsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3 Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.3.1 Ökonomismuskritik und ökonomischer Imperialismus ���������� 63 2.3.2 Nachfragen zur Sachzwangkritik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.3.3 Zum Verhältnis von Individualethik und Ordnungsethik ������ 68 2.3.4 Republikanischer Liberalismus und politischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.3.5 Zur Begründung von Wirtschaftsbürgerrechten . . . . . . . . . . . . . 74
Teil II: Die Grenzen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Ökonomischer Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ökonomischer Imperialismus und Ökonomismus: Begriffserläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ökonomischer Imperialismus: Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ökonomischer Imperialismus: Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zur Ökonomisierung der ‚Lebenswelt‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Marktgesellschaft und Grenzen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zwang und Korrumpierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Z-Argument: Fairness und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verzweifelte Transaktionen und Ausbeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die angemessene Sphäre des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Finanzkrise und Wall-Street-Lobbyismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Unterstützung politischer Bewegungen durch .Lobbyistenverbände und Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Das K-Argument: Degradierende und korrumpierende Transaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Wertschätzung und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Die kommerzielle Leihmutterschaft im Lichte des K-Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Rechte auf Vertragsfreiheit und Fortpflanzung . . . . . . . . . . . (b) Leihmutterschaft als altruistischer Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Analogien zu Samenspende und Adoptionen . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Die Legalisierung umstrittener Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 100 101 106 113 114
78 81 84 92
116 120 123 125 127 133 135 138
Inhaltsverzeichnis
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte . . . . . . . . . . . . . . . 141 5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.1 Lohnkriterien: Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.1.1 Angebot und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.1.2 Bedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.1.3 Verdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2 Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.2.1 Angebot und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.2.2 Verdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (a) Humankapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (b) Beitrag zum Firmenerfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.3 Die Debatte um den Mindestlohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.1 Der Niedriglohnsektor und die Forderung nach Mindestlöhnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.3.2 Ökonomische Argumente für und wider den Mindestlohn ���� 171 5.3.3 Normative Argumente für den Mindestlohn . . . . . . . . . . . . . . . . 175 (a) Das konsequentialistische Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (b) Das ‚Das gute Leben‘-Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (c) Das Bedürfnis-Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 i) Der Mindestlohn als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 ii) Welche Bedürfnisse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (d) Das Würde-Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6. Arbeitnehmerrechte und Unternehmensstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Arbeitnehmerrechte als abgeleitete Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Grundlegende Menschenrechte: Freiheit und Wohlergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Arbeitnehmerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das Recht auf Mitbestimmung und die Existenz hierarchischer Unternehmensstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Unternehmen und Transaktionskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Shareholder und stakeholder Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Wirtschaftsdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Unternehmenshierarchien und Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Mitbestimmung und ‚gerechter‘ Lohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 194 195 201 203 207 212 214 218 224 236
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Inhaltsverzeichnis
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
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Einleitung Sie wollen Wirtschaftsethik studieren? Dann entscheiden Sie sich für das eine oder das andere. Karl Kraus (1874–1936)1 Ich muss es gleich am Anfang sagen: es ist mir nicht gelungen, herauszubekommen, worüber ich eigentlich reden soll. Die Sache hat einen Namen: Wirtschaftsethik. Und ein Geheimnis, nämlich ihre Regeln. Aber meine Vermutung ist, dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört wie auch die Staatsräson oder die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheimhalten müssen, dass sie gar nicht existieren. Niklas Luhmann (1993, 134)
Warum Wirtschaftsethik? Wie das Bonmot von Karl Kraus verdeutlicht, werden Wirtschaft und Ethik oft als unvereinbare Gegensätze angesehen. Die Marktwirtschaft und ihre konstitutiven Eigenschaften Wettbewerb und Gewinnstreben dienen „der Lenkung der Wirtschaft und nicht der Gerechtigkeit“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 64). Die Wirtschaftswissenschaften werden als rein analytische, positive Sozialwissenschaft begriffen, deren Aufgabe die Untersuchung der vorgefundenen wirtschaftlichen Verhältnisse unter der Maßgabe ihrer Effizienz ist. Die normative Ethik hingegen fragt nach der moralischen Richtigkeit von Handlungen und somit danach, welche normativen Grundsätze das Handeln leiten sollten. Die Wirtschaftsethik muss daher, dies macht Luhmann deutlich, erläutern, warum eine wissenschaftliche Disziplin Wirtschaftsethik möglich, sinnvoll und notwendig ist und was ihre Regeln und Methoden sein sollen. Meine Dissertation möchte anhand eines eigenen Ansatzes einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leisten. Eine strittige und bis heute noch nicht letztgültig beantwortete systematische Anforderung für die Wirtschaftsethik besteht darin, sich als wissenschaftliche Disziplin programmatisch zu den beiden primären Bezugswissenschaften Wirtschaftswissenschaft und Philosophie zu positionieren. Muss die Wirtschaftsethik auf den Annahmen der Wirtschaftswissenschaften aufbauen und somit als ökonomische Ethik begründet werden? Oder ist sie als Ethik für die Wirtschaft aufzufassen, als moralphilosophisch fundierte Disziplin zur Reformierung der wirtschaftswissenschaftlichen Prämissen? Die gegenwärtig im deutschsprachigen Raum geführte Debatte hat diesbezüglich zwei paradig1
Zitiert nach Lenk u. Maring (2002, 7).
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Einleitung
matische Theorien hervorgebracht, die ökonomische und die integrative Wirtschaftsethik. Die ökonomische Ethik möchte zeigen, inwiefern normative Anforderungen an die Wirtschaft stets anreizkompatibel ausgestaltet sein müssen, um Geltung zu erlangen (Homann 2002, 3). Ihr Ziel ist die Rekonstruktion der (Wirtschafts-)Ethik durch die Ökonomik. Die integrative Wirtschaftsethik bekräftigt hingegen das Primat der Ethik gegenüber ökonomischen Anforderungen. Ihr Ziel ist es, mithilfe der Begründung einer „sozialökonomische[n] Rationalitätsidee“ (Ulrich 2008, 129) normative und Effizienzgesichtspunkte in einem integrativen Ansatz zu vereinen.
Teil I: Die deutschsprachige Wirtschaftsethik Der erste Teil meiner Dissertation dient der Analyse und internen Kritik dieser beiden Entwürfe. In Kapitel 1 werden daher zunächst die entscheidenden Argumente der von Karl Homann begründeten ökonomischen Ethik dargelegt. Ich werde Homann hinsichtlich des Prinzips der anreizkompatiblen Implementierbarkeit kritisieren und zeigen, dass dieses mit dem von ihm postulierten systematischen Vorrang der politischen Ordnung vor dem Markt kollidiert. Die ökonomische Ethik überhöht darüber hinaus den sittlichen Wert des Marktprinzips. Ich möchte zeigen, dass die ‚Solidarität aller‘ nicht durch Marktergebnisse zu erreichen ist. In Kapitel 2 wird zunächst die integrative Wirtschaftsethik dargestellt. Anschließend werden auch hier einige Kritikpunkte deutlich gemacht. Da Wirtschaftsethik in meinem Ansatz als Institutionenethik bestimmt ist, werde ich Ulrich hinsichtlich seiner Ausführungen zur Individual- und Unternehmensethik kritisieren. Mit dem Konzept des ‚republikanischen Liberalismus‘ versucht die integrative Wirtschaftsethik zwar, anschlussfähig für die politische Philosophie zu werden, der Entwurf ist jedoch mangelhaft begründet. Das Konzept der Wirtschaftsbürgerrechte bietet hingegen einen fruchtbaren Anstoß zur weiterführenden Reflexion über etwaige Rechte von Arbeitnehmern. Allerdings werde ich zeigen, dass Ulrich weder ausreichend spezifiziert, wie solche Rechte begründet sind, noch befriedigend darlegt, was die konkreten Inhalte dieser Rechte im Arbeitsleben sind.
Teil 2: Die Grenzen des Marktes Teil 2 und 3 der Dissertation sind im Ausgang und in der Kritik von Homann und Ulrich entstanden. Sie dienen der Erweiterung der Perspektive und der Behandlung einiger ‚blinder Flecken‘ der deutschsprachigen Wirtschaftsethik. Ein Kritikpunkt an der ökonomischen Ethik ist, dass sie durch ihre einseitige
Einleitung
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Fokussierung auf die Implementation von Normen unterbestimmt bleibt im Hinblick auf die adäquate Gestaltung der Rahmenbedingungen. Indem sie sich lediglich zu ihrer Methode und ihrem Anwendungsbereich äußert, lässt die ökonomische Ethik die Frage unbeantwortet, was die normativen Grenzen des Marktes sind. Dies sind jedoch inhaltliche Bestimmungen, zu denen die Wirtschaftsethik Stellung beziehen muss. Ich vertrete die These, dass die Wirtschaftsethik nur dann dauerhaft wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz erlangen kann, wenn sie sich bestimmten Aspekten der politischen Philosophie öffnet. In meinem Ansatz geht es daher nicht allein darum, zu analysieren, wie sich Akteure im Markt verhalten und welche normativen Leitlinien für wirtschaftliche Interaktion formuliert werden können. Vielmehr muss sich die Wirtschaftsethik auch dazu positionieren, wie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unter normativen Gesichtspunkten zu bewerten sind. Sie nimmt dann Stellung zur angemessenen Einbettung des Marktes in- und der Funktion des Marktes für die Gesellschaft. In dieser Lesart ist die Frage nach den Grenzen des Marktes ein entscheidender Aspekt der Wirtschaftsethik. Der zweite Teil der Dissertation dient der Bestimmung solcher Grenzen. In Kapitel 3 widme ich mich zunächst einer Kritik des ‚ökonomischen Imperialismus‘. Dieser Begriff bezeichnet eine Forschungsströmung innerhalb der Ökonomik, welche den Rahmen wirtschaftswissenschaftlicher Forschung nicht weiter durch seinen Gegenstandsbereich, sondern durch seine Methodik definiert sieht. Damit dient die ökonomische Analyse nicht mehr nur der Untersuchung von sozialer Interaktion im Markt, sondern potentiell zur Explikation aller sozialer Interaktion. Ich werde kritisieren, dass der ökonomische Imperialismus einen angesichts der Vielfalt menschlicher Handlungsgründe unzulässigen wissenschaftlichen Reduktionismus verfolgt. Darüber hinaus begünstigt der ökonomische Imperialismus in seiner normativen Überhöhung als Ökonomismus die Tendenz zur Marktgesellschaft. Mit Habermas werde ich argumentieren, dass die Expansion des Marktes auf gesellschaftlich schützenswerte Bereiche zur ‚Kolonialisierung‘ der Lebenswelt führt. In Kapitel 4 wird das Argument, der Markt müsse begrenzt werden, damit er die ihm zugeschriebenen wohlfahrtsförderlichen Wirkungen entfaltet, mit Inhalt gefüllt. Ich werde im Anschluss an Michael Sandel argumentieren, dass Markttransaktionen nur dann als ‚freie Transaktionen‘ gekennzeichnet werden können, wenn die gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen Fairness und Chancengleichheit im Markt garantieren. Anschließend werden zwei weitere Argumente angeführt, welche die zulässige Sphäre von Markttransaktionen weiter begrenzen. Das erste Argument besagt, dass schlimme Entbehrung und Leiden verhindert werden müssen. Daher sind forced-choice Situationen sowie ausbeuterische Transaktionsverhältnisse zu vermeiden. Das zweite Argument besagt, dass Geld nicht zu einem dominanten Gut werden und daher wirtschaftliche Macht nicht in politische Macht transformiert werden darf.
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Abschließend werde ich die Frage besprechen, ob es bestimmte Güter gibt, die unter keinen Umständen für Geld zu haben sein sollten. Das diskutierte Argument besagt, dass der Handel verboten werden muss, wenn die Kommodifizierung eines bestimmten Guts für den Marktteilnehmer degradierend wirkt oder wenn der ‚Wert‘ des betreffenden Guts dadurch korrumpiert wird. Ich werde dieses Argument auf die Praxis der kommerziellen Leihmutterschaft anwenden und zeigen, dass das Recht auf Vertragsfreiheit für eine Legalisierung spricht, die Gefahr der Degradierung eher dagegen.
Teil 3: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte Meine Dissertation folgt einem ursprünglichen Forschungsinteresse, welches die gesamten Überlegungen leitet. Dieses Interesse begründet sich durch drei zentrale Erkenntnisziele. Einmal ist dies die bereits skizzierte Frage nach der Bestimmung der normativen Grenzen des Marktes. Darüber hinaus untersuche ich, welche Kritikpunkte an gesellschaftlichen Ungleichheiten gerechtfertigt sind. Ich frage außerdem, wie die strukturelle Unterlegenheit von Arbeitnehmern in Marktwirtschaften behoben bzw. abgemildert werden kann. Der dritte Teil meiner Arbeit widmet sich daher dem ‚gerechten‘ Lohn in Marktgesellschaften und der Frage, wie Arbeitnehmerrechte begründet und gerechtfertigt werden können. Eine für die Wirtschaftsethik relevante Frage ist, welche Ansprüche Einzelne auf die von ihnen produzierten oder erworbenen Güter erheben und ob sich diese Ansprüche rechtfertigen lassen. Kann es ‚gerecht‘ sein, dass 400 USamerikanische Bürger heute so viel besitzen wie die „‚unteren‘ 150 Millionen Amerikaner zusammen“ (Schultz 2011)? Ist es ‚gerecht‘, dass in Deutschland 2010 insgesamt 789 000 Vollzeitbeschäftigte weniger als sechs Euro pro Stunde verdienten (Kalina u. Weinkopf 2012, 12)? Hiermit ist die grundlegende Fragestellung zum gerechten Lohn aufgeworfen. In Kapitel 5 werden einige Lohnkriterien vorgestellt und hinsichtlich der Frage untersucht, ob sich mit ihrer Hilfe ein Argument für den ‚gerechten‘ Lohn herleiten lässt. Ich werde einerseits zeigen, dass keins der diskutierten Kriterien die derzeitige Einkommensverteilung hinreichend explizieren kann. Andererseits vertrete ich die These, dass in konkurrenzbestimmten Märkten kein ‚gerechter‘ Lohn bestimmt werden kann und daher die Frage zurückzuweisen ist. Hingegen lautet mein Argument, dass die in realen Märkten operierenden Unternehmen mehrheitlich hierarchisch organisiert sind und dass Machtungleichgewichte die jeweilige Lohnentwicklung beeinflussen. Zum Ausgleich dieser Ungleichgewichte muss eine Form der Rahmengerechtigkeit in Unternehmen implementiert werden, welche Verfahrensgerechtigkeit in Lohnverhandlungen und allen weiteren die Arbeitnehmer betreffenden Angelegenheiten des Unter-
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nehmens garantiert. In Kapitel 5.3 wird abschließend die Debatte um den Mindestlohn beleuchtet. Ich werde argumentieren, dass ein im Markt erzielter Lohn mindestens so hoch sein muss, dass er die grundlegendsten Bedürfnisse deckt und ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht. Ich habe Ulrichs Skizze der Wirtschaftsbürgerrechte als fruchtbaren Anstoß für weiterführende Überlegungen bezeichnet, der allerdings unzureichend begründet und ausgearbeitet ist. In Kapitel 6 wende ich mich der Frage zu, wie solche Wirtschaftsbürgerrechte inhaltlich bestimmt werden können. Mein Fokus liegt aufgrund der präsupponierten strukturellen Unterlegenheit von abhängig Beschäftigten auf der Arbeitnehmerseite. Ich werde daher allgemeine Arbeitnehmerrechte als abgeleitete Menschenrechte bestimmen. Hierbei greife ich auf die Begründungsstrategie Alan Gewirths zurück, um zunächst eine Theorie allgemeiner Menschenrechte zu skizzieren. Anschließend werde ich argumentieren, dass Arbeitnehmerrechte als dispositionell-konditionale, abgeleitete positive Rechte betrachtet werden sollten, die instrumentell gerechtfertigt sind aufgrund ihrer Bedeutung für konstitutive Menschenrechte. Das Recht auf Mitbestimmung ist eins dieser zu begründenden Arbeitnehmerrechte. Nach dieser allgemeinen Erörterung von Arbeitnehmerrechten erläutere ich im zweiten Teil des sechsten Kapitels, warum Arbeitnehmerrechte als Schutzrechte notwendig sind. Zu diesem Zweck widme ich mich zunächst dem shareholder-Ansatz und dem stakeholder-Ansatz als den derzeit einflussreichsten Management-Modellen, und führe einige Kritikpunkte gegen sie an. Anschließend lege ich in Anlehnung an McMahon einen alternativen Management-Ansatz dar. Mein Argument lautet, dass die demokratische Mitbestimmung in Unternehmen durch das positive Recht auf Freiheit gerechtfertigt ist. Aus diesem Recht leitet sich die Forderung ab, Arbeitnehmer durch die Implementation von Mitbestimmungsrechten vor willkürlichen und fremdbestimmten Arbeitsverhältnissen zu schützen, weil sie angesichts hierarchischer Strukturen in Unternehmen hierzu nicht allein in der Lage sind. Abschließend werde ich skizzieren, wie sich die umfassende Implementierung eines solchen Rechts auf Mitbestimmung auf den ‚gerechten‘ Lohn auswirken könnte. Ich behandle in meiner Arbeit einige hochstrittige Themen. Ist die kapitalistische Produktionsweise ausbeuterisch? Wie muss die Sphäre des Marktes begrenzt werden? Ist die Kommodifizierung der Gebärfähigkeit von Frauen eine begrüßenswerte Entwicklung oder aber eine zivilisatorische Gefahr? Sind Forderungen nach Mindestlöhnen per se schädlich, oder gibt es normativ überzeugende Gründe, für einen Mindestlohn zu plädieren? Ist die Autorität von Managern gerechtfertigt bzw. wie lässt sie sich rechtfertigen? Meine Ausführungen zu diesen Themen dienen nicht dazu, die Diskussion abschließend zu behandeln. Sie werden vorrangig im Hinblick auf die drei leitenden Forschungsfragen behandelt: Was sind die Grenzen des Marktes? Welche gesellschaftlichen
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Ungleichheiten sind kritikwürdig und welche sind gerechtfertigt? Wie kann der strukturellen Unterlegenheit von Arbeitnehmern entgegengewirkt werden? Ich möchte mich nun der Behandlung dieser Fragen zuwenden.
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Teil I:
Die deutschsprachige Wirtschaftsethik
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1. Ökonomische Ethik In diesem Kapitel werden die grundlegenden Thesen der durch Karl Homann begründeten ökonomischen Ethik1 zunächst dargestellt und anschließend einer Kritik unterzogen. Die ökonomische Ethik möchte zeigen, inwiefern Wettbewerb letztlich die Grundlage des Wohlstands aller ist und die Marktwirtschaft somit als moralisch vorzugswürdig ausgewiesen ist (1.1.1). Die ökonomische Ethik ist als Institutionenethik bestimmt, d.h. sie erkennt die Rahmenordnung als systematischen Ort der Moral, während die Marktwirtschaft allein der Effizienz dient (1.1.2). Die Rahmenordnung hat systematischen Vorrang vor dem Markt, womit die notwendige Einbettung von Marktwirtschaften in bestehende politische Systeme deutlich gemacht wird (1.2.2). Homann äußert sich nur kursorisch zu Begründungsfragen, sieht jedoch das Prinzip der ‚Solidarität aller‘ durch die ökonomische Wissenschaft endogenisiert. Die ökonomische Ethik betreibt daher eine Ethik ‚mit ökonomischer Methode‘ (1.2.3). In einer internen Kritik möchte ich anschließend folgende Einwände anbringen. Die Maßgabe des systematischen Vorrangs der politischen Ordnung vor dem Markt ist inkongruent mit der Überzeugung, die Implementation von Normen schlage auf deren Geltung durch (1.3.1). Die ökonomische Ethik überhöht zudem den sittlichen Wert des Marktprinzips. Ich möchte zeigen, dass die Solidarität aller nicht durch Marktergebnisse zu erlangen ist (1.3.2). Die Rekonstruktion der Ethik durch die Ökonomik, wie sie die ökonomische Ethik fordert, scheitert zudem am reduktionistischen Handlungsmodell des homo oeconomicus (1.3.3).
1.1 Ökonomische Ethik als Anreiz- und Institutionenethik 1.1.1 Grundlagen und Begründung der Theorie In diesem Abschnitt möchte ich zunächst die wissenschaftstheoretische Verortung sowie die Begründungsstrategie der ökonomischen Ethik darlegen. Die ökonomische Ethik leitet ihren wissenschaftlichen Daseinsanspruch aus der „funktionale[n] Ausdifferenzierung“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 10) 1
Den Terminus ‚ökonomische Ethik‘ hat Homann an verschiedenen Stellen zur Beschreibung der durch ihn begründeten Theorie eingebracht, siehe z.B. Homann (2006, 3).
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moderner Gesellschaften ab. Mit dem Aufkommen kapitalistisch organisierter Industriegesellschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts und der hiermit einhergehenden Herausbildung des Bürgertums erfolgte nicht nur der Niedergang des vormals dominierenden Feudalismus. Die gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts bedingten auch eine stärkere soziokulturelle Differenzierung und Abgrenzung der vormals in einer „umfassenden Gesellschaft“ (ebd., 12) vereinten gesellschaftlichen Teilbereiche. Die Emanzipation einzelner Gesellschaftsbereiche und entsprechender Referenzwissenschaften gilt Homann als ein entscheidendes Merkmal moderner Gesellschaften. Sie bildet die Grundlage für die außerordentliche Leistungsfähigkeit moderner Gesellschaften, in denen Probleme hochdifferenziert und somit gegenüber vormodernen Gesellschaften effektiver bearbeitet werden könnten (ebd.). Er nennt als maßgebliche gesellschaftliche Subsysteme2 Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Religion und Politik. Diese Teilbereiche folgen je eigenen „funktionalen Erfordernissen“ (ebd.), also Aufgaben und Zielsetzungen, zu deren Realisierung sie entwickelt wurden. Insbesondere in der Ausdifferenzierung des Subsystems der freien Marktwirtschaft erkennt Homann die Grundlage für den breiten gesellschaftlichen Wohlstand moderner westlicher Industriestaaten. Die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften bringt es Homann zufolge mit sich, dass eine identitätsbildende Mitte, in welcher die Anforderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche subsumiert und vermittelt werden könnten, nicht länger einzufordern ist. So paraphrasiert er die Überzeugung Niklas Luhmanns, die Politik könne nicht weiter dieser identitätsstiftenden Aufgabe nachkommen, sondern sei „lediglich als ein Subsystem neben anderen unter dem erklärten Verzicht auf eine die Einheit der Gesellschaft stiftende und garantierende Instanz“ (ebd.) zu begreifen. Durch diese Partikularisierung wird jedoch auch der Widerstreit zwischen gesamtgesellschaftlich wirksamen Normvorstellungen und Vernunftbegriffen einerseits und enger gefassten Rationalitätsanforderungen in Teilbereichen der Gesellschaft andererseits möglich. Die Partikularisierung bedingt, dass die aus den Prämissen und Zielsetzungen eines bestimmten gesellschaftlichen Teilbereichs abgeleiteten Handlungsanforderungen sich oftmals nicht (mehr) in Übereinstimmung bringen oder zurückführen lassen auf die in einem anderen Teilbereich geltenden Überzeugungen. Forderungen, die sich aus den je eigenen systeminternen Rationalitätsbegriffen ergeben, geraten so in Konflikt mit gesamtgesellschaftlich wirksamen Vorstellungen. Dies zeigt sich Homann zufolge in besonderer Weise im vielfach konstatierten Konflikt zwischen Moral und Ökonomie, welcher den Ausgangspunkt für die Theoriebildung der ökonomischen Ethik bildet. Der Konflikt entsteht 2 Die begriffliche und konzeptionelle Nähe zu Niklas Luhmanns Systemtheorie ist beabsichtigt und wird von Homann anerkannt (Homann u. Blome-Drees 1992, 12). Zur Systemtheorie siehe u.a. Luhmann (2002).
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Teil I: Die deutschsprachige Wirtschaftsethik
durch die unterschiedlichen Auffassungen davon, was als ‚rational‘ gelten soll. Der enge Rationalitätsbegriff der Ökonomie – Akteure maximieren unter der Bedingung allseitiger Konkurrenz ihren individuellen Nutzen – abstrahiert von andersartigen (etwa altruistischen) Handlungsmotiven und gelangt so zu einem auf Vorteilserwägungen basierenden strategischen Rationalitätsbegriff, während die philosophische Handlungsanalyse grundsätzlich alle normativ relevanten Handlungsmotivationen einbezieht. Die ökonomische Ethik setzt hier mit dem Anspruch an, eine Rekonstruktion der Ethik mittels der Begriffe und Methoden der Ökonomik zu schaffen, um so als Bereichsethik für die Wirtschaft implementierbare Grundsätze entwickeln zu können. Um nachvollziehen zu können, welche Annahmen die Klassifizierung der ökonomischen Ethik als „Ethik mit ökonomischer Methode“ (Homann 2001, 209) begründen, sind zunächst einige Vorbemerkungen zur Ökonomik vonnöten. Diese knappen Ausführungen sollen keineswegs eine vollständige Skizze der Methoden und Forschungsfelder derselben darstellen, dürften jedoch für die gegenwärtigen Zwecke – namentlich die Aufdeckung der wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen der ökonomischen Ethik – ausreichen. Die individuelle Entscheidungssituation wird in der Ökonomik als das den jeweiligen Präferenzen folgende Abwägen von Vor- und Nachteilen rekonstruiert. Menschliches Verhalten wird in diesem Analysemodell als „rationale Auswahl aus den dem Individuum zur Verfügung stehenden Alternativen oder […] als Nutzenmaximierung unter Nebenbedingungen bei Unsicherheit“ (Kirchgässner 1991, 14) definiert. Die Ökonomik fragt also nach den voraussichtlichen Entscheidungen, die Individuen angesichts der oben genannten Handlungsbedingungen treffen werden. Den vorherrschenden Annahmen der Ökonomik zufolge werden Individuen in wirtschaftlichen Kontexten dabei immer versuchen, Chancen zu nutzen, um sich selbst besser zu stellen (Krugman u. Wells 2006, 9). Diese Analyse, derzufolge ausschließlich dasjenige Handeln als rational zu begreifen ist, welches dem eigenen Nutzen dient, bildet die methodologische Fundierung sowohl von mikro- als auch von makroökonomischen Analysen. Homann folgt diesem Handlungsmodell und begründet auf dessen Grundlage die ökonomische Ethik: Verschiedene Ansätze zu einer ökonomischen Theorie der Moral […] begreifen Moral als öffentliches Kapital, das entsprechend der Theorie öffentlicher Güter besonderen Produktions- und Erhaltungsbedingungen unterliegt, das die Rechtfertigung aber in den – im weitesten Sinne ökonomischen – Vorteilen für alle hat […] Damit lassen sich moralische Normen wie auch Ordnungen, Verfassungen, Institutionen allgemein, ökonomisch interpretieren. (Homann u. Blome-Drees 1992, 100)
1. Ökonomische Ethik
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In den vergangenen Jahrzehnten wurde darüber hinaus zunehmend die Forderung deutlich, die Makroökonomik durch die Mikroökonomik zu fundieren. Diese Entwicklung folgt der Auffassung, dass nur durch den Rückgriff auf die Analyse der Mikrorelation individueller Handlungen verlässliche Vorhersagen über die vermuteten sozialen und makroökonomischen Folgen dieser Handlungen getroffen werden könnten (Kirchgässner 1991, 93). Ziel dieser Vorgehensweise ist es, kollektive wirtschaftliche Wirkzusammenhänge durch Inbezugsetzung ihrer mikroökonomischen Entstehungsbedingungen zu erklären. Kirchgässner spricht sich dafür aus, auch in makroökonomischen Zusammenhängen die Vorgaben des ökonomischen Verhaltensmodells zugrunde zu legen. Dies könne nur dann funktionieren, wenn auch hier vom Verhalten der einzelnen Wirtschaftssubjekte ausgegangen wird, d.h. wenn zunächst […] das ökonomische Verhaltensmodell angewendet wird und daraus die makroökonomischen Relationen abgeleitet werden […] Sowohl die […] ‚Neue (keynesianische) Makroökonomik‘ als auch die […] ‚Neue klassische Makroökonomik‘ verwenden heute eine solche ‚Mikrobasis‘, d.h. sie gründen ihre theoretischen Überlegungen auf die Annahme individuell rationalen Verhaltens der Wirtschaftssubjekte. (Ebd.)
Es ist zu betonen, dass in dieser Wahrnehmung von Aufgabe und Methode der Ökonomik ausschließlich mit dem Modell des individuellen Nutzenmaximierers und den prognostizierten sozialen Ergebnissen des kollektiven Handelns solcher Nutzenmaximierer gearbeitet wird.3 Bedeutsame Neuerungen hinsichtlich der ökonomischen Analysemethoden, welche beispielsweise die Erkenntnis der nur eingeschränkten Rationalität einzelner Akteure4 oder die Bedeutsamkeit von Informationsasymmetrien in Marktsituationen berücksichtigen,5 stellen dennoch keine Neufundierung, sondern lediglich eine Weiterentwicklung des ökonomischen Verhaltensmodells dar. Der entscheidende Punkt aus philosophischer Sicht ist dabei, dass durch die Mikrofundierung der Makroökonomik selbige nicht weiter als ‚politische‘ oder ‚normative‘ Ökonomik begriffen werden kann. Die Makroökonomik wird vielmehr zur Teildisziplin der positiven Ökonomik als rein deskriptiver Wissenschaft. Die Ökonomik hat dabei weniger die Gerechtigkeit der Verteilungsergebnisse in einer bestehenden Marktwirtschaft, als vielmehr deren gesamtwirtschaftliche Effizienz im Blick. Zwar zeugt die Maßgabe der Effizienz, die besagt, dass effizientes Wirtschaften dem Ziel folgt, bei allen ökonomischen Prozessen den größtmöglichen output bei einem gegebenen input zu erreichen, 3 Hier sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Theorie rationalen Handelns auch in der Ökonomie keinesfalls unumstritten ist und bereits von zahlreichen Ökonomen kritisiert wurde, siehe z.B. Sen (1979). 4 Hiermit ist die Auffassung gemeint, dass Akteure nicht immer vollständig informiert sind, wie die klassische Mikroökonomie annahm, sondern rational handeln aufgrund von beschränkten Informationen. 5 Siehe Simon (1957) und Akerlof (1970).
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von einer gewichtigen normativen Bewertung darüber, was die intendierten Ziele einer freien Marktwirtschaft sein sollen (Goodwin et al. 2005, 4). Diese Forschungsperspektive begrenzt jedoch die normative Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion der Marktwirtschaft auf den Aspekt der ökonomischen Effizienz. Die Frage nach der Gerechtigkeit der kollektiven Ergebnisse individueller Handlungen ist unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Rationalität somit nicht irrelevant, sondern methodisch unzulässig. Inwiefern also bestehende Verhältnisse (verteilungs-)gerecht sind, fällt zumindest nicht länger in den Aufgabenbereich der mainstream economics. Eine adäquate Analyse marktwirtschaftlicher Verhältnisse muss laut Homann auf der Erkenntnis f ußen, dass individuelles Handeln unter den Bedingungen des Wettbewerbs allein auf Gewinnmaximierung abzielt und die kollektiven Verhältnisse das Resultat dieser Handlungsbedingungen darstellen. Gewinne und Wettbewerb dienen so der Steuerung der Wirtschaft, nicht der Gerechtigkeit: Eine ethische Beurteilung von Markt und Wettbewerb kann diese funktionalen Zusammenhänge nicht ignorieren (Homann u. Blome-Drees 1992, 25).
Die individuell erzielten Gewinne und Verluste sind Ergebnis des Marktmechanismus, welcher diejenigen belohnt, die sich durch Innovationen, der Effizienzsteigerungen von Arbeitsabläufen und dem Auffinden von ungenutzten Gewinnpotentialen einen Vorteil gegenüber den jeweiligen Wettbewerbern verschaffen. In diesem Sinn dienen Gewinne der „Steuerung der Wirtschaft“, weil sie einzelne (besonders konkurrenzfähig produzierende) Marktteilnehmer belohnen, während andere (weniger erfolgreiche) durch Verluste abgestraft werden. Hiermit kehre ich zur Diskussion der Begründung und Methode der ökonomischen Ethik zurück. Die moralphilosophische Signifikanz dieses Exkurses zur Ökonomik besteht darin, dass es Homann zufolge gerade die Reduktion auf genannte Effizienz-Gesichtspunkte ist, welche den Erfolg des Modells der freien Marktwirtschaft begründet: Im Prozess der gesellschaftlichen Evolution hat sich das autonome Subsystem Wirtschaft herausgebildet, das […] einer eigenen Rationalität […] folgt und wegen dieser Spezialisierung außerordentlich leistungsfähig geworden ist. Gesellschaftlicher Wohlstand beruht […] auf der Abkopplung der ‚ökonomischen‘ Rationalität von einer umfassenderen Rationalität. (Ebd.., 13)
Homann ist der Auffassung, dass gerade das von vielen kritisierte, als ‚unmoralisch‘ eingestufte strategisch rationale Handeln wirtschaftlicher Akteure die Basis für den Wohlstand industrialisierter Gesellschaften bildet. Dieser wie derum stellt die notwendige Voraussetzung für die Bereitstellung grundlegender Güter und Freiheiten dar. Das gegenwärtige Niveau gesellschaftlichen Wohlstands sei nur durch Wettbewerb und Wachstum zu gewährleisten, wie Homann in Rückgriff auf die von Adam Smith begründete Theorie der ‚unsichtbaren Hand‘ zu zeigen versucht:
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Zu diesem Zweck musste er das moralisch erwünschte Resultat des Wirtschaftsprozesses, den Wohlstand aller als Voraussetzung der Freiheit aller, von den Handlungsmotiven der Akteure abkoppeln. Dies ist der Sinn der berühmten Sätze aus Wealth of Nations: ‚Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.‘ (Ebd., 22 f.)
Allgemeiner Wohlstand ist demnach nur zu gewährleisten, indem die einzelnen Akteure strikt ihr Eigeninteresse verfolgen. Das gesellschaftliche Ziel der Wohlstandsmehrung wird individuell sichergestellt nicht durch altruistisches Teilen, sondern im Gegenteil durch Nutzenmaximierung. Da moderne Volkswirtschaften durch ein hohes Maß an Arbeitsteilung gekennzeichnet sind, ist aufgrund der hieraus resultierenden Anonymisierung der Handlungsbeziehungen keine Steuerung über altruistische Handlungsmotive mehr möglich. Vielmehr müssten für die soziale Interaktion im Markt allgemein verbindliche Regeln geschaffen werden, um so über die Rahmenordnung die Erreichung gesellschaftlicher Ziele sicherzustellen (ebd., 22). Der so erlangte Wohlstandszuwachs ist laut Homann die notwendige Bedingung für die Realisierung der Freiheit aller. Diese begreift Homann als Befähigung aller Gesellschaftsmitglieder, „ihr Leben nach eigenen Vorstellungen in Gemeinschaft mit anderen selbst zu gestalten“ (ebd., 49). Um zu erläutern, inwiefern die individuelle Nutzenmaximierung dem gesellschaftlichen Wohl und der Freiheit aller dient, führt Homann das aus der Spieltheorie bekannte Gefangenendilemma an. Homann möchte zeigen, dass sich die konkurrierenden Wettbewerber im Markt in einem Anbieterdilemma befinden, welches sie zur Selbstschädigung zum Nutzen der Konsumenten zwingt. Zum besseren Verständnis sei hier das Konstrukt des Gefangenendilemmas kurz erläutert. Gefangenendilemma Zwei Untersuchungshäftlinge A und B werden vor den Haftrichter geführt, und vor die Wahl gestellt, die ihnen zu Last gelegte Straftat zu gestehen oder zu leugnen. Wenn beide gestehen, erhalten sie je acht Jahre Haft, leugnen beide, drohen zwei Jahre Haft aufgrund eines geringfügigen Vergehens. Bei unterschiedlichen Aussagen der Häftlinge greift die Kronzeugenregelung: Der Geständige kommt frei, der Leugnende bekommt die Höchststrafe von zehn Jahren Haft. Die Häftlinge werden anschließend in ihre Zellen geführt, ohne Gelegenheit, ihre Aussagen abzusprechen (ebd., 29 ff.). Die Frage ist nun, wie die Häftlinge sich im Wissen um die oben dargelegten Konsequenzen verhalten. Drei Handlungsoptionen ergeben sich hier: (a) Die kollektiv beste Lösung wäre beiderseitiges Leugnen, was zwei Jahre Haft für A und B nach sich ziehen würde.
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(b) Die kollektiv beste Lösung stellt individuell nur die zweitbeste Lösung dar, da mittels der Kronzeugenregelung z.B. durch das Gestehen von A bei gleichzeitigem Leugnen von B die völlige Straffreiheit für A möglich wäre (und vice versa). (c) Die kollektiv schlechteste Lösung, beide gestehen und erhalten so je acht Jahre Haft, stellt individuell nur die zweitschlechteste Lösung dar (gegenüber der Höchststrafe von zehn Jahren bei einseitigem Leugnen) (ebd., 31 f.). Unter der Annahme, dass die Häftlinge als individuelle Nutzenmaximierer handeln, werden sie ein starkes Interesse daran haben, die Kronzeugenregelung zu vermeiden. Weil sie sich nicht absprechen können, werden sie auch nicht leugnen. Damit scheidet die kollektiv beste Lösung ebenfalls aus. In dieser Dilemmasituation bleibt ihnen nur noch die kollektiv schlechteste Lösung (c). Beide gestehen die Straftat und erhalten acht Jahre Haft (ebd., 32). Die Gefangenen verstoßen aufgrund der Rahmenbedingungen systematisch gegen ihre eigenen Interessen. Die ökonomische Ethik erkennt in der Einrichtung des Wettbewerbs in der freien Marktwirtschaft eine zum Gefangenendilemma analoge Situation. Im Wettbewerb konkurrieren Anbieter um Marktpositionen und Vorteile. Sie haben alle ein Interesse daran, ihren individuellen Nutzen zu maximieren, also möglichst hohe Preise für die angebotenen Güter zu erzielen. Durch die Wettbewerbsordnung, die nur bestimmte Handlungsoptionen gewährt, werden sie jedoch daran gehindert, dieses Interesse zu realisieren, „weil jeder Einzelne von ihnen einen größeren individuellen Vorteil realisieren kann, wenn er den Preis der anderen unterbietet“ (ebd.). Durch das Verbot von Preisabsprachen im Markt angesichts der Gefahr von Kartellbildung befinden sich die Wettbewerber in derselben Dilemmasituation wie die Gefangenen. Es kommt zur kollektiven Selbstschädigung der Anbieter durch den Preisdruck im Markt. Die Anbieter sind durch die allgegenwärtige Konkurrenz gezwungen, möglichst kostengünstig zu produzieren, um einen im Vergleich zur Konkurrenz möglichst niedrigen Verkaufspreis bieten zu können. Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Grundkonstellation der Marktwirtschaft bedingen Homann zufolge deren moralische Vorzugswürdigkeit. Unternehmer werden durch die Wettbewerbsbedingungen gezwungen, möglichst preisgünstig zu produzieren und den eigenen Gewinn zu maximieren. So generieren sie Mittel für Wachstum und für Investitionen in Innovationen, welche mögliche Wettbewerbsvorteile gegenüber allen Konkurrenten erbringen. Der zentrale Aspekt hierbei ist, dass durch genannte Wettbewerbsbedingungen im Markt dem Wohl aller Konsumenten gedient ist. Da alle Gesellschaftsmitglieder letztlich auch Konsumenten sind, dient die Marktwirtschaft dem Wohl aller (ebd., 33). Der gesamtgesellschaftliche Wohlstand wird erst ermöglicht durch den allseitigen Wettbewerb. Dieser erlangt moralische Signifikanz durch seine wohlfahrtsfördernde Funktion: indem alle nur ihr Eigeninte-
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resse verfolgen, dienen sie – über die durch die Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft gesetzten Anreize und deren wohlfahrtsfördernde Auswirkungen – dem Gemeinwohl. Dies bedeutet zunächst, dass das vermeintlich ‚unmoralische‘ Verhalten einzelner Marktteilnehmer, die ausschließlich nutzenorientiert handeln, nicht zu kritisieren, sondern zu befördern ist: Gewinnmaximierung ist daher nicht ein Privileg der Unternehmen, für das sie sich ständig entschuldigen müssten, es ist vielmehr ihre moralische Pflicht, weil genau dieses Verhalten […] den Interessen der Konsumenten, der Allgemeinheit, am besten dient. (Ebd., 38f.)6
Zudem folgt aus der dargelegten wohlfahrtsfördernden Funktion der Marktwirtschaft, dass der Wettbewerb aus moralphilosophischer Sicht nicht als ein Hindernis, sondern als die Ermöglichung der Solidarität aller Gesellschaftsmitglieder anzusehen ist. Daher gilt: „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“ (ebd., 16). Im Wettbewerb dient nicht altruistische Umverteilung der Solidarität aller, sondern die strikte Verfolgung des Eigennutzens. Um die wohlfahrtsfördernden Funktionen der Marktwirtschaft zur Entfaltung zu bringen, bedarf es jedoch einer geeigneten Rahmenordnung und bestimmter ‚Spielregeln‘, die zu befolgen sind. Ihre Einhaltung bildet die grundsätzliche Voraussetzung dafür, dass der Markt die Wirkungen entfalten kann, die ihm seitens der ökonomischen Ethik zugeschrieben werden. Diese Regeln seien hier in Kürze aufgelistet. 1. Die Regeln müssen für alle gleich sein (kein Protektionismus, keine Handelszölle). 2. Die Regeln müssen bekannt und von Marktteilnehmern anerkannt sein. 3. Die Regeln müssen durchgesetzt werden (Strafverfolgung von Wirtschaftskriminalität). 4. Märkte müssen eine hinreichende Zahl potenter Wettbewerber aufweisen (keine Kartellbildung oder Preiskriege zum Nachteil kleinerer Wettbewerber). 5. Die Marktteilnehmer müssen den Wettbewerb wollen: nur so ist dem Allgemeinwohl gedient (Gefahr der Einforderung von Bestandsgarantien). 6. Die Regeln müssen zeitlich stabil und für alle verbindlich sein, um gegenseitiges Verhalten vorhersagbar zu machen (Gefahr der Ausbeutung individueller Vorteile). 7. Die Regeln müssen so gestaltet sein, dass Moral möglich wird (ebd., 27 ff.).7 Diese Regeln dienen nicht der Beförderung moralischen Verhaltens, sondern stellen sicher, dass fairer Wettbewerb stattfinden kann. Mittels der wohlfahrts6
Ähnlich auch Milton Friedman (2002, 165). Die strikte Einhaltung der hier angeführten Regeln, insbesondere der Punkte 1, 3 und 4, hätte bereits sehr weitreichende Konsequenzen hinsichtlich der Chancengleichheit in existierenden, nicht-idealen Märkten. 7
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fördernden Funktion der Marktwirtschaft dient die Einhaltung dieser Regeln jedoch dem Gemeinwohl. Nur aufgrund dieser sekundären, gesamtgesellschaftlich wirksamen Funktion erlangen Marktinstitutionen ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit, wie Homann ausführt (Homann 2001, 219). Hinsichtlich der Theoriebildung der ökonomischen Ethik wird nun die folgende Argumentationsstruktur kenntlich: (i) Der Wettbewerb schafft systematische Dilemmastrukturen. Nur konkurrenzfähige Anbieter bestehen im Wettbewerb. Hierzu ist nutzenmaximierendes Handeln notwendig. Durch den im Wettbewerb entstehenden Effizienz- und Preisdruck auf Anbieterseite ist letztlich allen Bürgern gedient, da alle Bürger Konsumenten sind. (ii) Wachstum ist die Ermöglichung von Wohlstandsmehrung. Diese wiederum ist die notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit der Freiheit aller. (iii) Nur die freie Marktwirtschaft ermöglicht Wachstum und den Wohlstand aller durch den Wettbewerb. (iv) Die Thesen (i), (ii) und (iii) liefern die Begründung für die moralische Vorzugswürdigkeit der Marktwirtschaft als das beste „Instrument zur […] Verwirklichung der Solidarität aller“ (Homann u. Suchanek 2005, 409). Daher gilt: Wettbewerb ist solidarischer als Teilen. Im folgenden Abschnitt werden die Schlussfolgerungen dargestellt, die sich aus diesen grundsätzlichen Überlegungen über das Verhältnis von Ethik und Ökonomik sowie zur ‚Vorzugswürdigkeit‘ der Marktwirtschaft für die ökonomische Ethik ableiten. 1.1.2 Ökonomische Ethik als Anreiz- und Institutionenethik Der Wettbewerb im Markt und der hieraus resultierende Zwang zur Nutzenmaximierung bedingt einerseits die Fokussierung der Ökonomik auf die Theorie rationalen Handelns. Andererseits stellt die im Subsystem Wirtschaft geltende Norm der Nutzen- und Gewinnmaximierung den Grund dar für den oben erwähnten Konflikt zwischen Moral und Ökonomie. Dieser besteht zwischen den widerstreitenden Sphären und entsprechenden Anforderungen von freier Marktwirtschaft und Moralphilosophie (Homann u. Blome-Drees 1992, 13). Die ökonomische Ethik vertritt den Standpunkt, diese Ausdifferenzierung sei keinesfalls rückgängig zu machen, sondern die Moral müsse vielmehr in die Logik und in die Methoden der Ökonomik übersetzt werden. Homann ist der Auffassung, dass aufgrund der systematischen Dilemmastrukturen in der Marktwirtschaft an die Stelle traditioneller Individualethik eine reine „Anreiz ethik“ treten müsse. Die moralischen Anforderungen an wirtschaftliche Akteure müssten „unter den Bedingungen der modernen (Markt-)Wirtschaft“
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(ebd., 121) stets anreizkompatibel gestaltet sein, um den Wettbewerbsbedingungen des marktwirtschaftlichen Handelns gerecht zu werden: „Ohne anreizkompatible Implementierbarkeit kann Moral keine normative Geltung beanspruchen“ (Homann 2006, 16). Dies bedeutet, dass Wirtschaftsethik auf das Ziel gerichtet sein muss, normative Grundsätze in die „ökonomische Anreizlogik“ (Homann 2006, 7) zu übersetzen. Die Wirtschaftsethik dürfe nicht den Fehler begehen, „direkt das Handeln wirtschaftlicher Akteure bestimmen“ (Homann 2001, 208) zu wollen und so angesichts der Wirkmechanismen der Marktwirtschaft den Einzelnen zu überfordern. Als Adressaten wirtschaftsethischer Forderungen erkennt die ökonomische Ethik folglich weniger einzelne Individuen oder Unternehmen, sondern vielmehr die Institutionen, welche die Rahmenbedingungen und den Handlungsspielraum der Akteure festlegen. Wirtschaftsethik muss demnach als reine Anreiz- und Institutionenethik gestaltet werden, will sie normative Anforderungen in der Marktwirtschaft zur Geltung bringen (Homann u. Blome-Drees 1992, 40 f.). Hinter diesen Annahmen verbirgt sich die Überzeugung, dass der systematische Ort der Moral in der freien Marktwirtschaft nur die politische Rahmenordnung sein kann (ebd., 35). Dies ist durch die unterschiedlichen normativen Zielsetzungen von Markt und Rahmenordnung zu erklären: Während einzelne Unternehmen als auch ganze Märkte ausschließlich nach Effizienz streben, können über die Gestaltung der Rahmenordnung politisch intendierte Ziele wirtschaftlich wirksam gemacht werden. Die Handlungen der einzelnen Akteure in der Marktwirtschaft sind somit als ‚entmoralisiert‘ zu betrachten, da sie allein der wirtschaftlichen Effizienz dienen: Eine Remoralisierung der Spielzüge [der Akteure im Markt, P.S.] geht notwendig zu Lasten der Effizienz und revoziert somit die Fortschrittsleistungen der Moderne, die gerade auf der Entmoralisierung der Spielzüge beruhen, auf der Entlastung von Forderungen also, die über die Beachtung der sanktionsbewehrten Spielregeln hinausgehen. In diesem Sinne arbeitet der Markt ‚moralfrei‘. (Ebd., 36)
Homann erkennt in der Revozierung des gesellschaftlichen Widerstreits von Ökonomie und Moral gar eine Gefährdung zivilisatorischer Errungenschaften und prognostiziert für diesen Fall einen eklatanten Wohlfahrtsverlust (ebd., 13). Da das Handeln in der Marktwirtschaft also nicht moralisch orientiert sein kann und soll, sind moralische Anforderungen nur „wettbewerbsneutral und […] ausbeutungsresistent“ (Homann u. Lütge 2005, 28) implementierbar, da sonst die individuelle Überforderung einzelner Marktteilnehmer droht (Homann 2006, 11). Diesen Überlegungen liegt die Auffassung zugrunde, dass nur diejenigen normativen Überzeugungen in der Marktwirtschaft Geltung erlangen können, die sich vor dem Hintergrund der gegebenen Dilemmastrukturen in der Marktwirtschaft implementierbar erweisen: „In Dilemmastrukturen schlägt die Implementation auf die ‚Geltung‘ der Normen durch“ (ebd., 46).
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Hier ist auf den bedeutsamen Unterschied zwischen ‚Gültigkeit‘ und ‚Geltung‘ von Normen hinzuweisen. Diese erlangen gesellschaftliche ‚Geltung‘, wenn sie weithin konventionalisiert und gelebt werden, d.h. wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft sich in der Regel der Norm entsprechend verhalten. Zudem sind Normen vielfach auch rechtsstaatlich verankert und der Verstoß gegen Normen wie das Tötungsverbot ist mit Sanktionen belegt. Eine Norm wie ‚Du sollst nicht töten‘ hat zudem ‚Gültigkeit‘, wenn die argumentative Validität der sie begründenden Argumentation anerkannt wird. Obwohl bei normativen Aussagen die Schwierigkeit besteht, dass nicht, wie etwa bei logischen Sätzen, exakt bestimmt werden kann, wann und ob eine Norm ‚wahr‘ oder ‚nicht wahr‘ ist, lässt sich sagen, dass eine normative Aussage dann gültig ist, wenn sie allgemein für wohlbegründet und zustimmungsfähig angesehen wird. Hierzu schreibt Habermas: Wir müssen zwischen der sozialen Tatsache der intersubjektiven Anerkennung und der Anerkennungswürdigkeit einer Norm unterscheiden. Es kann gute Gründe geben, den Geltungsanspruch einer sozial geltenden Norm für unberechtigt zu halten; und eine Norm muss nicht schon darum, weil ihr Geltungsanspruch diskursiv eingelöst werden könnte, auch faktische Anerkennung finden. (Habermas 1983, 71 f.)
Diese Unterscheidung ist gerade im Hinblick auf das Implementationsargument wichtig, da bei Homann Gültigkeit und Geltung zusammenzufallen scheinen. Ob eine Norm argumentativ anerkennungswürdig erscheint, ist der ökonomischen Ethik zufolge gleichzusetzen damit, ob sie gesellschaftliche Geltung hat oder nicht. Sofern sich Normen angesichts der gegenwärtigen Strukturen der Marktwirtschaft als ‚nicht implementierbar‘ erweisen, haben sie nicht nur keine Geltung, sondern können auch keine Gültigkeit beanspruchen. In einer schwachen Lesart lässt sich dieses Argument so verstehen: Normen, deren Befolgung angesichts der gegenwärtigen Gegebenheiten der Marktwirtschaft den geltenden Handlungsanreizen zuwiderlaufen, sind nicht implementierbar. Ob sie dennoch anerkennungswürdig sind, bleibt zunächst offen. In einer starken Lesart lässt sich dieses Argument jedoch auch so interpretieren: Normen, die nicht anreizkompatibel gestaltet sind, können überhaupt keine Gültigkeit beanspruchen. In Homanns Diktion wäre dann davon zu sprechen, dass die Implementierbarkeit auf die Gültigkeit einer Norm durchschlüge. Dies scheint angesichts der transformatorischen Kraft sozialer Bewegungen und der Wandelbarkeit von Marktbedingungen keine realistische Perspektive (hierzu ausführlich Abschnitt 1.3.1). Da Homann sich diesbezüglich nicht weiter äußert, ist anzunehmen, dass er mit der These, die Implementierbarkeit schlage auf die Geltung einer Norm durch, vor allem auf die Machbarkeitsbedingungen von moralischen Forderungen in der Marktwirtschaft hinweisen möchte. Homann geht es grundsätzlich weniger um das Zurückdrängen jeglicher moralischer Anforderungen an das
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Handeln Einzelner, sondern vielmehr darum, was dem Einzelnen in der Marktwirtschaft an moralischer Selbstbegrenzung zuzumuten ist. Er macht deutlich, inwiefern die moralische „Appellitis“ (Luhmann 1993, 134) vieler Wirtschaftsethiker oft an den Anforderungen der Wirtschaft vorbei argumentiere und so eher schädlich als hilfreich sei. Folglich ist er der Auffassung, dass für den Verfall der Moral […] eher das Moralisieren der moralisch sensiblen Zeitgenossen als die Handlungsmotive der (Akteure in der) Wirtschaft verantwortlich zu machen sind. Moral lässt sich nicht gegen die Funktionserfordernisse der modernen Wirtschaft zur Geltung bringen, sondern nur in ihnen und durch sie. (Homann 2002d, 3)
Eine Ethik, welche diese Funktionserfordernisse berücksichtigt, kann Homann zufolge nur eine makroethisch orientierte Anreiz- und Institutionenethik sein, welche nicht das individuelle Handeln einzelner Akteure in den Blick nimmt, sondern die Auswirkungen der Aggregation einzelner Handlungen im Markt durch die rahmenpolitische Setzung von Anreizstrukturen in die gesellschaftlich gewünschten Bahnen zu leiten sucht. Das Forschungsziel der ökonomischen Ethik besteht jedoch nicht etwa darin, die widerstreitenden Anforderungen von Wirtschaft und Moralphilosophie zu vereinen, sondern diesen Dualismus vielmehr zugunsten einer monistischen Handlungstheorie zu überwinden. So „wird moralisches Handeln von der […] moralischen Handlungsintention abgekoppelt, so dass wir eine […] nichtintentionale Ethik, eine Anreizethik, erhalten“ (Homann 2001, 212). Die Forschungsaufgabe der ökonomischen Ethik besteht folglich in der Ausarbeitung einer Theorie, welche vollständig auf der Ebene der Rahmenordnung und der Möglichkeit von An- und Abreizsetzungen angesiedelt ist. Im folgenden Abschnitt werde ich dieses Projekt erläutern.
1.2 Ökonomische Ethik und normative Ethik Die ökonomische Ethik wendet sich bewusst von der Tradition normativer Ethik ab und der Wirtschaftswissenschaft zu in der Überzeugung, letztere verspreche leistungsfähigere Analysen zu erbringen. Homann erklärt zudem, ihm ginge es weniger um Begründungsfragen normativer Ethik, sondern um die Frage der Implementation von Ethik in der Wirtschaft (Homann u. Blome- Drees 1992, 16). Da die ökonomische Ethik jedoch zu dem Schluss gelangt, der systematische Ort der Moral sei die Rahmenordnung und nur durch entsprechende Anreizsetzung sei das Handeln von Wirtschaftssubjekten positiv zu beeinflussen, muss sie sich dazu äußern, wie diese Rahmenordnung konstituiert sein sollte und was ihre Ziele und Aufgaben sind. In Begründungsfragen greift die ökonomische Ethik daher kursorisch auf Konzepte der politischen Philo-
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sophie und der normativen Ethik zurück.8 Im Folgenden werden diese philosophischen Einflüsse und Anknüpfungspunkte der ökonomischen Ethik herausgearbeitet. 1.2.1 Die Gesellschaft als Institution der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil An verschiedener Stelle findet sich bei Vertretern der ökonomischen Ethik hinsichtlich der Frage, was der motivierende Grund für gesellschaftliche Kooperation sei, die von John Rawls entlehnte Definition der Gesellschaft als „ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ (Rawls 1979, 105).9 Die Realisierung dieser Bestimmung von gesellschaftlicher Zusammenarbeit als gegenteilig vorteilhaftes Unternehmen wird von der ökonomischen Ethik als maßgebliches Forschungsfeld der Ökonomik begriffen: Vor allem fragt die Wissenschaft Ökonomik nicht nach den Vorteilen des einzelnen Akteurs, sie fragt programmatisch nach den gegenseitigen Vorteilen, weil sie nicht die individuelle Handlung betrachtet, sondern die Interaktion, die Zusammenarbeit aller Partner […] Seit ihrer Grundlegung durch Adam Smith ist die Ökonomik eine Theorie, in der die gesellschaftliche ‚Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil‘, also die […] gesellschaftliche Kooperation, ihre Bedingungen, ihre Möglichkeiten und Probleme, im Zentrum stehen. (Homann u. Suchanek 2005, 5)
Hier wird prononciert, dass das allseitige Vorteilsstreben in der Marktwirtschaft zwar aufgrund seiner wohlfahrtsfördernden Effekte als moralisch begrüßenswert anzuerkennen ist. Jedoch ist nicht der unbedingte Vorteil des Einzelnen, sondern die in gesellschaftlicher Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil erbrachten Ergebnisse von Bedeutung für Philosophie und Ökonomik. Bei der ökonomischen Ethik erfolgt jedoch gegenüber der Theorie der Gerechtigkeit eine bedeutsame Eingrenzung und Akzentverschiebung. Bei Rawls ist durch die Definition noch nichts über das jeweilige Wirtschaftssystem gesagt, mittels dessen die Kooperation zum gegenseitigen Vorteil gewährleistet werden soll, sondern lediglich eine Eigenschaft von wohlgeordneten Gesellschaften benannt. Diese sind zunächst nur durch eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung definiert. Rawls leitet die Vorstellung der wohlgeordneten Gesellschaft folglich aus seinen Überlegungen zur Gerechtigkeit, nicht zum Marktsystem ab. Die wohlgeordnete Gesellschaft entspringt einer gemeinsamen Vorstellung des Rechten, wie Rawls ausführt: Wir wollen nun eine Gesellschaft wohlgeordnet nennen, wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird. Es handelt sich also um eine Gesellschaft, in der (1) 8 Für Homanns Überlegungen zur politischen- und Moralphilosophie siehe Homann (2001) und (2003a). 9 Zitiert wird die Passage u.a. bei Homann u. Suchanek (2005, 1).
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jeder die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, dass das auch die anderen tun, und (2) die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen […] diesen Grundsätzen genügen. (Rawls 1979, 21)
In dieser Sichtweise dient die Kooperation zum gegenseitigen Vorteil dem Wohl der Gesellschaftsmitglieder, die sich auf eine gemeinsame Vorstellung des Rechten geeinigt haben, aus der sich die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und der Verteilung ableiten. Durch welches wirtschaftliche System dies zu bewerkstelligen ist, wird an diesem Punkt nicht besprochen. An einigen Stellen äußert sich Rawls zwar zur Frage, welches wirtschaftliche System eher den Grundsätzen der Gerechtigkeit dienlich ist, die Marktwirtschaft oder verschiedene Formen des Sozialismus. Rawls‘ Theorie des politischen Liberalismus begründet jedoch die Vorzugswürdigkeit freier Marktwirtschaften mit ihren Wirkungen für die Realisierung seiner Gerechtigkeitsgrundsätze. Hierzu sind Marktwirtschaften, welche in parlamentarische Demokratien eingebettet sind und in denen individuelle Freiheiten geschützt sind, eher geeignet als der Sozialismus, welcher über zentrale Ziele und die Vorrangstellung der Gleichheit gegenüber individuellen Freiheiten steuert. Eine Theorie der Gerechtigkeit kann jedoch die Vorzugswürdigkeit eines bestimmten Systems nicht als gegeben vorwegnehmen, sie muss diese vom Standpunkt der Gerechtigkeit begründen oder indifferent bleiben: Welches der beiden Systeme und der vielen Zwischenformen am gerechtesten ist, lässt sich nach meiner Auffassung nicht im voraus entscheiden. Vermutlich gibt es keine allgemeine Antwort auf diese Frage, denn sie hängt stark von den Traditionen, Institutionen und gesellschaftlichen Umständen ab. Diese Fragen gehören nicht zur Gerechtigkeitstheorie. (Rawls 1979, 307)
Die ökonomische Ethik hingegen erkennt in der freien Marktwirtschaft das System der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil. Das Vertrauen darauf, dass die Marktwirtschaft selbst diese Eigenschaft gesellschaftlichen Zusammenlebens hervorbringt und befördert, begründet ihre Vorzugswürdigkeit. Der gegenseitige Vorteil wird dabei nicht etwa durch Zusammenarbeit erreicht, sondern durch Vorteilsstreben und Nutzenmaximierung (Suchanek u. Lin-Hi 2009, 31). Der Wettbewerb und die ‚unsichtbare Hand‘ dienen letztlich dem Vorteil aller. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die ökonomische Ethik dem Markt, nicht den sozialstaatlichen Maßnahmen moralische Signifikanz zuspricht: Es geht also nicht um ein Modell der sozialen Marktwirtschaft, sondern „um die moralische Qualität der Marktwirtschaft als solcher“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 49). Aus moralphilosophischer Sicht ließe sich nun einwenden, dass dies eine ‚entmoralisierte‘ Sicht der gesellschaftlichen Zusammenarbeit sei, bei der nur der funktionale Zusammenhang der Handlungen moralische Qualität erlangt. Dem entgegnet Homann mit dem Hinweis, dass das Vorteilsstreben eine Eigen-
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schaft aller moralischer Motivationen sei, und lediglich die defektive Besserstellung des Einzelnen (das einseitige Ausnutzen eines gegebenen Handlungsspielraums zum Nachteil aller anderen) als moralisch fragwürdig erscheint, nicht die pareto-superiore10 Besserstellung: ‚Moral‘ verbietet lediglich die defektive Besserstellung des Einzelnen – gleichzeitig verlangt sie die pareto-superiore Besserstellung. Weit entfernt davon, das Streben nach individueller Besserstellung zu verbieten und statt dessen ‚Altruismus‘ oder ‚Verzicht‘ zu verlangen, stellt gerade dieses Streben nach Besserstellung den Kern aller Moral dar […] Unbändiges Vorteilsstreben bildet den Kern aller Moral – und sogar des christlichen Liebesgebotes. (Homann 2002b, 131)
Es bleibt festzuhalten, dass die Marktwirtschaft Homann zufolge alleiniges Mittel zur Gewährleistung der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil darstellt, und dass das individuelle Vorteilsstreben in der Marktwirtschaft nicht zu kritisieren, sondern aufgrund der pareto-superioren Folgen für alle zu begrüßen ist. Im Folgenden wird gezeigt, inwiefern die volle Entfaltung dieser wohlfahrtsfördernden Wirkungen der Marktwirtschaft an die Bedingung der demokratischen Grundordnung des Staates geknüpft ist. 1.2.2 Systematischer Vorrang der politischen Ordnung vor dem Markt Ein weiterer Aspekt, zu dem sich die ökonomische Ethik positionieren muss, ist die Frage der politischen Ordnung und Institutionen, in die eine Marktwirtschaft eingebettet sein sollte. Bei Homann findet sich diesbezüglich der programmatische Hinweis: „Die politische Ordnung geht systematisch dem Markt voraus“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 54). Hiermit soll deutlich gemacht werden, dass Märkte sich nur dann optimal entfalten können, wenn durch staatliche Institutionen die Regeln des Zusammenlebens festgelegt und Verstöße gegen diese sanktioniert werden. Die Rangordnung von politischer Ordnung und Markt verdeutlicht diese Vorbedingung: Nur wenn durch politische Regelbildung Märkte mit Wettbewerb und Konkurrenz ermöglicht werden, können diese die wohlfahrtsfördernde Kraft entwickeln, welche die ökonomische Ethik ihnen zuschreibt: Der Markt ist eine Teilordnung der Gesellschaft, er basiert systematisch auf einer normativ vermittelten Ordnung, die sich die Gesellschaft in einem genuin politischen Einigungsprozess gibt. (Ebd., 48)
Da Homann zufolge von allen Staatsformen nur die Demokratie das Wohl jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds im Blick hat, kann die politische Ordnung, die dem Markt vorausgeht und ihn reguliert, nur die Demokratie sein (ebd., 55). 10 Pareto-Superiorität meint in der Literatur die Besserstellung eines Akteurs, ohne dass diese die Schlechterstellung eines anderen Akteurs zufolge hätte. Die Pareto-Optimalität beschreibt einen Zustand, bei dem die Verteilung von Gütern nicht weiter verändert werden kann, ohne dass irgend jemand schlechter dasteht (Rawls 1979, 88).
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Sie ist zudem die einzige Staatsform, welche nur die individuelle Willensbildung – und nicht etwa kollektive religiöse oder weltanschauliche Ziele – als Sinn gesellschaftlicher Integration anerkennt, wie Homann im Rückgriff auf J.M. Buchanans vertragstheoretische Überlegungen zu zeigen versucht. Buchanan ist der Überzeugung, dass nur die Demokratie seinem streng individualistischen Gesellschaftsmodell gerecht werden kann: „Die individuelle Freiheit wird dann zum überragenden Ziel jeder Gesellschaftspolitik […] ganz einfach als notwendige Konsequenz einer individualistisch-demokratischen Methodologie“ (Buchanan 1984, 3). Buchanan ist der Auffassung, dass gesellschaftliche Regeln des Zusammenlebens nur dann akzeptiert werden, wenn sich die Individuen durch die bewusste Einschränkung des eigenen Handlungsspielraums im Austausch Vorteile versprechen können, „die daraus entstehen, dass die anderen Vertragsparteien den gleichen Verhaltensschranken zustimmen“ (ebd., 152). Die Präferenzen der einzelnen Vertragspartner sind dabei gleich zu gewichten, d.h. die Freiheiten Einzelner sind nicht zugunsten der Präferenzen vieler einzuschränken, woraus sich die überragende Bedeutung der individuellen Freiheit für den methodologischen Individualismus ableitet. Die Demokratie bietet nun Homann zufolge die ideale Grundlage zur Erfüllung dieser Ziele, indem sie weltanschaulich neutral jedem zum individuellen Vorteil gereicht: Es ist vor allem diese Begründung der Demokratie auf weltanschaulich neutralisierten individuellen Vorteilsüberlegungen, die die Demokratie zur einzig aussichtsreichen Integrationsplattform in zunehmend multikulturellen Problemlagen werden lässt. Deswegen handelt es sich auch um eine genuin ökonomische Theorie der Demokratie. (Homann 2003b, 92)
Die Demokratie setzt auf die Zustimmungsfähigkeit aller Bürger, indem jedem Individuum ein Stimmrecht eingeräumt wird, von dem es, je nach Ausgestaltung der Institutionen und Entscheidungskompetenzen, direkt oder mittelbar Gebrauch machen kann (Homann u. Blome-Drees 1992, 56). Das hier skizzierte Prinzip der Demokratie ist Homann zufolge nicht bloß als politisches System zu begreifen, sondern als „das universale Prinzip des menschlichen Zusammenlebens“ (ebd., 55). Somit ist in der ökonomischen Ethik die Demokratie als notwendige (Vor-)Bedingung der freien Marktwirtschaft aufzufassen. 1.2.3 Ökonomische Ethik und die ‚Solidarität aller‘ Nachdem nun der ‚Ort der Moral‘ sowie der systematische Vorrang der politischen Ordnung vor dem Markt expliziert ist, bleibt zu analysieren, was die Verortung als „Ethik mit ökonomischer Methode“ (Homann 2001, 209) bedeutet. Die ökonomische Ethik fühlt sich weniger der normativen Ethik in der Philosophie verpflichtet, sondern versucht vielmehr, eine Ethik mittels der Methoden und Instrumente der Ökonomik zu begründen. Hierbei ist das oben angeführte Modell rationalen Handelns bedeutsam. Homann zufolge ist dieses
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nicht nur auf die Wirtschaft, sondern grundsätzlich auf jedwede Form der Interaktion anwendbar. Er ist der Auffassung, dass allen ethischen Fragestellungen Vorteilserwägungen zugrunde liegen. Demnach beinhalte jegliche soziale Interaktion eine „ökonomische Dimension“ (Homann 2006, 7). Daher müsse die ökonomische Ethik auch hinsichtlich ihrer Methoden auf die Gegebenheiten in der Wirtschaft angepasst sein: Wirtschaftsethik verstehe ich dann als Ethik mit ökonomischer Methode, also als eine Ethik, die aus methodischen Gründen mit den Kategorien ‚Vorteil‘ und ‚Nachteil‘ und ihren Derivaten auskommen muss – wie die Physik mit ‚Masse‘ und ‚Energie‘. (Homann 2001, 209)
Es zeigt sich, dass die ökonomische Ethik eher als Anwendung etablierter ökonomischer Handlungsanalysen auf moralische Fragestellungen in Marktzusammenhängen denn als genuin neuartige Ethikkonzeption zu begreifen ist. Ihr Ziel ist weniger, die Begründungsmöglichkeiten moralischer Grundsätze für die Marktwirtschaft zu durchleuchten, sondern vielmehr die Frage der Implementation normativer Anforderungen in der Marktwirtschaft mittels der ökonomischen Methode zu analysieren. Da sich die Anhänger der ökonomischen Ethik vor allem mit dem Problem der Implementation auseinandersetzen, finden sich zur Begründung und Ausgestaltung einzelner Normen nur knappe Ausführungen. Weiter oben wurde jedoch bereits ausgeführt, dass die Marktwirtschaft als das bisher beste Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller angesehen wird. Dieses Prinzip wird von Homann näher erläutert: Diese Solidarität lässt sich als moderne Version der goldenen Regel (Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu!) oder des christlichen Gebots der Nächstenliebe verstehen. Es ist dann im einzelnen zu zeigen, welche Handlungsanforderungen sich daraus für die einzelnen (Unternehmen) ergeben. (Homann u. Blome-Drees 1992, 15)
Homann erkennt in Kants kategorischem Imperativ die ausgereifteste Form dieses Prinzips. Angeführt wird die folgende Version des Imperativs: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant 1956a, 140). Das Kriterium der Universalisierbarkeit sei auch im Hinblick auf die Wirtschaft von großer Bedeutung, da unter dieser Maßgabe die Legitimität parteiischer Interessen in Frage gestellt werden könne (Homann u. Blome-Drees 1992, 15 f.). Hier ist zunächst relevant, inwiefern dieses Prinzip in der Ökonomik zur Geltung kommt. Die ökonomische Ethik erkennt in der Methode der Ökonomik die Endogenisierung dieses Prinzips, weil dieser Ansatz systematisch auf […] die Besserstellung aller durch die Regeln […] fokussiert ist und eine pareto-superiore soziale Ordnung nur im Zusammenwirken aller stabil bleiben kann. (Homann 2001, 222)
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Über die Regelbildung, die stets auf die Pareto-Superiorität von Interaktionen hinwirkt, wird laut Homann das Prinzip der Solidarität aller als inhärentes Leitbild positiver Ökonomik realisiert. An dieser Stelle kann nicht ausführlich diskutiert werden, ob diese These auf die normative Ökonomik, die positive Ökonomik oder gar auf die in real existierenden Volkswirtschaften vorgefundene Verteilung von Einkommen und Lebenschancen zutrifft. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass das skizzierte Bild auf die idealtypische Operation der Märkte angewiesen ist. Homann ist der Überzeugung, die Ökonomik sei durch ihre Methoden und Analysen auf das Ziel der Solidarität aller ausgerichtet: „Die Solidarität aller ist kein aufgesetzter ‚Wert‘, sondern steckt in der Methode der positiven Ökonomik“ (ebd.). Der Philosophie kommt hier lediglich die Rolle einer Heuristik zu, welche mittels der eigenen Begründungsstrategien Empfehlungen geben kann. Sie sollte jedoch nicht normative Einschätzungen oder gar methodische Kritik an den Ergebnissen ökonomischer Forschung äußern, da sich philosophische Kritik an den Maßstäben der modernen Sozial- und Denkstrukturen messen lassen [muss, P.S.]. Die Lösung der Probleme kann grundsätzlich nicht darin gesucht werden, eine ‚Durchbrechung‘ der ökonomischen Logik im Namen von Ethik zu postulieren […] sie kann vielmehr erfolgen nur in Form einer Verbesserung der ökonomischen Logik. (Ebd., 223)
Es lässt sich schlussfolgern, dass der Philosophie in Bezug auf die Ökonomik die Rolle einer Metainstanz zukommt mit der Funktion, die Vorzugswürdigkeit verschiedener ökonomischer Analysemodelle zu begründen. Als Wissenschaft hat jedoch Homann zufolge die Ökonomik das Prinzip der ‚Solidarität aller‘ bereits endogenisiert und sie ermöglicht es, die Anforderungen für die Implementation des Prinzips zu benennen. Dennoch ist die Philosophie nicht gänzlich irrelevant für die Ökonomik, wie Homann deutlich macht. Ohne sie könne die Ökonomik nicht als normative Ökonomik wirksam werden: „Ethik ohne Ökonomik ist leer, aber eine Ökonomik ohne Ethik ist blind“ (ebd., 217). Ein weiterer Punkt, der hinsichtlich des Prinzips der Solidarität aller hervorzuheben wäre, ist, dass anders als noch bei Kant das Prinzip nicht individualethisch verankert ist, sondern vielmehr durch die Ergebnisse des Marktes realisiert wird. Sofern der Markt dieser Anforderung gerecht wird und damit als „sittlich ausgewiesen“ ist, „kann man die entsprechende Handlungsmotivation […] der Akteure nicht länger mit Kant […] als sittlich minderwertig beurteilen“ (Homann 2002a, 59). Ob die einzelnen Akteure im Markt wollen, dass alle anderen Marktteilnehmer ihren Nutzen maximieren, ist völlig irrelevant; solange sie als Nutzenmaximierer handeln, tragen sie über den funktionalen Zusammenhang des Wettbewerbs zum Gemeinwohl bei. Der sittliche Wert der Handlung liegt also nur im kumulativen Effekt der Summe aller solcher Handlungen im Gesammtzusammenhang Markt. Für Homann ergibt sich jedoch in dieser normativen Legitimierung nichtmoralischen
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Verhaltens kein Problem für die Moral, vielmehr erkennt er hier eine Chance für deren bessere Implementierbarkeit (Homann 2003a, 13). Der Bezugspunkt moralphilosophischer Theorien müsse daher unter den Gegebenheiten der Moderne weniger ein bestimmtes Menschenbild mit klar umrissener psychologischer Konstitution sein, bei dem moralische und egoistische Motivation diametral gegeneinander stehen und die moralische die egoistische Motivation begrenzt (ebd., 12). Homann tritt hingegen für eine Theorie der Moral ein, die den Vorteilsbegriff der Ökonomik internalisiert und so die situationsabhängige Analyse der jeweils geltenden Anreizstrukturen „als Bezugspunkt für die differenzierte Ausgestaltung moralischer Normierung“ (ebd., 21) nimmt. Die ökonomische Ethik verfolgt das Ziel, die moralische Rechtmäßigkeit einzelner Handlungen konsequentialistisch zu begründen, während hinsichtlich der Motivation auf das Vorteilsstreben des Einzelnen verwiesen wird. Die moralische Signifikanz einzelner Handlungen wird aus nichtmoralischen Voraussetzungen abgeleitet, die Summe dieser Handlungen führt zur Realisierung der ‚Solidarität aller‘. Ich werde im Abschnitt 1.3.2 kritisch durchleuchten, inwiefern der Markt dieses durch die Ökonomik endogenisierte Prinzip der Solidarität aller faktisch realisiert bzw. unter welchen Bedingungen diese Wirkungen zur Entfaltung gelangen können. Darüber hinaus wird in Abschnitt 1.3.3 erörtert, ob die von der ökonomischen Ethik dargelegte ‚Moral aus nichtmoralischen Voraussetzungen‘ gelingen kann. Im Folgenden ist jedoch zunächst darzustellen, wie sich die ökonomische Ethik zur Verteilungsgerechtigkeit äußert. 1.2.4 Die Interdependenz von Produktion und Verteilung Homann und andere äußern sich zu den im Zusammenhang mit der ökonomischen Ethik relevanten Verteilungsfragen. Diese seien kein rein technisches Effizienzproblem, sondern als „in eine soziale Dimension eingebettet“ (Homann u. Suchanek 2005, 4) zu betrachten. Mit diesem Zusatz möchten sich die Autoren von einer Definition distanzieren, derzufolge die Ökonomik menschliches Verhalten „untersucht als eine Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln“ (ebd., 3) und deren möglichst effizienter Verwendung. Die ökonomische Ethik wendet ein, der Ökonomik dürfe es nicht allein um die möglichst effiziente Nutzung knapper Ressourcen gehen. In der obigen Definition bleiben die Interessen der im Markt handelnden Akteure unberücksichtigt oder werden als „Störfaktoren einer effizienteren Mittelverwendung“ (Homann u. Suchanek 2005, 4) eingestuft. Die ökonomische Ethik erkennt hingegen in der sozialen Dimension des Marktes eine Problemstellung, die durch konfligierende Interessen von Individuen entsteht. Erst durch diese Konstellation wird das „Knappheitsproblem zu einem sozialen Problem, was immer zwei Möglichkeiten impliziert, den Konflikt und die Kooperation“ (ebd.). Durch diese Auslegung des
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Paradigmas knapper Ressourcen als Problemstellung sozialer Kooperation ist jedoch noch nichts darüber gesagt, was als gerechte Verteilung anzusehen ist. Zwar sollte die Kooperation dem gegenseitigen Vorteil dienen, jedoch hat diese Festlegung allein keinen Informationswert hinsichtlich der Frage, wie die reale Verteilung von Einkommen und Lebenschancen zu gewichten oder normativ zu kritisieren wäre. Homann und andere Anhänger der ökonomischen Ethik berufen sich im Hinblick auf Fragen der (Um-)Verteilung auf das von John Rawls begründete Differenzprinzip, insbesondere auf den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen. (Rawls 1979, 336)
In Anerkenntnis der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen macht dieses Prinzip gesellschaftliche Ungleichheiten begründungspflichtig. Dies bedeutet, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur zulässig sind unter der Einschränkung, dass eine Ungleichverteilung von Gütern den am wenigsten Begünstigten die größtmöglichen Vorteile einbringen müssen (ebd.), andernfalls ist eine Gleichverteilung vorzuziehen. Dieses Kriterium für zulässige Ungleichverteilungen von Gütern wird offensichtlich von Homann angeführt (Homann u. Blome-Drees 1992, 61) in dem Bestreben, die ökonomische Ethik für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit anschlussfähig zu machen. Jedoch bleibt es bei sehr knappen Ausführungen zur Erläuterung des Differenzprinzips (ebd., 61 f.). Die Frage der Einbettung in- sowie die Relevanz für die ökonomische Ethik bleibt zudem systematisch unterbestimmt. Wie weiter unten (1.3.2) zu zeigen sein wird, ist die ökonomische Ethik ohne eine eingehendere Positionierung nicht anschlussfähig für den von Rawls begründeten ‚politischen Liberalismus‘. Es sei allerdings zugestanden, dass Homann mit dem Rückgriff auf das Differenzprinzip vorrangig daran gelegen ist, hervorzuheben, inwiefern das Differenzprinzip das Kriterium der „Interdependenz von Produktion und Verteilung“ (ebd., 62) verinnerlicht. Er möchte darauf hinweisen, dass Verteilungsfragen nur unter Berücksichtigung der Ansprüche zu behandeln sind, welche Einzelne auf produzierte oder übertragene Güter erheben. Fragen der Distribution können in dieser Lesart nicht unabhängig von den Ergebnissen der Produktion diskutiert werden, weil die (Um-)Verteilung womöglich erheblichen Einfluss auf letztere hat: Auf den Gütern, die zur Verteilung kommen, liegen vielmehr vorab Ansprüche, die aus dem Prozess ihrer Produktion resultieren: Die Akteure produzieren in Erwartung eines bestimmten Anteils am Sozialprodukt. (Ebd., 62)
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Dieser Einwand richtet sich gegen rigorose Forderungen nach einer Umverteilung von Einkommen. Die einzelnen Akteure im Markt erwirken durch ihren Anteil an der Produktion einen Anspruch auf entsprechende Vergütung ihrer Leistungen. Wenn dieser durch Umverteilung regelmäßig nicht erfüllt wird, so schmälert dies ihre Leistungsbereitschaft (ebd.) und wirkt sich negativ auf die Gesamtproduktivität aus. Durch die Umverteilung von Einkommen könne sich somit die Menge der produzierten Güter verringern, was zu einem realen Wohlstandsverlust führe, was der erhofften Besserstellung aller zuwiderläuft: Wenn der ‚Kuchen‘ des Sozialprodukts anders verteilt wird, verändert sich simultan auch seine Grösse. Es ist denkbar – und in der Realität vielfach beobachtbar – , dass einzelne (Gruppen) zwar einen größeren Anteil am Sozialprodukt, aber absolut gesehen weniger Güter erhalten, weil durch die Umverteilung der Kuchen (in der nächsten Periode) kleiner wird. Produktion und Verteilung sind interdependent, sie können daher, systematisch gesehen, nur simultan diskutiert werden. Die in ethischen Diskursen beliebte Vor gehensweise, Verteilungsfragen unabhängig von Fragen der Produktion zu diskutieren, ist wissenschaftlich […] unseriös […] (ebd.).
Die hier dargelegte Argumentation findet sich in ähnlicher Weise bei Robert Nozick, der ein Kritiker Rawls‘ ist. Wenn der angesprochene ‚Kuchen‘ die zu verteilenden Güter darstellt, so fragt Nozick sinngemäß, warum sollte die Bedingung, eine Ungleichverteilung der Stücke dieses Kuchens müsse stets den am wenigsten Begünstigten dienen, gegenüber den Leistungsfähigeren gerechtfertigt sein? Wenn nun aus irgendeinem Grunde die Größe des Kuchens nicht festliegt und erkannt wird, dass das Streben nach einer Gleichverteilung zu einem kleineren Kuchen führen würde, als sonst möglich wäre, könnte man sich wohl auf eine ungleiche Verteilung einigen, die das kleinste Stück vergrößert. Doch würde diese Erkenntnis nicht in jeder praktischen Situation auf unterschiedliche Ansprüche auf Kuchenanteile hindeuten? Wer könnte den Kuchen vergrößern und würde es tun, wenn er einen größeren Anteil bekommt, nicht aber, wenn er den gleichen bekommt wie alle anderen? Wem ist der Anreiz zu bieten, damit er diese größere Leistung erbringt? […] Warum führt diese identifizierbare unterschiedliche Leistung nicht zu einem unterschiedlichen Anspruch? (Nozick 2006, 263)
Nozick weist hier auf die Nichtberücksichtigung von berechtigten Ansprüchen durch das Differenzprinzip und dessen womöglich schädliche Wirkungen auf die zu erwartende volkswirtschaftliche Gesamtproduktivität. Wenn durch die unterschiedliche Kontribution einzelner unterschiedliche Ansprüche erwachsen, wie können Anreize dann so gesetzt werden, dass manche bei einer Ungleichverteilung mehr zu leisten bereit sind als andere? Hier ist ein ‚wertender‘ Einschub zur Begründungsstrategie der ökonomischen Ethik geboten. Es wäre wünschenswert, wenn die Proponenten der ökonomischen Ethik systematischer zu diesen sehr unterschiedlichen und offenbar unvereinbaren philosophischen Impulsen Stellung beziehen würden. Zwar schließt sich die ökonomische Ethik in Bezug auf Verteilungsfragen der Theorie
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Rawls‘ an. Diese folgt jedoch einer „egalitäre[n] Gerechtigkeitsauffassung“ (Rawls 1979, 121). Eine Verteilung ist nach Rawls gerecht, wenn die Grundstruktur die Realisierung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze ermöglicht. Diese dienen auch dazu, den „willkürlichen Wirkungen der sozialen Lotterie“ (ebd., 94), also den Unterschieden in natürlichen Fähigkeiten und sozialer Herkunft, entgegenzuwirken. Den Ansprüchen Einzelner wird in diesem System insofern Rechnung getragen, als die gesellschaftlichen Institutionen die Erfüllung „berechtigte[r] Erwartungen“ (ebd., 347) gewährleisten sollen. Keinesfalls aber ist im Sinne Nozicks jegliche Umverteilung unzulässig, weil sie Rechte verletzt (Nozick 2006, 201). Die ökonomische Ethik müsste deutlich machen, wie stark die These der Interdependenz von Produktion und Verteilung aufzufassen ist. Folgen hieraus unveräußerliche Ansprüche, die keinesfalls eingeschränkt werden dürfen? Oder ist die These im Sinne Rawls‘ so zu verstehen, dass Ungleichverteilungen zu besseren Ergebnissen für alle führen können und dann zulässig sind, wenn sie die Situation der am wenigsten Begünstigten verbessern? Homann macht lediglich seine Skepsis gegenüber Konzepten der sozialen Marktwirtschaft oder der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ deutlich. Er weist darauf hin, dass sich kein „‚externes‘ Gerechtigkeitskriterium“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 66) für die im Markt vorgefundenen Verteilungsergebnisse ableiten ließe. Somit sei die Frage der Verteilung ein Kriterium der demokratischen Meinungsbildung. Dieser Prozess würde durch ‚externe‘ Gerechtigkeitsauffassungen unzulässig präjudiziert: Damit beruht diese Konzeption von ‚sozialer Gerechtigkeit‘ letztlich auf der Festlegung der Institutionen im grundlegenden Verfassungsvertrag in der Demokratie, in dem die Betroffenen selbst und gemeinsam festlegen, nach welchen normativen Gesichtspunkten sie miteinander umgehen sollten. (Ebd., 66 f.)
Für die ökonomische Ethik bedeutet dies, dass Fragen der Verteilungsgerechtigkeit durch die demokratisch legitimierte politische Rahmengebung zu beurteilen sind. Nachdem ich nun die Kernaspekte der ökonomischen Ethik dargestellt habe, werde ich im Folgenden die bereits erwähnten Kritikpunkte diskutieren.
1.3 Ökonomische Ethik: Kritik Dieses Kapitel dient vorrangig der analytischen Darstellung der ökonomischen Ethik. Dennoch ist es sinnvoll, an dieser Stelle eine ‚interne Kritik‘ der Prämissen und Schlussfolgerungen der ökonomische Ethik vorzunehmen. Vorab möchte ich jedoch einige Bemerkungen anbringen zur Kongruenz der mikround makroethischen Handlungsanforderungen, welche sich aus der ökonomischen Ethik ableiten, und deren Vereinbarkeit mit den Theoriezweigen der normativen Ethik.
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Auf der Ebene der Individualethik ließe sich die ökonomische Ethik als ‚Unterlassungsethik‘ beschreiben, da sie die individuelle Nutzenmaximierung zum Wohl aller bei Ausschluss von Defektion als oberstes Handlungsprinzip postuliert. An anderer Stelle spricht Homann von einer „eudämonistische[n] Ethik mit dem offenen Vorteilsbegriff der imperialistischen Ökonomik“ (Homann 2003a, 18). Die ökonomische Ethik arbeitet mit einem ‚weiten‘ Präferenzbegriff, demzufolge alle Handlungen dem Ziel des individuellen Vorteils dienen. Die ökonomische Ethik begreift sich zudem als teleologische Ethik im Hinblick auf die Gültigkeit von Normen. Diese erlangen Geltung aufgrund der Ziele, die sie realisieren: In dieser [teleologischen Ethik, P.S.] werden selbst so ‚unbedingt‘ gültige Normen wie die Menschenrechte als durch die guten Folgen für alle Einzelnen in der Gesellschaft begründet betrachtet. (Homann u. Lütge 2005, 17)
Hier zeigt sich eine strikt konsequentialistische Auffassung von Moral, welche in der Schwerpunktsetzung auf die Implementierbarkeit von Normen in der Marktwirtschaft deutlich wird. Auf der Ebene der Makroethik ist die ökonomische Ethik als kontraktualistische Theorie einzuordnen. Sie begreift Gesellschaften als Unternehmen der Kooperation zum gegenseitigen Vorteil, in der soziale oder wirtschaftliche Ungleichheiten begründungspflichtig werden. Im Hinblick auf die Implementation von Normen ist sie als Institutionenethik zu beschreiben. Als systematischen Ort der Moral erkennt sie die Gestaltung der politischen Rahmenordnung und nicht individuelles moralisches Handeln. An dieser Stelle ist kritisch einzuwenden, dass die individualethische und die makroethische Perspektive der ökonomischen Ethik systematisch inkongruent sind. Auf der Individualebene argumentiert sie strikt konsequentialistisch und erkennt in der Nutzenmaximierung ein vormoralisches Gutes. Auf der Ebene der Makroethik ist sie hingegen als kontraktualistische Theorie aufzufassen, da sie die pareto-superiore Besserstellung aller anstrebt und eine vertragstheoretische Begründung der Demokratie als notwendiger Voraussetzung der Marktwirtschaft leistet. Die normative Beurteilung von Einzelhandlungen anhand ihres Nutzens für die Allgemeinheit lässt sich jedoch nicht mit der in Vertragstheorien anerkannten fundamentalen Gleichheit einzelner Personen vereinen. John Rawls hat eingewendet, dass in utilitaristischen Theorien die größeren Vorteile einiger die Nachteile anderer aufwiegen könnten, und die Einschränkung der Freiheit einiger „durch das größere Wohl vieler anderer gutgemacht“ (Rawls 1979, 44) werden könne. Auch wenn Homann sich explizit der Begründungspflicht von Ungleichheiten anschließt, wie sie in Rawls Differenzprinzip deutlich wird, ist festzuhalten, dass die vertragstheoretischen Überlegungen Homanns hier in Konflikt geraten mit dem Prinzip der Nutzenmaximierung auf der Ebene der Individualethik. Dies liegt daran, dass Vertragstheorien wie
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die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness in der Gesellschaft als Institution der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil ein Prinzip der Reziprozität kenntlich machen, welches jedem Einzelnen Gesellschaftsmitglied einen besonderen Wert und normativen Status zuspricht: Das Nutzenprinzip scheint also unvereinbar zu sein mit der Vorstellung gesellschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Gleichen zum gegenseitigen Vorteil, mit dem Gedanken der Gegenseitigkeit, der im Begriff einer wohlgeordneten Gesellschaft enthalten ist. (Rawls 1979, 31)
In diesem Sinn kollidiert die ökonomische Ethik also auf makroethischer Ebene mit ihrem eigenen Postulat der individuellen Nutzenmaximierung. Auch wenn Homann an verschiedener Stelle deutlich macht, dass ihm weniger an Fragen der Begründung von Normen als um deren Implementation gelegen ist, stellt diese Inkongruenz ein ungeklärtes Forschungsdesiderat der ökonomischen Ethik dar. Im Folgenden möchte ich mich der Frage zuwenden, inwiefern die Anforderung der anreizkompatiblen Implementierbarkeit mit dem systematischen Vorrang der Rahmenordnung zu vereinen ist. 1.3.1 Der Vorrang politischer Ordnung und die Implementation von Normen Weiter oben wurde die These dargelegt, die politische Ordnung gehe systematisch dem Markt voraus. Da nur die Demokratie dem Ziel des Wohlstands aller bei Berücksichtigung jedes Einzelnen dient, ist sie notwendige Bedingung für die Entfaltung einer im besten Wortsinne freien Marktwirtschaft. Diese kann nur unter der Vorbedingung geeigneter Rahmenbedingungen jene wohlfahrtsfördernde Wirkung entfalten, welche die ökonomische Ethik ihr zuschreibt. Der Markt wird als Subsystem definiert, dessen Regeln durch demokratisch legitimierte Entscheidungen festgelegt werden. Diese systematische Vorrangstellung der politischen Grundordnung bedingt jedoch auch, dass die Anforderungen der Ökonomie den gesellschaftlichen Fragestellungen des Zusammenlebens nachrangig zu behandeln sind. Dann ist aber unklar, warum die Implementationsfrage einen höherrangigen Status hat bzw. interdependent ist mit der Frage der Moralbegründung und institutionellen Rahmengebung für die Marktwirtschaft. Eine paradigmatische Prämisse der ökonomischen Ethik lautet schließlich: „Die institutionelle Implementierbarkeit schlägt auf die normative Geltung der Regeln durch“ (Homann 2001, 212). Dies bedeutet, dass wenn Normen aufgrund „institutioneller Defekte“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 47) nicht zu stabilisieren sind, sie ihre Geltung verlieren. Dies zeigt Homann am Beispiel des Tötungsverbots: „Kann die Gesellschaft den Schutz meines Lebens nicht sicherstellen, gilt die Norm: Du sollst nicht töten, nicht“ (ebd.).
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Im Verhältnis zwischen systematischem Vorrang der politischen Ordnung und der Prämisse der anreizkompatiblen Implementierbarkeit zeigt sich eine weitere Inkongruenz der ökonomischen Ethik. Wenn nur diejenigen Normen als durchsetzungsfähig und begründungsfähig anerkannt werden können, die angesichts der gegenwärtig geltenden Marktbedingungen anreizkompatibel implementierbar sind, so untergräbt die Maßgabe der Implementierbarkeit die Prämisse des systematischen Vorrangs der politischen Ordnung. Homann argumentiert, die Wirtschaftsethik dürfe sich nicht entgegen den geltenden Bedingungen der Wirtschaft für die Durchsetzung bestimmter Normen einsetzen, sondern nur entlang der vorgegebenen Implementationsbedingungen. Hier ist zunächst einzuwenden, dass die Gültigkeit einer Norm nicht durch ihre anreizkompatible Implementierbarkeit im Markt bestimmt wird, sondern durch ihre Relevanz und Überzeugungskraft im gesellschaftlichen Diskurs, wie Ernst Tugendhat erläutert: Man kann .. ein moralisches Urteil nie durch bloße Feststellung seiner sozioökonomischen Bedingungen normativ in Frage stellen. Ein moralisches Urteil kann nur normativ (und d.h. moralisch) in Frage gestellt werden. (Tugendhat 1993, 16)
Tugendhat macht deutlich, dass eine Argumentation, welche allein auf die ‚Machbarkeit‘ von Moral abhebt, die Begründungsstruktur moralischer Normen missachtet. Die Frage der Implementierbarkeit, wenn auch im wirtschaftlichen Kontext von zugegebenermaßen großer Bedeutung, spielt hier zunächst keine Rolle. Ein Beispiel: Im Rahmen der Diskussion um den Klimawandel haben die Argumente für mehr Umweltschutz in den vergangenen Jahren eine enorme Wirkung entfaltet, die sich graduell auf die weltweite Umweltschutzgesetzgebung niederschlägt. Zwar lassen sich Instrumente wie Emissionszertifikate im Sinne Homanns als anreizkompatible Ausgestaltungen normativer Prämissen rekonstruieren. Die Bedeutsamkeit der Argumente für die Einführung eines Handels mit Emissionszertifikaten leitet sich jedoch aus ihrer normativen Überzeugungskraft ab, nicht aus ihrer Kongruenz mit den derzeit geltenden Wettbewerbsbedingungen. Zum Schutz der natürlichen Umwelt und der Lebenschancen zukünftiger Generationen ist es moralisch geboten, die CO2-Emissionen in künftigen Jahren derart zu reduzieren, dass das Wohlergehen zukünftiger Generationen nicht in entscheidender Weise beeinträchtigt wird.11 Ginge es bei der Implementierbarkeit dieser Überzeugung allein um die „Feststellung seiner sozioökonomischen Bedingungen“, so müsste mit Homann geschlussfolgert werden, dass weder den Unternehmen noch staatlichen Institutionen eine Begrenzung der industriellen Umweltbelastung abzuverlangen sei, da diese als zusätzlicher Kostenfaktor wettbewerbsschädigend gerade für emissionsintensive industrielle Verfahrensweisen wäre. 11
Zur Verantwortung für zukünftige Generationen siehe Gewirth (2001).
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In der Debatte um den Umweltschutz zeigt sich jedoch etwas ganz anderes: das, was als machbar und normativ gefordert angesehen wird, ist Sache der gesellschaftlichen Meinungsbildung, nicht der Implementierbarkeit angesichts derzeit geltender Wettbewerbsbedingungen. Mit Homann ist also einzuwenden, dass die politischen Institutionen so zu gestalten sind, „dass Moral möglich wird“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 41). Gegen Homann ist dann zu konstatieren, dass diese Forderung durch die Prämisse, die Implementierbarkeit einer Norm schlage auf deren Geltung durch, unterlaufen wird und der systematische Vorrangstatus politischer Institutionen faktisch nachrangig gegenüber Aspekten der Implementierbarkeit im Markt behandelt wird. In der Maßgabe der Implementierbarkeit zeigt sich zudem die historische Überhöhung der prinzipiell kontingenten Bedingungen marktwirtschaftlichen Handelns: Wenn Anreizkompatibilität vom status quo (=den im Wirtschaftshandeln bei uns vorherrschenden normativen Texturen) abhängig gemacht wird, dann wird der status quo, ein Relatives, historisch Jeweiliges, zum absoluten Maß des Vernünftigen gemacht […] was im Kapitalismus als status quo gilt, enthält allemal einen utopischen Zug, einen Zukunftsentwurf, und ist daher alles andere als statisch. Daher wäre es schon nach dem eigenen Maß ökonomischer Gesichtspunkte bloß suboptimal rational, über der Anreizkompatibilität, wie sie heute bestimmt ist, zu vergessen, wie sie morgen und in Zukunft wohl bestimmt sein möchte, oder anzunehmen, alles bleibe auch in Zukunft so, wie es heute ist. (Kettner 2001, 137 f.)
Es lässt sich mit Kettner zweierlei schlussfolgern: Erstens ist das Kriterium der Anreizkompatibilität nicht als statisches Faktum anzusehen, sondern der enormen Wandelbarkeit von Marktwirtschaften sowie deren institutioneller Ausgestaltung unterworfen. Zweitens offenbart sich hier ein Konzept von Rationalität, das vorgibt, die Frage, was als ‚vernünftig‘ anzusehen ist, ein für allemal geklärt zu haben: vernünftig ist, was implementierbar ist. Die Frage der Implementierbarkeit ist jedoch mit Ulrich nicht nur als Machbarkeitsproblem, sondern als „normatives Problem, nämlich als der Konflikt verschiedener normativer Geltungsansprüche“ (Ulrich 2008, 168 f.) von Wirtschaft und Gesellschaft zu rekonstruieren. Es zeigt sich, dies lässt sich schlussfolgernd zusammenfassen, dass die ökonomische Ethik mit ihren eigenen Prämissen in Konflikt gerät, indem sie die Geltung von Normen an deren (gegenwärtige) Implementierbarkeit knüpft und somit den postulierten Vorrangstatus der politischen Ordnung untergräbt. Im folgenden Abschnitt werde ich die These verteidigen, dass die ökonomische Ethik mit ihrer Annahme, die Marktwirtschaft sei das beste Instrument zur Verwirklichung der Solidarität aller, den sittlichen Wert derselben überhöht. Ich möchte zeigen, dass die wohlfahrtsfördernden Wirkungen von Märkten nur unter bestimmten Bedingungen zur Entfaltung kommen können.
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1.3.2 Marktwirtschaft und die ‚Solidarität aller‘ Oben wurde die These der ökonomischen Ethik erläutert, der Wettbewerb sei solidarischer als Teilen, da über den Wettbewerb in der Marktwirtschaft letztlich allen gedient sei: „Gewinnstreben dient der Solidarität aller. Wettbewerb und Investitionen sind solidarischer als Teilen“ (Homann 2002a, 51). Der ökonomischen Ethik zufolge führen unter Marktbedingungen strategische statt sittliche Handlungsorientierungen zu moralisch erwünschten Ergebnissen (ebd., 59). Ich werde die These vertreten, dass die ökonomische Ethik hiermit den sittlichen Wert der Marktwirtschaft überhöht. Ich gehe von einem nur mittelbaren, funktionalen Wert der Wohlstandsmehrung für die Ermöglichung von Freiheit und Wohlstand aus. Es stellt sich als offene Frage dar, ob die freie Marktwirtschaft für sich genommen in der Lage ist, zu leisten, was die ökonomische Ethik ihr zuschreibt, den Wohlstand aller zu realisieren. Wie Homann ausführt, dient das Gewinnstreben in der Marktwirtschaft „der Lenkung der Wirtschaft und nicht der Gerechtigkeit“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 64). Der funktionale Wert der Wohlstandsmehrung in der Marktwirtschaft liegt darin, die materiellen Voraussetzungen des Wohlstands zu erwirtschaften, die für die Bildung einer „wohlgeordneten Gesellschaft“ (Rawls 1979, 31) vonnöten sind. Allerdings müssen einige gewichtige Bedingungen gegeben sein, damit Marktwirtschaften dieser Rolle tatsächlich nachkommen. Die Auffassung, die Marktwirtschaft sei das beste Instrument zur Verwirklichung der Solidarität aller hängt von einer stark idealisierenden Konzeption der Marktwirtschaft ab, die nur dann Gültigkeit beanspruchen kann, wenn die Märkte so ideal funktionieren, wie es die Konzeption vorgibt. Hier veräußert sich eine eigentümlicher argumentativer Zirkel, wie Kettner deutlich macht: Wenn die Rahmenordnung ideal verfasst wäre, dann würde Marktwirtschaft auch in der Realität so überzeugend funktionieren, wie die Idee der Marktwirtschaft dann überzeugend ist, wenn ideales Funktionieren der Märkte schon unterstellt wird. (Kettner 1994, 264)
Dies lässt sich jedoch mit Blick auf die enormen globalen wirtschaftlichen Ungleichheiten nicht feststellen. Wie viel Wohlstand hingegen als notwendige Bedingung für die Freiheit aller vonnöten ist und ob mehr Wohlstand zwingend in mehr Freiheit und Gerechtigkeit mündet, scheint eine prima facie kaum zu beantwortende Frage zu sein. Amartya Sen hat mit seinem capability approach zumindest deutlich gemacht, dass die Fokussierung auf materielle Güter in der ökonomischen Analyse die realen Lebenschancen und Freiheiten von Individuen unbeachtet lässt. Der capability approach
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proposes a serious departure from concentrating on the means of living to the actual opportunities of living. This also helps to bring about a change from means-oriented evaluative approaches, most notably focusing on what John Rawls calls ‚primary goods‘, which are all-purpose means such as income and wealth, powers and prerogatives of offices, the social bases of self-respect, and so on. (Sen 2009, 233)
In Anlehnung an Sen ließe sich schlussfolgern, dass der absolute Wohlstand eines Staats gemessen in materiellen Gütern nicht als Kriterium für die Bemessung realer Freiheit und Lebenschancen einzelner Bürger dienen kann. Bei Homann scheint es hingegen eine systematische Verknüpfung zu geben: Der Wettbewerb gilt als notwendige Voraussetzung des Wohlstands aller, als Voraussetzung der Freiheit und Solidarität aller. Diese These ließe sich womöglich mit Verweis auf die Entwicklung der westlichen Industriestaaten untermauern. Hier ging der enorme Wohlstandszuwachs einher mit dem Zuwachs an individueller Freiheit durch die Schaffung demokratischer Nationalstaaten. Allerdings lässt sich der absolute Wohlstandszuwachs und die relative Besserstellung aller Bürger in den Industriestaaten in Europa und Nordamerika über die letzten 150 Jahre gar nicht unabhängig denken von der Einforderung und Durchsetzung von Freiheits- und Bürgerrechten, dem Zugang zu freier Bildung, der Schaffung umfassender wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und den sozialen Bewegungen, welche höhere Löhne und mehr Mitbestimmung für Arbeitnehmer durchgesetzt haben. Am Beispiel China ließe sich andererseits zeigen, dass enormer Wohlstandszuwachs durch wirtschaftliches Wachstum im freien Wettbewerb nicht in mehr individuelle Freiheit münden muss, sondern auch mit repressiven Staatsformen vereinbar scheint. Die systematische Verknüpfung von Wettbewerb, Wohlstand, individueller Freiheit und Solidarität scheint vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Der Wohlstand aller ist nicht allein durch wirtschaftliches Wachstum und technische Innovationen, sondern über die gesellschaftliche Umverteilung durch politische Institutionen zu gewährleisten, wie Paul Krugman am Beispiel der US-amerikanischen Mittelschicht zeigt: [W]hen economists, startled by rising inequality, began looking back at the origins of middle-class America, they discovered to their surprise that the transition from the in equality of the Gilded Age to the relative equality of the postwar era wasn’t a gradual evolution. Instead, America’s postwar middle-class society was created […] by the politics of the Roosevelt administration […] the relatively equal distribution of income created by FDR [Franklin Delano Roosevelt, P.S.] persisted for more than thirty years. This strongly suggests that institutions, norms, and the political environment matter a lot more for the distribution of income – and that impersonal market forces matter less – than Economics 101 might lead you to believe. (Krugman 2007, 7 f.)
Hier wird deutlich gemacht, dass die Besserstellung breiter Bevölkerungsschichten sehr viel weniger das Ergebnis von Marktkräften im freien Wettbewerb ist, sondern vielmehr auf politische Intervention und Umverteilung zu-
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rückzuführen ist. Ob durch den Wettbewerb tatsächlich allen Gesellschaftsmitgliedern gedient ist und er die ‚Solidarität aller‘ realisiert, hängt also von verschiedenen marktexternen Faktoren ab, insbesondere der Gewährleistung individueller Freiheiten durch den Rechtsstaat und etwaige Umverteilung durch staatliche Institutionen. Hiermit soll nicht behauptet werden, die ökonomische Ethik würde solche Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit gänzlich unberücksichtigt lassen. Mit ihrer Prämisse des systematischen Vorrangs der politischen Ordnung vor dem Markt delegiert sie Fragen an die Regelbildung durch demokratische Auseinandersetzung. Es ist jedoch zu kritisieren, dass sie unterbestimmt bleibt hinsichtlich der Frage, wie Wohlstand und Freiheit zusammenhängen. Vor allem aber bleibt unklar, was mit der Realisierung der ‚Solidarität aller‘ durch die Marktwirtschaft konkret gemeint ist. Weder bei dem Phänomen der zunehmenden Einkommensspreizung noch bei dem durch Standortverlagerung und industriellem Strukturwandel geprägten globalen Wettbewerb lässt sich eine Konkurrenz ‚zur Besserstellung aller‘ beobachten. Vielmehr ist zu konstatieren, dass trotz der relativen Besserstellung durch die Globalisierung es auch eine zunehmende Zahl „‚nicht wettbewerbsfähiger‘ Menschen“ (Ulrich 2008, 254) gibt, deren Stellung sich verschlechtert, wie auch solche, die unter wachsendem Wettbewerbsdruck kaum die Verwirklichung der ‚Solidarität aller‘ erkennen dürften. Der Begriff der Wohlstandsmehrung impliziert zudem die gleichzeitige oder zeitnahe Besserstellung aller Marktteilnehmer. Über die Verteilung des erwirtschafteten Reichtums ist jedoch mit der These ‚Wettbewerb ist solidarischer als Teilen‘ nichts gesagt. Die weitreichende Kritik am Prinzip des trickle-down Effekts belegt, dass Wohlstandszuwachs für alle allein durch höhere Gewinne und Wachstum nicht zu erwarten ist.12 Die in den letzten zehn Jahren wachsende Einkommensspreizung in Deutschland und anderen Industriestaaten bei gleichzeitig weitgehend positivem Wirtschaftswachstum zeugt davon, dass der freie Wettbewerb dem Gemeinwohl zumindest nicht in der Weise dient wie von der ökonomischen Ethik prognostiziert.13 Dieser Befund läuft allerdings der marktaffirmativen Argumentationsstruktur der ökonomischen Ethik zuwider. Diese erkennt moralische Signifikanz im 12 Paul Krugman hat sich diesbezüglich folgendermaßen geäußert: „Es ist ja völlig in Ordnung, wenn die Reichen immer reicher werden, solange sie mit ihrem lukrativen Treiben gleichzeitig dafür sorgen, dass der Lebensstandard für die gesamte Gesellschaft steigt. Das wird von den Laissez-faire-Vertretern immer behauptet, ist tatsächlich aber nicht eingetreten. Wir warten auf diesen Trickle-down-Effekt nun seit 30 Jahren – vergeblich. Derweil hat unsere Gesellschaft einen unglaublichen Abstand zwischen Arm und Reich entwickelt, die Mittelschichten sind immer kleiner geworden. Ein Gewinn für die Gesamtgesellschaft ist nicht zu erkennen.“ (Krugman 2008) 13 Zur Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland siehe Horn et al. (2009), für die USA Krugman (2007, 201 f.).
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Wettbewerb selbst, nicht in sozialstaatlichen Instrumenten zur Gewährleistung von Fairness und Chancengleichheit. Homann ist der Überzeugung, in einer demokratischen Gesellschaft gehe „alle Legitimation auf die Zustimmung der Betroffenen zurück“ (ebd., 39). Die Zustimmung zur jeweiligen Wirtschaftsform hängt jedoch m.E. von der tatsächlichen Ermöglichung der Freiheit und des Wohlstands aller ab. Bei Homann finden sich diesbezüglich drei Bedingungen für die Akzeptanz der Marktwirtschaft, die er am Beispiel des Strukturwandels, durch den einzelne Akteure die Nachteile der Marktwirtschaft zu spüren bekommen, erläutert: 1. Der Strukturwandel muss regional und sozial übergreifend sein, er darf nie nur einzelne Gruppen, etwa ungelernte Arbeiter, treffen (ebd., 58). 2. Der Strukturwandel muss durch sozialpolitische Maßnahmen abgefedert werden. Die soziale Sicherung im Strukturwandel ist die „Voraussetzung dafür […] dass die Betroffenen ihre Zustimmung zu einem Gemeinwesen mit Marktwirtschaft und Wettbewerb überhaupt gegeben haben.“ (ebd.) 3. Die Gesellschaft „muss den vom Strukturwandel Betroffenen Perspektiven für eine volle Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bieten.“ Die soziale Sicherung versteht Homann dabei als „Versicherung auf Gegenseitigkeit“ (ebd., 59).
Zwar wird hier ein System der sozialen Sicherung skizziert, welches mit der „Versicherung auf Gegenseitigkeit“ eine notwendige Bedingung für die Zustimmungsfähigkeit der freien Marktwirtschaft liefert. Jedoch bleibt die Frage der Einkommensverteilung unberührt, sie muss es in der ökonomischen Ethik bleiben, da sie kein „externes Kriterium“ zur Bemessung einer gerechten Verteilung anerkennt. Hierzu bedürfte es jedoch nur der Explikation und Qualifizierung des von der ökonomischen Ethik angeführten Differenzprinzips. Das Differenzprinzip bietet ein Kriterium, nach dem die Marktergebnisse beurteilt und gegebenenfalls korrigiert werden können. Ob die gegenwärtigen Ungleichheiten in real existierenden Volkswirtschaften und das Faktum der strukturellen (Langzeit-)Arbeitslosigkeit nach dem Differenzprinzip zustimmungsfähig wären, ist höchst zweifelhaft. Oben habe ich dargelegt, inwiefern Vertreter der ökonomischen Ethik diese durch Anlehnung an Rawls‘ Differenzprinzip anschlussfähig für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit machen möchten. Allerdings werden die wohl sehr weitreichenden Implikationen der Anwendung des Differenzprinzips auf die Marktwirtschaft weder weiter ausgeführt noch lassen sie sich in die Systematik der ökonomischen Ethik einbinden. Beispielsweise ist fraglich, inwiefern sich eine Anwendung des Differenzprinzips mit der Maßgabe der anreizkompatiblen Implementierbarkeit vertragen würde. Wenn die Wettbewerbsbedingungen es nicht hergäben, dass die am wenigsten Begünstigten durch bestehende Ungleichheiten „den größtmöglichen Vorteil“ (Rawls 1979, 336) erlangen, dann gerieten die beiden Prinzipien in Konflikt.
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Die hier vertretene These lautet: ohne die Verknüpfung mit Verteilungsfragen ist die These der moralischen Vorzugswürdigkeit von Marktwirtschaften nicht haltbar. Hierzu benötigte es zumindest einer „schwache[n] Theorie des Guten, um den vernünftigen Wunsch nach Grundgütern und den Begriff der Vernünftigkeit zu erklären“ (ebd., 435). Eine Wirtschaftsethik, die auf Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit verzichtet oder diese nicht systematisch in die Theorie einbaut, bleibt inhaltlich unterbestimmt, da die Frage der gerechten Verteilung m.E. eine der entscheidenden Fragen der makroökonomisch orientierten Wirtschaftsethik darstellt. Ich möchte diesem ‚blinden Fleck‘ der ökonomischen Ethik entgegentreten und im eigenen Ansatz die Wirtschaftsethik anschlussfähig machen für bestimmte Aspekte der politischen Philosophie. Im vierten Kapitel wende ich mich daher normativen Kriterien für die Grenzen des Marktes zu, und untersuche im fünften Kapitel die Frage, ob es in konkurrenzbestimmten Märkten einen ‚gerechten‘ Lohn geben kann. Im Folgenden ist zunächst der Anspruch der ökonomischen Ethik zu analysieren, mit ihrer Hilfe könne die Ethik durch die Ökonomik ‚rekonstruiert‘ werden. Ich behaupte, dass ein solches Projekt scheitern muss, weil der enge Rationalitätsbegriff der Ökonomik nicht die Multidimensionalität verschiedener Handlungsgründe abzubilden vermag. 1.3.3 Rekonstruktion der Ethik durch die Ökonomik Die ökonomische Ethik arbeitet mit der Annahme, Individuen handelten in Marktzusammenhängen grundsätzlich als Nutzenmaximierer. Mehr noch, so Homann, letztlich folgen alle Handlungen einer Nutzenkalkulation: Menschen befolgen moralische Normen dann und nur dann systematisch und auf Dauer, wenn sie davon zwar nicht im Einzelfall, aber über die Sequenz solcher Fälle hinweg individuelle Vorteile erwarten können. (Homann 2005, 205)
Ich möchte hier darlegen, inwiefern dieses Verständnis von Moral scheitern muss. Zwar ist die Wahrnehmung von moralischen Pflichten entscheidend durch die Erwartung auf Gegenseitigkeit geprägt. Dies lässt sich für verschiedenste Formen sozialer Interaktion zeigen, so innerhalb der Familie, bei Freundschaften, selbst im Kontext funktionierender Staatswesen. Individuen kooperieren und handeln regelkonform, weil sie mit der gegenseitigen Befolgung rechnen und sich hierdurch auch einen individuellen Vorteil versprechen. Allerdings, diese Argumentation werde ich im Folgenden darlegen, ist die reduktionistische These der ökonomischen Ethik, alle Interaktion sei letztlich durch Vorteilsstreben zu erklären, eine unhaltbare Verkürzung der tatsächlichen motivationalen Dispositionen handelnder Individuen. Die Rekonstruktion der Ethik durch das ökonomische Handlungsmodell muss daher scheitern.
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In der kritischen Literatur zum Konzept des homo oeconomicus wird die Annahme bekräftigt, es gäbe altruistisches Verhalten, welches nicht von Vorteilserwartungen geprägt ist. Dies zeigt sich beispielsweise bei Wahlen, wo die Stimme des Einzelnen keinen Einfluss auf das Gesamtergebnis hat und dennoch konstant hohe Wahlbeteiligungen erzielt werden. Hier wird eine Bürgerpflicht wahrgenommen, die nicht auf der Grundlage von Vorteilserwägungen rekonstruierbar ist. Ebenso gibt es Beispiele für einmalige Hilfeleistungen, bei denen keine Gegenleistung zu erwarten ist (Kirchgässner 1991, 58). Schließlich bringt Amartya Sen gegen das Konzept des homo oeconomicus Handlungen aus commitment ein, also das Handeln auf Grundlage von Verpflichtung oder Engagement. Bei solchen Handlungen wählen Akteure eine „counter-preferential choice“ (Sen 1979, 10), d.h. sie entscheiden sich für eine Handlung, die ihrem persönlichen Wohlergehen womöglich zuwiderläuft. Zur Illustration dieser These macht Sen eine Unterscheidung zwischen Handeln aus Mitleid und Handeln aus commitment. Falls das Wissen um die Folterung anderer Menschen eine Person betroffen macht oder gar anwidert, so ist dies eine Form von Mitleid. In Fällen des Mitleids verursacht das Leiden anderer eigenes Leid. Das Leiden aus diesem Grund beenden zu wollen, könnte somit als nutzenmaximierend beschrieben werden. Falls das Wissen um das Foltern anderer Menschen eine Person nicht anwidert, sie aber der Überzeugung ist, dass Foltern grundsätzlich falsch ist und sie bereit ist, etwas dagegen zu tun, so handelt sie hingegen aus commitment (ebd., 8). Dem Handelnden ist hier in keiner Weise geholfen, sondern nur demjenigen, dem er zu Hilfe eilt. Das Handeln aus commitment stellt somit einen direkten Widerspruch zu den Vorhersagen der ökonomischen Ethik dar: [C]ommitment does involve, in a very real sense, ‚counter-preferential choice‘, destroying the crucial assumption that a chosen alternative must be better than (or at least as good as) the others for the person choosing it […] The characteristic of commitment with which I am most concerned here is the fact that it drives a wedge between personal choice and personal welfare, and much of traditional economic theory relies on the identity of the two. (Ebd., 10)
Wenn aber gezeigt werden kann, dass es Handlungen gibt, welche in keiner Weise nutzenmaximierend sind, dann stellt die These der ökonomischen Ethik, alles Handeln sei letztlich nutzenmaximierend, eine unzulässige Reduktion menschlicher Handlungsweisen dar. Auch der Einwand, altruistische Handlungen seien schließlich nicht als ‚rational‘ im Sinne der ökonomischen Theorie zu bezeichnen, zielt ins Leere, wie Sen erläutert: The main issue is the acceptability of the assumption of the invariable pursuit of self-interest in each act. Calling that type of behaviour rational, or departures from it irrational, does not change the relevance of these criticisms, though it does produce an arbitrarily narrow definition of rationality. (Ebd., 21)
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Wenn, um das eigene Konzept der strategischen Rationalität aufrecht zu erhalten, alle Handlungen, die diesem Konzept nicht entsprechen, als nicht-rational beschrieben werden müssen, so taugt der Entwurf nicht mehr als Handlungsmodell. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Konsequenzen für die Definition der Begriffe ‚Präferenz‘ und ‚Nutzenmaximierung‘. Wenn alles Verhalten als nutzenmaximierend beschrieben wird, stellt sich die Frage, welchen explikatorischen Wert dieser Begriff noch hat, wie Amitai Etzioni ausführt: Wird ein Begriff so definiert, dass er alle Fälle einer bestimmten Kategorie einbegreift, so vermehrt er nicht mehr die Erklärungsmöglichkeiten. Gemäß diesem Begriff gibt es kein Verhalten, das nicht auf die Maximierung des Eigennutzes des Handelnden gerichtet wäre. (Etzioni 1993, 112)
Wer den Begriff der Nutzennaximierung in der Weise benutzt, macht den Begriff tautologisch. Wenn alles Handeln nutzenmaximierend ist, ist nicht mehr verständlich, was unter Nutzenmaximierung zu verstehen ist. Die Theorie büßt damit ihren erklärenden Charakter für die Frage der jeweiligen Handlungsmotivation ein (ebd.). Zuletzt ist noch auf die Schwierigkeit hinzuweisen, die in Gesellschaften verwirklichte Form der Kooperation in Gemeinwesen durch das Modell des homo oeconomicus zu erklären. Leif Johansen betont, dass gesellschaftliche Kooperation nicht allein auf nutzenorientiertes Verhalten rückführbar ist: No society would be viable without some norms and rules of conduct. Such norms and rules are necessary for viability exactly in fields where strictly economic incentives are absent and cannot be created. (Johansen 1977, 148)
Demnach gibt es moralisches Handeln auch dort, wo keinerlei Anreize bestehen, moralisch zu handeln. Die Begründung der Moral allein auf der Grundlage von Vorteilserwartungen scheitert somit. Ich werde mich im dritten Kapitel ausführlich mit der hier skizzierten Tendenz zum ‚ökonomischen Imperialismus‘ auseinandersetzen. Dieser Begriff bezeichnet die Strömung innerhalb der Ökonomik, welche selbige nicht mehr durch ihren Anwendungsbereich definiert sieht, sondern vielmehr durch ihre Analysemethode, die potentiell auf alle Lebensbereiche anwendbar sei. Ich werde den hier dargelegten Kritikpunkt bekräftigen, dass damit eine unzulässige Reduktion der verschiedenen Handlungsgründe einhergeht, und ihn in Bezug setzen zu einer allgemeinen Diskussion der Grenzen des Marktes. Ich möchte abschließend offenlegen, welche Aspekte der ökonomischen Ethik m.E. einen echten Erkenntnisfortschritt darstellen und auch in meinem Ansatz Verwendung finden werden. Andererseits möchte ich deutlich machen, welche ‚blinden Flecken‘ der ökonomischen Ethik eine weitere Perspektive auf die Wirtschaftsethik notwendig machen, zu der ich mit meiner Arbeit einen Beitrag leisten möchte. Eine Stärke der ökonomischen Ethik besteht darin, die
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Wirtschaftsethik strikt als Institutionenethik bestimmt zu haben. Normative Anforderungen an den Markt sind stets „wettbewerbsneutral und […] ausbeutungsresistent“ (Homann u. Lütge 2005, 28) zu gestalten, da sie sonst angesichts der Wettbewerbsbedingungen Einzelne überfordern, indem sie zu moralischem Heroismus auffordern. Diese Orientierung wird meine gesamte weitere Arbeit leiten. Ich entnehme ihr jedoch lediglich die Festlegung, dass wirtschaftsethische Überlegungen stets auf marktübergreifende Kooperation, also den Wandel der Institutionen abzielen sollten, um nicht in die von Luhmann kritisierte „Appellitis“ (Luhmann 1993, 134) zu verfallen und einzelne Wirtschaftssubjekte individualethisch ‚zur Verantwortung‘ zu ziehen. Gleichzeitig mache ich in Kapitel 6.1.2 deutlich, inwiefern der Staat als Treuhänder der Bürger handelt und diese somit letztlich Adressaten der jeweiligen Pflichten sind. Eine Schwäche der ökonomischen Ethik ist ihre Beschränkung auf das Prinzip der ‚anreizkompatiblen Implementierbarkeit‘. Ich habe gezeigt, inwiefern diese Anforderung den Rahmen normativer Forderungen unzulässig einengt und die Gültigkeit derselben von ihren Machbarkeitsbedingungen abhängig macht. Als ein ‚blinder Fleck‘ der ökonomischen Ethik ist letztlich die mangelnde Normbegründung zu bezeichnen. Mit der Fokussierung auf Implementationsfragen liefert sie auf die entscheidende Frage der Wirtschaftsethik keine Antwort: was sind bzw. sollten die ‚Grenzen des Marktes‘ sein und welche normativen Argumente sprechen für eine entsprechende Regulierung des Marktes? Dieser Frage wende ich mich im vierten Kapitel zu. Darüber hinaus expliziert die ökonomische Ethik nicht hinreichend, was unter dem Prinzip der ‚Solidarität aller‘ zu verstehen ist. Ich werde dem in Kapitel 6.1 eine eigene, rechtebasierte Begründungsstrategie entgegensetzen und zeigen, inwiefern sich Arbeitnehmerrechte als abgeleitete Menschenrechte begründen lassen. Im folgenden Kapitel wende ich mich der integrativen Wirtschaftsethik zu und unterziehe diese ebenfalls einer internen Kritik.
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2. Integrative Wirtschaftsethik In diesem Kapitel möchte ich die entscheidenden Thesen der integrativen Wirtschaftsethik nachzeichnen und einige Kritikpunkte deutlich machen. Dabei werde ich die Theorie zunächst darstellen (2.2) und sie anschließend kritisieren (2.3). Der Analyse der integrativen Wirtschaftsethik ist ein einleitender Exkurs zur Diskursethik vorangestellt, da diese die normative ‚Hintergrundtheorie‘ für die integrative Wirtschaftsethik bildet (2.1). Im Anschluss wird zunächst die Ökonomismus- und Sachzwangkritik erörtert, welche entscheidende Bedeutung für die integrative Wirtschaftsethik hat (2.2.2, 2.2.3). Peter Ulrich, Hauptvertreter und Begründer der Theorie, möchte die Wirtschaftsethik sowohl auf individual- und unternehmensethischer als auch auf institutionenethischer Ebene verankern (2.2.4). Zudem möchte er den eigenen Ansatz mithilfe der Konzeption des ‚republikanischen Liberalismus‘ anschlussfähig machen für Theorien der politischen Philosophie (2.2.5) Zuletzt wird der Entwurf der ‚Wirtschaftsbürgerrechte‘ skizziert, deren Implementierung Ulrich angesichts bestehender Ungleichheiten für gerechtfertigt erachtet (2.2.6). Nach dieser Darstellung werden einige Kritikpunkte an Ulrichs Entwurf vorgebracht. Zunächst sind einige Nachfragen zur Ökonomismus- und Sachzwangkritik zu stellen (2.3.1 und 2.3.2). Da Wirtschaftsethik in meinem Ansatz als Institutionenethik verankert ist, werde ich Ulrich hinsichtlich seiner Ausführungen zur Individual- und Unternehmensethik kritisieren (2.3.3). Mit dem Konzept des republikanischen Liberalismus droht die integrative Wirtschaftsethik darüber hinaus, einzelne Wirtschaftssubjekte zu überfordern, der Entwurf ist zudem unzureichend begründet (2.3.4). Das Konzept der Wirtschaftsbürgerrechte halte ich für den fruchtbaren Versuch, neben allgemeinen Bürgerrechten eine Klasse von ökonomischen ‚Schutzrechten‘ zu formulieren, die Bürgern als Wirtschaftssubjekten zukommen. Allerdings wird gezeigt, dass diese Rechte bei Ulrich unterbestimmt bleiben und daher einer ausführlicheren Begründung bedürfen (2.3.5). Die integrative Wirtschaftsethik verfolgt ein in dezidierter Abgrenzung zur ökonomischen Ethik konzipiertes Forschungsziel. Sie beschäftigt sich mit der Erarbeitung eines normativ integrativen Entwurfs „sozialökonomischer Rationalität[…]“ (Ulrich 2005b, 43), welcher die Stärkung des Primats der Ethik
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gegenüber marktwirtschaftlichen Anforderungen zum Ziel hat. Peter Ulrich skizziert folgende Kernaufgaben der Wirtschaftsethik: (1) die Kritik der ‚reinen‘ ökonomischen Vernunft und ihrer normativen Überhöhung zum Ökonomismus; (2) die Klärung der ethischen Gesichtspunkte einer lebensdienlichen Ökonomie; (3) die Bestimmung der ‚Orte‘ der Moral des Wirtschaftens in einer wohl geordneten Gesellschaft freier Bürger. (Ulrich 2006, 299)
Die integrative Wirtschaftsethik nimmt ihren programmatischen Ausgang von der Kritik der „ökonomischen Sachlogik“, welche in zunehmendem Maße „humane Bedürfnisse oder gesellschaftliche Anliegen“ (Ulrich 2008, 11, 13) unberücksichtigt ließe und deren Standardmodelle allein auf die Analyse der ökonomischen Effizienz marktwirtschaftlicher Interaktion abzielten (1). Eine im normativen Sinne vernünftige Wirtschaftsweise müsse sich jedoch anhand des Kriteriums der Lebensdienlichkeit bemessen lassen (ebd., 11). Ulrich bemüht sich daher um eine Neubestimmung des Rationalitätsbegriffs der Wirtschaftswissenschaft. Aufgabe der Wirtschaftsethik wäre es demgemäß, die „ethische Dimension vernünftigen Wirtschaftens“ (ebd., 11 f.) aufzuzeigen und die Maßgaben der ökonomischen Rationalität um ihre soziale Dimension zu ergänzen (2). Zudem müsse die Wirtschaftsethik deutlich machen, welche Spielräume moralischen Handelns in der Marktwirtschaft möglich sind und in welchem Rahmen Moral integrativer Bestandteil des Wirtschaftens werden könnte (3). In den folgenden Abschnitten werden diese drei Kernbereiche der integrativen Wirtschaftsethik ausführlich dargestellt und kritisch reflektiert. Zuvor ist jedoch ein Exkurs zur Diskursethik geboten, welche als ‚Hintergrundtheorie‘ für die integrative Wirtschaftsethik fungiert. Ziel dieses Exkurses ist es, die begründungstheoretischen ‚Leitideen‘ der integrativen Wirtschaftsethik herauszuarbeiten, was zum besseren Verständnis der weiteren Ausführungen beiträgt.
2.1 Diskursethik und integrative Wirtschaftsethik Ulrichs Theorie ist entscheidend durch die Diskursethik geprägt. Sein Konzept der integrativen Wirtschaftsethik lässt sich als Versuch begreifen, diese weiterzuentwickeln und auf die Wirtschaft anzuwenden. Daher ist es hilfreich, die grundlegenden Thesen der Diskursethik zu explizieren und ihre Bedeutsamkeit für die integrative Wirtschaftsethik kenntlich zu machen. Wie Ulrich feststellt, sei erst der Diskursethik „die strikt reflexive Einlösung der grundlegenden moralphilosophischen Begründungsaufgabe“ (Ulrich 2008, 59) gelungen. Diese Aufgabe besteht darin, eine rational begründete Theorie zu entwickeln, welche die Frage der Letztbegründung moralischer Normen in befriedigender Weise beantwortet. Die Diskursethik erkennt dabei zunächst die
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Schwierigkeit der begrenzten Reichweite und Gültigkeit moralischer Normen an. So sei die Begründung der intersubjektiven Geltung von Normen gerade durch den Vormarsch der Wissenschaft und Technik mit ihrem Anspruch der „normativ neutralen oder wertfreien ‚Objektivität‘“ (Apel 1973, 359) erschwert worden. Dieser Maßstab der unbedingten wissenschaftlichen Objektivität in Zeiten „der Expansion szientifisch-technischer Möglichkeiten und der Beharrungstendenz gruppenspezifischer Moralen“ (ebd., 360) steht dem Ziel einer universalen „Makroethik der Menschheit“ (ebd., 359) diametral entgegen, da Normen nicht formal oder durch Induktion begründet werden könnten, wie dies in anderen Wissenschaftsbereichen der Fall ist (ebd., 361). Bei anerkennungswürdigen Normen handelt es sich nicht um objektive Erkenntnisse im wissenschaftlichen Sinne. Somit steht die Moralphilosophie vor dem Dilemma, dass „eine universale, d.h. intersubjektiv gültige Ethik solidarischer Verantwortung […] zugleich notwendig und unmöglich“ (ebd., 363) zu sein scheint. Notwendig wäre sie, weil etwa durch die Gefahren der industriellen Umweltverschmutzung die Verantwortbarkeit menschlichen Handelns im globalen Maßstab zu bewerten und zu begründen ist (ebd., 361). Unmöglich erscheint eine universale Ethik im Lichte des Gebots der Universalisierbarkeit durch das gleichzeitige Verharren in „gruppenspezifischen Moralen“. Die Diskursethik leitet aus dieser schwierigen Situation ihr Forschungsziel ab, wie Apel weiter ausführt: Ist es möglich, eine ethische Grundnorm anzugeben und zu rechtfertigen, welche es für jeden Einzelnen zur Pflicht macht, prinzipiell in allen praktischen Fragen eine bindende Übereinkunft mit den anderen Menschen anzustreben und sich hernach an die getroffene Übereinkunft zu halten oder, wenn dies nicht möglich ist, wenigstens im Geiste einer antizipierten Übereinkunft zu handeln? (Ebd., 375)
Die Diskursethik positioniert sich zunächst zum Problem der Universalisierbarkeit moralischer Normen. Wie Habermas ausführt, geht die Diskursethik davon aus, dass Normen „intersubjektive Anerkennung verdienen“ (Habermas 1983, 75) müssen, um Gültigkeit beanspruchen zu können. Um dieser Bedingung zu entsprechen, müssen Normen universalisierbar sein. Normen weisen diese Eigenschaft auf, wenn sie sich zum „universellen Rollentausch“ (ebd.) eignen. Das bedeutet, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert […] werden können […] (ebd., 75 f.).
Die Diskursethik vertritt die Überzeugung, dass nur solche Normen intersubjektive Zustimmung erlangen, die von einem gänzlich unparteiischen Standpunkt her „ein allen Betroffenen gemeinsames Interesse verkörpern“ (ebd., 75). Dem diskursethischen Ansatz zufolge kann die Gültigkeit von Argumenten nicht überprüft werden, ohne dass bereits eine (hypothetische) Gemeinschaft
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vorausgesetzt wird, die grundsätzlich zu einer Verständigung fähig ist (Apel 1973, 399). Dadurch aber, dass eine solche Argumentationsgemeinschaft immer schon vorausgesetzt werden muss, zeige sich, dass die Gültigkeit aller gedanklich und sprachlich veräußerten Überzeugungen von der Geltung dieser Überzeugungen innerhalb einer Argumentationsgemeinschaft abhängig ist (ebd., 399 f.). Durch diese Anforderung der Zustimmungsfähigkeit aller potentiellen Diskussionspartner an die eigene Argumentation ergibt sich für die Diskursethik, dass alle Personen in ihrer Eigenschaft als Diskussionsteilnehmer anerkannt und berücksichtigt werden müssen, da nur so die „unbegrenzte Rechtfertigung des Denkens“ (ebd., 400) sichergestellt werden könne. Die Diskursethik möchte mittels der „idealisierenden Unterstellung“ einer unbegrenzten Diskussionsgemeinschaft die Begründung eines universalen moralischen Prinzips leisten: Der praktische Diskurs lässt sich als ein Verständigungsprozess begreifen, der seiner Form nach, d.h. allein aufgrund unvermeidlicher allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen, alle Beteiligten gleichzeitig zur idealen Rollenübernahme anhält. Diese Erklärung des moralischen Gesichtspunkts zeichnet den praktischen Diskurs als diejenige Form der Kommunikation aus, die mit der universellen Austauschbarkeit der Teilnehmerperspektiven zugleich die Unparteilichkeit des moralischen Urteils sichert. Das erklärt auch, warum die Aussicht besteht, ohne naturalistischen Fehlschluss den Grundsatz einer universalistischen Moral […] zu gewinnen […] In den idealisierten Unterstellungen kommunikativen Handelns, vor allem in der reziproken Anerkennung von Personen, die ihr Handeln an Geltungsansprüchen orientieren können, sind die Ideen von Gerechtigkeit und Solidarität angelegt. (Habermas 1991, 155)
In diesem Zitat werden die Kernpunkte der diskursethischen Argumentation verdeutlicht. Durch die Bedingung, dass bei normativen Forderungen grundsätzlich immer ein Perspektivenwechsel möglich sein muss, wird die Unparteilichkeit moralischer Urteile gewährleistet. Da sich die Diskursethik zudem allein auf das Miteinander verschiedener Diskussionsteilnehmer in einer kommunikativen Gemeinschaft bezieht, vermeidet sie den naturalistischen Fehlschluss, auf ein irgendwie konstituiertes Wesens- oder Gattungsmerkmal des Menschen verweisen zu müssen. Zudem ist sie als Vernunftethik zu beschreiben, da die Gültigkeit moralischer Urteile sich allein auf der Grundlage dessen bemisst, was sich bei Annahme der allseitigen Austauschbarkeit der Perspektiven aller Mitglieder einer Gemeinschaft als vernünftig erweist. Sie löst schließlich (so der Anspruch) das Problem der Letztbegründung, indem sie die Begründbarkeit moralischer Normen nicht selbst an normative Prämissen knüpft, sondern an die Bedingung der „unvermeidliche[n] allgemeine[n] Argumentationsvoraussetzungen“. In dieser Reziprozitätsbedingung zeigt sich der Letztbegründungsanspruch der Diskursethik: weil jeder Diskussionsteilnehmer logisch genötigt ist, jeden anderen Teilnehmer anzuerkennen und in seinem Urteil zu berücksichtigen, ist er bei Gefahr des Selbstwiderspruchs gezwungen, dass Prinzip der Re-
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ziprozität zu akzeptieren (Werner 2006, 140). Dieses Prinzip muss daher notwendig von allen Mitgliedern einer kommunikativen Gemeinschaft als gültiges Prinzip anerkannt werden. Das Prinzip der Reziprozität fungiert dabei als prozedurales Prinzip, d.h. es gibt als Metanorm die Bedingung für die Gültigkeitsansprüche normativer Forderung an und dient somit der Orientierung bei allen spezifischen Fragestellungen (ebd.). Die grundsätzlich in allen normativ relevanten Kontexten zu stellende Frage lautet daher: könnten alle Diskursteilnehmer in einem herrschaftsfreien, unbegrenzten Diskurs der Forderung x zustimmen? Das Prinzip lässt sich als Abwandlung des kategorischen Imperativs lesen: Das diskursethische Moralprinzip fordert demnach, stets so zu handeln, dass alle Vernunftwesen (und zumal alle von der Handlungsweise potentiell Betroffenen) dem jeweils gewählten Handlungsgrundsatz in einem unbegrenzten argumentativen Diskurs zustimmen könnten. (Ebd., 141)
Wie im Zitat von Habermas weiter oben deutlich wurde, sind allerdings bereits durch dieses Moralprinzip grundlegende spezifische Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität verwirklicht, weil diese sich unmittelbar aus der Erkenntnis des gleichen moralischen Status, aller Diskursteilnehmer ableiten. Jeder Handelnde, der den Status aller anderen als gleichberechtigten Diskursteilnehmern anerkennt, verinnerlicht sogleich ein Prinzip der Gerechtigkeit. Zudem veräußert sich hierdurch das Prinzip der zwischenmenschlichen Solidarität, weil das Reziprozitätsprinzip zur Berücksichtigung der Interessen aller auffordert. Nachdem die Diskursethik durch die Behandlung des Problems der Letztbegründung zu der allgemeinen Norm der Reziprozität gelangt ist, bleibt zu erörtern, welche konkreten Orientierungshilfen hiervon zu erwarten sind. Die idealisierte Grundvoraussetzung einer unbegrenzten diskursiven Öffentlichkeit muss gegenüber den realen Bedingungen, die oftmals von einem „Konflikt der Interessen“ (Apel 1973, 426) geprägt sind, tragfähig gemacht werden. Zu diesem Zweck möchte Apel zunächst das Prinzip der Reziprozität als „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ verstanden wissen, welches als „regulatives Prinzip aller moralischen Handlungen hergeleitet werden kann“ (ebd., 428 f.). Somit sei das Prinzip auf die reale Kommunikationsgemeinschaft anwendbar (ebd., 429).1 Apel zufolge zeigt sich im Auseinandertreten von idealer und realer Kommunikationsgemeinschaft ein „dialektischer Widerspruch“ (ebd., 430), dessen 1 Hier sei darauf hingewiesen, dass Habermas dieser Begründungsstrategie nicht folgt und stattdessen Diskursregeln aufstellt, aus denen sich ein Universalisierungsprinzip ableiten lässt. Da die Darstellung der Diskursethik im Kontext dieser Arbeit lediglich zur Explikation der philosophischen Einflüsse der integrativen Wirtschaftsethik dient, kann nicht ausführlich auf interne Divergenzen und unterschiedliche Ausprägungen der Diskursethik eingegangen werden. Siehe jedoch u.a. Werner (2006, 148 f.) sowie die relevanten Beiträge Apel (1973) und Habermas (1983, 1991).
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Auflösung „nur von der geschichtlichen Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft in der realen [zu] erwarten [ist, P.S.]; ja man muss diese geschichtliche Auflösung des Widerspruchs moralisch postulieren“ (ebd., 431). Apel macht im Anschluss deutlich, dass die Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft notwendig mit der Überwindung der Klassengesellschaft verknüpft ist, was für den Diskursethiker „die Beseitigung aller sozial bedingten Asymmetrien des interpersonalen Dialogs“ (ebd., 432) bedeutet. Der Diskursethik kommt hierbei weniger die Funktion zu, konkrete Empfehlungen zum jeweiligen Engagement zu geben, sondern vielmehr das politische Handeln philosophisch zu begründen, indem sie einen „Maßstab der Kritik“ (Apel 1973, 433) liefert. Diesen diskursethischen Maßstab greift Ulrich für die Begründung seines eigenen wirtschaftsethischen Ansatzes auf. Die praktische Bedeutung der Diskursethik bemisst sich Ulrich zufolge in der normativ-kritischen Orientierungskraft ihres prozeduralen Ideals der diskursiven Klärung moralischer Fragen für reale Versuche der Verständigung über konfligierende Geltungsansprüche, insbesondere für die friedliche und gerechte Lösung sozialer Konflikte. (Ulrich 2008, 86)
Die Diskursethik bildet gewissermaßen das argumentative Instrumentarium der integrativen Wirtschaftsethik, wie im Folgenden deutlich wird. So entwirft Ulrich die integrative Wirtschaftsethik als „Vernunftethik des Wirtschaftens“ (Ulrich 2008, 101). Er möchte die „normativen Voraussetzungen vernünftigen Wirtschaftens im umfassenden Sinn des Begriffs, als legitimes und effizientes Handeln“ (Ulrich 2008, 129) durchleuchten. Zudem erkennt Ulrich als die folgenden vier Leitideen der Diskursethik: (1) die gebotene verständigungsorientierte Einstellung aller Beteiligten, (2) deren vorbehaltloses Interesse an legitimem Handeln, (3) ein differenziertes Konzept von Verantwortungsethik sowie last not least (4) eine politisch-ethische Leitidee vom ‚Ort‘ der Moral in einer modernen Gesellschaft. (Ulrich 2008, 86)
Das „vorbehaltlose Interesse an legitimem Handeln“ überträgt Ulrich auf die Wirtschaft, indem er postuliert, alles wirtschaftliche Handeln und Vorteilsstreben müsse den „Legitimitätsbedingungen“ (Ulrich 2007, 5) des Handelns genügen. Hier spielt das ‚prozedurale Ideal‘ einer unbegrenzten Kommunika tionsgemeinschaft eine entscheidende Rolle. Nach dieser Darlegung der Diskursethik als Hintergrundtheorie der integrativen Wirtschaftsethik wird im Folgenden nun der Entwurf der integrativen Wirtschaftsethik ausführlich beleuchtet.
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2.2 Integrative Wirtschaftsethik: Darstellung 2.2.1 Angewandte, Bereichs- oder Aspektethik? Die integrative Wirtschaftsethik beruht auf der Prämisse, dass alle Formen des Wirtschaftens nicht nur der ökonomisch rationalen, sondern auch der moralischen Legitimation bedürfen. Das Kriterium der – gesellschaftlich ermittelten – moralischen Legitimation für marktwirtschaftliches Handeln ist dabei der ökonomischen Rentabilität vorangestellt, ohne dass die Notwendigkeit des gewinnbringenden Wirtschaftens ignoriert wird. Die integrative Wirtschaftsethik macht sich zur Aufgabe, normative Grundsätze für die Wirtschaft zu formulieren, die explizieren, welche Formen des Wirtschaftens als zustimmungsfähig gelten könnten (Ulrich 2005b, 43). Sie geht dabei von einem Normenkonflikt zwischen ökonomischer Sachlogik und normativen Ansprüchen an marktwirtschaftliches Handeln aus. Während die ökonomische Sachlogik das marktwirtschaftliche Handeln als nichtmoralisch begreift, hinterfragt die integrative Wirtschaftsethik den normativen Geltungsanspruch dieser Sachlogik. Ulrich möchte mit der integrativen Wirtschaftsethik ein Konzept etablieren, demzufolge moralische Forderungen einen notwendigen, nicht bloß karitativen oder zusätzlichen Bestandteil des Handlungskalküls in Marktwirtschaften darstellt. Der Ulrich-Schüler Ulrich Thielemann schreibt in diesem Zusammenhang, es gebe bisher keinen wirtschaftsethischen Ansatz, der nicht auf „Marktapologetik“ (Thielemann 1996, 13) hinauslaufe. Ulrich ist der Auffassung, dass jedwede Wirtschaftsethik, welche nicht auch die Ursachen und Grundlagen der Geltung normativer Strukturen im marktwirtschaftlichen Handeln hinterfragt, unberücksichtigt ließe, dass die (markt-)wirtschaftliche Sachlogik, die wirkungsmächtige ökonomische Rationalität, implizit oder explizit selbst immer schon einen normativen Geltungsanspruch erhebt, mit dem die ethische Vernunft unweigerlich in Konflikt gerät. Jedes Konzept von Rationalität hat normative Bedeutung: es besagt ja, wie vernünftigerweise gehandelt werden soll. (Ulrich 2008, 101)
Der Ausgangspunkt seiner Kritik ist die Erkenntnis, dass im Wirtschaftsleben keine normfreien sozialen Interaktionen stattfinden, sondern diese Interaktionsform legitimiert ist durch das ökonomische Konzept des strategisch rationalen Nutzenmaximierers. Durch die gegenseitige Anerkennung dieses Handlungsmodells aufgrund der weithin geteilten Überzeugung, dass Menschen in marktwirtschaftlich relevanten Zusammenhängen ausschließlich strategisch rational handeln sollen und müssen, leitet sich seine normative Geltung ab. Die „ethische Vernunft“ setzt jedoch andere Maßstäbe an die Beurteilung menschlichen Handelns. Hieraus erwächst der von Ulrich konstatierte Normenkonflikt.
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Aufgrund dieser kritischen Haltung gegenüber den in der Marktwirtschaft geltenden Rationalitätsprinzipien begreift sich die integrative Wirtschaftsethik nicht als angewandte oder Bereichs-Ethik, sondern als „Aspektethik“ (Ulrich 2005a, 236). Diese Spezifizierung ist notwendig einerseits, weil die Wirtschaftswissenschaften sich nicht mehr als bereichsbezogene Teilwissenschaft (des Subsystems Wirtschaft) verstünden, sondern als „allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens sowie der Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen“ (Ulrich 2006, 297). Die Spezifizierung der Wirtschaftsethik als Aspektethik ist andererseits deshalb notwendig, weil eine bloß angewandte Ethik die Tatsache unberücksichtigt ließe, dass die vermeintlich ‚wertfreie‘ ökonomische Rationalität bereits einen normativen Geltungsanspruch erhebt, der in Konflikt gerät mit moralischen Anforderungen: Der Platz, den die Wirtschaftsethik als ‚angewandte‘ Ethik füllen möchte, ist also gleichsam schon besetzt; es stehen sich zwei konkurrierende normative Logiken mit klärungsbedürftigem Verhältnis gegenüber. (Ulrich 2008, 101)
In der Beschränkung auf die Anwendung moralischer Normen auf die Ökonomie wird stillschweigend die Existenz zweier unabhängiger Sphären vorausgesetzt, der normativ blinden Wirtschaftswissenschaften und der nichtökonomisch fundierten Ethik, welche auf die Wirtschaft ‚angewendet‘ werden solle. Ignoriert wird hierbei, dass die ökonomische Rationalität ein gesellschaftlich wirksames normatives Konzept darstellt, welches in Konflikt mit den Geltungsansprüchen der normativen Ethik tritt (ebd., 108–112). Die integrative Wirtschaftsethik wendet auch gegen Vertreter der Diskurs ethik ein, die zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen unterscheiden, dass durch diese Unterscheidung ein Reflexionsstop gegenüber den „vorgefundenen ‚marktwirtschaftlichen Bedingungen‘ und dem ökonomischen Rationalitätsverständnis als solchem“ (ebd., 110) stattfinde. Gemeint ist u.a. Habermas, der im Anschluss an Klaus Günter (1988) die Auffassung vertreten hat, der Universalisierungsgrundsatz sei in zwei Weisen zu interpretieren. Einerseits müssten moralische Normen immer so konzipiert sein, dass sie die Zustimmungsfähigkeit aller Diskursteilnehmer erlangen können. Andererseits müssen Normen so konstruiert und angewandt werden, dass die Konsequenzen der Normbefolgung von allen Handelnden akzeptiert werden können (Habermas 1991, 138). Eine vollständige Evaluation aller möglichen Handlungsfolgen einer Normbefolgung zu jedwedem möglichen Zeitpunkt würde jedoch nur möglich, wenn die Diskursteilnehmer unendlich viel Zeit hätten oder zum gegenwärtigen Zeitpunkt über ein absolutes Wissen verfügten, das ihnen eine sichere Prognose über alle möglicherweise eintretenden Situationen gestattet. (Ebd., 139)
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Da dies nie der Fall ist, müssten die Diskursteilnehmer von der Pflicht befreit werden, „bei der Begründung von Normen bereits die Menge aller künftigen, gar nicht vorhersehbaren Situationsbezüge zu beachten“ (ebd.). Habermas trifft also die Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen aufgrund der epistemologischen Begrenztheit der Diskursteilnehmer. Da diese nicht alle Anwendungskontexte kennen können, müssen Normen, die einen Begründungsdiskurs durchlaufen haben, zusätzlich einem Anwendungsdiskurs unterzogen werden, der die Folgen der Anwendung von Normen in konkreten Handlungskontexten abwägt: Begründungsdiskurse lassen die Frage offen, ob die – im Hinblick auf die exemplarisch herangezogenen und als typisch vorausgesehenen Situationen – gültigen Normen auch für ähnliche, im futurum exactum auftretende Situationen im Hinblick auf deren relevante Merkmale angemessen sind. Diese Frage kann nur in einem weiteren Schritt, und zwar aus der veränderten Perspektive eines Anwendungsdiskurses beantwortet werden. (Ebd., 139 f.)
Habermas ist der Auffassung, dass eine Norm sowohl dem Universalisierungsgrundsatz genügen muss (Begründungsdiskurs) als auch, auf konkrete Handlungskonstellationen angewandt, dem „Prinzip der Angemessenheit“ (ebd., 140) Rechnung tragen muss (Anwendungsdiskurs). Bei Normenkollisionen sei daher folgendermaßen zu verfahren: Dann muss nämlich geprüft werden, welche der prima facie gültigen Normen, die für die Anwendung kandidieren, sich als diejenige erweist, die einer in allen relevanten Merkmalen möglichst vollständig beschriebenen Situation angemessen ist. (Ebd.)
Zwar spricht Habermas hier im Allgemeinen von Normenkollisionen, jedoch lassen sich obige Aussagen auf den Fall des von Ulrich behaupteten Normenkonflikts zwischen den Anforderungen marktwirtschaftlicher Rationalität und moralischen Vorgaben auslegen. Hier wäre mit Habermas zu prüfen, welcher der „Anwendungskandidaten“ für die Situation angemessen ist. Ulrichs Kritik richtet sich gegen diese Unterscheidung. Ihm zufolge sind Begründungsund Anwendungsdiskurse interdependent. Das bedeutet einerseits, dass die Begründungsfrage bereits die Antwort auf die Anwendungsfrage bedingt (Ulrich 2008, 105) und andererseits Normbegründungen immer „situationsgerechte […] Handlungsorientierungen“ (ebd., 107) bieten müssen. Ulrich versteht die oben besprochene unbegrenzte Diskurssituation als „regulative Idee“ (ebd.) des moralischen Standpunktes, die bedingt, wie Normen begründet und angewendet werden. Somit können moralische Grundsätze niemals nur kontextbezogen angewandt werden, sondern müssen für die jeweiligen Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens zugleich begründet und hinsichtlich ihrer Anwendungsfähigkeit untersucht werden. Dies ist jedoch laut Ulrich nicht Teil eines Anwendungs-, sondern vielmehr eines „Zumutbarkeitsdiskurs[es]“ (ebd., 106), mittels
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dessen geklärt wird, welche normativen Beschränkungen des eigenen Handelns Marktakteuren unter den gegebenen Bedingungen zugemutet werden können. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass es laut Ulrich nicht möglich ist, Wirtschaftsethik als bloß angewandte Ethik zu betreiben. „Legitimationsdiskurse sind […] ‚Anwendungsdiskurse‘“ (ebd., 105) insofern als die Prüfung der Handlungsfolgen „in jeden Legitimations- oder Begründungsdiskurs notwendigerweise ‚eingebaut‘ ist“ (ebd.). Die Frage lautet demnach, welche Normen kollidieren, wenn die Anwendungsbedingungen für Moral in der Marktwirtschaft nicht gegeben sind. Somit ist im Bezug zur ökonomischen Ethik festgelegt, dass eine einseitige Konzentration auf die Implementation die Begründungskriterien moralischen Handelns außer acht lässt und somit unzulässig ist. Die Wirtschaftsethik muss vielmehr begründen, warum die gängigen Handlungsnormen, die es vermeintlich unmöglich machen, moralisch vorzugswürdig zu handeln, im Sinne einer vernunftethischen Neubegründung wirtschaftlichen Handelns zu kritisieren sind. Der Inhalt einer solchen Kritik ist bei der integrativen Wirtschaftsethik vorrangig die Auseinandersetzung mit der Tendenz zum Ökonomismus und den in Marktwirtschaften vorgebrachten Sachzwangargumenten. Im Folgenden wird diese Kritik ausführlich dargestellt. 2.2.2 Ökonomismuskritik Um zu erläutern, inwiefern Ulrich in der derzeitigen Entwicklung der Wirtschaftsethik und den Wirtschaftswissenschaften eine Tendenz zum Ökonomismus erkennt, muss zunächst das zugrunde liegende Verständnis der Ökonomik offengelegt werden: Da ‚Rationalität‘ stets eine regulative Idee davon ist, wie man vernünftigerweise handeln bzw. Institutionen gestalten soll, impliziert […] Ökonomik nicht nur einen erklärenden (theoretischen), sondern auch einen handlungsorientierenden (praktischen) Zweck – als Idealtheorie rationalen Handelns in einer Welt knapper Ressourcen oder kurz: als normative Ökonomik. (Ulrich 2006, 297)
Ulrich geht von einem idealtypischen Handlungsbegriff aus, welcher der etablierten Forschungstradition der Ökonomik zugrunde liegt, demzufolge Handeln zweckrational ist (oder Ulrichs Lesart zufolge: sein sollte). Da die Ökonomik dieses Handlungsmodell nicht mehr allein auf den Teilbereich der Wirtschaft bezieht, sondern als „allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens sowie der Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen“ (ebd.) anwendet, lasse sich von der Entwicklung zum Ökonomismus sprechen insofern als das Handlungsmodell des homo oeconomicus zunehmend auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche angewandt werde. Die Vertreter der integrativen Wirtschaftsethik kritisieren also einerseits die imperialistische Tendenz der Ökonomik. Im Modell rationalen Handelns entdeckt die integrative Wirtschaftsethik andererseits den reduktionistischen Blickwinkel der Wirtschaftswissenschaften, aus deren Per-
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spektive Gesellschaften nicht als „ethisch 2 gehaltvoller Rechts- und Solidarzusammenhang“, sondern nur in ihrer Eigenschaft als „Marktzusammenhang“ (Ulrich 2005b, 84) begriffen würden. Daher kritisiert die integrative Wirtschaftsethik auch die ökonomische Ethik als „normative Überhöhung des ‚ökonomischen Prinzips‘“ (Ulrich 2008, 101). Durch dieses Prinzip bliebe unbeachtet, inwiefern so analysierte und präjudizierte Systeme noch der Anforderung der ‚Lebensdienlichkeit‘ genügen (Ulrich 2005b, 23). Die Anwendung der Theorie rationalen Handelns bedeute nichts anderes als die Totalisierung des Marktes, so Ulrich (ebd., 59). Dabei stellt die Ökonomik eher ein Problem als die Lösung des Konflikts zwischen marktwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Anforderungen dar, indem sie sich einseitig dem Effizienzkriterium verschreibt: Die Präferenz für das selbst normative Rationalitätskriterium ökonomischer Effizienz wird von Ökonomen selten relativiert, und noch seltener wird seine Präferenzwürdigkeit angesichts der abgedunkelten, alternativen Wertgesichtspunkte begründet. Stattdessen reagieren manche Ökonomen unübersehbar mit einem tiefen Widerwillen gegen jede Moralisierung sozialökonomischer Problemstellungen – ein Symptom für das fehlende selbstkritische Bewusstsein der eigenen ‚Ethik‘ der totalen ökonomischen Effizienz. (Ulrich 1993, 179)
Ulrich fordert demgegenüber eine Rückeinbindung der Ökonomik in gesamtgesellschaftlich relevante Kontexte des Zusammenlebens. Er plädiert für eine „dualistische Gesellschaftstheorie“ (Ulrich 2008, 156), welche neben der strategischen Rationalität die ethische Vernunft anerkennt und ihr prinzipiellen Vorrang einräumt. Ulrich hält dies für notwendig auch im Lichte der Begrenztheit des Modells rationalen Handelns. Er macht dies im Rückgriff auf Ernst Tugendhat deutlich. Dieser meint, die normative Kritik eines Systems wie dem Kapitalismus setze voraus, dass dieses System an gewissen moralischen Urteilen, die man dann selbst für richtig halten muss, gemessen wird. Man kann das System nicht normativ in Frage stellen, indem man lediglich die innerhalb dieses Systems zustande gekommenen moralischen Urteile auf ihre sozioökonomischen Bedingungen hinterfragt. (Tugendhat 1993, 16)3
Tugendhat verdeutlicht hier die Zirkularität, welche sich in der Prämisse der anreizkompatiblen Implementierbarkeit moralischer Anforderungen an die Marktwirtschaft zeigt. Ohne den Rückgriff auf Werte, welche die Theorie des rationalen Handelns transzendieren, lassen sich nur Rückschlüsse leisten vom 2 Hier ist eine begriffliche Abgrenzung angebracht. Ich verwende in der gesamten Arbeit den Begriff ‚Moral‘ zur Bezeichnung des Bündels gesellschaftlicher Konventionen, welche in Gemeinschaften Geltung haben, wie etwa das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘. Im Unterschied hierzu verwende ich den Begriff ‚Ethik‘ allein zur Kennzeichnung philosophischer Theorien, welche sich mit der Frage der Begründung bzw. der Begründbarkeit von Moral auseinandersetzen. Bei Ulrich bleibt die Unterscheidung zuweilen etwas undeutlich. 3 Bei Ulrich findet sich das Zitat in Ulrich (2008, 156).
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ökonomischen Handlungsmodell auf das ökonomische Handlungsmodell. Wer aber beispielsweise kritisieren möchte, dass die Marktwirtschaft durch permanenten Strukturwandel „systematisch Verlierer“ (Thielemann 2000, 360) hervorbringt, dem fehlt allein auf Grundlage des ökonomischen Handlungsmodells schlicht das argumentatorische Werkzeug, um diese Kritik zu begründen. Der Ausgangspunkt wirtschaftsethischer Auseinandersetzung ist demzufolge die Kritik des konstatierten Ökonomismus. Im Folgenden wird nun mit der Sachzwangkritik ein weiterer bedeutsamer Aspekt der integrativen Wirtschaftsethik dargestellt. 2.2.3 Sachzwangkritik Ein weiterer Kritikpunkt der integrativen Wirtschaftsethik richtet sich gegen Sachzwangbehauptungen in ökonomischen Kontexten. Hinsichtlich des Sachzwangbegriffs ist zu unterscheiden zwischen natürlichen Sachzwängen, bei denen durch naturgesetzliche Bedingungen Handlungsalternativen und -einschränkungen festgelegt werden (Ulrich 2008, 141) und Sachzwangargumenten, die hinsichtlich des Handlungsspielraums für soziale Interaktion erhoben werden. Zum Beispiel ist es ratsam, bei der Konstruktion eines Autos das Trägheitsgesetz als natürlichen Sachzwang anzuerkennen und entsprechend keine Autos aus Osmium zu bauen, um den Benzinverbrauch möglichst gering zu halten. Naturgesetze geben vor, in welcher Weise „die objektiven Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen“ (ebd.) determiniert sind. Kritisch zu betrachten sind Sachzwangbehauptungen, die hinsichtlich der Möglichkeiten sozialer Interaktion erhoben werden. Offenbar besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen den beiden Formen von Sachzwängen darin, dass natürliche Begebenheiten dem menschlichen Handeln äußere Beschränkungen auferlegen, während soziale Sachzwänge erst durch die Ausprägung der Regeln menschlichen Zusammenlebens entstehen. Besagt die Behauptung eines Sachzwangs, dass es zu einer bestimmten Handlung an sich keine Alternative gibt? Handeln erfolgt immer aus bestimmten Gründen, die es gebieten, bestimmte Ziele zu verfolgen, zu deren Erreichung bestimmte Mittel erforderlich sind. Da die Wahl der Handlungsziele grundsätzlich frei ist, ist es unzulässig, einen sozialen Sachzwang als ‚alternativlos‘ zu beschreiben in dem Sinne, dass keinerlei Alternative zu einer bestimmten Handlung bestehe: Gründe können niemals ‚zwingend‘ sein, denn sie richten sich ja gerade an die Vernunft freier Subjekte. Sie formulieren nur, weshalb eine Handlung für den, der sie beabsichtigt oder fordert, sinnvoll oder geboten erscheint, und begründen so eine gewollte Entscheidung […] Ursachen einer empirischen Situation können natürlich Teil einer Begründung sein, aber Gründe als solche haben niemals den Charakter determinierender Ursachen. Wo diese kategoriale Differenz verwischt und empirisch gegebene Ursache/Wirkungszusammenhänge unmittelbar als ‚zwingende‘ Gründe ausgegeben werden, liegt ein Reflexions-
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abbruch vor stillschweigend vorausgesetzten, nicht zur Disposition gestellten Intentionen vor. Es ‚handelt‘ sich dann letztlich nicht um Sachzwänge, sondern um Denkzwänge. (Ebd.)
Sachzwangbehauptungen werden erhoben, um eine bestimmte Handlungsintention argumentativ zu bekräftigen und eine bestimmte Handlungsweise als rational im Sinne der Zielerreichung zu kennzeichnen. Wichtig ist, dass Handlungsbegründungen niemals den Charakter „determinierender Ursachen“ haben können, da sie immer an Intentionen geknüpft sind, die grundsätzlich hinterfragbar sind. Tatsächlich geht es m.E. um die Behauptung, dass angesichts bestimmter Gegebenheiten und bestimmter Handlungsalternativen nur eine Alternative rational nachvollziehbar ist. ‚Rationalität‘ wird hier im Sinne der rational choice theory verstanden, derzufolge nur eine Handlungsalternative angesichts der gegebenen Handlungsbeschränkungen und Informationen im Sinne der Zielsetzung als sinnvoll bezeichnet werden kann, weil alle anderen Alternativen mit vergleichbar höheren Kosten verbunden wären. Es geht demnach bei sozialen Sachzwängen um ‚Denkzwänge‘, welche sich folgendermaßen veranschaulichen lassen: In der Situation s gibt es die möglichen Zielsetzungen z1, z2 und z3, zu denen jeweils drei Handlungsalternativen h1, h2 und h3 offen stehen, um das jeweilige Ziel zu erreichen. Angesichts der Sachlage ist jedoch unter diesen Alternativen nur die Zielsetzung z1 sowie die Handlungsweise h1 rational. Daher stehen alle Akteure unter dem (normativen) Sachzwang, z1 zu verfolgen und dabei h1 entsprechend zu handeln. Ein Sachzwangargument bekräftigt somit den Sollensanspruch zur Befolgung einer bestimmten Handlungsalternative, welche als rational alternativlos dargestellt wird, nicht die de facto Alternativlosigkeit. Matthias Kettner ist der Überzeugung, dass Sachzwangbehauptungen den Akteur von moralischer Verantwortung freisprechen sollen, indem sie vorgeben, die betreffende Handlung sei angesichts der gegebenen Umstände unausweichlich und nicht im eigentlichen Sinne ‚frei‘ (Kettner 2001, 117 f.). Im Sinne des ultra posse nemo obligatur wären Akteure somit für Handlungen, die angesichts bestimmter Sachzwänge ausgeführt werden, nicht verantwortlich zu machen, da diese Handlungen „als respektierliche Begrenzungen von Können und Handlungsfreiheit und insofern auch als Begrenzungen von Sollen und Moralverantwortung“ (ebd., 118) erscheinen. Was Kettner allerdings versäumt kenntlich zu machen, ist, dass wer sich auf einen Sachzwang beruft, nicht die faktische Alternativlosigkeit einer Handlung herausstellen möchte. Er möchte deutlich machen, dass die Gegebenheiten der Situation es zwingend erfordern, eine bestimmte Handlungsstrategie zu verfolgen. Wichtig ist, dass nur angesichts der Zwecksetzung bestimmte Handlungsalternativen als rational, andere als irrational oder nicht zielführend gekennzeichnet werden (ebd., 124). Damit wird jedoch nochmals deutlich: Han-
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deln setzt die Möglichkeit voraus, aus Handlungsalternativen und alternativen Zwecksetzungen wählen zu können. Dort, wo diese nicht existieren, wäre es irreführend, von einer ‚Handlung‘ im eigentlichen Sinne zu sprechen. Unabhängig davon kann sich ein Akteur darauf berufen, seine Handlung könne nicht moralisch in Frage gestellt werden, weil es ihm angesichts der Sachzwänge nicht frei stand, anders zu handeln. Wer jedoch so argumentiert, missachtet die grundsätzliche Autonomie des Handelns. Um diese Erläuterung des Sachzwangbegriffs zu schärfen, muss erörtert werden, wie Sachzwänge im Markt entstehen. Es geht also um die Frage, ob der Markt tatsächliche oder behauptete Zwänge hervorbringt, welche die Möglichkeiten des Handelns einschränken. Die Besonderheit der Sachzwänge im Markt ist, dass diese erst durch die „systemare Durchbildung der Märkte“ (ebd., 119) entstehen. Nur anhand der Tatsache, dass in modernen Gesellschaften hocharbeitsteilige Produktionsweisen und weitverzweigte Verantwortungsketten zwischen Marktakteuren vorherrschen, welche wiederum alle in einem weitgehend anonymen Wettbewerb miteinander stehen, ist es möglich, dass der Markt als System Sachzwänge hervorbringt. Es lässt sich keine „personale Instanz“ (Thielemann 1996, 295) benennen, die für den Sachzwang verantwortlich gemacht werden könnte. Vielmehr erscheint der Markt in seiner Eigenschaft als Sachzwangzusammenhang „instanzlos“ (ebd.). Das handelnde Individuum muss sich den Sachzwängen unterwerfen, will es im Markt bestehen. Dieser wiederum ist nur in dieser Weise konstituiert, weil die Sachzwänge des Marktes allseitig anerkannt, befolgt und somit reaffirmiert werden. In diesem Sinne spricht Kettner von einer „autopoietischen, systemar gewordenen, sich selbst produzierenden und stabilisierenden Aktivität“ (Kettner 2001, 129) des Marktgeschehens. Ulrich ist vor allem an der Kritik des Sachzwangs zur Gewinnmaximierung gelegen. Dieser besagt, dass in einer Konkurrenzwirtschaft Gewinnmaximierungspotentiale immer ausgenutzt werden müssen, da unter den Bedingungen allseitiger Konkurrenz die Nichtnutzung von Gewinnpotentialen eines Marktteilnehmers den Vorteil eines anderen Marktteilnehmers bedeutet. Der durch die Gewinnmaximierung erwirkte Wettbewerbsvorteil eines Marktteilnehmers kann letztlich zum Ausscheiden eines anderen, nicht gewinnmaximierenden Marktteilnehmers führen, da er auf lange Sicht seine Konkurrenzfähigkeit einbüßt. Aus diesem Grunde sind alle Marktteilnehmer angehalten, ihren Gewinn zu maximieren, wodurch das Prinzip der Gewinnmaximierung den Charakter eines unpersönlichen Sachzwangs erhält: Obschon jeder Marktteilnehmer nur an seiner ‚privaten‘ Wettbewerbsposition interessiert ist, übt er durch seine Erfolgsstrategien unweigerlich einen […] Zwang auf seine Mitbewerber aus, und zwar ganz ohne dass er mit ihnen persönlich in Interaktion tritt […] Niemandem ist der Wettbewerbszwang zurechenbar, es ist vielmehr die sich stets verändernde
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Konstellation aller Marktteilnehmer, Anbieter wie Nachfrager, die […] alle zum skizzierten Verhalten zwingt […] de[m] Zwang, wettbewerbsfähig zu sein. (Ulrich 2008, 149)
Ulrich betont, dass der Sachzwang zur Gewinnmaximierung erst dadurch entsteht, dass alle „personalen Funktionsträger ‚mitspielen‘; und das hängt im Prinzip davon ab, was die Wirtschaftssubjekte im Markt als Teilnehmer überhaupt erreichen wollen“ (ebd., 167). Die Intention der Wirtschaftssubjekte ist also entscheidend. Nur dadurch, dass alle Marktteilnehmer am Markt bestehen wollen und die Bedingung für das Bestehen im Markt angesichts allseitiger Konkurrenz ist, Gewinne zu maximieren, entsteht der gemeinsame Zwang, Gewinne maximieren zu müssen: Nicht der Markt allein oder die Sachlage nötigen uns zu etwas, sondern erst unsere Intentionen und Interessen, die auf diese Sachlage treffen, lassen den Sachzwang als solchen erscheinen. Und das sind im Markt vor allem Einkommens- und Gewinninteressen. (Ebd., 168)
M. E. ist der Sachzwang zur Gewinnmaximierung somit als menschliche, sozial determinierte Handlungsbeschränkung bloßgelegt, die allein durch ihre systemare Durchbildung im Markt Sachzwangcharakter erlangt. Marktwirtschaftliche Sachzwänge sind dann wirtschaftsethisch grundsätzlich hinsichtlich ihrer funktionalen Notwendigkeit für das Funktionieren des Marktsystems zu hinterfragen. Die Frage lautet demnach, ob Sachzwänge im Sinne der Institutionenethik reformierbar sind, indem sie analysiert und die Grundlage ihrer Geltung offengelegt wird. Ziel einer Sachzwanganalyse muss es also sein, zu untersuchen, inwiefern Sachzwänge grundsätzlich reformierbar sind bzw. ob es sich um nur vermeintliche Sachzwänge handelt. Im Sinne dieser Herangehensweise wendet sich Ulrich zunächst der Frage zu, wem marktwirtschaftliche Sachzwänge zum Vorteil gereichen. Ulrich ist der Auffassung, dass in der Marktwirtschaft wirksame Sachzwänge insofern parteiisch sind, als sie vor allem den Unternehmern dienen. Weil die Gewinnmaximierung diesen Vorteile verschafft, zwingen sie „über den Wettbewerbsmechanismus unweigerlich alle anderen in den Markt ‚verstrickten‘ Personen ebenfalls zum andauernden Streben nach Wettbewerbsfähigkeit“ (Ulrich 2008, 159). Ulrich erkennt in dieser Parteilichkeit der Sachzwänge die „strukturelle Interessenasymmetrie“ (ebd., 160) der Marktteilnehmer in der Marktwirtschaft. Sachzwänge rechtfertigen – scheinbar mit der Unparteilichkeit der objektiven ökonomischen Sachlogik und ‚Systemrationalität‘ – stets die unternehmerische Lebens- und Handlungsform der strikten privaten Erfolgs- oder Gewinnmaximierung und die hinter ihnen stehenden Kapitalverwertungsinteressen der investierenden Eigentümer. (Ebd., 159)
In dieser Lesart werden jegliche nicht-marktkonforme Interessen, z.B. das Interesse von Arbeitnehmern auf Arbeitsplatzsicherheit, angemessene Bezahlung und betriebliche Mitbestimmung, als „systemfremde“ (ebd., 160) Aspekte
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eingestuft. Ein Beispiel für eine ‚Parteilichkeit‘ von Sachzwangargumenten ist der Verweis von Arbeitgeberseite, angesichts des ‚Standortwettbewerbs‘ seien Forderungen nach Lohnerhöhungen per se unzulässig, bzw. Entlassungen und Gehaltskürzungen zwingend notwendig. Hier wird deutlich, was Ulrich und Kettner als „Sachzwangdenken“ (2008, 161) beschreiben: eine bestimmte „normative Orientierung als eine nichtveränderbare Tatsache“ (Kettner 2001, 125) darzustellen. Bei der hier beschriebenen Form von Sachzwangdenken geht es darum, bestimmte Handlungsstrategien zur Realisierung eines Ziels als alternativlos zu kennzeichnen, um sie der Debatte zu verschließen. Es lässt sich dann von ‚parteilichen‘ Sachzwängen sprechen, wenn erkennbar ist, dass sie einseitig der Zielsetzung einer bestimmten Gruppe dienen. Ich werde in Abschnitt 2.3.2 analysieren, inwiefern bei im Markt bestehenden Sachzwängen tatsächlich von einer durchgehenden Parteilichkeit gesprochen werden kann. Zudem wird zu erörtern sein, welches kritische Potential und welche transformatorische Kraft die Kritik von existierenden Sachzwängen birgt. Im folgenden Abschnitt werden nun zunächst Ulrichs Thesen zur Verankerung der integrativen Wirtschaftsethik in den verschiedenen Sphären wirtschaftlicher Interaktion dargestellt. 2.2.4 Individualethik, Unternehmensethik und Ordnungsethik Es ist angesichts der Sachzwangproblematik zu klären, wie bestehende Zwänge durchbrochen und Handlungsspielräume geschaffen werden können. Ulrich erkennt Möglichkeiten zur Selbstbegrenzung auf individualethischer, unternehmensethischer und institutionenethischer Ebene. Die individualethische Selbstbegrenzung besteht laut Ulrich vorrangig in der Evaluation der eigenen Zwecksetzung der „ökonomischen Selbstbehauptung“ (Ulrich 2008, 171) hinsichtlich ihrer moralischen Verantwortlichkeit. Als zumutbar erscheint Ulrich beispielsweise, die Strategie zu durchleuchten, mit der die ökonomische Selbstbehauptung verwirklicht werden soll. So bestünde prinzipiell immer die Möglichkeit einer strategischen Wahl der Constraints (Sachzwänge), unter denen eine Organisation oder ein Wirtschaftssubjekt erfolgreich sein will […] Darin kommt nichts anderes als der logische Primat unserer Zwecksetzungen vor den Sachzwängen, in die sie uns versetzen, zum Ausdruck. (Ebd.)
Ulrich ist der Auffassung, individuelle Wirtschaftssubjekte könnten frei wählen, welchen Sachzwängen sie sich unterwerfen. Die „strikte egoistische Vorteilsoder Erfolgsmaximierung“ (ebd.) sei kein legitimer Handlungszweck, da sie mögliche Wertaspekte, die diesem womöglich zuwiderlaufen, missachte (ebd.). Ulrich fordert daher die „moralische Selbstbegrenzung des personalen Erfolgsoder Erwerbsstrebens“ (ebd.). In diesem Sinne ist Selbstbegrenzung laut Ulrich auch auf Ebene der Individualethik möglich.
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Ulrich macht allerdings in seinen Ausführungen zur Unternehmensethik deutlich, dass nicht nur Selbstbegrenzung auf Individualebene gefordert ist, sondern vielmehr Unternehmen selbst zur Reform des Marktgeschehens ihren Beitrag leisten sollen: Integrative Unternehmensethik setzt […] mit der prinzipiellen Kritik des Gewinnprinzips an. Sie schließt die Auseinandersetzung mit den gesamten normativen Bedingungen der Möglichkeit vernünftigen Wirtschaftens in und von Unternehmungen ein, fragt also nach den grundlegenden Legitimitätsvoraussetzungen und Wertorientierungen lebensdienlicher unternehmerischer Wertschöpfung. Unternehmensethik wird so als Vernunftethik des unternehmerischen Wirtschaftens im Ganzen konzipiert. (Ebd., 429 f.)
Unternehmerisches Handeln muss legitim sein, also grundsätzlich für alle Beteiligten und Betroffenen zustimmungsfähig sein. Im Sinne der „Geschäftsintegrität“ (ebd., 463) fordert Ulrich, Unternehmen müssten immer dann, wenn sich keine erfolgversprechenden „und zugleich ethisch tragfähigen Geschäftsstrategien“ (ebd.) finden ließen, auf Gewinnchancen verzichten „und die Sicherung der Unternehmensexistenz auf anderen Wegen […] an[…]streben“ (ebd., 464). Zuletzt äußert sich Ulrich zu den Möglichkeiten der „Ordnungsethik“ (ebd., 261). Ein Problem sei, dass je umfassender der Wettbewerb wirkt, er umso mehr Sachzwangcharakter über die Handelnden erlangt (ebd., 173). Es ist daher die Aufgabe der Ordnungspolitik, rechtsverbindliche ‚Spielregeln‘ und Randbedingungen des Wettbewerbs zu etablieren, die für alle Wirtschaftssubjekte gleichermaßen gelten und so bestimmte unmoralische Optionen strikt eigennützigen Verhaltens generell ausschließen […] Ordnungspolitik soll aus dieser Sicht also Sachzwangbegrenzungspolitik sein; Nur wenn der Wettbewerbsdruck begrenzt ist, ist individuelle Selbstbegrenzung zumutbar. (Ebd.)
Ulrich erkennt zwei Mittel zur Begrenzung wirtschaftlicher Sachzwänge, zum einen die Gestaltung der „Wirkungsrichtung des Wettbewerbszwangs“ (ebd., 174) durch ökonomische An- und Abreize, die bestimmte Handlungsstrategien attraktiver machen als andere. Beispiele hierfür sind der Emmissionszertifikatehandel oder Steuerbegünstigungen für Solarkraft. Zum anderen müsse dort, wo eine eindeutige Parteilichkeit von Sachzwang zugunsten der Unternehmerseite erkannt wird, der Wettbewerb durch Regulierung begrenzt oder gar als Koordinationsinstrument abgeschafft werden (ebd.). Letzteres ist dort angemessen, wo der Wettbewerb „nicht-strategische gesellschaftliche Interaktions- und Integrationsformen unterläuft“ (ebd.). Beispiele wären etwa das Bildungs- und Gesundheitssystem, für die gefordert wird, sie nicht der Koordination durch den Markt zu überantworten, da sonst marktfremde Gesichtspunkte keine entsprechende Berücksichtigung mehr finden könnten. Ulrich fordert daher die Einbettung und Begrenzung der Marktwirtschaft durch die Ordnungsethik, welche stets das Primat der Politik vor der Wirtschaft zum Ausdruck bringen sollte:
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Die Vermittlung zwischen ethisch-politischer Vernunft und ökonomischer Rationalität wird nicht mehr […] in einer Zwei-Welten-Konzeption von Ethik und Ökonomik gedacht, sondern die ethischen Gesichtspunkte der Lebensdienlichkeit werden als konstitutive Voraussetzungen jeder […] Idee sozialökonomisch ‚effizienter‘ ordnungspolitischer Problemlösungen begriffen. Es ist die […] praktische Aufgabe des öffentlichen Vernunftgebrauchs in der deliberativen Ordnungspolitik, zu bestimmen, was in einer Gesellschaft ökonomische Vernunft konkret heißen soll. (Ebd., 401)
Für Ulrich zentral ist in diesem Zusammenhang die „sozialökonomische Rationalitätsidee“ (ebd., 129). Der Begriff meint die Verknüpfung von sozialen und ökonomischen Rationalitätsanforderungen mit dem Ziel eines neuen Rationalitätsverständnisses. Ziel ist die Grundlegung einer anderen, erweiterten Idee ökonomischer Rationalität, die in sich schon ethisch gehaltvoll ist und damit als integrative Idee vernünftigen Wirtschaftens dienen kann. (Ebd.)
Die Forderung lautet demnach, dass moralische Erwägungen als integrativer Bestandteil von Effizienzerwägungen gedacht werden müssen. Dabei besagt das ‚Primat der Ethik‘, dass „Effizienzgesichtspunkte Gerechtigkeitsgrundsätzen unterzuordnen“ (Thielemann 1996, 41) sind. Nach dieser Darstellung der verschiedenen Anwendungsebenen wirtschaftsethischer Kritik wird im Folgenden Ulrichs Konzept des republikanischen Liberalismus vorgestellt. 2.2.5 Republikanischer Liberalismus Ulrich erhebt mit der integrativen Wirtschaftsethik den Anspruch, nicht nur eine Aspektethik zu erarbeiten, sondern einen umfassenden Gesellschaftsentwurf vorzulegen. Hierzu skizziert er ein Konzept der politischen Philosophie, welches er als „republikanischen Liberalismus“ (Ulrich 2008, 319) bezeichnet. Er entwickelt den Begriff in Abgrenzung zum Wirtschaftsliberalismus und zu Rawls‘ politischem Liberalismus. Ersteren kritisiert er wegen des postulierten Menschenbildes, das den Menschen als reinen Nutzenmaximierer skizziert, der in einem ‚System des geordneten Egoismus‘ [lebt, P.S.] […] das gleichsam hinter dem Rücken der Bürger von selbst das Gemeinwohl herstellt und so die Bürger restlos von jeder persönlichen ‚Moralzumutung‘ entlastet. (Ulrich 2005b, 79)
Die Kernaufgabe des Wirtschaftsliberalismus ist es laut Ulrich, den normativen Individualismus zu rechtfertigen, der Freiheit lediglich als Freiheit „zur Verfolgung beliebiger privater Zwecke im Rahmen der Gesetze“ (ebd., 80) versteht. Der Mensch werde so
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als präsoziales, ‚ungebundenes Selbst‘ und extremer Eigennutzenmaximierer vorgestellt, der auch noch seine Beziehungen zu anderen Menschen allein als Mittel zu seiner privaten Nutzen-, Vorteils- oder Erfolgssteigerung betrachtet. (Ebd.)4
Ulrich kritisiert diese Ausprägung des Liberalismus und plädiert für einen weiter gefassten Liberalismus. Sein Ziel ist es, aufbauend auf einer Theorie individueller Rechte das Konzept einer solidarischen Bürgergesellschaft5 zu begründen. Eine solche Gesellschaft ist Ulrich zufolge durch drei Grundsäulen gekennzeichnet: 1. „Umfassender Bürgerstatus“ (Ulrich 2008, 280): Dieser umfasst die Gewährleistung allgemeiner Bürgerrechte wie Persönlichkeits-, Staatsbürger- und Wirtschaftsbürgerrechten. Ulrich fasst dabei die Idee des Rechts auf „selbst bestimmte Lebensführung“ (ebd.) so auf, dass diese die Emanzipation von „sozialökonomischen Lebensbedingungen“ (ebd.) gebietet und voraussetzt. 2. Bürgersinn: Ulrich skizziert eine Zivilgesellschaft, in der gesellschaftliche Belange durch aktive Zivilcourage befördert werden, indem die Bürger Verantwortung übernehmen. Diese Form des Zusammenlebens wird dabei als Aufgabe gemeinschaftlicher oder basisdemokratischer Selbstorganisation betrachtet. Die Gesellschaft funktioniert als vielfältiges und dynamisches, nach dem Subsidiaritätsprinzip von unten nach oben aufgebautes Netzwerk bürgerlicher Vereinigungen und Kooperationsformen, das dem Individuum vielfältige Partizipations- und Integrationschancen bietet, ihm aber stets die Freiheit der Wahl lässt, wo und wie konkret es sich engagieren und zugehörig fühlen möchte und wo nicht. (Ebd., 281)
3. „Zivilisierung des Marktes“ (ebd.): Die Souveränität der Bürger muss vor unbegründeter politischer oder wirtschaftlicher Macht geschützt werden. Ulrich bringt das auf die Formel „Freie Bürger kommen vor dem ‚freien‘ Markt!“ ( Ulrich 2005b, 87). Nur so könne die „reale Freiheit und Chancengleichheit“ (Ulrich 2008, 281) in einer echten Zivilgesellschaft verwirklicht werden. In Abschnitt 2.3.4 wird diskutiert, ob das von Ulrich formulierte Konzept des republikanischen Liberalismus überzeugend begründet ist und in welchem Verhältnis es zum politischen Liberalismus steht. Im Folgenden wird abschließend das Konzept der Wirtschaftsbürgerrechte dargestellt, welches zur Realisierung des oben genannten umfassenden Bürgerstatus beitragen soll.
4
Der Begriff des ‚ungebundenen Selbst‘ ist entlehnt von Michael Sandel (1993). schwebt Ulrich eine Kombination von Liberalismus und Kommunitarismus vor, darauf lässt zumindest der Verweis auf Walzer schließen (Ulrich 2008, 281, Anm. 96). Daher wohl auch die Kennzeichnung als republikanischer Liberalismus. Zum Kommunitarismus siehe Walzer (1992). 5 Offenbar
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2.2.6 Wirtschaftsbürgerrechte Die Analyse der integrativen Wirtschaftsethik, in bestehenden Märkten bestünde eine „prinzipielle Chancenasymmetrie“ (Ulrich 2007, 6) zwischen verschiedenen Lebensentwürfen, führt zu der Überzeugung, der bisherige Rechtskanon müsse um die Klasse der sogenannten Wirtschaftsbürgerrechte erweitert werden. Diese gewährleisten als „Betätigungsrechte“ die „chancengleiche[…] Integration“ aller Bürger in wirtschaftliche Kreisläufe. Zugleich ermöglichen sie als „soziale Schutz- und Teilhaberechte“ die „Emanzipation aus dem marktwirtschaftlichen Sachzwangzusammenhang“ (Ulrich 2007, 7 f.). Um die Wirtschaftsbürgerrechte zu begründen, widmet sich Ulrich zunächst den Freiheitsund Teilnahmerechten6 (Ulrich 2008, 261), welche den Wirtschaftsbürgerrechten zugrunde liegen. Zur Erläuterung dieser Rechte sind zunächst einige Anmerkungen zu moralischen Rechten als begründeten Ansprüchen vonnöten. Ein Recht ist ein begründeter Anspruch auf etwas (Rechtsobjekt) gegenüber jemandem (Rechtsadressat). Zur Koordination und gegenseitigen Durchsetzung von Rechten und Pflichten bedarf es einer Instanz (des Rechtsstaats), welche diese durchsetzt und den Rechtsverstoß mit Sanktionen belegt. In einem Rechtssystem haben die „Grundrechte“ (ebd., 261)7 besonderen Status. Sie sind nach Ulrich die „Möglichkeitsbedingung dafür, dass jemand überhaupt irgendwelche weiteren Rechte wahrnehmen und ausüben kann“ (ebd., 256). Ihnen zugrunde liegt der gegenseitige Anspruch der Bürger auf Achtung der Würde und der „physischen und psychischen Unantastbarkeit“ (ebd., 255) des Einzelnen. Als solche Grundrechte nennt Ulrich: Grundrechte der […] personalen (Meinungs-, Glaubens- und Handlungs-)Freiheit und des […] gleichen Rechtsschutzes ohne Ansehen der Person (negative Freiheits- und Abwehrrechte, Persönlichkeitsrechte) (ebd., 261).
Die Grundrechte leiten sich unmittelbar aus der „gedanklichen Metainstitution der unbegrenzten kritischen Öffentlichkeit aller mündigen Menschen guten Willens“ (ebd., 258) ab. Die universelle Gültigkeit von Grundrechten ist Ulrich zufolge durch das diskursethische Prinzip der prinzipiellen Gleichheit aller (Rechts-)Ansprüche begründet:
6 Gemeinhin werden solche ‚Teilnahmerechte‘ als ‚allgemeine Bürgerrechte‘ bezeichnet. In Kapitel 6.1.2 werde ich entsprechend diesen Begriff gebrauchen, statt von ‚Teilnahmerechten‘ zu sprechen. 7 Ulrich bezeichnet universelle moralische Rechte als ‚Grundrechte‘, offenbar im Unterschied zu juridisch verankerten „universale[n] Menschenrechte[n]“ (Ulrich 2008, 256). Ich werde zur Kennzeichnung moralischer Rechte (unabhängig von ihrer rechtlichen Verankerung) in Kapitel 6.1 der gängigen Definition folgend durchweg von ‚Menschenrechten‘, hier jedoch, zum besseren Verständnis Ulrich folgend von ‚Grundrechten‘ sprechen.
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Aus der unbezweifelbaren Universalität der Grundbedingungen des Menschseins […] folgt […] die normative Idee der gleichen Unverletzlichkeit und Unantastbarkeit jedes humanen Subjekts und der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen, oder kürzer: der moralischen Gleichheit aller Menschen; die legitimen Ansprüche aller Individuen verdienen gleiche Berücksichtigung und zählen daher gleichermassen. (Ebd., 259)
Ulrich grenzt diese universellen Grundrechte von den politischen „Teilnahmerechte[n]“ (ebd., 261) ab insofern als der Geltungsbereich von Grundrechten sich auf alle Menschen erstreckt unbeachtet ihrer Staatszugehörigkeit, während Teilnahmerechte nur für Bürger eines existierenden Staatsgebildes gelten. Unter diese Rechte fallen laut Ulrich „Grundrechte auf Mitsprache und Mitwirkung in der demokratischen politischen Willensbildung (politische Teilnahmerechte, Staatsbürgerrechte)“ (ebd., 261). Zuletzt nennt Ulrich die sozialen Teilhaberechte, auf die alle in einem Staatsgebiet aufenthaltsberechtigten und wohnhaften Personen einen Anspruch hätten (ebd.). Die sozialen Teilhaberechte sollen dazu dienen, die „soziale Chancengleichheit“ (ebd., 262) zu gewährleisten. Zu diesen Rechten zählt Ulrich „soziale Schutz- und Teilhaberechte, Wirtschaftsbürgerrechte“, welche „menschenwürdige Lebensbedingungen und […] angemessene Teilhabe an der gesellschaftlichen Wohlfahrt“ (ebd., 261) ermöglichen sollen. Ulrich macht kenntlich, dass es sich bei den Wirtschaftsbürgerrechten um „moralische Rechte“ (ebd., 257) handelt insofern als diese noch nicht juridisch implementiert sind. Ulrich geht es darum, den „‚idealen‘ Horizont“ (Ulrich 2007, 11) einer Rechtskonzeption zu skizzieren, derzufolge reale Freiheit nicht nur Abwesenheit von Zwang und politische Teilhabe, sondern auch wirtschaftliche Befähigung und Teilhabe umfasst. Es muss jedoch gerechtfertigt werden, warum die Freiheits- und Teilhaberechte um Wirtschaftsbürgerrechte ergänzt werden müssen. Ulrich sieht deren Notwendigkeit aufgrund der realen Ungleichheit in marktwirtschaftlichen Gesellschaften begründet. Diese stellten die Bürgergesellschaft vor die Entscheidung, entweder das urliberale Projekt einer Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger als nicht ‚marktverträgliche‘ Utopie zu begraben oder aber die Bürgerrechte in Richtung moderner Wirtschaftsbürgerrechte weiterzuentwickeln. (Ulrich 2008, 283)
Ulrich zufolge bringen marktwirtschaftliche Gesellschaften so extreme Ungleichheiten hervor, dass die formale Gleichberechtigung der Bürger in reale Ungleichheit umschlägt. Die „prinzipielle Chancenasymmetrie“ (Ulrich 2007, 6) führt dazu, dass die weniger wettbewerbsfähigen Gesellschaftsmitglieder in „strukturelle Abhängigkeit“ geraten, welche sie davon abhält, ihre Wirtschaftsleben angesichts der übermächtigen anonymen Systemzwänge autonom und ihren wirklichen Lebensbedürfnissen entsprechend zu gestalten. Rawls‘ politisch- liberaler Idee der ‚rationalen Autonomie‘ aller Bürger steht im real existierenden ‚Libe-
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ralismus‘ eine […] ‚ökonomische Unfreiheit‘ eines großen Teils der Bürger gegenüber […] (Ulrich 2008, 279).
Diese ökonomische Unfreiheit soll durch die Etablierung der Wirtschaftsbürgerrechte begrenzt werden. Die „reale Bürgerfreiheit“ bedeutet in diesem Sinne einmal, dass die Frage, ob der Einzelne sein Leben dem „Erfolgsstreben“ (Ulrich 2007, 8) unterwerfen möchte, ohne den bindenden Sachzwangcharakter des Gewinndrucks entschieden werden kann (ebd.). Als soziale Schutz- und Teilhaberechte dienen sie der „Emanzipation aus dem marktwirtschaftlichen Sachzwangzusammenhang“ (ebd.). Zudem bezwecken Wirtschaftsbürgerrechte die „chancengleiche Integration“ (ebd.) aller Bürger in den Wirtschaftskreislauf. Hier werden nun Wirtschaftsbürgerrechte als wirtschaftliche Betätigungsrechte bedeutsam. Ulrich beschreibt sie als Organisationsbürgerrechte, welche Arbeitnehmern zu mehr Mitsprache in Unternehmen verhelfen sollen. Klar definierte und gewährleistete Rechte sämtlicher Stakeholder, insbesondere der Mitarbeiter als Organisationsbürger, bekräftigen deren unantastbare Persönlichkeitsrechte und eröffnen ihnen praktikable Chancen der Beteiligung an einem möglichst offenen, machtund sanktionsfreien unternehmensethischen Diskurs (‚Bill of Stakeholder-Rights‘). ( Ulrich 2005b,156)
Hierunter fällt u.a. das „Recht auf […] angemessene Partizipation an Entscheidungsprozessen auch im Wirtschaftsleben“ (Ulrich 2008, 291). Dieses beinhaltet das Recht auf Information über den Arbeitnehmer betreffende Aspekte von unternehmerischen Entscheidungen sowie das Recht auf „freie und kritische […] Meinungsäußerung“ (ebd., 492) im Unternehmen. Ich werde in Abschnitt 2.3.5 das Konzept der Wirtschaftsbürgerrechte kritisch reflektieren vor allem hinsichtlich der Begründung dieser Rechte bei Ulrich. Nachdem nun die entscheidenden Thesen der integrativen Wirtschaftsethik dargestellt wurden, wende ich mich im Folgenden einer ‚internen‘ Kritik derselben zu.
2.3 Kritik 2.3.1 Ökonomismuskritik und ökonomischer Imperialismus In der durch die integrative Wirtschaftsethik formulierten Ökonomismuskritik besteht m.E. eine kritische Stärke der integrativen Wirtschaftsethik. Sie vermag einerseits zu verdeutlichen, inwiefern das ökonomische Handlungsmodell zu kurz greift bei der Beschreibung menschlicher Handlungsmotivationen. Zum anderen wird mittels der Ökonomismuskritik die kulturkritisch relevante Tendenz hin zu einer reinen Marktgesellschaft hervorgehoben, in der alle Aspekte des Zusammenlebens unter Effizienzgesichtspunkten subsumiert werden. In dieser Einschätzung werden Rückbezüge zur Diskursethik erkennbar. Haber-
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mas hat von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1981b, 522) gesprochen, um die Vermarktlichung sozialer Interaktion und die Ausweitung des Marktmodells als gesellschaftlichen Koordinationsmechanismus zu kritisieren. Diese Gedanken werden von Bedeutung sein für das dritte Kapitel, in welchem ich den ökonomischen Imperialismus kritisiere. Allerdings wird dort auch die notwendige Unterscheidung zwischen den sehr unterschiedlichen Begriffen ‚Ökonomismus‘ und ‚ökonomischer Imperialismus‘ deutlich gemacht. Der ökonomische Imperialismus stellt eine bestimmte Forschungsrichtung innerhalb der Ökonomik dar, der durch Ulrich kritisierte Ökonomismus verkörpert eine bestimmte Auffassung vom gesellschaftlichen Wohl. Ohne vorgreifen zu wollen, möchte ich kritisch anmerken, dass bei Ulrich unklar bleibt, ob mit der Ökonomismuskritik die Ökonomik als solche kritisiert wird, oder ob lediglich Tendenzen gemeint sind, das Modell rationalen Verhaltens als normative Theorie zu begreifen. Diese Tendenz wird durch den Begriff ‚Ökonomismus‘ treffend beschrieben. Ulrich spricht jedoch davon, dass jedes Konzept der Rationalität angibt, „wie vernünftigerweise gehandelt werden soll“ (Ulrich 2008, 101), so (in Ulrichs Lesart) auch das ökonomische Handlungsmodell. Dieses wird von ihm als handlungsleitendes normatives Konzept aufgefasst. An anderer Stelle definiert Ulrich den Ökonomismus als den Glauben „der ökonomischen Rationalität an nichts als an sich selbst“ (ebd., 137). Letztere Auffassung werde ich im dritten Kapitel kritisieren, jedoch muss einschränkend gesagt werden, dass dies nicht auf die Wirtschaftswissenschaft als deskriptive, positive Wissenschaft zutrifft. Diese forscht lediglich unter der methodologischen Annahme, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen strategisch rational handeln, womit jedoch keinerlei normativen Schlussfolgerungen einhergehen darüber, wie Menschen handeln sollen. Die Ökonomik folgt in dieser Bestimmung lediglich Habermas‘ „Prinzip der Angemessenheit“ (Habermas 1991, 140), indem sie zu ergründen versucht, welche Instrumente zur Implementierung gesellschaftlich erwünschter Ziele angemessen sind und nicht, wie diese Ziele selbst zu begründen wären. Die integrative Wirtschaftsethik müsste genauer zwischen diesen sehr unterschiedlichen Sichtweisen über Aufgabe und Sinn wirtschaftswissenschaftlicher Forschung unterscheiden. In dieser allgemeinen Form ist die Kritik m.E. unangemessen. Wenn Ulrich beispielsweise von der „normativen Idee der Nutzenmaximierung“ (Ulrich 2008, 138) spricht, müsste offengelegt werden, ob hier der Anspruch der Ökonomik als allgemeiner Theorie menschlichen Handelns (ökonomischer Imperialismus) oder die durch die ökonomische Ethik geforderte ‚Rekonstruktion der Ethik durch die Ökonomik‘ als wünschenswertes gesellschaftliches Projekt gemeint ist (Ökonomismus). Diese Unklarheiten werde ich in Kapitel 3.1 ausräumen und anschließend den ökonomischen Imperialismus in seiner normativen Ausprägung als Ökonomismus kritisieren.
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2.3.2 Nachfragen zur Sachzwangkritik Gegenüber Ulrichs Behauptung der ‚Parteilichkeit‘ von Sachzwängen ist zunächst eine klärende Unterscheidung erforderlich, die m.E. in der bisherigen Debatte nicht klar genug hervorgebracht wurde. Sachzwangbehauptungen können bloße politische Rhetorik sein. Um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wird in der öffentlichen Debatte ein Szenario der Unvermeidbarkeit aufgebaut, indem bestimmte Handlungsstrategien als ‚unausweichlich‘ oder ‚alternativlos‘ beschrieben werden. Beispielsweise lassen sich Aussagen von Unternehmerverbänden während der Tarifrunden, im Standortwettbewerb seien Lohnsteigerungen ruinös und daher höchste Lohnzurückhaltung geboten, als reine ‚Sachzwangrhetorik‘ entkleiden. Hier möchte ich von bloßen Sachzwangbehauptungen sprechen, um kenntlich zu machen, dass das hinter der Behauptung stehende „(normative) Konzept leer“ (Kettner 2001, 125) ist. Dem gegenüberzustellen wären die von Kettner als „geschichtlich gebildete normative Texturen“ (ebd.) beschriebenen fundierten Sachzwänge. Warum diese Unterscheidung? Wer Sachzwänge im Markt kritisiert, muss zunächst analysieren, wem diese Sachzwänge in welcher Weise dienen, wem sie womöglich besonders schaden, und ob sie grundsätzlich reformierbar sind. Ulrich stellt richtigerweise fest, dass Sachzwangbehauptungen einseitig Unternehmern dienen können, etwa wenn das Diktum vom ‚Standortwettbewerb‘ genutzt wird, um Arbeitsplatzgarantien aufzukündigen, Jobs abzubauen oder zu verlagern. Ob allerdings der Sachzwang zur Gewinnmaximierung deswegen per se als ‚bloße‘ Sachzwangbehauptung dargestellt werden kann, wird im Folgenden zu diskutieren sein. Die Kritik des Prinzips der Gewinnmaximierung als ‚Sachzwang‘ birgt in jedem Fall einige Schwierigkeiten. Die Begriffe Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung sind fundierte Sachzwänge insofern als sie geschichtlich gewachsene Prinzipien der Marktwirtschaft darstellen. Bei Ulrich findet sich nun das Argument, diese Prinzipien könnten grundsätzlich individuell begrenzt werden: Strikte Gewinnmaximierung kann prinzipiell keine legitime unternehmerische Handlungsorientierung sein, da sie moralische Selbstbindung von vornherein verwirft. Legitimes Gewinnstreben ist stets moralisch (selbst)-begrenztes Gewinnstreben – nach Maßgabe der Verantwortbarkeit bzw. Zumutbarkeit gegenüber allen Betroffenen. (Ulrich 2005b, 145 f.)
Zwar ist dies ein lobenswertes Bestreben. Einzuwenden ist allerdings mit Homann, dass dies auf der Ebene individuellen Handelns keine Option ist, da so ein Nachteil gegenüber weniger zurückhaltenden Unternehmen geschaffen würde. Auf der Ebene politischer Rahmengesetzgebung hingegen zeigt sich, dass das Prinzip der Gewinnmaximierung keine historische Gesetzmäßigkeit darstellt, die nicht zu beeinflussen wäre. Beschränkungen zugunsten von Umweltschutz, Mindestlöhnen und Regelungen über allgemeine Arbeitnehmerrechte bedeuten
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auf Unternehmerseite vor allem höhere Kosten und geringere strategische Flexibilität. Dennoch wurden sie in den vergangenen Jahrzehnten durchgesetzt, weil eine politische Öffentlichkeit dem Streben nach Gewinnmaximierung bestimmte Grenzen gesetzt hat. Ich werde in Kapitel 4 zwei Argumente vorstellen, die mögliche ‚Sachzwangbegrenzungen‘ rechtfertigen. Dort wird darauf abgehoben, dass ‚freie Transaktionen‘ im Markt faire Hintergrundbedingungen und die Vermeidung von forced-choice Situationen voraussetzen. Wenngleich Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung also unausweichliche Anforderungen marktwirtschaftlichen Handelns darstellen, sind sie nicht als absolute Werte zu behandeln. Vielmehr ist von philosophischer Seite deutlich zu machen, zu welchem Grad diese ihre Wirkung entfalten sollten. Gegen Ulrichs Annahme der durchgängigen Parteilichkeit von Sachzwängen möchte ich zudem folgende Einwände vorbringen. Sachzwänge zur Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung wirken auf alle Marktteilnehmer. Dies bedeutet, dass Unternehmer ebenso Sachzwängen unterliegen wie Arbeitnehmer. Daher besteht auch hier das Interesse, Sachzwängen auszuweichen, beispielsweise durch Kartell- oder Monopolbildung, wodurch der Zwang zur Gewinnmaximierung geschmälert bzw. beseitigt würde. Insofern ist mit Thielemann zu bekräftigen, dass der Markt nicht nur einseitig Unternehmerinteressen befördert, sondern alle Marktteilnehmer zur unternehmerischen Lebensform nötigt (Thielemann 1996, 362). Dies wiederum ist ein fundierter Sachzwang zum Lebenserwerb, der angesichts der wohlfahrtsfördernden Wirkungen marktwirtschaftlichen Handelns in Kauf genommen wird. Kettner weist auf eine weitere Schwachstelle der Sachzwangkritik hin. Zunächst einmal sei die Frage, wem eine normative Orientierung dient, unter Legitimationsgesichtspunkten immer zulässig und relevant (Kettner 2001, 127). Hier müssten jedoch zwei Elemente unterschieden werden: die Ursprungsfrage fragt danach, von was oder wem bestimmte Bedingungen, die in der Folge Sachzwangcharakter erhielten, ins Leben gerufen wurden. Kettner ist der Auffassung, dass auch wenn bestimmte Sachzwänge Unternehmen einseitig dienten, sie kaum als Verursacher derselben verantwortlich gemacht werden könnten: Mit einer Analogie gesagt: Der religiöse Glaube ist nicht das Ergebnis einer Verschwörung der Priester, obschon mit dem religiösen Glauben den Priestern aufs beste gedient ist. Dito für die kapitalistische Marktwirtschaft und die Eigner produktiven Kapitals. (Ebd., 128)
Hiermit soll der Aspekt der personalen moralischen Verantwortlichkeit geschärft werden. Dass Unternehmer nicht ursächlich und ursprünglich für Sachzwänge verantwortlich zu machen sind, zeigt sich bei der Analyse, wer hinsichtlich der Transformationsfrage als Adressat von Reformforderungen zu identifizieren ist. Man könnte denken, dass die Transformation der Marktbedingungen am ehesten durch diejenigen durchzusetzen sei, die vom System am meisten profitieren, d.h. internationale Unternehmen. Dies sei jedoch nicht ohne Weite-
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res einzusehen, so Kettner, und zwar nicht nur, weil dies gegen ihre Interessen verstoße, sondern weil sie gerade wegen ihrer ökonomiekonform sehr guten Positionierung innerhalb der Sachzwänge aus der allseitigen Konkurrenz diesen in besonderem Maße unterliegen. (Ebd.)
Kettner zufolge ist die entscheidende Frage der Wirtschaftsethik, zu klären, wer die „transformationsmächtigen“ (ebd., 129) Instanzen hinsichtlich marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen sind. Zu erörtern ist, ob eher die Reform der politischen Rahmenordnung oder die (Selbst-)Begrenzung der Marktakteure wirtschaftsethisch einzufordern ist. Kettner ist zuzustimmen, dass allein durch die Analyse der Sachzwangbehauptungen und die Offenlegung ihrer etwaigen Parteilichkeit noch nicht deren Überwindung geschaffen ist. Kettner betrachtet hier auch die Möglichkeiten der Philosophie kritisch, auf die Veränderung konkreter Umstände hinzuwirken: Womöglich können wir gewisse Sachzwangbehauptungen zwar ‚kritisch hinterfragen‘, aber trotzdem auf diese Weise nichts ändern – z.B. weil das, was beim kritischen Hinterfragen zutage kommt, ohnehin allseits bekannt und wahr ist. Von Herbert Marcuse wird erzählt, dass er gerne eine Trivialität an die Tafel zu schreiben pflegte, deren Wahrheit kein kritischer Hinterfrager versucht sein sollte, scheinbar erst zu entdecken: ‚Wir leben im Kapitalismus‘. (Ebd.)
Gemeint ist, dass im Kapitalismus bestimmte Sachzwänge wie die Prinzipien der Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung entstehen, die bereits in seiner grundsätzlichen institutionellen Ordnung (Privateigentum an Produktionsmitteln, freier Markt und Wettbewerb) angelegt sind. Ulrich hebt jedoch hervor, dass es ihm nicht um das Prinzip der Effizienzsteigerung an sich geht, sondern vielmehr darum, für wen weitere Effizienzsteigerungen dienlich sind (Ulrich 2008, 132): Als ökonomisch vernünftig sollen […] nur solche Handlungsweisen gelten dürfen, die nicht nur für die Handlungsträger selbst effizient, sondern gegenüber allen Betroffenen als legitim vertretbar sind. (Ebd.)
Kritisiert wird also nicht das Gebot der Effizienzsteigerung, sondern die Effizienzsteigerung als ökonomischer Selbstzweck. Hier ist m.E. ein berechtigter Spielraum für Kritik an der ‚Parteilichkeit‘ von Sachzwängen. Um diese Kritik zu illustrieren, seien folgende Zahlen angeführt: In den G7-Staaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und den USA lässt sich seit den 1970er Jahren ein tendenzieller Rückgang der Lohnquote (das Verhältnis von Arbeitnehmereinkommen zum Volkseinkommen) feststellen (Horn et al. 2009, 2). Dies bedeutet,
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dass die Reallohnerhöhungen seit gut drei Jahrzehnten dem Produktivitätsfortschritt hinterherhinken, und die Gewinne einen zunehmend größeren Anteil des Volkseinkommens ausmachen. Ebenso kommt es seit den 1980er Jahren in vielen Ländern zu einer sich zunehmend polarisierenden personellen Einkommensverteilung. (Ebd., 2 f.)
Die Entwicklung der Lohnquote seit 2000 in Deutschland beschreibt Hoffmann: Im Jahr 2000 lag sie noch über 72 Prozent, 2007 waren es keine 64 mehr. Aktuell liegt die Quote bei knapp 66 Prozent. Zugleich zogen die Unternehmens- und Vermögensgewinne kräftig an – von 2000 bis 2009 um insgesamt ein Drittel auf 566 Milliarden Euro. (Hoffmann 2010)
Wie Hoffmann hervorhebt, sind die Löhne trotz der konstanten Produktivitätssteigerung nicht entsprechend gestiegen. Gleichzeitig sind die Unternehmens- und Vermögensgewinne in besagtem Zeitraum um ein Drittel gestiegen. An der Entwicklung der Einkommensverteilung lässt sich die Parteilichkeit der Forderung nach Effizienzsteigerung und Lohnzurückhaltung nachvollziehen. Hier könnte man einwenden, dass es sich um eine illegitime Form der Effizienzsteigerung handelt, wenn nicht alle am Produktionsprozess Beteiligten gleichermaßen von ihr profitieren, sondern diese einseitig genutzt wird, um Gewinne abzuschöpfen. Bei der Kritik der vorgefundenen Einkommensverteilung genügt allerdings der Verweis auf die Parteilichkeit von Sachzwängen nicht. Es bedarf einer fundierten Theorie ‚gerechter‘ Löhne, um Kritik an existierenden Ungleichheiten zu begründen.8 2.3.3 Zum Verhältnis von Individualethik und Ordnungsethik Ulrich spricht hinsichtlich der Spielräume individualethischer Selbstbegrenzung von der Möglichkeit, die constraints zu wählen, unter denen man wirtschaftlich aktiv sein möchte. In der Reflexion über Sinn und Zweck der eigenen ökonomischen Zielsetzungen steckt tatsächlich ein wertvoller und notwendiger erster Schritt individualethischer Gewissensbildung. Allerdings ist hier kritisch einzuwenden, dass das Diktum von der Wahl der constraints eine Wahlmöglichkeit präsupponiert, die für viele Marktteilnehmer nur in sehr beschränktem Maße realisiert ist. Angesichts der Notwendigkeit, Unternehmen hochspezialisiert auf strategische Ziele hin auszurichten, ist es höchst unwahrscheinlich, dass ein auf eine bestimmte Branche spezialisiertes Unternehmen ohne Weiteres den Schritt aus einem Segment in ein anderes überstehen würde. Für einzelne Unternehmen besteht, wollen sie im Markt bestehen, der fundierte Sachzwang, den Gegebenheiten der jeweiligen Branche entsprechend zu operieren oder aus dem Markt auszuscheiden. Es lässt sich daher auf individualethischer Ebene nur
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Siehe hierzu Kapitel 5.2.
2. Integrative Wirtschaftsethik
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ein wirklicher Handlungsspielraum erkennen hinsichtlich der Wahl der Branche, in der man wirtschaftlich tätig werden möchte. Ulrich meint hingegen, die „strikte egoistische Vorteils- oder Erfolgsmaximierung“ sei kein legitimer Handlungszweck, da sie der „prinzipiellen Missachtung aller ihr entgegenstehenden Wertaspekte und auch des Primats der Legitimität vor dem Erfolg gleich“ (Ulrich 2008, 171) käme. „Möglich und geboten“ sei vielmehr die „moralische Selbstbegrenzung des personalen Erfolgs- oder Erwerbsstrebens“ (ebd.). Natürlich ist eine solche Selbstbegrenzung wünschenswert und womöglich auch in vielen Arbeitsverhältnissen vorzufinden. Jedoch lässt Ulrich offen, wie die individualethische Selbstbegrenzung ohne die simultane Reform der Rahmenbedingungen ‚möglich und geboten‘ sein soll. Worin die zumutbare Selbstbegrenzung des Einzelnen angesichts der „systemare[n] Durchbildung“ (Kettner 2001, 119) von Sachzwängen in Marktkontexten bestehen sollte, erschließt sich nicht. Auf Ebene der Unternehmensethik fordert Ulrich die kritische Reflexion über die „Legitimitätsvoraussetzungen und Wertorientierungen lebensdienlicher Wertschöpfung“ (Ulrich 2008, 429). Unternehmen sind daher aufgefordert, die eigenen Zielsetzungen hinsichtlich ihrer moralischen Verantwortbarkeit zu überprüfen. Wenn Unternehmen Erfolgsstrategien verfolgen, die nicht zugleich moralisch verantwortbar sind, sollten sie daher die „Sicherung der Unternehmensexistenz auf anderen Wegen mit besserem normativem ‚Unterbau‘ an[…] streben“ (ebd., 464). Wenngleich Beispiele denkbar sind, bei denen wirtschaftlicher Erfolg mit moralisch vorzugswürdigen Geschäftspraktiken einhergeht, so sind Fragen der corporate governance in meinem Ansatz in erster Linie auf Ebene der Institutionenethik im gesamtgesellschaftlichen Austausch anzugehen. Wie die moralische Selbstbegrenzung im Markt aus Unternehmen heraus gelingen soll, ist daher kritisch zu betrachten. An dieser Stelle ist ein Einschub zur eigenen Positionierung in der wirtschaftsethischen Debatte erforderlich, um die Unterschiede zu Ulrich und Homann zu schärfen. Ich verfolge in dieser Arbeit das Ziel, einen rechtebasierten institutionenethischen Ansatz zu entwickeln, der bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen ansetzt, um die argumentatorische Grundlage für eine weniger ungleiche Einkommensverteilung (Kapitel 4 und 5) und mehr innerbetriebliche Mitbestimmung zu schaffen (Kapitel 6). Der Ansatz ist auf die Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen beschränkt, weil er mit Homann der Erkenntnis folgt, dass wirtschaftsethische Forderungen nur „wettbewerbsneutral und […] ausbeutungsresistent“ (Homann 2005, 28) wirksam werden können. Es geht in meinem Ansatz darum, normative Leitideen zu entwickeln, welche einerseits die Machbarkeit rahmenpolitischer Gestaltung gegenüber Sachzwangbehauptungen im Markt deutlich machen, anderseits auch die relativ eingeschränkten Handlungsspielräume auf individualethischer Ebene berücksichtigen.
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Teil I: Die deutschsprachige Wirtschaftsethik
Ulrich erkennt selbst an, dass das, was als wirtschaftsethisch zumutbar gelten soll, eher im institutionellen Rahmen als auf individualethischer Ebene geklärt werden kann: Nun pflanzen sich […] die Wettbewerbsbedingungen prinzipiell unabgrenzbar auf eine endlose Vielzahl von Wirtschaftssubjekten fort […] Daher kann […] der ‚Ort‘ des wirtschaftsethischen Zumutbarkeitsdiskurses letztlich nur die allgemeine Öffentlichkeit der Wirtschafts- und Staatsbürger sein. (Ulrich 2008, 173)
An dieser Stelle jedoch ist Ulrich, obwohl in Duktus und Zielsetzung grundverschieden, sehr nah bei der ökonomischen Ethik angelangt. Da sich unter den Bedingungen der modernen Marktwirtschaft die moralische Selbstbegrenzung des Einzelnen als unausgeschöpftes Gewinnpotential zu seinem Nachteil auswirkt, ist der systematische Ort der Moral die Rahmenordnung oder eben die „allgemeine Öffentlichkeit der Wirtschafts- und Staatsbürger“. Ulrich ist hingegen gegenüber Homann zuzugestehen, dass in Zeiten der zunehmenden Effizienzorientierung und der Tendenz zur „Marktgesellschaft“ (Ulrich 2005b, 11) die Forderung, normativen Überzeugungen Vorrang gegenüber Effizienzerwägungen zu geben, große Relevanz hat. Insofern kann die integrative Wirtschaftsethik als Versuch gedeutet werden, gesellschaftskritisch auf eine lebensdienlichere Wirtschaft und Gesellschaft hinzuwirken. Allerdings ist gegen Ulrich einzuwenden, dass jede wirtschaftsethische Theorie und jeder Ansatz zur politischen Philosophie auch bestimmten Plausibilitäts- und Machbarkeitsanforderungen Rechnung tragen sollte. Es bleibt unklar, warum die Aufforderung, normative Gesichtspunkte bei ordnungspolitischen Problemstellungen als „konstitutive Voraussetzungen“ (Ulrich 2008, 401) anzuerkennen zur tatsächlichen Achtung dieser Prinzipien durch die Marktteilnehmer führen sollte. Wenn Ulrich schreibt, der Ort der Ordnungspolitik sei die „deliberative Politik, organisiert unter der regulativen Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs in der unbegrenzten Öffentlichkeit aller mündigen Wirtschaftsbürger“ (ebd., 399), dann ist zu fragen, ob die Annahme der „unbegrenzte[n] Öffentlichkeit“ gerade in wirtschaftspolitischen Kontexten zum anerkannten Prinzip reifen könnte. Schließlich fordert die Diskursethik einen grundlegenden Konsens über zu implementierende Normen ein, auf den sich alle mündigen Bürger einigen könnten. Gerade in wirtschaftspolitischen Kontexten stehen jedoch veritable Interessen (beispielsweise von Unternehmern und Arbeitnehmern, nationalen Gesetzgebern und global operierenden Unternehmen) diametral gegeneinander. Ob mit dem Prozess der diskursethischen Konsensfindung hier viel erreicht wäre, ist fraglich. Darüber hinaus möchte Ulrich durch die Bekräftigung des „Primat[s] der politischen Ethik vor der Logik des Marktes“ (Ulrich 2005b, 237) eine Hierarchisierung von Ethik und Ökonomik begründen. Der gesamtgesellschaftliche Dialog führt der integrativen Wirtschaftsethik zufolge zwangsläufig zur Er-
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kenntnis, dass aus normativer Perspektive „Effizienzgesichtspunkte Gerechtigkeitsgrundsätzen unterzuordnen“ (Thielemann 1996, 41) seien. Diesem Punkt folge ich in meinem Ansatz insofern als Marktwirtschaften immer in gesellschaftliche Kontexte eingebunden sind und daher Effizienzanforderungen keinen unabdingbaren Vorrang vor moralischen Anforderungen erhalten sollten. Es ist allerdings mit Blick auf die diskursethische Theoriebildung zu kritisieren, ob Ulrich mit der Hierarchisierung des unbegrenzten Dialogs „mündiger Wirtschaftsbürger“ durch die Einforderung des ‚Primats‘ der Ethik nicht einen argumentativen Zwang einbringt, wo die völlig zwanglose Argumentation unter Berücksichtigung der „moralischen Rechte aller von der Zweckverfolgung Betroffenen“ geboten wäre. Es bleibt bei Ulrich unbeantwortet, inwiefern in einer Situation des herrschaftsfreien Diskurses die grundlegende Erkenntnis, dass Effizienzgesichtspunkte Gerechtigkeitsgrundsätzen unterzuordnen seien, bei Gefahr des Selbstwiderspruchs zwangsläufig hergeleitet würde. Man könnte, wenn nur der „Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1991, 13 f.) gilt, schließlich auch mit Homann argumentieren, dass die Wirtschaft allein der Effizienz dienen sollte und dass gerade die Realisierung dieses Ziels eine ‚lebensdienliche‘ Gesellschaft ermöglicht. 2.3.4 Republikanischer Liberalismus und politischer Liberalismus Mit der Reflexion über die ‚gute‘ bzw. ‚gerechte‘ Gesellschaft versucht Ulrich die Wirtschaftsethik anschlussfähig an die politische Philosophie zu machen. Dies ist insofern als eine positive Leistung der integrativen Wirtschaftsethik einzustufen, als wirtschaftsethische Theorien sich positionieren müssen hinsichtlich der Grundsätze, welche die Gestaltung der Rahmenordnung leiten sollen. Dennoch möchte ich mithilfe des folgenden Zitats einige Kritikpunkte an der Konzeption des republikanischen Liberalismus deutlich machen: [R]eale Bürgerfreiheit in Gleichheit und republikanischer Mitverantwortung aller für die gute und gerechte Ordnung der res publica […] Das republikanische Ethos ist dabei die sparsamst mögliche Form der politischen Bürgertugend, die freien Bürgern abzuverlangen ist: Es geht um die prinzipielle Bereitschaft der Bürger, die öffentliche Sache (res publica) der gleichen realen Freiheit aller als ihre Sache wahrzunehmen, indem sie die eigene mitverantwortliche Partizipation an der demokratischen Selbstbestimmung der Grundsätze des gerechten und fairen Zusammenlebens unter freien Bürgern als wesentliches Moment ihres ‚bürgerlichen‘ Selbstverständnisses begreifen. Als sich so verstehende Bürger sind sie – und dies ist der praktische Prüfstein dafür – im Prinzip motiviert, auch ihre wirtschaftliches Vorteils- und Erfolgsstreben den Legitimitätsbedingungen der von ihnen mitgetragenen Gesellschaftsordnung zu unterstellen; sie wollen dann überhaupt keinen anderen privaten Erfolg als jenen, den sie im ‚öffentlichen Vernunftgebrauch‘ (Kant, Rawls) unter freien Bürgern auch anderen zubilligen und daher für sich selbst vertreten können. (Ulrich 2007, 5)
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Durch den ersten Punkt, der Betonung der Rechte des Einzelnen auch gegenüber wirtschaftlichen Zwängen in einer Bürgergesellschaft, wird eine wichtige Erkenntnis der integrativen Wirtschaftsethik deutlich. Wie gezeigt wurde, lassen sich diese Rechte nicht nur als negative Freiheits- und Abwehrrechte sowie als politische Staatsbürgerrechte begreifen, sondern auch als positive Anspruchsrechte im Wirtschaftsleben. Zum ‚Bürgersinn‘ im Sinne des republikanischen Liberalismus ist hingegen Folgendes zu sagen. Es bleibt unbeantwortet, warum der allgemeine Bürgersinn in einem „Netzwerk bürgerlicher Vereinigungen“, in dem es jedem gänzlich freisteht, sich zu engagieren oder eben nicht, verwirklicht werden sollte. Auch die Frage, warum der Einzelne motiviert sein sollte, nur ‚legitim‘ zu handeln, oder warum er nur den Erfolg wollen soll, den er auch anderen zubilligen kann, wird nicht hinreichend erläutert. Weit entfernt davon, die „sparsamst mögliche Form der politischen Bürgertugend“ einzufordern, werden hier sehr starke Voraussetzungen an die individuelle Bereitschaft zum Engagement gemacht, die gerade im ökonomischen Kontext kaum einzuholen sind. Hier ist mit Luhmann9 einzuwenden, die Wirtschaftsethik müsse weniger fordern, dass es eine solche Wirtschaftsethik geben sollte, als zu begründen, warum moralische Normen in der Marktwirtschaft Relevanz erlangen könnten bzw. sollten (Luhmann 1993, 134). Diese Anforderung lässt sich verdeutlichen anhand Ulrichs Diskussion des durch Rawls begründeten politischen Liberalismus: Mit ihm [politischer Liberalismus, P.S.] teilt der republikanische Liberalismus […] den normativen Vorrang des Rechten vor dem Guten, d.h. die […] konstitutive Rolle der gleichen Bürgerrechte für alle Gesellschaftsmitglieder […] Dem entspricht die regulative Idee der Neutralität der politischen Grundordnung und der gesellschaftlichen Grundstruktur in Bezug auf Konzeptionen des Guten […] Was Rawls jedoch nicht hinreichend reflektiert, ist die damit nicht ohne Weiteres vereinbare strukturelle Parteilichkeit des ‚freien‘ Marktes, d.h. die prinzipielle Chancenasymmetrie zwischen verschiedenen Lebensentwürfen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb. (Ulrich 2007, 6)
Zunächst ist hier mit Rawls gegen Ulrich einzuwenden, dass der letzte Punkt auf einer fehlerhaften Lesart beruht. Während Ulrich die „Parteilichkeit des freien Marktes“ und dessen inhärente Chancenasymmetrie auf derzeit real existierende Märkte bezieht, beschreibt Rawls legitime Unterschiede, wie sie in einer Gesellschaft bestehen würden, in der die Gerechtigkeitsgrundsätze durch die Grundstruktur bereits realisiert sind. In solch einem System bestünde aufgrund des Prinzips der fairen Chancengleichheit keine prinzipielle Chancenasymmetrie mehr zwischen verschiedenen Lebensentwürfen. Darüber hinaus existierten extreme Ungleichheiten in der Verteilung von Macht und Vermögen nicht weiter, da die „Verteilungsabteilung“ (Rawls 1979, 312) zu deutliche Un9
Der allerdings der Wirtschaftsethik die Existenzberechtigung abspricht, siehe Luhmann (1993).
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gleichgewichte verhindern würde. In einer Gesellschaft, in der das größtmögliche System an Grundfreiheiten, das Prinzip der fairen Chancengleichheit und das Differenzprinzip verwirklicht sind, würde die von Ulrich kritisierte Chancenasymmetrie nicht fortbestehen. Es gibt einige weitere bedeutsame Unterschiede zwischen den Theorien, die vor allem im Hinblick auf den von Ulrich skizzierten „Bürgersinn“ hervorzuheben sind. Ulrich spricht davon, dass die „prinzipielle Bereitschaft der Bürger, die öffentliche Sache […] als ihre Sache wahrzunehmen […] als wesentliches Moment ihres ‚bürgerlichen‘ Selbstverständnisses [zu, P.S.] begreifen“ (Ulrich 2007, 5) sei, ohne jedoch eine Begründung für diese Bereitschaft herzuleiten. Das altruistische Wesen der Bürger wird somit eingefordert, ohne die motiva tionale Begründung hierfür zu liefern. Bei Rawls hingegen einigen sich die Teilnehmer im Urzustand auf Grundsätze, welche freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden. (Rawls 1979, 28)
Rawls geht in seiner Theorie nicht von altruistischen Motiven, sondern von vernünftigen Interessen aus, welche die einzelnen Mitglieder bei der Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze einbringen. In diesen bescheideneren Anforderungen an die individuelle Motivation besteht eine große Stärke der Theorie von Rawls. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sind die einzige „Lösung des Entscheidungsproblems im Urzustand“ und sie stellen die „beste verfügbare Möglichkeit“ (ebd., 140 f.) dar, die Ziele des Einzelnen zu fördern. Anders als bei Ulrich ist also die Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze ein Ergebnis der rationalen Abwägung. Warum Menschen kooperieren und sich bestimmten Grundsätzen unterwerfen, wird damit begründet, dass ihnen die „Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ (ebd., 105) gereicht. Mit Rawls lässt sich ein weiterer Punkt gegen Ulrichs Ausführungen zum „Netzwerk egalitärer Bürgervereinigungen“ stark machen. Rawls ist der Auffassung, Theorien der Gerechtigkeit müssten die Ergebnisse der Moralpsychologie berücksichtigen: Eine wichtige Eigenschaft einer Gerechtigkeitsvorstellung ist, dass sie zu ihrer eigenen Unterstützung motiviert. Ihre Grundsätze sollten so beschaffen sein, dass, wenn sie in der Grundstruktur der Gesellschaft verwirklicht sind, die Menschen dazu neigen, sich den entsprechenden Gerechtigkeitssinn anzueignen, d.h. das Bedürfnis zu entwickeln, nach ihren Grundsätzen zu handeln. (Ebd., 161)
So wünschenswert das von Ulrich skizzierte bürgerliche Engagement ist, es bleibt fraglich, ob seine Ausführungen die zitierte Eigenschaft erfüllen, ob also die Bürger aus sich heraus das Bedürfnis entwickeln, die „mitverantwortliche Partizipation“ für die „öffentliche Sache“ zu tragen. Die Begründung für die
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Bereitschaft zu einem solchem Engagement müsste von Ulrich noch geliefert werden. 2.3.5 Zur Begründung von Wirtschaftsbürgerrechten Ulrichs Konzeption der Wirtschaftsbürgerrechte bildet m.E. einen fruchtbaren Anstoß zur weiteren Ausarbeitung einer rechtebasierten wirtschaftsethischen Theorie. Ulrich ist der Auffassung, dass die Souveränität der Bürger als Wirtschaftssubjekte „vor nicht-legitimierter Macht geschützt werden“ (Ulrich 2005b, 87) muss. Personale Macht in Unternehmen ist demnach begründungspflichtig. Ich werde in Kapitel 6 darlegen, inwiefern Arbeitnehmerrechte als Wirtschaftsbürgerrechte sowohl die angesprochene Schutzfunktion erfüllen als auch adäquate Mitsprache im Unternehmen ermöglichen können. Hier möchte ich zunächst deutlich machen, inwiefern die Konzeption der Wirtschaftsbürgerrechte ein unvollendetes Projekt darstellt. Ich werde mich dabei auf einige Unklarheiten hinsichtlich des Verhältnisses der verschiedenen von Ulrich dargelegten Rechtsgruppen sowie deren jeweiliger Begründung konzentrieren. Zunächst macht Ulrich nicht ausreichend kenntlich, in welchem Verhältnis die drei Gruppen „universaler Grundrechte“ (Ulrich 2008, 261) zueinander stehen. Hierunter fallen sowohl allgemeine Menschenrechte, Bürgerrechte und Wirtschaftsbürgerrechte. In meinem Ansatz kommen Menschenrechte allen Menschen zu aufgrund ihrer konstitutiven Bedeutung für die Möglichkeit, zu handeln und erfolgreich zu handeln (Kapitel 6.1.1). Bürgerrechte werden als Menschenrechte bestimmt, insofern sie nur gegenüber dem eigenen Staat gelten, jedoch notwendig sind zum Schutz der konstitutiven Menschenrechte (6.1.2.). Arbeitnehmerrechte verstehe ich schließlich als dispositionelle, konditionale Rechte, die Bürgern als Arbeitnehmern zukommen (6.1.3). Diese Abgrenzung der verschiedenen Rechtsgruppen und ihrer jeweiligen Adressatenkreise wird bei Ulrich nicht ausreichend geleistet. Beispielsweise spricht er davon, dass bei allen drei Rechtsgruppen prinzipiell „keine Ungleichheit zulässig“ (ebd., 262) sei. Bürgerrechte gelten jedoch nur für die Bürger eines Staates. Inwiefern ist dann die Nichtberücksichtigung aller Nichtbürger gerechtfertigt? Darüber hinaus bleibt unklar, wie dieses Prinzip der Gleichbehandlung bei den Wirtschaftsbürgerrechten konkret zum Tragen kommt. Ulrich spricht von den „Rechte[n] sämtlicher Stakeholder, insbesondere der Mitarbeiter als Organisationsbürger“, welche ihnen die Möglichkeit zur „Beteiligung an einem möglichst offenen, macht- und sanktionsfreien unternehmensethischen Diskurs“ (Ulrich 2005b, 156) gewähren sollen. Zudem sollte „allen Personen, die sich vom unternehmerischen Handeln betroffen fühlen, gesetzlich geregelte Anhörungs-, Mitsprache-, Einspruchs und Klagerechte“ (Ulrich 2008, 490) eingeräumt werden und unternehmensinterne „Ethikkomitee[s]“ (ebd., 499) eingerichtet werden. In meinem Ansatz kommen Arbeitnehmerrechte nur Individuen als ab-
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hängig Beschäftigten zu. Ob diese Eingrenzung auch in Ulrichs Konzeption zulässig wäre, ist unklar. Welchen Status und welches relative Gewicht sollten die verschiedenen stakeholder im Unternehmen haben? Kommen Wirtschaftsbürgerrechte allen auf einem bestimmten Staatsgebiet ansässigen Personen zu? Darüber hinaus werde ich in Kapitel 6.2 erörtern, warum Arbeitnehmerrechte angesichts hierarchischer Strukturen notwendig sind und wie eine mögliche Form der Mitbestimmung gestaltet sein könnte. Auch dieses Kapitel lässt sich als Weiterentwicklung der von Ulrich aufgeworfenen, jedoch nicht hinlänglich ausgearbeiteten Ideen verstehen. Beispielsweise bleibt unklar, welche ökonomischen Folgen zu erwarten wären bei einem Mitsprache- und Einspruchsrecht aller stakeholder (worunter nach der ‚weiten‘ Definition von Freeman [2009, 61 ff.] auch die Konsumenten, die lokale Gemeinde, letztlich die gesamte Gesellschaft zu fassen sind). Ulrich lässt zudem offen, wie ein „machtund sanktionsfreier unternehmensethischer Diskurs“ in solchen Ethikkomitees durchgesetzt und rechtlich verankert werden könnte. Hier ist eher von einem „Konflikt der Interessen“ (Apel 1973, 426) auszugehen, welcher den herrschaftsfreien Diskurs verhindert. Ich werde daher in Kapitel 6.2.4 deutlich machen, dass die in Unternehmen realisierte hierarchische Autorität nicht den ‚sank tionsfreien Diskurs‘ gebietet, sondern Schutz- und Mitspracherechte, welche einen Interessenausgleich der sehr gegensätzlichen strategischen Ziele der stake holder in Unternehmen ermöglichen. Nachdem nun die integrative Wirtschaftsethik dargestellt und einige Kritikpunkte diskutiert wurden, möchte ich im Folgenden den von Ulrich skizzierten Trend zum Ökonomismus diskutieren und mögliche Grenzen des Marktes aufzeigen.
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3. Ökonomischer Imperialismus In diesem Kapitel werden zwei Kritikpunkte am ökonomischen Imperialismus und der zunehmenden Ökonomisierung vorgestellt. Nach einer einleitenden Begriffserläuterung zu den Begriffen ‚ökonomischer Imperialismus‘, ‚Ökonomisierung‘ und ‚Ökonomismus‘ (3.1) wird das Projekt des ökonomischen Imperialismus zunächst ausführlich dargestellt (3.2). Anschließend werde ich die zwei folgenden Thesen verteidigen: (1.) Der ökonomische Imperialismus verfolgt eine Form des wissenschaftlichen Reduktionismus, die angesichts der Multidimensionalität menschlicher Handlungsgründe unzulässig ist (3.3). Darüber hinaus begünstigt der ökonomische Imperialismus die Tendenz zur Marktgesellschaft. Diese Tendenz werde ich anhand der zweiten These kritisieren: (2.) Das Übergreifen des Marktes auf gesellschaftlich schützenswerte Bereiche führt zu einer ‚Kolonialisierung‘ der Lebenswelt (3.4).
3.1 Ökonomischer Imperialismus und Ökonomismus: Begriffserläuterung Zur Analyse und Kritik des ökonomischen Imperialismus ist eine strenge Unterscheidung der gerade im deutschsprachigen Raum oftmals ungenau verwendeten Begriffe vonnöten. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich vom ‚ökonomischen Imperialismus‘, der ‚Ökonomisierung‘ und dem ‚Ökonomismus‘ gesprochen. Häufig werden diese Ausdrücke synonym verwendet, sie meinen jedoch sehr unterschiedliches. Das Projekt, dem sich Gary Becker, der geistige Vater dieser Entwicklung in der Ökonomik, Homann und weitere Ökonomen verschrieben haben, ist der ökonomische Imperialismus. Während die Ökonomik früher auf den Gegenstandsbereich der Wirtschaft beschränkt war, impliziert der Begriff Imperialismus den Anspruch, potentiell alle Lebensbereiche mittels der ökonomischen Methode zu untersuchen und mit ihrer Hilfe zu tragfähigen Ergebnissen zu gelangen. Die Ökonomik ist damit nicht mehr „von einem Gegenstandsbereich her definiert, sondern von einer Fragestellung […] nämlich dem Einsatz knapper Mittel für alternative Ziele“ (Homann u. Suchanek 2005, 3). Der von Homann betonte Zusatz, es handle sich um einen methodischen Imperialismus, soll verdeutlichen, dass es nicht um das Projekt der faktischen Vermarktlichung aller
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Lebensbereiche geht, sondern lediglich um die Öffnung des ökonomischen Forschungsfelds für (potentiell) alle Formen der sozialen Interaktion. Demgegenüber beschreibt der Begriff der Ökonomisierung das faktische Vordringen von Märkten „in Bereiche[…], die bisher durch andere Mechanismen geregelt waren“ (Kirchgässner 1997, 128 f.). Unter Ökonomisierung ist demnach die Kommodifizierung von Gütern zu verstehen, welche vormals dem Marktmechanismus entzogen waren. Anschauliche Beispiele wären etwa die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheits- und Bildungssystems sowie der Altenpflege. Hier wird die Distribution der jeweiligen Güter zunehmend nach Maßgabe ihrer relativen Knappheit geregelt. Dies bedeutet in Bezug auf das Gesundheitssystem, dass in Krankenhäusern, die gewinnorientiert arbeiten müssen, Kostenkalkulationen hinsichtlich bestimmter Eingriffe größere Bedeutung erhalten. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Ökonomisierung keinen historisch einseitig progressiven Prozess markiert und einstweilen als wertneutraler Begriff behandelt werden sollte. Ökonomisierung bedeutet zunächst nur, dass ein bestimmtes Gut kommodifiziert wird. Die Ökonomisierung eines Guts kann nicht per se als gesellschaftlich erosiv eingestuft und auf dieser Grundlage abgelehnt werden. Die Evaluierung, ob die Ökonomisierung eines Guts wünschenswert ist, muss vielmehr die jeweiligen Konsequenzen einer (De-)Kommodifizierung gegeneinander abwägen. Beispielsweise handelt es sich bei der kommerziellen Altenpflege, ein vormals meist im Familienverbund organisierter Bereich des Sozialen, um einen relativ jungen Markt. Die Entwicklung dieses Marktes wurde durch Prozesse begünstigt, die allgemein als gesellschaftlicher Fortschritt angesehen werden, wie die Emanzipation der Frau. Aufgrund der wachsenden Zahl berufstätiger Frauen standen diese seltener für die Betreuung der Kinder und die häusliche Pflege der Alten zur Verfügung (ebd., 145). Somit begründet sich die Ökonomisierung der Kinderfürsorge und Altenpflege in erster Linie durch das Aufbrechen der traditionellen Familienund Rollenbilder und die Notwendigkeit, entsprechende Leistungen extern in Anspruch nehmen zu können. Angesichts der jüngst oftmals konstatierten Tendenz zur „Marktgesellschaft“ (Ulrich 2005b, 11) ist zudem darauf hinzuweisen, dass einige Güter heute dekommodifiziert sind, die noch vor einiger Zeit über den Markt distribuiert wurden. So waren in England noch bis in die Neuzeit Parlamentssitze käuflich zu erwerben (Kirchgässner 1997, 130) und während des amerikanischen Bürgerkriegs konnten wohlhabende Bürger der Einberufung entgehen, indem sie jemand anderen dafür bezahlten, ihre Stelle einzunehmen. Wenngleich diese Verfahrensweisen heute als verwerflich angesehen werden, macht Kirchgässner deutlich, dass die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes Gut dem Marktmechanismus unterworfen werden sollte oder nicht, dem Wandel von Wertvorstellungen hinsichtlich der betreffenden Güter unterliegt.
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Teil II: Die Grenzen des Marktes
Zur weiteren begrifflichen Abgrenzung des ökonomischem Imperialismus vom Prozess der Ökonomisierung ist eine Definition von Margaret Jane Radin hilfreich. Sie unterscheidet zwischen „Literal and Metaphorical Markets“ (Radin 1996, 1). Wenn Familien und Geburtsraten aus ökonomischer Perspektive analysiert werden, dann werden diese zwar mit den Analysemethoden der Ökonomik als Märkte behandelt, so Radin. In diesen Märkten werden jedoch nicht tatsächlich Güter gegen Geld getauscht, auch wenn alle Transaktionen mit Kosten verbunden sind. Es bestehen zudem keine rechtlichen Eigentumsansprüche (Gray 1987, 35), weswegen von metaphorical markets zu sprechen ist. Literal markets sind hingegen diejenigen real existierenden Märkte, in denen Güter über das Tauschmittel Geld gehandelt werden (Radin 1996, 1). Ein weiterer erklärungswürdiger Begriff ist der des Ökonomismus. Da dieser bereits im vorigen Kapitel 2.2.2 ausführlich erläutert wurde, genügen hier einige Hinweise. In dem Begriff äußert sich die Kritik an der normativen Ausprägung des ökonomischen Imperialismus und der damit einhergehenden Geisteshaltung. Ökonomismus, so Thielemann, „ist eine ethisch-normative Position, die Ökonomisierung […] zum Prinzip der praktischen Vernunft erhebt“ (Thielemann 2004, 96). Der Begriff Ökonomismus steht also für die Überzeugung, dass die Ökonomisierung ein moralisch vorzugswürdiges Projekt darstellt. Ulrich spricht zudem vom Ökonomismus als der „Großideologie der Gegenwart“ (Ulrich 2005b, 35). Der Ökonomismus, so die These, erkennt in der strategischen Rationalität das entscheidende Kriterium allen Handelns und leitet aus dieser Erkenntnis die Forderung nach der restlosen faktischen Ökonomisierung aller Lebensbereiche ab. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der ökonomische Imperialismus eine bestimmte Forschungsrichtung innerhalb der Ökonomik darstellt, die Ökonomisierung den Prozess der Kommodifizierung eines bestimmten Guts beschreibt, und der Ökonomismus eine bestimmte Auffassung vom gesellschaftlichen Wohl verfolgt. Bevor ich mit der spezifischen Analyse dieser drei Aspekte fortfahre, ist noch auf eine wichtige Frage einzugehen: Warum sollte sich die Wirtschaftsethik überhaupt mit den Grenzen des Marktes auseinandersetzen? Ich habe in Kapitel 2.2.1 die Definition Ulrichs von der Wirtschaftsethik als „Aspektethik“ (Ulrich 2005a, 236) aufgegriffen. Nach diesem Verständnis beschäftigt sich die Wirtschaftsethik mit der Analyse und Kritik der ökonomischen Methode. Sie ist damit nicht auf einen bestimmten Teilbereich, sondern auf ein bestimmtes wissenschaftliches Modell ausgerichtet. Dies erklärt zunächst meine Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Imperialismus und dem Ökonomismus. Wirtschaftsethik beschäftigt sich jedoch nach meinem Verständnis nicht nur mit der Normbegründung und -anwendung für das Subsystem Marktwirtschaft, sondern sie erlangt erst durch die Überschreitung der ökonomischen Perspektive hin zur politischen Philosophie normative Überzeugungskraft. Indem sie aus der Makroperspektive die Gestaltung der Rahmenbedingungen einfordert,
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nimmt sie die ‚gerechte‘ Gesellschaft in den Blick, die von einer „gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung […] gesteuert wird“ (Rawls 1979, 21). Wenn die Wirtschaftsethik sich den Grenzen des Marktes zuwendet, fragt sie nach der angemessenen Rahmenstruktur und dem angemessenen Geltungsbereich des Marktes als Distributionsinstrument. In diesem Sinn muss erörtert werden, inwiefern der ökonomische Imperialismus eine möglicherweise illegitime Ausdehnung des Subsystems Wirtschaft begünstigt.
3.2 Ökonomischer Imperialismus: Darstellung Die methodische Grundlage des ökonomischen Imperialismus bildet das in Kapitel 1.1 dargestellte ökonomische Handlungsmodell. Der ökonomische Imperialismus folgt dabei der gängigen, von Lionel Robbins formulierten Definition der Ökonomik: Economics is the science which studies human behavior as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses. (Robbins 1932, 15)
Die Ökonomik wird als Wissenschaft definiert, deren Fokus auf der Untersuchung des menschlichen Verhaltens unter der Bedingung relativer Ressourcenknappheit sowie (zeitlich stabiler) verschiedener Präferenzen liegt. Akteure verbinden mit den vorhandenen Ressourcen unterschiedliche Ziele und erheben konkurrierende Ansprüche auf deren Verteilung, wodurch sich ein Distributionsproblem ergibt. Ohne Ressourcenknappheit gäbe es keinen Verteilungskonflikt, da alle Ansprüche erfüllt werden könnten (Stigler 1984, 301 f.). Unter diesen Bedingungen, so die Annahme, handeln Individuen stets nutzenmaximierend. Durch den ökonomischen Imperialismus hat diese Definition zwar keinen neuen Gehalt, aber einen neuen Anwendungsbereich erhalten. Während die Definition ursprünglich zur Beschreibung des Verhaltens von Menschen in Marktzusammenhängen genutzt wurde, dient sie nun zur Analyse (potentiell) aller sozialen Interaktion. Die Robbinsche Definition, so Becker, defines economics by the nature of the problem to be solved, and encompasses far more than the market sector […] Scarcity and choice characterize all resources allocated by the political process (including which industries to tax, how fast to increase the money supply, and whether to go to war); by the family (including decisions about a marriage mate, family size, the frequency of church attendance, and the allocation of time between sleeping and waking hours); by scientists (including decisions about allocating their thinking time, and mental energy to different research problems). (Becker 1976, 4)
Die Ökonomik, so definiert, betrifft Interaktionen, die weit über die Markt sphäre hinausreichen, da die allermeisten Entscheidungen von relativer Knappheit und einer begrenzten Auswahl an Handlungsalternativen geprägt sind. Becker hat nicht nur die Politik, sondern auch die Familie, die Heirat, die Nut-
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zung von (Frei-)Zeitkontingenten, Verbrechen und weitere Formen sozialer Interaktion untersucht. Seine Analysen führten ihn zu der Überzeugung, dass das Handlungsmodell auf alle menschlichen Handlungen übertragbar ist (Becker 1976, 8). Dabei sei es lediglich Aufgabe der Ökonomik, so wiederum Homann, dessen Ausführungen weitgehend deckungsgleich mit denen Beckers sind, „die fraglichen Zusammenhänge aus anderen Wissenschaften auf das Problem der Knappheit umzuformulieren“ (Homann u. Suchanek 1989, 84). Wenn also die Psychologie beispielsweise bei Eheproblemen die Entfremdung der Partner anführt, so kann die Ökonomik im Rückgriff auf das Ressourcenparadigma darauf verweisen, dass die Ehepartner nicht mehr ihren gegenseitigen Nutzen maximieren, weil sie ihre knappe Ressource Zeit auf eine nicht nutzenmaximierende Form der Interaktion verwenden. Um diese Herangehensweise näher zu erläutern, lohnt ein ausführlicherer Blick auf Beckers Analyse der Ehe. Hinsichtlich der Entscheidung zu heiraten schreibt Becker: According to the economic approach, a person decides to marry when the utility expected from marriage exceeds that expected from remaining single or from additional search for a more suitable mate […] Similarly, a married person terminates his (or her) marriage when the utility anticipated from becoming single or marrying someone else exceeds the loss in utility from separation, includig losses due to physical separation from one’s children, division of joint assets, legal fees, and so forth. Since many persons are looking for mates, a market in marriages can be said to exist: each person tries to do the best he can, given that everyone else in the market is trying to do the best they can. (Becker 1976, 10)
Dem ökonomischen Modell zufolge heiraten Menschen, weil sie den persönlichen Nutzen des Single-Daseins und der (weiteren) Partnersuche geringer einschätzen als das Eingehen einer lebenslangen Bindung. Bei der Frage, ob sie heiraten sollen, müssen die Partner sich einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterziehen und mithilfe dieser zu einer Entscheidung gelangen, ob der Nutzen einer Ehe deren Kosten übersteigt (ebd., 212). Ein weiterer Grund für die Ehe ist der Wunsch, eigene Kinder großzuziehen. Im Unterschied zu sexueller Befriedigung und Hausarbeit könne man die eigenen Kinder nicht kaufen, so Becker (ebd., 210). Die Ehe ist daher eine preisgünstige und effiziente Möglichkeit, Kinder großzuziehen. Indem Ehepartner zudem einen Haushalt teilen, reduzieren sie die Kosten der Haushaltsführung. Generell maximieren Individuen durch das Eingehen von Ehen ihren gegenseitigen Nutzen, weil sie den beidseitigen (finanziellen, persönlichen) Input optimieren, indem sie diesen in der Hausgemeinschaft zusammenführen. An anderer Stelle spricht Becker davon, dass die Ehe als Zwei-Personen-Firma angesehen werden könne, in der beide Partner als Unternehmer den jeweils anderen anheuerten und hierfür „residual ‚profits‘“ (ebd., 216) erhielten. Es erscheint sonderbar, dass die Vertreter des ökonomischen Imperialismus diese Bezeichnung nicht kritisieren, sondern selbst aufnehmen und begrüßen. Der Begriff ‚Imperialismus‘ wird von Palmowski wie folgt definiert:
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The tendency to strive for control of other countries or regions as colonies or dependencies […] [In Europe, P.S.] there developed a genuine belief in the superiority of Western Culture […] supported by a missionary zeal to spread the Christian religion. (Palmowski 2008, 312 f.)
Der Begriff ist heute eindeutig negativ konnotiert. Die Phase des europäischen Imperialismus wird gegenwärtig vor allem im Hinblick auf die Verbrechen an den kolonialisierten Völkern, die Ausbeutung ihrer Bodenschätze sowie dem absoluten kulturellen und politischen Machtanspruch der christlich geprägten Mächte betrachtet. Dennoch antwortet Becker in einem Interview auf die Frage, was er unter dem Terminus ‚ökonomischer Imperialist‘ versteht: [T]he horizons of economics need to be expanded. Economists can talk not only about the demand for cars, but also about matters such as the family, discrimination, and religion, and about prejudice, guilt, and love […] In that sense, it’s true: I am an economic imperialist. I believe good techniques have a wide application. (Becker 1993)
Der letzte Teil des Zitats macht deutlich, was den Begriff ökonomischer Imperialismus vom herkömmlichen Begriffsverständnis abhebt. Der ökonomische Imperialismus strebt nach einer breiteren Anwendung der ökonomischen Methode, nicht nach der alleinigen Deutungshoheit des Erklärungsmodells in den Wissenschaften. Er ist imperialistisch „nur in Bezug auf die möglichen Gegenstände ökonomischer Forschung“ (Homann 2006, 8). Dies bedeutet allerdings auch, dass er sich Fragen zuwendet, die zuvor von anderen Wissenschaftsbereichen erörtert und besetzt wurden. Es ist daher zu klären, in welchem Verhältnis der ökonomische Imperialismus zu den durch die Nachbarwissenschaften erhobenen Geltungsansprüchen steht. Zunächst ist festzuhalten, dass jede Wissenschaft imperialistische Züge trägt. Jede Einzelwissenschaft strebt nach einer möglichst umfassenden Erklärung der Wirklichkeit auf Grundlage ihrer Methoden und Annahmen (Homann u. Suchanek 1989, 83). Lange wurde die Philosophie als Universalwissenschaft verstanden, die auf der Suche nach Wahrheit als Wissenschaft der Wissenschaften fungierte. Die Neurobiologie versucht gegenwärtig, das Phänomen des Bewusstseins mithilfe der fortschreitenden Entschlüsselung der Gehirnaktivitäten zu erklären. Die Psychologie möchte auf Grundlage empirischer Beobachtungen die Gesamtheit menschlicher Verhaltensweisen deuten. Die imperialistische Ökonomik schließlich analysiert das Verhalten des Menschen in sozialen Kontexten mithilfe des ökonomischen Handlungsmodells. Dabei betonen ihre Vertreter, dass es nicht um den alleinigen Geltungsanspruch bei der Bewertung wissenschaftlicher Phänomene geht: Although I am arguing that the economic approach provides a useful framework for understanding all human behavior, I am not trying to downgrade the contributions of other social scientists, nor even to suggest that the economist’s are more important. (Becker 1976, 14)
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Die imperialistische Ökonomik ist offen, was die Gegenstandsbereiche ihrer Forschung angeht, aber nicht, was ihre Annahmen und Methode betrifft. Diese Fragestellung begrenzt den epistemologischen Rahmen der möglichen Ergebnisse: die imperialistische Ökonomik fragt, wie Individuen als Nutzenmaximierer bei relativer Ressourcenknappheit handeln. Die Antworten auf diese Frage umfassen daher nicht alle theoretisch möglichen Erkenntnisbereiche, sondern sie sind limitiert durch die Prämissen des ökonomischen Handlungsmodells. Die Ökonomik ist grundsätzlich keine „Mikrotheorie“ (Homann 2002b, 125), d.h. über den einzelnen Menschen als solchen vermag sie nichts zu sagen, sondern nur über den Menschen als homo oeconomicus. Der ökonomische Imperialismus erkennt folglich die Erkenntnisse anderer Wissenschaftszweige unter den Prämissen ihrer jeweiligen Annahmen und Methoden an (Homann 2006, 8 f.). Es sollte deutlich geworden sein, dass der ‚Imperialismus‘ der Ökonomik trotz seiner etymologischen Herkunft nicht die Verdrängung herkömmlicher Erklärungsmuster aus anderen Wissenschaftsfeldern impliziert, sondern lediglich die Erweiterung des ökonomischen Forschungsspektrums kennzeichnet. Die ökonomische Methode, so Homann, „findet ihre Grenze grundsätzlich an der Legitimität anderer Problemstellungen“ (Homann 2002b, 125). Es stellt sich die Frage: Auf welcher Grundlage sollte diese Auffassung der Ökonomik kritisiert werden?
3.3 Ökonomischer Imperialismus: Kritik Bevor ich mich den Kritikpunkten an der imperialistischen Strömung innerhalb der Ökonomik im Einzelnen zuwende, möchte ich vorab offenlegen, welche Denkmuster und Überzeugungen sich durch diese Kritik offenbaren. Die angeführten Argumente lassen sich allgemein der Kulturkritik zuordnen. Die Kulturkritik vereint sowohl reaktionäre Tendenzen gegen die empfundenen Zumutungen der Gegenwart als auch die „Pathologiebefunde der Moderne wie Entfremdung, Verdinglichung oder Rationalisierung“ (Bollenbeck 2007, 9). Dabei kann sie durchaus fruchtbare Einsichten hervorbringen. Sie kann den Blick auf die Gegenwart schärfen, indem sie auf die „Verlustgeschichten“ (ebd.) hinweist, welche diese Gegenwart prägen: Kulturkritik erwächst aus der wertenden Rekonstruktion unterschiedlicher zivilisatorischer Zustände; sie hinterfragt den Fortschritt des eigenen Zeitalters, lehnt die eigene Gegenwart mit Blick auf die Opfer der Individuen ab und sucht nach Auswegen in der Zukunft. Dieses triadische Denken unterscheidet sie von einem Fundamentalpessimismus, der nicht nur die gegenwärtige Epoche, sondern das Dasein schlechthin verwirft. (Ebd., 20)
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Die im Folgenden zusammengetragenen Argumente gegen den ökonomischen Imperialismus weisen im obigen Sinne sowohl einen kulturkonservativen und zugleich emanzipatorischen Charakter auf. Sie zielen auf die kulturerodierenden Folgen, welche die zunehmende Kommodifizierung gesellschaftlicher Güter nach sich zieht, und unterstreichen, inwiefern hierdurch etwas verloren geht. Gemeinsam ist diesen Argumenten, dass sie eine jüngere gesellschaftliche Entwicklung kritisieren, die als Gefährdung für das Fortbestehen bestimmter Werte und sozialer Praktiken angesehen wird. Hierunter fällt auch die seit den 1970er Jahren zu beobachtende imperialistische Tendenz innerhalb der Ökonomik. Zu kritisieren wäre vom kulturkritischen Standpunkt in erster Linie, dass durch die Betrachtung bestimmter sozialer Praktiken mithilfe der ökonomischen Methode ihr symbolischer und sozialer Wert unterminiert wird. Bevor ich zu den einzelnen Kritikpunkten komme, ist es wichtig, vorab festzustellen, dass keiner der im Folgenden angebrachten Kritikpunkte als formal hinreichende Widerlegung des ökonomischen Imperialismus gelten kann. Sie zeigen vielmehr auf, inwiefern dieser kulturkritisch eingefangen und hinterfragt werden kann. Zunächst ist im Hinblick auf den ökonomischen Imperialismus darauf hinzuweisen, dass das Selbstverständnis hinsichtlich der Deutungshoheit der ökonomischen Methode bei einigen Vertretern nicht so bescheiden ist wie bisher dargestellt. Homann spricht beispielsweise davon, dass die Ökonomik „die führende Position innerhalb der Sozialwissenschaften übernommen“ (Homann u. Suchanek 1989, 71) habe. Kirchgässner ist überzeugt, dass das ökonomische Handlungsmodell nun in „Konkurrenz zu den bisher vorherrschenden Paradigmen“ (Kirchgässner 2000, 155) in den Nachbarwissenschaften tritt. Der ökonomische Imperialismus offenbart hiermit sehr wohl einen Herrschaftsanspruch innerhalb der Sozialwissenschaften. Gegen Kritiker dieses Selbstverständnisses lässt sich einwenden, dass wissenschaftliche Konzepte und Theorien sich in erster Linie dann durchsetzen, wenn ihre Methoden belastbare Ergebnisse hervorbringen. Wenn sich also herausstellt, dass das ökonomische Handlungsmodell neue Erkenntnisse über die Ehe, das Rechtssystem, die Politik, das normkonforme Handeln etc. hervorbringt, sollten die Nachbardisziplinen dankbar dafür sein, wie Kirchgässner ausführt: Die Diskussion hat gezeigt, dass mit diesem neuen Paradigma Probleme angegangen werden können, die sich den bisher verwendeten Paradigmen eher verschlossen hatten. (Kirchgässner 2000, 155)
Ob die in den Nachbardisziplinen bisher vorherrschenden Forschungsparadigmen dadurch Gefahr laufen, unterminiert zu werden, ist letztlich eine Frage der fachlichen Auseinandersetzung und Selbstbehauptung wissenschaftlicher Modelle. Es ist allerdings zu untersuchen, ob der ökonomische Imperialismus nicht die Reichweite und Aussagekraft seines Modells überschätzt. Im Folgen-
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den werde ich diese Frage anhand zweier Thesen kritisch durchleuchten. Meine erste These lautet: (1.) Der ökonomische Imperialismus verfolgt eine Form des wissenschaftlichen Reduktionismus, der angesichts der Multidimensionalität menschlicher Handlungsgründe unzulässig ist.
Der ökonomische Imperialismus evaluiert alle für den Menschen bedeutsamen Entitäten im Hinblick auf ihre Werthaltigkeit, im Sinne ihres (wenngleich häufig nur metaphorischen) objektiven Nutzens. Dadurch propagiert er eine eindimensionale ‚Welt des Wertes‘ (Radin 1996, 2), in der alle Güter als Waren aufgefasst werden. In dieser Hinsicht, so die Kritik, befördert der ökonomische Imperialismus die Tendenz zur faktischen Ökonomisierung der Gesellschaft: Anything that some people are willing to sell and that others are willing to buy can and should in principle be the subject of free market exchange. All social interactions are conceived of as free market exchanges […] In the framework of universal commodification, the functions of government, wisdom, a healthful environment, and the right to bear children are all commodities. (Ebd., 2 f.)
Nun lässt sich einwenden, dass der ökonomische Imperialismus gar nicht ‚den Menschen‘ als solchen im Blick hat. Wenn also die Fortpflanzungsfähigkeit als Ware betrachtet wird, dann soll dies nicht suggerieren, diese sei nichts anderes als eine Ware, sondern nur, dass man sie als Ware betrachten kann. Der Fehlschluss, den der ökonomische Imperialismus begeht, besteht jedoch nicht darin, Güter überhaupt als Waren zu betrachten, sondern in der Auffassung, diese ließen sich ohne Bedeutungsverlust als Ware darstellen. Der ökonomische Imperialismus nimmt an, „that all goods can be translated without loss into a single measure or unit of value“ (Sandel 2000, 104). Ich werde zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Hierzu möchte ich auf die ökonomische Analyse der Ehe zurückzukommen. Lässt sich der ‚Wert‘ eines Partners in der Formel der Nutzenmaximierung äquivalent wiedergeben? Radin ist der Auffassung, der ökonomische Imperialist müsse dies annehmen, wenn er behauptet, dass der individuelle Wert mit seinem Austauschwert gleichgesetzt werden kann (Radin 1996, 3). Sie bringt ein erhellendes Beispiel ein, welches die Schwächen dieser Erklärung aufzeigt. Ein Mann hat die Möglichkeit, eine Tätigkeit in einer fernen Stadt anzunehmen, die ihm 100.000 US-Dollar mehr einbringen könnte als bisher, dafür wird er seine Partnerin nicht mehr sehen können (ebd., 11). Wenn diese Konstellation in die Kosten-Nutzen-Gleichung übersetzt wird, so bedeutet dies, dass die Entscheidung für oder gegen den Job de facto eine Entscheidung über den individuellen Nutzen seiner Frau ist. Radin geht sogar so weit, zu behaupten, dies sei eine Entscheidung über den monetären Wert seiner Frau: By making the ‚trade-off‘ of his spouse’s company in return for $100.000, the man ‚reveals‘ that the dollar value he places on his spouse’s company is less than $100.000. (Radin 1996, 11)
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Der Ökonom würde allerdings darauf hinweisen, dass der trade-off ein Abwägungsprozess über den jeweiligen Nutzenwert des Gehalts im Vergleich zur dauerhaften Gesellschaft seiner Frau ist, nicht aber über ihren monetären Wert. 1 Die ökonomische Analyse der Ehe fragt danach, welche ökonomischen Faktoren eine Beziehung tatsächlich zusammenhalten, neben den oberflächlichen (und offensichtlich fehlgeleiteten) Begründungen aus der Alltagspsychologie. Der Ökonom Jean-Luc Migué schreibt hierzu: [B]eide Haushaltsparteien versuchen mit Hilfe ihres langjährigen Ehevertrages Transaktionskosten sowie das Risiko zu vermeiden, plötzlich der Inputs des Ehepartners sowie der gemeinsamen Outputs beraubt zu sein. Denn im Grunde ist doch die Ehe nichts anderes als eine vertragliche Verpflichtung beider Parteien zur Lieferung bestimmter Inputs und zur Aufteilung des Haushalts-Outputs […] (Migué2, zitiert nach Lepage 1979, 195)
Der Kategorienfehler des ökonomischen Imperialismus besteht in dem Analogieschluss von Unternehmen und Partnerschaften. Wenngleich gerade Ehen eine bestimmte ökonomische Grundlage und entsprechenden Nutzen haben, so stellt doch die Aussage, sie seien strukturiert wie Unternehmen, eine unsachgemäße Verkürzung des komplexen sozialen Geflechts ‚Partnerschaft‘ dar. In der Divergenz zwischen der objektiven ökonomischen Analyse und der alltagspsychologischen subjektiven Beschreibung von Partnerschaften wird zudem ein fundamentaler Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität deutlich, den Thomas Nagel treffend charakterisiert hat. Nagel erkennt in dem Ziel, alle Entitäten in einer objektiven Beschreibung wiedergeben zu wollen, eine bestimmte, unbegründete Form des Idealismus: Hier zeigt sich, dass der Materialismus3 letzten Endes auf einer Form des Idealismus gründet: auf dem Idealismus der Objektivität. Die Objektivität ist nicht die Wirklichkeit. Sie ist nur eine Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verstehen. (Nagel 1991, 30)
Wenn man dieses Argument auf die ökonomische Analyse der Ehe überträgt, so lässt sich schlussfolgern, dass der Idealismus des ökonomischen Imperialismus sich in dem Glauben manifestiert, eine adäquate, objektive Erklärung für das Bestehen und Auseinanderbrechen von Partnerschaften liefern zu können. Nagel weist jedoch darauf hin, dass der Materialismus nur einen Zugangspunkt zur Wirklichkeit darstellt. Daneben gibt es noch das, was Nagel als „subjective character of experience“ (Nagel 1995, 160) bezeichnet. Alltagspsychologische 1
Ich danke Thomas Weitner für hilfreiche Kritik. Zitat ist im Original nur in französisch zugänglich, daher zitiere ich nach Lepage in der deutschen Übersetzung. 3 Nagel hat hier den ontologischen Materialismus im Blick, also die wissenschaftliche Überzeugung, alles Leben auf Grundlage seiner materiellen Existenz erklären zu können. Die Kritik Nagels lässt sich jedoch auf den ‚Materialismus‘ des ökonomischen Imperialismus anwenden. Kritikwürdig ist bei beiden Forschungsströmungen die Überzeugung, alle Entitäten erschlössen sich vollständig einer objektiven Beschreibung. 2 Das
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Überzeugungen und moralische Grundsätze spielen wohl für das Fortbestehen von Partnerschaften eine ungleich größere – wenngleich rein subjektive – Rolle als die Nutzenmaximierung. Habermas betont die Bedeutsamkeit der subjektiven Erfahrung mithilfe des Begriffs der ‚Lebenswelt‘, welchen er zur Beschreibung der Einstellungen und Überzeugungen, die unser Dasein konstituieren und ordnen, benutzt. Diese Lebenswelt bildet den subjektiven Erfahrungsraum des Individuums. Sie sei, so Habermas, auf einem „kulturellen Wissensvorrat“ aufgebaut, dessen Geltungsansprüche die Handelnden zwar hinterfragen, aber demgegenüber sie keine „extramundane Stellung“ einnehmen könnten (Habermas 1981b, 191). Dies bedeutet, dass Handelnde in ihrer subjektiven Lebenswelt gewissermaßen beheimatet sind. Die Lebenswelt hat mithin einen anderen Status als die objektive Welt wissenschaftlicher Theorien und Erkenntnisse. Mit ihrer Hilfe können sich Sprecher und Hörer nicht auf etwas als ‚etwas Intersubjektives‘ beziehen. Die kommunikativ Handelnden bewegen sich stets innerhalb des Horizonts ihrer Lebenswelt […] die Grenzen der Lebenswelt lassen sich nicht transzendieren. (Ebd., 191 f., 201)
Der ökonomische Imperialist könnte nun erwidern, dass der Verweis auf die Lebenswelt einen Punkt betrifft, der den Ökonomen gar nicht interessiert, namentlich die Innenwelt der betroffenen Personen. Dem lässt sich entgegenhalten, dass die Lebenswelt für die Individuen nicht nur ein Nebenprodukt ihrer veräußerten Präferenzen ist, sondern dass sie konstitutiv für ihre Erfahrung der Wirklichkeit – und somit auch die Bildung ihrer Präferenzen – ist. Wenn also stabile Partnerschaften (durch kulturell überlieferte und verfestigte Überzeugungen) in der Lebenswelt der handelnden Individuen einen Wert an sich haben, und gesellschaftliche Konstrukte wie die Liebesheirat und die Familie als Konzepte internalisiert und realisiert werden, dann kann man diese nicht in eine Kosten-Nutzengleichung übersetzen, ohne dass sie ihrer kulturellen Bedeutung beraubt werden. Daher lässt die ökonomische Analyse etwas Entscheidendes aus, wenn sie Partnerschaften als Transaktionsverhältnisse untersucht. Der Vorwurf läuft darauf hinaus, dass die Fragestellung des ökonomischen Imperialismus im Hinblick auf sein Forschungsobjekt als falsch zurückzuweisen ist. Partnerschaften lassen sich nicht ohne Bedeutungsverlust als Transaktionsverhältnisse darstellen. Um dieses Argument weiter zu vertiefen, möchte ich auf die Argumentation Michael Walzers hinsichtlich der angemessenen Sphäre des Geldes verweisen. Walzer wendet sich unter anderem der Frage zu, inwiefern das Medium Geld den tatsächlichen Wert einer Entität wiedergeben kann. Zunächst verkörpert der Preis das monetäre Wertäquivalent eines Gegenstandes. Insofern, so Walzer, könne die Behauptung, jedes Gut sei durch Geld adäquat abbildbar, durchaus „Plausibilität beanspruchen“ (Walzer 1992, 152). Jedoch beharrt Walzer auf der Feststellung, dass die ausschließliche Bewertung über das Medium Geld den tatsächlichen Wert eines Guts nur sehr unzureichend darstellt:
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[O]ft genug ist das Geld nicht imstande, den Wert zu verkörpern; die Übersetzungen werden zwar vorgenommen, aber es geht – wie bei guter Poesie – etwas verloren in diesem Prozess. D.h., wir können nur dann universell kaufen und verkaufen, wenn wir die realen Werte außer Acht lassen; wenn wir sie hingegen ins Zentrum stellen, dann gibt es Dinge, die nicht umstandslos gekauft bzw. verkauft werden können – spezielle Dinge, denn die abstrakte Universalität des Geldes wird unterhöhlt und eingeschränkt durch die Schaffung von Werten, die sich nicht ohne Weiteres in Geld ausdrücken und auspreisen lassen, oder von denen wir gar nicht wollen, dass sie mit einem Preis versehen werden. (Ebd.)
Hier wird deutlich, worum es Kritikern des ökonomischen Imperialismus geht. Bei manchen Gütern wird durch die „Bepreisung“ (Vogl 2010, 139) ihr tatsächlicher Wert unzureichend wiedergegeben. Hiermit sollte die Frage, welchen Erkenntnisgewinn der ökonomische Imperialismus für die Innenperspektive der Handelnden verspricht, hinreichend beantwortet sein. Die Ökonomik liefert mit der reduktionistischen Herangehensweise des Ressourcenparadigmas eine wirklichkeitsfremde Darstellung von Partnerschaften, indem sie diese als allein von ökonomischen Interessen geleitetes Unternehmen charakterisiert. Es ist daher fragwürdig, welchen Gewinn ihre Analyse der Partnerschaft für die Sozialwissenschaften darstellen könnten. Um den Vorwurf des unzulässigen Reduktionismus weiter zuzuspitzen, ist ein Exkurs zum wissenschaftlichen Reduktionismus vonnöten.4 Der Biologe Arthur Peacocke unterscheidet in Bezug auf den reduktionistischen Ansatz in den Naturwissenschaften zwischen methodologischem, ontologischem und epistemologischem Reduktionismus. Den methodologischen Reduktionismus definiert er als the necessity the practising scientist finds of studying problems that are presented to him at a given level of complexity […] by breaking down both the problem and the entities studied into pieces and proceeding by exploring the lower as well as the higher levels of organization. (Peacocke 1985, 9)
Der methodologische Reduktionismus beschreibt das Vorgehen, ein auf einer bestimmten Komplexitätsstufe präsentiertes wissenschaftliches Problem in seine einzelnen Bestandteile zu zergliedern, um das untersuchte Phänomen auf den verschiedenen Ebenen seiner Organisation analysieren zu können. Der methodologische Reduktionismus analysiert also eine Entität aufgrund des Verhaltens der sie zusammensetzenden Teile. Gerade in der Molekularbiologie und den Neurowissenschaften sei der methodologische Reduktionismus sehr erfolgreich, so Peacocke (ebd.). Im Unterschied zum methodologischen Reduktionismus, der die Existenz komplexer höherstufiger Systeme anerkennt, fasst der ontologische Reduktio4 Eine frühere Version dieser Darstellung des wissenschaftlichen Reduktionismus findet sich in meiner Magisterarbeit Die zeitgenössische Qualia-Diskussion. Ruhr-Universität Bochum, 2008.
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nismus biologische Systeme als nichts anderes als komplexe Strukturen von Molekülen auf. Dieser Sichtweise zufolge sind biologische Systeme ausschließlich auf Grundlage der Analyse der atomaren und zellulären Strukturen, aus denen sie sich zusammensetzen, zu verstehen (ebd., 11). So seien beispielsweise Menschen nicht aufgrund ihres Verhaltens als Menschen zu erklären, sondern durch das Verhalten großer Nervenzellenverbände und Moleküle (Bennett u. Hacker 2005, 355). Eine dritte Form des Reduktionismus bildet der epistemologische Reduktionismus. Dieser geht von der Annahme aus, dass die Gesetze und Vorhersagen einer höherstufigen Theorie (z.B. der Psychologie) als spezielle Gesetze einer niederstufigeren Theorie (z.B. der Neurowissenschaften) dargestellt werden können, wenn sich die Gesetze der ersten Theorie auf die Gesetze der zweiten Theorie reduzieren lassen (Peacocke 1985, 15). Nun lässt sich spezifizieren, welche Form des ökonomischen Reduktionismus ich kritisiere. Solange dieser sein Forschungsziel im Sinne des methodologischen Reduktionismus verfolgt, lassen sich von wissenschaftstheoretischer wie kulturkritischer Seite kaum gehaltvolle Kritikpunkte an ihn herantragen. Er ist dann reduktionistisch nur insofern als er die Komplexität des präsentierten Sachverhalts reduziert. Er erkennt gleichzeitig an, dass die methodische Reduktion andere als valide ausgewiesene Analysemethoden auslässt. Diese Art des Reduktionismus scheint Homann zu postulieren, wenn er davon spricht, dass andere Problemstellungen, z.B. aus der Soziologie oder Psychologie, eher „komplementär“ (Homann 2002b, 127) als falsifizierend behandelt werden. Von daher sei auch der Vorwurf des ökonomischen Reduktionismus falsch: Mit ‚Reduktionismus‘ hat eine konsequent durchgehaltene ökonomische Methode […] also nicht das geringste zu tun, weil grundsätzlich alle Problemperspektiven auf solche methodischen Komplexitätsreduktionen angewiesen sind. (Homann 2002b, 128)
Dem ist zuzustimmen. Die Spezialisierung der Wissenschaftsbereiche bedingt die Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion und die Fokussierung auf eine bestimmte Fragestellung. Wenn der ökonomische Imperialist jedoch davon spricht, die Ehe sei nichts anderes als ein Unternehmen, dann scheint er eher auf das Projekt des ontologischen Reduktionismus zu zielen. Hiermit würden soziale Beziehungen allein als das Ergebnis einer Vielzahl von Vor- und Nachteilskalkulationen dargestellt, was in unzulässiger Weise die tatsächliche Vielfalt an Handlungsgründen reduziert. Zuletzt ist der ökonomische Imperialismus epistemologisch reduktionistisch, wenn er behauptet, die Ökonomik habe die „Führung in den Sozialwissenschaften“ übernommen und die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Nachbardisziplinen ließen sich ohne Bedeutungsverlust auf das ökonomische Modell reduzieren. Diese Haltung nimmt Homann an anderer Stelle an, wenn er die Rekonstruktion der Ethik durch die Ökonomik mittels der Erweiterung des Präferenzbegriffs bespricht:
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Ökonomik wird allein durch die Methode der allgemeinen Vorteils-/Nachteils-Kalkulation mit offenem, formalen Vorteilsbegriff bestimmt […] Die ‚Solidarität‘ aller Menschen wird nicht mehr dualistisch, als ‚Pflicht‘ oder als externer ‚Wert‘ etwa, der Ökonomik vorgehalten […] sie ist vielmehr in die Methode der positiven Ökonomik qua Interaktionsökonomik endogenisiert […] Mit diesem theoretischen Ansatz sind alle grundlegenden ethischen Fragestellungen ökonomisch rekonstruierbar […] (Homann 2002c, 179 f.).
Es sind Zweifel angebracht, was das Projekt der Endogenisierung der Ethik durch die Ökonomik angeht. Mir ist unklar, wie sich normative Konzepte wie ‚Pflichtbewusstsein‘ oder ‚Solidarität‘ allein auf Grundlage des Vorteilsbegriffs begründen und aufrechterhalten ließen. Die Komplementarität der Paradigmen von Ethik und Ökonomik ist angesichts des Projekts der ‚Endogenisierung‘ unmöglich; die Ökonomik beansprucht hiermit schließlich, die traditionelle Ethik zu ersetzen. Dieser Zielsetzung ist entgegenzuhalten, dass es offensichtlich einen Bereich des menschlichen Verhaltens gibt, der durch die Ökonomik nicht explizierbar ist. Dieser Bereich bildet eine natürliche und wohl begründete Grenze des Anwendungsbereichs der ökonomischen Methode: dort, wo menschliches Handeln nicht (ausschließlich oder nur teilweise) durch strategische Rationalitätserwägungen geleitet ist, verliert das Modell durch seine methodologisch und epistemologisch selbst gesetzten Beschränkungen seine Aussagekraft. Altruistisches Verhalten gegenüber Fremden oder Handeln aus Pflichtgefühl (vgl. Sen 1979); diese Verhaltensweisen mögen auch durch Gegenseitigkeitserwartungen und Präferenzen begründet sein. Keinesfalls aber lassen sie sich hierauf reduzieren. Joseph Vogl hat bezüglich der Zielsetzung des ökonomischen Imperialismus eine erhellende Skizzierung geliefert. Diesem ginge es weniger darum, die Totalität von Verhaltensformen auf die Anforderungen von Markt und Wettbewerb hin auszurichten, als umgekehrt darum, in der Gesamtheit von individuellen Praktiken und Regungen, von Projekten, Zielsetzungen und Entscheidungen die Spurenelemente von Marktförmigkeit zu aktivieren. (Vogl 2010, 136)
Der ökonomische Imperialist und mit ihm der Ökonomismus möchten aus den „Spurenelementen“ von strategisch rationalem Handeln die handlungsleitende Maxime aller Handlungen ableiten, indem er sie darauf reduziert. Was aber betreibt er dann anderes als die unzulässige, weil nicht ausreichend begründete, epistemologische Reduktion der Ethik auf die Ökonomik? So unwahrscheinlich es ist, dass die Psychologie und die Philosophie des Geistes sich gänzlich auf die Neurowissenschaften wird reduzieren lassen, so unwahrscheinlich ist es, dass ethische Theorien und moralische Überzeugungen vollständig in das ökonomische Modell endogenisierbar sind. Ich komme zum zweiten Kritikpunkt, der weniger den ökonomischen Imperialismus betrifft als die durch ihn beförderte faktische Ökonomisierung.
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3.4 Zur Ökonomisierung der ‚Lebenswelt‘ Im Folgenden werde ich die oben angeführte zweite These diskutieren: (2.) Das Übergreifen des Marktes auf gesellschaftlich schützenswerte Bereiche führt zur ‚Kolonialisierung‘ der Lebenswelt.
Zahlreiche Autoren kritisieren die Ausweitung des Marktmechanismus auf Bereiche, die zuvor durch andere Verteilungsmechanismen koordiniert wurden. Ihre Argumente sind im Sinne der obigen Definition von Kulturkritik als Verlustgeschichten zu deuten, insofern sie sich gegen die kulturerodierenden Folgen der Kommodifizierung bestimmter Güter wenden. Jürgen Habermas beispielsweise hat den Begriff der ‚Kolonialisierung‘ der Lebenswelt geprägt. In ihm steckt bereits, wie im Begriff Imperialismus, die Bedeutung des unzulässigen Übergriffs: Die These der inneren Kolonialisierung besagt, dass die Subsysteme Wirtschaft und Staat infolge des kapitalistischen Wachstums immer komplexer werden und immer tiefer in die […] Lebenswelt eindringen. (Habermas 1981b, 539)
Habermas ist überzeugt, dass die Ausweitung des Marktes die innere Aushöhlung der Lebenswelt bedingt. Er prognostiziert den unwiederbringlichen Verlust der durch den Markt kolonialisierten und somit ihrer ursprünglichen Funktion beraubten sozialen Praktiken: Inzwischen scheint es […] so zu sein, dass die systemischen Imperative eingreifen in Handlungsbereiche, von denen man zeigen kann, dass sie, gemessen an der Art ihrer Aufgaben, nicht gelöst werden können, wenn sie kommunikativ strukturierten Handlungsbereichen entzogen werden. Dabei handelt es sich um Aufgaben der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation. Die Frontlinie zwischen Lebenswelt und System bekommt damit eine ganz neue Aktualität. Heute dringen die über die Medien Geld und Macht vermittelten Imperative von Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die irgendwie kaputt gehen, wenn man sie vom verständigungsorientierten Handeln abkoppelt und auf solche mediengesteuerten Interaktionen umstellt. (Habermas 1985, 189)
Die These der inneren Kolonialisierung soll deutlich machen, dass manche Handlungsbereiche vor dem Eindringen des Marktmechanismus geschützt werden müssen, da ihre Kommodifizierung der Zerstörung ihrer gesellschaftlichen Funktion gleichkommt. Hierzu, so Habermas, gehören kulturelle Einrichtungen, die Familie oder die Bildung. Die bislang noch etwas vage Kritik an der Ökonomisierung und Kolonialisierung der Lebenswelt lässt sich nun spezifizieren. Das gesellschaftliche Subsystem Marktwirtschaft beginnt, wenn es auf ursprünglich nichtmarktlich organisierte Teilbereiche übergreift, gesellschaftlich erodierend zu wirken, indem es soziale Interaktionen ganzheitlich zu Markttransaktionen transformiert und somit der Entwicklung einer reinen Marktgesellschaft Vorschub leistet. Haber-
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mas spricht hier von der Tendenz zur „Verrechtlichung informell geregelter Sphären der Lebenswelt“ (Habermas 1981b, 540), also der Umwandlung von persönlichen in Vertragsverhältnisse. Durch das Übergreifen des marktwirtschaftlichen Systems auf die Lebenswelt wird diese innerlich kolonialisiert und somit ihres gesonderten Status beraubt. Dass dieser Übergriff in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt festzustellen ist, ist ein Ergebnis der „Schwächung funktionaler Differenzierung“ (Vogl 2010, 137) von Markt und Lebenswelt. In der Auflösung der funktionalen Differenzierung von Markt und Gesellschaft besteht also die kulturkritisch zu erfassende Gefährdung durch die Ökonomisierung. Nun könnte man diese allgemein gehaltene moralische Entrüstung über gegenwärtige Entwicklungen mit dem schlichten Hinweis entkräften wollen, dass die Kommodifizierung bestimmter Lebensbereiche ja nicht gegen den Willen der Handelnden geschehe, sondern durch diese aktiv befördert wird. Der Wettbewerb um Partnerschaften und Lebensglück oder auch die zunehmende Privatisierung von medizinischen Leistungen sowie des Bildungsbereichs sind Entwicklungen, welche mit implizierter oder expliziter (durch das demokratische Verfahren legitimierter) Zustimmung der Bürger einhergingen. Worin besteht dann die Gefahr der Ökonomisierung und welche legitimen Einwände lassen sich gegen diese Tendenz vorbringen? In diskursethischer Diktion ginge es darum zu zeigen, inwiefern, trotz der impliziten oder expliziten Zustimmung der Bürger zur Kommodifizierung genannter Gesellschaftsbereiche, die Forderungen zur Dekommodifizierung „erkennbar ein allen Betroffenen gemeinsames Interesse verkörpern“ (Habermas 1983, 75). Robert Kuttner diskutiert die potentiellen Folgen der Ökonomisierung. Zunächst bespricht er den auch von Radin angeführten Domino-Effekt (Radin 1996, 139 f.). Sobald ein Gut nur teilweise kommodifiziert ist, kann dieser Umstand dazu führen, dass eine nicht wettbewerbskonforme Verfahrensweise aus dem nun entstehenden Markt verdrängt wird. Zudem wirkt sich das vorteilsorientierte Handeln, welches marktförmige Verfahrensweisen mit sich bringen, negativ auf die Möglichkeit anderer Handlungsgründe aus: Faced with an onslaught of competitive pressure, nonmarket institutions, like charity hospitals or public television or ‚amateur‘ sport, begin looking and behaving more like profit-making ones. The second danger is that market norms drive out nonmarket norms […] When everything is for sale, the person who volunteers time, who helps a stranger […] who forgoes an opportunity to free-ride, begins to feel like a sucker. (Kuttner 1999, 62 f.)
Wo das Kriterium des Wettbewerbs zur bestimmenden Norm wird, sind alle Betroffenen dem Druck ausgesetzt, sich marktkonform zu verhalten und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Dies bedeutet im Bildungsbereich, dass Schulen unter verstärkte Konkurrenz geraten und Universitäten sich zunehmend wie Unternehmen gerieren müssen, um die besten Dozenten und Studenten zu ak-
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quirieren. Die Öffnung dieser Bereiche für den Wettbewerb generiert mitunter den Zwang zur Nutzenmaximierung, um bestehen zu können. Ein Beispiel: Die Einführung der W-Besoldung für Universitätsprofessoren ging einher mit einer stärker leistungsbezogenen Staffelung des Gehalts. Dies bedeutet, dass neben dem Grundgehalt die jeweilige Performance des Lehrenden entscheidend ist. Oftmals entscheidet sich die Höhe des tatsächlichen Gehalts „auf der Grundlage eines merkwürdigen Wettbewerbs – vor allem um die Einwerbung von Drittmitteln“ (Janisch 2011). Ob dies angesichts des vielseitigen Anforderungsprofils der Dozententätigkeit als angemessenes oder gar alleiniges Kriterium zur Bemessung der Gehaltshöhe dienen kann, darf bezweifelt werden. Die wettbewerbskonforme Gestaltung der Lehrtätigkeit ist hier als Systemimperativ zur wettbewerblichen Ausgestaltung des Bildungsmarkts anzusehen. Es bleibt die Frage, ob eine solche Entwicklung bildungspolitisch wünschenswert ist. Die hier skizzierte Entwicklung zur Vermarktlichung verschiedener Gesellschaftsbereiche bedingt die zweite Gefahr, welche Kuttner bespricht. Wenn Wettbewerbsfähigkeit zur handlungsleitenden Norm wird, dann haben andere Handlungsstrategien keine Chance, zu bestehen. Homann hat dies eindrücklich am Beispiel der Marktwirtschaft deutlich gemacht. „Die Akteure sollen sich systemkonform verhalten“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 51) und strategisch rational handeln, da nur diese Handlungsweise die erwünschten Ergebnisse hervorbringt. Alle zuwider laufenden Handlungsorientierungen sind ruinös für den Einzelnen und ziehen negative Folgen für die Allgemeinheit nach sich. Wenn nun aber dieses Wirtschaftsparadigma auf andere Lebensbereiche übergreift, dann bedeutet dies, dass altruistisches Verhalten und Hilfsbereitschaft bestraft werden, weil sie eine nicht genutzte Chance zur Nutzenmaximierung darstellen. Was ist angesichts dieser Entwicklung gefordert? Habermas plädiert für die „Eindämmung des monetär-administrativ-militärischen Komplexes“ (Habermas 1985, 183). Er räumt zwar ein, dass der Kapitalismus erfolgreich die Bedürfnisse der materiellen Reproduktion sichert, es nun jedoch um Lebensbereiche ginge, die nicht mehr die materielle Reproduktion beträfen. So beobachten wir und spüren und erleiden wir jetzt einen ‚overspill‘, einen Übergriff des Systems in Bereiche, die gar nicht mehr die der materiellen Reproduktion sind. Diese Bereiche der kulturellen Überlieferung, der sozialen Integration über Werte und Normen, der Erziehung, der Sozialisation der nachwachsenden Generation sind aber, wenn ich das ontologisch sagen würde, ihrer Natur nach darauf angewiesen, dass sie über das Medium des kommunikativen Handelns zusammengehalten werden. Wenn in diese Bereiche jetzt die Steuerungsmedien Geld und Macht eindringen, etwa auf dem Weg einer konsumistischen Umdefinition von Beziehungen, einer Bürokratisierung von Lebensverhältnissen, dann werden nicht nur Traditionen aufgerollt, sondern Grundlagen einer bereits rationalisierten Lebenswelt angegriffen – auf dem Spiel steht die symbolische Reproduktion der Lebenswelt. (Ebd., 194 f., meine Hervorhebung)
3. Ökonomischer Imperialismus
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Dieses Zitat liefert eine tragfähige Antwort darauf, was an der Ökonomisierung problematisch sein könnte. Bestimmte gesellschaftlich geteilte Normen können nur „symbolisch reproduziert“ werden, wenn sie kommunikativ – und nicht über den Marktmechanismus – vermittelt werden. Dies bedeutet, dass die Ausweitung der Märkte die Integrität und Geltung bestimmter Normen in Frage stellt, die konstitutiv für unsere Lebenswelt sind. Wenn also beispielsweise ein gesellschaftlicher Konsens darüber herrscht, dass Partnerschaften ein privates Gut, aber keine Ware sind (oder sein sollten), dann müssen sie vor ihrer metaphorischen oder tatsächlichen Kommodifizierung geschützt werden. Die bisher diskutierten Autoren haben verschiedene Argumente gegen die Ökonomisierung und den ökonomischen Imperialismus hervorgebracht. Sie teilen das Unbehagen angesichts des overspills des Marktgeschehens auf potentiell alle Gesellschaftsbereiche. Es wurden jedoch nur implizit normative Kriterien deutlich, welche das Verbot oder die Regulierung bestimmter Transaktionen rechtfertigen könnten. Habermas z.B. weist auf die essentielle Rolle der Lebenswelt für die soziale und kulturelle Reproduktion hin, die durch ein Übergreifen des Marktes zerstört würde. Nur, angesichts der konstitutiven Eigenschaft der Marktwirtschaft, permanent neue Märkte zu erschließen und Innovationen hervorzubringen; wo verläuft diese Grenze? Der Text, dem obiges Zitat entstammt, wurde 1985 verfasst, also noch vor dem Internet, youtube und sozialen Netzwerken wie facebook. Gerade soziale Netzwerke scheinen eine transformatorische Kraft auf die Wahrnehmung unserer Lebenswelt zu haben, und es ließe sich die These vertreten, dass das wahllose Sammeln von und Werben um ‚Freundschaften‘ zu einer Kommodifizierung des betreffenden Guts geführt hat. Dennoch würde sich wohl kaum jemand dafür aussprechen, diese Netzwerke rundweg zu verbieten. Anhand dieses Beispiels möchte ich deutlich machen, dass ich zwar die Kritik an der Ökonomisierung teile, sie jedoch eines differenzierteren normativen Fundaments bedarf als bisher skizziert. Es gilt, Argumente zu begründen, die gesellschaftlich schützenswerte Bereiche ausweisen können. Ich wende mich daher im folgenden Kapitel den normativen Grenzen des Marktes zu.
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4. Marktgesellschaft und Grenzen des Marktes In diesem Kapitel werden verschiedene Thesen zu den Grenzen des Marktes vorgestellt. Zunächst werden zwei von Michael Sandel eingebrachte Argumente dargelegt, das ‚Zwangargument‘ und das ‚Korrumpierungsargument‘ (4.1). Ich werde dann mithilfe des Zwangarguments die These verteidigen, dass freie Transaktionen im Markt die Gewährleistung von Fairness und Chancengleichheit voraussetzen (4.2). Anschließend werden zwei weitere Argumente gegen unzulässige Ungleichheiten dargestellt. Das erste, von Thomas Scanlon skizzierte Argument besagt, dass schlimme Entbehrung und Leiden verhindert werden müssen (4.3). Das zweite u.a. von Michael Walzer vertretene Argument fordert, dass Geld nicht zu einem dominanten Gut werden darf (4.4). Das Korrumpierungsargument werde ich abschließend anhand einer Diskussion der kommerziellen Leihmutterschaft erläutern (4.5). Bevor ich diese Argumente im Einzelnen bespreche, möchte ich die Debatte um die Grenzen des Marktes in Perspektive setzen. Diese hängt unmittelbar mit der Frage zusammen, was für Geld zu kaufen ist: Wer über Geld nachdenkt, stößt alsbald auf zwei zentrale Fragen. Frage eins: Was ist für Geld zu haben bzw. was kann man sich dafür kaufen? Frage zwei: Wie wird bzw. wie ist es verteilt? Dass die beiden Fragen tatsächlich in der genannten Reihenfolge behandelt werden müssen, liegt daran, dass wir uns mit der Verteilung des Geldes in sinnvoller Weise erst dann befassen können, wenn wir die Sphäre, innerhalb deren [sic] es wirksam ist, und die Reichweite seiner Wirksamkeit und Geltung kennengelernt haben. D.h., wir müssen als erstes herausfinden, wie wichtig Geld wirklich ist. (Walzer 1992, 150)
Die Erörterung der Grenzen des Marktes ist nichts anderes als die Frage nach der angemessenen Sphäre des Geldes. Welche Güter sollten „für Geld zu haben“, und welche gesellschaftlichen Teilbereiche durch den Preismechanismus geregelt sein? Kirchgässner unterscheidet vier verschiedene gesellschaftliche Distributionsmechanismen: Den Markt- und Preismechanismus, das demokratische Verfahren, das hierarchische Verfahren sowie den Aushandlungsmechanismus.1 Es stellt sich also die Frage, welcher Distributionsmechanismus am geeignetsten ist, die erwünschten Verteilungsziele zu generieren. Kirchgässner skizziert einige gängige Überzeugungen über die optimale Distributionsform für verschiedene Güter: 1
Bei dieser Unterscheidung folgt Kirchgässner Lindblom u. Dahl (1953).
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So gilt z.B. als selbstverständlich, dass die Versorgung mit Konsumgütern […] über den Markt erfolgt, während Entscheidungen über die Wahl von Regierungen mit Hilfe demokratischer Verfahren getroffen werden. Innerhalb von Firmen oder von staatlichen Bürokratien dominieren hierarchische Verfahren, während zwischen Firmen oder zwischen Verbänden der Aushandlungsmechanismus greift. (Kirchgässner 1997, 130)
Wer die Grenzen des Marktes bestimmen möchte, muss sich also dazu äußern, warum ein Gut nicht über den Markt gehandelt werden sollte und welcher alternative Distributionsmechanismus geeigneter wäre. Heute herrscht beispielsweise allgemeiner Konsens darüber, dass öffentliche Ämter nicht käuflich zu erwerben sein sollten. Sie werden über das demokratische Verfahren vergeben. Der Menschenhandel gilt als menschenunwürdig und ist daher verboten (ebd.). Die Frage nach den Grenzen des Marktes ist jedoch auch eine Frage nach der legitimen Reichweite staatlicher Fürsorge. Wenn über die Kommodifizierung des Gesundheits- und Bildungswesens diskutiert wird, so ist dies auch eine Auseinandersetzung über die Aufgaben, denen der (Sozial-)Staat nachkommen sollte. Libertäre Autoren sind der Auffassung, dass nur der Minimalstaat zu rechtfertigen ist, weil jede staatliche Leistung, die hierüber hinaus geht, die Rechte des Einzelnen verletze (Nozick 2006, 201). Die Besteuerung von Einkommen sei daher „mit Zwangsarbeit gleichzusetzen“ (ebd., 225). Die Blockierung oder Regulierung von marktwirtschaftlichen Transaktionen müsse zwangsläufig in Paternalismus münden, da dies darauf hinauslaufe, „einverständliche kapitalistische Akte zwischen erwachsenen Menschen [zu, P.S.] verbieten“ (ebd., 218). Diese Sichtweise begründet einerseits die Forderung nach der Grenzenlosigkeit des Marktes und beschränkt andererseits staatliche Aufgaben auf die Gewährleistung eines Minimalstaates. Autoren, die den Wohlfahrtsstaat befürworten, weisen dem Staat sehr viel weiterführende Befugnisse und Pflichten zu. Die Bildung, das Gesundheitswesen oder die soziale Fürsorge werden beispielsweise als Güter angesehen, für deren Distribution die Gemeinschaft verantwortlich sein sollte und deren Bereitstellung über den Marktmechanismus als gesellschaftlicher Rückschritt angesehen würde. Diese knappen Anmerkungen sollen deutlich machen, dass die Grenzen des Marktes ein hochumstrittenes und kontroverses Feld der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung darstellen. Während einige die Ökonomisierung der Gesellschaft als großen Fortschritt begrüßen, sehen andere hierin nicht weniger als eine zivilisatorische Gefahr. Ich möchte mich im Folgenden mit der Frage auseinandersetzen: Gibt es normative Argumente, welche die Regulierung oder das Verbot bestimmter Markttransaktionen begründen? Bevor ich mich dieser Frage zuwende, ist die Tragweite der Argumente gegen das Verbot bestimmter Transaktionen zu verdeutlichen. Hierzu sei nochmals Nozick angeführt, der überzeugt ist, dass jedweder Verteilungsgrundsatz zwangsläufig einen permanenten, unzulässigen Eingriff in die Autonomie des Individuums nach sich zieht:
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Jede zulässige Verteilung würde in eine unzulässige übergehen, indem die Menschen auf verschiedene Weise freiwillig handeln: etwa indem sie die Güter und Dienstleistungen untereinander tauschen, oder indem sie anderen Gegenstände übertragen, auf die sie unter der zulässigen Verteilung einen Anspruch haben. Wenn man eine Verteilung aufrechterhalten will, muss man entweder die Menschen ständig davon abhalten, Güter nach ihrem Willen zu übertragen, oder man muss ständig […] Menschen Güter wegnehmen, die ihnen andere aus irgendwelchen Gründen übertragen haben. (Ebd.)
Wer also meint, aufgrund eines Verteilungsgrundsatzes in das Leben der Menschen eingreifen zu dürfen, muss sich Nozick zufolge darüber im Klaren sein, dass dies ein Eingriff in das freiwillige Handeln autonomer Individuen darstellt. Die hier verdeutlichte Position Nozicks fusst auf der Überzeugung, dass Markttransaktionen ausschließlich aus freiwilligen Tauschakten bestehen. Diese Auffassung von Märkten ist tief verankert im Analysemodell der Ökonomik, insbesondere der Idealtheorie des perfekten Wettbewerbs. Perfekter Wettbewerb herrscht dann, wenn es keine Machtungleichgewichte gibt, alle Marktteilnehmer miteinander konkurrieren, der Markt vollständig effizient ist und alle Marktteilnehmer über einen etwa gleichen Informationsstand hinsichtlich der gehandelten Güter verfügen. Diese Vorstellung vom perfekten Wettbewerb ist eine der zentralen Säulen der Ökonomik, wie Goodwin et al. hervorheben: Competition, to an economist, means decentralized power. The image of a self-regulating, harmonious ‚free‘ competitive market is at the core of traditional neoclassical economics. (Goodwin et al. 2005, 259)
Dieses Modell wird nun durch einige bedeutsame Zusätze ergänzt, die für meine weitere Argumentation entscheidend sind: There are numerous small sellers and buyers, so small that no individual seller or buyer can affect the market price […] Producers of the good or service can freely enter or exit the industry. There are no barriers preventing a new firm from joining the market or preventing an existing one from leaving it […] Buyers and sellers all have perfect information. They all know where the good is available, at what prices it is offered, and whether profits are being made. (Goodwin et al. 2005, 260)
Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Zusatzannahmen deskriptive Axiome der ökonomischen Theorie darstellen, nicht normative Handlungsanforderungen. Die Ökonomik nimmt an, dass alle Akteure rational handeln und dass Märkte die oben skizzierten Zusatzbedingungen erfüllen. Dieser Hinweis ist wichtig, um kenntlich zu machen, dass es der ökonomischen Theorie zunächst um Analyse und Beschreibung, nicht um normative Schlussfolgerungen geht. Nach diesen Vorbemerkungen werde ich die Zusatzannahmen im Einzelnen erörtern. Der erste Zusatz bezeichnet die Prämisse, Marktungleichgewichte zugunsten bestimmter Marktteilnehmer, die durch ihre Marktmacht den Preis eines Guts bestimmen könnten, bestünden in idealen Märkten nicht. Der zweite Zusatz betrifft den von Nozick benannten Aspekt des freien Austauschs. Er be-
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sagt, dass keine Zugangsbeschränkungen zu einzelnen Märkten bestehen. Einzelne Akteure können unbeschränkt eine bestimmte Transaktion eingehen und aus einem Transaktionsverhältnis ausscheiden. Dahinter steckt die Annahme der mobility of factors: Freie Märkte müssen die vollständige Mobilität der Arbeitsfaktoren gewährleisten, d.h. Kapital und Arbeitskraft müssen in der Lage sein, in neue Märkte zu wechseln, falls die Kompensation im bisherigem Sektor nicht angemessen erscheint (Kuttner 1999, 16 f.). Argumente zu den Grenzen des Marktes kritisieren insbesondere diesen Zusatz. Sind wirklich alle Marktteilnehmer völlig frei, in einen bestimmten Markt einzutreten oder besteht für manche Marktteilnehmer der Zwang, eine bestimmte Transaktion einzugehen? Weisen reale Märkte tatsächlich die Durchlässigkeit auf, die ihnen von der Idealtheorie zugeschrieben wird, oder bestehen Marktbeschränkungen? Der letzte Zusatz betrifft schließlich den Informationsgrad der Marktakteure über die Art der Transaktion und das gehandelte Gut. Auch dieser Punkt ist hinsichtlich der Grenzen des Marktes von besonderer Bedeutung. Kann beispielsweise bei einer Leihmutter davon ausgegangen werden, dass sie sich vollständig darüber im Klaren ist, welche Art von Ware sie anbietet, und kann sie vor dem Vertragsvollzug tatsächlich wissen, welchen (emotionalen und monetären) Preis diese Dienstleistung hat? Die oben skizzierte Idealtheorie des Marktes, verstanden als nicht-normatives Axiom, macht keine Unterschiede hinsichtlich des gehandelten Guts. Welchen normative Bedeutung dieses Gut trägt, ist daher irrelevant: „[I]t does not matter whether what is being traded is oranges, sexual services, or credit – the nature of market exchange is seen as the same in each case“ (Satz 2001, 9198). Wo aber Güter von besonderem normativen Status gehandelt werden, reicht die Idealtheorie nicht aus, um zu entscheiden, ob diese über den Markt distribuiert werden sollten (siehe hierzu Abschnitt 4.5). Es ist die strukturelle Divergenz zwischen idealen und real existierenden Märkten, welche die Diskussion um die Grenzen des Marktes so virulent macht. Anders gesagt: wenn reale Märkte die Resultate hervorbrächten, die von der Idealtheorie vorausgesagt werden, gäbe es keine Notwendigkeit für deren Regulierung. Reale Märkte unterscheiden sich aber in erheblicher Weise vom oben skizzierten perfekten Wettbewerb, wie Satz verdeutlicht: Real world markets seem rife with asymmetric information, monopoly power, and coercion […] Thus, we might wonder if the welfare and liberty enhancing properties of markets hold generally or only under a specific set of circumstances. (Satz 2010, 15)
Wie auch schon in den Kapiteln 1 und 2 werde ich im Folgenden dieser Auffassung von Märkten folgen. Märkte entwickeln nicht allein durch den selbstregulierenden Wettbewerb ihre wohlfahrtsfördernden Effekte, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen, namentlich ihrer Begrenzung und adäquaten Regulierung im Sinne des Gemeinwohls.
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Darüber hinaus sind Märkte in erheblicher Weise abhängig von gesellschaftlichen Hintergrundeigenschaften wie einem funktionsfähigen Rechtsstaat (der Vertragssicherheit und den Schutz des Privateigentums garantiert), moralischen Kodizes, einem bestimmten Niveau der öffentlichen Gesundheit, einer modernen Infrastruktur und dergleichen mehr. Auch wenn die Globalisierung die Möglichkeiten nationaler Regulierung beschränkt, so ist doch Robert Kuttner in folgender Aussage zuzustimmen: The system in which the private market operates is inevitably structured by law and by democratic choices. Those choices can contrive a relatively efficient, or inefficient, brand of mixed economy. But the quest for a perfectly pure free market, or an economy free of political influences, is an illusion. (Kuttner 1999, 327)
Ich möchte nun die entscheidenden Argumente für die Regulierung und das Verbot von Märkten vorstellen. Michael Sandel hat m.E. in seinem Vortrag „What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets“ (Sandel 2000)2 die prägnanteste Argumentation für die Regulierung von Markttransaktionen erarbeitet. Ich werde seiner Argumentation folgen und entsprechend die Aspekte coercion und corruption als entscheidende Kriterien für die Regulierung und das Verbot von Transaktionen darstellen.
4.1 Zwang und Korrumpierung Sandel erörtert zwei Argumente für die Regulierung und Begrenzung von Märkten. Das erste Argument nennt er „the argument from coercion“ (Sandel 2000, 94). Dieses möchte ich folgendermaßen wiedergeben: Das Zwangargument (Z-Argument): Transaktionen, die angesichts gravierender Ungleichheit stattfinden und nur aufgrund der wirtschaftlichen Not eines der Transaktionspartner eingegangen werden, sind keine ‚freien‘ Transaktionen im Sinne der Idealtheorie, sondern erfolgen unter Zwang (Sandel 2000, 94).
Das Zwangargument betrifft die oben angeführte dritte Zusatzannahme der Idealtheorie, dass Anbieter eines Produkts oder einer Dienstleistung frei entscheiden können, ob sie in einen Markt eintreten bzw. diesen verlassen. Als Beispiel für eine Transaktion unter Zwang nennt Sandel einen Bauer, der in existentieller ökonomischer Not anbietet, seine Niere zu verkaufen, um seine Familie am Leben zu halten (ebd.). Das zweite Argument für die Regulierung von Märkten nennt Sandel „the argument from corruption“ (ebd.). Dieses lässt sich wie folgt skizzieren: 2 Ich bespreche hier ausschließlich diesen Artikel, weil Sandel in seinem 2012 erschienenen Werk What Money Can’t Buy. The Moral Limits of Markets keine weiteren für die hier verfolgte Argumentation entscheidenden Thesen vorgebracht hat.
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Das Korrumpierungsargument (K-Argument): Bestimmte Güter werden in ihrer Bedeutung degradiert und korrumpiert, wenn sie kommodifiziert werden (ebd.).
Das K-Argument hebt auf einen bestimmten Wert des betreffenden Guts ab, der durch die Kommodifizierung verletzt wird. Wenn also der Verkauf von Organen den Wert der unveräußerlichen körperlichen Integrität berührt, dann ist der Organhandel dem K-Argument zufolge zu untersagen.
4.2 Das Z-Argument: Fairness und Chancengleichheit Das Z-Argument hebt auf das Ideal der freien Transaktion ab. Dieses besagt, dass marktwirtschaftliche Transaktionen ohne Zwang und Not in expliziter Zustimmung der Transaktionspartner stattfinden. Das Z-Argument gebietet nicht das Verbot von Transaktionen, sondern es fordert die Gewährleistung freier Transaktion. Der Z-Einwand zielt auf Märkte, deren Hintergrundbedingungen extreme Ungleichheiten hervorbringen, aufgrund derer sich „coercive bargaining conditions“ (ebd., 94 f.) entwickeln. Bevor ich beschreibe, was unter der Schaffung fairer Hintergrundbedingungen zu verstehen ist, möchte ich die Begriffe Zwang und Freiheit ausführlicher explizieren. Wenn Sandel von „coercive bargaining conditions“ spricht, dann hat er Markttransaktionen im Sinn, bei denen einer der Transaktionspartner in seinem Handlungsspielraum soweit eingeschränkt ist, dass er unter dem (nur als solchem wahrgenommenen oder tatsächlichen)3Zwang steht, die Transaktion einzugehen. Der Begriff coercion soll nicht besagen, dass es totaliter keine Handlungsalternativen gibt, sondern dass es auf Anbieterseite nur eine oder ggf. nur sehr wenige rationale Handlungsoption(en) gibt. Entscheidend ist, dass Transaktionen unter Zwang solche sind, bei denen keine realistischen Handlungsalternativen im Sinne der freien Transaktion bestehen.4 Wenn ich nun von realistischen Handlungsalternativen spreche, dann offenbare ich ein bestimmtes Verständnis des Freiheitsbegriffs, welches ich kurz erläutern möchte. Die Herleitung dieses Freiheitsbegriffs erfolgt durch Kontrastierung mit und im Gegensatz zu dem rein negativen Freiheitsbegriff bei Hayek: 3 Hiermit möchte ich auf die unterschiedlichen Aspekte Freiheit und Informiertheit abheben, die beide bei Markttransaktionen von Belang sind. Der Bauer mag sich unter dem Zwang sehen, seine Niere zu verkaufen, weil ihm andere Erwerbsmöglichkeiten nicht bekannt sind. Hier handelt es sich um einen empfundenen Zwang, der objektiv nicht besteht. Der Bauer könnte auch anders handeln, wenn er die nötige Information über alternative Erwerbsmöglichkeiten besäße. Anders der Fall, wo dem Bauer lediglich die Alternativen Organverkauf und Hunger offen stehen. Hier handelt er unter faktischem Zwang, welcher sich aus dem Mangel an Alternativen ergibt. 4 Das hier dargelegte Verständnis von ‚Zwang‘ entspricht somit dem in Kapitel 2.2.3 dargelegten Sachzwangbegriff.
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Wir befassen uns in diesem Buch mit jenem Zustand der Menschen, in dem Zwang auf einige vonseiten anderer Menschen so weit herabgemindert ist, als dies im Gesellschaftsleben möglich ist. Diesen Zustand werden wir durchweg einen Zustand der Freiheit nennen […] Dieser Zustand, in dem ein Mensch nicht dem willkürlichen Zwang durch den Willen eines anderen oder anderer unterworfen ist, wird oft auch als ‚individuelle‘ oder ‚persönliche‘ Freiheit bezeichnet […] In dieser Bedeutung beschreibt ‚Freiheit‘ immer eine Beziehung von Menschen zu Menschen, und der einzige Eingriff in diese Freiheit ist Zwang durch andere Menschen. (Hayek 2005, 13 f., 16)
Unter ‚Freiheit‘ ist hier nicht die Freiheit gemeint, tun zu können, was man möchte. Freiheit bedeutet die Abwesenheit von Zwang in dem Sinne, dass das eigene Handeln nicht durch andere eingeschränkt ist. Hier wird deutlich, dass es sich um einen auf die Umstände des eigenen Handelns bezogenen negativen Freiheitsbegriff handelt, nicht um einen akteursbezogenen positiven Freiheitsbegriff als Befähigung, bestimmte Dinge zu tun: Unter ‚Zwang‘ wollen wir eine solche Veränderung der Umgebung oder der Umstände eines Menschen durch jemand anderen verstehen, dass dieser, um ein größeres Übel zu vermeiden, nicht nach seinem eigenen zusammenhängenden Plan, sondern im Dienste der Zwecke des anderen handeln muss […] Zwang ist gerade deshalb ein Übel, weil er auf diese Weise ein Individuum als denkendes und wertendes Wesen ausschaltet und es zum bloßen Werkzeug zur Erreichung der Zwecke eines anderen macht. (Ebd., 29)
Wenn man nun das Schicksal des Bauern im Lichte der Ausführungen Hayeks betrachtet, wäre der Fokus darauf zu legen, ob der Bauer durch andere Personen oder durch staatliche Zwangsmaßnahmen in seiner Entscheidungsfreiheit beschränkt ist, nicht ob er in dieser Situation über eine Vielzahl an realistischen Handlungsoptionen verfügt. Hayek würde wohl behaupten, dass der Bauer in besagter Situation frei ist, da kein äußerer Zwang seinen Handlungsspielraum einengt: Es ist richtig, dass frei-sein auch die Freiheit bedeuten kann, zu hungern, kostspielige Irrtümer zu begehen oder gewaltige Risiken einzugehen. In dem Sinne, in dem wir das Wort gebrauchen, ist ein bettelarmer Vagabund in seinem unsicheren, immer nur momentane Gelegenheiten nützenden Leben freier als der Soldat mit all seiner Sicherheit und seinem relativen Komfort. (Ebd., 25)
Der Bauer könnte entsprechend darauf hoffen, dass die nächste Ernte ausreicht, um seine Familie zu ernähren, oder versuchen, durch eine andere Tätigkeit an das nötige Geld zu kommen. Er könnte sich Hayek zufolge auch gegen den Verkauf der Niere entscheiden und für die Möglichkeit, Hunger zu leiden. Sandels Argument läuft jedoch auf die Behauptung hinaus, es gäbe bestimmte Markttransaktionen, die unter Zwang eingegangen werden insofern als Menschen „under conditions of severe inequality or dire economic necessities“ (Sandel 2000, 94) keine wirkliche Wahlmöglichkeit haben und somit in ihrer Entscheidung unfrei sind. Im Unterschied zu Hayeks rein negativ bestimmtem Freiheitsbegriff lässt sich aus Sandels Argumentation ein positiver Freiheitsbe-
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griff ableiten als die Freiheit, über reale Handlungsalternativen zu verfügen. Diese Freiheit ist bei Transaktionen, die unter „coercive bargaining conditions“ stattfinden, nicht gegeben. Wenn der Bauer die einzige realistische und rationale Option darin erkennt, seine Niere zu verkaufen, dann ist er in dieser Lesart nicht frei, sondern handelt unter Zwang. Um diesen Punkt weiter zu schärfen, ist es hilfreich, Alan Gewirths Analyse der forced choice anzuführen. Er gibt drei Bedingungen an, welche Entscheidungen zu ebensolchen forced choices machen: (a) it [Die Entscheidung, P.S.] is between alternatives both of which are severely undesirable to the chooser; (b) the alternatives are set by someone else, who has superior bargaining power; (c) the chooser is compelled to make the choice, whether he wants to or not […] (Gewirth 1996, 238).
Die hier beschriebenen Kriterien unterscheiden sich natürlich in einer wichtigen Hinsicht vom Fall des Bauern. Diesem wird nicht von außen eine forced choice aufgezwungen, er entscheidet sich selbst, eine Transaktion einzugehen. Ich behaupte jedoch, dass dies keinen Unterschied macht hinsichtlich der Frage, ob er sich frei entscheidet. Seine Entscheidung, die Niere zu verkaufen, ist eine forced choice im Gewirthschen Sinne, weil sie die entsprechenden Kriterien erfüllt: Der Bauer sieht sich gezwungen, derart zu handeln (c), weil seine ökonomische Situation eine existentielle Bedrohung darstellt und er nur aus zwei schlechten Alternativen wählen kann. Die schlechte Alternative besteht im Verkauf der Niere, die noch weitaus schlimmere in der Aussicht auf den möglichen Hungertod (a). Der Bauer hat in dieser Lage keinerlei Verhandlungsmacht, weil seine Notlage in zwingt, jegliche Transaktion einzugehen. Daher hat der Organhändler eine entsprechend stärkere Verhandlungsposition (b). Es lässt sich dennoch nicht behaupten, der Bauer sei im Sinne von Hayeks Freiheitsbegriff vom Willen eines anderen abhängig, noch dass sein Handlungsspielraum bewusst von einem Einzelnen oder durch Gesetze begrenzt würde. Ich bin jedoch der Auffassung, dass seine „‚ökonomische Unfreiheit‘“ (Ulrich 2008, 279), also der Mangel an Wahlmöglichkeiten, die Transaktion zu einer forced-choice Handlung macht. Hier ist nun zu erläutern, was unter dem oben erwähnten positiven Freiheitsbegriff zu verstehen ist. Der Unterscheidung zwischen positivem und negativen Freiheitsbegriff unterliegt die Unterscheidung von positiven und negativen Rechten. Ohne der ausführlichen Begründung von positiven Rechten in Kapitel 6.1 vorgreifen zu wollen, sind hierzu einige Anmerkungen angebracht. Alan Gewirth führt aus, dass sich negative und positive Rechte hinsichtlich der korrespondierenden Pflichten auf Adressatenseite unterscheiden: The distinction turns mainly on the duties of the respondent: whether they consist only in refraining from interference (and so not doing something) or in active assistance (and so in doing something). (Gewirth 1996, 33)
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Hayeks Freiheitsbegriff ist rein negativ bestimmt und gebietet somit allein die Unterlassung, den Handlungsspielraum des Individuums nicht willkürlich zu beschränken. Der positive Freiheitsbegriff, den ich hier gerade in Bezug auf Transaktionen im Markt vertreten möchte, gebietet hingegen aktive Hilfeleistungen auf Seiten der Rechtsadressaten. Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass sich aus der Forderung zur aktiven Befähigung des Einzelnen, über reale Handlungsoptionen in wirtschaftlichen Transaktionsverhältnissen zu verfügen, keine individuelle positive Pflicht auf Seiten des Adressaten ableiten lässt. Anders gesagt: es ist kaum vom Organhändler einzufordern, sich zunächst um das Wohl und die Handlungsoptionen des Bauern zu kümmern, bevor er diesem seinen Handel anbietet. Die positive Pflicht, Sorge dafür zu tragen, dass die gesellschaftlichen Hintergrundeigenschaften Chancengleichheit und Fairness garantiert sind, sind als kollektive Pflichten zu begreifen. Dies bedeutet, dass sie durch staatliche Maßnahmen auf Ebene der Rahmenordnung zu realisieren sind. Worin bestehen nun die kollektiven Pflichten, welche dem positiven Freiheitsbegriff korrespondieren? Hierin folge ich wiederum der Auffassung Gewirths: The rational autonomy which is the aim of the human rights involves that each person is to be a self-controlling, self-developing agent, in contrast to being a dependent, passive recipient of the agency of others. Even when the rights require positive assistance from other persons, their point is not to reinforce or increase dependence but rather to give support that enables persons to be agents, that is, to control their own lives and effectively pursue and sustain their own purposes without being subjected to domination and harms from others. (Gewirth 1996, 52)
Es geht darum, die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen zur Selbstbehauptung im Markt zu gewährleisten. Diese bestehen in der Möglichkeit, aus verschiedenen Alternativen für ökonomische Lebenswege wählen zu können und bestimmte Rechte wahrnehmen zu können. Dabei geht es nicht um die ökonomische Gleichstellung aller Bürger, sondern um die Beseitigung von Zwang und die Befähigung jedes Handelnden zu selbstbestimmtem Handeln. Zur Realisierung solcher positiven Rechte ist die Sicherstellung der gesellschaftlichen Hintergrundeigenschaften Fairness und Chancengleichheit notwendig. Hiermit kehre ich zur Diskussion des Z-Arguments zurück. Nur wenn die gesellschaftlichen Hintergrundeigenschaften die gleichen Startchancen für alle ermöglichen, kann die Entscheidung für ein bestimmtes Transaktionsverhältnis als freie Entscheidung angesehen werden. Bei Rawls bedeutet Chancengleichheit, dass durch die Grundstruktur der Gesellschaft gleiche Bildungschancen, die Offenheit von Positionen und Ämtern, aber auch die staatliche Sicherung des Existenzminimums gewährleistet werden (Rawls 1979, 309). Die Grundstruktur soll wirtschaftliche Chancengleichheit gewährleisten,
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indem sie dem Verhalten der Firmen und privaten Vereinigungen gewisse Bedingungen auferlegt und die Errichtung von Monopolen und Zugangsbeschränkungen zu den begehrten Positionen verhindert. (Ebd.)
Die „gerechte[…] Verfassung“ (ebd.) soll durch verschiedene Institutionen den Bürgern gleiche Lebenschancen eröffnen. Diese Institutionen werden nun gelähmt, wenn die Vermögensunterschiede eine gewisse Grenze überschreiten; ebenso verliert die politische Freiheit ihren Wert, und die repräsentative Regierungsform ist nur noch Schein. (Ebd., 312)
Extreme gesellschaftliche Ungleichheiten in Einkommen und Macht führen zur Gefährdung der Chancengleichheit, weil die formale Gleichheit reell nicht mehr gewährleistet werden kann und die Fairness der Institutionen unterminiert wird (Scanlon 2003, 205). Extreme gesellschaftliche Ungleichheiten können sich zudem in erheblichem Maße auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken. In den USA verfügt derzeit das oberste ein Prozent der Wohlhabenden über 90 Prozent des privaten Vermögens (Wernicke 2011). Bei einer solchen Einkommensverteilung muss die Aussicht, dieselbe soziale Wirklichkeit bei fairer Chancengleichheit zu leben, als akut gefährdet gelten. Extreme Ungleichheiten unterminieren die Überzeugung der Bürger, ein gemeinschaftliches Leben zu führen (Sandel 2000, 121). Sie führen zur Erosion des gesellschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühls und somit letztlich zum Verfall des Gemeinwesens. Diese Ausführungen dienten einer ersten Auslegung der Forderungen, die sich aus dem Z-Argument ableiten lassen. Es zeigt sich, dass das Z-Argument die Regulierung von Märkten als ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, nicht als eine Frage des normativen Werts einzelner Güter ansieht: From this point of view, too much inequality in the basic structure of society undermines the fairness of agreements people make – to undertake certain jobs, for example, at a given wage. In a sharply unequal society, people are not truly free to choose and pursue their values and ends. (Sandel 2000, 119)
Aufgrund der vorhergegangenen Überlegungen möchte ich das Z-Argument in einer erweiterten Fassung (Z*) reformulieren, in der die aus dem Z-Argument abzuleitenden Forderungen enthalten sind. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich diese Erweiterung so bei Sandel nicht findet, sich jedoch m.E. unmittelbar aus dem Z-Argument ergibt: (Z*): Transaktionen, die angesichts gravierender Ungleichheit stattfinden und nur aufgrund der wirtschaftlichen Not eines der Transaktionspartner eingegangen werden, sind keine „freien“ Transaktionen im Sinne der Idealtheorie, sondern erfolgen unter Zwang. Freier Austausch ist nur dann möglich, wenn die gesellschaftlichen Hintergrundeigenschaften Fairness und Chancengleichheit garantieren. Märkte, die extreme Macht- und Chan cenungleichheiten aufweisen, sind derart zu regulieren, dass freier Austausch möglich wird.
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Teil II: Die Grenzen des Marktes
Im Folgenden werden zwei weitere Kritikpunkte an gesellschaftlichen Ungleichheiten dargestellt, aus denen sich weitere Forderungen zur Regulierung von Märkten ableiten lassen. Das erste Argument lautet: „Relieve suffering or severe deprivation“ (Scanlon 2003, 207). Es steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang zum Z-Argument, jedoch bildet es m.E. eine weitere notwendige Forderung zur Regulierung freier Märkte. Hingegen werde ich zeigen, inwiefern das zweite Argument, ‚wirtschaftliche Macht darf nicht in politische Macht konvertiert werden‘, die aus dem Z-Argument abzuleitenden Forderungen betrifft.
4.3 Verzweifelte Transaktionen und Ausbeutung Thomas Scanlon beschreibt in seinem Aufsatz „The Diversity of Objections to Inequality“ die fünf entscheidenden Kritikpunkte an gesellschaftlichen Ungleichheiten. Einer davon lautet: „Relieve suffering or severe deprivation“ (Scanlon 2003, 207). Der Kritikpunkt richtet sich gegen das Fortbestehen existentieller Armut und Leid. Er verdeutlicht somit in erster Linie ein humanitäres Anliegen: If some people are living under terrible conditions, while others are very well off indeed, then a transfer of resources from the better to the worse off, if it can be accomplished without other bad effects, is desirable as a way of alleviating suffering without creating new hardships of comparable severity. The impulse at work here is not essentially egalitarian. No intrinsic importance is attached to narrowing or eliminating the gap between rich and poor […] (Scanlon 2003, 203).
Der Kritikpunkt zielt nicht auf die relative Besserstellung der Armen im Hinblick auf eine wohlhabendere Gruppe, sondern allein auf die Behebung existentieller Armut. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese Forderung Relevanz für Markttransaktionen hat. Zur Erläuterung sei auf Michael Walzer verwiesen, der eine Reihe unterbundener Transaktionen anführt, darunter auch „verzweifelte Tauschaktionen“: Verzweifelte Tauschaktionen, Geschäfte im Sinne des ‚letzten Auswegs‘ sind verboten […] Der Acht-Stunden-Tag, die Mindestlohnverordnungen, die Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen, sie geben, indem sie Grundmaßstäbe setzen, eine Minimalbasis vor, die Arbeiter im Bestreben, eine Beschäftigung zu finden, auch in Konkurrenz zueinander nicht unterbieten dürfen. Arbeitsplätze können verauktioniert werden, aber nur innerhalb dieser Grenzen. Dies ist eine Beschränkung der Marktfreiheit zugunsten einer gemeinschaftlichen Konzeption von persönlicher Freiheit, eine Bekräftigung – auf niedrigerer Verlustebene – des Sklavereiverbots. (Walzer 1992, 159)
Walzer hat die gegenwärtige US-amerikanische Gesellschaft vor Augen, in der obige Beschränkungen (teilweise) durchgesetzt wurden. Er macht deutlich, dass
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Transaktionen als „letzter Ausweg“ verhindert werden müssen. Hierzu ist ein gesetzlicher Mindestlohn und ein staatlich garantiertes Existenzminimum unerlässlich. Wenn die Alternativen hingegen in der Annahme einer Tätigkeit oder existentieller Armut bestehen, dann werden verzweifelte Transaktionen unter Zwang eingegangen. Dort, wo es keine realistischen Alternativen gibt, führt die Konkurrenz um Arbeitsplätze zu menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen und Löhnen. Nur dort, wo Arbeitnehmer eine tatsächliche Wahlfreiheit haben, können sie sich für eine Beschäftigung, aber auch gegen besonders erniedrigende, menschenunwürdige Beschäftigungsformen entscheiden. Um deutlich zu machen, wie eine solche Wahlfreiheit zu realisieren ist, möchte ich auf Walzers Forderung zurückkommen, verzweifelte Transaktionen zu verbieten. Radin kritisiert diese Auffassung: [E]ven if we think of the exchange as coerced, and not usefully characterized as an exercise of liberty, we are still left with the problem that to the desperate person the desperate exchange must have appeared better than the previous straits, and in banning the straits we haven’t done anything about the straits. It seems to add insult to injury to ban desperate exchanges by deeming them coerced by terrible circumstances, without changing the circumstances. (Radin 1996, 48 f.)
Radin spitzt in ihrer Interpretation bewusst Walzers Argumentation zu, m.E. missinterpretiert sie dabei jedoch sein philosophisches Projekt. Die Theorie der ‚komplexen Gleichheit‘ zielt auf die Abwendung der Dominanz bestimmter Güter wie etwa des Geldes und die Verhinderung von Tyrannei (dem Willen Einzelner, über ihren legitimen Geltungsbereich hinaus Macht auszuüben) (Walzer 1992, 26–64). Es geht Walzer darum, anhand der komplexen Gleichheit eine pluralistische Theorie der Verteilungsgerechtigkeit zu begründen, nicht um die bloße Blockierung bestimmter Transaktionen: Das ist es, wonach komplexe Gleichheit verlangt: Nicht der Markt muss abgeschafft, sondern niemand darf seines geringen Status oder seiner politischen Machtlosigkeit wegen von dessen Möglichkeiten abgeschnitten werden. (Ebd., 181)
Die komplexe Gleichheit zielt also auf die Reform der von Radin erwähnten gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen von Transaktionen. Zu behaupten, Walzer plädiere für die Blockierung bestimmter Transaktionen, ohne etwas an der Notlage der Betroffenen ändern zu wollen, zeugt daher von einer falschen Lesart. Dennoch spricht Radin hier ein bedeutsames Problem an, das nicht unerwähnt bleiben sollte. Der Forderung nach Mindestlöhnen in asiatischen Textilfabriken oder dem Verbot von sogenannten sweat shops liegt die Auffassung zugrunde, bestimmte Transaktionsverhältnisse seien so menschenunwürdig, dass sie verboten oder zumindest stark reguliert werden sollten.5 Radin argu5 Zur
(2009).
sweat shop Debatte siehe u.a. Arnold (2006), Arnold u. Bowie (2003) und Maitland
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mentiert nun, dass die Umsetzung dieser Forderung die Lage der Betroffenen weiter verschlimmert. Wenn sie die Wahl haben zwischen existentieller Armut und einer erniedrigenden Arbeit, dann erscheine letztere immer noch als die bessere Alternative. Zu diesem Argument ist Folgendes zu sagen. Zwar ist es richtig, dass ein bloßes Verbot von verzweifelten Transaktionen die Lage der Betroffenen nicht verbessern würde. Bei der Wahl zwischen Hunger und einer die Subsistenz sichernden, wenngleich ausbeuterischen und menschenunwürdigen Tätigkeit allerdings von ‚besseren‘ und ‚schlechteren‘ Alternativen zu sprechen, zeugt m.E. von der Missinterpretation der tatsächlichen Umstände. Das Argument ‚Besser irgendeine Arbeit als gar keine Arbeit‘ ist scheinheilig insofern als es Alternativen impliziert, wo Alternativlosigkeit vorherrscht. Natürlich wird die Textilarbeiterin aus Bangladesh einen Monatslohn von umgerechnet 44 Euro (Appel u. Hein 2010) akzeptieren, wenn die einzige Alternative in existentieller Not besteht. In Entwicklungsländern wie Bangladesch, wo große Armut herrscht und gleichzeitig eine „industrielle Reservearmee“ (Marx 1977, 661) von Arbeitslosen bereitsteht, um den eigenen Platz einzunehmen, sobald Forderungen nach Lohnsteigerungen oder Verbesserung der Arbeitsbedingungen aufkommen, sind Arbeitnehmer sehr verwundbar für ausbeuterische und menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse. Dies liegt zum einen an der faktischen Alternativlosigkeit ihrer Situation, zum anderen an der durch die hohe Arbeitslosigkeit weiter geschwächten Verhandlungsposition der Arbeitnehmer. Hieraus ist zwar nicht die Forderung nach einem Verbot von sweat shops abzuleiten, aber sehr wohl die Forderung nach grundlegenden Reformen der gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen. Ich werde mich in Kapitel 5.3 mit einigen Argumenten zum Mindestlohn beschäftigen und die These verteidigen, dass der jeweilige Lohn ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglichen muss. Hier geht es darum, dass eine Voraussetzung für ein Leben in Würde eine Entlohnung ist, welche die eigene Subsistenz sichert. Damit überhaupt von freier Transaktion gesprochen werden kann, muss gewährleistet sein, dass keine Transaktionen im Sinne der forced choice aufgrund von existentieller Not oder Alternativlosigkeit eingegangen werden. Die Forderung, welche sich aus diesem Argument ableiten lässt, lautet jedoch nicht, solche Transaktionen zu verbieten, sondern die gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen von Arbeitsverhältnissen so zu gestalten, dass verzweifelte Transaktionsverhältnisse umgangen bzw. vermieden werden können. Kurz gesagt geht es darum, mithilfe des Kritikpunkts „relieve suffering or severe deprivation“ die Bedingungen zu schaffen, um die Verhandlungsposition der Ärmsten so zu stärken, dass sie vor „exploitation and abuse“ (Satz 2010, 101) geschützt werden und reale Wahlmöglichkeiten im Sinne der freien Transaktion erlangen. Damit dies möglich ist, müssen, wie Satz ausführt, ausbeuterische Transaktionen vermieden werden. Ich möchte mich im Folgenden nun der Frage
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zuwenden, wann Transaktionen als ausbeuterisch eingestuft werden müssen. Hierzu werde ich zunächst den Marxschen Ausbeutungsbegriff darstellen und anschließend kritisieren. Im Anschluss werde ich einen eigenen Ausbeutungsbegriff skizzieren. Marx vertrat die These, dass dem Arbeiter nicht der volle Wert seiner Arbeitskraft als Lohn ausgezahlt wird, sondern als Reingewinn vom Kapitaleigner angeeignet wird. Weil der Arbeiter nur einen Teil seiner tatsächlichen Arbeitszeit benötigt, um den Wert, der für die eigene Reproduktion notwendig ist, zu erarbeiten (Marx 1977, 561), ist die restliche Arbeitszeit für den Lohnarbeiter de facto unbezahlte Arbeit: Obgleich nur ein Teil des Tagewerks des Arbeiters aus bezahlter, der andre dagegen aus unbezahlter Arbeit besteht und gerade diese unbezahlte oder Mehrarbeit den Fonds konstituiert, woraus der Mehrwert oder Profit sich bildet, hat es den Anschein, als ob die ganze Arbeit aus bezahlter Arbeit bestünde. (Marx 1975, 48 f.)
Der Kapitalist beutet den Arbeiter aus, indem er ihm nicht den vollen Wert seiner Arbeit auszahlt. Effizienzsteigerungen und längere Arbeitszeiten erhöhen nach Marx lediglich den „Exploitationsgrad der Arbeit“ und die Möglichkeiten der „Aneignung von Mehrarbeit und Mehrwert“ (Marx 1983, 242) durch den Kapitalisten. Da der Kapitalist selbst nicht zur Wertschöpfung beigetragen hat, steht ihm nach Marx nicht zu, den Reingewinn anzueignen. In dieser produktionstheoretischen Einsicht steckt der Kern der Marxschen Ausbeutungsdefinition. Wie Arneson festhält, besteht die Ausbeutung nach Marx in der „appropriation by a class of nonworkers of the surplus product of a class of workers“ (Arneson 1981, 203). Da in Marx‘ Analyse nur die Arbeitnehmer einen produktiven Beitrag leisten, gehört ihnen allein der geschaffene Mehrwert, welcher nach Maßgabe des jeweiligen Beitrags aufzuteilen ist. In der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, welche „noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft“, erhält demgemäß „der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt“ (Marx 1962, 20), also das Wertäquivalent seiner abgeleisteten Arbeit. Marx erkennt sehr wohl an, dass der Mehrwert erst nach Abzug notwendiger Kosten für die Ersetzung verschlissener Produktionsmittel, die Expansion des Unternehmens sowie notwendiger Kapitalreserven (ebd., 19) zwischen den Arbeitern aufgeteilt werden kann. Ich möchte den Marxschen Ausbeutungsbegriff nun einer Kritik unterziehen und einen eigenen Ausbeutungsbegriff darlegen. Nozick hat gegen Marx eingewandt, dass die Notwendigkeit der Mehrwertabschöpfung nicht nur auf kapitalistische Gesellschaften zutrifft, sondern auf jede Gesellschaft, „in der Investitionen um größerer zukünftiger Erträge willen gemacht werden“ (Nozick 2006, 333). Die Mehrwertabschöpfung zugunsten zukünftiger Investitionen ist kein Alleinstellungsmerkmal kapitalistischer Produktionseigner, sondern u.a. auch ein Mittel, um gesellschaftliche Vorsorge
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für Arbeitsunfähige zu treffen, etwa über Sozialabgaben, die vom Bruttolohn abgezogen werden (ebd.). Der Vorwurf der Ausbeutung muss dann aber durch etwas anderes begründet werden als durch die Mehrwertabschöpfung. Wenn das Transaktionsverhältnis zwischen Kapitalist und Arbeitnehmer als grundsätzlich ausbeuterisch eingeordnet wird allein aufgrund der Tatsache, dass der Kapitalist eine Rendite für seine Investition verlangt, dann müsste man auch die Schlussfolgerung akzeptieren, so wiederum Arnold (1985, 93–96), dass letztlich jeder Austausch, bei dem ein Kapitalertrag zustande kommt, ausbeuterisch ist. Damit wäre jedoch nicht das kapitalistische Produktionssystem, sondern das Bereitstellen von Kapital als zinswürdige Leistung per se in Frage gestellt. Nozick gesteht andererseits zu, dass die Ausbeutung der Arbeitnehmer Marx zufolge erst entsteht durch den fehlenden Zugang zu Produktionsmitteln und den hieraus erwachsenden Zwang, ihre Arbeitskraft für Lohn an einen Eigner von Produktionsmitteln zu verkaufen (Nozick 2006, 333). Um diese Lesart der kapitalistischen Ausbeutung zu entkräften, hat Nozick argumentiert, dass man sich eine Gesellschaft vorstellen könne, in der neben Unternehmen in privater Hand solche in öffentlicher Hand um Arbeitnehmer konkurrieren. In einem solchen System hätten die Arbeiter die freie Wahl, ob sie in einem privat oder öffentlich geführten Unternehmen arbeiten wollten. In Betrieben unter Arbeiterführung werden Arbeiter nicht im Marxschen Sinne ausgebeutet, weil sie selbst zugleich Arbeiter und Kapitalbesitzer sind und über die Verwendung des Mehrwerts bestimmen. Wer sich dann aber freiwillig dafür entscheidet, in einem in Privatbesitz geführten Unternehmen zu arbeiten, wird ebenfalls nicht ausgebeutet, weil er sich nicht in der Situation befindet, seine Arbeitskraft an einen Kapitalisten verkaufen zu müssen (ebd., 334 f.). Die Ausbeutung in kapitalistisch organisierten Marktwirtschaften hängt dann aber ab vom mangelnden Zugang zu den Produktionsmitteln bzw. den mangelnden Wahlmöglichkeiten, nicht von der Mehrwertabschöpfung durch den jeweiligen Eigner der Produktionsmittel. Marx’ Argument, die kapitalistische Mehrwertabschöpfung sei grundsätzlich ausbeuterisch, erscheint angesichts dieser Einwände unhaltbar. Wohlgemerkt bedeutet dies nicht, dass Ausbeutung in kapitalistischen Gesellschaften ausgeschlossen ist. Die private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel kann Verhältnisse hervorbringen, die ausbeuterische Transaktionsbedingungen befördern. Extreme Machtungleichgewichte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind eine mögliche Folge des Systems der privaten Kapitalaneignung. Oben wurde dargelegt, inwiefern Arbeitnehmer angesichts solcher Ungleichheiten in eine forced choice Situation geraten können, in der sie den Forderungen des Arbeitgebers de facto alternativlos gegenüber stehen. Die Ausbeutung besteht hier jedoch in der Ausnutzung der besonders schwachen Position des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber. Sie besteht nicht aufgrund der Befugnis des Unternehmers, Gewinn anzueignen.
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An dieser Stelle ist eine Randbemerkung zum hier verwendeten Begriff der Ausbeutung vonnöten. Die sehr vielfältige Verwendungsweise im Englischen rührt m.E. daher, dass to exploit zugleich ‚ausbeuten‘ und ‚ausnutzen‘ bedeuten kann. Marx sprach im Deutschen unzweideutig von der Ausbeutung des Arbeitnehmers durch den Kapitaleigner, bei der per definitionem nur der Kapitalist gewinnen kann. Wertheimer hingegen vertritt die Auffassung, dass ausbeuterische Vertragsverhältnisse auch beiderseitig vorteilhaft sein können: „Indeed, I suspect that the exploitee often gets much more utility from a transaction than the exploiter“ (Wertheimer 1992, 223).6 Ob ausgebeutet wird, scheint davon abzuhängen, ob beide Vertragspartner durch die Transaktion ihren Nutzen maximieren. Bei Marx hing die Ausbeutung von den Eigentumsverhältnissen ab, hier scheint es eher eine Frage der fairen Verfahrensweise bei wirtschaftlichen Transaktionen zu sein. Es liegt ein allgemeinerer Begriff von Ausbeutung zugrunde, der von Goodin wie folgt skizziert wird: „A exploits B when A takes unfair advantage of B“ (Goodin 1988, 125). Die Ausbeutung besteht hier nicht in der Mehrwertabschöpfung und hängt auch nicht vom Kapitalbesitz ab. Sie erfolgt aufgrund der ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner, die den stärkeren Vertragspartner dazu befähigt, unfaire Vorteile gegenüber dem anderen zu erlangen (Goodin 1988, 125).7 Hiermit möchte ich Folgendes deutlich machen. Wenn ich davon spreche, Machtungleichgewichte könnten dazu führen, dass Arbeitnehmer ausgebeutet werden, dann ist damit eine vom Marxschen Begriff abweichende Verwendung des Terminus ‚Ausbeutung‘ gemeint. Ausbeutung besteht nicht darin, dass ein Individuum A (Kapitalist) einem Individuum B (Lohnarbeiter) nicht das volle Wertäquivalent seiner geleisteten Arbeitskraft auszahlt (Gewirth 1996, 205), sondern in der unfairen Ausnutzung der sehr ungleichen Machtposition, die A im Verhältnis zu B einnimmt. Ich werde daher den Begriff ‚Ausbeutung‘ im Sinne Goodins gebrauchen, der deutlich gemacht hat, was einen Fall von Ausbeutung von gewöhnlicher Vorteilsnahme (etwa durch eine Lüge) abgrenzt: The generic unfairness associated with interpersonal exploitation lies […] in playing for advantage in situations where it is inappropriate to do so. Exploitation […] consists es sentially in abuse of power […] Exploitation of persons consists in […] wrongful behavior of a particular sort, the violation of some particular moral norm in some particular way. The moral norm in question is […] that of protecting the vulnerable. (Goodin 1988, 144, 147)
6 Wertheimer bespricht hier, ob Leihmütter durch die Praxis der kommerziellen Leihmutterschaft ausgebeutet werden, die Frage, ob Ausbeutung beiderseitig vorteilhaft sein kann, lässt sich jedoch m.E. auch in einem allgemeineren Rahmen diskutieren. 7 Für eine ausführliche Besprechung der verschiedenen Verwendungsweisen und Bedeutungen des Ausbeutungsbegriffs siehe auch Miller (1989, 175–199).
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Dieser Lesart zufolge besteht Ausbeutung in dem Machtmissbrauch durch wirtschaftlich Starke gegenüber denjenigen, die für Ausbeutung besonders verwundbar sind. Goodin spricht auch davon, dass die Begriffsbedeutungen von ‚Ausbeutung‘ und ‚Die Schwachen beschützen‘ beinah synonym und daher analytisch untrennbar seien (Goodin 1988, 148). Gemeint ist, dass in dem Begriff ‚Ausbeutung‘ bereits die Anklage über die Ausnutzung der Schwachen enthalten ist und dass die Pflicht, die Schwachen zu schützen, u.a. darin besteht, Ausbeutung zu verhindern. Nun kann es im Rahmen einer institutionenethischen Arbeit, welche die (möglichen) wohlstandsförderlichen Effekte marktwirtschaftlicher Organisation grundsätzlich anerkennt, kaum darum gehen, aus dieser Argumentation die Pflicht abzuleiten, alle materiellen Ungleichheiten zu beseitigen und durch Enteignung jeglichen privaten in öffentlichen Kapitalbesitz zu verwandeln, um so in einer Situation der (materiellen) Gleichheit absolut sicher vor Ausbeutung zu sein. Goodin hat völlig zutreffend erkannt, was primär an ausbeuterischen Verhältnissen stört: „What worries us […] is the plight of the wronged, not that of the committer of the wrong“ (ebd., 151). Er leitet hieraus die sekundäre Pflicht aller ab, alles zu tun, damit niemand ausbeutet, indem er in unfairer Weise die Verletzlichkeit der Schwachen ausnutzt (ebd.). Hieraus ergibt sich m.E. die Pflicht, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Ausbeutung effektiv vermieden werden kann. Was zu beheben ist, sind auf Arbeitnehmerseite jene Umstände, die den Arbeitnehmer nötigen, seine Arbeitskraft zu jedem Preis zu verkaufen. Ob Arbeitnehmer ausgebeutet werden, hängt somit einerseits davon ab, welche outside options sie haben, von der Verfügbarkeit alternativer Berufs- und Anstellungsmöglichkeiten als realer ökonomischer Freiheit. Letztere wird gewährleistet durch die Gleichstellung der Vertragspartner8 und die Befähigung zur selbstbestimmten Integration im Markt.9 Ausbeuterische Verhältnisse entstehen andererseits, wenn sich das verfügbare Einkommen und Vermögen in den Händen weniger bündelt und so zu großen Machtungleichgewichten führt. Zu vermeiden sind also Situationen, in denen wenige Individuen inakzeptable Machtbefugnisse über das Leben anderer erhalten (Scanlon 2003, 212) und die Mehrheit der Arbeitnehmer relativ alternativlos dem Zwang unterliegt, jegliche Tätigkeit zu jeglichem Preis anzunehmen (Ulrich 2008, 279). Im Folgenden möchte ich nun das Argument diskutieren, wirtschaftliche Macht dürfe nicht in politische Macht konvertiert werden.
8 Ob eine solche Gleichstellung möglich und wünschenswert ist, wird Gegenstand des sechsten Kapitels sein. 9 Hierin folge ich terminologisch und inhaltlich Ulrich, der von der „chancengleichen Integration in die ‚Volkswirtschaft‘“ (2007, 7 f.) spricht.
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4.4 Die angemessene Sphäre des Geldes Thomas Scanlon führt einen weiteren Kritikpunkt gegenüber gesellschaftlichen Ungleichheiten an: „Avoid unacceptable forms of power or domination“ (Scanlon 2003, 207). Dieses Argument besagt, dass Ungleichheiten eine inakzeptable Form der Macht Einzelner hervorbringen können, über das Leben anderer zu bestimmen. Zum Beispiel können große, multinationale Unternehmen über Art, Umfang und Verhältnisse der Produktion bestimmen, sobald sie eine bestimmte Größe erreichen. Unternehmen können Quasi-Monopole errichten, wenn ihre Stellung so dominant wird, dass sie faktisch Distribution und Preis des betreffenden Guts kontrollieren. Gegenwärtige Beispiele wären die Suchmaschine google oder die Stellung von Microsoft im weltweiten Vertrieb von Betriebssystemen. Solche Marktmacht ist auch im Sinne derjenigen, die für mehr statt weniger Wettbewerb argumentieren, zu kritisieren. Homann weist darauf hin, dass im Wettbewerb eine hinreichende Zahl an potenten Wettbewerbern vorhanden sein muss, da eine permanente Machtposition „zu ruinöser Konkurrenz“ (Homann u. Blome-Drees 1992, 27) führe. Welche Folgerungen hinsichtlich der angemessenen Sphäre des Geldes lassen sich aus dem von Scanlon angeführten Kritikpunkt ableiten? Wenn man diesen in Zusammenhang mit der ersten Zusatzbedingung der Idealtheorie perfekten Wettbewerbs setzt, „There are numerous small sellers and buyers, so small that no individual seller or buyer can affect the market price“, dann trifft er lediglich die Vorannahme, Märkte seien so konstituiert, dass kein Marktteilnehmer eine dominierende Position erreichen kann. Diese Zusatzbedingung beschreibt eine Idealkonstruktion des Subsystems Marktwirtschaft, sie sagt nichts über die politische Einbettung und die Rahmenbedingungen für Unternehmen aus. Ich werde jedoch im Folgenden argumentieren, dass ökonomische Macht in real existierenden Märkten nicht nur den Wettbewerb im Markt verzerren kann, sondern dass diese ökonomische Macht in politische Macht umgemünzt werden kann und wird (Scanlon 2003, 205). Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Aussage, inakzeptable Formen von Macht und Dominanz müssten vermieden werden? Scanlon greift hier auf eine These zurück, die bereits von Michael Walzer vorgebracht wurde. Die von Walzer begründete Theorie der komplexen Gleichheit besagt, dass Ungleichheiten in der Distribution von Gütern zulässig sind, solange die betreffenden Güter nur in ihrer eigenen Sphäre Geltung und Bedeutung haben (Walzer 1992, 170). Dies bedeutet für die Sphäre des Geldes, dass Marktmacht sich nicht in politische Macht transformieren lassen darf. Andernfalls würde das Medium Geld zu einen im folgenden Sinne dominanten Gut: Ich bezeichne ein Gut dann als bestimmend oder dominant, wenn die Individuen, die über es verfügen, deshalb, weil sie darüber verfügen, zugleich auch über eine Vielzahl weiterer Güter gebieten können […] Dominanz bezeichnet eine Art der Verwendung und der
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Nutzung von sozialen Gütern, die über die Grenzen von deren intrinsischen Bedeutungen hinausgeht oder die diese Bedeutungen ihren Interessen und Vorstellungen gemäß selbst erzeugt. (Ebd., 37)
Das Argument Walzers besagt, dass Dominanz entsteht, wenn sich die Vormachtstellung hinsichtlich eines Guts so auswirkt, dass sie die Machtausübung und Einflussnahme in anderen Sphären ermöglicht. Walzer ist der Auffassung, die „Geld- und Warensphäre“ müsse in „den ihr zukommenden Grenzen“ (ebd., 170) gehalten werden: Was zur Debatte steht, ist die Herrschaft des Geldes außerhalb seiner Sphäre, die Möglichkeit wohlhabender Männer und Frauen, sich vermittels ihres Reichtums Privilegien und Vergünstigungen zu verschaffen, Staatsämter zu kaufen, Gerichte zu bestechen und politische Macht auszuüben. (Ebd., 184)
Wenn Wohlstand die Möglichkeit zur politischen Einflussnahme bedingt und Geld „Herrschaft mit sich bringt, und zwar nicht nur über Dinge, sondern auch über Menschen, dann hört es auf, eine private Ressource zu sein“ (ebd., 185). Es ist dann mittelbar als öffentliches Gut zu betrachten, insofern es genutzt wird, um den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zu beeinflussen. Sobald wirtschaftliche Macht in politische Macht transformiert wird, vermischen sich die Grenzen der Sphäre des Marktes, in der ausschließlich über das Medium Geld distribuiert wird nach dem Motto one dollar, one vote, und der politischen Sphäre, in der das Prinzip one man, one vote gilt. Die demokratische Machtausübung und Entscheidungsbefugnis sollte jedoch nicht durch Geld, sondern durch Wählerstimmen legitimiert und instruiert sein (ebd., 184). Um diese These zu untermauern, muss ich zeigen, dass Unternehmen und Interessengruppen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, und dass dies zur Dominanz des Geldes führt. Die Glaubhaftigkeit der Argumentation hängt somit von der Angemessenheit meiner Darstellung der derzeitigen Verflechtung von Politik und Wirtschaft ab. Ich werde daher im Folgenden zwei Beispiele aus der jüngeren Zeitgeschichte anführen, die meine These unterstützen, dass Geld zum dominanten Gut geworden ist und zur Beeinflussung politischer Entscheidungen genutzt wird. 4.4.1 Finanzkrise und Wall-Street-Lobbyismus Nach der Finanzkrise der Jahre 2007/2008 versuchte die amerikanische Regierung, strengere Regeln für die Finanzmärkte zu entwerfen, die schließlich 2010 im sogenannten „Dodd–Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act“10 festgelegt wurden. Ben Protess beschreibt eindringlich, wie Wall 10 Das Gesetz kann von der Website der Securities and Exchange Comission heruntergeladen werden. Online: www.sec.gov/about/laws/wallstreetreform-cpa.pdf, letzter Abruf: 29.10.2013.
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Street-Lobbyisten die Festlegung und Umsetzung regulierender Bestimmungen verhindert haben. Angeführt von Steve Bartlett, der eine Gruppe der 100 größten Finanzinstitutionen repräsentiert, wurde durch Lobbyarbeit versucht, die Regulierung der Finanzmärkte soweit wie möglich zu untergraben. Dabei spielte vor allem Geld und Einfluss eine Rolle: Wall Street has spared little expense, spending nearly $52 million to woo Washington in the first three months of the year, up 10 percent from the previous quarter, according to the Center for Responsive Politics. Mr. Bartlett’s organization, the deep-pocketed Financial Services Roundtable, itself spent $2.5 million in that period […] Mr. Bartlett says he is willing to be aggressive to protect the industry’s profits from overly harsh rules […] While Wall Street has lost a few skirmishes, the industry has gotten much of what it wanted. In late June, the Federal Reserve softened the cuts to debit-card fees, saving the industry billions of dollars a year. Mr. Bartlett’s group and other lobbying firms also pressed regulators to put off new derivatives regulations for up to six months, after the Treasury Department moved to excuse some of the complex securities from oversight altogether. (Protess 2011)
Hier wurden offenbar durch die Lobbyarbeit einer Interessengruppe die Ergebnisse von politischen Verhandlungen präjudiziert. Die Interessen der einzelnen Gruppen werden über Geld und die hieraus abgeleitete Macht durchgesetzt. Dies kann einmal über die schiere Marktmacht und der daraus erwachsenden politischen Macht beispielsweise von Finanzinstituten geschehen: Too big to fail bezeichnet die Tatsache, dass einige Finanzinstitute so groß und mächtig geworden sind, dass die Politik aufgrund der Gefahr eines Systemkollaps keine andere Wahl hat, als sie in Krisen aufzufangen. Oder das politische Geschehen wird über Wahlkampfspenden und Öffentlichkeitskampagnen beeinflusst. Heike Buchter beschreibt den Erfolg der Lobbyisten bei der Verwässerung des Dodd-Frank Act folgendermaßen: [B]ei genauerem Hinsehen ist das Gesetz nichts als eine leere Hülle. Vielleicht ist das auch kein Wunder, nachdem die Lobbyisten der Finanzinstitute eine gigantische Schlacht geschlagen hatten: Allein in den ersten drei Monaten gaben sie täglich 1,4 Millionen Dollar aus, rund 3.000 Interessenvertreter, fünf pro Abgeordneten, schickten die Wall-StreetHäuser zum Kapitol. Als der Präsident das Gesetz am 21. Juli 2010 unterschrieb, hatten die Abgeordneten statt durchgreifender Maßnahmen lediglich Rahmenvorgaben verabschiedet […] Die Banken haben ihr Lobbyistenheer nun auf die Aufsichtsbehörden angesetzt, und die operieren – im Zusammenspiel mit einigen Abgeordneten – mit Zuckerbrot und Peitsche. Unter anderem könnten den Aufsichtsbehörden bei unliebsamen Vorhaben Budgeteinschnitte drohen. Einige der neuen Aufgaben haben sie dem Vernehmen nach schon auf Eis gelegt. Bisher wurde noch kein entscheidender Aspekt von Dodd Frank abschließend umgesetzt. (Buchter 2011)
Die Aufsichtsbehörden, die für die Ausarbeitung der Regeln verantwortlich sind, werden also über entscheidungsbefugte Abgeordnete (welche den Lobbyisten wohlgesonnen sind) unter Druck gesetzt, indem ihnen mit der Kürzung ihrer Budgets gedroht wird im Falle einer zu harten Auslegung der Vorgaben.
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Damit greifen Lobbyisten über die Beeinflussung von Politikern direkt in die Arbeit politischer Institutionen ein, welche wiederum die Rahmenbedingungen für Finanzmarkttransaktionen festlegen. Hiermit schließt sich der Kreis im Sinne der Dominanz des Geldes. Das zweite Beispiel betrifft die Beeinflussung politischer Bewegungen durch einflussreiche Individuen und Verbände. 4.4.2 Unterstützung politischer Bewegungen durch Lobbyistenverbände und Interessengruppen David und Charles Koch sind US-Amerikanische Bürger und gehören zu den reichsten Menschen der Welt. Sie unterstützen über Lobbyarbeit libertäre Positionen und entsprechende politische Bewegungen. Um zu erläutern, wie die Brüder Koch ihren Reichtum nutzen, um die Ergebnisse politischer Meinungsbildung zu beeinflussen, ist zunächst das Verhalten der Repräsentanten der Republikanischen Partei zu erläutern, die 2010 mithilfe der Anhänger der Tea Party-Bewegung in den Senat gelangt sind. Konkret geht es mir um die im Sommer 2011 geführten Verhandlungen um eine Erhöhung der Neuverschuldungsgrenze der USA. Die Tea Party-Vertreter haben alle den Tax Payer Pledge unterschrieben, der wie folgt lautet: I, ___________, pledge to the taxpayers of the state of ___________, and to the American people that I will: ONE, oppose any and all efforts to increase the marginal income tax rates for individuals and/or businesses; and TWO, oppose any net reduction or elimination of deductions and credits, unless matched dollar for dollar by further reducing tax rates.11
Diesen Schwur haben 277 der derzeit 287 Senatoren und Abgeordneten der Republikanischen Partei unterschrieben, 87 hiervon stehen der Tea Party nahe (Jaschensky 2011), welche für niedrige Steuern und einen Minimalstaat eintritt. In den Verhandlungen um eine Erhöhung der Neuverschuldungsgrenze haben sich letztere Abgeordnete jedwedem Lösungsvorschlag widersetzt und letztlich gegen den beschlossenen Kompromissentwurf gestimmt. Grundlage ihrer Opposition war u.a. der Tax Payer Pledge, welcher sie dazu verpflichtet, keinerlei Steuererhöhungen zuzustimmen. Die Tea Party-Bewegung wird unter anderem finanziert von Rupert Murdoch und den genannten Brüdern David und Charles Koch. Die Letzteren unterstützen seit Jahrzehnten libertäre Institutionen, gründeten konservative Think Tanks und gehören zu den Hauptgeldgebern der Tea Party-Proteste im Sommer 2010, welche sie mittels Spenden an die Tea Party-nahe Organisation FreedomWorks förderten: Under its original name, Citizens for a Sound Economy, FreedomWorks received $12 million of its own from Koch family foundations. Using tax records, Mayer found that 11
Der Schwur ist auf der Website der „Americans for Tax Reform“ einzusehen. Online: http://www.atr.org/taxpayer-protection-pledge, letzter Abruf: 29.10.2013.
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Koch-controlled foundations gave out $196 million from 1998 to 2008, much of it to conservative causes and institutions. That figure doesn’t include $50 million in Koch In dustries lobbying and $4.8 million in campaign contributions by its political action committee, putting it first among energy company peers like Exxon Mobil and Chevron. (Rich 2010)
Unschwer zu erkennen, dass über die Unterstützung libertärer Niedrigsteuerpolitik durch wohlhabende Individuen vorrangig deren Interessen gedient ist. Gleichzeitig wirkt sich eine solche unverhältnismäßige Einflussnahme negativ auf die Chancengleichheit aus. Die Profiteure dieser Politik stellen einen verschwindend geringen Anteil der Bevölkerung dar.12 Sehr wohlhabende Individuen profitieren von Steuersätzen, die den Terminus ‚progressiver Steuersatz‘ beinahe umzukehren scheinen: The Congressional Research Service found that 200,000 millionaires – almost two-thirds of taxpayers with taxable income above $1 million – paid a lower tax rate (combining income and payroll taxes) than the typical taxpayer making less than $100,000. (New York Times Editorial, 2011)
Man braucht kein Experte in Steuerpolitik zu sein, um sagen zu können, dass dieses Verhältnis vom Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit her nicht zu rechtfertigen ist. Paul Krugman beschreibt die Regelungen zur Einkommens- und Kapitalsteuer und der geplanten Einkommenssteuererhöhung für Wohlhabende, die von Republikanern als „class warfare“ (Krugman 2011b) diffamiert wurden: So do the wealthy look to you like the victims of class warfare? […] policy has consistently tilted to the advantage of the wealthy as opposed to the middle class […] The budget office’s numbers show that the federal tax burden has […] fallen much more, as a percentage of income, for the wealthy. Partly this reflects big cuts in top income tax rates, but, beyond that, there has been a major shift of taxation away from wealth and toward work: tax rates on corporate profits, capital gains and dividends have all fallen, while the payroll tax – the main tax paid by most workers – has gone up. And one consequence of the shift of taxation away from wealth and toward work is the creation of many situations in which […] people with multimillion-dollar incomes, who typically derive much of that income from capital gains and other sources that face low taxes, end up paying a lower overall tax rate than middle-class workers. (Ebd.)
Die Steuer auf Kapital- und Unternehmensgewinne fällt also in den USA, während die Einkommenssteuer steigt. Die entscheidende Frage ist nun: wie kommen diese Einkommenssteuersätze zustande? Sie sind unter anderem das Ergebnis der Lobbyarbeit von Interessengruppen wie die von den Koch-Brüdern unterstützte Tea Party, die gegen jegliche Aufhebung der Bush Tax Cuts ist, welche einen erheblichen Anteil an der derzeitigen Steuersituation in den USA 12
„Die 400 reichsten Amerikaner besitzen inzwischen mehr als die ‚unteren‘ 150 Millionen Amerikaner zusammen.“ (Schulz 2011, 74)
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haben. Gleichzeitig sinken die Einkommen der Mittelschicht in den USA, und die Chancen auf ein prosperierendes Leben schwinden: 65 Prozent der Einkommenszugewinne in den Wachstumsjahren zwischen 2002 und 2007 wurden vom obersten Prozent der Steuerzahler kassiert. Die Produktivität der US-Wirtschaft stieg seit Beginn des Jahrtausends zwar erheblich. Doch die meisten Amerikaner hatten nichts mehr davon: Das durchschnittliche Jahreseinkommen fiel um über zehn Prozent auf 49909 Dollar. (Schulz 2011, 75)
Natürlich bedeutet ein solches Wohlstandsgefälle und die ungleiche Beteiligung an Wachstumsgewinnen Chancenungleichheit und mangelnde Fairness im Markt. Wenn die These vom ‚Wohlstand für Alle‘ in solcher Weise pervertiert wird, dann heißt dies, dass es nur für eine sehr kleine Gruppe eine tatsächliche Chance auf Wohlstandszuwachs gibt, während eine der grundlegenden Legitimationsbedingungen der Marktwirtschaft die These ist, dass alle von ihr profitieren. Im Anschluss an Homann ist hervorzuheben, dass die Marktwirtschaft dann und nur dann als moralisch vorzugswürdig ausgewiesen ist, wenn sie der ihr zugesprochenen Funktion gerecht wird, „das bisher beste bekannte Instrument zur Besserstellung aller Menschen, zur Verwirklichung der Solidarität aller“ (Homann u. Suchanek 2005, 409) zu sein. Wie aber soll diese These noch gerechtfertigt sein, wenn wie in den USA das Einkommen der reichsten ein Prozent der Bevölkerung zwischen 1982 und 2006 um 127 Prozent gestiegen ist, während das Nettovermögen der unteren 40 Prozent der Haushalte um gerade sieben Prozent gestiegen ist (Schulz 2011, 75)? Hier geht es jedoch nicht in erster Linie darum, ob eine solche Verteilung gerecht ist, sondern unter welchen Umständen sie zustande kommt. Larry Bartels vertritt die Auffassung, dass ein solcher Wandel der Wohlstandsverteilung zwischen den 1970er Jahren und der Gegenwart nicht durch natürliche Entwicklungszyklen von Marktwirtschaften zu erklären sei. „‚Die Ursache liegt in politischen Entscheidungen‘“ (Bartels, zitiert nach Schulz 2011, 76). Dies führt mich zurück zur Frage, ob wirtschaftspolitische Entscheidungen durch Interessengruppen verzerrt und manipuliert werden. Die hier vertretene These lautet, dass durch die Einflussnahme mächtiger Unternehmen politische Entscheidungen wie die Besteuerung von Kapital und Einkommen unzulässig präjudiziert werden. Anhand dieser Beispiele sollte deutlich gemacht werden, dass Geld derzeit tatsächlich ein im Sinne Walzers dominantes Gut darstellt. Es ist nun zu erörtern, in welchem Zusammenhang die konstatierte Dominanz des Geldes mit dem Z-Argument steht. Ich werde mit Rawls dafür argumentieren, dass Fairness und Chancengleichheit durch die Einflussnahme von Interessengruppen gefährdet werden und die „fair opportunity to hold public office and to affect the outcome of elections“ (Rawls 2001, 149) nicht mehr gewährleistet ist. Der „Wert der politischen Freiheit“ (Rawls 1979, 252) ist nur zu gewährleisten,
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wenn die Möglichkeiten zur Beeinflussung politischer Meinungsbildungsprozesse unterbunden werden. Hiermit ist jedoch lediglich dargelegt, inwiefern ein Zugriff des Marktes auf die Politik unzulässig ist. Bislang ungeklärt bleibt, ob durch die Dominanz des Geldes und dessen Einfluss auf die Politik die Hintergrundbedingungen Fairness und Chancengleichheit in Markttransaktionen gefährdet sind. Es geht also nicht um die politische, sondern um die ökonomische Freiheit, worunter ich faire Chancengleichheit und die Gewährleistung freier Transaktion im Markt verstehe. Ich möchte daher die These verteidigen, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen, die durch die unbotmäßige Einflussnahme wirtschaftlicher Interessengruppen zustande kommen, die Fairness und Chancengleichheit von Markttransaktionen untergraben, indem sie das Marktgeschehen in unzulässiger Weise manipulieren. Zu analysieren ist das Verhältnis von Markt und Politik, genauer die Konstitution der politischen Sphäre im Hinblick auf wirtschaftspolitische Entscheidungen. Die Frage der Fairness und Chancengleichheit von Transaktionen hängt damit ab von der Gerechtigkeit der politischen Verfassung. Hierzu schreibt Rawls: Die politischen Parteien sind […] keine bloßen Interessengruppen, die Eingaben an die Regierung in ihrem Interesse machen; um ein Mandat zu erlangen, müssen sie vielmehr eine Vorstellung vom öffentlichen Wohl entwickeln […] Was […] den Wert der politischen Freiheit betrifft, muss ihn die Verfassung für alle Mitglieder der Gesellschaft möglichst groß zu machen suchen. Sie muss für eine faire Möglichkeit sorgen, am politischen Leben teilzunehmen und mitzuwirken […] Die Freiheiten des Teilnahmegrundsatzes verlieren viel an Wert, wenn diejenigen, die über größere private Mittel verfügen, damit den Verlauf der öffentlichen Diskussion zu ihrem Vorteil lenken können […] Im Laufe der Zeit werden sie bei den Entscheidungen über gesellschaftliche Fragen ein Übergewicht erlangen […] [Die politischen Parteien müssen, P.S.] von privaten wirtschaftlichen Interessen unabhängig gemacht werden, indem ihre Tätigkeit im Rahmen der Verfassung aus Steuermitteln finanziert wird […] Wenn die Gesellschaft diese Kosten nicht übernimmt und die Parteien ihre Mittel von den besser gestellten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessengruppen beschaffen müssen, so werden die Gesichtspunkte dieser Gruppen ungebührliche Beachtung finden. (Rawls 1979, 252, 255 f., meine Hervorhebung)
Dieses Zitat verdeutlicht die Problematik der ungebührlichen Beeinflussung politischer Entscheidungen. Zunächst offenbart Rawls seine Ansicht zur Aufgabe von Politikern. Sie müssen, um für ein öffentliches Amt geeignet zu sein, eine Vorstellung vom Gemeinwohl haben. Ihre Ämter sollen dazu dienen, das Gemeinwohl zu befördern, nicht die Interessen wirtschaftlich mächtiger Individuen oder Unternehmen. Allen Bürgern muss zudem im Sinne des Teilnahmegrundsatzes die gleiche Chance bei der Festlegung politischer Entscheidungen zukommen. Dieser Grundsatz wird untergraben, wenn einzelnen die Möglichkeit gegeben wird, „ungebührliche“, und dies bedeutet m.E. unproportionale Be-
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achtung im politischen Prozess zu erlangen und so ein unzulässiges Übergewicht bei Entscheidungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bekommen. Nun lässt sich darlegen, inwiefern der overspill des Marktes die Chancengleichheit im Markt gefährdet. Wenn Markttransaktionen vor einem Hintergrund extremer Macht- und Einkommensungleichgewichte stattfinden, dann führen sie im Sinne des Z-Arguments zu „coercive bargaining conditions“ (Sandel 2000, 94 f.). Sie unterminieren die „fairness of agreements people make“ (ebd., 119). Markttransaktionen, die vor dem Hintergrund einer unfairen und unzulässigen Beeinflussung der Politik durch die Wirtschaft stattfinden, können nicht selbst als fair bezeichnet werden, da die politischen Entscheidungsprozesse, welche die Rahmenbedingungen für Markttransaktionen vorgeben, nicht im Sinne des Teilnahmegrundsatzes ausgestaltet waren. Die Schlussfolgerungen, die sich hinsichtlich des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft aus der bisherigen Argumentation ergeben, dürften relativ klar sein. Rawls hat sich aus genannten Gründen für ein Verbot von Großspenden an Politiker und Reformen hin zu einer öffentlichen Finanzierung von Wahlkampagnen ausgesprochen, um den fairen Wert der politischen Freiheiten zu schützen (Rawls 1993, 356–363; 2001, 149). Ich fasse zusammen. Um die Dominanz des Geldes zu verhindern, sind die Möglichkeiten mächtiger Unternehmen und Interessengruppen, politische Entscheidungen zu beeinflussen, derart zu regulieren, dass allen Marktteilnehmern als Staatsbürgern dieselben Chancen zukommen, wirtschaftspolitische Entscheidungen mitzubestimmen. Hieraus ergibt sich die Forderung, die Politik als oberste Ordnungsinstanz müsse im Sinne aller Gesellschaftsmitglieder unabhängig von wirtschaftlichen Partikularinteressen faire Chancengleichheit im Markt garantieren. Nachdem ich nun einige Argumente dargelegt habe, welche für die Regulierung von Transaktionen sprechen, möchte ich mich im folgenden Abschnitt der Diskussion des K-Arguments zuwenden.
4.5 Das K-Argument: Degradierende und korrumpierende Transaktionen In diesem Abschnitt möchte ich das K-Argument am Beispiel der kommerziellen Leihmutterschaft diskutieren. Ich werde dabei ausdrücklich nicht eindeutig Position beziehen, sondern die aufgeworfenen Fragen und Argumente lediglich darstellen und gegeneinander abwägen. Die international sehr unterschiedliche Gesetzeslage zur Leihmutterschaft zeigt, wie hochdiffizil eine normative und juristische Einordnung der aufgeworfenen Fragen ist. Ziel dieses Abschnitts ist es, anhand der kommerziellen Leihmutterschaft aufzuzeigen,
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inwiefern für die Begründung eines Verbots sehr viel höhere normative Anforderungen erfüllt werden müssen als für die durch das Z-Argument geforderten fairen Hintergrundbedingungen für Transaktionen. Ich möchte nun zunächst das K-Argument ausführlicher explizieren und in Perspektive setzen. Das K-Argument zielt auf die kulturellen Folgen der Kommodifizierung von Gütern. Das Argument bezieht sich auf einen bestimmten Wert, welcher dem betreffenden Gut zugesprochen wird. Wenn dargelegt werden kann, dass dieser Wert durch die Kommodifizierung korrumpiert oder degradiert wird, darf das betreffende Gut nicht über den Markt gehandelt werden, also auch nicht unter der Bedingung der fairen Chancengleichheit. Das K-Argument ist somit nicht reduzierbar auf die Forderungen des Z-Arguments (Sandel 2000, 95): According to this objection, certain moral and civic goods are diminished or corrupted if bought and sold for money. The argument from corruption cannot be met by establishing fair bargaining conditions. If the sale of human body parts is intrinsically degrading, a vio lation of the sanctity of the human body, then kidney sales would be wrong for rich and poor alike. The objection would hold even without the coercive effect of crushing poverty. (Sandel 2000, 94, meine Hervorhebung)
Das K-Argument erkennt einen Aspekt des menschlichen Wohlergehens, welcher beispielsweise durch den Organhandel verletzt wird und auch durch die Reform der Hintergrundbedingungen nicht zu beheben ist: die Unversehrtheit des menschlichen Körpers. Hier kommt die Bedeutung der Begriffe ‚degradierend‘ und ‚korrumpierend‘ zum Tragen: Der Handel mit Körperteilen degradiert den moralischen Wert der körperlichen Unversehrtheit und wirkt sich korrumpierend auf unsere Wahrnehmung dieses Werts aus. Das K-Argument besagt, dass wenn die Kommodifizierung eines Guts den ihm zugeschriebenen Wert untergräbt, die Distribution über den Markt unterbunden werden muss. Wenn also beispielsweise Habermas vom overspill des Marktes auf die Lebenswelt spricht (siehe Kapitel 3.4), dann äußert er die Überzeugung, die Lebenswelt diene der Reproduktion kultureller und sozialer Werte über die kommunikative Verständigung. Weil das Eindringen des Marktes eine Gefährdung dieser Funktion der Lebenswelt darstellt, sollte es Habermas zufolge unterbunden werden. Während dieses Beispiel für manchen Leser intuitiv einsichtig sein mag, möchte ich darlegen, warum die Berufung auf den besonderen Wert eines Guts auch problematisch sein bzw. zu unangemessen strukturkonservativen Sichtweisen führen kann. Die auf Aristoteles zurückgehende Auffassung, Gütern einen bestimmten Zweck zuzusprechen, wird gemeinhin als Essentialismus bezeichnet. Karl Popper hat gegen diese Sichtweise vorgebracht, sie stünde im Widerspruch zu den Methoden der modernen Wissenschaft. Popper zufolge war Aristoteles der Auffassung, dass
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das Endziel aller Forschung in der Zusammenstellung einer Enzyklopädie der durch Intuition gewonnenen Definitionen aller Wesenheiten bestand, das heißt in der Zusammenstellung der Namen aller Wesenheiten zusammen mit ihren Definitionsformeln […] Nun besteht nur geringer Zweifel darüber, dass alle diese essentialistischen Ansichten den Methoden der modernen Wissenschaft schärfstens widersprechen […] Obwohl wir in der Wissenschaft unser Bestes tun, die Wahrheit zu finden, sind wir uns doch des Umstandes wohl bewusst, dass wir nie sicher sein können, ob wir sie gefunden haben. (Popper 1992b, 18)
Wer sich auf die „Wesenheit“ eines Guts beruft, meint, seinen wahren Wert erkannt zu haben. Mit Popper ließe sich argumentieren, dass es eine solche letztgültige Festlegung nicht geben kann, weder in Bezug auf wissenschaftliches Wissen noch im Hinblick auf normative Überzeugungen über die adäquate Verwendungsweise von Gütern. Die im K-Argument begründete kulturkonservative Auffassung des besonderen Werts und Zwecks von Gütern ist daher nicht unproblematisch, wie auch Sandel hervorhebt: If […] we derive the fitting or proper way of regarding goods from some notion of the essential nature of the practices in questions [sic], we run the risk of essentialism – the idea that the purposes and ends of social practices are fixed by nature. (Sandel 2000, 106)
Das Problem dieser Sichtweise besteht darin, dass sie womöglich nicht offen ist für kulturelle Umdeutungen bezüglich des Wertes des betreffenden Guts (Radin 1996, 87). Mit Kirchgässner wurde in Kapitel 3.1 darauf hingewiesen, dass Perzeptionen über die rechtmäßige Verwendung von Gütern kulturellem Wandel unterworfen sind. Die referierte Sichtweise von der Zweckmäßigkeit der Güter läuft Gefahr, sich gegenüber kulturellen Umdeutungen über ihre Natur zu verschließen und damit unangemessen strukturkonservativ zu werden. Das gegenteilige Argument allerdings (dem Kirchgässner zugeneigt scheint), dass grundsätzlich alles kommodifizierbar ist, besagt, dass es keine Eigenschaften des menschlichen Lebens gibt, die einen kulturunabhängigen Wert haben. Dies erscheint mir ebenso kontraintuitiv. Das Z-Argument ist in hier nicht hilfreich, da es allein dazu dient, faire Distributionsbedingungen zu gewährleisten, nicht um über die angemessene Distributionsform von Gütern zu entscheiden. Ob der Handel mit bestimmten Gütern verboten werden sollte, kann daher nur durch das K-Argument geklärt werden. Bevor ich eine solche Diskussion am Beispiel der kommerziellen Leihmutterschaft unternehme, möchte ich einige klärende Erläuterungen voranstellen, die eine spezifischere inhaltliche Bestimmung des K-Arguments ermöglichen. Konkret geht es mir darum, welche Formen der Wertschätzung eines Guts dagegen sprechen könnten, es zu kommodifizieren und wie sich die Behauptung, ein Gut sollte nicht über den Markt gehandelt werden, mit Inhalt füllen lässt.
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4.5.1 Wertschätzung und Entfremdung Die Schwierigkeit, die Forderung nach einem Handelsverbot zu begründen, ist durch die formale Grenzenlosigkeit des Marktes bedingt. In Gesellschaften, in denen sich freie Märkte herausgebildet und als dominante Distributionsform für Güter etabliert haben, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, warum ein bestimmter Gegenstand kein Konsumgut sein sollte und sich der Markt folglich nicht als Distributionsform eignet. Mit Nozick ist festzuhalten, dass, wer für ein Verbot plädiert, auch deutlich machen muss, warum er „einverständliche kapitalistische Akte zwischen erwachsenen Menschen“ (Nozick 2006, 218) verbieten möchte.13 Hierzu muss gezeigt werden, dass eine bestimmte Eigenschaft des betreffenden Guts die Forderung nach einem Handelsverbot rechtfertigt. Gleichzeitig müssen solche Forderungen auch immer die jeweiligen Konsequenzen eines Verbots berücksichtigen. Das Verbot eines Marktes bedingt oft nicht dessen Verschwinden, sondern sein illegales Fortbestehen unter sehr viel schlechteren Bedingungen, wie etwa bei der Prostitution, dem Drogen- oder dem Organhandel zu beobachten ist. Eine Möglichkeit, das K-Argument mit Inhalt zu füllen und damit die etwaige Forderung nach einem Handelsverbot zu begründen, besteht darin, zu prüfen, ob das diskutierte Gut als ‚Ware‘ verstanden werden kann bzw. ob die Einordnung als Ware unseren Ansichten über den ‚Wert‘ des betreffenden Guts entspricht. Anderson unterscheidet hinsichtlich der Evaluation von Gütern zwischen Respekt und Nutzen. Diese stellten „different modes of evaluation“ (Anderson 1990, 72) dar. Ein Gut, dem wir einen besonderen Wert oder Status zusprechen, beurteilen wir in einer anderen Weise als eines, welches wir allein unter seinem Nutzenaspekt erfassen. Anderson nennt verschiedene Formen der Wertschätzung, die in unterschiedlicher Weise Respekt bekunden, so z.B. Liebe, Bewunderung, Ehre oder Anerkennung (ebd.). Diese Formen der Wertschätzung werden dem K-Argument zufolge nicht adäquat berücksichtigt, wenn wir bestimmte Güter allein unter ihrem Nutzenaspekt als Ware betrachten. Die Schlussfolgerung lautet, dass der Handel mit ihnen zu unterbinden ist: To say that something is properly regarded as a commodity is to claim that the norms of the market are appropriate for regulating its production, exchange, and enjoyment. To the extent that moral principles or ethical ideals preclude the application of market norms to a good, we may say that the good is not a (proper) commodity. (Ebd.) 13 Nozick bespricht an zitierter Stelle die Frage, warum in sozialistischen Gesellschaften seiner Ansicht nach keinerlei privater Handel möglich ist, ohne dass der Verteilungsgrundsatz verletzt würde. Die sozialistische Gesellschaft müsse auch den Handel mit solchen Gütern, die den Bürgern unter dem sozialistischen Verteilungsgrundsatz zustehen, vollständig unterbinden (Nozick 2006, 218). Die zitierte Passage lässt sich jedoch auch auf Kritiker einzelner Märkte anwenden, die für ein Verbot derselben plädieren. Sie müssen begründen, warum sie zwei (oder mehr) Menschen daran hindern wollen, eine Transaktion durchzuführen, für die sie sich frei entscheiden und von der sie sich einen bestimmten Gewinn versprechen.
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Wir entscheiden demnach anhand der verschiedenen Formen der Wertschätzung von Gütern über den für sie adäquaten Distributionsmechanismus. Bei reinen Nutzgegenständen eignet es sich, diese als Ware zu handeln. Bei Objekten der Zuneigung, wie z.B. der Fürsorgepflicht von Eltern gegenüber ihren Kindern, oder der Ehre, wie z.B. der Bekleidung öffentlicher Ämter, sollte aufgrund ihrer herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung nicht über den Markt entschieden werden, wer entsprechende Positionen einnimmt. Ob allerdings allein diese intuitive Einordnung ausreicht, um die sehr weitreichende Forderung nach einem vollständigen Handelsverbot zu begründen, ist zu bezweifeln. Hierfür bedarf es einer profunderen Darlegung der einzelnen Argumente und Kriterien für die (De-)Kommodifizierung der betreffenden Güter, der ich mich im Folgenden zuwenden möchte. Eine weitere Möglichkeit, für die Nicht-Kommodifizierbarkeit bestimmter Güter zu argumentieren, wird unter anderem von Radin besprochen. Radin vertritt die Auffassung, manche Güter seien nicht zu entfremden14: The traditional meanings of inalienability do have a common core: the notion of alienation as a separation of something – an entitlement, right, or attribute – from its holder […] Inalienability negates the possibility of separation. (Radin 1996, 16)
Die These der Unveräußerlichkeit (inalienability) besagt, dass es bestimmte Dinge gibt, die aufgrund ihrer Natur nicht vom Träger dieser Entität entfremdet bzw. von diesem nicht freiwillig abgelegt oder ihm dauerhaft abgesprochen werden können. Menschenrechte können nicht vom Rechtsträger separiert werden, insofern als er diese, selbst wenn sie ihm vorenthalten oder temporär abgesprochen werden (z.B. während einer Gefängnisstrafe), dennoch im Sinne eines nicht veräußerlichen Anspruchs besitzt. Das im Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angeführte Recht „Everyone has the right to life, liberty and security of person“ kann zwar missachtet oder entzogen werden (durch Mord oder Gefängnisstrafe). Wenn aber grundlegende Menschenrechte universelle Gültigkeit haben, kann dem Rechtsträger der Rechtsanspruch nicht dauerhaft abgesprochen, sondern nur vorenthalten werden. Die Menschenrechte sind somit ein Beispiel für Güter, die im strengen Sinne nicht zu entfremden sind, d.h. eine im Markt übliche Trennung von Produzent und Ware ist hier bereits logisch ausgeschlossen. Wie Radin ausführt, zeigt sich eine weitere, schwächere Bedeutung von Nicht-Entfremdbarkeit, wenn ein Gut nicht über den Markt distribuiert werden sollte („market inalienability“, ebd., 18). Diese Kennzeichnung besagt nicht, dass ein Gut überhaupt nicht übertragen werden kann, sie besagt lediglich, dass der Marktmechanismus nicht der adäquate Distributionsmechanismus ist: 14 Der Begriff ‚Entfremdung‘ nimmt bereits bei Marx’ Kapitalismuskritik eine bedeutsame Rolle ein. Marx erkennt in der Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit ein Wesensmerkmal kapitalistischer Produktionsweise. Siehe u.a. Marx (1968, 510–522).
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[U]nlike the inalienabilities attaching to welfare entitlements or to political duties, market-inalienability does not render something inseparable from the person. Rather, it specifies that market trading may not be used as a social mechanism of separation. ‚Not for sale‘ does not necessarily mean not to be detached. (Ebd., 19)
Unter diese Definition wären Güter zu fassen, die zwar nicht untrennbar mit ihrem Besitzer verbunden sind, für die der Markt jedoch nicht die adäquate Distributionsform darstellt. Bei der kommerziellen Leihmutterschaft ist nun die zentrale Frage, ob es sich bei der weiblichen Gebärfähigkeit um ein ebensolches Gut handelt, das nicht für die Distribution über den Markt geeignet ist. Anhand Radins Definition der market inalienability ließe sich beispielsweise argumentieren, dass lediglich die kommerzielle Leihmutterschaft zu kritisieren ist, nicht aber die Entscheidung, die befruchtete Eizelle eines befreundeten Paars aufgrund von Dankbarkeit oder Verbundenheit als Geschenk auszutragen (ebd., 20). Nach dieser inhaltlichen Bestimmung des K-Arguments möchte ich nun die Praxis der kommerziellen Leihmutterschaft zunächst erläutern und anschließend einige Argumente für und wider die Legalisierung von Leihmutterschaften diskutieren. 4.5.2 Die kommerzielle Leihmutterschaft im Lichte des K-Arguments Der Begriff kommerzielle Leihmutterschaft (engl. commercial surrogacy) beschreibt ein Transaktionsverhältnis, bei dem eine gebärfähige Frau einwilligt, gegen Entlohnung ein Kind auszutragen für ein entweder nicht zeugungsfähiges Paar oder für Paare, bei dem die Schwangerschaft aufgrund von Risikofaktoren zu riskant wäre. Die Leihmutterschaft findet derzeit in zwei Formen statt. Entweder wird der Leihmutter eine befruchtete Eizelle eingepflanzt, deren Samen und Eizelle von dem Paar stammen, welches die Dienste der Leihmutter in Anspruch nimmt (die sog. gestational surrogacy, im Folgenden ‚Schwangerschaftsleihmutterschaft‘). Wenn die Frau des Käuferpaares über keine intakten Eizellen verfügt, wird eine Eizelle der Leihmutter mit dem Samen des Mannes befruchtet. Dies ist die ‚traditionelle‘ Form der Leihmutterschaft. In der Regel sind Leihmutterschaftsverträge so konstruiert, dass die Leihmutter ihr Sorgerecht für das auszutragende Kind an die zukünftigen Eltern abtritt und für ihre Dienste eine monetäre Gegenleistung erhält sowie alle medizinischen Behandlungen und mögliche Folgekosten durch die Leihmutterschaftsagentur erstattet werden. Es ist wichtig, vorab hervorzuheben, dass es bei den zwei Formen der Leih mutterschaft relevante Unterschiede hinsichtlich der Interessen und Rechte der Leihmutter gibt. Während die Leihmutter bei der Schwangerschaftsleihmutterschaft lediglich ihre Gebärfähigkeit zur Verfügung stellt, ist sie bei der traditionellen Leihmutterschaft die biologische Mutter. Bei der traditionellen Leihmutterschaft stellt sich die Frage, ob die Leihmutter ihr eigenes Kind verkauft und sie somit eine Form des Kinderhandels betreibt, während bei der Schwanger-
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schaftsleihmutterschaft zunächst grundsätzlich geklärt werden muss, was hier überhaupt gehandelt wird. Ist die Gebärfähigkeit, welche die Leihmutter zur Verfügung stellt, vergleichbar mit dem Verkauf des eigenen Samens oder erwirkt die Leihmutter durch das Austragen des Kindes einen Sorgerechtsanspruch für das Kind, mithin: Kann man davon sprechen, dass es ein rechtlich bedeutsames Verhältnis zwischen Leihmutter und Kind gibt? Diese Frage ist bisher in der Diskussion noch nicht ausreichend behandelt worden. Um Missverständnissen vorzubeugen, werde ich hier folgende Festlegung vorwegnehmen: Nach meinem Verständnis wird bei der traditionellen Leihmutterschaft sowohl die Bereitstellung der eigenen Gebärmutter zur Austragung eines Kindes als Dienstleistung verkauft als auch das Kind selbst, weil die Leihmutter gleichzeitig die biologische Mutter des Kindes ist. Bei der Schwangerschaftsleihmutterschaft hingegen wird nur die Gebärfähigkeit als Dienstleistung bereitgestellt. Hier kommt also nicht das Kind zum Verkauf (weil es keine biologische Verbindung zwischen Kind und Leihmutter gibt), sondern nur die Gebärfähigkeit der Mutter. Welche normativen Schlussfolgerungen sich aus dieser Unterscheidung ableiten, wird im Folgenden zu erörtern sein. Elizabeth Anderson referiert einige Argumente, die zur Rechtfertigung der kommerziellen Leihmutterschaft angeführt werden. Ich möchte drei dieser Argumente darstellen und anschließend diskutieren. (a) Zwei Rechte15 sprechen für den Markt für Leihmutterschaften: „the right to procreate and freedom of contract“ (Anderson 1990, 74). Menschen haben das Recht, sich fortzupflanzen (i) und das Recht, Verträge einzugehen (ii). (b) Die Gebärarbeit der Leihmutter stellt als „labor of love“ (ebd.) eine altruistische Tätigkeit dar, weil Leihmütter kinderlosen Paaren zum Elternglück verhelfen. Die kommerzielle Leihmutterschaft sollte daher legalisiert und gefördert werden (ebd., 75). (c) Mithilfe von Analogien zu anderen Praktiken wie der Samenspende oder der Adoption lässt sich für die Legalisierung von Leihmutterschaften argumentieren. Durch diese Praktiken wurde die Unterscheidung von „genetic, gestational, and social parenting“ (ebd.) hervorgebracht. Bei Adoptionen wird von einem engen, biologisch determinierten Begriff der Elternschaft abgesehen zugunsten eines weiteren, sozial bestimmten Fürsorgebegriffs. Die Leihmutterschaft ist nichts anderes als eine Samenspende oder die Freigabe zur Adoption. Wer demnach für die Samenspende oder Adoptionen eintritt, kann nicht gegen die Leihmutterschaft sein. Ich möchte diese drei Argumente nun detailliert diskutieren und evaluieren. 15 Anderson spricht von zwei „fundamental human rights“ (Anderson 1990, 74) auf Vertragsfreiheit und Fortpflanzung. Um etwaige Diskussionen um die Begründung und Reichweite eines solchen (strittigen) Menschenrechts auf Fortpflanzung auszuklammern, spreche ich hier lediglich von ‚Rechten‘.
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(a) Rechte auf Vertragsfreiheit und Fortpflanzung Anderson gesteht zu, dass ein Verbot der Leihmutterschaftspraxis sowohl als Verletzung des Rechts auf Fortpflanzung als auch der Vertragsfreiheit angesehen werden könnte (ebd., 90). Ich möchte mich hier zunächst mit dem Recht auf Fortpflanzung (i) auseinandersetzen. Anderson referiert das Urteil eines Richters, der in einem Rechtsstreit zur Leihmutterschaft urteilte, dass das Recht auf Fortpflanzung auch nichtkoitale Methoden umfassen müsse, also neben der Adoption und Samenspende auch die Leihmutterschaft: „The interests upheld by the creation of the family are the same, regardless of the means used to bring the family into existence“ (ebd.). Was die Interessen der potentiellen sozialen Eltern angeht, so lässt sich Anderson zufolge der Standpunkt vertreten, dass ihr Recht auf Fortpflanzung auch das Recht beinhaltet, alle ihnen zustehenden Mittel zu ergreifen, um zu Nachwuchs zu gelangen, auch wenn ihnen dies aufgrund von körperlichen Einschränkungen auf herkömmlichem Wege nicht möglich ist. Allerdings ist dies m.E. eine sehr weite Auslegung des Rechts auf Fortpflanzung. Als positives Recht würde es die Pflicht anderer generieren, dafür Sorge zu tragen, dass das Recht auf Fortpflanzung für jeden Menschen gewährleistet ist. Somit wäre die kommerzielle Leihmutterschaft gerechtfertigt, weil Leihmütter der positiven Pflicht nachkommen, das Recht auf Fortpflanzung derjenigen Gesellschaftsmitglieder zu gewährleisten, die nicht auf herkömmlichem Weg Eltern werden können. Eine solche Bestimmung des Rechts auf Fortpflanzung führt Befürworter der kommerziellen Leihmutterschaft jedoch zu einer unhaltbaren Position: Bei der kommerziellen Leihmutterschaft geht es nicht darum, Leihmütter zu verpflichten, sondern darum, dass diejenigen, welche gern Kinder kriegen möchten, aber nicht können, mit denjenigen, welche es können und bereit sind, diese Dienstleistung anzubieten, einen freien Vertrag schließen. Bei einer positiven Pflicht wäre hingegen zu diskutieren, ob staatliche Einrichtungen für die ‚Bereitstellung‘ von Leihmüttern Sorge zu tragen hätten. Dies ist sicher nicht, was Befürworter der kommerziellen Leihmutterschaft im Sinn haben.16 Man könnte das Recht auf Fortpflanzung jedoch auch als rein negatives Recht auslegen. Dann generierte es die Pflicht, die Fortpflanzung des Einzelnen nicht zu behindern. Dieses Recht würde die Pflicht nach sich ziehen, keine Zwangssterilisationen vorzunehmen und Paare nicht daran zu hindern, Kinder zu bekommen. Es ließe sich diskutieren, ob ein solches negatives Recht auch beinhaltet, dass Paare nicht daran gehindert werden, einen Vertrag über eine kommerzielle Leihmutterschaft einzugehen. Hiermit komme ich zum zweiten Recht (ii), dem Recht auf Vertragsfreiheit. Ich bin der Auffassung, dass dieses Recht das schlagkräftigste Argument für 16
Ich danke Klaus Steigleder und Thomas Weitner für hilfreiche Anregungen.
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die Legalisierung von kommerziellen Leihmutterschaften bietet. Ein Verbot der Leihmutterschaft könnte als paternalistischer Eingriff in die Vertragsfreiheit von Frauen angesehen werden, indem es impliziert, dass diese nicht fähig seien, sich ein angemessenes Urteil über die Konsequenzen einer Leihmutterschaft zu verschaffen. Ein Verbot might be thought to suggest that women as a group are too emotional to subject themselves to the dispassionate discipline of the market. Then prohibiting surrogate contracts would be seen as an offensive, paternalistic interference with the autonomy of the surrogate mothers. (Ebd., 91)
Argumente gegen die Leihmutterschaft müssen somit begründen, inwiefern ein Verbot aus übergeordneten Gründen gerechtfertigt ist, trotz der damit einhergehenden Einschränkung des Rechts auf Vertragsfreiheit. Es stellt sich zudem die Frage, ob die Leihmutter durch den Verkauf tatsächlich geschädigt wird. Man darf unterstellen, dass Leihmütter den Vertrag vorrangig aus finanziellen Interessen eingehen. Die Leihmutter hat einen erheblichen finanziellen Nutzen durch die Einwilligung, ein Kind für andere auszutragen.17 Zudem geht sie den Vertrag aus freien Stücken ein. Mithilfe des K-Arguments muss also analysiert werden, ob die Leihmutterschaft für die Leihmutter selbst degradierend ist und ob diese Degradierung als ‚Trumpf‘ gegenüber dem Recht auf Vertragsfreiheit dienen kann. Zudem muss verdeutlicht werden, worin die Degradierung besteht bzw. worauf sie beruht. Womöglich wird die kommerzielle Leihmutterschaft nur als sozial degradierend angesehen, wie Alan Wertheimer deutlich macht: [I]t might be claimed that a person can lose the respect of others or be degraded in their eyes, even if she does not lose self-respect or become degraded in her own eyes. So to the extent that a person has an interest in the way she is regarded by others, surrogacy may injure those interests. But that raises at least two points. First, it is not clear that surrogacy actually does have these effects. Second, to the extent that these effects stem solely from the way surrogacy is regarded by the society – as a matter of fact and without separate normative justification – it is not clear that it represents a basis for condemning the practice rather than a basis for condemning society’s reaction. Although homosexuality was (or is) a basis for a loss of social respect, this provides no reason to condemn homosexuality. (Wertheimer 1992, 219 f.)
Wie Wertheimer m.E. zutreffenderweise ausführt, ist bei dem Argument, die kommerzielle Leihmutterschaft müsse aufgrund ihrer degradierenden Natur verboten werden, sehr genau darzulegen, worin genau die Degradierung besteht. Wenn die Leihmutterschaft sich als nicht intrinsisch degradierend, son17 Derzeit zahlt etwa die in Kalifornien ansässige Agentur West Coast Surrogacy, die ausschließlich Schwangerschaftsleihmutterschaften durchführt, unerfahrenen „first time surrogates“ 25 000 US-Dollar. „Experienced surrogates“ erhalten zusätzlich 5–10.000 US-Dollar. Bei Mehrlingsgeburten erhalten Leihmütter eine „multiples fee“, bei Zwillingen zusätzlich 5.000 US-Dollar, bei Drillingen zusätzlich 10.000 US-Dollar. Siehe: http://westcoastsurrogacy.com/financial.html, letzter Abruf: 29.10.2013.
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dern als allein aufgrund ihrer stigmatisierenden sozialen Wirkungen degradierend herausstellt, dann ist nicht die Dienstleistung an sich zu kritisieren, sondern die stigmatisierende Reaktion. Auch muss begründet werden, inwiefern die Dienstleistung an sich korrumpiert und degradiert, selbst dann, wenn es von den Anbieterinnen gar nicht derart wahrgenommen wird. Die Forderung nach einem Verbot allein aufgrund der gesellschaftlichen Perzeptionen über die Unangemessenheit der betreffenden Tätigkeit begründen zu wollen, muss scheitern, wie Wertheimer mit dem Vergleich zur gesellschaftlichen Wahrnehmung der Homosexualität überzeugend vor Augen führt.18 Im Zusammenhang mit dem Recht auf freie Verträge ist auch zu erörtern, über was für ein Gut hier eigentlich ein Vertrag geschlossen wird. Kann das Sorgerecht als übertragbares Eigentumsrecht behandelt werden? In Leihmutterschaftsverträgen werden Kinder als privatrechtliches Eigentum angesehen, insofern als hier das Sorgerecht der Mutter als veräußerliches Gut eingeordnet wird. Dies widerspricht Anderson zufolge dem ‚natürlichen‘ Verhältnis von Eltern und Kindern: „Parents‘ rights over their children are trusts, which they must always exercise for the sake of the child“ (Anderson 1990, 75). Die Rechte von Eltern gegenüber ihren Kindern kommen ihnen nach Anderson qua ihrer Fürsorgepflicht zu, welche sie im Sinne der Kinder wahrnehmen sollen. Ähnlich wird dieses Recht auch im deutschen Grundgesetz ausgelegt: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (Grundgesetz, Art. 6, Abs. [2])
Dieses Recht wird hier nicht als Eigentumsrecht, sondern in erster Linie als Pflicht zur Ausübung elterlicher Fürsorge definiert. Wenn Kinder nun für Geld verkauft werden, dann wird diese Fürsorge jedoch in ein über den Markt abtretbares Eigentumsrecht an Kindern umgewandelt: For in this practice the natural mother deliberately conceives a child with the intention of giving it up for material advantage […] She and the couple who pay her to give up her parental rights over her child thus treat her rights as a kind of property right. They t hereby treat the child itself as a kind of commodity, which may be properly bought and sold. (Anderson 1990, 76)
Diese Argumentation ist m.E. nur für den Fall der traditionellen Leihmutterschaft gültig. Bei dieser Praxis ist Anderson zufolge problematisch, dass erstens das Kind wie eine Ware behandelt und somit degradiert wird und zweitens in diesem Handel niemand die Interessen des Kindes berücksichtigt. Womöglich würde es lieber bei der leiblichen Mutter aufwachsen (ebd., 75 f.). Allerdings spricht nichts dagegen, dass die zukünftigen sozialen Eltern genau der 18 In
Kapitel 5.4 werde ich im Zusammenhang mit der Forderung nach einem Mindestlohn darlegen, inwiefern stigmatisierende Statusunterschiede allgemein zu vermeiden sind.
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Rolle nachkommen, welche Anderson offensichtlich den biologischen Eltern zuspricht, namentlich die Wahrnehmung der Fürsorgepflicht gegenüber dem Kind. Das Argument, der Verkauf des Kindes degradiere dieses, spricht also lediglich dafür, dass Leihmutterschaftsverträge ähnlich wie Adoptionen über staatliche Institutionen in einem streng regulierten Markt vermittelt werden sollten. Ob allerdings durch eine solche Regelung auch die Interessen des Kindes ausreichend geschützt würden, ist eine sehr weitreichende Frage, die ich hier nicht abschließend einzuschätzen vermag. Ich möchte nun mit dem Argument der unvollständigen Information einen weiteren möglichen Einwand gegen die Ausübung des Rechts auf Vertragsfreiheit in Leihmutterschaftsverträgen diskutieren. Vorab ist allerdings kenntlich zu machen, dass dieses Argument sich weniger auf einen bestimmten Wert bezieht, welcher durch die Kommodifizierung korrumpiert würde, sondern vielmehr auf die notwendigen Vorbedingungen für freie Transaktionen abhebt. Insofern lässt sich das Argument der unvollständigen Information eher unter das Z-Argument subsumieren. Dennoch ist es sinnvoll, dieses im Zusammenhang mit der kommerziellen Leihmutterschaft zu diskutieren, weil es hilfreiche Rückschlüsse auf das K-Argument möglich macht. Die Voraussetzung für freie Kooperation ist laut Milton Friedman, „dass beide Parteien einer wirtschaftlichen Transaktion von ihr profitieren, vorausgesetzt, die Transaktion geschieht auf beiden Seiten freiwillig und in vollem Wissen darüber, was geschieht“ (Friedman 2002, 36). Verträge, bei denen einer der beiden Transaktionspartner nicht vollständig darüber informiert sein kann, was der Vertragsvollzug bedeutet und welche persönliche Konsequenzen er nach sich ziehen wird, sind demnach keine freien Verträge im Sinne der Idealtheorie. Somit wäre auch die Argumentation hinfällig, alle Verträge, die freiwillig eingegangen werden, seien durch das Recht auf Vertragsfreiheit geschützt: Those who oppose surrogacy and baby-selling in the name of consent claim that the choice to bear a child for pay is not as voluntary as it seems. They argue that surrogacy contracts are not truly voluntary because the birth mother is unlikely to be fully informed. Since she cannot be expected to know in advance the strength of the bond she will develop with her child during pregnancy, it is unfair to hold her to her bargain once the baby is born. (Sandel 2000, 99 f.)
Dieser Argumentation zufolge ist bei Leihmutterschaftsverträgen fraglich, ob die Agentur auf Vertragsvollzug pochen darf, weil die Leihmutter kaum informiert sein kann über das subjektive Erlebnis, schwanger zu sein und ein Kind zu gebären. In einem berühmten Gerichtsfall wurde dieser Argumentation folgend geurteilt und der Leihmutter Umgangsrecht mit ihrem leiblichen Kind zugestanden, was von den Leihmutterschaftsagenturen vertraglich vollständig untersagt wird.19 Die unvollständige Information über das gehandelte Gut ist für 19 Gemeint
ist der sogenannte „Baby-M“-Fall. Die Leihmutter (und leibliche Mutter)
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Autoren wie Satz ein entscheidendes Argument für die eingeschränkte Rechtsfähigkeit von Leihmutterschaftsverträgen: All real markets […] involve imperfect information. But in some cases this imperfect information is apt to produce extremely harmful consequences. This may be most likely in cases where [sic] is a significant time lag between the initiation and the completion of a transaction. It is hard to predict one’s future preferences. Consider the case of a woman selling her ability to have a child. In this case we might suspect that a woman who has never been pregnant cannot really know the consequences of selling the right to the child she bears. (Satz 2010, 96)
Satz ist darin zuzustimmen, dass eine Frau, die noch nie schwanger war, kaum wissen kann, wie es ist, ein Kind zu gebären und anschließend alle elterlichen Rechtsansprüche abgeben zu müssen. Selbst eine Frau, die bereits Mutter ist, hat dadurch keinerlei Wissen darüber, wie es ist, einen solchen Vertrag zu vollziehen. Insofern lässt sich das Argument der unvollständigen Information als Argument gegen die kommerzielle Leihmutterschaft anführen. Allerdings, dies erwähnt Satz ebenso, bestehen in den allermeisten Märkten Informationsasymmetrien und unvollständige Informationen. Ein Autoliebhaber kann kaum wissen, wie es ist, einen Aston Martin zu fahren und zu besitzen, bevor er ihn gekauft hat. Dennoch wird er anhand der verfügbaren Informationen über die Kosten und den zu erwartenden Statusgewinn und Fahrspaß abwägen, ob sich ein Kauf lohnt oder nicht. Der Kauf könnte für ihn auch schädliche Konsequenzen haben, die er noch nicht absehen kann: Hohe Reparatur- und Wartungskosten oder ein geringerer Zugewinn an Status und Lebensfreude, als er sich womöglich erhofft hatte. Worin liegt nun der fundamentale Unterschied zwischen den dargestellten Transaktionen? Bei beiden Transaktionen, wie überhaupt bei allen Markttransaktionen, spielt das Problem der unvollständigen Information eine Rolle.20 Ein Auto ist jedoch unbestritten ein Konsumgut, während die Gebärfähigkeit von Frauen eine durch die kommerzielle Leihmutterschaftspraxis zum Konsumgut deklarierte Eigenschaft von Frauen ist, deren Kommodifizierung im höchsten Maße umstritten ist. Hiermit zeigt sich jedoch, dass die entscheidende Frage nicht die nach dem Grad der Informiertheit von Leihmüttern ist, sondern viel grundsätzlicher, ob die Gebärfähigkeit überhaupt kommodifiziert werden sollte. Dennoch lässt sich mit dem Problem der unvollständigen Information die Diskussion der Leihmutterschaftspraxis weiter spezifizieren. Viele Menschen gehen (legale) Transaktionen ein, deren mitunter schädliche Konsequenzen Mary Beth Whitehead floh nach der Geburt mit dem Baby von New Jersey nach Florida, statt es wie vertraglich vereinbart bei den Eltern abzuliefern. Ein niedrigeres Gericht in New Jersey befand, der Leihmutterschaftsvertrag sei rechtmäßig. Das höchste Gericht New Jerseys widersprach und befand, dass Whitehead die rechtmäßige Mutter mit Kontaktrecht sei. Siehe Sandel (2000, 98–99) und Wertheimer (1992, 227 f.) 20 Zu dem Problem der Informationsasymmetrien siehe Akerlof (1970).
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sie ex ante nicht vollständig absehen können. Wertheimer nennt unter anderem Sterilisationen und Operationen zur Geschlechtsumwandlung (Wertheimer 1992, 227). Die Konsequenzen mögen für die Individuen womöglich ähnlich schmerzhaft und irreversibel sein, dennoch sind diese Transaktionen erlaubt. Um dem Problem der unvollständigen Informiertheit entgegen zu treten, schlägt Wertheimer vor, bei der Auswahl von Leihmüttern darauf zu achten, dass diese bereits Mütter sind und einer eingehenden psychologischen Untersuchung unterzogen werden, um auszuschließen, dass plötzliche Muttergefühle die Transaktion verhindern (ebd., 227 f.). 21 Außerdem könne man Leihmutterschaftsverträge so konstruieren, dass von Seiten der Leihmutter kein Vertragsvollzug verlangt werden kann, sie sich also frei entscheiden kann, ob sie das Kind behält oder abgibt (ebd., 234). Hier müsste m.E. zunächst festgestellt werden, ob Schwangerschaftsleihmütter überhaupt einen rechtlichen Anspruch auf das ausgetragene Kind geltend machen dürfen, welches zumindest biologisch betrachtet das Kind der Auftrag gebenden Eltern ist. Ob sich nicht dennoch durch das Austragen des Kindes zumindest ein Kontaktrecht ableitet, ist bisher eine vollkommen offene Frage. Beide Vorschläge Wertheimers sind zudem nicht geeignet, die mit unvollständiger Information einhergehenden Komplikationen für die Leihmutter auszuräumen. Auch psychologische Untersuchungen und sorgfältige Auswahl der Leihmütter können kaum ausschließen, dass der Vertragsvollzug zum traumatischen Erlebnis wird. Wenn den Leihmüttern hingegen freigestellt würde, das Kind zu behalten, gäbe es wohl kaum noch Kunden von Leihmutterschaftsagenturen, weil zukünftige Eltern das hohe Risiko eingehen müssten, das eigene Kind an die Leihmutter zu verlieren. 22 Zusammenfassend lässt sich sagen: Die unvollständige Information über die Transaktion kann höchstens ein Argument in einer Begründungsstrategie sein, die deutlich zu machen vermag, warum das Gut Gebärfähigkeit nicht kommodifiziert werden darf. Für sich genommen kann das Argument der unvollständigen Information wohl nicht stärker wiegen als das Argument der Vertragsfreiheit, derzufolge Frauen, die sich freiwillig für eine Leihmutterschaft entscheiden wollen, auch die Befugnis haben sollten, einen entsprechenden Vertrag einzugehen. Ich komme nun zum zweiten Argument.
21 Das sogenannte screening der Leihmütter, welches medizinische und psychologische Untersuchungen umfasst, ist gängige Praxis. Siehe: http://www.growinggenerations.com/surrogacy-program/surrogates/questionsand-answers #7, letzter Abruf: 29.10.2013. 22 Es ist üblich, dass Leihmütter einen Vertrag unterschreiben, der beinhaltet, dass ihre elterlichen Rechte unmittelbar nach der Geburt an die zukünftigen Eltern übertragen werden.
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(b) Leihmutterschaft als altruistischer Akt Bezüglich des Arguments (b), welches die Leihmutterschaft als altruistischen, unterstützenswerten Akt darstellt, argumentiert Anderson, dass die Praxis der Leihmutterschaft die Rechte und Interessen der Leihmütter missachtet zugunsten der zukünftigen sozialen Eltern und der Leihmutterschaftsagenturen. Von den Leihmüttern würde Unnatürliches verlangt, indem sie vertraglich dazu verpflichtet werden, das Sorgerecht für das von ihnen ausgetragene Kind abzutreten. „The most fundamental calling of parents to their children is to love them. Children are to be loved and cherished by their parents“ (Anderson 1990, 75). Die Leihmutterschaft missachtet Anderson zufolge offenbar diese Berufung der Eltern für ihr Kind. Entscheidend bei Argument (b) ist jedoch der altruistische Aspekt der Leihmutterschaft, also die positiven Wirkungen, welche diese Tätigkeit für die Leihmütter verspricht. Die größte US-amerikanische Leihmutterschaftsagentur growing generations veröffentlicht auf ihrer Website verschiedene Erfahrungsberichte von Leihmüttern. 23 Angela aus Texas schätzt ihre (mehrfachen) Leihmutterschaften als altruistischen Akt von besonderem Wert ein: The emotional benefits are indescribable. Seeing my intended father with his kids and knowing how happy he is and how happy they all are. It’s a joy that will last my whole life. When I’m on my deathbed, I know I can say that I did something good in the world. 24
Tatsächlich helfen Leihmütter Paaren, die oftmals jahrelang vergeblich versucht haben, eigene Kinder zu bekommen, bei der Erfüllung ihres Kinderwunsches. Anderson ist dennoch überzeugt, dass Leihmutterschaften für die Leihmütter selbst kein in erster Linie altruistischer, sondern degradierender Vorgang sind (Anderson 1990, 87). Leihmutterschaften seien degradierend, weil sie die Gebärarbeit in eine Ware verwandeln und hierdurch die Leihmütter ausbeuten. Die Leihmutterschaftsagenturen lassen sich vertraglich zusichern, dass die Leihmütter sich bemühen, Muttergefühle für das Kind zu unterdrücken. Sie verwandelten somit die natürliche Konsequenz der Gebärarbeit, eine enge Verbindung zum eigenen Kind zu entwickeln, in eine Form von „alienated labor“ (ebd., 81). Die Leihmutterschaft ist laut Anderson als entfremdete Arbeit anzusehen, weil sie den Sinn der Schwangerschaft korrumpiert und in ein geschäftliches Vertragsverhältnis umwandelt (ebd., 82). Der altruistische Aspekt der Leihmutterschaft für die Leihmutter wird durch die Leihmutterschaftsagenturen ausgebeutet, indem sie diese Motivationen ausnutzen und hierfür lediglich eine monetäre Entschädigung bei gleichzeitiger Abtretung aller Sorgerechtsansprüche anbieten (ebd., 81). Anderson schlussfolgert daher: 23 Siehe: http://www.growinggenerations.com/surrogacy-program/surrogates/surrogate- stories?GGID=4f01c19113871e4fef454bbb37d3e01c, letzter Abruf: 29.10.2013. 24 Siehe: http://www.growinggenerations.com/surrogacy-program/surrogates/surrogate- stories/angela, letzter Abruf: 29.10.2013.
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Commercial surrogacy constitutes a degrading and harmful traffic in children, violates the dignity of women, and subjects both children and women to a serious risk of exploitation. (Ebd., 87)
Die Leihmutterschaftspraxis ist laut Anderson in vielerlei Hinsicht degradierend und potentiell ausbeuterisch. Sie sei degradierend für das Kind, weil es eine Bepreisung festlegt, die verheerend für dessen Selbstwahrnehmung sein könnte. Sie sei degradierend für die Mutter, weil sie ihr abverlangt, natürliche Gefühle für ihr Kind zu unterdrücken, und weil sie die Gebärfähigkeit kommodifiziert. Für Anderson stellt daher die kommerzielle Leihmutterschaft auch eine Verletzung der unveräußerlichen Würde der Frau dar, weil sie etwas entfremde, was zum innersten Kern des Frau seins gehöre: „Few things reach deeper into the self than a parent’s evolving relationship with her own child“ (ebd., 90). Aus Gender-Perspektive ließe sich zudem argumentieren, dass die Leihmutterschaft die Ungleichheit zwischen Mann und Frau perpetuiert, weil Leihmutterschaftsverträge die de facto Verfügungsgewalt über den Körper der Leihmütter festsetzen: [I]n contract pregnancy the body that is controlled belongs to a woman, in a society that historically has subordinated women’s interests to those of men, primarily through its control over women’s sexuality and reproduction. (Satz 2010, 129)
Die kommerzielle Leihmutterschaft trage zur Verfestigung von Geschlechter stereotypen bei und wirke sich möglicherweise negativ auf die Selbstwahrnehmung von Frauen aus. Falls die Leihmutterschaft zu einer weithin akzeptierten und praktizierten Form des Güteraustauschs würde, so das Argument, könnte dies die Wahrnehmung von Frauen als kommerziell verwertbaren Gebärmaschinen hervorrufen (ebd., 130). Sowohl die Wertschätzung für das Austragen eines Kindes sowie der Wert desselben würden in einem marktkonformen Preis wiedergegeben, was laut Radin den (bereits in Kapitel 3.4 erläuterten) Domino-Effekt nach sich ziehen könnte: sobald ein Gut auch nur teilweise kommodifiziert ist, wird es schwierig, vom monetären Ausdruck seiner Werthaltigkeit abzusehen (Radin 1996, 139 f.). Allerdings ist mit Satz gegen diese Argumentation einzuwenden, dass auch andere, nur teilweise kommodifizierte Güter wie Sex nicht automatisch bepreist werden, nur weil es einen bestehenden Markt für Prostitution gibt. Satz ist der Auffassung, dass die teilweise Kommodifizierung eines Guts nicht dessen unwiederbringliche soziale Entwertung bedeuten muss: Markets in sex (for example, prostitution) coexist with a social practice of non-market sex between intimates. A social meaning therefore does not uniquely determine whether or not a given market is appropriate. (Satz 2004, 19)
Ob also die kommerzielle Leihmutterschaft verwerflich ist oder nicht, lässt sich zumindest nicht mit Hinweis auf den potentiellen Domino-Effekt einer Kom-
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merzialisierung beantworten. Ich komme nun zum dritten Argument für kommerzielle Leihmutterschaften. (c) Analogien zu Samenspende und Adoptionen Bezüglich des Arguments (c) führt Anderson an, dass mit der Adoption zwar bereits eine soziale Praxis etabliert ist, durch die leibliche Eltern ihr Sorgerecht an Dritte abtreten. Jedoch sei die Zielsetzung bei der Adoption grundsätzlich verschieden von der kommerziellen Leihmutterschaft. Während Leihmutterschaftsverträge in der Absicht eingegangen werden, das auszutragende Kind zu verkaufen, bestehe der Sinn von Adoptionen darin, Kinder bei Adoptionseltern unterzubringen, wenn die leiblichen Eltern sich entscheiden, ihre Fürsorgepflichten abzutreten (Anderson 1990, 79). Allerdings wird die Fürsorgepflicht bei der Adoption und bei Pflegeeltern ebenso an Dritte übertragen (in diesem Fall von staatlichen Einrichtungen). In Deutschland werden beispielsweise von staatlicher Seite Gebühren für die Bearbeitung des Adoptionsverfahrens erhoben. 25 Die Analogie scheint hier nahezulegen, dass wer gegen Leihmutterschaftsverträge eintritt, konsistenterweise auch gegen Adoptionen sein müsse. Mithilfe der Analogie zur Adoption ließe sich eher für ein staatlich reguliertes System der Leihmutterschaft statt des Marktsystems argumentieren. Somit schlägt der Analogieschluss eher auf die Befürworter der kommerziellen Leihmutterschaft zurück. Adoptionen dürfen in den meisten Ländern nur durch staatliche Stellen durchgeführt werden. In Deutschland sind allein die Jugendämter ermächtigt, nach eingehender Prüfung die zur Adoption freigegebenen Kinder an adoptionswillige Personen zu vermitteln, Privatpersonen ist die Vermittlung untersagt. 26 In Deutschland existiert kein legaler kommerzieller Babyhandel, Vermittler und leibliche Eltern verfolgen keine monetären Interessen. Diese strenge Regulierung von Adoptionen hat einen guten Grund. Der Kinderhandel gilt allgemein als äußerst verwerflich, er stellt wie der Sklavenhandel eine allgemein unterstützte Grenze des Marktes dar. Wenn wir aber den kommerziellen Babyhandel für verwerflich halten, warum sollten wir dann kommerzielle Leihmutterschaften zulassen?
25 Gesetz über die Vermittlung der Annahme als Kind und über das Verbot der Vermittlung von Ersatzmüttern, § 9c, Abs. (2): „Durch Rechtsverordnung […] kann […] vorgesehen werden, dass die Träger der staatlichen Adoptionsvermittlungsstellen von den Adoptionsbewerbern für eine Eignungsprüfung […] oder für eine internationale Adoptionsvermittlung Gebühren sowie Auslagen für die Beschaffung von Urkunden, für Übersetzungen und für die Vergütung von Sachverständigen erheben. Die Gebührentatbestände und die Gebührenhöhe sind dabei zu bestimmen; für den einzelnen Vermittlungsfall darf die Gebührensumme 2.000 Euro nicht überschreiten“. 26 Gesetz über die Vermittlung der Annahme als Kind und über das Verbot der Vermittlung von Ersatzmüttern, § 5.
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Why might someone think that ordinarily a birth mother paid to relinquish a baby for adoption is selling a baby, but that if she is a surrogate, she is merely selling gestational services? Someone who thinks this way seems to be assuming that the baby cannot be considered the surrogate’s property, so as to become alienable by her, but that her gestational services can be considered property and therefore become alienable. It seems to be assumed, that is, that the ‚good‘ being sold in an ordinary paid adoption is the baby, which sale we condemn, but the ‚good‘ being sold in paid surrogacy is not the baby, so we need not condemn the sale. (Radin 1996, 141)
Radin wirft hier die Frage auf, wie die Leihmutterschaft im Vergleich zum Babyhandel einzustufen ist. Wer die Leihmutterschaft als Bereitstellung der Gebärfähigkeit für Dritte befürwortet, scheint anzunehmen, dass es sich hierbei um eine kommodifizierbare Eigenschaft handelt, so Radin, wobei sie offen lässt, auf welche Form der Leihmutterschaft sie dieses Argument bezieht. Damit wird die Gebärfähigkeit als veräußerbares Eigentum behandelt. Wer diese Sichtweise verfolgt, muss allerdings erklären, warum er den kommerziellen Babyhandel nicht unterstützt. Zumindest bei der traditionellen Leihmutterschaft ist der Schluss naheliegend, dass wenn es der leiblichen Mutter erlaubt sein soll, ihr eigenes Kind zu verkaufen, dies auch für Mütter gelten sollte, die ihr Kind zur Adoption freigeben. Was den Analogieschluss zwischen Leihmutterschaft und Samenspende angeht, so ist Anderson der Auffassung, dass sich die beiden Praktiken in einem entscheidenden Punkt unterscheiden. Während der Samenspender lediglich ein Produkt seines Körpers verkaufe, so doch nicht sein eigenes Kind. Zudem würde er nicht selbst die Befruchtung veranlassen (Anderson 1990, 79). Hier bleibt jedoch unberücksichtigt, dass dies nur auf die traditionelle Leihmutterschaft zutrifft. Bei der Schwangerschaftsleihmutterschaft hingegen scheint die Analogie zur Samenspende auf den ersten Blick tragfähiger. Sandel führt die dahinter wirksame Argumentation treffend aus: When a woman agrees to undergo a pregnancy for pay, she does not sell a preexisting child but simply allows another couple to make use of her reproductive capacity. And if it is morally permissible for men to sell their reproductive capacity, this argument goes, why is it not morally permissible for women to sell theirs? (Sandel 2000, 96 f.)
Bei der Schwangerschaftsleihmutterschaft stellt die Leihmutter nur ihre reproduktiven Fähigkeiten zur Verfügung, ähnlich wie der Samenspender. Man könnte also versucht sein anzunehmen, dass wenn die Samenspende zulässig ist, auch die Leihmutterschaft zulässig sein müsse. Gegen diese Argumentation ist anzuführen, dass die Leihmutter ihre Gebärmutter nicht einfach zur Verfügung stellt, sondern bereit ist, das Kind neun Monate lang auszutragen. Was dies für die (juridischen oder moralischen) Ansprüche und Rechte der Mutter gegenüber dem ausgetragenen Kind bedeutet, ist meines Wissens noch gänzlich ungeklärt bzw. in der Diskussion noch nicht hinreichend berücksichtigt. In jedem Fall scheint mir die Behauptung gerechtfertigt, dass es physisch und emotional etwas
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völlig anderes ist, den eigenen Samen zur Verfügung zu stellen (der lediglich das Potential trägt, durch Befruchtung einer Eizelle zum Embryo heranzureifen), als ein Kind heranwachsen zu spüren und auszutragen. Die Analogie zur Samenspende ist daher nicht tragfähig. Die Analogieschlüsse scheitern daran, dass sich entweder die verglichenen Praktiken fundamental unterscheiden oder die Analogien sich gegen die Befürworter der kommerziellen Leihmutterschaft wenden. Durch die Analogien wird eher die Frage aufgeworfen, ob nicht auch die zum Vergleich herangezogenen Praktiken moralisch fragwürdig sind. Sandel macht beispielsweise deutlich, welche absurden Konsequenzen der etablierte Markt für Samenspenden nach sich zieht. Die größte Samenbank der USA, die Cryobank, wirbt in Harvard um potentielle Samenspender. Der Hintergrund ist, dass der Katalog für Käufer über das ethnische und physische Profil der Spender informiert sowie deren Studienschwerpunkt (Sandel 2000, 102). Die Samenbank kann somit mit „Ivy League sperm“ (ebd., 103) werben. Dass ähnliche Entwicklungen hin zur aktiven Auslese der Anbieter auf dem Markt für Leihmutterschaften zumindest möglich sind im Sinne von ‚höchste Leihmutterqualität, mit Abschluss in…‘, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Eizellspenderinnen von growing generations sollten „healthy, attractive wom[e]n between the ages of 21 and 30“27 sein. Sandel verdeutlicht das Unbehagen, welches bei der Kommodifizierung von männlicher wie weiblicher Fortpflanzungsfähigkeit zutage tritt: Both [Leihmutterschaft und Samenspende, P.S.] treat procreation as a product for profit rather than a human capacity to be exercised according to norms of love, intimacy, and responsibility. (Ebd.)
Dieses Unbehagen zeugt m.E. vorrangig von der Tatsache, dass die meisten Menschen aufgrund internalisierter gesellschaftlicher Konventionen ein bestimmtes intuitives Verständnis davon haben, wie Kinder auf die Welt kommen und bei wem sie aufwachsen sollten. Dass der Marktpreis für das Austragen eines Kindes derzeit bei etwa 25.000 US-Dollar liegt, ist eine Information, die schlicht befremdet. Allerdings ist sowohl dieser Marktpreis als auch das Bestreben, möglichst ‚hochwertige‘ Leihmütter zu akquirieren, eine natürliche Folge der Kommodifizierung. Die Frage bleibt daher: Ist diese Entwicklung wünschenswert? Ich habe einige Argumente dargelegt, die für die Legalisierung kommerzieller Leihmutterschaften sprechen und einige, die eher dagegen sprechen. Wenn die einzelnen Gesichtspunkte gründlich abgewogen werden (was hier versucht wurde), zeigt sich, dass die Frage, ob kommerzielle Leihmutterschaften zu verbieten sind, nicht ohne Weiteres zu beantworten ist. Das Argument der Vertragsfreiheit bietet ein tragfähiges Argument für die Legalisierung kommerzieller Leihmutterschaften. Es verbleibt jedoch das intuitive Unbehagen, ob es 27 http://www.growinggenerations.com/egg-donor-program/egg-donors/donor-info,
letzter Abruf: 29.10.2013.
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sich bei dieser Form der Leihmutterschaft aufgrund der Kommodifizierung der Gebärfähigkeit um eine intrinsisch degradierende Dienstleistung handelt, und ob zumindest bei der traditionellen Leihmutterschaft die Rechte und Interessen des Kindes ausreichend geschützt werden. Ich möchte abschließend noch ein bisher nur am Rande betrachtetes konsequentialistisches Argument darlegen, welches für die Legalisierung von kommerziellen Leihmutterschaften spricht. 4.5.3 Die Legalisierung umstrittener Märkte Meine relativ neutrale Argumentation zur Frage der Leihmutterschaft hängt auch zusammen mit einigen konsequentialistischen Erwägungen zum Verbot und der Legalisierung von Märkten. Ich möchte diesbezüglich abschließend ein vor allem durch die Ökonomik vorgebrachtes Argument hervorheben, welches für die Legalisierung von umstrittenen Märkten spricht. Das Verbot von Märkten führt oftmals zu deren Fortbestehen in der Illegalität. Kirchgässner hat dies am Beispiel des Drogenmarktes deutlich gemacht. Das Faktum der Illegalität sowie das hohe Suchtpotential der Konsumenten macht es für Drogenhändler besonders attraktiv, in den Markt einzusteigen, weil besonders treue Kunden zu erwarten sind und aufgrund der möglichen Strafen hohe „Risikoprämie[n]“ (Kirchgässner 1997, 136) verlangt werden können. Die ökonomische Analyse sieht für das Problem illegaler Märkte dort, wo eine hohe Nachfrage besteht und absehbar ist, dass diese durch ein Verbot nicht verschwinden wird (wie beim Drogenhandel oder auch der Prostitution) nicht etwa eine Verschärfung der Gesetzeslage vor, sondern die Legalisierung des betreffenden Marktes. Begründet wird dies mit der Analyse der Anreizstruktur. Wenn die finanziellen Anreize für „moralwidriges Verhalten“ (ebd., 138) besonders hoch sind, ist es wahrscheinlich, dass sich einzelne Individuen darauf einlassen. Die Existenz illegaler Drogenmärkte erklärt sich dieser Lesart zufolge also vorrangig durch die hohen Gewinnmöglichkeiten, welche durch eine Legalisierung genommen werden könnten. Kirchgässner schlägt vor, einen staatlich regulierten Markt für Drogen zu etablieren, der die Nachfrage austrocknet: Die Nachfrage der Süchtigen kann […] nur dann vom Markt ferngehalten werden, wenn diese ihren ‚Stoff‘ oder zumindest eine Ersatzdroge von anderer Seite kostengünstiger erhalten können. Ein ‚ökonomischer‘ Vorschlag zur Bekämpfung des Drogenhandels läuft deshalb darauf hinaus, die Süchtigen zu registrieren und ihnen von staatlicher Seite aus bzw. durch vom Staat beauftragte private Organisationen ihre tägliche Dosis kontrolliert zu verabreichen. (Ebd., 139)
Als Folge prognostiziert Kirchgässner einen Gewinneinbruch für Drogenhändler, welcher den Anreiz beseitigt, in den Markt einzusteigen, das Verschwinden der mit dem illegalen Drogenmarkt einhergehenden kriminellen Begleiterscheinungen, sowie einen langfristigen Rückgang des Konsums (ebd., 139 f.).
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Kirchgässner lässt völlig außer Acht, ob der Staat es erlauben kann, dass sich einzelne Bürger in die Abhängigkeit hochwirksamer Drogen begeben, welche höchst selbstzerstörerische Wirkungen haben. Er untersucht nicht, ob der Staat sich im Sinne des Gemeinwohls in der Pflicht sieht, Drogen mit hohem Suchtpotential und starken Nebenwirkungen zum Wohle und Schutz seiner Bürger zu verbieten. Ebenso würde ein Ökonom wohl nicht fragen, ob die Leihmutterschaft aufgrund ihrer (vermeintlich) degradierenden Natur zu verbieten ist, sondern welche Folgen ein Verbot respektive die Legalisierung der Leihmutterschaft nach sich ziehen würde. Die ökonomische Analyse kann deshalb aus philosophischer Perspektive keinesfalls eine erschöpfende Antwort auf die Legalisierung bzw. das Verbot bestimmter Märkte liefern. Auch soll hier keine Analogie zwischen Drogenmarkt und kommerzieller Leihmutterschaft insinuiert werden, da die gehandelten Güter sich offensichtlich grundsätzlich unterscheiden. Dennoch lässt sich anhand dieser folgenorientierten Analyse deutlich machen, inwiefern normative Argumente die Konsequenzen eines Verbots berücksichtigen müssen. Auch wenn man nach der hier dargelegten Diskussion der Leihmutterschaft zu der Überzeugung gelangt ist, dass die weibliche Gebärfähigkeit aufgrund übergeordneter normativer Erwägungen keinesfalls kommodifiziert werden dürfe, so muss man sich über die möglicherweise schädlichen Konsequenzen eines Verbots im Klaren sein. Womöglich wären die finanziellen Anreize nicht so groß, dass sich viele Frauen bereit fänden, eine illegale Leihmutterschaft durchzuführen. Sehr wahrscheinlich ist es für die Leihmütter aber besser, in einem klar abgegrenzten, legalen Raum mit Vertragssicherheit und verlässlicher medizinischer Betreuung Kinder für Dritte auszutragen als dies illegal zu tun. Ob die Leihmutterschaft also zu verbieten ist, sollte nicht allein auf Grundlage des K-Arguments entschieden werden. Ich habe zu zeigen versucht, dass das K-Argument eine für das soziale Zusammenleben entscheidende Frage behandelt: Gibt es Dinge, die unter keinen Umständen zu kaufen sein sollten? Anhand der kommerziellen Leihmutterschaft sollte deutlich gemacht werden, wie sorgfältig die Argumente für und gegen die Kommodifizierung eines bestimmten Guts abgewogen werden müssen. Auch wenn sich an diesem Beispiel mittels des K-Arguments keine eindeutige Antwort ableiten lässt: Das K-Argument ist unverzichtbar bei der normativen Evaluation einzelner Märkte. Wie oben bereits erläutert, ist es nicht reduzierbar auf die Herstellung fairer Hintergrundbedingungen für Markttransaktionen, welche das Z-Argument fordert. Sandel drückt äußerst prägnant aus, was das Z-Argument unbeachtet lässt: What the argument misses are the dimensions of life that lie beyond consent, in the moral and civic goods that markets do not honor and money cannot buy. (Sandel 2000, 122)
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Für Güter von besonderem Status oder besonderem Wert bedarf es daher einer weiterreichenden Diskussion im Sinne des K-Arguments. Mit diesem zweiten Teil der Dissertation zum ökonomischen Imperialismus und den Grenzen des Marktes sollte deutlich gemacht werden, dass die wirtschaftsethische Reflexion über die Analyse des konkreten Marktgeschehens hinaus gehen muss, um normativ gehaltvoll über die angemessene Sphäre und Ausweitung des Marktes Auskunft geben zu können. Anhand der Kritik des ökonomischen Imperialismus wurde hervorgehoben, dass nicht die ökonomische Methode als rein deskriptives Axiom, sondern ihre Überhöhung zum allumfassenden Handlungsmodell unzulässig reduktionistisch ist. Mithilfe der Argumente zu den Grenzen des Marktes habe ich Folgendes zeigen wollen. Wenngleich Marktwirtschaften formell grenzenlos sind, so ist doch die Reflexion darüber, was ihre Grenzen sein sollen, für jede kritische Theorie der Wirtschaftsethik unerlässlich. Die in kapitalistisch organisierten Märkten gehandelten Güter und die Verfügungsgewalt hierüber sind privat, nicht aber die Frage, wie und ob diese gehandelt werden sollten, und wie die Eigentumsverhältnisse in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften zu regeln sind. Märkte sind öffentliche Güter, weil sie alle betreffen und durch die Entscheidungen aller zu regulieren sind: Sosehr er [der Kapitalismus, P.S] aber durch soziale und politische Aktionen hervorgebracht, gestützt und erhalten wird, sosehr stellt sich die Frage nach der sachlichen und normativen Begrenzung seiner Operationsfelder. Man kann Märkte nicht vor ihren Krisen und Einbrüchen bewahren, aber man kann die Abhängigkeit von ihnen reduzieren […] Noch das jüngste und verständliche Begehren der Finanzindustrie nach einer Rettung durch Sozialisierung hat ungewollt demonstriert, dass selbst Geld, Kapital und Liquidität nicht einfach private Güter in privaten Händen zu privaten Zwecken sind, sondern ein öffentliches, d.h. alle betreffendes und alle bewegendes Gut. (Vogl 2010, 176)
Im Sinne dieser „sachlichen und normativen Begrenzung“ des Marktes wurde untersucht, wie freie Transaktion im Markt gewährleistet werden kann und ob es Güter gibt, die keinesfalls als Waren gehandelt dürfen. Eine weitere für die Wirtschaftsethik relevante Frage ist, welche Ansprüche Einzelne auf die von ihnen produzierten Güter erheben können und ob sich diese Ansprüche rechtfertigen lassen. Hiermit ist die grundlegende Fragestellung des ‚gerechten‘ Lohns bestimmt. Kann es in konkurrenzbestimmten Märkten einen gerechten Lohn geben? Diesem Thema möchte ich mich im folgenden Kapitel zuwenden.
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Teil III:
‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
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5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn Ziel diese Kapitels ist es, zu erörtern, ob in konkurrenzbasierten Märkten ein ‚gerechter‘ Lohn begründet werden kann. Diese Frage stellt sich vor allem aufgrund der großen Disparitäten in Einkommen und Vermögen, wie sie zur Zeit in industrialisierten Gesellschaften zu beobachten sind. Um diesen Befund zu illustrieren, möchte ich einleitend einige Zahlen zur derzeitigen Einkommensverteilung anführen: Das Einkommen des bestverdienenden Tausendstels der US-Gesellschaft stieg von 1970 bis 2008 um 385 Prozent auf 5,6 Millionen Dollar pro Jahr; die zweitbeste Schicht (die Top 0,1 bis 0,5 Prozent) legte um 141 Prozent auf 878139 Dollar zu. Und die dritte Cremeschicht (die Top 0,5 bis 1 Prozent) verbesserte sich um 90 Prozent auf exakt 443102 Dollar. Jene 137 Millionen Amerikaner, die die unteren 90 Prozent in der Einkommenspyramide ausmachen, haben von 1970 bis 2008 mit einem Realeinkommen von 31244 Dollar nicht einen Cent dazugewonnen. (Wernicke 2011)
Heute besitzen die 400 wohlhabendsten Amerikaner mehr Privatvermögen als „die ‚unteren‘ 150 Millionen Amerikaner zusammen“ (Schultz 2011). Diese extreme materielle Ungleichheit sowie die mangelhafte Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum ist kein singulär US-amerikanisches Phänomen. Ein ähnlicher (wenngleich nicht so extremer) Befund lässt sich für die Einkommensverteilung in Deutschland feststellen. Auch hier ist ein deutlicher Anstieg des Einkommens und verfügbaren Vermögens der obersten Perzentile bei nur moderat steigenden, stagnierenden oder gar fallenden Realeinkommen der mittleren und unteren Einkommensschichten festzustellen (Horn et al. 2009). Diese zunehmende Spreizung führt zur Konzentration des Volkseinkommens auf eine relativ kleine Gruppe sowie zur gesellschaftlichen Polarisierung von Einkommen (Göbel et al. 2010). Dies bedeutet, dass die Mittelschicht erodiert, während Armut und Reichtum gleichsam wachsen (Schilling 2011)1:
1 „Zwischen 1997 und 2006 erhöhte sich der Bevölkerungsanteil in der untersten Einkommensgruppe […] von 7,9 auf 11,4 Prozent. Parallel stieg der Bevölkerungsanteil in der obersten Einkommensgruppe […] von 3,4 auf 4,7 Prozent […] Hier scheint sich das anzudeuten, was unter dem Begriff der schrumpfenden Mittelschicht diskutiert wird: Während die Bevölkerungsanteile am unteren und am oberen Ende der Einkommensschichtung – zumindest bei einem Vergleich der Jahre 1997 und 2006 – zunehmen, gehen die entsprechenden Anteile in den mittleren Schichten zurück.“ (Schilling 2011)
5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn
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Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985 – 2000). (OECD 2008)
Es darf unterstellt werden, dass mancher Leser diese Entwicklung als ‚ungerecht‘ oder ‚unfair‘ empfindet. Für diese Ansicht ist nicht allein die extreme Ungleichverteilung des Einkommens bedeutsam, sondern auch die Einkommensentwicklung in den verschiedenen Schichten.2 Das oberste Tausendstel der US-amerikanischen Gesellschaft verfügt heute über mehr als sieben Prozent des gesamten Volkseinkommens, 1979 lag deren Anteil noch bei 2,2 Prozent (Krugman 2007, 259). Ich teile die Intuition, dass es nicht gerechtfertigt werden kann, wenn 400 Bürger der USA über so viel Vermögen verfügen wie die große Mehrheit der restlichen Bevölkerung zusammengenommen. Weniger eindeutig ist allerdings, ob es auch als ‚ungerecht‘ bezeichnet werden kann, dass ein Geschäftsführer in Deutschland einen durchschnittlichen Jahresverdienst von 92 556 Euro erhält, während ein Gebäudereiniger 21 414 Euro pro Jahr verdient (Schilling 2011). Ist die absolute Lohnhöhe zu kritisieren, sollte also das Gehalt des Geschäftsführers gekürzt werden? Oder ist die relative Lohndifferenz entscheidend? Trägt der Geschäftsführer nicht erhebliche Verantwortung für die performance des Unternehmens? Hat er nicht aufgrund seiner herausragenden Fähigkeiten als Geschäftsführer entscheidenden Anteil am Erfolg des Unternehmens? Andererseits, ist nicht die Tätigkeit des Gebäudereinigers körperlich sehr anspruchsvoll und zudem erniedrigend? Sollte sie daher nicht stärker honoriert werden? Eine Analyse der Literatur zu den verschiedenen Lohnkriterien macht deutlich, dass es sich bei dem Eindruck, die derzeitige Einkommensverteilung sei nicht gerechtfertigt, vorerst nur um eine „intellektuelle Intuition“ (Popper 1992b, 17) handelt – und nicht viel mehr. Es muss daher analysiert werden, inwiefern sich an dieser Überzeugung festhalten lässt, oder ob sie – weil nicht begründungsfähig – verworfen werden muss. Dieses Kapitel widmet sich daher der Frage, ob eins der hier diskutierten Lohnkriterien in existierenden Märkten realisiert ist und ob es hilfreich bei der Begründung eines ‚gerechten‘ Lohns ist. Ich werde zunächst einige Lohnkriterien darstellen (5.1) und anschließend untersuchen, ob diese zur Rechtfertigung eines gerechten Lohns genutzt werden können (5.2). Dabei werden sowohl deskriptiv verstandene Kriterien wie Angebot und Nachfrage (5.1.1) analysiert als auch genuin normative Kriterien 2 Kolja Uchatius Rudzio und Stefan Willeke geben diesbezüglich 2006 einen zwingenden Befund: „Für Millionen Arbeitnehmer gilt eine neue Wirklichkeit: Jedes Jahr gibt es ein bisschen weniger. Überall setzten die Unternehmen zuletzt Nullrunden oder gar Lohnsenkungen durch. In der Bauindustrie wurden die Mindestlöhne um rund zwei Prozent gesenkt. Die Tarifeinkommen der Gebäudereiniger sanken sogar um bis zu 15 Prozent […] Zugleich steigen die Gewinne der Unternehmen. Und mit ihnen wachsen die Bezüge der Topmanager, die oft an das Firmenergebnis gekoppelt sind.“ (Rudzio u. Willeke 2006)
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
wie Verdienst (5.1.3) und Bedürfnis (5.1.2). Die Argumentation verfolgt zwei Ziele: Einerseits möchte ich zeigen, dass keines der hier angeführten Kriterien hinreichende Rückschlüsse hinsichtlich der derzeitigen Einkommensverteilung liefern kann. Auf dieser Ebene der Untersuchung wird also beispielsweise analysiert, ob sich das derzeitige Gehaltsniveau von Führungskräften allein aufgrund der großen Knappheit verfügbarer Kandidaten erklären lässt. Andererseits wende ich mich der Frage zu, ob eins der Kriterien sich zur Begründung eines ‚gerechten‘ Lohns eignet. Dazu müsste beispielsweise anhand der Annahme, dass Löhne in freien Märkten vorrangig über Angebot und Nachfrage bestimmt werden, gezeigt werden, inwiefern dies auch als ‚gerecht‘ bezeichnet werden kann. Im Abschnitt 5.3 wende ich mich abschließend mit der Auseinandersetzung um den Mindestlohn einem speziellen Aspekt der Debatte zu. Ich werde begründen, dass ein im Markt erzielter Lohn mindestens so hoch sein muss, dass er ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht. Die hier zu verteidigende These lautet, dass kein Kriterium dazu geeignet ist, einen Lohn als ‚gerecht‘ auszuweisen, weil es diesen in konkurrenzbasierten Märkten nicht geben kann. Ich werde hingegen argumentieren, dass die in realen Märkten operierenden Unternehmen mehrheitlich und in erster Linie hierarchisch organisiert sind. Die derzeitigen Einkommensunterschiede kommen auch aufgrund der bestehenden Machtungleichgewichte und dem unzureichend ausgestalteten Mitspracherecht in Unternehmen zustande. Wer wie viel verdient, hängt damit auch davon ab, wie Entscheidungsprozesse in Unternehmen ausgestaltet sind und in welcher Weise die Interessen aller unmittelbaren Interessengruppen (Aktionäre, Unternehmer, Arbeitnehmer) Berücksichtigung finden. Ausgehend von diesem Befund werde ich zeigen, dass der entscheidende Faktor darin besteht, gerechte Rahmenbedingungen für die Festsetzung von Löhnen zu bestimmen. Das gesamte Kapitel 6 dient der Explikation dieser These. Die Forderung lautet, Unternehmensstrukturen so zu gestalten, dass Verhandlungen auf Augenhöhe und Verfahrensgerechtigkeit in der Lohnfindung garantiert sind. Jedes Verteilungsergebnis, welches auf Grundlage solcher gerechter Rahmenbedingungen zustande kommt, ist dann als ‚gerechtfertigt‘ (wenn auch nicht als gerecht) ausgewiesen (6.4).
5.1 Lohnkriterien: Darstellung Im Folgenden werden zunächst die erwähnten Lohnkriterien dargestellt. Bevor ich auf die einzelnen Kriterien eingehe, sind noch drei allgemeine Vorbemerkungen zu machen. 1.) Der gerechte Lohn stellt einen spezifischen Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit dar. Während Theorien der Verteilungsgerechtigkeit allgemein zu begründen versuchen, welche (Um-)Verteilungen durch die Erhebung von Steuern
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auf Löhne, Konsumgüter, Kapitalerträge, Erbschaften etc. zu rechtfertigen sind, ist der gerechte Lohn dasjenige, was dem Einzelnen für geleistete oder zu leistende Arbeit zusteht. Es geht nicht darum, wie viel der Einzelne aufgrund seiner sozialen und ökonomischen Stellung der Gesellschaft ‚schuldet‘, sondern darum, was einzelne Tätigkeiten im Markt wert sind bzw. wert sein sollten. Dieses Kapitel dient somit auch der Beantwortung der Frage, ob der Markt in irgendeiner Weise die Gerechtigkeit von Verteilungsergebnissen gewährleisten sollte oder ob dies allein Aufgabe der Institutionen der Grundstruktur, hier des Steuersystems, ist. 2.) Bis auf das Kriterium der freien Übereinkunft folgen alle angeführten Kriterien der Annahme einer positiven Korrelation: je größer x (Knappheit, Bedürfnis, Verdienst, Humankapital), desto höher der gerechtfertigte Gehaltsanspruch. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es eine Verhältnismäßigkeit zwischen den Eigenschaften der jeweiligen Tätigkeit und ihrer Entlohnung geben müsse. Dies ist von Bedeutung, da ich zeigen werde, dass diese Proportionalität weder in existierenden Märkten realisiert ist noch theoretisch ermittelt werden kann. 3.) Des Weiteren kann es bei dem gerechten Lohn nur darum gehen, ob bestimmte relative Lohndifferenzen als gerecht eingestuft werden können, nicht ob eine bestimmte absolute Lohnhöhe gerecht ist. Wie hoch die jeweiligen Gehälter absolut sein sollten, lässt sich nicht unabhängig von der durchschnitt lichen Produktivität und dem Wohlstandsniveau der jeweiligen Volkswirtschaft festlegen. „Wages, in a market economy, are prices, and the price of one thing always depends upon the price of everything else.“ (Heath 2009, 253) Bei dem gerechten Lohn geht es darum, ob die Entlohnung im Verhältnis zwischen zwei oder mehr verglichenen Berufen zustimmungsfähig ist. Sollten Geschäftsführer das 100–fache einer Gebäudereinigerin verdienen, oder nur das 25–fache?3 Zur Klärung dieser Frage möchte ich mich nun den Lohnkriterien im Einzelnen zuwenden. Es dürfte klar sein, dass die verschiedenen Kriterien in existierenden Arbeitsmärkten selten ausschließend, sondern meist in Kombination herangezogen werden. Dennoch lohnt es, sie im Einzelnen zu behandeln. 5.1.1 Angebot und Nachfrage Das Kriterium Angebot und Nachfrage als deskriptives Axiom besagt, dass der Arbeitsmarkt sich nicht von anderen Gütermärkten unterscheidet. Angebot und Nachfrage sind im Gleichgewicht, wenn die Nachfrage exakt dem Angebot entspricht (Goodwin et al. 2005, 83). Eine Zunahme des Angebots bei gleichbleibender Nachfrage wird normalerweise einen fallenden Preis nach sich ziehen, eine Zunahme der Nachfrage hingegen wird sowohl einen steigenden Preis als auch steigendes Angebot zur Folge haben (ebd., 86). Eine Situation der Knapp3 Ulrich
Thielemann plädiert dafür, dass das Gehaltsgefälle in Unternehmen nicht den Faktor 25 übersteigen sollte. (Thielemann 2007)
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heit entsteht dann, wenn potentielle Käufer bestimmte Waren nicht mehr zu einem bestimmten Preis erstehen können (ebd., 88). Ein Überangebot entsteht, wenn zu viel Angebot auf zu wenig Nachfrage trifft und die Anbieter zum angebotenen Preis keine Käufer mehr finden. Wenn diese Aussagen auf den Arbeitsmarkt übertragen werden, ergibt sich folgendes Bild. Zunächst ist ein entscheidendes Kriterium für die Lohnhöhe das Angebot an Arbeitskräften. Wenn für eine Tätigkeit zu viele potentielle Arbeitnehmer bereitstehen und die Zahl der Arbeitssuchenden das Angebot an Arbeitsplätzen übersteigt, wird der Preis für diese Tätigkeit fallen: „The most important determinant of wages is not what you produce, but rather how easily you can be replaced“ (Heath 2009, 229). Die jeweils angebotenen Löhne haben An- und Abreizwirkung für bestimmte Segmente des Arbeitsmarktes. Fallende Löhne in einem bestimmten Sektor haben zur Folge, dass die betreffende Tätigkeit weniger attraktiv wird. Die jeweilige Lohnhöhe ist damit allein Ausdruck der Marktlage. Wo sehr hohe Löhne bezahlt werden, herrscht Knappheit, wo sehr geringe Löhne gezahlt werden, Überschuss an Arbeitskräften: It is important […] when thinking about how ‚fair‘ or ‚unfair‘ a particular wage is, to keep in mind that we rely upon the labor market to impose a lot of hard decisions upon people. The mere fact that it is impossible to earn a living wage in a particular occupation does not mean that there is unfairness in the fact that people are paid that wage. It may mean that ‚society‘ does not require any more people to enter that occupation: Too many people are doing it already. (Ebd., 235)
Wenn man nun dieses Kriterium zur Rechtfertigung eines gerechten Lohns nutzen wollte, dann wäre zunächst zu ergründen, inwiefern es operationalisierbar ist. Lässt sich die derzeitige Einkommensverteilung allein auf Grundlage des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage erklären? In dieser Lesart ist der Markt am besten in der Lage, die effiziente Allokation der Ware Arbeitskraft zu gewährleisten, indem er Einzelne über die durch die jeweiligen Gehälter gesetzten Anreize dorthin lenkt, wo ihre Dienste am meisten benötigt werden und sie davon abhält, in Arbeitsmärkte zu drängen, in denen bereits Überangebot herrscht (Ebd.). Ich werde zeigen, dass die derzeitigen Einkommensunterschiede nicht ausschließlich auf Grundlage dieses Kriteriums erklärbar sind. Darüber hinaus muss erörtert werden, inwiefern das Kriterium zur Begründung eines gerechten Lohns geeignet ist. 5.1.2 Bedürfnis Das Kriterium Bedürfnis ist im Unterschied zum Kriterium Angebot und Nachfrage ein normatives Kriterium. Es besagt, dass ein Lohn dann gerecht ist, wenn er die Bedürfnisse des jeweiligen Marktteilnehmers berücksichtigt. Marx war ein Verfechter dieses Kriteriums. Er formulierte den Grundsatz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Marx 1962, 21).
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Allerdings könne dieser Grundsatz erst realisiert werden, wenn die bürgerliche Gesellschaft überwunden wäre. Dann würde der Gegensatz von „geistiger und körperlicher Arbeit“ beseitigt. Die Arbeit wäre nicht mehr „Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“. Nachdem durch dieses gewandelte Verhältnis zur Arbeit auch die Produktivität der Einzelnen gewachsen sei, würden „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ (ebd.). Erst in dieser kommunistischen Utopie also, in der Ressourcenüberfluss, gemeinschaftliches Eigentum sowie die Selbstverwirklichung des Individuums vorherrschen und die Frage der sozialen Gerechtigkeit obsolet geworden ist (Tugendhat 1993, 382), könne der Grundsatz ‚Jeder nach seinem Bedürfnis‘ realisiert werden. Dies wird bei der Kritik offensichtlich gern übersehen (Husami 1980, 56–61). Es ist jedoch im Zusammenhang mit dem gerechten Lohn zu erörtern, ob dieser Grundsatz auch in von Ressourcenknappheit geprägten Marktwirtschaften hilfreich ist. Sollte jeder Arbeitnehmer nach seinen individuellen Bedürfnissen bezahlt werden oder kann es einen allgemeinen Katalog von objektiven Bedürfnissen geben, die durch den Lohn abgedeckt sein müssen? Diese Fragen werden im Rahmen einer Diskussion über den Mindestlohn zu klären sein (5.3). 5.1.3 Verdienst Das Verdienstkriterium ist ebenfalls ein normatives Kriterium. Es besagt, dass ein Lohn dann gerecht ist, wenn er das Verdienst des Marktteilnehmers ausdrückt. Das Kriterium ist m.E. das wichtigste und facettenreichste Kriterium in der Debatte um den gerechten Lohn. Daher werde ich es besonders ausführlich darstellen und kritisieren. Zunächst ist zwischen der Verdienst und das Verdienst zu unterscheiden. Der Verdienst steht im Deutschen für die monetäre Entlohnung eines Arbeitnehmers. Das Verdienst bezeichnet hingegen die anerkennungswürdige Qualität einer Tätigkeit, durch die sich ein Individuum ‚um etwas verdient‘. In Bezug auf den gerechten Lohn ist zu klären, worin das Verdienst besteht, welches als Bemessungsgrundlage für den Verdienst herangezogen wird. Das Verdienstkriterium ist ergebnisorientiert, d.h. es gilt der Honorierung von bereits erbrachten Bemühungen. Im Hinblick auf den gerechten Lohn bedeutet dies, dass ein Arbeitnehmer einen gerechtfertigten Anspruch auf Lohn in Höhe von x hat, wenn er sich bei der Produktion eines Guts y in irgendeiner Weise verdient gemacht hat. Es gibt divergierende Ansichten darüber, ob mit dem Verdienst das jeweilige Bemühen oder die tatsächlich erbrachte Leistung honoriert wird. Der Begriff Verdienst wird in der Debatte um den gerechten Lohn in einer komplexeren Weise gebraucht als diese erste Begriffsbestimmung insinuiert. Wie N. Scott Arnold ausführt, besteht das Verdienst in einer dreifachen Beziehung zwischen Personen, Dingen, die Personen zustehen, und ‚basalen Grün-
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den‘ für ihren Verdienstanspruch (eine Tatsache über eine Person, welche den Verdienstanspruch begründet, Arnold 1987, 389 f.). Es muss dabei zwischen individuellem und institutionellem Verdienst unterschieden werden. Das individuelle Verdienst besteht in einer im moralischen Sinne guten charakterlichen Eigenschaft: Der wohltätige (basaler Grund) Mensch verdient Lob (Verdienstobjekt), gute Menschen verdienen es, glücklich zu sein (ebd., 390). Das institutionelle Verdienst leitet sich hingegen aus den Zielen und Zwecksetzungen der jeweiligen Institution ab (ebd.). Arnold erläutert den institutionellen Verdienstanspruch anhand der World Series im amerikanischen Baseball. Der Sinn dieses Wettbewerbs besteht darin, das beste Team zu finden (basaler Grund). Dieses ‚verdient‘ es, zu gewinnen (Verdienstobjekt), weil das Ziel der Institution eben darin besteht, das beste Team zu finden (ebd., 390 f.). Nun könnte es zwar sein, dass in einem Jahr eine Mannschaft gewinnt, die nicht die beste ist (etwa weil bei der besten, talentiertesten Mannschaft der erfolgreichste Batter verletzt ausfällt und die anderen Spieler einen Grippe-Virus erleiden). Diese Mannschaft hat als Sieger auch Anspruch auf den Titel und das Preisgeld. Um jedoch zu garantieren, dass in der Regel die beste Mannschaft gewinnt, müssen laut Arnold für die Verdienstobjekte Anspruchsregeln festgelegt werden (ebd., 392). Diese sollen sicherstellen, dass Verdienstanspruch und Verdienstobjekte (also das Verdienst und der Verdienst) normalerweise konvergieren: If the achievement rules do not regularly bring it about that the most deserving persons are entitled to the achievement […] the rules are defective. Who the most deserving persons are is determined by the basal reason, which in turn is determined by the institution’s essential goals. If the rules only accidentally bring desert and entitlement together, then the institution is not what it appears to be. (Ebd.)
Arnold erläutert dies anhand der Funktion des Unternehmers in der kapitalistischen Marktwirtschaft. Wie bereits ausgeführt, liegt die primäre Funktion der Marktwirtschaft einer populären Lesart zufolge darin, die möglichst effiziente Allokation von relativ knappen Ressourcen zu gewährleisten, was den Interessen aller Konsumenten dient (ebd., 396; Homann u. Blome-Drees 1992, 33). Dem Unternehmer kommt nach Arnold eine besondere Rolle bei der Realisierung dieser Zielsetzung zu. Als Unternehmer verfügt er über die Produktionsmittel und entscheidet darüber, was, wie viel und wo produziert wird. In dieser Rolle ist er erfolgreich, wenn er einerseits Innovationen schafft und andererseits Malallokationen von Ressourcen entdeckt und behebt (Arnold 1987, 397). Erfolgreiche Unternehmer tragen demnach entscheidend zur Realisierung der Zielsetzung von Marktwirtschaften bei, der möglichst effizienten Allokation von Ressourcen. Hieraus leitet sich ihr Verdienstanspruch ab: Da in der Marktwirtschaft (in der Regel) nur diejenigen Unternehmer ‚gewinnen‘, die Malallokationen von Ressourcen bzw. Innovationsmöglichkeiten entdecken, verdienen sie es, den Gewinn abzuschöpfen.
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Es dürfte klar geworden sein, dass Verdienstansprüche auf bestimmte Löhne institutionell begründete Verdienstansprüche darstellen. Auch wenn die Lohnforderung aufgrund des Verdienstes selbst einen normativen Gehalt hat (im Sinne von: wenn der Verdienstanspruch gerechtfertigt ist, dann ist es eine normative Forderung, ihn entsprechend zu honorieren) muss sie nicht durch Handlungen begründet sein, die selbst moralisch motiviert sind. Der erfolgreiche Unternehmer hat im obigen Sinne einen Verdienstanspruch auf Gewinnabschöpfung unbesehen davon, ob er einen moralisch fragwürdigen Charakter hat. Dermaßen gerechtfertigte Verdienstansprüche werden nicht nur zur Rechtfertigung der Gewinnabschöpfung durch Unternehmer herangezogen, sondern auch für die Entlohnung einer Vielzahl anderer Tätigkeiten von abhängig Beschäftigten. Ich möchte hier zwei Kriterien besprechen, das Humankapital (a) und den produktiven Beitrag zum Firmenerfolg (b). Diese Eigenschaften lassen sich zunächst als deskriptive Axiome verstehen. Wie hoch ist das eingebrachte Humankapital eines bestimmten Arbeitnehmers? Die Antwort sollte einige Informationen liefern hinsichtlich der herzuleitenden Lohnhöhe. Auf dieser Ebene wäre zu erörtern, ob aufgrund des eingebrachten Humankapitals die derzeitige Einkommensverteilung erklärt werden kann. Der produktive Beitrag hingegen stellt die individuelle Kontribution zum Firmenerfolg dar. Der Lohn sollte in einer bestimmten Relation zu diesem Beitrag stehen. Hier müsste untersucht werden, ob sich der individuelle Beitrag in arbeitsteiligen Unternehmen konkret messen lässt. Diese Kriterien können jedoch auch zur Begründung von Verdienstansprüchen genutzt werden. Nach diesem Verständnis verdienen es diejenigen, welche besonders viel Humankapital oder produktiven Beitrag einbringen, entsprechend hoch entlohnt zu werden. Ein Lohn, der das individuelle Verdienst widerspiegelt, wäre damit als gerecht ausgewiesen. Bei Eigenschaft (a) wird der Verdienstanspruch durch die jeweiligen Fähigkeiten und die Ausbildung begründet, welche der Job erfordert. Das Humankapital umfasst einerseits physische Eigenschaften des Arbeitnehmers wie seine körperliche Belastbarkeit und seine allgemeine Gesundheit, aber auch, über welche angeborene Intelligenz er verfügt (Goodwin et al. 2005, 133). Zum anderen besteht das Humankapital in den kognitiven Fähigkeiten des Arbeitnehmers, welche durch soziale Herkunft, schulische Bildung, Berufsausbildung- und Fortbildung, Arbeitserfahrung sowie charakterliche Eignung bedingt sind (ebd., 134). In dieser Sichtweise wird angenommen, dass der produktive Wert eines Arbeitnehmers um so größer ist, je mehr er in sein Humankapital investiert hat: „A person with a higher quantity of human capital typically generates a higher value of the marginal product by producing a product that commands a higher price“ (Krugman u. Wells 2005, 294). Personen, die über umfangreiches Humankapital verfügen, sind daher entsprechend höher zu entlohnen als solche, die kaum Humankapital akkumuliert haben (ebd.). Zudem werden Investitionen in Bildung und entsprechende
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Schulung als „temporäre[r] Einkommensverzicht“ (Lesch u. Bennett 2010, 21) interpretiert. Ein solcher Einkommensverzicht sei nur dann attraktiv, wenn im späteren Beruf damit zu rechnen ist, dass dieser Verzicht durch „zukünftige Ausbildungsrenditen ausgeglichen wird“ (ebd.). Eigenschaft (b) wurde bereits anhand der jeweiligen Rollen des Unternehmers und Arbeitnehmers erläutert: Ihr Verdienst richtet sich in dieser Lesart nach dem individuellen Beitrag zum Unternehmenserfolg. Dieser kann in einem weiten Sinne als produktiver Beitrag bestimmt werden. Dann gründet der Verdienstanspruch auf einem Beitrag zum Fortbestehen eines Unternehmens. In dieser Sichtweise ist z.B. auch der Beitrag des Kapitaleigners produktiv, insofern als er notwendig ist zur Gewährleistung zukünftiger Produktion und seiner Investition eine spekulative Einschätzung der zukünftigen Bedürfnisse der Konsumenten vorausging (Arnold 1985, 100). In einem engen Sinne kann jedoch auch nach der konkreten Kontribution bei der Herstellung von Konsumgütern gefragt werden. Für weniger produktive Tätigkeiten werden besonders viele Arbeitskräfte je produzierter Einheit eines Gut gebraucht, was den Wert der Arbeit mindert. Bei besonders produktiven Tätigkeiten und geringerem Angebot an verfügbaren Arbeitskräften lässt sich hingegen ein höherer Lohn erzielen (Goodwin et al. 2005, 303). Dass allerdings die Frage, wie produktiv einzelne Individuen tatsächlich sind, oftmals nicht einfach zu beantworten ist, dürfte auf der Hand liegen. Zudem muss erörtert werden, inwiefern das Kriterium produktiver Beitrag zur Begründung eines gerechten Lohns hilfreich ist.
5.2 Kritik In diesem Abschnitt werden die Kriterien Angebot und Nachfrage (5.2.1) und Verdienst (5.2.2) einer eingehenden Kritik unterzogen. Das Kriterium Bedürfnis wird in Abschnitt 5.3 zur Begründung des Mindestlohns genutzt. In Kapitel 6 werde ich schließlich auf Grundlage von Arbeitnehmerrechten einen eigenen Ansatz zum gerechten Lohn entwickeln. 5.2.1 Angebot und Nachfrage Wie oben dargelegt, ist die Höhe der Löhne dem Kriterium Angebot und Nachfrage zufolge allein Ausdruck der jeweiligen Marktlage. Ich werde die These vertreten, dass der Arbeitsmarkt sich in signifikanten Aspekten von anderen Gütermärkten unterscheidet und daher der jeweilige Lohn nicht immer den markträumenden Preis darstellt. Darüber hinaus geht mit der privaten Verfügungsgewalt über Kapital die Möglichkeit von Marktmacht und Machtungleichgewichten einher, welche das Kriterium unberücksichtigt lässt. Wenn-
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gleich das Kriterium Angebot und Nachfrage also eine bedeutsame Rolle spielt, kann es nicht zur Begründung eines gerechten Lohns dienen. Zunächst möchte ich eine Eigenheit des Arbeitsmarktes darstellen, welche ihn von anderen Gütermärkten unterscheidet. Es kann sich für das Management von Unternehmen wirtschaftlich lohnen, den Arbeitnehmern mehr als den gängigen Marktpreis für ihre Tätigkeit zu zahlen, weil dies deren Motivation und Loyalität stärkt: „[T]his implicit bonus lets workers know that they are valued and encourages effort and loyalty to the firm“ (Kuttner 1999, 70). Diese Management-Strategie zahlt sich aus, weil sie die Arbeitnehmerfluktuation minimiert, die Arbeitnehmerzufriedenheit stärkt und somit die Produktivität der Arbeitnehmer steigert. Ein solcher Lohn wird in der Ökonomik als Effizienzlohn bezeichnet. Wenn Arbeitgeber nur den markträumenden Preis für eine Tätigkeit zahlen, haben Arbeitnehmer einen Anreiz, während der Arbeitszeit zu „bummeln“ (Pindyck u. Rubinfeld 2005, 829; im Englischen als shirking bezeichnet). Falls sie dabei erwischt und anschließend entlassen werden sollten, können sie für den (nur markträumenden) Lohn sofort eine neue Anstellung eingehen (ebd.).4 Um einen Anreiz zu bieten, produktiv zu arbeiten, muss das Unternehmen seinen Arbeitern höhere Löhne bieten. Bei diesen höheren Löhnen werden Arbeiter, die gefeuert werden, weil sie während der Arbeitszeit bummeln, einen geringeren Lohn erhalten, wenn sie sich von anderen Unternehmen […] anstellen lassen. Ist die Lohndifferenz groß genug, wird dies die Arbeiter dazu bringen, produktiv zu arbeiten und dieses Unternehmen wird keine Probleme mehr mit Shirking haben. Der Lohnsatz, bei dem die Arbeitnehmer nicht mehr bummeln, ist der Effizienzlohn. (Ebd.)
Aufgrund der nutzenmaximierenden Wirkungen für das Unternehmen wird in Arbeitsmärkten oftmals ein effizienter Preis bezahlt, der höher liegt als der markträumende Preis, welcher (so die Annahme) exakt dem Grenzprodukt5 des Arbeitnehmers entspricht.6 Kuttner beschreibt die nützlichen Effekte dieser Praxis für die Firma: „[T]he departure from a theoretically correct price can produce compensating efficiencies by inducing effort, knowledge sharing, work satisfaction, innovation, and loyalty“ (Kuttner 1999, 72). Diese Abweichung vom markträumenden Preis zeigt, dass der Arbeitsmarkt und die entsprechenden Gehälter durch das Kriterium Angebot und Nachfrage nicht hinreichend abgebildet werden. Arbeitskräfte müssen motiviert und ihre Loyalität geweckt werden. Dies gelingt offensichtlich durch die Zahlung eines Lohns, der über dem Niveau des markträumenden Preises liegt.
4
Natürlich gilt dies nur in Abwesenheit von struktureller Arbeitslosigkeit. ‚Grenzprodukt‘ eines Arbeitnehmers ist der zusätzliche „Output, der produziert wird, wenn der Arbeitskräfteeinsatz um eine Einheit erhöht wird“ (Pindyck u. Rubinfeld 2005, 265). Das Grenzprodukt eines Arbeitnehmers ist also die zusätzliche Menge an Gütern, die durch seine Einstellung produziert wird. 6 Zum Effizienzlohn siehe außerdem Akerlof (1984). 5 Das
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In Kapitel 4 habe ich zudem dargelegt, inwiefern reale Märkte in signifikanter Weise von idealtheoretischen Vorannahmen abweichen, weil sie oftmals Marktmacht einzelner Teilnehmer aufweisen.7 Das Kriterium Angebot und Nachfrage wird durch dieses Faktum zwar nicht widerlegt, bei vollständig idealen Märkten hätte es weiterhin Gültigkeit. Mir geht es aber darum, welche Relevanz einzelne Lohnkriterien für die Einkommensverteilung in real existierenden Märkten haben. Lesch und Bennett beschreiben die Auswirkungen von Marktmacht auf das Lohnniveau folgendermaßen: Hat eine der beiden Seiten Marktmacht, kann sie diese dazu nutzen, das Angebot oder die Nachfrage nach Arbeit zu verknappen. Besteht die Marktmacht auf der Nachfrageseite (Monopson), liegt der Nominallohn unter dem Wertgrenzprodukt. Besteht die Marktmacht auf der Angebotsseite, liegt der Nominallohn über dem Wertgrenzprodukt. Wenn die Nachfrage (der Arbeitgeber) oder das Angebot (der Arbeitnehmer) verknappt und damit künstlich reduziert wird, lässt sich die Abweichung nicht auf eine veränderte Leistung (oder Nichtleistung) zurückführen […] Strukturelle Machtungleichgewichte zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer […] stellen die Lohngerechtigkeit von Marktbewertungen […] in Frage […] es geht um die strukturelle Unterlegenheit von Arbeitnehmern gegenüber dem Arbeitgeber. Diese Unterlegenheit folgt daraus, dass der Arbeitgeber wirtschaftlich und rechtlich frei ist, der Arbeitnehmer dagegen nur rechtlich. Dadurch erhlt [sic] der Arbeitnehmer ein Lohnangebot, das unter dem Wert seiner Arbeitsleistung liegt. (Lesch u. Bennett 2010, 28 f.)
Wenn eine entsprechend große Zahl Arbeitssuchender auf Arbeitgeber trifft, die aufgrund einer für sie sehr günstigen Konstellation (ein Überangebot an Arbeitskräften) das Angebot an verfügbaren Arbeitsplätzen zusätzlich verknappen können (beispielsweise durch Verlängerung der Arbeitszeiten, Intensivierung der Arbeitsleistung), dann sind Arbeitgeber in der Situation, Arbeitnehmer für einen Lohn werben zu können, der unter dem Nominallohn ihres Grenzprodukts liegt. Die entsprechende Marktmacht wirkt sich damit verzerrend auf das Verhältnis von Angebot und Nachfrage aus in der Art, dass die Marktmacht des einen (Anbieter) die Anstellungsmöglichkeiten des anderen (Nachfrager) sowie dessen Verdienstmöglichkeiten vermindern kann. Durch den Anreiz, Effizienzlöhne zu zahlen, und die Existenz von Marktmacht wird die Bedeutung des Kriteriums Angebot und Nachfrage gemindert. Aufgrund dieser Ausführungen ist zu schlussfolgern, dass das Kriterium Angebot und Nachfrage zumindest bezogen auf den Arbeitsmarkt keine hinreichende Erklärung für die derzeitige Einkommensstruktur liefern kann. Zudem bleibt durch das Kriterium die Existenz von Macht in Unternehmen unberücksichtigt. Daher kann es auch nicht als normatives Kriterium zur Begründung eines gerechten Lohns dienen. 7 Hier ist die in Kapitel 4 angeführte folgende Annahme gemeint: „There are numerous small sellers and buyers, so small that no individual seller or buyer can affect the market price“ (Goodwin et al. 2005, 260).
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Ich möchte stattdessen eine alternative, verteilungsorientierte Sichtweise skizzieren, welche die Verteilungsergebnisse des Marktes vorrangig als Resultat von Verteilungskonflikten und somit von Verhandlungen um konfligierende Interessen und Ansprüche interpretiert: „the market system has two aspects, one technical, relating to the conditions for reproduction, and the other distribu tional and therefore conflict related“ (Nell 1987, 407 f.). Es ist entscheidend, diesen distributiven Aspekt des Marktes hervorzuheben. In realen Märkten haben Machtungleichgewichte in Unternehmen einen entscheidenden Einfluss auf die erzielten Löhne. Dies lässt die neoklassische Sicht jedoch unbeachtet. Sie sieht die Preise für Arbeitskräfte als natürlichen Ausdruck von Marktbewegungen, die letztlich immer zu einem Gleichgewicht hin tendieren. Jeder bekommt im Markt genau das, was unter Berücksichtigung der jeweiligen Marktsituation (Angebot und Nachfrage, Produktivität) effizient ist: Auch wenn plötzliche und scheinbar unerklärliche Preisschwankungen beängstigen mögen […] die mehr oder weniger zufälligen Marktpreise [oszillieren, P.S.] langfristig um einen natürlichen Preis, finden darin einen vernünftigen Grund und bieten damit nicht nur die beste Verteilung aller Ressourcen; sie lassen vielmehr ganze Volkswirtschaften in den Zustand des Gleichgewichts streben. (Vogl 2010, 49 f.)
Diese auf allgemeine Preisschwankungen im Markt bezogene Darstellung lässt sich auf den Arbeitsmarkt übertragen. Das Kriterium Angebot und Nachfrage besagt ja, dass nichts außer dem jeweiligen Verhältnis von Nachfrage und Angebot die Entlohnung determiniert und dass der Markt in der Abwesenheit externer Einflüsse immer einem Gleichgewicht zustrebt. Veränderungen in der Einkommensstruktur werden mithilfe idealtheoretischer Annahmen erklärt als Resultat natürlicher Marktverschiebungen oder externer Einflüsse. Extrem hohe Gehälter drücken lediglich eine wachsende Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften (wie CEOs) aus, die wiederum durch technologischen Wandel und Fortschritt bedingt ist (Krugman 2007, 131). Wenn also die durchschnittlichen Löhne auch in Wachstumsphasen stagnieren, während die Einkommen des obersten Prozents der Einkommenspyramide wachsen, dann muss dies heißen, dass alle Arbeitskräfte bis auf das oberste Prozent genauso gefragt sind wie in Phasen der Rezession, die Nachfrage nach Top-Angestellten jedoch disproportional steigt. Eine Umverteilung der Unternehmens erträge zugunsten der Aktionäre und CEOs muss effizient sein, weil sie sonst nicht stattgefunden hätte: [T]he theorist is left to throw up his hands and to conclude rather helplessly that something about the economy or the technology of our own era abruptly moots all the earlier insights about efficiency wages and tacit contracts. The new arrangements also must be efficient, or they wouldn’t have emerged. (Kuttner 1999, 82)
Was diese Sichtweise unberücksichtigt lässt, ist die Existenz von Macht, wie Kuttner zutreffend feststellt (ebd.). Die existierenden Machtungleichgewichte in Un-
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ternehmen sind nicht nur ungerechtfertigt, sie führen auch zu ineffizienten Verteilungsstrukturen, wie Chang im Hinblick auf Managergehälter hervorhebt: Markets weed out inefficient practices, but only when no one has sufficient power to manipulate them. Moreover, even if they are eventually weeded out, one-sided managerial compensation packages impose huge costs on the rest of the economy while they last. The workers have to be constantly squeezed through downward pressure on wages, casualization of employment and permanent downsizing, so that the managers can generate enough extra profits to distribute to the shareholders and keep them from raising issues with high executive pay […] (Chang 2010, 156).
Wenn Manager disproportional große Machtbefugnisse erlangen, können sie die Lohnverhältnisse zu Lasten der Arbeitnehmer und zu ihren Gunsten sowie der Aktionäre verändern. Wer aber mit Verweis auf die Knappheit von Führungskräften behauptet, dass das heutige Gehaltslevel von US-Managern, welches in etwa zehn mal so hoch liegt wie in den 1960ern und 70ern (Chang 2010, 151), gerechtfertigt ist aufgrund der um ein zehnfaches gestiegenen Knappheit an geeigneten Kandidaten (warum sollte dieser Fall eintreten? Der Job ist höchst lukrativ), der begibt sich m.E. auf einen zum Dogma verkümmerten Rechtfertigungsdiskurs einer von den realen Verhältnissen überkommenen Marktideologie. Ich möchte stattdessen das Argument stark machen, dass Lohnverhandlungen auch Auseinandersetzungen über gerechte Verteilungen darstellen, bei denen ein entscheidender Faktor ist, ob sich die Verhandlungspartner als Gleiche begegnen, oder aber Ungleichheiten zwischen ihnen herrschen. Ob der Anteil Einzelner tatsächlich ihren durch die Nachfrage bestimmten Wert im Markt widerspiegelt und ob einzelne Ansprüche gerechtfertigt sind, ist dabei nachrangig gegenüber der Frage, ob die erzielten Löhne das Ergebnis von Verhandlungen auf Augenhöhe sind. Um zu illustrieren, was hierunter zu verstehen ist, sei auf die Ökonomie der USA in den 1950er und 60er Jahren verwiesen. Diese lässt sich als System der checks and balances begreifen: [T]he existence of powerful unions acted as a restraint on the incomes of both management and stockholders. Top executives knew that if they paid themselves huge salaries, they would be inviting trouble with their workers; similarly corporations that made high profits while failing to raise wages were putting labor relations at risk. (Krugman 2007, 138)
Krugman argumentiert m.E. zutreffend, dass es für eine gerechte Verteilung der produzierten Werte ein System des fairen Interessenausgleichs und der gegenseitigen Kontrolle geben muss. Um dies zu gewährleisten, bedarf es der Ausbalancierung der Machtverhältnisse, die vor allem durch gewerkschaftliche Organisation und betriebliche Mitbestimmung sichergestellt wird. Heute sind Gewerkschaften beispielsweise in den USA deutlich schwächer als noch in den 1970ern,8 was auch ein Ergebnis von Machtkämpfen zwischen Unternehmen 8
1973 waren 39 Prozent der Industriearbeiter gewerkschaftlich organisiert, 2005 nur noch 13 Prozent (Krugman 2007, 150).
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und gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern ist (ebd., 150). Die Veränderungen in der Einkommensverteilung sind demnach auch einer Verschiebung der „relative bargaining power“ (Kuttner 1999, 103) von Arbeitnehmern geschuldet, weniger natürlichen Marktbewegungen. Exorbitante Gehälter kommen laut Krugman vor allem aufgrund des „death of outrage“ (Krugman 2007, 150) zustande. Es bedarf demnach eines erneuerten Bewusstseins für gerechtfertigte und ungerechtfertigte Ungleichheiten sowie der (Wieder-)Herstellung fairer Verhandlungsbedingungen. Die derzeitigen Ungleichheiten durch den Verweis auf Angebot und Nachfrage legitimieren zu wollen, muss scheitern. 5.2.2 Verdienst Es gibt eine Reihe allgemeiner Kritikpunkte am Verdienstkriterium. Rawls führt in Anlehnung an Mill aus, dass die Kriterien Lohn nach Einsatz und Lohn nach Leistung unvereinbar seien (Rawls 1971, 338). Die Güter anhand des individuellen Verdienstes verteilen hieße, jeden nach seinem „gewissenhaften Bemühen“ (ebd., 346) zu entlohnen. Dies würde jedoch das moralische Verdienst des Einzelnen belohnen, nicht die tatsächlich erbrachte Leistung. Nach Leistung zu entlohnen hieße wiederum, jedem das Äquivalent dessen auszuzahlen, was er geleistet hat. Der monetäre Wert der individuellen Leistung lässt sich jedoch nicht unabhängig von Angebot und Nachfrage bestimmen. Daher kann weder die Anwendung des Verdienst- noch des Leistungsprinzips für sich genommen zu einem gerechten Ergebnis führen (ebd., 342). Rawls schlussfolgert, dass der gemeine Verstand „keine wohlbestimmte Theorie des fairen Lohnes“ (ebd., 339) auf Grundlage der Kriterien Leistung und Verdienst biete. Hayek argumentiert zudem, gerade bei spekulativen Tätigkeiten könnten nur diejenigen belohnt werden, die tatsächlich erfolgreich waren, auch wenn „sich viele andere ebenso verdienstvoll bemüht haben mögen“ (Hayek 2005, 123). Es sei ein entscheidendes Merkmal einer freien Gesellschaft, dass sie nicht danach distribuiere, was Einzelne für verdienstvoll halten (ebd., 120). Erfolg in der Marktwirtschaft kann das Ergebnis puren Zufalls sein, ein sehr verdienstvoller Versuch kann vollständig scheitern. Das Verdienst zu belohnen, ist nach Hayek nur möglich, wenn wir all das Wissen besitzen, das dem handelnden Menschen zur Verfügung stand, einschließlich seiner Kenntnis seines Geschicks und seiner Zuversicht […] seiner Konzentrationsfähigkeit, seiner Energie und Beharrlichkeit etc. Die Möglichkeit einer richtigen Beurteilung des Verdienstes hängt daher vom Bestehen gerade jener Bedingungen ab, deren allgemeines Fehlen das Hauptargument für die Freiheit bildet. Gerade, weil wir wollen, dass Menschen Wissen verwerten, das wir nicht besitzen, lassen wir sie selbst entscheiden. Aber insoweit wie wir wünschen, dass sie frei sein sollen, Fähigkeiten und Kenntnisse von Tatsachen zu verwerten, die wir nicht haben, sind wir auch nicht in der Lage, das Verdienst ihrer Leistungen zu beurteilen. (Ebd., 122)
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Den Lohn nach Verdienst festzusetzen, würde nach Hayek das Gegenteil einer freien Gesellschaft voraussetzen, nämlich eine solche, in der objektive Gewissheit über Inhalt und normative Bewertung des Verdienstes vorausgesetzt wird, und in der die allgemeinen Ziele des Wirtschaftens festgelegt und bekannt sind. Die Marktwirtschaft folgt aber nach Hayek weder einem kollektiven Ziel noch lässt sich das Verdienst objektiv bestimmen. „Solange es keine Wertmaßstäbe“ gebe, die unabhängig von den Präferenzen der Konsumenten Gültigkeit be säßen, so wiederum Walzer, ließe sich kein Maßstab der Verdienstlichkeit festlegen (Walzer 1992, 168). Die einzige Bemessungsgrundlage zur Bestimmung des Lohns in der freien Marktwirtschaft könne hingegen nur der „Wert eines Ergebnisses“ (Hayek 2005, 124) sein und dieser richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Dieser Wert gibt uns jedoch keine Auskunft über das Verdienst, welches in der Erzeugung eines bestimmten Guts steckt, sondern allein darüber, wie sehr wir es wertschätzen (ebd., 126). Im Abbau, der Verarbeitung und dem Vertrieb von Diamanten mag ein geringer Verdienst begründet sein, dennoch sind wir bereit, dafür sehr hohe Preise zu bezahlen. Ich halte diese Kritikpunkte für zwingend, auch wenn ich die Schlussfolgerungen Hayeks nicht teile. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, inwiefern die zur Begründung des Verdienstkriteriums angeführten Eigenschaften Humankapital (a) und produktiver Beitrag zum Unternehmenserfolg (b) scheitern, weil es keine unabhängige Bemessungsgrundlage für das Verdienst gibt. (a) Humankapital Der Begriff Humankapital bezeichnet „Wissen, Fähigkeiten und Erfahrung, die einer Einzelperson mehr Produktivität verleihen und es ihr ermöglichen, im Laufe ihres Lebens höhere Einkünfte zu erzielen“ (Pindyck u. Rubinfeld 2005, 738). Rawls beschreibt im Folgenden, inwiefern sich das angehäufte Humankapital auf die Entlohnung auswirkt: Erfahrung und Ausbildung, natürliche Fähigkeit und Spezialkenntnisse erzielen im allgemeinen einen höheren Preis. Die Betriebe sind bereit, solchen Arbeitskräften mehr zu bezahlen, weil ihre Produktivität größer ist. Das erklärt und stützt die Vorschrift: jedem nach seiner Leistung, und davon abgeleitet: jedem nach seiner Ausbildung, seiner Erfahrung u.ä. (Rawls 1979, 340)
Es ist gängige Praxis, dass der jeweilige Ausbildungsgrad und die individuelle Befähigung im Markt angemessen berücksichtigt werden. Es sprechen gute Gründe für diese Praxis. Zunächst ist der oben angeführte Einkommensverzicht zu nennen, welcher mit langen Ausbildungszeiten einhergeht. Personen, die ein Medizinstudium aufnehmen, entscheiden sich gegen den frühzeitigen Einstieg ins Arbeitsleben mit einem geregelten Einkommen und für eine langwierige und anforderungsreiche Ausbildungszeit. Damit sich hierzu Menschen bereit finden, müssen die in der Anstellung zu erwartenden finanziellen rewards
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entsprechend attraktiv sein. Tätigkeiten, die einen hohen Grad an Humankapital erfordern, setzen zudem spezielle Fähigkeiten und Kenntnisse voraus. Für Arbeitgeber ist das angehäufte Humankapital ein entscheidender Faktor bei der Einstellung neuer Arbeitnehmer und spielt daher in Arbeitsmärkten eine bedeutende Rolle. Ein anderer Faktor ist jedoch bei der Entlohnung der jeweiligen Tätigkeiten ebenfalls relevant. Auch wenn das verfügbare Humankapital des Arbeitnehmers fraglos eine Rolle spielt, entscheidend ist auch, in welcher Verhandlungsposition sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüber treten: The problem is that the most careful research on this subject suggests that the skills gap is largely a mirage […] By every indicator, workers are in fact becoming better educated. What has changed is what economists call the ‚return to skills‘. Except at the very top, workers are being compensated less generously for the skills they have. The problem, in short, is more on the demand side – the kind of jobs employers are offering and how they compensate employees – rather than on the supply side of the skills that workers bring to labor markets. That deterioration, in turn, reflects mainly a shift in relative bargaining power, not skills. (Kuttner 1999, 103)
Obwohl das verfügbare Humankapital durch gestiegenen Bildungs- und Ausbildungsgrad gewachsen ist, steigen die Löhne in vielen Bereichen nur moderat oder gar nicht. Menschen mit umfangreichem Humankapital wie Rechtsanwälte oder Ingenieure bekamen in den 1950ern in den USA einen weitaus geringeren Gehaltszuschlag im Vergleich zu handwerklich Tätigen als heute (Krugman 2007, 42). Zwar ist seit dieser Zeit der Zuschlag auf Bildung gewachsen, aber er entfällt vorrangig auf eine kleine Gruppe Arbeitnehmer (ebd., 136). Im Zeitraum von 1972 bis 2001 haben von den höheren Einkommensschichten vor allem die obersten ein Prozent, und hiervon insbesondere das oberste Tausendstel, profitiert. Krugman stellt fest, dass diese Entwicklungen wohl kaum allein durch das gestiegene Humankapital des obersten Tausendstels zu erklären sind. Vielmehr haben wachsende Ungleichheiten mindestens so viel mit veränderten Machtbeziehungen zu tun wie mit Marktentwicklungen (Krugman 2006). Wenn der Faktor Humankapital tatsächlich eine Rolle spielt, dann wurde er in Lohnverhandlungen immer weniger berücksichtigt: The observation that even highly educated Americans have […] seen their incomes fall behind the average, while a handful of people have done incredibly well, undercuts the case for skill-biased technological change as an explanation of inequality and supports the argument that it’s largely due to changes in institutions, such as the strength of labor unions, and norms, such as the once powerful but now weak belief that having the boss make vastly more than the worker is bad for morale. (Krugman 2007, 136)
Der return to skills ist demnach kein objektiv zu ermittelnder Wert, sondern lediglich ein möglicher Faktor für die Berechnung der Lohnhöhe, der nur dann adäquat Berücksichtigung finden kann, wenn Arbeitnehmer gegenüber dem jeweiligen Arbeitgeber eine ausgeglichene Verhandlungsposition haben.
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Es stellt sich darüber hinaus die Frage, inwiefern sich auf Grundlage des angehäuften Humankapitals ein normativer Verdienstanspruch ableiten lässt. Rawls vertritt die Auffassung, dass man seine natürlichen Gaben ebenso wenig verdient […] wie seine Ausgangsposition in der Gesellschaft. Die sich ergebende Verteilung hat nichts mit dem moralischen Wert zu tun, denn die ursprüngliche natürliche Begabung und die Zufälligkeiten ihrer Entwicklung im Kindesalter sind moralisch gesehen willkürlich. (Rawls 1979, 345 f.)
In welche sozialen Verhältnisse man hineingeboren wird, mit welcher natür lichen Intelligenz man zur Welt kommt, aber auch, welche schulische und berufliche Laufbahn aufgrund dieser Voraussetzungen zu erwarten ist: Hierin zeigt sich Rawls zufolge kein moralisches Verdienst des Individuums (ebd., 123). Entscheidend ist daher, wie die gesellschaftlichen Institutionen mit den natürlichen und statusbedingten Ungleichheiten umgehen (ebd.). Dem Differenzprinzip zufolge dürfen die Ungleichheiten von den Begünstigten nur soweit genutzt werden, „wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert“ (ebd., 123). Dabei sollen die Unterschiede in der natürlichen Begabung weder ausgeglichen noch beseitigt werden. Es geht allein darum, dass die Unterschiede zum Nutzen der am wenigsten Begünstigten dienen. Wenn man Rawls‘ Argumentation konsequent verfolgte, dann wären die jeweiligen beruflichen Laufbahnen und die damit verbundenen Investitionen und Hürden nur insofern bei der Entlohnung zu berücksichtigen, als dies zur Realisierung des Differenzprinzips beiträgt. Die einzelnen Fähigkeiten und Kenntnisse sind dabei im eigentlichen Sinne unverdient. In einer starken Lesart ist daher das angehäufte Humankapital eines Arbeitnehmers at least in part the result of natural and social factors, such as native intelligence and childhood upbringing, for which people cannot claim credit […] According to this argument, since no one can claim credit for anything, no one deserves anything, and desert cannot be used as a criterion for just distribution. (Moriarty 2009, 129)
Tatsächlich gibt es hinsichtlich des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg Befunde, welche gegen den Verdienstanspruch aufgrund von Humankapital sprechen. So ist in den USA ein sich verstärkender Trend zur Homogamie zu beobachten, also der Tendenz, dass zunehmend Paare von ähnlicher Intelligenz und ähnlichem sozialen Hintergrund miteinander Kinder zeugen (Murray 2012). Dies führt dazu, dass die (Bildungs-)Elite eine recht homogene Gruppe bleibt, weil die Kinder der besonders gebildeten Paare wiederum besonders gut abschneiden und somit die soziale Zusammensetzung der Eliteuniversitäten bestimmen. Die Folge ist, dass die besonders talentierten Kinder der nächsten Generation mehrheitlich aus Familien der oberen Mittelschicht kommen werden (ebd.). Damit stehen diejenigen Berufe, welche zum Vorstoß in die höheren Einkommensschichten befähigen, nur einer relativ homogenen Bevölkerungsschicht offen. In Deutschland zeichnet sich eine ähn-
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liche Lage ab. Das deutsche Schulsystem, so Hartmut Ditton, trägt „vielfach eher zur Verstärkung als zum Abbau von bereits unterschiedlichen Startbedingungen“ (Ditton 2008, 260 f.) bei. Dies gilt umso mehr für den Zugang zu universitärer Bildung. Der soziale Hintergrund hat entscheidende Bedeutung für die Aufnahme eines Studiums. Die oberen Einkommensschichten sind an deutschen Universitäten überproportional stark, die unteren Einkommensschichten krass unterrepräsentiert.9 Besonders erfolgreich sind diejenigen, „bei denen sich günstige ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen besonders bündeln“ (Bathke et al. 2000, 17). Es ist daher zweifelhaft, ob das angehäufte Humankapital als Verdienstkriterium in Frage kommt. Wenn die jeweiligen Berufswege durch soziale Herkunft und Bildungskarriere vorgezeichnet und somit nicht Ergebnis einer wahrhaft ‚freien‘ Entscheidung sind, inwiefern ist es dann noch als Verdienst des Einzelnen zu betrachten, dass er erreicht hat, was er erreicht hat? Alan Gewirth hat deutlich gemacht, inwiefern diese Sichtweise zu deterministisch ist. Obschon der soziale Hintergrund Einfluss auf die jeweiligen Karrierechancen haben kann, so würde doch die vollständige Reduktion auf dieses Kriterium die Urheberschaft für die eigenen Entscheidungen außer acht lassen. Es gibt einen Unterschied zwischen den bloß durch soziale Herkunft erworbenen Fähigkeiten und der tatsächlichen Verwendung dieser Fähigkeiten: „One may deserve what one gets by the latter“ (Gewirth 1996, 190). In dieser Sichtweise hat der Einzelne einen Verdienstanspruch auf dasjenige, was er Kraft seiner eigenen Initiative und seinen Entscheidungen erreicht hat, nicht auf dasjenige, was er an Vorteilen bereits qua sozialer Herkunft mitgegeben bekommen hat (Moriarty 2009, 129 f.). Gewirths Argumentation läuft darauf hinaus, dass wir für einen Teil des eigenen Humankapitals selbst verantwortlich sind und somit für diesen Teil einen entsprechenden Verdienstanspruch stellen können. Moriarty erläutert dieses Prinzip am Beispiel der Zulassung zur Universität. Bei zwei Kandidaten von unterschiedlichem sozioökonomischen Hintergrund könnte man es folgendermaßen anwenden: „P is more deserving than Q of college admission if his qualifications remain somehow ‚better‘ than Q’s even after discounting for the effects of his superior natural abilities“ (ebd., 130). Sollte das Humankapital bei der Entlohnung entsprechend dieses Grundsatzes berücksichtigt werden? Auch wenn Moriarty zu zeigen versucht, wie ein solcher Prozess bei der Mitarbeiterrekrutierung auf Firmenebene erfolgreich durchgeführt werden könnte (ebd., 132); es dürfte höchst kompliziert, wenn nicht unmöglich sein, herauszufiltern, welche sozialen und natürlichen Unterschiede in Intelligenz und Begabung ererbt und welche Unterschiede durch eigene Initiative der Kandidaten zustande kamen. Selbst wenn dies möglich wäre: Sollten Arbeitgeber denjenigen Kandidaten bevorzugen, der nach Abzug der 9
Siehe Bathke et al. (2000), Arens (2007).
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sozioökonomischen Einflussfaktoren die höchste Punktzahl aufweist, wenn vor Abzug derselben ein anderer Kandidat besser abgeschnitten hat? Rawls hat das Verdienstkriterium auch deswegen zurückgewiesen, weil er der Auffassung war, dass durch eine gerechte Grundstruktur die negativen Auswirkungen von sozialer Herkunft und natürlicher Intelligenz minimiert werden können. Diese Funktion einer gerechten Grundstruktur auf die in den jeweils realisierten Strukturen operierenden Unternehmen zu übertragen ist daher nicht zielführend. (b) Beitrag zum Firmenerfolg Der Präsident des deutschen Arbeitgeberverbandes GesamtMetall Martin Kannegiesser äußerte sich im Rahmen der Lohnverhandlungen 2012 folgendermaßen: „Höhere Löhne kann es nur für höhere Leistung geben und nicht weil, [sic] wir uns in Deutschland mehr Gerechtigkeit wünschen“ (Kannegiesser 2012). Hier wird die Überzeugung deutlich, dass der jeweilige Lohn nur durch Leistung und mehr Lohn nur bei gestiegener Leistung gerechtfertigt ist. Insinuiert wird dadurch erstens, dass die individuelle Leistung konkret messbar ist, und zweitens, dass sie im Falle der Arbeitnehmer in der metallverarbeitenden Industrie nicht gestiegen ist. Die individuelle Leistung lässt sich einer populären Lesart zufolge im individuellen produktiven Beitrag bei der Herstellung eines Konsumguts messen. Ob dessen monetärer Gegenwert dem Produzenten vollständig zusteht und wie dieser Wert festzulegen ist, wurde und wird äußerst kontrovers diskutiert. Ein strittiger Punkt hierbei ist, ob die kapitalistische Mehrwertabschöpfung gerechtfertigt ist. Ich habe in Kapitel 4.3 argumentiert, dass Marx falsch lag, als er die kapitalistische Mehrwertabschöpfung als per se ausbeuterisch beschrieb. Hier möchte ich nun besprechen, ob in der Kapitalbereitstellung ein produktiver Beitrag zu entdecken ist, welcher eine Gewinnabschöpfung rechtfertigt. Ich werde argumentieren, dass aufgrund der notwendigen funktionalen Rolle der Kapitalakkumulation für die industrielle Produktion die Mehrwertabschöpfung gerechtfertigt ist. Der Kapitalbereitstellung geht eine spekulative Einschätzung der zukünftigen Bedürfnisse der potentiellen Kunden voraus (Arnold 1985, 100). Sie stellt zwar keinen produktiven Beitrag dar, dennoch ist sie für die erfolgreiche Produktion unerlässlich. Aufgrund von Anreizerwägungen ist daher die Gewinnabschöpfung gerechtfertigt und somit auch die These, dass Kapitalisten einen (noch näher zu bestimmenden) Beitrag leisten. Hinsichtlich der Rechtfertigung von Mehrwertabschöpfung wäre zunächst zu klären, wie Kapitaleigner zu ihrem Kapital gelangen. Die industrielle Produktion mit hochgradiger Arbeitsteilung und der Notwendigkeit, strategische Entscheidungen zu treffen, macht unternehmerisches Engagement und Kapitalbereitstellung notwendig. Die Entscheidung für ein solches Engagement steht jedoch unter Umständen nicht allen Arbeitssuchenden offen. Weil Arbeiter oft
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über kein Eigenkapital verfügen und ihnen das erforderliche Humankapital zur Firmengründung fehlt, können sie nicht selbst unternehmerisch tätig werden. Nozick erörtert in diesem Zusammenhang zunächst, wie denn der Kapitalist zu seinem Kapital gelangte, welches ihm ermöglicht, diese Tätigkeit auszuüben: Doch wo kamen die Produktionsmittel her? Wer verzichtete früher auf sofortigen Verbrauch, um sie zu erwerben oder herzustellen? Wer verzichtet jetzt auf Verbrauch, indem er Löhne und Produktionsmittel bezahlt und damit erst nach dem Verkauf des fertigen Produkts einen Ertrag erhält? Wessen Unternehmerinitiative war die ganze Zeit am Werke? (Nozick 2006, 334)
Nozick lässt die Einflüsse der jeweiligen gesellschaftlichen Startbedingungen unberücksichtigt, die durch ererbtes Vermögen, soziale Herkunft und Bildungskarrieren beeinflusst werden. Hier wird das Bild des self-made entrepreneurs evoziert, dem es – zunächst völlig mittellos – gelingt, einen Teil des eigenen Einkommens zurückzuhalten, um künftig unternehmerisch tätig zu werden. Unbeachtet bleibt hier, ob und in welchem Umfang vorherige Bildungsinvestitionen vonnöten waren, die den Unternehmer erst befähigten, seine Tätigkeit auszuüben. Hier gibt es den klaren Befund, dass Berufschancen von Bildungschancen, und diese wiederum von der sozialen Herkunft abhängig sind.10 Die Zulässigkeit der Mehrwertabschöpfung lässt sich dennoch konsequen tialistisch begründen. Ich habe bereits von der notwendigen funktionalen Rolle der Kapitalakkumulation gesprochen. Um den erreichten Lebensstandard zu halten, so Joseph Heath, darf nicht alles, was an Wert produziert wird, konsumiert werden (Heath 2009, 255). Es bedarf der (Re-)Investitionen in Produk tionsfaktoren: We […] need investment, to replace all the factories, machinery, and computers that we use in our day-to-day economic activities. And we therefore need people to ‚put‘ in, in the form of labor, somewhat more than they ‚take out‘, in the form of individual consumption. The easiest way to do this is to give individuals an incentive to save, in the form of a return on their savings […] once you accept the principle of individual savings, however, and grant that this should be accomplished by giving individuals some sort of incentive to save, then you’ve basically conceded the principle that it’s okay for people with accumulated wealth to be paid despite the fact that they haven’t actively ‚done‘ anything to earn it […] it is undeniable that those who save money in order to lend it to others at interest are in fact 10 Zu den Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem siehe u.a. Arens 2007, Bathke 2000. Insgesamt besteht in keinem westlichen Staat mit vergleichbarem Entwicklungsstand ein derart starker Zusammenhang zwischen dem Schulerfolg und der sozialen Herkunft wie in Deutschland (Arens 2007, 138). Aufgrund der größeren sozialen Distanz zu dem erstrebten Abschluss müssen Kinder aus Arbeiterfamilien „höhere Aspirationsniveaus haben, mehr Ressourcen aufbringen und sich mehr anstrengen, damit sie sich für die höhere Bildung entscheiden“ (Becker 2008, 167). Es dürfte klar sein, dass mit dem Bildungserfolg auch die beruflichen Perspektiven vorbestimmt werden. Für die USA skizziert Paul Krugman ein ähnliches Bild. „Among rich countries, America stands out as the place where economic and social status is most likely to be inherited“ (Krugman 2012).
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performing a valuable social service. And if this is so, then it is not difficult to show that foregone consumption should be a legitimate basis for reward. (Ebd., 255 f.)
Die Befürwortung der Mehrwertabschöpfung und damit zur Kapitalbildung und -bereitstellung wird hier durch ihre positiven Anreizwirkungen begründet. Unternehmen benötigen Kapitalinvestitionen und -rücklagen, damit sie neues Material und Arbeitskräfte einkaufen können, um neue Produkte zu entwickeln usw. Um diese Kapitalinvestitionen möglich zu machen, ist es notwendig, dass manche nicht alles konsumieren, was sie erwirtschaften und diesen Teil stattdessen reinvestieren. Damit dies gewährleistet wird, ist es sinnvoll, den Anreiz zu schaffen, nicht alles zu konsumieren. Dies wird durch das Versprechen auf Kapitalrendite sichergestellt. Da die Unternehmen Kapital benötigen, um operieren zu können, ist es zulässig, dass Aktieneigner, (private oder öffentliche) Banken und (private oder öffentliche) Unternehmer Renditen, Zinsen oder den Reingewinn für ihre Investitionen erhalten. Heath geht außerdem davon aus, dass der Anspruch auf Gewinnabschöpfung durch die Leistung, einen Teil des Einkommens nicht konsumiert zu haben, gerechtfertigt sei. Diese Leistung spricht er Kapitaleignern als Menschen mit besonderen Fähigkeiten zu, über die Bürger aus niedrigeren Einkommensschichten nicht verfügten: It’s very easy to give people money, but a lot more difficult to persuade them not to spend it. The capacity for abstinence […] is not quite as well distributed in the population as one might hope. (Heath 2009, 256)
Wenn man sich die weiter oben angeführten Zahlen zu Einkommensverteilung, ererbtem Reichtum und Bildungschancen vergegenwärtigt, dürfte jedoch klar werden, dass das Kriterium foregone consumption zur Rechtfertigung eines Verdienstanspruchs auf Gewinnabschöpfung fragwürdig ist. Es ist schlicht nicht der Fall, dass Kapitaleigner zum größten Teil zunächst einfache Arbeitnehmer waren oder allein durch die eigene Konsumeinschränkung zu Kapitaleignern und Unternehmern aufstiegen, wie beispielsweise Arnold (1985, 97) behauptet. Die jeweiligen Startbedingungen präjudizieren vielmehr in erheblichem Ausmaß die weiteren Möglichkeiten, die dem Einzelnen offenstehen (Tugendhat 1993, 389). Es ist ebenso ein Irrglaube, anzunehmen, der größte Reichtum sei vorrangig in den Händen der großen Innovatoren gebündelt, welche echten Fortschritt geschaffen und günstige Gelegenheiten entdeckt haben. Aus dieser Sichtweise leitet sich die oben skizzierte Lesart des Verdienstanspruchs von Unternehmern als Entrepreneurs ab. Paul Krugman berichtet 2011 von einer Untersuchung, aus der hervorging, dass 43 Prozent des obersten Tausendstels der Einkommenspyramide in den USA als Vorstand bei nicht-finanziellen (warenproduzierenden) Unternehmen tätig waren, 18 Prozent im Finanzmarkt, und 12 Prozent im Immobiliengeschäft (Krugman 2011a). Bei diesen Tätigkeiten ist der
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Zusammenhang zwischen produktivem Beitrag und Einkommen nicht immer eindeutig feststellbar (ebd.). Wenn nun Mitglieder dieser Schicht einen Teil ihres Vermögens für zukünftige Investitionen zurückhalten und nicht vollständig auf Konsumgüter verwenden, verdienen sie dann, im Sinne eines wohlbegründeten normativen Anspruchs, aufgrund dieser ‚Leistung‘ Rendite? Es geht wohlgemerkt darum zu beurteilen, ob in der Bereitstellung von Kapital und dem vorausgehenden Konsumverzicht ein besonderer, im Sinne eines produktiven Beitrags einzuordnender ‚Verdienst‘ zu entdecken ist, welcher die extreme gegenwärtige Polarisierung von Reichtum legitimieren könnte. Diese Rechtfertigung für Kapitalaneignung aufgrund von foregone consumption gerät in schwerwiegenden Konflikt mit den Realitäten. Das von GesamtMetall-Präsident Martin Kannegiesser aufgebrachte Argument „Höhere Löhne kann es nur für höhere Leistung geben“ ließe sich auf dieses oberste Tausendstel der Einkommenspyramide bezogen nicht mehr anwenden. Das Leistungsprinzip ‚jeder nach seinem Beitrag‘ basiert ja gerade auf der „Vergleichbarkeit menschlicher Arbeit und Tätigkeiten“ (Neckel 2007). Welche enormen Leistungszuwächse könnten es rechtfertigen, dass das oberste Tausendstel der US-amerikanischen Gesellschaft, welches die Hälfte aller Einkommen aus Kapitalgewinnen bezieht, zwischen 1979 und 2005 einen steuer- und inflationsbereinigten Einkommenszuwachs von 400 Prozent verbuchen konnte, während die Einkommen in der Mittelschicht nur um 21 Prozent stiegen (Krugman 2011a)? Zur Rechtfertigung von Gewinnabschöpfung kann aufgrund dieser Einwände nur die anreizorientierte Begründung von Kapitalinvestitionen als notwendigem Mittel zur erfolgreichen Unternehmensführung dienen. Dies ist wohlgemerkt eine reine Effizienzerwägung. Es lässt sich hieraus m.E. kein normativer Verdienstanspruch ableiten. Der Beitrag von Kapitalisten ist nur insofern (mittelbar) ‚produktiv‘ als die Bereitstellung von Kapital letztlich die zukünftige Produktion ermöglicht und sie selbst eine spekulative Einschätzung der zukünftigen Präferenzen der Konsumenten beinhaltet (Arnold 1985, 100). Er ist nicht produktiv insofern als die Bereitstellung des Kapitals selbst keine produktive Tätigkeit beinhaltet (Gewirth 1996, 210). Mit dieser Rechtfertigung von Kapitalrenditen ist auch noch keine Aussage darüber getroffen, wie groß der Anteil an den Einnahmen eines Unternehmens sein sollte, welcher an die Unternehmenseigner ausgeschüttet wird, noch wie stark die Interessen der Aktionäre gegenüber den Interessen der Arbeitnehmer zu gewichten sind. Nach den bisherigen Ausführungen ist nur geklärt, warum Kapitalakkumulation grundsätzlich notwendig ist für die Reinvestition in und das Fortbestehen von Unternehmen. Nachdem nun geklärt ist, ob dem Kapitalisten eine Rendite zusteht, wird im Folgenden erörtert, inwiefern Marx’ Forderung, dem Arbeitnehmer müsse das Äquivalent seines produktiven Beitrags ausgezahlt werden, faktisch realisiert bzw. normativ eingefordert werden kann. Ein Problem zeigt sich hin-
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sichtlich der Frage, wie die individuelle Produktivität genau gemessen werden sollte. Bei den heutigen hocharbeitsteiligen und komplexen Produktionsstrukturen ist kaum festzustellen, welchen individuellen Beitrag jeder Einzelne erbringt.11 Dies liegt daran, dass es zwar für besonders monotone Tätigkeiten wie Fließbandarbeit, bei der nur wenige Arbeitsschritte in einer genauen zeitlichen Taktung durchgeführt werden, möglich sein kann, in etwa den jeweiligen output festzulegen, es bei komplexeren und weniger greifbaren Tätigkeiten jedoch schwierig bis unmöglich sein kann, diesen Beitrag zu bemessen: For some jobs, such as light-assembly factory work for a manufacturing firm, the contribution to output of individual workers (or work groups) can be quite easily measured in terms of physical product over a time period. But what about the contribution of others in the same organization – for example, the CEO, an accountant, a salesperson, or the director of the company day care center? All, presumably, contribute to the success of the organization. But because productivity is a hard thing to measure, we need to look at many factors […] to get insight into the functioning of labor markets. (Goodwin et al. 2005, 304)
Bei der Produktion eines Turnschuhs ist relativ eindeutig nachzuvollziehen, worin die individuelle produktive Kontribution eines jeden Schuhmachers durchschnittlich liegt: bei x gefertigten Schuhen pro Arbeitsstunde. Damit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, was diese Leistung wert ist beispielsweise im Vergleich zu den vielen Marketing-Fachleuten, die den erfolgreichen Vertrieb der Schuhe sicherstellen, oder den Designern, welche über Aussehen und Gestalt des Schuhs entscheiden. Worin besteht der produktive Beitrag des Personalmanagements? Dieses sorgt für möglichst effiziente, produktive Arbeitsabläufe und -strukturen; dennoch trägt es nur mittelbar zur Produktion bei. Diese Erwägungen sollten deutlich machen, dass die Frage der individuellen Kontribution sehr viel komplexer ist, als es Marx‘ Diktum jeder nach seinem Beitrag (Marx 1962, 20) insinuiert. Weitere Probleme zeigen sich hinsichtlich der in der Volkswirtschaftslehre verbreiteten Auffassung (Dew-Becker u. Gordon 2005), die Löhne drückten die durchschnittliche volkswirtschaftliche bzw. sektorale Produktivität aus. Wenn diese steigt, müssten auch die angebotenen Löhne steigen (ebd., 238 ff.; Heath 2009, 244), andernfalls fänden sich keine Arbeitnehmer mehr bereit, die entsprechende Tätigkeit aufzunehmen. Das Problem hierbei ist, dass sich keine deutliche Korrelation zwischen steigender Produktivität und steigenden Löhnen feststellen lässt: 11 „In einer arbeitsteiligen Wertschöpfungskette lassen sich die individuellen Wertschöpfungsbeiträge kaum quantifizieren. Es gibt keine vollständige Unterteilbarkeit von Produktionsfaktoren. In der betriebswirtschaftlichen Praxis stehen die einzelnen Produktionsfaktoren in einem engen, technologisch weitgehend vorbestimmten Interaktionsverhältnis. Ist es schon fraglich, ob eine isolierte Betrachtung der Produktivität einzelner Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital sinnvoll ist […] wird das beim Produktionsfaktor Arbeit […] noch schwieriger.“ (Lesch u. Bennett 2010, 29)
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Manufacturing productivity (output per hour worked) has increased by about 50 percent since 1973, yet manufacturing compensation has been flat […] Since 1989, overall productivity in the economy has risen at about 1.2 percent a year, yet the median wage has steadily declined. (Kuttner 1999, 103)
Es lässt sich hingegen durch einen Vergleich von allgemeiner volkswirtschaftlicher Produktivitätssteigerung und durchschnittlichem Lohnzuwachs zeigen, dass es keine strikte Korrelation zwischen Produktivitätssteigerung und Lohnsteigerung gibt: [O]ver the entire period 1966–2001, as well as over 1997–2001, only the top 10 percent of the income distribution enjoyed a growth rate of real wage and salary income equal to or above the average rate of economy-wide productivity growth. Growth in median real wage and salary income barely grew at all while average wage and salary income kept pace with productivity growth, because half of the income gains went to the top 10 percent of the income distribution, leaving little left over for the bottom 90 percent. (Dew-Becker u. Gordon 2005, Abstract)
Ist demnach zu schlussfolgern, dass nur die Produktivität der oberen zehn Prozent zu, die Produktivität aller anderen Arbeitnehmer jedoch stagniert oder gar abgenommen hat? Heß und Storbeck berichten von einer Studie, die zu dem Schluss kommt, dass das Gehalt von Managern sehr viel mehr von Zufall und der generellen Konjunkturlage im jeweiligen Marktsegment abhängt, als von ihrer erbrachten Leistung. Dies bedeutet, dass eher der Vergleich mit der Konkurrenz und die allgemeine Lage im Markt das Gehalt bestimmt als die individuelle Produktivität: Es gibt so gut wie keinen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Gewinne einer individuellen Firma und der Bezahlung des Topmanagements […] Wie viel ein Vorstand verdient, hängt vor allem von der Konjunkturlage der Branche ab, in der das Unternehmen tätig ist […] Ein Beispiel ist die Gehaltsentwicklung von Vorständen von Ölkonzernen. Deren Gewinne hängen im entscheidenden Maße vom Ölpreis ab. Wenn dieser steigt und damit die Überschüsse in der Branche, werden die Vorstände mit höheren Gehältern belohnt – und das, obwohl die einzelnen Manager den Ölpreis gar nicht beeinflussen können. (Heß u. Storbeck 2012)
Es zeigt sich, dass das Kriterium ‚Leistungsgerechtigkeit‘ bzw. ‚Jeder nach seinem Beitrag‘ keine operationalisierbare Grundlage für eine Theorie des gerechten Lohns bietet. Die Schwierigkeiten bei Vergleich und Bemessung des jeweiligen Beitrags machen es unmöglich, deren monetären Wert objektiv zu beurteilen. Die realen Einkommensverhältnisse zeigen zudem, dass das Leistungskriterium keinen entscheidenden Einfluss hat. Wenn man nun fragt, inwiefern sich das Kriterium produktiver Beitrag als normatives Kriterium eignet, so ist festzustellen, dass es ebenfalls die Existenz von ungleichen Machtverhältnissen in Unternehmen unberücksichtigt lässt. Gewirth skizziert, inwiefern die ungleiche Einkommensverteilung zwischen Arbeitnehmern und Kapitaleignern auch von den jeweiligen Machtverhältnissen abhängt:
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[T]he vast inequalities of rewards between capitalists and workers cannot be justified by any comparative contribution principle. What is operative here is that the capitalist uses his preexisting economic power to extract a reward that is grossly disproportional to the value of his contribution […] The comparative contributions made by workers and capitalists justify a far more equal distribution of the proceeds. (Gewirth 1996, 212)
Ich werde in Kapitel 6.3 der Argumentation Gewirths folgen und zeigen, dass auf der Grundlage eines Machtgleichgewichts und adäquater Mitspracherechte von Arbeitnehmern weniger ungleiche Löhne zu erwarten wären. Die Frage des gerechten Lohns ist unter diesem Gesichtspunkt weniger eine der Leistungs-, sondern eher der Verfahrens- und Verteilungsgerechtigkeit. Ich möchte nun abschließend noch die Debatte um CEO-Gehälter, welche in den vergangenen Jahren einiges Gewicht erlangt hat, hinsichtlich des Kriteriums produktiver Beitrag beleuchten. Lässt sich das derzeitige Gehaltsniveau auf dieser Grundlage erklären? Entscheidend für die Frage, wie viel Unternehmen einem Mitarbeiter zahlen sollten, ist die Einschätzung der „outside options“ (Heath 2009, 242), über welche er verfügt. Zudem ist im Sinne des Effizienzlohns zu beachten, dass talentierte und motivierte Arbeitnehmer mehr zum Prosperieren des Unternehmens beitragen als solche, die nur talentiert, aber nicht motiviert sind (Moriarty 2005, 271).12 Nach dieser Lesart motiviert die jeweilige Bezahlung, besonders hart zu arbeiten. Auf CEOs müsste dies angesichts ihres sehr hohen Gehalts im besonderen Maße zutreffen. Wenn aber der jeweilige Lohn den individuellen produktiven Beitrag für das Unternehmen darstellt, dann müsste der CEO, der acht Millionen US-Dollar erhält, noch sehr viel härter arbeiten als derjenige, der ‚nur‘ eine Millionen US-Dollar erhält. Wenn aber nur ein sehr hohes Gehalt Kandidaten dazu bewegen könnte, überhaupt diesen Beruf in einer für das Unternehmen produktiven Weise zu bekleiden, wären diese kaum wünschenswerte Kandidaten für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung (ebd.). Vielmehr sollte eine Bezahlung von beispielsweise einer Millionen US-Dollar dafür ausreichen, dass der CEO sehr motiviert arbeitet. Wenn das zutrifft, dann wäre die mögliche Produktivität des CEOs bereits bei einem Gehalt von einer Millionen US-Dollar fast vollständig ausgeschöpft. Dann ist aber die Erwartung nicht gerechtfertigt, dass er durch den zusätzlichen Anreiz von weiteren sieben Millionen US-Dollar noch motivierter und produktiver arbeiten kann, wie Abowd und Kaplan feststellen:
12 Moriarty bespricht an angeführter Textstelle den von ihm als ‚utility view‘ bezeichneten Lohnaspekt, also den Lohn nach Nutzen. Ich bin jedoch der Auffassung, dass dieser nur als nutzenmaximierender Lohn im Sinne der Effizienzlohntheorie verstanden werden kann. Daher referiere ich Moriarty hier im Zusammenhang mit dem produktiven Beitrag.
5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn
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[E]conomic theory does not predict that increases in incentives necessarily lead to increases in profitability. If firms are already providing their executives with incentives that are close to their profit maximizing levels, then a small increase in incentives should lead to almost no change in profitability. (Abowd u. Kaplan 1999, 158)
Das Argument, es gäbe einen messbaren Zusammenhang zwischen mehr Lohn und mehr Produktivität lässt sich auch anhand eines internationalen Vergleichs von CEO-Gehältern nicht halten. CEOs in den USA verdienen deutlich mehr als Vorstandsvorsitzende in anderen Ländern wie Japan oder Deutschland.13 Es ist allerdings kein Zusammenhang zwischen Firmenperformance und höherem CEO-Gehalt festzustellen. Wie Abowd und Kaplan für die 1990er Jahre feststellen, waren die Gehälter von CEOs in US-amerikanischen Unternehmen deutlich höher, obwohl deutsche und japanische Konkurrenzfirmen sie über große Zeiträume übertroffen haben, was die Firmenperformance betrifft (Abowd u. Kaplan 1999, 160; Chang 2010, 153). Rakesh Khurana schlussfolgert nach der Analyse der Literatur zum Zusammenhang von Unternehmenserfolg und der Entlohnung von CEOs, dass es nur einen „contingent and relatively minor cause-and-effect relationship between CEOs and firm performance“ (Khurana 2002, 23) gibt. Wenn es aber keinen stabilen kausalen Zusammenhang zwischen Unternehmensperformance und CEO-Gehalt gibt, dann ist das Argument hinfällig, ein entsprechend hoher Lohn sei notwendig, um den CEO optimal zu motivieren. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass sich die Höhe des CEO-Gehalts vor allem in den letzten 30 Jahren exponentiell verändert hat. In den 1960er und 70er Jahren erhielten CEOs durchschnittlich 30–40 mal so viel wie gewöhnliche Angestellte, heute verdienen sie 300–400 mal so viel (Chang 2010, 151). Sollte sich der produktive Beitrag dieses einzelnen Arbeitnehmers tatsächlich derart vervielfacht haben? Man könnte argumentieren, dies habe auch mit der Größe des Unternehmens zu tun, ein CEO bei einem sehr großen Unternehmen fälle Entscheidungen, die mehr wert sind als bei einem Unternehmen mittlerer Größe. Mit Chang wäre dann allerdings zu fragen, warum CEO-Gehälter erst ab den 1980er Jahren derart stiegen, während US-Unternehmen über den gesamten Zeitraum wuchsen (ebd., 151 f.)? Es ist vielmehr zu vermuten, dass das extreme Gehaltsgefälle zwischen CEOs und anderen Angestellten in den USA eine Folge mangelnder Überwachung und Kontrolle der führenden Angestellten von Unternehmen ist. Die exorbitanten Gehälter von Managern seien kein Ergebnis normaler Marktbewegungen, sondern von Marktversagen, so Joseph Heath (2009, 244). Ähnlich wie bei anderen Mitarbeitern auch, wäre die Überwachung und Kontrolle der tatsächlichen 13 2005 haben deutsche Vorstandsvorsitzende 55 Prozent so viel verdient wie amerikanische CEOs, japanische Vorstandsvorsitzende im Durchschnitt 25 Prozent so viel (Chang 2010, 152).
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
Leistung von Managern gefordert. Dies hätte laut Moriarty auch zur Folge, dass der Lohn für CEOs deutlich niedriger ausfiele: There is no reason to give away so much of the firm’s wealth when the CEO can simply be fired for poor performance. Owners could secure the same level of loyalty at a fraction of the price. (Moriarty 2005, 272)
Diese Ausführungen besagen nicht, dass die derzeitige Bezahlung von CEOs per se ungerechtfertigt ist. Hier wurde lediglich am Beispiel von CEO-Gehältern gezeigt, dass die derzeitige Einkommensstruktur nicht aufgrund des Kriteriums produktiver Beitrag gerechtfertigt werden kann. Im Folgenden möchte ich mich der Frage zuwenden, ob es bestimmte Mindestkriterien gibt, welche durch den jeweils erzielten Lohn zu erfüllen sind.
5.3 Die Debatte um den Mindestlohn Ich habe mich bisher darauf konzentriert zu erörtern, ob es objektive Kriterien für den gerechten Lohn geben kann. Im Rahmen der Debatte ist jedoch ein speziellerer Aspekt bisher unberücksichtigt geblieben. Sollte es für die im Markt angebotenen Löhne eine Untergrenze in Form eines Mindestlohns geben? Wenn ja, wie wäre dieser zu begründen? Bei dem Mindestlohn handelt es sich um eine Forderung, die nicht auf den Wert der Gerechtigkeit abzielt, sondern auf die Vermeidung absoluter Armut. Zu analysieren ist daher, welche Anforderungen bei der Lohnermittlung mindestens berücksichtigt werden müssen, nicht welche Eigenschaften einen gerechten Lohn ausmachen. Ich möchte den über den Markt erzielten Lohn als eine entscheidende Bedingung dafür ausweisen, ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen zu können. Es ist daher von besonderer Bedeutung zu klären, ob die Voraussetzungen hierfür durch den Markt geschaffen werden oder ob dies eher als Aufgabe des (Sozial-)Staates begriffen werden sollte. Folglich ist nicht nur zu ergründen, ob der Mindestlohn ein probates Mittel zur Ermöglichung eines Lebens in Würde ist (Effizienzgesichtspunkt), sondern auch, ob von den Marktteilnehmern bei der Festsetzung von Löhnen die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse eingefordert werden kann (normativer Gesichtspunkt). Bei der Erörterung dieser Fragen werde ich folgendermaßen vorgehen. Zunächst werden einige illustrierende Zahlen zur Relevanz eines Mindestlohns in Deutschland angeführt (5.3.1). Anschließend werden die relevanten ökonomischen Thesen für und wider den Mindestlohn dargestellt (5.3.2). Abschließend werden mögliche normative Argumente für den Mindestlohn diskutiert (5.3.3).
5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn
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5.3.1 Der Niedriglohnsektor und die Forderung nach Mindestlöhnen Zunächst möchte ich die gesellschaftliche Relevanz der Forderung nach Mindestlöhnen darstellen. Diese bemisst sich danach, ob Niedriglöhne eine signifikante Gruppe Arbeitnehmer betreffen, denen durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns geholfen wäre. Die Niedriglohnschwelle wird allgemein bei zwei Dritteln des Medianlohns angesetzt (Kalina u. Weinkopf 2012, 2). Der Medianstundenlohn betrug 2007 für Gesamtdeutschland 13,79 Euro (Kalina u. Weinkopf 2009, 9). Die Niedriglohnschwelle betrug 2010 9,15 Euro. In Deutschland waren 2010 insgesamt 23,1 Prozent (7,92 Millionen) aller abhängig Beschäftigten im so definierten Niedriglohnsektor angestellt (Kalina u. Weinkopf 2012, 3 f.). Die Einkommen im Niedriglohnsektor waren dabei folgendermaßen gestaffelt: 4 % der Beschäftigten (1,363 Millionen) verdienten im Jahr 2010 weniger als 5 € und gut 2,5 Millionen (7,4 %) weniger als 6 €. Bezogen auf die insgesamt gut 7,9 Millionen Niedriglohnbeschäftigten heißt dies, dass fast ein Drittel von ihnen für ganz besonders niedrige Löhne arbeiteten. (Ebd., 10)
Hervorzuheben ist hierbei, dass nicht nur unqualifizierte Arbeitskräfte von Niedriglöhnen betroffen sind. Vielmehr stellen diese lediglich 18,4 Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten (ebd., 9), während 10 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten einen Hochschulabschluss haben (ebd.) und 2007 insgesamt rund „80 % aller Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland formal qualifiziert“ (Kalina u. Weinkopf 2009, 6) waren. Nun lässt sich einwenden, dass Beschäftigte im Niedriglohnsektor vor allem in Minijobs oder in Teilzeitbeschäftigungen angestellt sind und somit lediglich das jeweilige Haushaltseinkommen durch eine zusätzliche Nebentätigkeit aufbessern. Wenn dies der Fall ist, so die Argumentation, dann sind Niedriglöhne kein existentielles Armutsproblem. Tatsächlich waren 2010 24 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich in Teilzeit angestellt und 28,4 Prozent in Minijobs (Kalina u. Weinkopf 2012, 9). Extrem niedrige Löhne werden vor allem in diesen Beschäftigungsformen erzielt (ebd., 11), in denen zudem oft Schüler und Studenten einen Nebenverdienst haben, ohne dass zu befürchten wäre, dass sie dauerhaft im Niedriglohnsektor verbleiben werden. Der Lesart, Niedriglöhne seien zu vernachlässigende Randphänomene, die lediglich in nicht existenzrelevanten Beschäftigungen auftreten, ist jedoch entgegenzuhalten, dass Teilzeitbeschäftigte oftmals auf ihr Gehalt angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können (Kalina u. Weinkopf 2009, 9). Zudem stehen den in Teilzeit beschäftigten Niedriglöhnern 47,6 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor gegenüber, die vollzeitbeschäftigt arbeiten. Auch hier wurden teilweise nur extrem niedrige Löhne erzielt:
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
264.000 Vollzeitbeschäftigte haben Stundenlöhne von unter 5 € und 1,4 Millionen arbeiten für weniger als 7 € pro Stunde, was […] einem Anteil von 6,4 % [der insgesamt Beschäftigten, P.S.] entspricht. (Kalina u. Weinkopf 2012, 11)
Ein Stundenlohn von unter 6 Euro bedeutet bei voller Beschäftigung einen durchschnittlichen Monatslohn von unter 1000 Euro brutto, ein Stundenlohn von 5 Euro einen Monatslohn von ca. 800 Euro brutto. Bei einem gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro, wie ihn beispielsweise die SPD14 und der DGB15 derzeit fordern, hätten „2,59 Millionen bzw. 11,5 % [der Vollzeitbeschäftigten, P.S.] Anspruch auf einen [sic] Lohnerhöhung“ (ebd.). Insgesamt wären von einem solchen Mindestlohn fast 20 Prozent der abhängig Beschäftigten betroffen (ebd.). Im Hinblick auf die im Folgenden zu diskutierenden Argumente für und wider den Mindestlohn ist des Weiteren hervorzuheben, dass derartig niedrige Löhne oftmals faktisch nicht für den Lebensunterhalt reichen und die betroffenen Personen daher gezwungen sind, vom Staat in Form von zusätzlichen Fürsorgeleistungen (über das Arbeitslosengeld II) Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Zwar sind hiervon vor allem Teilzeitbeschäftigte betroffen. Allerdings, so Kalina und Weinkopf (ebd., 12), verdienten 2010 insgesamt 789.000 Vollzeitbeschäftigte weniger als 6 Euro pro Stunde. Sie lagen damit teilweise deutlich unter einem Monatsverdienst von 1 000 Euro. Bei solchen Löhnen wird oftmals eine Aufstockung des Gehalts notwendig (ebd.). Insgesamt musste die Bundesagentur für Arbeit 2010 für Haushalte mit in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmern 1,995 Mrd. Euro für zusätzliche Fürsorgeleistungen aufwenden (Buntenbach 2012, 11).16 Durch diese Ausführungen sollten drei Befunde verdeutlicht werden: 1. Die Debatte um den Mindestlohn hat gesellschaftliche Relevanz. Von einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro würden derzeit in Deutschland fast acht Millionen abhängig Beschäftigte profitieren. 2. Niedriglöhne betreffen nicht nur Teilzeitbeschäftigte und Minijobber, sondern in zunehmendem Maße Vollzeitbeschäftigte. In Deutschland gibt es mittlerweile eine signifikante Schicht der working poor, die trotz Anstellung nicht genug zum eigenständigen Lebensunterhalt haben. 3. Vollzeitgehälter, die nicht zum Lebensunterhalt reichen, belasten die öffentlichen Kassen, da diese zusätzliche Mittel zur Existenzsicherung aufbringen 14
Siehe Kramme et al. (2011). http://www.dgb.de/presse/++co++c5cf96f6-628f-11df-79f5-00188b4dc422/@@ i n d e x . h t m l? t a b% 3 D P r e s s e m e l d u n g % 2 6 d i s p l a y_ p a g e% 3 D 6 % 2 6 s t a r t _ d a t e %3D2010-02-01 %26end_date%3D2011-02-28, letzter Abruf: 29.10.2013. 16 Diese Summe ergibt sich, wenn die Einkünfte der fürsorgebedürftigen Haushalte von den Einkünften durch im Haushalt lebende Auszubildende bereinigt werden. Werden diese mit einberechnet, erhöht sich die Summe für 2010 auf 2,44 Mrd. Euro (Buntenbach 2012, 11). 15 Siehe:
5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn
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müssen. Die Einführung eines Mindestlohns könnte sich daher (wenn sich herausstellen sollte, dass dieser keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat) entlastend auf die staatlichen Ausgaben auswirken. Hiermit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, ob es gute (ökonomische) Gründe für oder gegen die Einführung eines Mindestlohns gibt. Auch lässt sich aus den dargelegten Zahlen allein kein stichhaltiges normatives Argument für den Mindestlohn ableiten. Diesen Aspekten möchte ich mich nun zuwenden. 5.3.2 Ökonomische Argumente für und wider den Mindestlohn Bis in die 1990er Jahre gab es in den Wirtschaftswissenschaften einen weitgehenden Konsens darüber, dass Mindestlöhne negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hätten. Zwar könne der Staat einen Mindestlohn vorschreiben, dessen Folge wäre aber höchstens die Zunahme von Armut, so beispielsweise Milton Friedman. Der Staat könne schließlich nicht die Unternehmen zwingen, jene Arbeitnehmer, welche zuvor weniger als den Mindestlohn erhalten haben, nach dessen Einführung weiter zu beschäftigen. Da dies nicht im Interesse der Arbeitgeber wäre, würden Mindestlöhne eher zu mehr Arbeitslosigkeit führen (Friedman 2002, 214). Gerade in Zeiten abnehmender Nachfrage nach Arbeitskräften, so die Autoren eines jüngeren Lehrbuchs zur Arbeitsmarktökonomik, könne eine gesetzlich vorgeschriebene Lohnerhöhung die Anstellungsmöglichkeiten für gering Qualifizierte zusätzlich mindern (Ehrenberg u. Smith 2006, 108 f.). Die Autoren beschreiben eine weitere mögliche Folge der Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen: [I]f the percentage loss of employment among low-wage workers is greater than the percentage increase in their wages […] then the aggregate earnings of low-wage workers could be made smaller by an increase in the minimum wage. (Ebd.)
Wenn durch die Erhöhung der Löhne im Niedriglohnsektor die Anstellungsmöglichkeiten und damit die tatsächliche Zahl der Beschäftigten sinkt (weil die Arbeitgeber nicht bereit sind, höhere Löhne zu zahlen), dann haben Mindestlöhne zur Folge, dass die aggregierten Einkünfte der Niedriglöhner sinken, so die Argumentation. Dies wird in der Ökonomik als „Nettowohlfahrtsverlust“ (Pindyck u. Rubinfeld 2005, 406) bezeichnet. Hinsichtlich der möglichen fiskalischen Entlastung durch Mindestlöhne haben Nicole Horschel und Hagen Lesch mithilfe eines Simulationsmodells die Forderung nach einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro geprüft. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass dem Staat zusätzliche Kosten von bis zu 6,6 Milliarden Euro entstünden, wenn angenommen wird, dass durch den Mindestlohn in dieser Höhe Arbeitsplätze für Niedriglöhner verloren gingen (Horschel u. Lesch 2011, 1). Des Weiteren werden Anreizargumente gegen die Einführung eines Mindestlohns vorgebracht. Joseph Heath (2009) argumentiert, dass manche Jobs
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
sich nicht (mehr) lohnen und man nicht Anreize schaffen sollte, dennoch in diesen Bereichen arbeiten zu wollen, indem man künstlich das Lohnniveau anhebt: „The money itself increases the attractiveness of working“ (Heath 2009, 250) und senkt den Anreiz zusätzlicher Investitionen in (Aus-)Bildung, indem durch die Löhne eine (relativ) hohe Attraktivität unqualifizierter Tätigkeiten signalisiert wird. Ein Mindestlohn könnte außerdem die Leistungsbereitschaft der Leistungsstärkeren mindern, die eine Stauchung der Lohndifferenzen zugunsten der Niedriglöhner womöglich als ungerecht empfinden würden: „Als Reaktion auf die wahrgenommene Lohnungerechtigkeit reduzieren sie ihre Leistung“ (Lesch u. Hagen 2010, 91). Der Mindestlohn könnte demnach auch gesamtwirtschaftlich negative Konsequenzen nach sich ziehen, insofern als die geminderte Leistungsbereitschaft zu weniger Produktivität und somit zu weniger Wohlstand führt. „Um Effizienzverluste zu vermeiden“ müssten daher immer „die Lohngerechtigkeitsgefühle aller Arbeitnehmergruppen“ berücksichtigt werden (ebd., 91 f.).17 Seit den 1990er Jahren wankt die Überzeugung, Mindestlöhne hätten zwingend negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. David Card und Alan Krueger haben in der bis heute einflussreichsten Studie zu den Beschäftigungseffekten von Mindestlöhnen nachgewiesen, dass die durch die Ökonomik vorhergesagten Effekte eines Mindestlohns zumindest bei der Erhöhung des Mindestlohns in New Jersey nicht auftraten. Dort wurde 1992 der Mindestlohn von 4,25 Dollar auf 5,05 Dollar angehoben. Um die Beschäftigungseffekte dieser Erhöhung zu untersuchen, verglichen Card und Krueger die Arbeitsmarktentwicklung bei Fast-Food-Restaurants in New Jersey, deren Mitarbeiter von der Anhebung betroffen waren, mit der in Pennsylvania, wo der Mindestlohn nicht erhöht wurde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Erhöhung des Mindestlohns keine negativen Beschäftigungseffekte nach sich zog und sogar die Beschäftigungsrate erhöhte (Card u. Krueger 1994, 792). In dem 1995 erschienen Buch Myth and Measurement. The New Economics of the Minimum Wage bestätigten sie diese Ergebnisse. Ein Bundesstaaten übergreifender Vergleich zeigt, dass moderate Anhebungen des Mindestlohns keine negativen Beschäftigungseffekte für Niedriglohnarbeiter haben (Card u. Krueger 1995, 114). Die Anhebung des bundesweit (USA) geltenden Mindestlohns 1990 und 1991 um 27 Prozent hatte laut Card und Krueger ebenfalls keine negativen Auswirkungen:
17 Ein Argument, welches der Leser an eigenen Intuitionen prüfen kann: Würde der mit durchschnittlich 92.556 Euro pro Jahr entlohnte Geschäftsführer seine Leistungen reduzieren, wenn er erfahren würde, dass Friseure statt bisher durchschnittlich 15.787 Euro nun z.B. 21.000 Euro pro Jahr verdienen? (durchschnittliche Verdienste 2006, Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 2008).
5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn
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Estimates in the literature suggest that this increase would lower teenage-employment rates by 3 to 8 percentage points. More importantly […] these employment losses should have been concentrated in low-wage states, providing a test that the changes are attributable to the minimum wage […] there is no evidence that the increase in the minimum wage significantly lowered teenage employment rates in more highly affected states. We reach the same conclusion when we expand the analysis to include a broader set of workers, whose age, education, and other characteristics make it likely that they were affected by the increase in the minimum wage. (Ebd., 149)
Die Studien von Card und Krueger haben in den Wirtschaftswissenschaften einen erheblichen Widerhall gefunden und eine bis heute andauernde, hitzig geführte und bisher nicht beigelegte Debatte ausgelöst. David Neumark und William Wascher haben bereits 1995 den Versuch unternommen, die Untersuchung von Card und Krueger als methodisch fehlerhaft auszuweisen und zu zeigen, dass die Mindestlohnerhöhung in New Jersey de facto eine Abnahme in der Beschäftigungszahl nach sich zog (Neumark u. Wascher 1995). Gary S. Becker (1995) bekräftigte die Kritik an der Studie und schließt mit der Aussage, selbst ein Zauberer dürfte Schwierigkeiten haben, das ökonomische Gesetz zu widerlegen, dass Mindestlöhne die Arbeitslosigkeit erhöhen (ebd.). Card und Krueger (2000) antworteten auf die Kritik mit einer Studie, die ihre früheren Thesen anhand weiterer Daten bestätigte und die Ergebnisse von Neumark und Wascher in Frage stellte. Paul Krugman (2007, 261) und Joseph Stiglitz (2002, 13) erkennen die Schlussfolgerungen von Card und Krueger an, dass moderate Mindestlöhne bzw. Mindestlohnerhöhungen keine negativen und womöglich positive Arbeitsmarkteffekte haben. Machin und Manning bestätigen die Annahmen durch die Untersuchung verschiedener europäischer Staaten, wo Mindestlohnerhöhungen, wenn überhaupt statistisch relevante, dann positive Beschäftigungseffekte hatten (Machin u. Manning 1997, 737–739). Christian Ragacs kommt in einer Übersichtsarbeit über die neuere empirische Literatur zum Mindestlohn zum Ergebnis, dass neuere Studien „grob widersprüchlich“ seien. „Wir finden eindeutig negative Evidenz, keine Auswirkungen […] und eindeutig positive Beschäftigungseffekte“ (Ragacs 2003, 17). Mit dieser Darstellung zum Stand der Forschung sollte deutlich gemacht werden, dass die wirtschaftswissenschaftliche Annahme der negativen Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen heute eine „unsettled proposition in economics“ (Bartels 2008, 227) darstellt. Ob es bereits an der Zeit ist, einen ‚Teilsieg‘ in der Auseinandersetzung um den Mindestlohn auszurufen, wie Alan B. Krueger dies 2006 angesichts der wachsenden Zahl an Ökonomen, welche seine Analysen stützen, in einem Interview erklärte (Gertner 2006), muss hier offen bleiben. Gezeigt werden sollte lediglich, dass das ökonomische ‚Gesetz‘ der notwendig negativen Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen mittlerweile eine hoch umstrittene Annahme darstellt.
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
Neben diesen allgemeinen Annahmen über die Wirkmechanismen des Mindestlohns werden anreizorientierte Erwägungen für die Einführung des Mindestlohns angeführt. Richard B. Freeman skizziert einige der entscheidenden Eigenschaften von Mindestlöhnen, welche sie zu einem attraktiven Umverteilungsinstrument machen. Ich möchte hier drei dieser Eigenschaften herausgreifen und um einen weiteren von Jon Gertner vorgebrachten Aspekt ergänzen: 1. Es fallen keine fiskalischen Zusatzkosten an und es sind keine zusätzlichen Steuereinnahmen nötig, da allein die betroffenen Marktteilnehmer die zusätzlichen Kosten des Mindestlohns tragen (Freeman 1994, 9). Dies gilt nur für den Fall, dass der Mindestlohn keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. 2. Mindestlöhne stärken den Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen: Wenn Jobs zu einem attraktivem Mindestlohn verfügbar werden, finden sich Personen bereit, die Tätigkeit auszuführen. Staatliche Transferleistungen haben den gegenteiligen Effekt, sie verringern den Anreiz zu arbeiten: „From this perspective, minimum wages have more affinity with liberal market ideals than schemes that ‚de-commodify‘ labour by providing a base living standard, irrespective of market work“ (ebd.). 3. Wenn der Mindestlohn reflektiert, was die Gesellschaft den Niedriglöhnern für ihre erbrachten Leistungen tatsächlich bereit ist zu zahlen (also der durch die Unternehmen gezahlte Lohn zuzüglich der Sozialleistungen, die bisher notwendig waren zur Gewährleistung eines Existenzminimums), dann führt er dazu, dass die Unternehmen und Konsumenten die vollen Kosten für die Arbeitskraft tragen, statt einen Teil dieser Kosten durch Steuern und Sozialleistungen seitens des Staates zu decken (ebd.): „In this sense, the minimum wage establishes the ‚right‘ social cost of labour in the market. It does not subsidize low-wage jobs, as do other forms of redistribution“ (ebd.). 4. Jon Gertner (2006) führt einen weiteren Grund für die Einführung eines Mindestlohns an. Er nutze den Arbeitnehmern als Konsumenten, indem ihre Kaufkraft gestärkt wird, was einen allgemeinen Anstieg der Nachfrage zur Folge haben kann (wenn hierdurch nicht die Kaufkraft der Arbeitgeber geschmälert wird). Gegen diese Argumente lassen sich folgende Einwände anführen. (1.) und (4.) gehen offensichtlich davon aus, dass die Einführung von Mindestlöhnen keine negativen Beschäftigungseffekte nach sich zieht. Dann würden tatsächlich keine Kosten durch zusätzlich anfallende Sozialleistungen entstehen und die Kaufkraft der Konsumenten gestärkt. Wenn die Einführung eines Mindestlohns jedoch dazu führte, dass Niedriglöhner ihren Job verlieren, wären diese Argumente hinfällig. Gegen diesen Einwand spricht Folgendes. Die Studien von Card und Krueger haben lediglich gezeigt, dass die untersuchten moderaten Steigerungen des Mindestlohns keine negativen Beschäftigungseffekte haben.
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Sie zeigen nicht, dass Mindestlöhne überhaupt keine negativen Effekte haben: „Presumably there is some minimum wage level so high that it actually harms minimum-wage workers by reducing their prospects for employment more than it increases their wages“ (Bartels 2008, 228). Ob der für Deutschland diskutierte Mindestlohn von 8,50 Euro diese Marge überschreitet, muss die (ergebnisoffene) Auseinandersetzung in Ökonomik und Politik klären. Festzuhalten bleibt, dass die Annahme der positiven Effekte (1.) und (4.) angesichts des gegenwärtigen Stands der Forschung eine gewisse Berechtigung hat. Die Thesen (2.) und (3.) führen über auf die Ebene der normativen Fragestellungen. Sie berühren die eingangs aufgeworfene Frage, ob für die Gewährleistung eines selbstbestimmten Lebens in Würde der Markt oder der Staat verantwortlich sein sollte. These (2.) läuft darauf hinaus, diese Verantwortung den Marktteilnehmern zu übertragen, speziell den Arbeitgebern, denen eine Erhöhung der Löhne abverlangt würde, um die Arbeit attraktiv zu machen. These (3.) setzt voraus, dass die Unternehmer einen Teil der zusätzlichen Kosten durch einen Mindestlohn auf die Konsumenten abwälzen und Unternehmer und Konsumenten so den tatsächlichen Preis der Arbeitskraft zu tragen gezwungen sind. Diese These scheint jedoch vorweg zu nehmen, was zu zeigen wäre: Dass es einen bestimmten Mindestpreis für die Ware Arbeitskraft gibt, den Käufer bezahlen müssen. Ohne ein tragfähiges normatives Argument für einen solchen Mindestpreis ließe sich gegen dieses Argument anführen, dass die tatsächlichen Kosten für die Arbeitskraft genau so hoch sind wie nötig, um potentielle Arbeitnehmer zu bewegen, den betreffenden Job anzunehmen. Die zusätzlich durch den Staat erbrachten Leistungen dienen dann der Sicherstellung eines existenzsichernden Minimums, nicht aber zur Deckung der tatsächlichen Kosten der Arbeitskraft. Ein normatives Argument für den Mindestlohn würde hingegen begründen, warum Konsumenten und Arbeitgeber die zusätzlichen Kosten tragen sollten und warum ein bestimmter Mindestlohn eine verpflichtende moralische Forderung darstellt. Ein solches Argument müsste zeigen, dass diese Lastenumverteilung gerechtfertigt ist, wie Krueger feststellt: The issue […] comes down to questions of fairness: Whether it is fair […] to impose the costs of meeting a higher minimum wage on business owners and possibly on costumers (Krueger, zitiert nach Bartels 2008, 229).
Ich wende mich dieser Frage im folgenden Abschnitt zu. 5.3.3 Normative Argumente für den Mindestlohn T. M. Wilkinson stellt in einem Artikel zum Mindestlohn fest, dass die empirische Grundlage für ökonomische Argumente zum Mindestlohn mittlerweile relativ gut sei, ihre normative Basis aber „surprisingly underdeveloped“ (Wilkinson 2004, 352). Bei der Lektüre der relevanten Literatur bestätigt sich dieser Eindruck. Während eine große Zahl Autoren sich mit der Frage nach dem ge-
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rechten Lohn auseinandersetzt, versuchen sich deutlich weniger Autoren an einer dezidiert normativen Begründung eines Mindestlohns. Ich möchte dennoch im Folgenden verschiedene mögliche Begründungsstrategien darlegen. Zu diesem Zweck ist zunächst ein konsequentialistisches Argument zu diskutieren (a). Anschließend wird eine tugendethische Herangehensweise skizziert (b). Dem folgt die Erörterung des Bedürfnis-Arguments (c) und die Darstellung einer auf dem Würdebegriff basierenden Argumentationsstrategie (d). Bisher wurde ohne weitere Erläuterungen davon gesprochen, der über den Markt erzielte Lohn sei eine entscheidende Bedingung für die Möglichkeit, ein ‚selbstbestimmtes‘ Leben ‚in Würde‘ zu führen. Im Folgenden wird erläutert, inwiefern sich ein Mindestlohn, der diesen Vorgaben gerecht werden soll, mit den Kriterien Bedürfnis und Würde begründen lässt. (a) Das konsequentialistische Argument Wilkinson hat sich an einer konsequentialistischen Begründungsstrategie versucht, die danach fragt, was Mindestlöhne für die Situation der am wenigsten Begünstigten bedeuten: In my view, whether the minimum wage is a good idea depends largely on its effects on the jobs and incomes of the worst off. Since it is unlikely that anyone will deny that those effects are important, what is controversial here is the view that they are the main determinants. (Ebd., 358)
Wenn der Mindestlohn sich positiv auf die Situation der am wenigsten Begünstigten auswirkt, ist er als moralisch gut ausgewiesen und somit zu befürworten (ebd.). Sollte der Mindestlohn sich negativ auf sie auswirken, dann würde eine konsequentialistische Position zu dem Schluss kommen, der Mindestlohn sei eine schlechte Idee: Utilitarians will argue that the loss to the marginal workers is too great, especially given that they are already badly off and so could get more welfare for given jobs and income than others would. (Ebd., 359)
Die Gewinne der am schlechtesten Gestellten und die Verluste der Unternehmer und Konsumenten könnten gegeneinander aufgerechnet werden, die letztendliche Entscheidung für oder gegen einen Mindestlohn wäre somit vom Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung abhängig. Obwohl Wilkinson sich diesbezüglich nicht festlegt und lediglich eine Strategie darlegen möchte, der alle konsequentialistischen Theorien folgen können, scheint er doch am ehesten dem utilitaristischen Standpunkt zuzuneigen (ebd., 360). Wilkinson legt detailliert die bisherigen Ergebnisse der Forschung zum Mindestlohn dar und kommt zu dem Schluss, dass Mindestlöhne wenig zur Behebung von Armut beitragen, weil viele Arme außerhalb der Arbeitswelt stehen, oder weil sie ein Einkommen beziehen, welches über der jeweiligen Mindestlohnhöhe liegt, hiermit aber den Unterhalt größerer Haushalte bestreiten müs-
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sen (ebd., 357). Angesichts der bisherigen kontroversen Ergebnisse zum Mindestlohn möchte Wilkinson keine endgültige konsequentialistische Beurteilung der Debatte liefern, schließt jedoch mit der Aussage, dass der Mindestlohn für Konsequentialisten wahrscheinlich eine Frage darstellt, zu der man sich am ehesten indifferent verhalten könne: Instead of condemning the minimum wage, consequentialists will be half- hearted about it. This is partly because it is unclear what the minimum wage does and partly because, whatever it does exactly, it does not appear to have much effect on jobs or distribution. Consequentialists should be inclined to look elsewhere for measures to deal with unemployment, poverty, and maldistribution […] At worst, the minimum wage is a mistake and, at best, it is something to be half-hearted about. (Ebd., 359 f., 372)
Nach der Darstellung dieser Begründungsstrategie möchte ich nun zeigen, warum sie im Besonderen und konsequentialistische Theorien im Allgemeinen keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage liefern, ob der Mindestlohn als moralisch gerechtfertigt ausgewiesen werden kann. Ich möchte im Folgenden zwei Einwände gegen Wilkinson anführen (1. und 2.), und zwei weitere (3. und 4.) gegen konsequentialistische Begründungsstrategien im Allgemeinen. Es geht also nicht (nur) um eine immanente Kritik des Ansatzes von Wilkinson, sondern allgemein um eine Kritik möglicher konsequentialistischer Argumente für einen Mindestlohn. 1.) Der Befund, Konsequentialisten könnten indifferent gegenüber Mindestlöhnen sein, weil sie nur wenig zur Behebung von Armut beitrügen und nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmerschaft beträfen, beruht auf falschen Annahmen. In Deutschland verdienten, wie oben dargelegt, 2010 1,4 Millionen Arbeitnehmer in Vollzeit weniger als 7 Euro pro Stunde (Kalina u. Weinkopf 2012, 11). 2002 lebten 2,6 Millionen in Vollzeit angestellte Arbeitnehmer in den USA unterhalb der Armutsgrenze (Chasanov 2004, 5, 3). Wenn die erwähnte Mindestlohnerhöhung keine negativen Beschäftigungseffekte nach sich ziehen würde, wäre also einem erheblichen Teil der arbeitenden Bevölkerung geholfen, der trotz Arbeit in Armut lebt. Angesichts dieser Zahlen ist unklar, wie Wilkinson zur Einschätzung kommt, Konsequentialisten könnten indifferent gegenüber Mindestlöhnen sein, weil sie nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung beträfen. 2.) Wilkinson scheint das primäre Ziel von Mindestlöhnen zu verkennen, wenn er davon spricht, diese täten wenig zur Behebung von Armut. Kein Befürworter des Mindestlohns würde behaupten, dass Mindestlöhne einen entscheidenden positiven Effekt auf strukturelle (Langzeit-)Arbeitslosigkeit haben. Mindestlöhne sind kein geeignetes Mittel, um Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie können auch die allgemein verbreitete Armut und Perspektivlosigkeit in den unteren sozialen Schichten nicht beheben. Dies ist aber auch gar nicht ihr Zweck. Der gesetzliche Mindestlohn ist ein Mittel, um Arbeitgeber zu zwingen, ihren
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
Arbeitnehmern einen Lohn zu zahlen, der eine bestimmte Untergrenze nicht unterschreitet. Es geht darum, den Menschen, die bereits in Beschäftigung sind, ein Leben in Selbstbestimmung und Würde auf Grundlage der von ihnen ausgeübten Tätigkeit zu ermöglichen und sicherzustellen, dass sie nicht trotz Arbeit in Armut leben müssen. Zu Versuchen, den Mindestlohn konsequentialistisch zu begründen, sind zudem die folgenden allgemeinen Punkte anzuführen: 3.) Der konsequentialistische Standpunkt macht einen Punkt deutlich, den jedwede Begründungsstrategie beachten muss: Ein Mindestlohn, der dazu führt, dass die meisten derjenigen, denen er helfen sollte, arbeitslos werden und somit schlechter gestellt werden als zuvor, ist nicht hilfreich. Der Forderung nach Mindestlöhnen sind damit enge Grenzen gesetzt. In jedem Fall hebt Wilkinson zutreffend hervor, dass die jeweiligen Konsequenzen eines so weitreichenden Instruments nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Wilkinsons Ansatz macht jedoch auch eine normative Weichenstellung deutlich, anhand derer sich der von mir verfolgte Ansatz spezifizieren lässt. Die normative Frage, ob Mindestlöhne moralisch gerechtfertigt sind, allein von den Folgen ihrer rechtlichen Implementierung abhängig zu machen, ist ähnlich fehlgeleitet wie Homanns Vorgabe, Normen für die Marktwirtschaft könnten nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn sie „anreizkompatibel implementierbar“ seien (Kapitel 1.3.1). Hiergegen wurde bereits mit Tugendhat eingewandt, dass man ein moralisches Urteil nicht durch die „bloße Feststellung seiner sozioökonomischen Bedingungen“ (Tugendhat 1993, 16) in Frage stellen kann. Das, was moralisch gefordert ist, erschöpft sich in meinem Ansatz nicht darin, was ökonomisch sinnvoll ist. Eine Argumentation für den Mindestlohn ist in dieser Sichtweise primär auf der Grundlage überzeugender normativer Argumente zu führen und nur sekundär auf dessen ökonomische Machbarkeit hin zu prüfen. Hierbei geht es um den systematischen Vorrang normativ begründeter, politischer Weichenstellungen für den Markt gegenüber ökonomischen Forderungen aufgrund gegenwärtiger Effizienzvorgaben.18 Der Mindestlohn sollte nicht ungeachtet seiner möglichen Folgen konzipiert werden, er kann aber auch nicht aufgrund etwaiger negativer Konsequenzen (die hochumstritten sind) verworfen werden, wenn beispielsweise als normative Forderung anerkannt wird, dass durch den Mindestlohn ein selbstbestimmtes Leben in Würde garantiert werden soll. 4.) Von einem konsequentialistischen Standpunkt aus lässt es sich womöglich rechtfertigen, dass die ‚relativ‘ kleine Zahl von 1,4 Millionen Arbeitnehmern, welche in Deutschland für weniger als sieben Euro pro Stunde in Vollzeit arbeiten, angesichts des Nutzens der derzeitigen Einkommensverteilung für die 18 In Kapitel 1.3.1 habe ich bereits auf die Schwächen der These von der anreizkompatiblen Implementierbarkeit hingewiesen, zu denen gehört, dass sie ‚Implementierbarkeit‘ als statisches Faktum auffasst und so die Wandelbarkeit von Marktwirtschaften unbeachtet lässt.
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gesamte Bevölkerung zu vernachlässigen sei. Bei dem hier darzulegenden deontologischen Ansatz aber, bei dem jeder Einzelne als „moralisches Subjekt“ (Rawls 1979, 95) zu behandeln ist, ist nicht hinnehmbar, dass ein bedeutender Teil der arbeitenden Bevölkerung in Verhältnissen leben und arbeiten muss, die ein selbstbestimmtes Leben in Würde unmöglich machen. Eine rein konsequentialistische Begründungsstrategie ist aufgrund dieser Einwände zu verwerfen. (b) Das ‚Das gute Leben‘-Argument Ronald A. Cordero möchte den Mindestlohn an das Kriterium des ‚guten Lebens‘ koppeln und fordert ein „good-life minimum“: I shall refer to the minimum income sufficient for a good life as the ‚good-life minimum‘ and shall argue that its establishment as the minimum wage is morally incumbent upon the citizens of a democratic society. (Cordero 2000, 207)
Als ein solches Minimum ist nach Cordero ein Lohn zu verstehen, der es den Arbeitnehmern ermöglicht, ein ‚gutes‘ Leben zu führen. Was hiermit gemeint ist, versucht Cordero anhand möglichst unstrittiger Eigenschaften aufzuzeigen, die mindestens für ein gutes Leben erforderlich und daher durch einen gesetzlichen Mindestlohn zu garantieren sind. Es sind Eigenschaften, die dem einzelnen ein ‚angenehmes‘ Leben ermöglichen sollen, „the sort of life that you yourself would not mind leading or having your friends or children lead“ (ebd., 210). Hierzu gehören ausreichende und gesunde Nahrung und ein sauberes und komfortables Heim. Cordero meint, eine gelegentliche Urlaubsreise sei womöglich ebenfalls für ein ‚gutes Leben‘ notwendig, ebenso Unterhaltung und finanzielle Rücklagen (ebd.). Er argumentiert, dass die bundesweiten Mindestlöhne in den USA (zumindest bis 2000) nicht das ‚good-life minimum‘ erreicht hätten, welches er bei 8 US-Dollar Stundenlohn taxiert. Mit Hinweis auf das Kriterium der Universalisierbarkeit möchte Cordero aufzeigen, inwiefern Löhne, die unterhalb des ‚good-life minimum‘ liegen, logisch unhaltbar seien. Moralische Prinzipien, so Cordero, seien formalen Beschränkungen solcher Art unterworfen, dass nur diejenigen Grundsätze anerkannt werden können, denen alle potentiellen Adressaten zustimmen könnten (ebd., 213). Er fragt sich nun, ob die Praxis, Löhne unterhalb des Mindestlohns zu zahlen, solche „logical impossibilities“ (ebd.) nach sich ziehen: Could there not be a moral principle laid down by all rational beings, for all rational beings to follow, requiring the payment of wages below the good-life minimum? Would there be some logical difficulty about everyone expecting everyone to pay that way? Indeed, there seems to be no logical problem with a principle such as ‚Pay less than enough for a good life.‘ (Ebd.)
Wenn man jedoch das Prinzip folgendermaßen formulieren würde: ‚Erreiche das gute Leben, indem du so niedrige Löhne zahlst, dass andere davon abgehal-
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ten werden, das gute Leben führen zu können‘, so ergäben sich besagte logische Probleme. Da nicht jeder das gute Leben erreichen könne, indem er anderen Löhne zahlt, die es unmöglich machen, ein gutes Leben zu führen, kann nicht jeder auf diese Weise ein gutes Leben erreichen. Damit ist Cordero zufolge das Kriterium der Universalisierbarkeit verletzt: Everyone cannot prosper in ways that prevent others from prospering! So rational beings cannot, for purely logical reasons, expect everyone to prosper by keeping others from prospering! (Ebd., 213 f.)
Die Nicht-Universalisierbarkeit eines solchen Prinzips begründet jedoch laut Cordero noch nicht dessen moralische Falschheit. Hierfür bedürfe es eines genuin moralischen Prinzips. Entscheidend für die Herleitung eines solchen Prinzips sind für Cordero ‚wohlwollende‘ (im Gegensatz zu nur rational handelnden) Individuen, die sich um das Wohlergehen anderer sorgen und wünschen, dass diesen das gute Leben ermöglicht wird. Solche wohlwollenden Individuen würden auch wünschen, dass niemand das gute Leben erreicht, indem er es anderen verwehrt: Benevolent rational beings cannot endorse attainment of the good life in ways that prevent others from attaining it and cannot, in consequence, condone the payment of wages below the good-life minimum. The payment of such wages is thus impermissible under the moral legislation of benevolent rational beings. (Ebd., 215)
Von diesem Grundsatz ausgehend schlussfolgert Cordero, dass jedem Arbeitgeber die Pflicht zukommt, bei der Einstellung von Arbeitnehmern deren Anspruch auf ein ‚good-life minimum‘ zu respektieren. Er geht dabei so weit, zu behaupten, dass wenn die Mittel hierfür von einem potentiellen Arbeitgeber nicht aufzubringen sind, er aus besagter moralischer Überzeugung heraus Arbeitnehmer ablehnen müsse, auch wenn diese unterhalb des ‚good-life minimum‘ bereit wären zu arbeiten (ebd., 218): Benevolent rational beings would want both employees and employers to have enough to lead good lives; and the kind of employment arrangement proposed, while providing the employees the means to survive, would in effect prevent them from having good lives, by giving them too little income for a good life and leaving them too little time and energy to supplement their income through some other job. (Ebd.)
Auch wenn Cordero der Versuch zugute zu halten ist, einen Mindestlohn anhand eines allgemeinen normativen Kriteriums zu begründen, muss die eudaimonistische Argumentation für Mindestlöhne doch aus zwei Gründen scheitern. 1.) In der vorliegenden Arbeit wurde bei der Begründung normativer Argumente durchweg ein möglichst wenig anspruchsvolles Menschenbild zugrunde gelegt, das zunächst nur von Individuen mit vernünftigen Interessen ausgeht.19 19 Dies
wurde z.B. bei der Kritik an Ulrich deutlich gemacht, siehe Kapitel 2.3.3 und 2.3.4. Hierdurch soll nicht die Möglichkeit genuin solidarischen oder selbstlosen Verhaltens
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Gerade in der Wirtschaftsethik ist es angebracht, normative Forderungen „wettbewerbsneutral und […] ausbeutungsresistent“ (Homann 2005, 28) zu formulieren, da sonst aufgrund von Konkurrenz und Wettbewerbsdruck Einzelne moralisch überfordert würden. Angesichts der dilemmatischen Grundkonstellation für alle Marktteilnehmer ist eher normkonformes als supererogatorisches Verhalten zu erwarten. Es erscheint daher wenig zielführend, den Mindestlohn von der Einsicht ‚wohlwollender‘ Individuen abhängig zu machen, dass eine bestimmte Auffassung des ‚guten Lebens‘ als notwendig zu respektierendes Prinzip anzuerkennen sei. Dies muss Cordero jedoch annehmen, um seinen Grundsatz, niemand könne wollen, dass jemand das gute Leben erreicht, indem er es anderen verwehrt, zu rechtfertigen. Aufgrund von rein ökonomischen Gesichtspunkten lässt sich schließlich sehr wohl argumentieren, dass es völlig ausreicht, den Arbeitnehmern einen Lohn zu zahlen, der nur ihre Subsistenz sichert. Es bedürfte einer stärkeren normativen Grundlage als der Nichtberücksichtigung des ‚guten Lebens‘, um dies zu kritisieren. Im Übrigen ist fraglich, ob Arbeitgeber, die Arbeitnehmern einen Job unterhalb des ‚good-life minimum‘ bieten, sie notwendigerweise an einer prosperierenden Existenz hindern. Schließlich stellt die Anstellung wahrscheinlich eine relative Besserstellung dar. Hier müsste m.E. eher auf existentielle Bedürfnisse als auf die sehr viel anspruchsvollere Frage des guten Lebens abgehoben werden, um bestimmte Mindestanforderungen an zu zahlende Löhne begründen zu können. 2.) Zur Begründung eines Mindestlohns ist das Kriterium des guten Lebens auch deshalb ungeeignet, weil es zu ungenau und nicht objektivierbar ist. Der Mindestlohn muss einerseits Effizienzaspekten genügen, d.h. er darf die im Markt für die jeweils angebotenen Tätigkeiten bezahlten Löhne nicht um ein Vielfaches übersteigen. Es gibt einen Mindestlohn für Mitarbeiter von FastFood Restaurants, Gebäudereinigungsfirmen oder Sicherheitsdiensten, der so hoch angesetzt ist, dass er besagte Branchen kollabieren ließe, weil es sich für die Firmen nicht mehr lohnte, weiter zu operieren. M. E. droht dies bei der Bemessung eines Mindestlohns nach Cordero. Wenn die Verantwortung für die Gewährleistung von Urlauben, ‚Unterhaltung‘ und finanziellen Rücklagen an Arbeitgeber delegiert wird, ist dies kaum dienlich für die Begründung eines moderaten Mindestlohns. Der Mindestlohn sollte sich, um normative Überzeugungskraft zu gewinnen, ausschließlich an Mindestkriterien orientieren. Ich möchte darlegen, inwiefern dies auf die Kriterien Bedürfnis und Würde zutrifft. Das von Cordero eingebrachte Kriterium des ‚guten Lebens‘ scheitert hingegen an der schwer zu objektivierenden Forderung, allen ein ‚gutes Leben‘ zu ermöglichen, was je nach Auslegung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen dürfte. geleugnet werden, es wird lediglich bei der Formulierung normativer Grundsätze für die Marktwirtschaft nicht vorausgesetzt.
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(c) Das Bedürfnis-Argument Innerhalb der Debatte um den gerechten Lohn finden sich nur wenige Befürworter des Kriteriums Bedürfnis, und dies aus gutem Grund. Welche Bedürfnisse allgemein als lohnrelevant eingestuft werden können und welche nicht, ist höchst strittig. Sollten nur die grundlegendsten Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft berücksichtigt werden? Dann wären Arbeitgeber lediglich verpflichtet, Arbeitnehmern einen Lohn knapp oberhalb der absoluten Armutsgrenze auszuzahlen. Oder sollten auch weiter führende Bedürfnisse wie etwa eine Gesundheitsfürsorge oder gar der Wunsch nach Urlaub und Unterhaltung berücksichtigt werden? Ich werde hier die These vertreten, dass das Kriterium Bedürfnis sich in einer von Ressourcenknappheit geprägten Gesellschaft lediglich als Minimalkriterium begreifen lässt, welches die absolute Untergrenze des Einkommens deutlich zu machen vermag, aber nicht zur Rechtfertigung des gerechten Lohns dienen kann. Bei dem Mindestlohn können ausschließlich objektive Bedürfnisse eine Rolle spielen. Hier lohnt es, Tugendhats Unterscheidung von objektiver und subjektiver Bedürftigkeit aufzugreifen. Subjektive Bedürfnisse, wie das Verlangen nach einem luxuriösen Heim, können nicht berücksichtigt werden, schon allein deshalb, weil sie „keiner intersubjektiven Meßbarkeit“ (Tugendhat 1993, 383) zugänglich sind. Besondere objektive Bedürfnisse bei physischen Behinderungen, ebenso die besondere Schutzbedürftigkeit von Kranken und Alten, allein erziehenden Müttern und Minderheiten finden durch gesetzliche Bestimmungen über Fördermittel, Steuererleichterungen oder Zugangsquoten auch im Arbeitsmarkt Berücksichtigung. Diese Personengruppen haben besondere Bedürfnisse, weil sie durch ein bestimmtes einschränkendes Merkmal benachteiligt sind und besonderer Förderung bedürfen (Tugendhat 1993, 383). Besondere, objektive Bedürfnisse müssen in der Weise Berücksichtigung finden, dass Benachteiligungen gemindert oder bestenfalls aufgehoben werden können. Solche Schritte dienen der rechtlichen und sozialen Gleichstellung, nicht der angemessenen Entlohnung. Im Folgenden werde ich nun erörtern, inwiefern es allgemeine, objektive Bedürfnisse gibt, die durch den jeweils erzielten Lohn befriedigt werden müssen. Hierzu muss vorab auf die eingangs aufgeworfene Frage verwiesen werden, ob die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben durch den Markt geschaffen werden oder ob dies eher als Aufgabe des (Sozial-)Staates begriffen werden sollte. Ich möchte im Folgenden einige Argumente anführen, warum die Sicherung des Existenzminimums durch Sozialleistungen zwar als letzte Möglichkeit notwendig, aber allgemein nicht wünschenswert ist. Dabei werde ich folgendermaßen vorgehen. Zunächst werde ich darlegen, inwiefern ein Mindestlohn, der zur Deckung existentieller Bedürfnisse ausreicht, eine begründete
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normative Forderung darstellt (i). Anschließend wird erörtert, welche Bedürfnisse durch einen solchen Mindestlohn abzudecken sind (ii). i) Der Mindestlohn als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben Gewirth hat gegen Rawls eingewandt, dessen Differenzprinzip sei kompatibel mit der völligen produktiven Passivität der am wenigsten Begünstigten, die nichts zum wirtschaftlichen Prozess beitrügen und in einem Zustand der vollkommenen Abhängigkeit von sozialstaatlichen Hilfeleistungen verblieben: „[T]he principle’s central emphasis is on maximally benefiting the ‚least ad vantaged‘ regardless of any productive contributions they may themselves make“ (Gewirth 1996, 189). Diese vollständige Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen hat relativ weitgehende Auswirkungen für die Betroffenen, wie Gewirth deutlich macht. Armut bedeutet, nicht in der Lage zu sein, selbstständig für die grundsätzlichen Notwendigkeiten des Lebens sorgen zu können, wie ausreichende Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung (ebd., 106 f.). Im Hinblick auf das Problem der Arbeitslosigkeit macht Gewirth deutlich: Since for most persons paid work is the source of their livelihoods, unemployment threatens their basic well-being. It can bring about severe undernourishment, homelessness, lack of needed medical care, and inability to obtain other necessities of life. Moreover, unemployment can undermine one’s self-esteem. (Ebd., 215)
Gewirth zufolge sollten Individuen hingegen dazu befähigt werden, aktiv am Produktionsprozess teilzuhaben und dadurch über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können (ebd., 127). Dies bedeutet, dass Einzelne über die Möglichkeiten verfügen müssen, ein eigenes Einkommen zu verdienen, um relativ autonom und selbstsuffizient leben und das eigene ‚Wohlergehen‘20 sichern zu können (ebd., 132). Der von ihm skizzierte deprivation focus21 setzt dabei zwei Schwerpunkte, both on the society’s helping the poor to develop their own abilities of productive agency and […] on what the poor can do for themselves to become productive agents on their own behalf through developing and implementing their own sense of personal responsibility and thereby contributing to the society. (Ebd., 113)
Gewirth geht es hier um die Befähigung der Armen zu einem selbstbestimmten Leben durch die aktive Teilnahme am wirtschaftlichen Produktionsprozess. Der deprivation focus besagt daher nichts anderes, als dass in Gewirths Ansatz 20 Für eine genauere Erläuterung, was bei Gewirth unter ‚Wohlergehen‘ zu verstehen ist, siehe Steigleder (1999, 158–161), sowie Kapitel 6.1. 21 Der Begriff deprivation focus soll die Zielrichtung der Gewirthschen Argumentation deutlich machen. Ihm geht es um die Befähigung aller Gesellschaftsmitglieder zu selbstbestimmtem Handeln. Hierzu ist die vollumfängliche Realisierung der Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ vonnöten. Der deprivation focus kennzeichnet die Fokussierung auf diejenigen Gesellschaftsmitglieder, bei denen genannte Rechte nicht oder nur zum Teil realisiert sind. Siehe Gewirth (1996, 110–113).
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ein besonderes Augenmerk auf denjenigen Mitbürgern liegt, denen es an essentiellen Mitteln des ‚Wohlergehens‘ mangelt (ebd.). Das Ziel ist, die Abhängigkeit von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zu beenden und den Menschen ein autonomes Leben zu ermöglichen. Diese Forderung lässt sich im Übrigen als eine Lesart des unter (4.3) angeführten Arguments gegen Ungleichheiten, „Relieve suffering or severe deprivation“ (Scanlon 2003, 207) verstehen. Der Fokus liegt hier auf den existentiellen Bedürfnisse von Individuen, nicht auf dem Wert der Gleichheit. Die Frage verbleibt allerdings: Warum sollten grundlegende Bedürfnisse durch den Markt gedeckt werden, und warum sollte Unternehmern die Pflicht zukommen, hierfür zu sorgen? Zunächst ist mithilfe der bisherigen Argumentation hervorzuheben, dass die Existenzsicherung über wohlfahrtsstaatliche Leistungen nur die letzte Option für diejenigen Bürger darstellen sollte, welche aufgrund von Alter, Behinderungen oder chronischen Erkrankungen nicht mehr aktiv am Arbeitsleben teilnehmen können. Um allen anderen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, ist es notwendig, die Armen mittels Bildungs- und Sozialprogrammen derart zu unterstützen, dass sie zu einer aktiven Teilnahme am Wirtschaftsleben befähigt werden. Für diejenigen allerdings, die bereits in Vollzeit einer Tätigkeit nachgehen, gilt entsprechend der obigen Ausführungen, dass ihr Einkommen die grundlegendsten Bedürfnisse decken muss. Hiermit wird nicht behauptet, dass der Markt für die Befriedigung jeglicher Bedürfnisse aufkommen sollte, sondern lediglich, dass die im Markt erzielten Löhne nicht eine bestimmte Untergrenze unterschreiten dürfen, welche durch die grundlegendsten Bedürfnisse demarkiert wird. Die Gehälter dürfen nicht so niedrig sein, dass sie nicht zum Leben reichen. Eine mindestens die eigene Subsistenz sichernde Entlohnung ist die entscheidende Bedingung für die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Ein Mindestlohn, der die elementarsten Bedürfnisse deckt, ist ein geeignetes Instrument, um zumindest die (wirtschaftliche und soziale) Unabhängigkeit von Arbeitnehmern zu sichern. Ein flächendeckender Mindestlohn hätte zudem den Vorteil, dass er das Problem der individuellen Verantwortung einzelner Unternehmer zufriedenstellend berücksichtigen würde. Durch die rechtliche Implementierung würde ein flächendeckender Mindestlohn als allgemein gültige Untergrenze für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber anerkannt. Der Mindestlohn müsste dann angesichts seiner institutionellen Verankerung als gegenüber anderen arbeitsrechtlichen Vorgaben wie Mitbestimmungsregelungen, dem Tarifvertragsrecht oder den geltenden Arbeitsschutzbestimmungen gleichwertig angesehen werden. Die institutionelle Verankerung würde sicherstellen, dass einzelne Arbeitgeber nicht individuell überfordert oder zu moralischem Heroismus gezwungen wären. Die flächendeckende Geltung würde garantieren, dass die Forderung „wettbewerbsneutral und […] ausbeutungsresistent“ (Homann 2005, 28) implementiert wird.
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Ein weiteres anreizorientiertes Argument für einen bedürfnisorientierten Mindestlohn ergibt sich aus den oben angeführten Zahlen zur Subventionierung von Niedriglöhnern, die trotz Arbeit nicht das Existenzminimum erwirtschaften. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat errechnet, dass der deutsche Staat seit 2005 über das ‚Aufstocker-Modell‘ „Lohnkostenzuschüsse über 50 Mrd. Euro“ (Matecki 2011) für in Vollzeit und Teilzeit beschäftigte Niedriglöhner aufbringen musste. Wenn der Mindestlohn so konzipiert ist, dass er keine negativen Beschäftigungseffekte nach sich zieht, dann ist es im Interesse jedes Staates, über die Einführung einer solchen Untergrenze den Haushalt zu entlasten. Der Mindestlohn wäre dann nicht nur normativ geboten, sondern auch aufgrund von fiskalischen Erwägungen wünschenswert. Zu klären ist nun noch, welche Bedürfnisse als ‚grundlegend‘ ausgewiesen werden können. ii) Welche Bedürfnisse? David Miller hat drei Kriterien für den gerechten Lohn postuliert, welche er für unstrittig hält. Hierunter fällt auch die Forderung nach einem „living wage“: [E]very job should provide its holder with ‚a living wage‘, that is, sufficient income to allow the job-holder to meet a set of (conventionally defined) basic needs. (Miller 1990, 83)
Nun besteht wie bereits gezeigt keineswegs Konsens darüber, dass Arbeit zum Leben reichen muss. Noch diffiziler wird es bei der Eingrenzung von konventionell definierten, grundlegenden Bedürfnissen. Ich werde mich hier nicht an einer Liste von Bedürfnissen mit Anspruch auf Vollständigkeit versuchen, sondern die Liste lediglich durch einige Kriterien einengen. Marx sah als eine gewissermaßen ‚natürliche‘ Forderung, welche der Kapitalist bei der Festsetzung von Löhnen berücksichtigen müsse, dass der Wert der Arbeitskraft nicht geringer sein dürfe als der Wert einer Warenmasse, ohne deren tägliche Zufuhr der Träger der Arbeitskraft, der Mensch, seinen Lebensprozess nicht erneuern kann, also durch den Wert der physisch unentbehrlichen Lebensmittel. Sinkt der Preis der Arbeitskraft auf dieses Minimum, so sinkt er unter ihren Wert, denn sie kann sich so nur in verkümmerter Form erhalten und entwickeln. (Marx 1977, 187)
Marx formuliert hier einen auf einer reinen Klugheitserwägung beruhenden Gedanken, der tatsächlich unstrittig ist. In der Abwesenheit sozialstaatlicher Sicherungssysteme sollte der Lohn die bloße materielle Subsistenz sichern, weil die Arbeitnehmer sonst nicht mehr in der Lage sind, die geforderte Arbeitsleistung abzurufen. Es ist aber auch aufgrund eines normativen Arguments geboten, dass der Lohn zumindest die Möglichkeit gewährleisten sollte, ausreichend Nahrung zum Überleben zu erwerben. Die Sicherung der materiellen Subsistenz ist die erste Voraussetzung für die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die materielle Subsistenz lässt sich als ein grundlegendes Recht ausweisen insofern als sie, neben der Sicherung von Freiheitsrechten,
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essentiell ist für die Möglichkeit, ein gesundes Leben zu führen und das eigene Wohlergehen sicherzustellen. Hierfür sind solche „basic goods“ (Gewirth 1986, 182) wie physische Integrität, Gesundheit, Nahrung, eine adäquate Unterkunft und Gesundheitsfürsorge unerlässlich (ebd.). 22 Ein weiterer Kandidat für ein grundlegendes Bedürfnis ist die Forderung nach einer adäquaten Behausung. Gewirth weist darauf hin, dass Arbeitslosigkeit auch insofern eine Gefahr für das ‚Wohlergehen‘ ist, weil sie in Obdachlosigkeit münden kann (Gewirth 1996, 214 f.). M.E. ist die Forderung nach adäquater Behausung relativ unstrittig, daher werde ich sie ohne weitere Diskussion als einen weiteren Aspekt zur Bemessung eines bedürfnisorientierten Mindestlohns aufnehmen. Eine letzte Anforderung, die ein bedürfnisorientierter Mindestlohn zu berücksichtigen hätte, ist ein bestimmtes Mindestniveau der Gesundheitsversorgung. Zu den unentbehrlichen Voraussetzungen für ein gesundes Leben gehört die Möglichkeit auf ärztliche Behandlung und der Zugang zu wichtigen Medikamenten. Wie weit diese Voraussetzung auszulegen ist, ob nur grundlegendste Hilfeleistungen oder weiterführende Behandlungen berücksichtigt werden sollten, kann hier nicht weiter diskutiert werden. In jedem Fall sollte ein bedürfnisorientierter Mindestlohn die Notwendigkeit adäquater medizinischer Grundversorgung berücksichtigen. Mit diesen Ausführungen wurde die Ansicht widerlegt, die Bedürfnissicherung sei allein Aufgabe des Sozialstaats. Ich habe argumentiert, dass der bedürfnisorientierte Mindestlohn eine wohlbegründete normative Forderung darstellt und sich als absolute Untergrenze begreifen lässt. Der Lohn muss den jeweiligen Arbeitnehmer ernähren können, das bedeutet, er muss so grundlegende Bedürfnisse wie ausreichende Nahrung, adäquate Behausung und ausreichende medizinische Versorgung berücksichtigen. Es sollte deutlich geworden sein, dass ein solch eng gefasster, bedürfnisorientierter Mindestlohn wohl eher niedrigere Lohnforderungen als die derzeit in Deutschland geforderten 8,50 Euro Mindestlohn nach sich ziehen dürfte. Allerdings werde ich im Folgenden argumentieren, dass es für ein selbstbestimmtes Leben in Würde nicht ausreicht, die grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen.
22 Ich klammere hier bewusst die Frage aus, ob für die Sicherung der eigenen Subsistenz auch die Möglichkeit gegeben sein muss, „eine gewisse Zahl Kinder aufzuziehn“ (Marx 1975, 131). Hierzu wäre zu analysieren, ob es sich bei der Fortpflanzung um ein grundlegendes Bedürfnis handelt. Ich bin mir diesbezüglich nicht sicher und verzichte daher auf die Erörterung dieser Frage, weil ein bedürfnisorientierter Mindestlohn sich möglichst ausschließlich auf konventionelle, weithin anerkannte Kandidaten für grundlegende Bedürfnisse beschränken sollte. Das vermeintliche Recht auf Fortpflanzung und die damit verbundene Forderung, der Mindestlohn müsse auch die Versorgung der Familien von Arbeitnehmern sichern, gehört womöglich nicht dazu. Zu den Rechten auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ siehe Kapitel 6.1.1.
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(d) Das Würde-Argument Ich möchte zeigen, dass ein in Vollzeit erwirtschafteter Lohn so hoch sein muss, dass er ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht. Ein adäquater Mindestlohn müsste daher nicht nur die erwähnten Bedürfniskriterien berücksichtigen, sondern einen Lebensstandard ermöglichen, der angesichts des jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstands nicht stigmatisierend wirkt und es den Betroffenen ermöglicht, als Gleiche angesehen zu werden. Zur Erläuterung, was unter ‚stigmatisierend‘ zu verstehen ist, möchte ich auf Thomas Scanlon zurückgreifen. Für Scanlon stellt das Argument „Prevent stigmatizing differences in status“ (Scanlon 2003, 207) eine entscheidende Forderung gegen gesellschaftliche Ungleichheiten dar. Scanlon zufolge kommen stigmatisierende Statusunterschiede zustande durch die faktische Ungleichbehandlung einer Gruppe oder durch eine Art der Behandlung, die das Gefühl der Minderwertigkeit hervorruft. Hinter der Kritik an Statusunterschieden verbirgt sich die Auffassung, „that it is an evil for people to be treated as inferior, or made to feel inferior“ (ebd., 204). Beispiele für stigmatisierende Ungleichbehandlung zeigen sich nach Scanlon etwa bei Privilegien, bei Rangunterschieden, die Respektbezeugungen gegenüber Ranghöheren erzwingen und bei Überlegenheitsüberzeugungen wie Rassismus und Sexismus (ebd.). Große Unterschiede in materiellem Reichtum können ebenfalls zur Stigmatisierung beitragen: [W]hen the mode of life enjoyed by some people sets the norm for a society, those who are much worse off will feel inferiority and shame at the way they must live. (Ebd.)
Die relative Armut Einzelner im Angesicht des Wohlstands einiger kann bei extremen Ungleichheiten zur Stigmatisierung führen, nämlich dann, wenn der eigene Lebensstandard unter ein Level fällt, der innerhalb der eigenen Gemeinschaft als „minimally acceptable“ (ebd., 213) angesehen wird. Ein Beispiel für stigmatisierende Statusunterschiede ist die Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen. Arbeitslose werden als wirtschaftlich abhängige, fremdbestimmte Individuen wahrgenommen, die insofern ‚wertlos‘ sind, als sie lediglich durch gesellschaftliche Transferleistungen überleben können und nichts zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen. Ein solcher Zustand wirkt sich notgedrungen negativ auf das Selbstwertgefühl aus (Gewirth 1996, 215). Die mit Arbeitslosigkeit verbundene Armut erniedrigt zudem insofern, als es den Betroffenen mitunter nicht möglich ist, die für ein anständiges Leben minimal erforderlichen Mittel für sich und die Familienangehörigen zu erwerben (wie etwa angemessene Kleidung, Behausung und Einrichtung). Gefühle von Scham und Minderwertigkeit sind die Folge (Scanlon 2003, 212). Angesichts dieser stigmatisierenden Wirkung von Arbeitslosigkeit sollten sozialstaatliche Einrichtungen und adäquate Arbeitsmarktinstrumente dafür Sorge tragen, dass möglichst viele Gesellschaftsmitglieder zu einer selbstbestimmten Teilnahme am Wirtschaftsprozess befähigt werden. Am Beispiel der Arbeitslosigkeit lässt
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sich zeigen, dass bestimmte Statusunterschiede stigmatisierende Wirkungen entfalten können. Hier geht es jedoch darum, ob bestimmte Arbeitsverhältnisse ebensolche stigmatisierenden Wirkungen haben können. Zunächst ist hier positiv zu betonen, dass für die einzelnen Individuen die jeweilige Arbeit eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung bietet. Zwar mag dies aufgrund der geringen Anforderungen, der Monotonie der ausgeführten Tätigkeiten sowie den oft harschen innerbetrieblichen Verhältnissen im Niedriglohnsektor selten realisiert sein: Jedoch kann die jeweilige Tätigkeit Ansehen, Respekt und die Möglichkeit zu Selbstverwirklichung hervorbringen. Wie Robert Kuttner darlegt, kann Arbeit zwar als monotone Schufterei ausgestaltet sein, sie ist jedoch oft auch „engaging and satisfying“ (Kuttner 1999, 84). Individuen erlangen durch ihre Tätigkeit Selbstbestätigung. Zudem identifizieren sie sich positiv mit ihrer Arbeit, wie Radin ausführt: The concept of the personal touch in one’s work, of doing a good job for the sake of pride in one’s work, for the sake of the user or recipient, and for the sake of one’s community as a whole is intelligible for much of the market economy. Plumbers, housecleaners, carpenters, financial advisers, and clerks can all work with personal care for those who need their services […] However mechanized and technological and rational is the market society, it is still true that the worker we consider the good worker is working and not just laboring. (Radin 1996, 105 f.)
Radin macht hier deutlich, dass für die allermeisten Menschen ihre Arbeit mehr darstellt als reine Lohnarbeit. Der Arbeit kommt zudem ein sozialer Wert zu, wie Griffin deutlich macht: „Most people want the dignity of earning their own keep. They want to contribute something to their society“ (Griffin 2008, 208). In diesem Sinn ist zunächst der positive Wert der Arbeit für die Möglichkeit der Selbstverwirklichung hervorzuheben. Hingegen lautet das Hauptargument für einen Mindestlohn, welcher ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht, dass das Phänomen der working poor einen besonders eindeutigen Fall von stigmatisierenden Statusunterschieden darstellt. Der Begriff working poor beschreibt Personengruppen, welche die Erfahrung machen, dass die Lohnarbeit, die der Mehrheit der Mitbürger für ein selbstbestimmtes Leben gereicht, in ihrem Fall den entwürdigenden Zustand bedingt, zusätzlich zum eigenen Lohn aufstockende Sozialleistungen beziehen zu müssen. Ein Mindestlohn, welcher die Würde aller Bürger berücksichtigt, dürfte daher nicht unter einem Minimum liegen, das ein unabhängiges Leben ohne die Abhängigkeit von Sozialleistungen ermöglicht. Die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung werden durch besagte Abhängigkeit entscheidend unterminiert: „The welfare recipient lacks certain important aspects of autonomy because […] she must adher to rules set by other persons with regard to her receipt of necessities of life“ (Gewirth 1996, 117).
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Was ist nun mit dem Begriff ‚Würde‘ gemeint? Ich werde nicht den Kantschen Würdebegriff aufgreifen, der besagt, dass aufgrund des besonderen normativen Status des Menschen als zwecksetzendem moralischen Wesen jeder Mensch immer auch als Zweck, nie als bloßes Mittel zu behandeln sei.23 An den Kantschen Würdebegriff als Grundlage von Rechten schließt sich eine umfassende und hochkontroverse Diskussion über den Umfang und die Begründung von Rechten, die ich an dieser Stelle nicht zielführend aufarbeiten kann. Ich werde stattdessen von einem Würdebegriff ausgehen, der sich auf Eigenschaften des sozialen Lebens bezieht, die zwingend erfüllt sein müssen, um als Gleiche interagieren zu können. Würde wird hier definiert als Abwesenheit von stigmatisierenden Statusunterschieden und Gewährleistung der Voraussetzungen, um einander als Gleiche begegnen zu können. Der hier zu verteidigende Würdebegriff zielt somit auf die Folgen bestimmter Status- und Einkommensunterschiede für den Einzelnen. Er zieht die Forderung nach sich, einander als Gleiche zu behandeln (wobei ‚gleich‘ hier als ‚ebenbürtig‘ verstanden wird). Satz erläutert, inwiefern die Realisation dieser Forderung von der Gewährleistung und dem Schutz bestimmter grundlegender Interessen abhängt: We can define a set of basic interests for people, interests in minimum levels of well-being and agency, and define extremely harmful market outcomes as outcomes that leave these basic interests unsatisfied. The idea of basic interests is meant to capture the idea that there are universal features of an adequate and minimally decent human life, a ‚line beneath which no one is to be allowed to sink.‘24 (Satz 2010, 95)
Im Anschluss erläutert Satz, was es bedeutet, einander ‚als Gleiche‘ zu behandeln: I take the content of this ideal to be given by the preconditions necessary for individuals to make claims on one another and interact without having to beg or to push others around […] (ebd.)
Ich greife hier Satz’ Begriff von der Interaktion unter Gleichen auf als die Möglichkeit, sich als Individuen von gleichem Status25 zu begegnen, um zu explizieren, was unter einem selbstbestimmten Leben in Würde zu verstehen ist. 23 Ich beziehe mich hier auf die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1956b, 61). 24 Im letzten Teil der angeführten Textstelle zitiert Satz Shue (1996, 18). 25 Jeremy Waldron hat darauf hingewiesen, dass der Begriff ‚Würde‘ ursprünglich eng mit dem sozialen Status einzelner Gesellschaftsmitglieder verknüpft war und somit die ‚besondere‘ Würde einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung oder beruflichen Position hervorheben sollte (Waldron 2007, 215 f.). Auch wurde menschliche Würde oftmals aus dem Vergleich mit der Natur abgeleitet, um so den besonderen Status des Menschen in der Natur deutlich zu machen (ebd., 218 f.). Wenn ich nun hier von Würde spreche, ist keine dieser Deutungsweisen gemeint, sondern die Forderung, keinem Menschen sollten bestimmte minimalen Voraussetzungen des Lebens vorenthalten bleiben.
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
In der Abwesenheit der durch Satz skizzierten Vorbedingungen wirken sich gesellschaftliche Ungleichheiten so aus, dass die besonders Schwachen nicht mehr als Gleiche behandelt werden. Satz hat zwar in ihrem oben zitierten Werk Why Some Things Should Not Be For Sale primär solche Märkte wie den Organhandel, Prostitution oder Leihmutterschaften im Blick. Dennoch trifft die Annahme, dass obige Märkte sehr schädliche Wirkungen auf die Gesellschaft haben, ebenso auf Segmente des Arbeitsmarktes zu, in denen Löhne gezahlt werden, die nicht zu einem „minimally decent human life“ reichen. Ein selbstbestimmtes Leben beinhaltet auch die Unabhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen, um frei von Zwang und passivem Dasein den eigenen Vorstellungen und Forderungen Gehör verschaffen zu können: In thinking about the preconditions of equal citizenship, it is important to think in terms of general social practices […] the existence of minimum wages […] may be necessary to preserve a threshold of economic welfare […] and to enhance the bargaining power of the poorest people in society to protect them from exploitation and abuse. (Ebd., 100 f.)
Löhne, die im obigen Sinne stigmatisierend wirken und unter einem Niveau liegen, welches zur Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens in Würde notwendig ist, sind daher zu untersagen. Wenn der einzelne Arbeitnehmer als Gleicher anerkannt wird, dann muss ihm durch den Mindestlohn die Möglichkeit gewährt werden, die eigenen Ziele zu verwirklichen, zumindest in dem knappen Umfang, den die hier erläuterten Kriterien Bedürfnis und Würde suggerieren. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Überlegungen ableiten? Wie oben ausgeführt argumentiert Freeman, dass der Mindestlohn den Arbeitgebern und Konsumenten abverlangt, die tatsächlichen Kosten für die von den Niedriglöhnern erbrachten Leistungen zu tragen. Angesichts der bisherigen Erörterung lässt sich nun argumentieren, dass es tatsächlich einen Mindestpreis für die Ware Arbeitskraft gibt, den Arbeitgeber und die Konsumenten der produzierten Güter tragen müssen. Dieser ist bestimmt durch die Forderung, jedweder Lohn müsse die Mindestanforderung erfüllen, dass er die Befriedigung der grundlegendsten Bedürfnisse sowie ein Leben in Würde ermöglicht. Daraus folgt: Wenn alle als Gleiche zu behandeln sind, dann kommt jedem Einzelnen die Pflicht zu, dafür Sorge zu tragen, dass ein Mindestlohn allen ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht. Ich werde in Kapitel 6.1.1 mit Gewirth argumentieren, dass für die Befolgung positiver Pflichten wie beispielsweise bei der Bekämpfung der Weltarmut an erster Stelle staatliche Institutionen verantwortlich sind, weil sie (im Unterschied zu einzelnen Individuen) die notwendigen Ressourcen und Möglichkeiten haben, um diesen Pflichten nachzukommen (Gewirth 1996, 55 f.). Eine solche, durch staatliche Institutionen zu berücksichtigende positive Pflicht ist es auch, dafür Sorge zu tragen, dass allen ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermög-
5. ‚Gerechter‘ Lohn und Mindestlohn
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licht wird. Der Staat als Treuhänder seiner Bürger muss für entsprechende Gesetze sorgen, die dieser Forderung nachkommen. Von einem gesetzlichen Mindestlohn wären vor allem diejenigen Unternehmen betroffen, welche in Niedriglohnsektoren operieren. Diese haben jedoch die Möglichkeit, die zusätzlichen Kosten je nach Marktlage zumindest teilweise an die Konsumenten weiterzureichen. Zudem sollte deutlich geworden sein, dass nicht jeglicher Mindestlohn, sondern nur ein solcher, der keine extrem negativen Beschäftigungseffekte nach sich zieht, Chancen auf Realisierung hat. Ein solcher Mindestlohn müsste institutionell verankert sein und möglichst wenig Raum für „Ausweichreaktionen“ und „nicht intendierte Konsequenzen“ (Kirchgässner 1997, 140 f.) bieten. Dies bedeutet, dass er flächendeckend sein muss und möglichst nicht so hoch, dass der Anreiz zur Schwarzarbeit dadurch entscheidend gestärkt wird. Durch die institutionelle Verankerung als flächendeckender Mindestlohn sollte zudem sichergestellt werden, dass die Forderung nach Mindestlöhnen wettbewerbsneutral angewendet wird und nicht entscheidende Wettbewerbsnachteile für einzelne Marktteilnehmer nach sich zieht. Zuletzt ist noch darauf hinzuweisen, dass ein adäquater Mindestlohn bei Ausbleiben negativer Beschäftigungseffekte zu einer erheblichen fiskalischen Entlastung für den Staat führen würde. Nachdem nun die entscheidenden Kriterien für den gerechten Lohn behandelt wurden und ein Argument für den Mindestlohn verteidigt wurde, wird im folgenden Kapitel zu zeigen sein, welche Arbeitnehmerrechte gerechtfertigt werden können.
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
6. Arbeitnehmerrechte und Unternehmensstrukturen In Kapitel 5 wurde gezeigt, dass keine der vorgestellten Kriterien einen adäquaten Maßstab für den gerechten Lohn liefert. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass die derzeitigen Einkommensunterschiede auch als Resultat von Machtungleichgewichten und teilweise unzureichenden Mitspracherechten in Unternehmen anzusehen sind. Der entscheidende Faktor ist daher, gerechte Rahmenbedingungen zu schaffen, um Verhandlungen auf Augenhöhe und Verfahrensgerechtigkeit zu garantieren. Zur Rechtfertigung dieser These sind vorab einige Erläuterungen zum Sinn und Zweck von Unternehmen, der Legitimität von Autorität in Unternehmen sowie des Status von abhängig Beschäftigten notwendig. Erst anschließend wird eine qualifizierte Aussage darüber möglich sein, was unter ‚gerechten Rahmenbedingungen‘ zu verstehen ist. Zur Erläuterung meines Vorhabens möchte ich nochmals auf die in Kapitel 2.3.6 besprochenen ‚Wirtschaftsbürgerrechte‘ eingehen. Dort wurde kritisiert, dass Ulrich weder ausreichend spezifiziert, wie diese Rechte begründet sind, noch befriedigend darlegt, was die konkreten Inhalte dieser Rechte im Arbeitsleben sind und wer als Rechtsadressat fungiert. Er belässt es bei allgemeinen Bemerkungen zu den „Rechte[n] sämtlicher Stakeholder, insbesondere der Mitarbeiter als Organisationsbürger“, welche ihnen die Möglichkeit zur „Beteiligung an einem möglichst offenen, macht- und sanktionsfreien unternehmensethischen Diskurs“ (Ulrich 2005b, 156) gewähren sollen. Zudem sollten „allen Personen, die sich vom unternehmerischen Handeln betroffen fühlen, gesetzlich geregelte Anhörungs-, Mitsprache-, Einspruchsund Klagerechte“ (Ulrich 2008, 490) eingeräumt werden und unternehmensinterne „Ethikkomitee[s]“ (ebd., 499) eingerichtet werden. Unklar bleibt, welchen Status und welches relative Gewicht die verschiedenen stakeholder im Unternehmen haben sollen und welche ökonomischen Folgen zu erwarten wären bei einem Mitsprache- und Einspruchsrecht aller stakeholder, worunter nach der weiten Definition von Freeman (2010, 61 ff.) auch die Konsumenten, die lokale Gemeinde, letztlich die gesamte Gesellschaft zu fassen sind. Ulrich lässt zudem offen, wie ein „macht- und sanktionsfreier unternehmensethischer Diskurs“ in solchen Ethikkomitees durchgesetzt und rechtlich verankert werden könnte. Ich habe allerdings deutlich gemacht, inwiefern Ulrichs’ Skizze der Wirtschaftsbürgerrechte dennoch einen fruchtbaren Anstoß zur weiterführenden Reflexion über etwaige Rechte von Arbeitnehmern bietet.
6. Arbeitnehmerrechte und Unternehmensstrukturen
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Ich möchte daher in diesem Kapitel einige der ‚blinden Flecken‘ in Ulrichs Entwurf füllen und eine eigene Begründungsstrategie zur Rechtfertigung von Arbeitnehmerrechten vorstellen. Mir geht es weniger darum, zu erörtern, welche Rechte als ‚Wirtschaftsbürgerrechte‘ allen Wirtschaftssubjekten zukommen, als zu analysieren, ob und gegebenenfalls welche Rechte von Arbeitnehmern begründet werden können. Ich gehe davon aus, dass Arbeitnehmern aufgrund ihrer Eigenschaft als Mitglieder eines Gemeinwesens und ihrer Funktion in Unternehmen bestimmte Rechte zukommen. Das Bündel an Rechten, das es zu begründen gilt, werde ich als ‚Arbeitnehmerrechte‘ bezeichnen. Zur Begründung dieser Rechte bedarf es der Fundierung durch eine rechtebasierte normative Theorie. Im Rahmen dieser Arbeit kann die umfangreiche und elaborierte Debatte um die Begründung solcher Ansätze nicht umfassend aufgearbeitet werden. Es geht mir lediglich darum, offenzulegen, welche ‚Hintergrundtheorie‘ der Rechte meine spezifischen Überlegungen zu etwaigen Arbeitnehmerrechten informiert und begründet. Zu diesem Zweck wird im Folgenden die Theorie von Alan Gewirth vorgestellt, der von zwei grundlegenden Menschenrechten ausgeht (6.1.1). Allgemeine Bürgerrechte begreift er als Teil dieser Menschenrechte (6.1.2). Zuletzt leiten sich aus den allgemeinen Menschenrechten auch konkrete Arbeitnehmerrechte ab. Ich werde zeigen, dass diese als dispositionell-konditionale, abgeleitete positive Rechte betrachtet werden sollten, die instrumentell gerechtfertigt sind aufgrund ihrer Bedeutung für konstitutive Menschenrechte (6.1.3). Das Recht auf Mitbestimmung, welches den Kern meiner Überlegungen im zweiten Teil dieses Kapitels (6.2 und 6.3) bildet, ist eines dieser zu begründenden Arbeitnehmerrechte. Im zweiten Teil dieses Kapitels widme ich mich zunächst der Erörterung darüber, was der Sinn und Zweck von Unternehmen ist, warum sie existieren und hierarchisch organisiert sind (6.2.1). Dem shareholder-Ansatz zufolge besteht der Zweck von Unternehmen darin, den Gewinn der Aktionäre zu maximieren (Goodwin et al. 2005, 375). Ich werde sowohl den shareholder-Ansatz als auch den stakeholder-Ansatz kritisieren. Ersteren, weil er keine anderen legitimen Interessengruppen als die Aktieneigner anerkennt, und zweiteren, weil er den Kreis möglicher stakeholder zu weit fasst und nicht deutlich macht, wie Konflikte zwischen unterschiedlichen stakeholder-Gruppen beigelegt werden können (6.2.2). Gewirth erkennt in hierarchischen Unternehmensstrukturen eine Einschränkung der grundlegenden Freiheitsrechte von Arbeitnehmern, die nur behoben werden könne, indem die Unternehmen in Arbeiterhand übergingen und in einem System der Wirtschaftsdemokratie das Eigentum an den Produktionsmitteln und die Entscheidungsgewalt über deren Verwendung an die Arbeiter übertragen wird (6.2.3). Während ich in Anlehnung an Christopher McMahon argumentieren werde, dass es sehr wohl überzeugende Argumente für die Demokratisierung von Entscheidungsabläufen in Unternehmen (6.2.4) gibt,
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
scheitert Gewirths Modell an der Schlussfolgerung, zur Erreichung dieses Ziels wäre die Umwandlung des Unternehmens in Arbeiterkooperativen zwingend notwendig. Mir geht es hingegen um die folgende, von Patricia H. Werhane aufgeworfene Frage: Can one modify employee-employer relationships in such a way as to preserve private ownership, business freedoms, and the benefits of capitalism while clearing up injustices in the workplace? (Werhane 1985, 26, meine Hervorhebung)
Ist es demnach möglich, mithilfe von Arbeitnehmerrechten die bestehenden Machtungleichgewichte abzubauen und die durch vorhandene Hierarchien bedingte schwache Verhandlungsposition vieler Arbeitnehmer zu stärken unter Beibehaltung der derzeitigen Eigentumsverhältnisse in Unternehmen? Im Anschluss an diese Überlegungen werde ich abschließend skizzieren, inwiefern sich Mitbestimmungsrechte auf den ‚gerechten‘ Lohn auswirken (6.3). Mein Argument lautet, dass sich ein unter adäquaten Mitbestimmungsrechten festgelegter Lohn womöglich nicht als gerecht aber in jedem Falle als gerechtfertigt kennzeichnen lässt, wenn er als Resultat eines auf der Berücksichtigung von „berechtigten Erwartungen“ (Rawls 1979, 347) beruhenden Verfahrens ausgewiesen ist.
6.1 Arbeitnehmerrechte als abgeleitete Menschenrechte Im Folgenden werde ich der Begründung von Menschenrechten durch Alan Gewirth folgen. Bevor ich diese analysiere, sind einige allgemeine Bemerkungen zur Bestimmung von moralischen Rechten angebracht. Rechte sollen hier als Anspruchsrechte verstanden werden. Demnach besteht ein Recht in einem begründeten Anspruch eines Individuums (Rechtssubjekt) auf etwas (Rechtsobjekt) gegenüber jemandem (Rechtsadressat[en]). Der Anspruch kann dabei die Unterlassung einer bestimmten Handlung seitens des Adressaten oder aber ein aktives Handeln des Rechtsadressaten einfordern (Koller 1995, 52). Entsprechend lassen sich negative Rechte und Pflichten (Freiheitsrechte, Rechte auf Unterlassung) und positive Rechte und Pflichten (Rechte auf Hilfeleistung) unterscheiden.1 Dem 1 Diese Unterscheidung wurde von Henry Shue kritisiert, weil sie unterschlägt, dass bei Nicht-Konformität auch für den Schutz ‚negativer‘ Menschenrechte aktive Hilfeleistung erforderlich ist. Insofern sei die Unterscheidung negativer und positiver Rechte hinfällig, weil alle Menschenrechte korrespondierende Pflichten zur Vermeidung (der Rechtsverletzung), dem Schutz (vor Rechtsverletzung) und der Hilfestellung zur Gewährleistung des jeweiligen Rechts generierten (Shue 1996, 52 f.). Ich folge jedoch der Argumentation Gewirths, dass es zwar eine positive Pflicht seitens des Staates gibt, die Gewährleistung negativer Freiheiten zu sichern, dass aber die Forderung, welche das Recht selbst vorsieht, rein negativer Natur ist. Gegebenenfalls könnte man mit Gewirth von ‚gemischten‘ Rechten sprechen, wenn beispielsweise zum Schutz des Rechts auf Leben polizeiliche Maßnahmen notwendig sind, um
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Anspruch des Rechtsträgers korrespondiert demnach die Pflicht auf Unterstützung oder Unterlassung eines zugewiesenen und identifizierbaren Adressaten. Menschenrechte bilden eine besondere Klasse von Rechten, insofern sie universell sind. Es sind Rechte, die allen handlungsfähigen Menschen zukommen allein aufgrund ihres Status als Menschen.2 Die korrespondierenden Menschenrechtspflichten sind generell, weil Menschenrechte als Rechte in rem „gegenüber der ganzen Welt bestehen“ (Koller 1995, 52), im Unterschied zu Rechten in personam, die lediglich Pflichten für bestimmte Personen generieren (ebd.). Hier muss nun zunächst erläutert werden, wie der Anspruch auf ein oder mehrere Menschenrechte begründet werden kann, aus dem alle weiteren Ansprüche abgeleitet werden können. 6.1.1 Grundlegende Menschenrechte: Freiheit und Wohlergehen Gewirth zufolge bildet das Handeln die Grundlage aller Moral (Gewirth 1986, 171).3 Kein handlungsfähiger Mensch kann der Entscheidung zu handeln entgehen, es bildet somit den notwendigen und unausweichlichen Ausgangspunkt aller moralischen Prinzipien (Gewirth 1996, 13). Gewirth möchte zeigen, dass das Konzept der Rechte essentiell für alle Handlungen ist, weil die Rechtsobjekte der grundlegenden Menschenrechte die notwendigen Voraussetzungen des Handelns selbst sind: „What makes human rights so important is that without them persons either cannot act at all or cannot act with general chances of success in achieving their purposes“ (Gewirth 1986, 171). Gewirth zufolge sind Individuen nicht in der Lage, erfolgreich zu handeln, wenn ihnen diese Rechte vorenthalten werden, daher der fundamentale Zusammenhang von Rechten und Handlungsfähigkeit. Um darzulegen, inwiefern die Handlungsfähigkeit ein notwendiges Gut darstellt, muss Gewirth sich zunächst zu den entscheidenden Eigenschaften des Handelns äußern.
zu verhindern, dass jemand getötet wird (Gewirth 1996, 36). Ich möchte jedoch nicht weiter auf diese Unterschiede eingehen und spreche daher durchweg von ‚negativen‘ und ‚positiven‘ Rechten und Pflichten im oben dargelegten Sinn. 2 Die diffizile Frage, ob auch Kleinkindern oder geistig stark beeinträchtigten Menschen im vollen Umfang Menschenrechte zugesprochen werden sollten bzw. können, lasse ich hier außen vor. Ich beschränke mich stattdessen auf die Diskussion der Menschenrechte von ‚handlungsfähigen‘ Menschen. Zur Diskussion dieser Frage siehe Steigleder (1999, 181–192). 3 Bei der Darstellung von Gewirths Moralprinzip beschränke ich mich aus Platzgründen vorrangig auf die gestraffte Version, die er in The Community of Rights (1996) sowie in den Artikeln „Economic Rights“ (1986) und „Moral Foundations of Civil Rights Law“ (1987) geliefert hat. Für die ausführliche Herleitung des Moralprinzips siehe Gewirth (1978, insbesondere 21–170). Eine Auseinandersetzung mit Gewirths Begründungsstrategie liefert außerdem Steigleder (1999).
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Handeln weist Gewirth zufolge zwei konstitutive Merkmale4 auf, Freiwilligkeit oder Freiheit und Zweckgerichtetheit oder Intentionalität (Gewirth 1986, 171; Steigleder 1999, 28). Handeln setzt Freiheit voraus als die Fähigkeit, freiwillig (d.h. ohne Zwang) zwischen verschiedenen Handlungsalternativen wählen zu können. Es ist zudem intentional bestimmt, d.h. Handeln folgt immer einer bestimmten Zwecksetzung (Gewirth 1986, 171; Steigleder 1999, 29) durch den Handelnden. Als Handlungen sind dabei auch Unterlassungen (Steigleder 1999, 29) zu begreifen, da sie ebenso freiwillig und intentional bestimmt sind. Freiheit und ‚Wohlergehen‘ sind als konstitutive Merkmale von Handlungen anzusehen, weil ohne sie keine Handlungen im hier definierten Sinne möglich sind. Gewirth unterscheidet zwischen Freiheit als prozedural konstitutiver Eigenschaft des Handelns, insofern sie die Voraussetzung für die selbstbestimmte Wahl der zu verfolgenden Handlungen darstellt (Gewirth 1987, 131), und ‚Wohlergehen‘ als substantiell konstitutiver Eigenschaft des Handelns. Der dargelegte Freiheitsbegriff ist sowohl negativ als auch positiv bestimmt. Negative Freiheit insofern, als die eigenen Handlungen selbstbestimmt und ohne äußeren Zwang durch Dritte vollführt werden können, und positiv insofern, als durch die Abwesenheit von äußerem Zwang der Handelnde erst die Fähigkeit erlangt, so handeln zu können, wie er möchte (Gewirth 1996, 15). Der Ausdruck ‚Wohlergehen‘ beschreibt bei Gewirth eine substantiell konstitutive Eigenschaft, weil sie die notwendig erforderlichen Fähigkeiten für die Möglichkeit des Handelns und der eigenen Zweckverfolgung betrifft: Well-being as understood here is the substantive generic feature of action: it consists in having the purpose-related general abilities and conditions that are required either for being able to act at all, or for having general chances of success in achieving the purposes for which one acts. (Gewirth 1987, 131)
Wohlgemerkt sind hier die essentiellen Voraussetzungen für die Gewährleistung von ‚Wohlergehen‘ gemeint (Steigleder 1999, 56, Anm. 37), nicht ‚Wohlergehen‘ in einem weiten, jegliche Präferenzbefriedigung umfassenden Sinne. Die Fähigkeiten und Voraussetzungen, welche unentbehrlich für das ‚Wohlergehen‘ sind, lassen sich als eine Rangfolge von Gütern begreifen, die unterschiedlich dringend benötigt werden, um überhaupt handeln und erfolgreich handeln zu können (Steigleder 1999, 53–56). Zu unterscheiden sind Elementargüter, Nichtverminderungsgüter und Zuwachsgüter. Diese Güter beschreiben unterschiedliche Grade der für Zweckerfüllung notwendigen Voraussetzungen (Gewirth 1978, 55). Elementargüter sind jene Voraussetzungen, die für die Möglichkeit zu handeln und Ziele zu verfolgen absolut unentbehrlich sind. Hierzu gehören Leben, physische Integrität, ausreichende Nahrung, Kleidung und eine adäquate Gesundheitsversorgung (Gewirth 1987, 138). Nichtverminderungsgü4 Hier
wie bei allen weiteren Ausführungen zu Gewirths Moraltheorie folge ich bei der Übersetzung der entscheidenden Begriffe Steigleder (1999).
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ter sind Eigenschaften, die es dem Handelnden ermöglichen, sein Niveau der Zielverwirklichung und die Fähigkeiten, bestimmte Handlungen auszuführen, zu erhalten (Gewirth 1978, 54). Zuwachsgüter beschreiben die Voraussetzungen und Fähigkeiten, welche gegeben sein müssen, um das eigene Niveau der Zweckerfüllung zu erhöhen und die Möglichkeiten für erfolgreiches Handeln zu erweitern (Gewirth 1987, 138). Die jeweiligen Inhalte der Nichtverminderungs- und Zuwachsgüter sind relativ zu dem zu betrachten, was ein Handelnder bereits für sich gesichert hat und für gut befindet (Gewirth 1978, 55). Dennoch lassen sich notwendige Nichtverminderungs- und Zuwachsgüter als Güter zweiter Ordnung ausweisen, die es erlauben, den Stand des Erreichten zu erhalten bzw. zu erweitern. Beispiele für notwendige Nichtverminderungsgüter sind nicht bestohlen zu werden oder nicht von Gewalt bedroht zu sein (Gewirth 1987, 138), also nicht dessen beraubt zu werden, was man bereits erreicht hat (in diesem Falle Privateigentum und körperliche Unversehrtheit).5 Beispiele für notwendige Zuwachsgüter sind Selbstachtung, Wohlstand und Bildung (ebd.). Wie lässt sich nun der Anspruch auf diese Güter, allgemein auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ begründen? Gewirth bedient sich zu diesem Zweck der ‚dialektisch notwendigen Methode‘. Er geht von der Frage aus, was jeder Handelnde in Bezug auf das Handeln für sich notwendigerweise anerkennen muss. Dabei ist der Standpunkt des Handelnden entscheidend. Die Frage muss also lauten: Welche Güter muss ich als notwendig für meine Handlungsfähigkeit anerkennen? Die Antwort liefern dialektisch notwendige Urteile, die von assertorischen Urteilen zu unterscheiden sind. Ein assertorisches Urteil ist z.B. „X is good“ (Gewirth 1978, 44). Dieses Urteil ist ein wertendes Urteil über X, welches als ‚gut‘ ausgewiesen wird. Ein dialektisches Urteil hat dagegen die Form „X is good from the standpoint of some person“ (ebd.). Dieses Urteil richtet sich auf die Bewertung von X durch die urteilende Person, sagt also mehr über die Person aus als über X. Ein dialektisch notwendiges Urteil schließlich ist ein solches, welches jeder Handelnde bei Gefahr des Selbstwiderspruchs anzuerkennen gezwungen ist (ebd.). Gewirth zeigt, dass jeder Handelnde „logisch genötigt“ (Steigleder, im Erscheinen, 182) ist, eine Sequenz dialektisch notwendiger Urteile anzuerkennen, an deren Ende das oberste Moralprinzip steht. In der Kurzform der Sequenz (Gewirth 1986) setzt Gewirth mit folgendem Urteil ein: „(1) ‚I must have freedom and well-being‘“ (ebd., 174).6 Diese Güter 5 Nichtverminderungs- und Zuwachsgüter sind Güter zweiter Ordnung, weil beispielsweise die Voraussetzung für die Forderung, nicht beraubt zu werden, ist, dass man über einen Eigentumsanspruch auf einen bestimmten Gegenstand verfügt. Ich danke Klaus Steigleder für hilfreiche Hinweise. 6 In der ausführlicheren Sequenz sind dem noch zwei Urteile vorangestellt. Zunächst muss jeder Handelnde die Zielgerichtetheit seines Handelns anerkennen. Daher folgt: „‚I do X for end or purpose E‘“ (Gewirth 1996, 17). Dieses Handlungsziel E muss der Handelnde als ‚gut‘ anerkennen, weil er offensichtlich für sich festgelegt hat, dass die Verfolgung dieses Ziels einen positiven Wert hat (der jedoch noch nicht moralisch sein muss, [ebd.]). Daher folgt:
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
wurden oben als notwendige Voraussetzungen des Handelns beschrieben. Weil jeder Handelnde seine Handlungsfähigkeit wollen muss, ist er gezwungen, (1) anzuerkennen. Hierin zeigt sich die evaluative Struktur des Handelns (Gewirth 1978, 48). Weil jeder Handelnde Freiheit und ‚Wohlergehen‘ benötigt, erkennt er an, dass Freiheit und ‚Wohlergehen‘ gut sind, weil sie die Voraussetzungen seiner Handlungsfähigkeit sind.7 Da dieses Urteil aus Sicht des Handelnden einen begründeten Anspruch darstellt, folgt, dass er sich das Recht auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ als einen Sollensanspruch zuspricht: „(2) ‚I have rights to freedom and well-being‘“ (Gewirth 1986, 174). Hierin zeigt sich die deontische Struktur (Steigleder 1999, 35) des Handelns: Weil er (1) anerkennen muss, muss jeder Handelnde auch das Urteil anerkennen, dass er Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ hat. Denn sollte er (2) ablehnen, müsste er auch (3) ablehnen: „(3) ‚All other persons ought at least to refrain from removing or interfering with my freedom and well-being‘“ (Gewirth 1986, 174). Wenn er (3) ablehnt, muss er (4) akzeptieren: „‚Other persons may (i.e., It is permissible that other persons) remove or interfere with my freedom and well-being‘“ (ebd.). Durch die Akzeptanz von (4) ist er gezwungen, (5) zu akzeptieren: „‚I may not (i.e., It is permiss ible that I not) have freedom and well-being‘“ (ebd.). (5) steht offensichtlich in Widerspruch zu Urteil (1), welches jeder Handelnde anzuerkennen genötigt ist. Also kann man (2) nicht ablehnen, wenn man (1) anerkennt, womit gezeigt ist, dass (1) auch die Anerkennung von (2) notwendig macht. Gewirth nennt die in (2) genannten Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ konstitutive Rechte, weil sie den konstitutiven Merkmalen des erfolgreichen Handelns entsprechen (Gewirth 1978, 64). Da jeder Handelnde für sich anerkennen muss, dass er diese konstitutiven Rechte als Handelnder hat, ist er logisch genötigt zu akzeptieren, dass alle anderen Handelnden dieselben Rechte haben. Diese Schlussfolgerung leitet sich aus dem Prinzip der Universalisierbarkeit ab:
„‚E is good‘“ (ebd.). Ich setze diese Anerkenntnis der notwendigen Zielgerichtetheit und die positive Wertschätzung der eigenen Zielsetzungen voraus. Da es mir lediglich um die Darlegung eines Arguments für Menschenrechte zum Zwecke der Begründung von Arbeitnehmerrechten geht, nutze ich aus Gründen der Knappheit die Kurzform der Begründungssequenz. 7 In dieser evaluativen Struktur des Handelns erkennt Gewirth zudem die besondere Würde des Menschen. Dabei stehen die Fähigkeit, Ziele zu setzen und die Selbstattribution von Würde durch den Handelnden in einem Wechselverhältnis. Der Handelnde ist selbst Quelle seiner Zielsetzungen und derjenige, der seinen eigenen Handlungszielen Wert zuspricht. „Because he is this locus and source, the worth he attributes to his ends pertains a fortiori to himself. They are his ends, and they are worth attaining because he is worth sustaining and fulfilling“ (Gewirth 1982, 29). Der Handelnde schreibt sich selbst Würde zu als eine „person who has dignity or worth by virtue of his agency“ (ebd.). Diese auf Handlungsfähigkeit beruhende Würde bildet die Grundlage der herzuleitenden Rechte und bedingt die „letztliche[…] Unverrechenbarkeit“ (Steigleder 1993, 111) des Einzelnen, welche zu berücksichtigen jeder zielgerichtet Handelnde gezwungen ist.
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[I]f some predicate P belongs to some subject S because S has a certain quality Q […] then P logically must belong to all other subjects S1 to Sn that also have the quality Q. Thus, if any agent holds that he has the generic rights because he is a prospective purposive agent, then he also logically must hold that every prospective purposive agent has the generic rights. (Gewirth 1986, 174 f.)8
Wenn ein Handelnder anerkennt, dass er die genannten konstitutiven Rechte hat, fällt er folgendes Urteil: „(6) ‚I have rights to freedom and well-being because I am a prospective purposive agent‘“ (ebd., 175). Er akzeptiert, dass er diese Rechte hat, weil er ein zweckgerichteter, vorausschauend Handelnder ist. Da diese Eigenschaft auf alle Menschen zutrifft, kann es keine restringierenden Merkmale geben, die dieses Recht auf bestimmte Personen begrenzen würden. Vielmehr ist jeder Handelnde genötigt zu akzeptieren, dass, wenn er sich solche Rechte zuspricht, er sie auch allen anderen Handelnden zusprechen muss. Daher folgt: „(7) ‚All prospective purposive agents have rights to freedom and well-being‘“ (ebd.). Dieses Urteil begrenzt den zulässigen Handlungsspielraum. Wenn alle Handelnden das Recht auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ haben, sind alle gehalten, diese Rechte gegenseitig zu respektieren. Jeder Handelnde ist daher logisch genötigt, Folgendes zu akzeptieren: „(8) Act in accord with the generic rights of your recipients as well as of yourself “ (ebd.). Dieses Prinzip nennt Gewirth das „Principle of Generic Consistency“9 (ebd.), weil es sowohl die Anforderung der logischen Konsistenz erfüllt und zugleich die inhaltlichen Eigenschaften der konstitutiven Merkmale des Handelns und der hieraus erwachsenden Rechte benennt (ebd.). Diese Rechte sind nun als Menschenrechte ausgewiesen, weil sie allen Menschen zukommen. Bisher sind die beiden grundlegenden Menschenrechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ allerdings lediglich als negative Rechte bestimmt, die entsprechende Unterlassungspflichten bedingen, was durch (3) deutlich wird. Lassen sich in ähnlicher Weise positive Rechte begründen, welche Pflichten der Hilfeleistung generieren? Ein positives Recht auf Freiheit würde die Pflicht begründen, anderen zu helfen, die notwendigen Voraussetzungen für die Gewährleistung des Rechts auf Freiheit zu schaffen und nicht nur davon abzusehen, diese einzuschränken (Gewirth 1996, 36). Ein positives Recht auf ‚Wohlergehen‘ würde die positive Pflicht generieren, andere bei der Sicherung der Elementargüter, der notwendigen Nichtverminderungsgüter und der notwendigen Zu8 Der Begriff ‚prospective‘ soll die Zukunftgerichtetheit des Handelns und der verschiedenen Zwecksetzungen zum Ausdruck bringen. Die konstitutiven Rechte kommen Handelnden nicht nur bezüglich ihrer gegenwärtigen Handlungen und Ziele zu, sondern auch bezüglich ihrer zukünftigen Handlungen: „A prospective agent is so called not only from his prospects, which at some points may be meager, but also from his prospecting – his occurently or dispositionally looking ahead in some way to acting for purposes he regards as good“ (Gewirth 1978, 112). 9 Im Folgenden wird das ‚Principle of Generic Consistency‘ wie bei Gewirth als ‚PGC‘ abgekürzt.
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wachsgüter zu unterstützen, wenn sie dies nicht aus eigener Kraft vermögen (ebd.). Um zu zeigen, dass es solche positiven Pflichten tatsächlich gibt, verfährt Gewirth genauso wie bei der Begründung negativer Rechte und Pflichten, indem er eine Sequenz dialektisch notwendiger Urteile beschreibt. Das erste Urteil lautet entsprechend (1) für negative Rechte (1a)10: „I must have freedom and well-being“ (Gewirth 1996, 39). Hieraus folgt (2a): „I have positive rights to freedom and well-being“ (ebd.). Aus diesem positiven Recht folgt die Hilfspflicht anderer, mir bei der Erreichung von (2a) zu helfen, wenn ich hierzu nicht selbst in der Lage bin. Ein Handelnder, welcher (2a) ablehnt, muss auch (3a) ablehnen: „Other persons ought to help me to have freedom and well-being when I cannot have them by my own efforts“ (ebd.). Wer (3a) ablehnt, muss (4a) akzeptieren: „Other persons may (i.e., It is permissible that other persons) refrain from helping me to have freedom and well-being when I cannot have them by my own efforts“ (ebd., 39 f.). Folglich muss auch (5a) abgelehnt werden: „I may not have (i.e., It it permissible that I not) have freedom and well-being“ (ebd., 40). Da jeder Handelnde (1a) akzeptieren muss, kann er (5a) nicht akzeptieren. Da (5a) aus der Ablehnung von (2a) folgt, muss er auch (2a) akzeptieren. Daher ist jeder Handelnde genötigt, für sich positive Rechte anzuerkennen. Aufgrund des Universalisierungsgrundsatzes folgt auch, dass jeder Handelnde die Pflicht hat, anderen dabei zu helfen, Freiheit und ‚Wohlergehen‘ zu erlangen, wenn diese dazu nicht selbst in der Lage sind und wenn der Adressat in der Lage ist, seinen Pflichten ohne vergleichbare Kosten für sich selbst nachzukommen (ebd.). ‚Nicht selbst in der Lage sein‘, ein bestimmtes Level an Freiheit und ‚Wohlergehen‘ zu erreichen, kann hierbei Verschiedenes bedeuten. Gewirth fragt sich daher, ob eine solche Hilfspflicht nicht zu einer zu großen Belastung für Einzelne wird, gerade angesichts der Weltarmut, die jedem Einzelnen die unerfüllte Pflicht zur Hilfeleistung vor Augen führt. Gewirth entgegnet diesem Einwand, indem er darauf hinweist, dass die Verantwortung für die Erfüllung solcher Hilfspflichten in erster Linie staatlichen Institutionen zukommt (Gewirth 1996, 55), weil diese die entsprechenden Ressourcen aufbringen können: [T]he […] primary status of governments as respondents of the positive human rights must be seen to rest on their being representatives of the individuals who are […] the ultimate respondents of the rights. There is no contradiction […] between rights‘ being universal human rights and their implementation being left largely to the governments of the particular countries in which affected persons and groups reside. This is because ‚ought‘ implies ‚can‘; more specifically, implementation of the rights requires respondents who can effectively secure them; and these are usually governments rather than private individuals. (Gewirth 1996, 55 f.)
10 Da die Begründungssequenzen in Gewirth (1986) und (1996) unterschiedlich nummeriert sind, weiche ich hier aus Konsistenzgründen von der Nummerierung in Gewirth (1996, 39 f.) ab.
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‚Sollen impliziert können‘ bedeutet hier, dass nur staatliche Institutionen in der Lage sind, die Gewährleistung der positiven Rechte zu sichern. Wie Gewirth deutlich macht, besteht kein Widerspruch zwischen der universellen Geltung von Menschenrechten und Menschenrechtspflichten und der Implementation derselben durch staatliche Institutionen, insofern diese als Repräsentanten der Individuen fungieren, welche die eigentlichen Adressaten der Hilfspflichten sind. Im Folgenden ist nun zu klären, in welchem Verhältnis Menschenrechte und Bürgerrechten stehen. 6.1.2 Bürgerrechte Ich habe oben davon gesprochen, dass Arbeitnehmerrechte solche Rechte sind, die Arbeitnehmern aufgrund ihrer Funktion in Unternehmen und als Mitglieder eines Gemeinwesens zukommen. Ich muss daher zunächst ausführen, in welchem Zusammenhang obige Menschenrechte mit Bürgerrechten stehen und welche Pflichten Bürgerrechte generieren. Auch hierin werde ich Gewirth folgen. Als Bürger eines Staates kommen Individuen Gewirth zufolge nicht nur klassische Bürgerrechte wie das Recht auf Redefreiheit, das Recht auf politische Partizipation, das Recht, von willkürlicher Haft verschont zu bleiben und das Recht auf Freizügigkeit zu, sondern auch Rechte zur Bereitstellung bestimmter ökonomischer und sozialer Güter. Hierunter lassen sich Rechte auf soziale Absicherung, ausreichend Nahrung, Gesundheitsversorgung, Arbeitslosenhilfe und das Recht auf Bildung subsumieren (Gewirth 1987, 126 ff.). Diese Rechte sind laut Gewirth essentiell für die Möglichkeit der vollständigen Handlungsfähigkeit von Individuen: [T]o be a fully human agent requires not only possession of economic and social goods, but the various political and civil rights and liberties that are indispensable for human security and dignity. This is why human rights include civil rights and why both of these include social and economic rights as well as, more specifically, political rights. (Ebd., 128)
Gewirth geht davon aus, dass Bürgerrechte als indirekte Anwendungen des PGC zu behandeln und durch dieses gerechtfertigt sind. Bürgerrechte sind in dieser Lesart Menschenrechte, weil zu einem Dasein eines „fully human agent“ nicht nur die Berücksichtigung der grundlegenden Menschenrechte gehört, sondern auch das Leben in einer politischen Gemeinschaft, welches durch die Bürgerrechte geregelt wird. Die Forderungen, die sich auf nationalstaatlicher Ebene aus dem PGC ergeben, richten sich in erster Linie an staatliche Institutionen (Gewirth 1978, 272 f.). Ihre Regeln sind als indirekte Anwendungen des Prinzips zu verstehen, insofern als staatliche Institutionen (ebd., 281) als moralisch gerechtfertigt gelten, wenn gezeigt werden kann, dass sie für die Erfüllung des PGC notwendig sind:
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[T]he generic rights of individuals supply the ground for the authority of institutions to set morally justified rules and obligations. The freedom and the well-being components of the PGC’s requirement that agents respect the generic rights of their recipients serve, when suitably qualified, to provide the moral justifications of social rules. (Gewirth 1978, 281)
Das PGC liefert Kriterien, um den Staat als solchen sowie die Befolgung nationaler Gesetze zu rechtfertigen, weil er die konstitutiven Rechte von Individuen schützt (Gewirth 1987, 135). Es lassen sich auf der Grundlage des PGC drei Komponenten von Staatlichkeit rechtfertigen. Zunächst ist der Minimalstaat gerechtfertigt, welcher das Strafrecht einführt und dessen Durchsetzung garantiert, weil er die Rechte der Bürger auf grundlegende Voraussetzungen des ‚Wohlergehens‘ schützt, wie den Schutz des Lebens, der individuellen (negativen) Freiheit und der physischen Unversehrtheit (ebd.). Das PGC, genauer das Recht auf Freiheit rechtfertigt den demokratischen Verfassungsstaat, weil in ihm die politischen Repräsentanten durch ein System der gleichen politischen Freiheiten gewählt werden (ebd., 136). Das PGC rechtfertigt zuletzt den Sozialstaat, weil dieser der positiven Pflicht auf Hilfeleistung nachkommt, indem er denjenigen, die dazu selbst nicht in der Lage sind, Unterstützung hinsichtlich bestimmter elementarer Voraussetzungen des ‚Wohlergehens‘ wie der Sicherung der Elementargüter zukommen lässt (ebd.). Bisher habe ich dargelegt, welche Bürgerrechte aus dem PGC abgeleitet werden können, mich jedoch noch nicht ausreichend zu ihrem Status geäußert. Lassen sich Bürgerrechte als Menschenrechte einstufen? Wie James Griffin deutlich macht, sind Menschenrechte Ansprüche von allen Menschen an alle anderen Menschen (Griffin 2008, 177). Bürgerrechte sind jedoch Rechte, die Individuen nur dann zukommen, wenn sie Mitglieder eines Gemeinwesens sind. Wie können sie dann als Menschenrechte ausgewiesen werden? Mit Gewirth lässt sich sagen, dass der Staat gerechtfertigt und notwendig ist, um den effektiven Schutz der konstitutiven Menschenrechte zu gewährleisten. Daher sind Bürgerrechte als abgeleitete Menschenrechte zu begreifen, deren Befolgung zwar nur gegenüber dem eigenen Staat eingefordert werden kann und diesen voraussetzt, die aber dennoch universell sind insofern als diese Rechte allen Menschen als Bürgern11 zukommen. Sie sind als abgeleitete Menschenrechte (Wellman 2011, 66) bestimmt, insofern sie den Schutz der konstitutiven Menschenrechte sichern: „The main justification of the state […] is […] that it serves to secure persons‘ rights to both freedom and well-being“ (Gewirth 1996, 60).
11 Ich kann hier nicht auf die Diskussion darüber eingehen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um Bewohnern eines Staatsgebiets den Status eines ‚Bürgers‘ zuzusprechen, mit entsprechenden Privilegien wie dem Wahlrecht. Ich gehe davon aus, dass allen Menschen, die dauerhaft (in Deutschland bedeutet dies bei derzeit geltendem Recht beispielsweise mindestens acht Jahre) auf einem Staatsgebiet leben, der Bürgerstatus verliehen werden sollte.
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Ich habe zudem mit Gewirth dargelegt, dass die Pflichten, welche Bürgerrechte generieren, vor allem staatlichen Institutionen obliegen. Gewirth zeigt jedoch auf, inwiefern letztlich die Bürger selbst Adressaten der entsprechenden Pflichten sind: [P]olitical institutions are morally justified insofar as they are instrumental to the protection of the rights of individual persons […] By virtue of this instrumentality, persons have political and civil rights against governments. But that governments are .. the respondents of the rights derives […] from the requirement that governments must enable individual persons both to effectively enjoy the rights and to be the respondents of the correlative duties. Insofar as individuals are in this way the beneficiaries of government, they have the duty to support its morally justified institutions […] Thus individuals are at least indirectly the respondents of such political rights. (Gewirth 1996, 64 f.)
Da der Staat also bei der Sicherung der Bürgerrechte als Treuhänder für seine Bürger handelt, erwächst auf Seiten der Bürger die Pflicht, die moralisch gerechtfertigten Institutionen des Staates aufrechtzuerhalten. Insofern besteht eine Reziprozität von Rechten und Pflichten zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Bürgerrechte sind hiermit als abgeleitete Menschenrechte bestimmt, welche notwendig sind für den effektiven Schutz der Menschenrechte. Ich werde nun darlegen, inwiefern Bürgern als Arbeitnehmern besondere Rechte zukommen, die instrumentell gerechtfertigt sind aufgrund ihrer essentiellen Funktion beim Schutz der grundlegenden Menschenrechte. 6.1.3 Arbeitnehmerrechte Ich möchte im Folgenden die These verteidigen, dass Arbeitnehmerrechte als dispositionell-konditionale, abgeleitete positive Rechte betrachtet werden sollten, die instrumentell gerechtfertigt sind aufgrund ihrer Bedeutung für konstitutive Menschenrechte. Ich werde zunächst klären, ob es überhaupt Arbeitnehmerrechte geben kann und mich anschließend mit den möglichen Inhalten eines solchen Rechtsanspruchs beschäftigen. Arbeitnehmerrechte sind dispositionelle Rechte, weil sie, wenngleich nicht durchgehend von allen Menschen zu jedem Zeitpunkt in Anspruch genommen, universelle Geltung haben. Dies bedeutet, dass wenn eine Person Hilfe benötigt bei der Gewährleistung solcher Rechte, entsprechende Pflichten auf Adressatenseite entstehen. Die Adressaten dieser Rechte sind wie bei den Bürgerrechten in erster Linie staatliche Institutionen, die Maßnahmen treffen müssen, um die entsprechenden Rechte im Arbeitsleben zu schützen. Ich entnehme den Begriff ‚dispositionell‘ Gewirths Analyse der Universalisierbarkeit von positiven Rechten:
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The universality of a positive right is not a matter of everyone’s actually having the related need, nor is it a matter of everyone’s actually fulfilling the correlative duty, let alone of her doing so at all times. It is […] a matter of everyone’s always having […] the right to be treated in the appropriate way when he has the need […] In this way, the universality of the positive human rights is dispositional even if not always occurent; or, to put it in a related way, even if the rights are not always universally exercised, they are always universally had. (Gewirth 1996, 64 f., meine Hervorhebung)
Positive Rechte sind dispositionell insofern als sie zwar jedem zustehen, aber die korrespondierenden Pflichten nur bestehen, wenn jemand tatsächlich Hilfe benötigt und Adressaten ohne vergleichbare Kosten helfen können.12 Arbeitnehmerrechte sind darüber hinaus als konditionale Rechte definiert, weil sie bestimmte gesellschaftliche Bedingungen für ihre Anwendung voraussetzen. Dies lässt sich deutlich machen mithilfe von Wellmanns Diskussion des in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Artikel 25.1 postulierten Rechts auf soziale Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung oder anderen Umständen, welche den selbstständigen Erwerb des Lebensunterhalts unmöglich machen. Dieses Recht kommt nur unter der Bedingung zum Tragen, dass die Rechtsträger von einer der besagten Einschränkungen betroffen sind: [I]t is a universal conditional right, a right that everyone possesses but that becomes ap plicable only under special circumstances. Now this and other moral human rights that presuppose the circumstances of modern societies are derived moral human rights. Because their derivation presupposes special conditions, they are conditional rights. And because 12 Hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass ich von Gewirth abweiche, indem ich von Arbeitnehmerrechten als dispositionellen Rechten spreche, welche nur Menschen in Beschäftigung zukommen. Gewirth hat in The Community of Rights ein allgemeines Recht auf Arbeit zu begründen versucht, was ich jedoch für strittig halte. Dieses Recht beinhaltet das Recht jedes Bürgers zur Befähigung, eigenständig durch produktive Arbeit den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Als negatives Recht beinhaltet es die Pflicht aller, nicht Einzelne aufgrund bestimmter Merkmale wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Geschlecht von der Möglichkeit zu arbeiten abzuhalten (Gewirth 1996, 217). Ein solches negatives Recht findet in Form von Anti-Diskriminierungsklauseln mittlerweile Eingang in arbeitsrechtliche Bestimmungen und dürfte relativ unstrittig sein. Das Recht auf Arbeit ist bei Gewirth jedoch auch positiv definiert, insofern als dem Staat die Pflicht zukommt, dieses Recht zu gewährleisten (ebd., 214 f.) und gegebenenfalls Bedingungen zu schaffen, um Arbeit bereitzustellen (ebd., 219). Das positive Recht auf Arbeit diene dem Schutz vor der Bedrohung, die Arbeitslosigkeit für das ‚Wohlergehen‘ darstellt, und sei insofern instrumentell begründet (ebd., 221). Gegen ein positives Recht auf Arbeit ist Folgendes einzuwenden. Die Aufgabe des Staates, Vollbeschäftigung zu garantieren, ist zwar ein sehr wünschenswertes Ziel gerade aufgrund der entwürdigenden Folgen der Arbeitslosigkeit (siehe Kapitel 5.4). Dennoch bedingt die Pflicht, für Vollbeschäftigung zu sorgen, weitreichende staatliche Eingriffe in den Markt, welche unternehmerische Freiheiten sehr stark begrenzen würden und womöglich wohlfahrtsschädigende Wirkungen hätten. Es ließe sich eher darüber diskutieren, ob das Recht auf Bildung in einem starken Sinne so auszulegen ist, dass es die Pflicht staatlicher Institutionen beinhaltet, über Bildungsangebote für die Befähigung der größtmöglichen Zahl von Bürgern zur selbstbestimmten Teilnahme am Arbeitsleben zu sorgen.
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they are derived from basal moral human rights that one possesses simply as a human being, one also possesses them as a human being. Hence, they are universal moral human rights that are applicable only under whatever conditions are presupposed by their derivation. (Wellman 2011, 28 f., meine Hervorhebung)
Das Recht auf soziale Absicherung ist demnach ein konditionales Recht, welches aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Umstände in modernen Gesellschaften zum Tragen kommt, namentlich in den genannten Fällen, welche einen selbstständigen Lohnerwerb unmöglich machen. Arbeitnehmerrechte sind konditionale Rechte, weil sie notwendig werden aufgrund der Bedingungen der industriellen Arbeitsteilung und der Existenz hierarchisch organisierter Unternehmen, in denen Arbeiter als abhängig Beschäftigte angestellt sind. Es sind positive Rechte, die Arbeitnehmer gegenüber ihren Arbeitgebern haben und deren Durchsetzung durch staatliche Institutionen garantiert werden muss, indem sie die arbeitsrechtliche Regulierung von Arbeitsverhältnissen gewährleisten. Die Begründung für diese Delegierung von Pflichten an staatliche Seite ist gerechtfertigt aus demselben Grund, aus dem positive Pflichten zur Gewährleistung der Bürgerrechte vorrangig von staatlicher Seite wahrgenommen werden müssen. Staatliche Institutionen handeln als Treuhänder für ihre Bürger und haben die notwendigen Ressourcen, um den entsprechenden Pflichten nachzukommen. In diesem Falle verfügen staatliche Institutionen über die Möglichkeiten, marktübergreifende Regulierungen durchzusetzen, deren freiwillige individuelle Etablierung durch einzelne Arbeitgeber aufgrund der unter Umständen ruinösen individuellen Kosten nicht einzufordern wäre. Arbeitnehmerrechte lassen sich zudem als instrumentelle Rechte rekonstruieren aufgrund ihrer Bedeutung für die Gewährleistung konstitutiver Menschenrechte. Ein Beispiel: Das Arbeitnehmerrecht auf eine Kündigungsfrist und das Recht, eine Kündigung rechtlich anzufechten, sind instrumentell gerechtfertigt aufgrund ihrer Bedeutung für das ‚Wohlergehen‘ des betroffenen Arbeitnehmers. Ohne solche Rechte wäre der Arbeitnehmer vollständig den Entscheidungen des Arbeitgebers ausgeliefert und sein ‚Wohlergehen‘ wäre permanent bedroht. Arbeitnehmerrechte sind instrumentelle Rechte, jedoch sind sie deswegen nicht als Rechte von untergeordnetem Status anzusehen, wie McCall et al. anmerken: [T]he right to notice before dismissal or the right to contest a pending dismissal may be very important in the life of a worker; these rights might have substantial consequences for employers and society at large as well. Instrumental status for a right is not equivalent to low status. (McCall et al. 2010, 612)
Instrumentelle Rechte sind gerechtfertigt, weil sie eine fundamentale Rolle in der Gewährleistung der sie begründenden, konstitutiven Menschenrechte spielen. In den folgenden Abschnitten wird ausführlich dargelegt, warum Ar-
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beitnehmerrechte als instrumentelle Rechte nicht nur gerechtfertigt, sondern ihre Implementation angesichts der gegebenen Bedingungen der modernen Wirtschaft gesellschaftlich notwendig ist. Hier ging es mir zunächst darum darzulegen, dass Arbeitnehmerrechte aus den konstitutiven Menschenrechten auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ abgeleitet werden können. In Abschnitt 6.2.4 werde ich mich ausschließlich mit dem Arbeitnehmerrecht auf Mitbestimmung beschäftigen. Ich möchte hier in Anlehnung an Werhane mögliche Inhalte einer Unternehmensverfassung13 skizzieren, die Arbeitnehmerrechte umfasst, welche ich aufgrund der vorangegangenen Überlegungen als gerechtfertigt betrachte. – Jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gleiche Berücksichtigung bei der Arbeitsplatzvergabe. Niemand darf aufgrund von Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder ethnischer Herkunft diskriminiert werden (Werhane 1985, 168).14 – Jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf seine Stelle. Dies bedeutet, dass er nach einer definierten Probezeit nur dann entlassen werden darf, wenn er bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt, beispielsweise seine Tätigkeit eindeutig nicht in befriedigender Weise ausüben kann, bei der Arbeit trinkt oder Drogen nimmt, in kriminelle Machenschaften verstrickt ist oder physisch bzw. psychisch nicht weiter in der Lage ist, die Tätigkeit auszuführen (ebd.). Ein weiterer Grund kann sein, dass der Arbeitgeber deutlich machen kann, inwiefern es objektive ökonomische Gründe für eine Kündigung gibt, wie etwa Standortverlagerung, Umsatzeinbußen oder der drohende Bankrott des Unternehmens (ebd.). – Jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf ein substantiell faires bzw. ordnungsgemäßes Verfahren, im Unterschied zu einem nur prozedural fairen Verfahren.15 Diese Unterscheidung besagt Folgendes: Ein prozedural faires Verfahren sieht vor, dass jeder Arbeitnehmer das Recht hat, eine Entscheidung des Arbeitgebers anzufechten, um eine objektive Anhörung und Einschätzung 13 Ich stelle hier nur einige besonders wichtige Rechte dar, welche in der Unternehmensverfassung nach Werhane angeführt sind. Es sollte zudem nicht unerwähnt bleiben, dass Ulrich eine „offene Unternehmensverfassung“ (Ulrich 1993, 427 f.; 2008, 487–493) diskutiert. Er definiert eine solche Verfassung als „ein demokratisch zustande-gekommener, rechtswirksamer Minimalkonsens über die institutionelle Ordnung des Unternehmens und die unentziehbaren Persönlichkeits-, Teilnahme- und Oppositionsrechte aller Betroffenen im unternehmenspolitischen Willensbildungsprozess“ (Ulrich 1993, 428). Er konkretisiert jedoch nicht, welche Arbeitnehmerrechte bei einem solchen ‚Minimalkonsens‘ im Einzelnen berücksichtigt werden müssten, daher bevorzuge ich die Diskussion nach Werhane (1985). 14 Diesen Punkt nennt Ulrich ebenfalls (2008, 491). 15 In der von Werhane 1985 skizzierten Unternehmensverfassung ist lediglich vom „right to due process“ (ebd., 168) die Rede. Werhane hat jedoch zu einem späteren Zeitpunkt die von mir dargestellte Unterscheidung von procedural due process und substantial due process eingebracht (Werhane et al. 2004, 78–83).
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zu erreichen (Werhane et al. 2004, 78 f.). Ein substantiell faires Verfahren besagt, dass Arbeitgeber zudem gute Gründe für Entscheidungen angeben müssen, die Arbeitnehmer unmittelbar betreffen (ebd., 81 f.). Jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz und auf Schutz gegen vermeidbare Arbeitsplatzrisiken (Werhane 1985, 169). Jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf Mitbestimmung: „Every employee has the right to participate in the decision-making process entailed in his or her job, department, or in the corporation as a whole, where appropriate“ (ebd.). Dieses Recht und seine angemessene Reichweite wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Arbeitnehmer haben das Recht, Gewerkschaften zu gründen, um Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern zu führen.16 Dieses Recht lässt sich aus dem grundlegenden Recht, Assoziationen einzugehen, ableiten (Wellman 2011, 48). Die Gründung von Gewerkschaften dient dem Machtausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und gibt letzteren die Möglichkeit „to balance employer economic authority with collective employee strength“ (ebd., 116). Jeder Arbeitnehmer hat das Recht zu streiken, wenn eine der genannten Forderungen nicht erfüllt wird (ebd.).
Diese Arbeitnehmerrechte sind instrumentell gerechtfertigt, weil sie notwendig sind, um das ‚Wohlergehen‘ von Arbeitnehmern zu gewährleisten. Ich werde nun erläutern, inwiefern angesichts der modernen Produktionsweise die Implementation von Arbeitnehmerrechten allgemein und die Stärkung des Mitbestimmungsrechts im Besonderen gerechtfertigte Forderungen darstellen.
6.2 Das Recht auf Mitbestimmung und die Existenz hierarchischer Unternehmensstrukturen Im ersten Teil dieses Kapitels ging es darum, eine Begründungsstrategie aufzuzeigen, welche Arbeitnehmerrechte als wohlbegründete moralische Rechte ausweist. In diesem zweiten Teil liegt der Fokus auf der Frage, warum solche Rechte gesellschaftlich notwendig sind. Ich habe Arbeitnehmerrechte als konditionale Rechte definiert, d.h. sie kommen nur unter bestimmten Bedingungen zum Tragen. Diese sind durch die industrielle Arbeitsteilung und die Existenz von hierarchisch organisierten Unternehmen mit abhängig Beschäftigten erfüllt. Zur Illustration dieser Beobachtung wird zunächst die derzeitige Or16 Dieser Punkt findet sich bei Werhane in den allgemeinen Ausführungen zu Arbeitnehmerrechten (1985, 116 f.), nicht in der Unternehmensverfassung. Das Recht, Gewerkschaften zu gründen, ist m.E. jedoch als unverzichtbarer Teil einer solchen Unternehmensverfassung anzusehen.
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ganisationsstruktur von Unternehmen dargestellt und anschließend hinsichtlich der in ihnen herrschenden Hierarchien und Zwecksetzungen untersucht. Ziel ist es, darzulegen, inwiefern diese Voraussetzungen die Implementation von Arbeitnehmerrechten und insbesondere des Rechts auf Mitbestimmung virulent machen. Warum gab und gibt es derartig intensive Bestrebungen, die Verhandlungsposition von abhängig Beschäftigten zu stärken, die Arbeitsplatzsicherheit zu verbessern oder alternative Organisationsstrukturen für Unternehmen zu implementieren? Offensichtlich existiert ein weithin geteiltes Unbehagen ob der ungleichen Machtverteilung in hierarchisch organisierten Unternehmen und der hieraus resultierenden Abhängigkeit der Arbeitnehmer. Ich folge in meinem Befund Walzer, der davon ausgeht, dass die derzeitigen Ungleichheiten sich „sehr viel stärker von Statushierarchien, Organisationsstrukturen und Machtbeziehungen her[leiten, P.S.] als vom freien Markt“ (Walzer 1992, 179). Arbeitnehmerrechte sind notwendig, weil sie Schutzrechte definieren, die Verhandlungsposition von abhängig Beschäftigten stärken und so für ein level playing field zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sorgen. Von einem libertären Standpunkt ließe sich nun argumentieren, dass in einem wettbewerbsorientierten Arbeitsmarkt die Implementation solcher Rechte überflüssig ist und zudem mit dem Recht der Arbeitnehmer, freie Verträge einzugehen, konfligiert (Maitland 1989, 951). Arbeitnehmerrechte definieren Mindestbestimmungen von Arbeitsverhältnissen, die manche Arbeitnehmer allzu gern umgehen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Beispielsweise könnte ein Arbeitnehmer bei entsprechend höherer Entlohnung bereit sein, eine Tätigkeit mit erheblichen Gesundheitsrisiken einzugehen. Wir würden solche Arbeitsverträge womöglich nicht eingehen wollen, „but if we are to respect the worker’s autonomy, then his preferences must be decisive“ (ebd., 954). Arbeitnehmerrechte könnten zudem schädliche Folgen für die allgemeine Entwicklung des Arbeitsmarktes haben, indem z.B. aufgrund von gesetzlichen Kündigungsfristen Arbeitgeber davor zurückschreckten, neue Firmenstandorte zu eröffnen. In diesem Fall könnten Arbeiter keine Arbeitnehmerrechte wahrnehmen, weil es keine Arbeit mehr gäbe, so Maitland (ebd., 953). Maitland ist in einer Hinsicht zuzustimmen. Arbeitnehmerrechte stellen tatsächlich eine Begrenzung des Rechts auf Vertragsfreiheit dar. Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden gezwungen, konkrete Bestimmungen zu den möglichen Inhalten und Konditionen von Arbeitsverträgen zu berücksichtigen. Maitland scheint jedoch der Auffassung zu sein, das Recht auf Vertragsfreiheit sei so auszulegen, dass keinerlei Beschränkungen zulässig sind und Arbeitnehmer Arbeitsverhältnisse zu jeglichen Konditionen eingehen dürfen. Mit Ronald H. Coase muss entgegnet werden, dass Unternehmer und Arbeitnehmer Arbeitsverträge eingehen, in denen der Arbeitnehmer einwilligt, die Direktiven des Unternehmers „within certain limits“ (Coase 1937, 391) zu befolgen. Wenn Ar-
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beitgebern hingegen keinerlei Grenzen hinsichtlich der möglichen Verwendung des Arbeitnehmers gesetzt würden, wäre dies mit freiwilliger Sklaverei gleichzusetzen (ebd., Anm. 2). Die Behauptung, jegliche Arbeitnehmerrechte würden mit dem Recht auf Vertragsfreiheit kollidieren, ist daher zurückzuweisen. Natürlich sagt dies noch nichts über den Inhalt von Arbeitnehmerrechten aus. Diese müssen eigenständig begründet werden. Jedoch sollte hiermit das Argument, das Recht auf Vertragsfreiheit würde etwaige Arbeitnehmerrechte ‚übertrumpfen‘, entkräftet werden.17 Maitland führt als weiteres Argument gegen Arbeitnehmerrechte an, dass diese womöglich die Anreize für Unternehmer schmälern könnten, Produktionsstätten in Staaten zu unterhalten, wo entsprechende Gesetze gelten. Beispielsweise könnten Unternehmen, wenn Deutschland unilateral strengere Arbeitsschutzbestimmungen einführen würde, einen starken Anreiz haben, in andere Länder abzuwandern. Manche Unternehmen könnten zudem in Länder abwandern, in denen keinerlei Beschränkungen herrschen. Dies macht jedoch nur die Notwendigkeit übergreifender, letztlich international geltender Bestimmungen über Arbeitnehmerrechte deutlich und nicht, dass die Forderung nach Arbeitnehmerrechten irrelevant oder grundsätzlich schädlich wäre. Am Problem der Ausweichtendenzen lässt sich jedoch ein Normenkonflikt aufzeigen, der für die weiteren Überlegungen bedeutsam ist. Unternehmen können die Anforderung des effizienten und gewinnorientierten Wirtschaftens nicht ignorieren. Daher kann es sich für Unternehmen lohnen, in Länder mit weniger strikten Arbeitsbestimmungen abzuwandern und Effizienzsteigerungen auf Kosten von Arbeitnehmern zu erzielen. Die Diskussion von Arbeitnehmerrechten darf diesen Umstand nicht ignorieren. Wenn Reformen des Arbeitsrechts zu extremen Effizienzeinbußen und mithin dazu führen, dass alle Betroffenen deutlich schlechter gestellt werden, dann kann dies die Analyse der Rechtmäßigkeit- und Sinnhaftigkeit der Implementation von Arbeitnehmerrechten nicht unberührt lassen. Es ist dennoch mit Ulrich die Frage zu stellen: „‚[E]ffizient für wen konkret?‘“ (Ulrich 2008, 132). Diese stellt sich immer dann, wenn Effizienzsteigerungen auf Kosten von Arbeitnehmern erreicht werden und der Effizienzgedanke vollkommen losgelöst vom „Gesichtspunkt der Gerechtigkeit“ (ebd.) behandelt wird. Hier bedarf es eines Ausgleichs zwischen Gleichheits- und Effizienzerwägungen, d.h. letztere müssen gegenüber Gerechtigkeitserwägungen gerechtfertigt werden und vice versa, wobei womöglich die Opportunitätskosten einer entgangenen Effizienzsteigerung zugunsten von mehr Gleichheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Kauf zu nehmen sind. Effizienzerwägungen spielen in wirtschaftlichen Entscheidungen eine große Rolle, weil alle Marktteilnehmer ein Einkommensinteresse haben. Solche Erwägungen können jedoch nicht absoluten Vorrang vor 17
Zum Recht auf Vertragsfreiheit siehe Kapitel 4.2 und 4.3.
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Fairnessaspekten einnehmen. Arbeitnehmerrechte sind gerechtfertigt, weil sie im Wirtschaftsleben Schutz vor ausbeuterischen, willkürlichen und fremdbestimmten Arbeitsverhältnissen bieten. Sie sind essentiell für das ‚Wohlergehen‘ der Arbeitnehmer und auch gegen Argumente anzuführen, die auf etwaige Effi zienzeinbußen oder das Recht auf Vertragsfreiheit zielen. Im Folgenden wird zu analysieren sein, inwiefern die derzeitigen Unternehmensstrukturen das Potential für fremdbestimmte Arbeitsverhältnisse mit sich bringen. Dazu muss zunächst dargelegt werden, wie Unternehmen organisiert sind, warum sie als Organisationsform existieren und was die dominanten Theorien über Sinn und Zweck von Unternehmen sind. Zuvor sind noch einige erklärende Bemerkungen zur Rechtsform derjenigen Unternehmen zu machen, welche ich im Blick habe. Wenn ich von ‚Unternehmen‘ spreche, so umfasst dies eine Vielzahl von Rechtsformen. Ich beschränke mich auf die Diskussion von zwei Rechtsformen, die der Aktiengesellschaft (AG) und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Es sind die Rechtsformen, welche vor allem für Großunternehmen und mittelständische Unternehmen lohnenswert sind und bei denen sich die Schwierigkeiten hierarchischer Organisation herausstellen lassen. Mittlere und größere Unternehmen fungieren als Arbeitgeber für den Großteil der Arbeitnehmerschaft. In den USA beschäftigten 2001 nur 1,8 Prozent aller gelisteten Firmen mehr als 100 Arbeitnehmer. Bei diesen Firmen waren allerdings 64 Prozent aller amerikanischen Arbeitnehmer angestellt (Goodwin et al. 2005, 372). Die ‚beschränkte Haftung‘ von AGs und GmbHs bezieht sich auf die persönliche Haftbarkeit der Eigentümer, die das Stammkapital der Firma bereitstellen. Schuldner können nur Forderungen auf das Gesellschaftskapital geltend machen, die persönliche Haftung der Gesellschafter ist ausgeschlossen (Gräber-Seißinger 2004a, 238).18 In GmbHs wird ein Geschäftsführer durch die Gesellschafterversammlung gewählt. Der Geschäftsführer führt das operative Geschäft, ist aber an die „Weisungen der Gesellschafterversammlung“ gebunden (ebd., 239). Das Stimmrecht in der Versammlung bemisst sich nach den jeweiligen Stammkapitaleinlagen (ebd.). Grundsätzlich gilt, dass die Gesellschafter einen rechtlichen Anspruch auf Gewinnabschöpfung haben.19 In GmbHs mit über 500 Angestellten ist in Deutschland zudem ein Aufsichtsrat zu bilden, in dem die Arbeitnehmer ein Mitbestimmungsrecht haben und der daher zu einem Drittel aus Arbeitnehmern besteht.20 Bei Unternehmen mit über 2000 Arbeitnehmern sind diese Aufsichtsräte zu gleichen Teilen mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zu besetzen.21 18
Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, § 13, Abs. (2). Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, § 29, Abs. (1). 20 Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat § 4, Abs. (1). 21 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, § 7. 19
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Aktiengesellschaften unterliegen ebenfalls dem Prinzip der beschränkten Haftung, eine persönliche Haftung der Aktieneigner ist ausgeschlossen (Gräber-Seißinger 2004b, 23). Aktiengesellschaften werden in Deutschland von den Aktieneignern geführt nach dem Prinzip ‚eine Aktie, eine Stimme‘. Sofern in der Satzung der Aktiengesellschaft keine entsprechende Einschränkung angefügt wird, gilt, dass Aktionäre einen rechtlichen Anspruch auf den Gewinn haben. 22 Die Aktieneigner wählen in einer jährlichen Hauptversammlung einen Aufsichtsrat, dessen Hauptaufgabe in der Benennung, Überwachung und ggf. Abberufung des Vorstands besteht (ebd., 28). Der Vorstand muss bei einem Grundkapital von mehr als drei Millionen Euro aus mehreren Mitgliedern bestehen. 23 Der Aufsichtsrat kann ein Vorstandsmitglied zum Vorstandsvorsitzenden ernennen, 24 was in der Regel auch geschieht. Der Vorstandsvorsitzende leitet die Geschäfte des Unternehmens, ist nicht an Direktiven des Aufsichtsrats oder der Hauptversammlung gebunden (ebd.) und führt das Unternehmen somit „unter eigener Verantwortung“25. Ich habe nun erläutert, wie GmbHs und AGs strukturell organisiert sind. Diese Ausführungen waren notwendig, um zwei im Folgenden entscheidende Punkte darlegen zu können. Erstens haben Gesellschafter bzw. Aktieneigner in GmbHs und AGs aufgrund ihrer Unternehmensanteile einen rechtlichen Anspruch auf Gewinnabschöpfung. Diesen Gewinnanspruch halte ich, wie in Kapitel 5.2.2. deutlich gemacht, aufgrund der notwendigen funktionalen Rolle von Kapitalakkumulation und -investitionen für prosperierende Marktwirtschaften für gerechtfertigt. Die Leitung des Unternehmens übertragen die Gesellschafter bzw. Aktionäre einem Geschäftsführer bzw. Vorstand. Dies bedeutet, dass Eigentum und operative Führung von Unternehmen in mittleren und größeren Unternehmen oftmals getrennt sind. Die Leitung wird an Geschäftsführer bzw. Vorstände übertragen, damit diese im Sinne der Gesellschafter oder Aktieneigner das Unternehmen gewinnbringend führen. Dies bedeutet zweitens, dass Vorständen bzw. Geschäftsführern die Verfügungsgewalt über Produktionsstandorte, die Verwendung der Produktionsmittel sowie die Art und den Umfang der Produktion übertragen wird. Hinzu kommt die Weisungsbefugnis gegenüber Arbeitnehmern, sowie über die Art und Weise ihrer Funktion und Verwendung im Unternehmen (wobei diese oft an unmittelbare Vorgesetzte delegiert wird). Die Arbeitnehmer sind gegenüber dem Arbeitgeber zu Loyalität verpflichtet, d.h. mit Unterschrift des Arbeitsvertrages verpflichten sie sich, bestimmten Aufgaben im Sinne des Arbeitsvertrages auszuführen (Werhane 1985, 32) und nicht gegen Unternehmensrichtlinien zu 22
Aktiengesetz, § 58, Abs. (3) und (4). Aktiengesetz, § 76. 24 Aktiengesetz, § 84. 25 Aktiengesetz, § 78, Abs. (1). 23
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verstoßen. Die Weisungsbefugnis der Manager des Unternehmens leitet sich aus ihrer Funktion als Treuhänder der Gesellschafter oder Aktionäre ab. Aus dieser Struktur erwachsen in Unternehmen spezifische Formen der hierarchischen Autorität. Die entscheidende Frage in Abschnitt 6.2.4 wird sein, inwiefern sich diese Autorität rechtfertigen lässt. Im Folgenden werde ich zunächst skizzieren, was der entscheidende Grund für die Existenz von Unter nehmen in Marktwirtschaften ist. 6.2.1 Unternehmen und Transaktionskosten In „The Nature of the Firm“ beschreibt Ronald H. Coase zunächst Transaktionen in freien Märkten. Dieses System koordiniere die Allokation von Ressourcen frei von Hierarchien nach Angebot und Nachfrage. Der Preismechanismus bestimmt die Schwankungen von Produktion und Konsumption (Coase 1937, 387). D.h., wenn die Nachfrage nach einem bestimmten Gut zunimmt, steigt der Preis und somit wächst auch der Umfang der Produktion. Der Preismechanismus koordiniert jedoch nur Markttransaktionen außerhalb von Unternehmen. Innerhalb der Unternehmen koordiniert der Unternehmer die Produktion. Coase wirft die Frage auf, warum Unternehmen überhaupt existieren, wenn sich die Allokation und Produktion von Gütern vollständig durch den Preismechanismus steuern lässt und somit jegliche Form der Organisation eigentlich überflüssig ist (ebd., 388). Coases Antwort lautet, dass die Organisation der Produktion durch den Preismechanismus kostenintensiv ist. Die Organisation in Unternehmen senkt diese Transaktionskosten: The most obvious cost of ‚organising‘ production through the price mechanism is that of discovering what the relevant prices are […] The costs of negotiating and concluding a seperate contract for each exchange transaction which takes place on a market must also be taken into account […] It is true that contracts are not eliminated when there is a firm but they are greatly reduced. A factor of production (or the owner thereof) does not have to make a series of contracts with the factors with whom he is co-operating within the firm, as would be necessary […] if this co-operation were as a direct result of the working of the price mechanism. For this series of contracts is substituted one […] The contract is one whereby the factor, for a certain remuneration, agrees to obey the directions of an entrepreneur within certain limits. (Coase 1937, 390 f.)
Hier wird der ursprüngliche Entstehungsgrund von Unternehmen dargelegt. Sie werden allein deshalb gegründet, weil sie Transaktionskosten minimieren: „by forming an organisation and allowing some authority (an ‚entrepreneur‘) to direct the resources, certain marketing costs are saved“ (ebd., 392, meine Hervorhebung). Anstatt für jede einzelne Transaktion einen Vertrag mit einem Partner abzuschließen, wird in Unternehmen ein längerfristiger Vertrag abgeschlossen, in dem nur die grundsätzlichen Bestimmungen der Tätigkeiten aufgeführt sind, welche sich die Arbeitnehmer bereit erklären, gegen eine be-
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stimmte Bezahlung auszuführen. Wie Oliver E. Williamson ausführt, lohnt sich die Organisation in Unternehmen vor allem dann, wenn die Produktion einen hoch spezifischen Charakter annimmt (Williamson 1981, 559). Hiermit ist gemeint, dass zur Produktion mancher Güter hochkomplexe Arbeitsschritte und/ oder spezifisches Wissen und/oder die Koordination verschiedener Produk tionsschritte erforderlich sind (ebd., 555). Diese Organisation in Unternehmen bietet für alle Beteiligten den Vorteil, dass weniger Transaktionskosten anfallen. Der Unternehmer bekommt Produktionsfaktoren zu niedrigeren Kosten (Coase 1937, 392), d.h. er kann längerfristige Lieferverträge abschließen, Produktionsmittel günstiger erstehen und zu günstigeren Konditionen über Arbeitnehmer verfügen, als dies über den Marktmechanismus möglich ist. Die Organisation in Unternehmen dient Arbeitnehmern, indem sie auch deren Informations- und Verhandlungskosten senkt und langfristige Verträge mit regelmäßiger Vergütung ermöglicht. Es ist daher eine Forderung der Effizienz, in wettbewerbsorientierten Märkten reine Markttransaktionen durch die Koordination von Produktion in Unternehmen zu ersetzen, zumindest dort, wo es Kosten senkt. Diese Ausführungen sollten zunächst erläutern, warum Unternehmen entstehen. Darüber hinaus bietet die Theorie der Transaktionskosten auch eine Erklärung für die Existenz von unternehmerischer Autorität sowie der Entstehung hierarchischer Organisation in Unternehmen. Diese Erklärung möchte ich nun in vier Schritten darlegen. Unternehmen entstehen erstens, weil hierdurch Transaktionskosten gesenkt werden. Mit der Gründung von Unternehmen leitet sich zweitens die unternehmerische Autorität ab, über Art und Umfang von Produktion zu bestimmen und den Arbeitnehmern entsprechende Direktiven zu geben. Diese Autorität ist begründet durch den (rechtlich legitimierten) Anspruch des Unternehmers, über die Verwendung des von ihm eingesetzten Kapitals und der zur Verfügung gestellten Produktionsmittel zu verfügen. Drittens braucht es Arbeitnehmer, die bereit sind, sich den Konditionen des angebotenen Vertrages entsprechend zu verhalten. Sie tun dies, weil auch für sie die Anstellung in Unternehmen lohnenswert ist. ‚Lohnenswert‘ meint hier, dass es auch für Arbeitnehmer relative Vorteile gegenüber der freien Transaktion im Markt hat, feste Anstellungen in Unternehmen anzunehmen. Viertens erklärt die Theorie der Transaktionskosten das Entstehen von hierarchischen Unternehmensstrukturen. Diese sind effizienter, weil weniger Entscheidungskosten anfallen und sie somit weniger kostenintensiv sind als alternative Strukturen. In Unternehmen lassen sich Konflikte über die Entscheidungsgewalt des Unternehmers lösen, während bei freien Transaktionen kostspielige Adjunktionen erforderlich sind (Williamson 1981, 559). Ich habe nun die gängigen Annahmen über die Funktion und Organisation von Unternehmen in freien Märkten skizziert. Dies war notwendig, weil ich untersuchen möchte, inwiefern die Autorität von Unternehmern gerechtfertigt
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ist. In Abschnitt 6.2.4 wird diskutiert, inwiefern sich aufgrund des Anspruchs auf Verfügungsgewalt über eingesetztes Kapital ein Anspruch auf die Befugnis ableiten lässt, gegenüber den Arbeitnehmern Direktiven auszugeben. Es wird zu analysieren sein, ob diese Form der Hierarchie auch normativ gerechtfertigt ist. Im Folgenden werde ich jedoch zunächst den shareholder- und den stakeholder-Ansatz darstellen und kritisieren. 6.2.2 Shareholder und stakeholder Ansatz Ich möchte nun darlegen, warum die beiden dominanten Theorien zu Unternehmenszielen und -verantwortung, der shareholder- und der stakeholder-Ansatz, zurückzuweisen sind und daher eine alternative Herangehensweise gefordert ist. Der shareholder-Ansatz besagt, dass Unternehmen dem Zweck dienen, den Gewinn der Eigentümer zu maximieren. Die Aufgabe von Managern besteht darin, dieses Ziel zu realisieren. Durch diese Zielsetzung sei nicht nur den Aktionären, sondern auch der Allgemeinheit am besten gedient. Daher ist die einzige soziale Verantwortung von Unternehmen, Gewinn zu maximieren: Es gibt wenig Entwicklungstendenzen, die so gründlich das Fundament unserer freien Gesellschaft untergraben können, wie die Annahme einer anderen sozialen Verantwortung durch Unternehmer als die, für die Aktionäre ihrer Gesellschaften so viel Gewinn wie möglich zu erwirtschaften. (Friedman 2002, 165)
Unternehmen haben in dieser Lesart nicht nur die Pflicht, sondern sie stehen auch unter dem Zwang, Gewinn zu maximieren, andernfalls wenden sich potentielle Investoren ab (Goodwin et al. 2005, 375). Das Management ist als Agent für einen Prinzipal anzusehen, d.h. es wird von den Eigentümern eingesetzt, um in ihrem Sinne zu handeln (Friedman 2009, 53). Ich werde weiter unten darlegen, inwiefern dies ein legitimes und schützenswertes Interesse der Unternehmenseigner ist. Die sog. principal-agent theory, auf welcher dieser Gedanke beruht, geht davon aus, dass Eigentümer bestimmte (Gewinn-)Interessen haben, die sie nicht allein realisieren können. Daher engagieren sie Agenten, welche bereit sind, für eine bestimmte Entlohnung im Sinne der Eigentümer zu handeln. Hierfür ist es notwendig, dass der Agent sich mit den Zielen des Prinzipals identifiziert und motiviert ist, diese möglichst optimal umzusetzen (Goodwin et al. 2005, 378). Dies gilt sowohl für den Vorstand des Unternehmens (hier sollen vor allem Boni und Unternehmensanteile die Zielerreichung sichern) als auch für normale Arbeitnehmer, welche niedriger in der Unternehmenshierarchie stehen und als Agenten für den Prinzipal Vorstand betrachtet werden (ebd.). Um die Identifikation und Motivation der Arbeitnehmer zu gewährleisten, kann das Management entweder Zwang anwenden, indem es bei Nichterreichung der gesetzten Ziele mit Disziplinarverfahren, Degradierung und Kündigung droht (ebd., 380), oder es kann zu vermitteln versuchen, inwiefern die Arbeitnehmer
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selbst ein Interesse am Unternehmenserfolg haben. Der letztere Ansatz wird als ‚kooperatives Management-Modell‘ (ebd.) bezeichnet. Diese Strategie soll durch die Identifizierung mit den Unternehmenszielen Teamarbeit und Kreativität fördern, welche letztlich unentbehrlich für wirtschaftlichen Erfolg sind. Im Rahmen des shareholder-Ansatzes ist sowohl die Management-Strategie, über Zwang zu motivieren, zulässig, als auch das kooperative Management-Modell. Entscheidend ist, dass die jeweilige Strategie zur Realisierung der Unternehmensziele führt. Ich werde in Abschnitt 6.2.4 die These vertreten, dass eine demokratischere Entscheidungskultur und Mitspracherechte in Unternehmen der Zielsetzung des kooperativen Managements dienlich sind. Hier möchte ich zunächst das zweite einflussreiche Modell für Unternehmensmanagement darstellen, den stakeholder-Ansatz. Die grundlegende Idee des stakeholder-Ansatzes ist, dass Manager die Verantwortung haben, so viel Wert wie möglich für die stakeholder des Unternehmens zu generieren (Freeman 2009, 64). Stakeholder sind nicht nur die Aktionäre, sondern auch Arbeitnehmer, Lieferanten, Kunden und die Gemeinde, in der die Produktionsstätten beheimatet sind (ebd., 56). Daher ist das primäre Ziel auch nicht Gewinnmaximierung im Sinne der Aktionäre, sondern die größtmögliche Wertschöpfung für alle stakeholder (Goodwin et al. 2005, 376). Neben dem legitimen Gewinninteresse der Aktionäre haben auch die Arbeitnehmer bestimmte zu berücksichtigende Interessen, namentlich auf einen sicheren Arbeitsplatz, adäquate Entlohnung und ‚erfüllende‘ Arbeit (Freeman 2009, 62). Ähnliches gilt für weitere oben genannte stakeholder-Gruppen. R. Edward Freeman, der Begründer des Konzepts, sieht den Haupteinwand gegen das stakeholder-Konzept, der (unbeantworteten) Frage, wie die verschiedenen Interessen durch den Manager auszubalancieren und zu priorisieren sind, als sekundäres Problem (ebd., 63): [E]xecutives are expected to […] keep the varied stakes moving in roughly the same direction, and to keep them in balance […] Where stakeholder interests conflict, the executive must find a way to rethinking the problems so that these interests can go together, so that even more value can be created for each […] Managing for stakeholders is about creating as much value as possible for stakeholders, without resorting to trade-offs. (Ebd., 63 f.)
Durch effizientes stakeholder-Management soll laut Freeman Interessenharmonie hergestellt werden, wobei trade-offs zwischen verschiedenen Gruppen unzulässig sind. Der stakeholder-Ansatz geht davon aus, dass alle stakeholder letztlich ein gemeinsames Interesse haben (ebd., 65). Wenn ein stakeholder seine Interessen zu Lasten aller anderen durchzusetzen versucht, werden andere stakeholder sich zurückziehen bzw. ein neues „stakeholder network“ (ebd.) aufbauen, welches ihre Interessen realisiert, so das Argument. Nach dieser Darstellung möchte ich nun einige Kritikpunkte anbringen. Der shareholder-Ansatz scheitert daran, dass er nur eine einzige zu berück-
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sichtigende Gruppe in Unternehmen erkennt, nämlich die Eigentümer. Damit wird nicht behauptet, der shareholder-Ansatz mit seiner Betonung des Gewinn interesses sei rundweg abzulehnen. Weiter unten werde ich zeigen, inwiefern dieses Interesse ebenso zu schützen ist wie das Recht der Arbeitnehmer auf Mitbestimmung. Auf dem shareholder-Ansatz lässt sich jedoch keine normative Auseinandersetzung über Verantwortlichkeiten und zu berücksichtigende Interessen in Unternehmen aufbauen. Dafür ist die Formel der Gewinnmaximierung zu eindimensional. Unternehmen sind dem shareholder-Ansatz zufolge nichts anderes als „legal fiction[s]“ (Goodwin et al. 2005, 375), deren einziger Existenzzweck in der Umsetzung der wirtschaftlichen Interessen der Aktionäre besteht. Es ist jedoch evident, dass dies nicht der Fall ist. Unternehmen sind als Kooperationssysteme zu begreifen, bei denen alle unmittelbar in der Produktion oder für die Produktion relevanten Gruppen – Arbeitnehmer, Manager, Aktionäre – notwendig sind zur Realisierung der Unternehmensziele. Die Eigentümer haben ein legitimes Gewinninteresse, welches die Arbeitnehmer berücksichtigen müssen. Manager wiederum sind notwendig, um die Produktion effizient und gewinnbringend zu gestalten. Reguläre Arbeitnehmer sind unentbehrlich bei der eigentlichen Produktion von Gütern oder Dienstleistungen. Letztere beiden Gruppen arbeiten jedoch in erster Linie für ihren Lebensunterhalt, nicht für das Ziel, den Aktionären zu dienen (ob ihre Tätigkeit dennoch genau diesem Zweck dient oder dienen muss, damit ihre Interessen gesichert werden, ist eine andere Frage). Sie haben daher gänzlich andere Interessen und Zielsetzungen als ‚Gewinnmaximierung‘. Der shareholder-Ansatz lässt keinen Raum für die Berücksichtigung dieser Interessen. Darüber hinaus lässt er außer acht, was ich in Abschnitt 5.2.1 im Hinblick auf den gerechten Lohn als ‚verteilungsorientierte‘ Sichtweise auf Marktergebnisse gekennzeichnet habe. Die Verteilung in Märkten ist auch das Ergebnis von Verteilungskonflikten (Nell 1987, 407 f.). Diesen Konflikt und die daraus resultierende Forderung des Interessenausgleichs klammert der shareholder-Ansatz jedoch rundweg aus, indem er als einziges Ziel von Unternehmen die Gewinnmaximierung im Sinne der Unternehmenseigner anerkennt. Positive Arbeitnehmerrechte, wie ich sie oben begründet habe, wären gegenüber Gewinninteressen zwingend nachrangig zu behandeln. Sie stellen jedoch strikte Grenzen für das Konzept der Gewinnmaximierung dar, d.h. Arbeitgeber sind verpflichtet, entsprechende Regelungen in ihren Unternehmen zu implementieren, welche mitunter dem Ziel der Gewinnmaximierung zuwiderlaufen. Friedman spricht davon, dass Manager die Pflicht hätten, den Gewinn zu maximieren im Rahmen der geltenden Gesetze und gängigen normativen Überzeugungen (Friedman 2009, 51). Diese These Friedmans ist mit Inhalt zu füllen: Die soziale Verantwortung von Unternehmen besteht darin, so viel Gewinn für ihre Anteilseigner zu erwirtschaften, wie unter der verbindlichen Vorgabe, allgemeine Arbeitnehmerrechte und das Recht auf Mitbestimmung zu berücksichtigen, möglich ist. M.E. kann nur ein
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solcher Management-Ansatz berechtigt sein, der die verschiedenen Interessen aller unmittelbar an der Produktion beteiligten Gruppen berücksichtigt. Daher muss der shareholder-Ansatz als zu eindimensional zurückgewiesen werden. Der stakeholder-Ansatz betont eine wichtige Erkenntnis, welche ihn grundsätzlich vom shareholder-Ansatz abgrenzt. Er sieht Unternehmen als bedeutsame soziale Institutionen (Goodwin et al. 2005, 376), in denen Menschen zusammenarbeiten, deren Interessen berücksichtigt werden müssen. Es ist sicherlich ein Verdienst des Ansatzes, zu betonen, dass es überhaupt andere stakeholder als Aktionäre gibt. Er scheitert allerdings an der Analyse der verschiedenen Interessen der stakeholder und der hieraus erwachsenden Aufgaben des Managements. In meinem Ansatz wird es darum gehen, Hierarchien durch Effizienzerwägungen zu rechtfertigen. Gleichzeitig argumentiere ich, dass Hierarchien bestimmten Legitimitätsanforderungen genügen müssen. Freeman scheint hingegen die Existenz von Hierarchien in Unternehmen zu ignorieren, wenn er behauptet, das Problem der trade-offs zwischen verschiedenen Interessen habe nur sekundäre Bedeutung (Freeman 2009, 63). Freeman appelliert an Unternehmer, den Wert für alle stakeholder zu maximieren, ohne offenzulegen, wie dies angesichts bestehender Hierarchien funktionieren sollte bzw. wie die unterschiedlichen Interessen der stakeholder zu vereinen sind. Dass Unternehmen hierarchisch organisiert sind, ist ein Tatsachenbefund, der normativ evaluiert werden muss: Sind diese Hierarchien gerechtfertigt, lassen sich Mechanismen finden, die einen Interessenausgleich ermöglichen? Freeman geht davon aus, dass die Interessen der verschiedenen stakeholder nicht konfligieren müssen, dass also alle ihre Interessen als gemeinsame Interessen begreifen sollen. Unterschiedliche Interessenlagen sind jedoch in kapitalistisch organisierten Unternehmen unausweichlich. Dies liegt an den den jeweiligen Zielsetzungen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Verhältnis zueinander verfolgen, wie Adam Smith richtig erkannt hat: What are the common wages of labour, depends upon the contract usually made between […] two parties, whose interests are by no means the same. The workmen desire to get as much, the masters to give as little as possible. (Smith 1981, 83)
Es müssen daher Wege gefunden werden, die Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen und Ziele zu gewährleisten. Ein weiteres Problem des stakeholder-Ansatzes ist, dass er keine trade-offs zwischen den Interessen verschiedener stakeholder zulässt. Ob also den Interessen einer Gruppe Vorrang gegeben werden sollte gegenüber einer anderen Gruppe, lässt dieser Ansatz offen bzw. fordert vom Management, eine Lösung zu finden, welche zugleich alle Interessen berücksichtigt. Diese Herangehensweise wird von Christopher McMahon kritisiert: The stakeholder view provides no way of judging the relative importance of affected in terests and leads to a strategy of trying to give everyone something. The concept of fair-
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ness, by contrast, enables us to judge some of the members of affected groups as having no valid claim to consideration, and others as having very strong claims. (McMahon 1994, 173)
Bei unternehmerischen Entscheidungen sind zwingend Priorisierungen verschiedener Interessen notwendig. Ein Ansatz, welcher dies nicht berücksichtigt, bleibt vage und hat wenig Chancen auf Implementation (Bowie u. Werhane 2005, 29). Wie McMahon deutlich macht, können in bestimmten Situationen die Forderungen einer Gruppe mehr Gewicht haben als die Forderungen anderer. Beispielsweise kann es sein, dass die Forderung auf Lohnerhöhung seitens der Arbeitnehmer in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation nachrangig zu Forderungen nach Forschungsinvestitionen behandelt werden müssen, wenn gezeigt werden kann, dass diese für das Fortbestehen des Unternehmens essentiell sind. Andererseits müssen Strategien zur Gewinnmaximierung nachrangig behandelt werden, wenn sie zu Lasten der Arbeitnehmer gehen und deren Rechte nicht adäquat berücksichtigen. Der stakeholder-Ansatz ist unterbestimmt, weil er keine Kriterien liefert, wie mit derartigen trade-offs umzugehen ist. Eine mögliche Strategie hat Gewirth mit dem „criterion of degrees of needfulness for action“ (Gewirth 1996, 45) skizziert. Beispielsweise sei das Recht auf Gewinn aneignung durch die Eigentümer nicht als absolutes Recht zu behandeln; es kann nachrangig behandelt werden, wenn es mit den grundlegenden Rechten auf Gesundheit und Subsistenz (in diesem Falle der Arbeitnehmer) kollidiert (ebd., 46). Letzteren wäre dann Vorrang zu geben, weil sie eine größere Relevanz für die Handlungsfähigkeit der betroffenen Personen haben. Ich werde zeigen, dass das Recht auf Mitbestimmung solchen trade-offs Legitimität verleiht, indem es für die angemessene Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessenlagen sorgt. Im Folgenden wird jedoch zunächst zu analysieren sein, warum dieses Recht nicht in einem so weiten Sinne verstanden werden sollte, dass hieraus die Forderung nach Eigentumsbeteiligung aller Arbeiter in einem System der Wirtschaftsdemokratie abzuleiten ist. 6.2.3 Wirtschaftsdemokratie Die Distribution von Gütern im Markt ist nach Gewirth gerecht, wenn diejenigen die Güter besitzen, welche sie produziert oder durch freie Verträge erworben haben (Gewirth 1986, 177). Das Eigentum an diesen Gütern erlaubt es, Dritte von der Nutzung auszuschließen. Wenn dieser Grundsatz nicht beachtet würde, wäre dies ein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit. Dieses Kriterium nennt Gewirth das „freedom criterion of economic rights“ (ebd., 176). Gewirth ist in seiner Analyse zuzustimmen, das ‚Freiheitskriterium‘ werde im Markt in erheblichem Maße dadurch begrenzt, dass dieses System auf Unternehmensebene vorrangig durch interpersonelle Macht geprägt ist (ebd., 179). Aufgrund der großen Machtungleichgewichte in Märkten wird das Kriterium unterminiert, weil es Einzelnen die Macht verleiht, über Arbeitsbedingungen,
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-möglichkeiten und Entlohnung zu entscheiden. Aufgrund der relativen „‚ökonomische[n] Unfreiheit‘“ (Ulrich 2008, 279), welche diese Konstellation für Arbeitnehmer mit sich bringt, lässt sich mit Gewirth davon sprechen, dass Marktwirtschaften das Potential eines Verstoßes gegen das Freiheitskriterium und der aus ihm abgeleiteten Forderung nach persönlicher Autonomie bergen (ebd., 180). Während zwar unter bestimmten Bedingungen davon ausgegangen werden kann, dass Markttransaktionen aus freien Verträgen bestehen 26 und daher Arbeitnehmer Entscheidungsfreiheit genießen, so steht es ihnen nicht wirklich frei, zu arbeiten oder nicht, wie Gewirth deutlich macht: Hence, the freedom of their contractual relation to their employers is in important respects illusory. More generally, to what extent can persons‘ participation in the productive process be regarded as ‚free‘ when large numbers of them are driven by economic necessity to take jobs […] ? (Ebd.)
Arbeitnehmer sind in ihren Entscheidungen nur bedingt ‚frei‘: Sie können sich bei vorhandenen outside options immer entscheiden, zu einem anderen Arbeitgeber zu wechseln, aber nicht, ob sie unter den gegebenen Beschäftigungsbedingungen arbeiten möchten. Der mögliche Einwand, bei vorhandenen sozialen Sicherungssystemen hätten potentielle Arbeitnehmer sehr wohl die Wahl, zu arbeiten oder von Sozialleistungen zu leben, setzt voraus, dass ein selbstbestimmtes Leben auch in vollständiger Abhängigkeit vom Staat möglich ist. Dem habe ich in Kapitel 5.3.3 bereits entgegnet, dass Menschen, die in produktiver Passivität leben, nicht selbstbestimmt sind und zudem die stigmatisierenden Wirkungen der Arbeitslosigkeit ertragen müssen. Der hier skizzierte Einkommensimperativ besagt daher, dass für ein selbstbestimmtes Leben, welches jeder Handelnde für sich wollen muss, unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen die ökonomische Notwendigkeit zur Erwerbsarbeit besteht. Aus diesem Befund folgt laut Gewirth: [T]he freedom criterion requires that efforts be made to move toward a greater equalization of economic powers, not necessarily focused directly on comparative amounts of wages, salaries, or incomes, but focused rather, in the first instance, on the power to control or determine the rules about these and related matters. (Gewirth 1986, 181, meine Hervorhebung)
Es geht also in erster Linie darum, durch mehr Mitsprache bei der Festlegung der Rahmenbedingungen für Anstellungsverhältnisse ein größeres Machtgleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern herzustellen. Hierin ist Gewirth im Sinne des geforderten Rechts auf Mitbestimmung zuzustimmen. Die relative Unfreiheit, welche abhängige Beschäftigungsverhältnisse mit sich 26 Diese Annahme gilt bei entsprechender Regulierung der Rahmenbedingungen, welche forced-choice Transaktionen unterbinden und faire Transaktionsbedingungen sichern. Siehe Kapitel 4.2.
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bringen, wird dadurch ausgeglichen, dass den Arbeitnehmern Mitspracherechte eingeräumt werden hinsichtlich der sie betreffenden Entscheidungen. Gewirth schlussfolgert jedoch in The Community of Rights, die einzige Möglichkeit, ein solches Machtgleichgewicht herzustellen, bestünde darin, bestehende Hierarchien abzuschaffen, indem kapitalistische in arbeitergeführte Unternehmen umgewandelt werden. Anders ließen sich die Rechte der Arbeitnehmer auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ nicht realisieren, so die Argumentation. In einem solchen System der Wirtschaftsdemokratie27 sind die Mitglieder nicht länger Lohnempfänger, sondern Partner in dem von ihnen geführten Unternehmen. Die Finanzierung solcher Unternehmen erfolgt durch die Mitglieder und über eine ‚Eintrittsgebühr‘ für neue Mitglieder (Gewirth 1996, 260). Die Gewinne werden entsprechend den jeweilig geleisteten Arbeitsstunden und dem allgemeinen Lohnniveau aufgeteilt. Wirtschaftsdemokratisch geführte Unternehmen unterliegen wie kapitalistisch geführte Unternehmen den Anforderungen des effizienten, gewinnbringenden Wirtschaftens; das Einkommen der Mitglieder hängt davon ab, wie effizient das Unternehmen geführt wird (ebd., 283). In arbeitergeführten Unternehmen haben alle Mitglieder die gleichen Rechte auf Kontrolle und Mitsprache: They may exercise these rights directly, as in a general assembly, or they may delegate these rights to workers’ councils or other elevated representatives or managers. But in all cases final authority rests with the workers, who may remove, correct, and instruct the managers. All workers have equal votes, not contingent on any ownership of capital, and decisions are reached by majority vote. (Ebd., 260 f.)
Gewirth ist der Auffassung, dass ein solches System gerechtfertigt ist, weil es die Machtasymmetrien zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern beseitigt und für gleiche Verhandlungsmacht sorgt (ebd., 268). Auch in arbeitergeführten Unternehmen müssten womöglich hierarchische Strukturen implementiert werden, um die Entscheidungskosten niedrig zu halten und effizient operieren zu können. Jedoch gründeten sich solche Hierarchien in von Arbeitern geführten Unternehmen nicht auf Macht, sondern auf Autorität. Diese Autorität wird Vorgesetzten in einem Wahlprozess übertragen, nach einem Verfahren, dem alle zustimmen (ebd., 271). Schließlich sei das Recht auf Wirtschaftsdemokratie durch die grundlegenden Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ gerechtfertigt und notwendig: [S]ince each individual has rights to freedom and well-being, and since the system of economic democracy is needed to fulfill these rights, it follows that each individual has a right to economic democracy as the system that enables this fulfillment. (Ebd., 262)
27 Eine Reihe namhafter Autoren hat sich wohlwollend mit dieser Möglichkeit der wirtschaftlichen Organisation auseinandergesetzt, siehe z.B. Schweickart (2002), Miller (1989), Arneson (1987).
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Ich werde im Folgenden darlegen, dass das entscheidende Problem von arbeitergeführten Unternehmen ein Anreizproblem ist und diese Organisationsform nicht zwingend benötigt wird, um die Rechte der Arbeitnehmer auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ zu schützen. Zuvor werde ich jedoch einige gegen kooperativ organisierte Unternehmen angeführte Argumente entkräften und zeigen, dass diese Argumente nicht gegen arbeitergeführte Unternehmen, sondern ganz allgemein gegen falsche Anreize sprechen. Ein weiterer Einwand ist, dass arbeitergeführte Unternehmen zu wenig Investitionen in zukünftige Produktion leisten würden, weil viele gegenwärtige Mitarbeiter hiervon nicht mehr profitieren könnten und somit keinen Anreiz dazu hätten (Nozick 2006, 330). Gewirth hat darauf hingewiesen, dass dies im gleichen Maße auf kapitalistisch geführte Unternehmen zutrifft. Auch hier werden oftmals kurzfristige Gewinnmaximierungsstrategien zu Lasten langfristigen Wachstums angewendet (Gewirth 1996, 287). Goodwin et al. machen dies am Beispiel der Unternehmensbeteiligungen von Managern und Arbeitnehmern deutlich, wie sie teilweise in amerikanischen Unternehmen praktiziert werden: By 2001 [im Zuge des Enron-Skandals, P.S.] […] drawbacks to the strategy of giving managers and workers interests in the stock value of the firm began to become apparent. Rather than giving top executives the proper incentives to run a firm for long-term profitability, stock options […] meant that unscrupulous executives could make windfall wealth from actions taken to promote short-term profitability – or even short-term appearance of profitability. After inflating the value of the stock, the top executives could cash in their stock options and retire rich, before the long-term negative consequences of an action or the accounting tricks that gave the illusion of profitability became apparent. (Goodwin et al. 2005, 379)
Hiermit sollte deutlich geworden sein, dass der Mangel an langfristigen Unternehmensstrategien kein Problem ist, welches ausschließlich auf wirtschaftsdemokratisch geführte Unternehmen zutrifft, sondern allgemein durch falsche, kurzfristig angelegte Gewinnanreize generiert wird. Nozick argumentiert darüber hinaus, dass wirtschaftsdemokratisch geführte Unternehmen aufgrund der demokratischen Beschränkungen für interne Entscheidungsprozesse womöglich weniger effizient wären und Arbeiter in diesem Fall gezwungen seien, die zusätzlichen Kosten der Effizienzeinbußen in Form von niedrigeren Löhnen zu tragen (Nozick 2006, 331). Arbeitergeführte Unternehmen könnten die zusätzlichen Kosten auch an Konsumenten weiterreichen, hätten jedoch nur dann eine Chance, am Markt zu bestehen, wenn sich Konsumenten fänden, die bereit sind, Produkte zu höheren Preisen zu erwerben (ebd., 332). Ich sehe keinen Grund, warum arbeitergeführte Unternehmen nicht ähnliche hierarchische Strukturen implementieren sollten wie herkömmlich geführte Unternehmen, wenn Effizienzanforderungen sie dazu zwingen. Da sie unter dem Druck der Gewinnmaximierung stehen, ist eine die Entscheidungskosten
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senkende hierarchische Organisation ebenso wünschenswert wie in herkömmlichen Unternehmen. Dass arbeitergeführte Unternehmen grundsätzlich weniger effizient wären als kapitalistisch organisierte Unternehmen, ist jedoch nicht ersichtlich. Der entscheidende Unterschied zwischen den Organisationsformen besteht nicht darin, dass bei arbeitergeführten Unternehmen alle alles entscheiden. Wie Gewirth ausführt, können Arbeiter auch Manager wählen, welche in ihrem Sinne die Produktion organisieren. Die beiden nun dargelegten Einwände gegen arbeitergeführte Unternehmen sprechen also eher dafür, Gewinnanreize nicht falsch zu setzen und hierarchische Unternehmensstrukturen zu etablieren, um Entscheidungskosten zu senken. Sie sprechen nicht per se gegen arbeitergeführte Unternehmen. Ich möchte nun jedoch zwei Argumente darlegen, die gegen arbeitergeführte Unternehmen sprechen und abschließend ausführen, warum eine solche Organisationsform nicht zwingend notwendig sind, um die Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ der Arbeitnehmer zu schützen. Das entscheidende Problem von arbeitergeführten Unternehmen ist ein Anreizproblem. Wenn, wie von Gewirth gefordert, jeder Arbeiter als Mitglied einen Anteil am Unternehmen erwirbt, so wird jeder Arbeiter zum (Klein-)Kapitalisten mit entsprechendem Gewinninteresse. Sein Einkommen richtet sich, wie Nozick ausgeführt hat, danach, wie viel Gewinn pro Arbeiter generiert wird. Die Mitglieder haben daher einen starken Anreiz, den Durchschnittsgewinn (pro Arbeiter) und nicht den Gesamtgewinn zu maximieren und daher weniger Leute einzustellen als ein Betrieb, der jeden einstellt, der noch einen Gewinn einbringt. (Nozick 2006, 330)
In wirtschaftsdemokratisch geführten Unternehmen ist der Nutzen einer Unternehmensstrategie, welche den pro-Kopf-Gewinn steigert, für Mitglieder sehr viel größer als die Anstellung zusätzlicher Mitarbeiter, um die Produktion auszuweiten. Damit werden potentielle zusätzliche Arbeiter eher benachteiligt, als dass sich die demokratische Organisation zu ihren Gunsten auswirkte. Die Arbeitssuchenden, welche solchermaßen vom produktiven Prozess ausgeschlossen blieben, stünden in jedem Fall genau so schlecht da wie unter der alten Eigentumsordnung. Gleichzeitig wird durch das oben angeführte Beispiel der Arbeitnehmerbeteiligung am Firmenkapital das Problem der Doppelfunktion von Arbeitern in arbeitergeführten Betrieben deutlich. Als Arbeiter haben sie ein vorrangiges Interesse an langfristiger Arbeitsplatzsicherheit. Als Teilhaber haben sie ein kurzfristiges Gewinninteresse, welches ihren Interessen als Arbeiter zuwiderläuft. Die Abwägung zwischen beiden Zielsetzungen könnte in solchen Unternehmen zu hohen Entscheidungskosten über die zu verfolgende Unternehmensstrategie führen. Richard Arneson hat angeregt, dieses Problem durch staatlich gesetzte Anreize für Firmenneugründungen zu beheben, welche den Wettbewerb schüren
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und somit kooperative Unternehmen zwingen würden zu wachsen (Arneson 1987, 535). Hierdurch wird jedoch das Anreizproblem nicht gelöst, sondern nur verschleiert, indem staatliche Subventionen für die Ergebnisse sorgen, die bei kapitalistischen Unternehmen bereits unter herkömmlichen Wettbewerbsbedingungen erreicht werden, namentlich Mehrbeschäftigung durch Wachstum. Ein weiterer von Nozick angeführter Einwand ist, warum bisher noch nicht in großer Zahl Genossenschaften gegründet worden sind, wenn rechtlich nichts dagegen spricht (Nozick 2006, 333). Ich habe in Kapitel 5.3.3 deutlich gemacht, inwiefern Nozick die Einflüsse der jeweiligen gesellschaftlichen Startbedingungen hinsichtlich der Möglichkeit und Befähigung, als Unternehmer tätig zu werden, außen vor lässt. Herkömmlichen Arbeitnehmern fehlt oftmals sowohl das Humankapital als auch die finanziellen Mittel hierzu. Dennoch lässt sich Nozicks Argument nicht rundweg zurückweisen. Obwohl bestehende Machtungleichgewichte und große Ungleichheiten in der Einkommensverteilung die Gründung solcher arbeitergeführten Unternehmen womöglich erschweren, spricht rechtlich nichts dagegen. Dass es sie nicht in großer Zahl gibt, hängt wahrscheinlich stärker mit mangelhaften Anreizen zusammen, als Befürworter eingestehen mögen. Um die Anreize für die Gründung wirtschaftsdemokratischer Unternehmen zu stärken, sieht Gewirth drei Möglichkeiten. Einmal könnten Kapitalisten entschädigt werden bei der Überführung ihres Eigentums auf die Mitarbeiter. Wenn dies nicht möglich ist, könnten Arbeiter ihre Mittel zusammenlegen, um die Firma zu kaufen (Gewirth 1996, 262). Der Weg, welchen Gewirth favorisiert, besteht jedoch darin, die Vorzugswürdigkeit wirtschaftsdemokratischer Organisation im öffentlichen Diskurs zu bestärken. Eine mögliche Umwandlung von Unternehmensstrukturen […] should be the result of a democratic process of discussion, deliberation, and negotiation in which arguments pro and con are carefully considered by the electorate of political democracy. (Ebd., 263)
Gegen einen solchen Prozess der demokratischen Auseinandersetzung über die Organisationsstrukturen der Wirtschaft ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Wenn freie Märkte als öffentliche Güter begriffen werden, muss der offene politische Diskurs darüber, wie sie organisiert sein sollten, möglich sein. In einem solchen Austauschprozess müsste jedoch auch geklärt werden, wie die möglichen zusätzlichen Kosten durch Effizienzeinbußen zu finanzieren sind und durch welche Subventionen die oben angeführten Anreizprobleme von arbeiterorganisierten Betrieben behoben werden könnten. Kurzum: Das grundsätzliche Versprechen der Wirtschaftsdemokratie ist verlockend, weil es die Perspektive eröffnet auf gleichberechtigte Strukturen in Unternehmen und mehr Gleichheit in der Einkommensverteilung. Ob die Idee umsetzbar ist, ist jedoch eine andere Frage. Effizienz- und Anreizerwägungen sprechen eher dagegen.
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Obwohl diese Überlegungen Zweifel an der Effizienz arbeitergeführter Unternehmen aufkommen lassen, lässt sich aus dem Vorangegangenen dennoch ein Argument für das Recht auf Mitbestimmung ableiten. Der entscheidende Unterschied zwischen kapitalistischen und arbeitergeführten Unternehmen besteht in der Konstitution und Legitimität von Hierarchien. Die Mitglieder in arbeitergeführten Unternehmen haben eine Mitsprache bei der Gestaltung von Hierarchien und der Besetzung entsprechender Posten, in kapitalistischen Unternehmen haben dies in der Regel ausschließlich Aktionäre bzw. Gesellschafter. Das Recht auf Mitbestimmung gibt den Arbeitnehmern die Befugnis, über die Belange des Unternehmens, an dessen Erfolg und langfristiger Existenz sie ein großes Interesse haben, mitzuentscheiden. Dass diese Form der Beteiligung zwangsläufig zu Effizienzeinbußen führen muss, wäre zu zeigen. Die Praxis der Mitbestimmung in Deutschland spricht dagegen (Hans-Böckler-Stiftung 2004, Jirjahn 2010). Zuletzt ist Gewirths Annahme zu kritisieren, zur Sicherstellung der Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ sei die Umwandlung in Arbeiterunternehmen zwingend nötig. Dies sei dadurch begründet, dass in kapitalistischen Gesellschaften die ökonomischen und sozialen Rechte von Arbeitnehmern verletzt würden durch die „vast inequalities of wealth and power“ (Gewirth 1996, 258) sowie die hierarchische Kontrolle, der sie sich in Unternehmen unterwerfen müssten (ebd., 259). Gewirth nennt jedoch selbst das deutsche System der Mitbestimmung als eine Möglichkeit, mit den konstatierten Ungleichheiten umzugehen und ihnen entgegenzuwirken (ebd.). In diesem System bleibt die vorherrschende Eigentumsstruktur unverändert, aber Arbeitnehmer erlangen Mitspracherechte über die in den Aufsichtsräten zu treffenden Entscheidungen. Gewirth macht nicht ausreichend deutlich, warum zur Sicherung von Freiheit und ‚Wohlergehen‘ hierüber hinausgehend die Übertragung von Eigentumsanteilen an Arbeiter (ebd., 260) notwendig ist. Dies scheint nur dann gerechtfertigt, wenn gezeigt werden kann, dass es keinen anderen Weg gibt, die Rechte der Arbeitnehmer auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ zu schützen, als ihnen Eigentumsrechte am Unternehmen einzuräumen. Dies ist nicht der Fall, wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde. 6.2.4 Unternehmenshierarchien und Legitimität Ich möchte nun zeigen, inwiefern das Recht auf Mitbestimmung eine demokratische Unternehmensführung im Sinne der Besetzung von Entscheidungsgremien durch Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter rechtfertigt. Im Anschluss an Christopher McMahons Ausführungen zur Legitimität von Unternehmenshierarchien wird gezeigt, dass die demokratische Mitbestimmung gerechtfertigt ist. Die grundlegende Frage lautet: Wenn es ein Recht auf Mitbestimmung gibt, welche Autoritäten und Hierarchien in Unternehmen lassen sich unter Berück-
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sichtigung dieses Rechts rechtfertigen? Im Anschluss an diese Überlegungen wird dargelegt, welche möglichen Folgen eine solche Form der Mitbestimmung auf den gerechten Lohn hat. Bevor ich McMahons Theorie darstelle, sind einige relevante Unterschiede zwischen meinem und McMahons Ansatz festzustellen. Ich leite das Recht auf demokratische Mitbestimmung aus den oben definierten Arbeitnehmerrechten ab. McMahon argumentiert hingegen kontraktualistisch und begründet seine Forderung nach Demokratisierung von Unternehmensstrukturen durch deren positive Wirkung auf „fairness and welfare maximization“ (McMahon 1994, 265). Zwar zielen Arbeitnehmerrechte auch in meiner Begründung auf mehr Fairness zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, jedoch ist dieser Wert nicht der rechtfertigende Grund für die Forderung nach Arbeitnehmerrechten. Diese sind gerechtfertigt aufgrund ihrer notwendigen Funktion bei der Gewährleistung der konstitutiven Menschenrechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘. Während McMahon zudem argumentiert, dass Aktieneigner gänzlich von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden können, werde ich zeigen, dass die Beteiligung von Aktionären aufgrund ihrer Eigentumsansprüche ebenso geboten und sinnvoll ist wie die Beteiligung von Arbeitnehmern. Trotz dieser Unterschiede halte ich McMahons Ansatz für den derzeit elaboriertesten philosophischen Versuch einer alternativen Begründung von Managerautorität, weil er erstens überzeugend zu begründen vermag, warum Manager auch gegenüber Arbeitnehmern verantwortlich sind, und zweitens diejenigen Anreiz- und Implementationsprobleme vermeidet, welchen sich wirtschaftsdemokratische Ansätze ausgesetzt sehen. McMahon illustriert die von ihm avisierte Form der Mitbestimmung mithilfe eines Vergleichs von politischer und wirtschaftlicher Demokratie. Es lässt sich argumentieren, dass die Demokratisierung von Unternehmensstrukturen gerechtfertigt ist, weil Unternehmen ähnlichen Legitimitätsansprüchen unterliegen wie die Institutionen des politischen Systems. In der Politik sind Hierarchien und Befugnisse von politischen Ämtern gerechtfertigt, wenn die Amtsträger denen gegenüber, die von ihren Entscheidungen betroffen sind, rückverantwortlich sind. Dies wird durch regelmäßige Wahlen garantiert. Jeder hat ein genuines Interesse, die Regeln eines solchen demokratischen Systems zu befolgen, weil es ein „Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ (Rawls 1979, 105) darstellt. Politische Autorität ist also dann gerechtfertigt, wenn sie Teil eines Systems ist, das gegenseitigen Vorteil verspricht (McMahon 1994, 85). Was die Analogie von politischer und wirtschaftlicher Demokratie angeht, sind einige Anmerkungen angebracht. McMahon erkennt selbst an, dass die Analogie womöglich einen schwächeren Rechtfertigungsgrund liefert, als es zunächst den Anschein hat. Dies liege daran, dass übergeordnete politische Instanzen entscheiden könnten, zur Verfolgung bestimmter gesellschaftlicher Ziele
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
sei eine nicht demokratische Ordnung vorzuziehen (McMahon 1994, 265). Gewirth verweist zudem darauf, inwiefern die Analogie auch daran krankt, dass alle auf einem Staatsgebiet geborenen Menschen Staatsbürger sind, wohingegen die wirtschaftsdemokratische ‚Mitgliedschaft‘ auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation beschränkt ist (Gewirth 1996, 289). Darüber hinaus ist einzuwenden, dass der Bürgerstatus jedem Menschen zukommt und man gewissermaßen keine Wahl hat, ob man in einem Staat leben möchte oder nicht. Ein potentieller Arbeitnehmer hingegen hat die Wahl, bei welchem Arbeitgeber er sich anstellen lassen möchte. Daher hat die Analogie für das Argument, Unternehmensstrukturen müssten demokratisch gestaltet werden, nur wenig Überzeugungskraft. Sie hilft dennoch zur Illustration der Form von Organisation, welche in Unternehmen angestrebt werden sollte.28 McMahon fragt sich, ob eine ähnliche Rechtfertigung für reflexive Autoritäten und Hierarchien in Unternehmen begründet werden kann: In large, contemporary organizations, governmental and nongovernmental, decision makers are accountable to those who choose them. Thus, in contemporary democracies, few if any decisions are made directly by citizens. Government is ‚by the people‘ to the extent that the people choose the top-level, political decision makers. Similarly, decision makers in the nongovernmental organizations are accountable to those who choose them. The question is, who does this? (Ebd., 8)
Die Weisungsbefugnis von Managern ist zunächst praktisch gerechtfertigt, weil sie wirtschaftliches Chaos verhindert (ebd., 6). Wenn Arbeitnehmer die Direktiven des Unternehmens regelmäßig nicht befolgen würden, wäre effiziente Produktion nicht mehr möglich und somit dieses System der Zusammenarbeit nicht weiter lebensfähig. In Unternehmen sind die Entscheidungsträger (in der Abwesenheit von Mitbestimmungsgesetzen) jedoch allein gegenüber den Aktionären bzw. Gesellschaftern verantwortlich. Dies generiert Probleme für die Rechtfertigung von Autorität gegenüber Arbeitnehmern. Die entscheidende Frage ist daher, wie unternehmerische Autorität gerechtfertigt werden kann. McMahons These lautet, dass diese demokratisch fundiert sein muss, um die unternehmerische Form der Kooperation zu legitimieren. Er nennt diese Form von Autorität ‚reflexive Autorität‘, weil sie legitimiert ist durch die Ermächtigung derjenigen, deren Handlungen durch sie geleitet werden: If democracy is to be introduced into corporate affairs, this is the form it should take: the democratic management of corporations by their employees. Democracy is reflexive authority, that is, the exercise of authority by those who are subject to it, and those who are subject to managerial authority are the employees. (McMahon 1994, 13)
In meinem Ansatz ist diese Form der demokratischen Mitbestimmung in Unternehmen durch das positive Recht auf Freiheit begründet. Dieses rechtfertigt 28 Ich
danke den Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums des Arbeitsbereichs Angewandte Ethik für hilfreiche Kritik zu diesem Punkt.
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die Forderung, Arbeitnehmer durch die Implementation von Mitbestimmungsrechten vor willkürlichen und fremdbestimmten Arbeitsverhältnissen zu schützen, weil sie angesichts hierarchischer Strukturen in Unternehmen hierzu allein nicht in der Lage sind. Welche Ausgestaltung des Mitspracherechts angemessen ist, wird weiter unten zu klären sein. In obigem Zitat wird deutlich, dass Manager McMahon zufolge ausschließlich ihren Untergebenen gegenüber verantwortlich sein sollten. Seine Theorie steht damit im direkten Widerspruch zum shareholder-Ansatz. Er hält die Annahme, Aktieneigner könnten von Entscheidungen über das operative Geschäft ausgeschlossen werden, für gerechtfertigt: [S]hareholders often have little actual say in the management of corporations, and it can be argued that respect for their interests does not require that they have a say. Where developed capital markets exist, shareholders have the option of selling any shares they may hold in a firm whose performance they find unsatisfactory. To invoke a well-known distinction, they do not need voice because they can exit. (McMahon 1994, 15)
In diesem Zitat wird ein Befund gemacht, den ich kurz explizieren möchte. Die Aktieneigner, welche über die Besetzung des Aufsichtsrates entscheiden und somit die Führung des Unternehmens innehaben, üben faktisch wenig Entscheidungsgewalt aus. Die Jahresversammlung der Aktionäre bestätigt in der Regel die Vorschläge des Vorstands zur Besetzung des Aufsichtsrats. Üblicherweise steht nur je ein Kandidat für zu vergebende Posten zur Wahl (Hans-BöcklerStiftung 2004, 6), somit lässt sich kaum von einer Wahl im demokratischen Sinne sprechen (Moriarty 2005, 260). Die Zusammensetzung des Vorstands wird maßgeblich durch den Vorstandsvorsitzenden bestimmt. Aufgrund dieser Konstellation obliegt die Kontrolle des Unternehmens vor allem den Vorstandsvorsitzenden, nicht den Aktionären (McMahon 1994, 9; Moriarty 2005, 260).29 Wie Joseph Heath deutlich macht, besteht zudem auf Aktionärsseite das Problem, dass das Eigentum an Unternehmen stark gestreut ist, also die meisten Aktionäre nur über wenige Anteile am Unternehmen verfügt. Die aktive Kontrolle des Aufsichtsrats bringt Informationskosten mit sich, die viele aufgrund ihres relativ kleinen Anteils am Unternehmen nicht aufzuwenden bereit sind. Daher besteht ein relativ geringer Anreiz, das Unternehmen aktiv zu überwachen (Heath 2009, 180). In dieser Form mangelnder Kontrolle des Vorstands durch 29
Hier muss ein wichtiger Unterschied zwischen angelsächsischen und deutschen Aktiengesellschaften deutlich gemacht werden. In Deutschland entscheidet der Aufsichtsrat über die Besetzung des Vorstands. Der Aufsichtsrat wird durch die Aktionäre gewählt, seine Mitglieder dürfen keine operativen Funktionen in der Führung des Unternehmens innehaben. D.h., Aufsichtsratsmitglieder dürfen nicht gleichzeitig einen Sitz im Vorstand des Unternehmens innehaben (Aktiengesetz, § 105). In den USA hingegen wählen die Aktionäre den Board of Directors (dt. Verwaltungsrat), zu dem auch aktive Vorstände des Unternehmens gehören dürfen. Diese Eigenheit macht die Besetzung des Board of Directors besonders problematisch, weil dieser in den meisten Fällen durch den CEO des Unternehmens kontrolliert wird (Moriarty 2005, 260). Das Problem der mangelnden governance durch die Aktionäre besteht jedoch gleichermaßen in Deutschland wie in den USA.
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die Eigentümer ist ein entscheidender Grund für die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden Gehaltsexzesse von Vorständen großer Unternehmen zu erkennen: „[M]anagers can get away with all sorts of things, ranging from excessive pay packages to outright graft (none of which, it should be noted, maximizes the profits of the firm)“ (ebd.). Die Hans-Böckler-Stiftung hat darauf hingewiesen, dass die Arbeitnehmerbeteiligung in deutschen Aufsichtsräten solche „Selbstbedienungspraktiken von Vorständen“ (Hans-Böckler-Stiftung 2004, 9) begrenzt, was im Übrigen sehr im Sinne der Aktieneigner des Unternehmens sein dürfte. Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass die de facto Mitsprache von Aktionären in Unternehmen begrenzt ist und die Vorstände Unternehmen nicht nur führen, sondern auch kontrollieren. McMahons Argument läuft jedoch nicht darauf hinaus, den Aktionären mehr Mitsprache einzuräumen, um eine effektivere governance durch die Aktionäre zu gewährleisten. Er fragt sich im Gegenteil, ob Aktionäre überhaupt Mitsprache bei der Kontrolle und Führung des Unternehmens haben müssen. Die Mitsprache von Aktionären in Unternehmen ist McMahon zufolge von sekundärer Bedeutung. Aktionäre zeigen über ihre entry- und exit Option an, ob sie der Auffassung sind, dass ihre Interessen durch die Unternehmensführung ausreichend berücksichtigt werden. Ihr ‚Stimmrecht‘ besteht darin, Aktien zu kaufen und gegebenenfalls wieder abzustoßen. Eine weiterführende Mitsprache im Unternehmen sei daher nicht erforderlich (McMahon 1994, 15). Aktieneigner werden in dieser Sichtweise eher als Kreditgeber angesehen (ebd., 173). An dieser Stelle ist ein Einschub zum Mitspracherecht von Aktionären in Unternehmen angebracht. Ich habe in Kapitel 5.3.3 bereits darauf hingewiesen, dass Investitionen und an sie geknüpfte Renditeansprüche gerechtfertigt sind aufgrund ihrer notwendigen funktionalen Rolle für die erfolgreiche Operation von Unternehmen. Hieraus folgt, dass diese Renditeansprüche ein legitimes und schützenswertes Interesse darstellen. Die operative Führung von Unternehmen und die gesamte Arbeiterschaft sind demnach verpflichtet, dieses Interesse zu schützen. Hiermit wird auch deutlich, was der shareholder-Ansatz trotz seiner Einseitigkeit korrekterweise hervorhebt. Aktionäre haben einen Anspruch auf den Residualgewinn. Um diesen Anspruch zu schützen, ist es notwendig, den Aktionären Mitsprache am Unternehmen einzuräumen. Diese Form der Kontrolle ist die effektivste Art, ihre Interessen zu schützen, da sonst ihre Ansprüche nicht hinreichend gesichert wären (Boatright 2009, 73). Wenn man sich bei der Bereitstellung von Kapital auf ein System privater Investitionen stützt, ist es zudem ratsam, entsprechende Anreize zu setzen, damit potentielle Investoren nicht abgeschreckt werden. Aktionäre von der Mitbestimmung über die verfolgten Unternehmensziele auszuschließen, wie McMahon es vorschlägt, könnte solche negativen Anreizwirkungen haben, wie John R. Boatright feststellt:
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[W]ithout the right of control, equity capital providers would require a greater return to compensate for the increased risk to their investment. This in turn would drive up the price of capital, thus increasing the cost of production for everyone. (Ebd., 74)
Das Recht auf Mitsprache von Aktionären dient indirekt auch den Interessen der Arbeitnehmer, weil potentielle Aktionäre, die keine Renditemöglichkeiten durch Investition in ein bestimmtes Unternehmen erkennen, von einer solchen absehen werden bzw. ihre Investitionen zurücknehmen, was die Aussichten auf Fortbestehen des Unternehmens erheblich schmälert.30 Ein weiterer Punkt ist, dass zwar Aktionäre de facto wenig aktiv von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen und hierdurch die Gehaltsexzesse der vergangenen Jahrzehnte erst ermöglicht wurden. Dies ist jedoch mit Heath eher als „breakdown in governance“ (Heath 2009, 244) zu bewerten denn als Rechtfertigungsgrund, Aktionäre von der Mitbestimmung auszuschließen. Ich habe hiermit das Mitbestimmungsrecht von Aktionären als gerechtfertigt ausgewiesen. Die Forderung McMahons, Aktionäre könnten von der Mitbestimmung ausgeschlossen werden, ist somit zurückzuweisen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit die shareholder-Theorie legitimiert wäre. Der entscheidende Unterschied zwischen dem hier skizzierten Ansatz und der shareholder-Theorie besteht darin, dass Arbeitnehmer ebenso wenig von der Mitbestimmung ausgeschlossen werden können wie Aktionäre, weil beide Gruppen über schützenswerte Rechte und Interessen verfügen. Hiermit ist ein bedeutsamer Unterschied zwischen meinem Ansatz und der durch McMahon begründeten Theorie kenntlich gemacht. Jedoch werde ich bei der nun darzulegenden Begründung von legitimer Autorität in Unternehmen McMahon weitgehend folgen. McMahon hat die Lesart, aus dem Eigentumsanspruch an Produktionsmitteln ließe sich die Befugnis ableiten, über das Personalmanagement bestimmen zu dürfen, als „moral unity of management“-These (McMahon 1994, 16) bezeichnet. Diese besagt, dass die an Manager übertragene Befugnis, das Kapital der Eigentümer zu verwalten, die Befugnis beinhaltet, das Personal anzuleiten (ebd.). Die entscheidende Frage lautet, ob die Kontrolle produktiver Aktivitäten aufgrund des Eigentums an Produktionsmitteln gerechtfertigt ist (ebd., 21). Um dies zu illustrieren, lohnt ein Rekurs auf Gewirths Entwurf der wirtschaftsdemokratischen Organisation von Unternehmen. Gewirth zufolge sollten in arbeitergeführten Unternehmen ausschließlich die Arbeiter über Unternehmensziele und -organisation entscheiden. In seinem Entwurf sind Kapitaleigner, Unternehmer und Manager von der Mitgliedschaft in arbeitergeführten Unternehmen ausgeschlossen (Gewirth 1996, 289). Die Kapitaleigner sind in herkömmlichen Betrieben diejenigen, welche eine Form hierarchischer Macht ausüben, die laut Gewirth im Sinne der Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘
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Ich danke Klaus Steigleder und Thomas Weitner für hilfreiche Kritik und Anregungen.
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überwunden werden müsse. Daher ist die Exklusion aller stakeholder außer den Arbeitnehmern gerechtfertigt: [I]t excludes from economic power only those whose hierarchic class position is antithetical to the PGC’s equality of freedom whereby persons control the conditions under which they live and work […] capitalists as such deserve no role in the governance of economic enterprises. (Ebd., 290)
Ich vertrete die These, dass für die Ermöglichung der Mitbestimmung von Arbeitnehmern sowie der Gewährleistung gleicher Freiheiten die Umwandlung von herkömmlichen Unternehmen in arbeitergeführte Unternehmen nicht notwendig ist, sondern dass hierfür entsprechende Mitbestimmungsrechte ausreichend sind. Jedoch wirft Gewirth auch die Frage auf, ob der Eigentumsanspruch einen gerechtfertigten Anspruch auf die governance von Unternehmen nach sich zieht. McMahon ist der Auffassung, dass sich aus Eigentumsrechten kein ‚Recht auf (Personal-)Management‘ ableiten lässt als Befugnis, direktive Order auszugeben: [P]roperty rights as they are now understood force us to reject the thesis of the moral unity of management. The ‚right to manage‘ that forms a part of our concept of ownership cannot be regarded as a right to direct the activities of others. (McMahon 1994, 16)
Herkömmlicherweise wird das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln, wie im shareholder-Ansatz verwirklicht, als das Recht der Prinzipalen aufgefasst, Manager als Agenten anzuweisen, in ihrem Sinne zu handeln. Diese verfügen wiederum über die Autorität, Direktiven an die Arbeitnehmer auszugeben. McMahon macht deutlich, dass sich diese Autorität von Managern nicht aus dem Eigentumsrecht der Eigentümer ableiten lässt. Das Eigentumsrecht an Produktionsmitteln produziert Macht, weil alle Marktteilnehmer Zugang zu diesen benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern (ebd., 17). Diese Macht unterscheidet sich jedoch von der Autorität, Direktiven ausgeben zu können. Das Recht auf Eigentum ist zuvorderst als Ausschlussrecht zu begreifen: Das Recht, vollständig über einen Gegenstand zu verfügen und andere von seiner Nutzung auszuschließen. Damit hat ein Eigentümer das Recht, darüber zu bestimmen, wie sein Eigentum genutzt wird (ebd., 16). Im Falle des Eigentums an Produktionsmitteln wirft dies allerdings die entscheidende Frage auf, ob Unternehmenseigner darüber bestimmen dürfen, wie gearbeitet wird: [I]t [der Eigentumsanspruch, P.S.] does not give him the right to tell anyone to put that property to the use that he wants. It is not a right to command labor. My ownership of my car […] gives me the right to tell someone who is driving it to refrain from certain courses of action – to exclude them – but it does not give me the right to direct her to do anything with it. If she refuses to do what I want, I can order her out of the car. And I can leave her with only one option (if she wants to stay in the car) by vetoing all others. But my property rights do not constitute a moral reason for her to take that option […] Similarly, property rights in productive resources cannot provide a moral basis for managerial authority, un-
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derstood as the authority to tell employees what to do, as opposed to what to refrain from doing. (Ebd., 16)
Werhane et al. haben dieser Sichtweise auf Eigentumsrechte an Produktionsmitteln beigepflichtet insofern als Eigentum an Produktionsmitteln die Kontrolle derselben, nicht aber die Kontrolle von Menschen rechtfertigt (Werhane et al. 2004, 93). Moriarty hat hiergegen eingewandt, Kapitaleigner könnten die Handlungsalternativen so einschränken, dass Nutzern nur eine Option offen bleibt. Da Arbeitnehmer bei Nichtbefolgung dieser Handlungsoption von der Nutzung ausgeschlossen werden könnten, hätten Aktieneigner die faktische Möglichkeit der Kontrolle von Produktionsabläufen. Womöglich hätten sie nicht die Autorität, die Handlungen der Arbeitnehmer zu dirigieren, sie könnten sie aber in jedem Fall kontrollieren: [O]wners of productive resources can legitimately tell users of them: ‚Do what I say with them or get out.‘ Because employees need access to productive resources to live well, this is enough to control employees’ actions, which is all managers need to do. It might be replied that because the activities of business organizations are enormously complex, managers need not merely to control their employees’ actions, but to coordinate them. And for this they need genuine authority, as opposed to mere control. This argument assumes that there is a deep difference between control and coordination, but there is not. Provided I can control people’s actions, I can coordinate them […] It follows that control is sufficient for coordination. (Moriarty 2007, 340 f.)
Moriartys Einwand ist zuzustimmen. Tatsächlich können durch die Beschränkung von Handlungsalternativen die Kontrollmöglichkeiten erweitert werden, wodurch gleichzeitig die Arbeitnehmer in Unternehmen dirigiert werden. Dennoch ist hiermit McMahons Argument nicht entkräftet. Dieser gesteht sehr wohl zu, dass die Alternativen durch die Unternehmenseigner stark eingeengt werden können je nachdem, welche Nutzung sie zulassen (McMahon 1994, 17). Die Frage ist, wie sehr die alternativen Verwendungsweisen eingeschränkt werden dürfen und inwiefern diese Möglichkeit der Eigentümer, die sich ausschließlich aus ihrer Verfügungsgewalt, nicht aus ihrer Autorität gegenüber den Arbeitnehmern ableitet, zulässig ist. Es geht also um die rechtfertigende „moral reason“ (ebd., 16) für Managerautorität. In McMahons Ansatz muss diese Autorität reflexiv, also gegenüber den Arbeitnehmern rückverantwortlich sein. Diese Form der Autorität ist dadurch legitimiert, dass sie denjenigen gegenüber verantwortlich ist, deren Handlungen durch sie bestimmt werden. McMahon beschreibt die verschiedenen Formen von Autorität, welche Manager ausüben können, als P-, E- und C-Autorität. P-Autorität (von „promise to obey“, McMahon 1994, 85) erlangen Manager durch das im Arbeitsvertrag geleistete Versprechen des Arbeitnehmers, den Unternehmensdirektiven zu folgen. E-Autorität (von „expertise“, ebd.) erlangen Manager aufgrund ihrer Expertise in der Koordination von Produktionsabläufen. C-Autorität (von
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„role in facilitating cooperation“, ebd.) haben die Manager aufgrund ihrer Rolle bei der Bereitstellung von Kooperationsmöglichkeiten in Unternehmen. Moriarty weist darauf hin, dass Managerautorität sich auf alle drei Formen von Autorität gründet. Manager sind Experten in der Koordination der Produktion, sie haben die Möglichkeit, Zwang auszuüben, und sie haben eine entscheidende Funktion bei der Bereitstellung gegenseitig vorteilhafter Kooperation (Moriarty 2007, 339 f.). Für McMahon ist die letztgenannte Form von Autorität diejenige Form, welche Unternehmen im größtmöglichen Maße realisieren sollten. C-Autorität ist authority justified as facilitating mutually beneficial cooperation. People can often improve their situation by their own lights if they cooperate with others. This is because by acting together the members of a group can produce an event or state of affairs that each values but that none of them could have produced alone. Authority can facilitate such cooperation. (McMahon 1994, 102)
Hier findet sich eine Beschreibung von legitimer Managerautorität und legitimer hierarchischer Strukturen. Hierarchische Autorität ist begründet aufgrund ihrer Funktion, zu gegenseitig vorteilhafter Kooperation beizutragen. C-Autorität kann sich nach McMahon nur herausbilden, wenn sie auf demokratischem Wege verliehen wird (McMahon 1994, 240). Das bedeutet in dieser noch unqualifizierten Form, dass Arbeitnehmer bei der Wahl ihrer Vorgesetzten beteiligt werden müssen. Wie weit diese Form der Mitbestimmung auszulegen ist, wird im Folgenden dargelegt. Arbeitnehmer erkennen die Autorität und Weisungsbefugnis von Vorgesetzten an, wenn ersichtlich ist, dass dies in ihrem eigenen Interesse ist (Werhane et al. 2004, 93 f.). Dies wird dadurch garantiert, dass Manager ihnen gegenüber rückverantwortlich sind. An dieser Stelle lässt sich das oben (6.2.2) angesprochene Konzept des ‚kooperativen Managements‘ reinterpretieren. Damit dieses Konzept greift, müssen die Arbeitnehmer sich sicher sein, dass sie einen langfristigen stake am Unternehmenserfolg haben, wie Goodwin et al. (2005, 380) ausführen. Während P-Autorität Kooperation durch Zwang sicherstellt, wird unter C-Autorität die Möglichkeit der Kooperation zum gegenseitigen Vorteil verwirklicht, bei der die Interessen der Beteiligten geschützt sind. Diese Gewissheit wirkt sich motivationsfördernd auf die Mitarbeiter aus (Hans-Böckler-Stiftung 2004, 5) und dient der effizienten Zusammenarbeit. Nach dieser Darstellung ist möglichen Einwänden entgegenzutreten. Ich habe bisher behauptet, dass das Recht auf Mitsprache von Arbeitnehmern gerechtfertigt ist, und abweichend von McMahon ein Mitspracherecht von Aktionären begründet. Im Anschluss an McMahon habe ich die These verteidigt, dass Managerautorität im größtmöglichen Umfang als C-Autorität auszugestalten ist. In dieser Bestimmung bedeutet demokratische Unternehmensführung: Führung durch bzw. im Namen der Arbeitnehmer. Der naheliegende
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Einwand ist, inwiefern sich diese Form der Mitbestimmung von oben skizzierten Ansätzen der Wirtschaftsdemokratie unterscheidet. Es gibt jedoch einige relevante Unterschiede. Zunächst werden die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse beibehalten. Damit sind die möglichen Interessenkonflikte von Arbeitern in arbeitergeführten Unternehmen ausgeschlossen. Aktionäre haben zudem ein schützenswertes Interesse hinsichtlich der Verwendung ihres Eigentums zu Gewinnzwecken und (in meinem Ansatz) entsprechende Mitspracherechte. Die hier skizzierte Form der Mitbestimmung dürfte also auch potentielle Investoren nicht abschrecken, weil sie sicher sein können, dass ihre Interessen geschützt sind. Mögliche Effizienzeinbußen aufgrund demokratischerer Entscheidungsstrukturen wären in dieser Konstellation nicht zu befürchten, weil Arbeitnehmer und Aktionäre gezwungen sind, die gegenseitigen Interessen anzuerkennen und zu berücksichtigen. Weil Arbeitnehmer zudem weiterhin Lohnempfänger sind, bestehen die Interessenkonflikte bezüglich wirtschaftlichen Wachstums nicht. Darüber hinaus muss dargelegt werden, wie weit das Konzept der demokratischen Mitbestimmung ausgelegt werden sollte. McMahon erkennt an, dass E-Autorität eine überragende Rolle bei der Besetzung von Vorstandspositionen spielt und somit die Möglichkeiten der Besetzung von Managementposten durch reguläre Arbeitnehmer stark begrenzen dürfte. Da für den Posten von Vorständen Personen mit spezieller Expertise notwendig sind, ist die Delegierung von Autorität an Personen mit E-Autorität begründet (McMahon 1994, 287 f.). Wichtiger ist jedoch der folgende Einwand gegen demokratisch geführte Unternehmen: Sie könnten zu einem suboptimalen Level an Investitionen führen, weil potentielle Investoren durch die Aussicht auf ein Management, welches vorrangig gegenüber seinen Arbeitnehmern verpflichtet ist, abgeschreckt würden. Auch könnte die verpflichtende Einrichtung von Mitbestimmungsgremien als Hemmnis für Firmenneugründungen wirken (ebd., 269). Es gibt daher womöglich gute Einwände, warum staatliche Institutionen es nicht zulassen könnten, dass Unternehmen demokratisch geführt werden (ebd., 272). McMahons Lösungsvorschlag läuft darauf hinaus, dass Gesetzgeber die Möglichkeit von demokratisch- und aktionärsgeführten Unternehmen gewährleisten sollten (ebd.). Letztlich hält er die Forderung, Autorität als C-Autorität zu definieren, durch die Bildung von „company unions“ (ebd., 284) für erfüllt. Hierbei handelt es sich um unternehmensbasierte Gewerkschaften, welche ein Forum für Arbeitnehmer bieten, über die Unternehmensdirektiven mitzuentscheiden (ebd.) und gegebenenfalls von dem Recht auf Streik Gebrauch zu machen, falls ihre Rechte nicht adäquat berücksichtigt werden. Ich möchte hier einen alternativen, wenngleich den Überlegungen von McMahon verwandten Lösungsvorschlag skizzieren. Das Recht auf Mitbestimmung ist durch die obige Rechtfertigung als dispositionell-konditionales, instrumentelles Recht zum Schutz konstitutiver Menschenrechte bestimmt. Weil
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Unternehmen in freien Märkten überwiegend hierarchisch organisiert sind (konditionale Bestimmung) und Individuen daher in ihrer Position als abhängig Beschäftigte nicht in der Lage sind, selbst ihre konstitutiven Rechte zu verwirklichen (dispositionelle Bestimmung), ist es zum Schutz ihrer positiven Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ (instrumenteller Rechtfertigungsgrund) moralisch geboten, dass ihnen Mitbestimmungsrechte und allgemeine Arbeitnehmerrechte eingeräumt werden. Das Recht auf Mitbestimmung ist kein Recht auf Selbstbestimmung. Es besagt, dass Arbeitnehmern hinsichtlich der Entscheidungen, welche sie betreffen, Mitsprache zugebilligt werden muss. Diese Mitsprache ist gegen das gerechtfertigte und schützenswerte Interesse von Aktieneignern abzuwägen. Damit ist McMahons Argument, Aktionäre könnten von Kontrollgremien gänzlich ausgeschlossen werden, zurückzuweisen. Vielmehr leitet sich die Forderung einer anteiligen Besetzung von Entscheidungs- und Kontrollgremien in Unternehmen ab. Diese Forderung hat in Deutschland durch das Mitbestimmungsgesetz und das Montan-Mitbestimmungsgesetz Berücksichtigung gefunden. Hiermit wird zunächst den Interessen und Rechten der Mitarbeiter dadurch Rechnung getragen, dass Aufsichtsräte zu gleichen Teilen aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern besetzt werden.31 Den Arbeitnehmern wird somit ein „Mitbestimmungsrecht in den Aufsichtsräten und in den zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organen“32 eingeräumt. Gleichzeitig wird das oben diskutierte schützenswerte Gewinninteresse von Aktieneignern durch die paritätische Teilung des Aufsichtsrats garantiert. Die deutschen Mitbestimmungsgesetze gelten nur für Betriebe mit mehr als 1000 (MontanMitbestG) bzw. 2000 Mitarbeitern (MitbestG). In Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern greift das Drittelbeteiligungsgesetz, demzufolge der Aufsichtsrat nur zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern besetzt sein muss.33 Für kleinere Unternehmen gelten diese Regelungen nicht. Die hier vertretene Argumentation rechtfertigt die Forderung, dass eine den Regelungen des deutschen Mitbestimmungsgesetz gleichwertige Form der Mitbestimmung, in denen Arbeitnehmern gleiches Gewicht gegenüber Arbeitgebern eingeräumt wird, auch in Unternehmen mittlerer Größe implementiert werden sollte. Die oben angesprochene Bildung von Gewerkschaften bietet eine weitere Möglichkeit des Machtausgleichs auch in kleineren Unternehmen, indem sich Arbeitnehmer in Gewerkschaften organisieren, um eine bessere Verhandlungs31 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie (im Folgenden zitiert als ‚Montan-MitbestG‘), § 4, Abs. (1); Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (im Folgenden zitiert als ‚MitbestG‘), § 7, Abs. (1). 32 Montan-MitbestG, § 1, Abs. (1). 33 Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, § 4, Abs. (1).
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position gegenüber den Arbeitgebern zu erlangen. Das Recht auf Mitbestimmung ist hier bestimmt als Recht, zur Vertretung eigener Interessen einer Gewerkschaft beizutreten. Dass Gewerkschaften eine gesellschaftlich notwendige Rolle zum Schutz von Arbeitnehmern haben, zeigt nicht zuletzt die Entwicklung der vergangenen Jahre. Die Arbeitsmarkt-‚Flexibilisierung‘ ging auch einher mit schwindender Verhandlungsmacht von Gewerkschaften und der Ausbreitung von Leiharbeitsverhältnissen, welche de facto „eine zweite Lohnlinie“ (Esslinger 2012) in Unternehmen etablieren und eine langfristige Bedrohung für das ‚Wohlergehen‘ eines großen Teils der Arbeitnehmer darstellen. In Abwesenheit von Mitbestimmungsgesetzen und „satisfaktionsfähige[n]“ (ebd.) Gewerkschaften sind Arbeitnehmerrechte nicht hinreichend geschützt. Das Argument, starke Gewerkschaften und Mitbestimmungsgesetze wirkten sich wohlstandsmindernd bzw. investitionsavers aus, lässt sich nicht bestätigen (Hans-Böckler 2004, 4 f.). Wie Paul Krugman erläutert, haben Gewerkschaften im Gegenteil einen entscheidenden egalisierenden und wohlstandsfördernden Effekt auf die breite Bevölkerung. In Bezug auf die Phase der Great Compression34 schreibt Krugman zur Rolle der Gewerkschaften: [E]verything we know about unions says that their new power was a major factor in the creation of a middle-class society […] unions have two main effects relevant to the Great Compression. First, unions raise average wages for their membership; they also, indirectly […] raise wages for similar workers, even if they aren’t represented by unions, as nonunionized employers try to diminish the appeal of union drives to their workers. As a result unions tend to reduce the gap in earnings between blue-collar workers and higher-paid occupations, such as managers. Second, unions tend to narrow income gaps among blue-collar workers, by negotiating bigger wage increases for their worst-paid members than for their best-paid members. (Krugman 2007, 51)
Hiermit bin ich zur Frage des gerechten Lohns und zur These zurückgekehrt, die Rahmenbedingungen für Lohnverhandlungen müssten so gestaltet sein, dass Verhandlungen auf Augenhöhe und Verfahrensgerechtigkeit gesichert seien.
34 Krugman bezieht sich mit dieser Bezeichnung auf einen Aufsatz von Goldin und Margo (1991). Diese haben die Einkommensentwicklung der 1940er bis 1970er Jahre in den USA untersucht und festgestellt, dass in den 1940ern eine starke ‚Kompression‘ des Gehaltsgefälles eingesetzt hat, welche bis in die 1970er nachwirkte und anschließend einer größeren Spreizung der Gehälter wich. Daher die Bezeichnung ‚Great Compression‘ (im Unterschied zur Great Depression der 1930er). Goldin und Margo argumentieren, dass nach der großen Depression und dem zweiten Weltkrieg nicht nur die Arbeitslosigkeit in den USA deutlich niedriger war, sondern eine so egalitäre Einkommensstruktur existierte wie noch nie in der Geschichte der Vereinigten Staaten (ebd., 1).
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Teil III: ‚Gerechter‘ Lohn und Arbeitnehmerrechte
6.3 Mitbestimmung und ‚gerechter‘ Lohn Krugman führt in obigem Zitat die egalisierende Wirkung von Gewerkschaften auf das Lohngefälle zwischen verschiedenen Arbeitnehmergruppen sowie auf die Gesamtverteilung der Einkommen an. Ich habe oben bereits dargelegt, inwiefern die Mitsprache in Aufsichtsratsgremien Gehaltsexzesse wie in den vergangenen Jahrzehnten zu verhindern hilft. Die aktive Überwachung des Vorstands durch die Arbeitnehmer- und Aktionärsvertreter dient der inneren governance des Unternehmens und dem Schutz vor Selbstbedienungspraktiken von Managern, die ohne eine solche Mitsprache nur den Aktieneignern gegenüber verantwortlich sind. Der Begriff ‚Verhandlungen auf Augenhöhe‘ meint, dass die (Gehalts-)Forderungen des Vorstands gegen Vorbehalte der Arbeitnehmervertreter abgewogen werden müssen. Die Verhandlungen sind dann verfahrensgerecht, wenn im Verfahren das Recht auf Mitbestimmung entsprechend verankert wird und die allgemeinen Arbeitnehmerrechte geschützt sind. Womöglich werden aufgrund der hier geforderten Arbeitnehmerrechte keine Umverteilungen von Einkommen in großem Maße stattfinden. Jedoch ist die Prognose zulässig, dass die in Kapitel 5 kritisierten Spitzen und die extremen Disparitäten in der Einkommensverteilung – sowohl im Hinblick auf Niedriglöhne als auch im Hinblick auf Managergehälter – genommen würden. Wenn Arbeitnehmern im Niedriglohnsektor durch gewerkschaftliche und betriebliche Organisation von Mitbestimmung adäquat Gehör verschafft würde, sollte ein Mindestlohn, der es ermöglicht, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen, durchgesetzt werden können. Gleichzeitig dürften Gehaltsexzesse wie die des Disney-CEOs Michael Eissner, welcher 1994 203 Millionen US-Dollar verdiente, was 68 Prozent des Gesamtgewinns des Unternehmens darstellte (Heath 2009, 254), nicht mehr möglich sein, wenn in Unternehmen Mitspracherechte grundsätzlich durchgesetzt und entsprechend genutzt werden könnten. Durch solche Regelungen würde geschaffen, was Rawls im Hinblick auf die gerechte Grundstruktur „Rahmengerechtigkeit“ (Rawls 1979, 338) nennt. Die hier dargelegte Argumentation führt zu dem Schluss, dass ein ‚gerechter‘ Lohn in konkurrenzbestimmten Märkten wohl nicht festgelegt werden kann, dass aber ein ‚gerechtfertigter‘ Lohn ein solcher ist, der auf der Grundlage einer gleichberechtigten Auseinandersetzung ‚auf Augenhöhe‘ zustande kommt. Die „Vorschriften des gemeinen Verstandes“ (ebd., 339), welche Forderungen aufgrund von Verdienst, Knappheit, Produktivität und dergleichen begründen, mögen in solchen Verhandlungen allesamt eine Rolle spielen. Entscheidend ist, dass die Resultate in einem gerechten Verfahren hergeleitet werden. Solche Rahmenbedingungen für Arbeitsverhältnisse dienen dazu, die „berechtigten Erwartungen“ (Rawls 1979, 347) der Verhandlungspartner zu berücksichtigen:
6. Arbeitnehmerrechte und Unternehmensstrukturen
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In einer wohlgeordneten Gesellschaft erwerben die Menschen Ansprüche auf Teile des Sozialprodukts, indem sie gewisse Handlungen ausführen, zu denen die bestehenden Institutionen auffordern. Die entstehenden berechtigten Erwartungen sind gewissermaßen die Rückseite des Grundsatzes der Fairness und der natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit. Denn so, wie man die Pflicht hat, gerechte Institutionen aufrechtzuerhalten […] so hat jemand, der sich regelmäßig verhalten und seinen Beitrag geleistet hat, das Recht, von den anderen entsprechend behandelt zu werden. Sie sind verpflichtet, seine berechtigten Erwartungen zu erfüllen. Wenn also gerechte wirtschaftliche Verhältnisse bestehen, so werden die Ansprüche der einzelnen ordnungsgemäß abgegolten, indem man auf die dafür maßgebenden Regeln und Vorschriften […] zurückgeht. (Rawls 1979, 347 f.)
Ich greife diesen Gedanken von Rawls auf und schlussfolgere, dass die berechtigten Ansprüche Einzelner nur „ordnungsgemäß abgegolten“ werden können, wenn die geltenden Vorschriften Rahmengerechtigkeit in den Verhandlungen über Löhne, Arbeitsbedingungen und -verhältnisse garantieren.35 Dies ist m.E. nur möglich, wenn für ein Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gesorgt ist. Hierzu sind Arbeitnehmerrechte unerlässlich. Das Recht auf Mitbestimmung nimmt hier eine besondere Rolle ein, weil es garantiert, dass Arbeitgeberforderungen nicht ohne Berücksichtigung der Rechte und Interessen von Arbeitnehmern durchgesetzt werden dürfen. Andernfalls kommt es zu „[s]trukturelle[n] Machtungleichgewichte[n]“ (Lesch u. Bennett 2010, 29) zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, welche „die Lohngerechtigkeit von Marktbewertungen“ (ebd.) in Frage stellen. Die strukturelle Unterlegenheit von Arbeitnehmern ist m.E. in kapitalistisch organisierten Marktwirtschaften nicht gänzlich aufzuheben. Für alle Marktteilnehmer besteht aufgrund des Einkommensimperativs die ökonomische Notwendigkeit, für den Lebensunterhalt eine Tätigkeit aufzunehmen. Arbeitnehmer sind zudem an Weisungen und Direktiven von Vorgesetzten gebunden und somit in ihrer positiven Freiheit eingeschränkt (Gewirth 1996, 266). Die vollständige ökonomische Freiheit als Abwesenheit von äußerem Zwang ist daher womöglich nicht vollumfänglich zu realisieren. Arbeitnehmerrechte wie das Recht auf Mitsprache helfen jedoch, ein level playing field zu schaffen und somit die positiven Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ zu schützen.
35 Ich führe hier Rawls für eine These an, welche je nach Interpretation seiner Argumentation zuwiderläuft. Rawls geht davon aus, dass Löhne dann gerecht sind, „wenn ein […] konkurrenzbestimmtes Preissystem richtig organisiert und in eine gerechte Grundstruktur eingebaut wird“ (Rawls 1979, 338). Ich bin der Auffassung, dass diese gerechte Grundstruktur adäquate Rahmenbedingungen für marktwirtschaftliche Transaktionen umfasst, zu denen Arbeitnehmerrechte auf Mitbestimmung und die Assoziation in Gewerkschaften gehören. Rawls‘ Ausführungen zum ‚gerechten‘ Lohn (ebd., 344–350) eröffnen zumindest die Möglichkeit einer solchen Interpretation.
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Schlussbetrachtung Wer über Geld nachdenkt, stößt alsbald auf zwei zentrale Fragen. Frage eins: Was ist für Geld zu haben bzw. was kann man sich dafür kaufen? Frage zwei: Wie wird bzw. wie ist es verteilt? Dass die beiden Fragen tatsächlich in der genannten Reihenfolge behandelt werden müssen, liegt daran, dass wir uns mit der Verteilung des Geldes in sinnvoller Weise erst dann befassen können, wenn wir die Sphäre, innerhalb deren [sic] es wirksam ist, und die Reichweite seiner Wirksamkeit und Geltung kennengelernt haben. D.h., wir müssen als erstes herausfinden, wie wichtig Geld wirklich ist. (Walzer 1992, 150)
Ich habe mit meiner Dissertation das Ziel verfolgt, eine mögliche Antwort auf die beiden von Walzer aufgeworfenen Fragen hinsichtlich der angemessen Sphäre und Bedeutung des Geldes zu liefern. In meinem Ansatz sind dies Kernaspekte der wirtschaftsethischen Forschung. Die Wirtschaftsethik beschäftigt sich zunächst mit der Begründung und Anwendbarkeit von moralischen Normen in der Wirtschaft, sie untersucht in dieser Sichtweise aber auch, was der angemessene Rahmen ist, innerhalb dessen die ökonomische Freiheit, freie Verträge einzugehen, praktiziert werden sollte. Sie muss zudem darüber Aufschluss geben, wie wichtig Geld sein sollte, d.h. sie muss die angemessenen Grenzen ökonomischer Interaktion und zulässiger Ungleichheiten darlegen. Aus diesem Blickwinkel dient die Wirtschaftsethik nicht nur der Analyse und Beurteilung von Markttransaktionen, sondern im weitesten Sinne der Beantwortung der Frage, was für Geld zu haben sein und welche Bedeutung ihm zukommen sollte. Bei der Aufarbeitung dieser Fragestellungen habe ich mich von einigen „wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen“ (Rawls 1979, 37) leiten lassen. Diese Urteile mussten sowohl anhand der Methoden und Grundsätze der normativen Ethik überprüft werden als auch unter Berücksichtigung einiger entscheidender Aussagen der Ökonomik zur Machbarkeit moralischer Forderungen in bestimmte Grundsätze überführt werden. Einige meiner Vorannahmen wurden bestätigt, andere mussten revidiert werden. Vor allem das Studium bestimmter Aspekte der Ökonomik hat die Einsicht hervorgebracht, dass zwar auch bei wirtschaftsethischen Fragestellungen die Gültigkeit moralischer Urteile und nicht deren „sozioökonomische[…] Bedingungen“ (Tugendhat 1993, 16) entscheidend ist, dass aber die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen sorgfältig hinsichtlich ihrer Machbarkeit überprüft werden müssen. Beispielsweise stand ich zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit der Wirtschaftsethik
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dem Konzept der Wirtschaftsdemokratie sehr sympathisch gegenüber. Ich halte dies nach wie vor für einen bedenkenswerten Anstoß zur Reform der Organisationsstruktur von Unternehmen in Marktwirtschaften. Allerdings hat mich das Studium der Argumente für und wider diese Organisationsform zu der Ansicht gebracht, dass bestimmte (ökonomisch begründete) Anreizerwägungen eher dagegen sprechen, dass das Konzept der Wirtschaftsdemokratie die Ziele realisieren könnte, welche ihre Anhänger mit ihm verbinden. Joseph Heath legt einen ähnlichen Erkenntnisprozess dar: What one discovers […] is that for any ridiculous, destructive, or unjust state of affairs, there is usually an understandable reason why that state of affairs persists. Our problem is often not that we lack the will to fix our problems, but that we don’t know how to fix them. (Heath 2009, 308)
Manche Ungerechtigkeiten, welche durch kapitalistisch organisierte Marktwirtschaften hervorgerufen oder verstärkt werden, lassen sich womöglich nicht vollumfänglich beheben. Das Problem ist, dies macht Heath deutlich, dass manche wünschenswerten Alternativen nur sehr schwierig umzusetzen sind. Die von mir skizzierten Forderungen folgen auch der Erkenntnis, dass wirtschaftsethische Grundsätze die „Funktionserfordernisse der modernen Wirtschaft“ (Homann 2002d, 3) berücksichtigen müssen. Einige andere Gerechtigkeitsvorstellungen konnten hingegen durch bestimmte normative Grundsätze bestätigt werden. Zu nennen wäre die beobachtete Tendenz zur Ökonomisierung der Lebenswelt und ihrer kulturkritisch zu beleuchtenden Folgen. Aber auch die Annahme, dass der Markt begrenzt werden muss, damit er die ihm zugeschriebenen wohlfahrtsförderlichen Wirkungen entfalten kann, hat sich anhand der geleisteten Untersuchung bestätigt. Zuletzt konnte die Vorstellung, es sei für die angemessene Berücksichtigung der Rechte aller Marktteilnehmer notwendig, dass diesen eine Mitsprache über die sie betreffenden Aspekte des Wirtschaftens gegeben wird, anhand des Arguments für Arbeitnehmerrechte gerechtfertigt werden. Ich möchte nach diesen einleitenden Bemerkungen nun die entscheidenden Ergebnisse meiner Dissertation darstellen und abschließend einige aus dieser Arbeit resultierende Anregungen für die zukünftige Forschung skizzieren. Im ersten Teil der Dissertation wurden die ökonomische und die integrative Wirtschaftsethik dargestellt und kritisiert. Es konnte gezeigt werden, dass die ökonomische Ethik durch das Prinzip der anreizkompatiblen Implementierbarkeit ihre Maßgabe des Vorrangs der politischen Ordnung untergräbt. Ich habe zudem gegen Homann deutlich gemacht, dass die ökonomische Ethik durch ihre These, der Wettbewerb sei die beste Voraussetzung zur Verwirklichung der Solidarität aller, den sittlichen Wert der Marktwirtschaft überhöht. Weder lässt sich zeigen, dass mehr Wohlstand notwendigerweise zu mehr Freiheit führt, noch ist der Wohlstand aller allein durch wirtschaftliches Wachstum zu ge-
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währleisten. Ohne die Verknüpfung mit Theorien der Verteilungsgerechtigkeit ist die von Homann vertretene These der moralischen Vorzugswürdigkeit von Marktwirtschaften daher nicht haltbar. Zuletzt wurde gezeigt, dass die geforderte Rekonstruktion der Ethik durch die Ökonomik scheitern muss, weil die These, alles Handeln sei letztlich nutzenmaximierend, eine unzulässige Reduktion menschlicher Handlungsgründe darstellt. In Kapitel 2 wurde anschließend die integrative Wirtschaftsethik dargestellt und einige Kritikpunkte deutlich gemacht. Ich habe gezeigt, dass in der Ökonomismuskritik eine kritische Stärke der integrativen Wirtschaftsethik liegt. In Kapitel 3 habe ich allerdings die notwendige Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚Ökonomismus‘ und ‚ökonomischer Imperialismus‘ eingebracht, welche die integrative Wirtschaftsethik nicht hinreichend deutlich macht. Ich habe darüber hinaus kritisiert, dass Ulrich nicht ausreichend darlegt, wie die individual- oder unternehmensethische Selbstbegrenzung ohne die simultane Reform der Rahmenbedingungen möglich und geboten sein soll. Bei dem Konzept des ‚republikanischen Liberalismus‘ wurde kritisiert, dass dieses unzureichend ergründet, wie der eingeforderte Bürgersinn zu realisieren wäre. Das Konzept der Wirtschaftsbürgerrechte bot hingegen den Anstoß, in Kapitel 6 ein eigenes Konzept solcher Rechte als Arbeitnehmerrechte zu erarbeiten. Teil 2 der Dissertation beschäftigte sich mit der Frage, was die angemessenen Grenzen des Marktes sein sollten. In Kapitel 3 habe ich zunächst dargelegt, dass der ökonomische Imperialismus, verstanden als methodischer Reduktionismus, eine zulässige Analysemethode für Problemstellungen sozialer Interaktion darstellt. Er ist dann nur insofern reduktionistisch, als er die Komplexität des präsentierten Sachverhalts reduziert, und imperialistisch allein hinsichtlich der möglichen Forschungsgegenstände der ökonomischen Analyse. Ich habe jedoch anschließend gezeigt, dass der ökonomische Imperialismus, verstanden als ontologischer Reduktionismus, unzulässig reduktionistisch ist im Hinblick auf mögliche Handlungsgründe. Zuletzt wurde der ökonomische Imperialismus als epistemologischer Reduktionismus kritisiert aufgrund seines Anspruchs, die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Nachbardisziplinen ließen sich ohne Bedeutungsverlust auf das ökonomische Modell reduzieren. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass der Ökonomismus die Tendenz zur Marktgesellschaft befördert. Mit Habermas wurde argumentiert, dass die Expansion des Marktes auf gesellschaftlich schützenswerte Bereiche zur ‚Kolonialisierung‘ der Lebenswelt führt. Ein Vordringen des Marktes könnte daher, so das Argument, zur Verdrängung von nicht wettbewerbskonformen Handlungsweisen führen. In Kapitel 4 wurde die bisher noch recht allgemeine Kritik an der Ausweitung der Marktsphäre mithilfe einiger Argumente zu den Grenzen des Marktes spezifiziert. Anhand des von Michael Sandel eingebrachten ‚Zwang-Arguments‘ wurde die These vertreten, dass Marktransaktionen nur dann als freie
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Transaktionen gekennzeichnet werden können, wenn die gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen Fairness und Chancengleichheit im Markt garantieren. Ich habe anhand eines positiven Freiheitsbegriffs skizziert, inwiefern die Fairness von Transaktionen nur dann gewährleistet werden kann, wenn die Transaktionspartner über reale Handlungsalternativen verfügen. Daher müssen extreme Ungleichheiten zwischen Marktakteuren sowie forced-choice Situationen verhindert werden. Dies beinhaltet, dass verzweifelte Transaktionen sowie ausbeuterische Transaktionsverhältnisse zu kritisieren sind. Ausbeutung zeigt sich m.E. bei der unfairen Ausnutzung der sehr ungleichen Machtposition zwischen zwei Vertragspartnern. Darüber hinaus habe ich als eine weitere Bedingung für die Gewährleistung von Chancengleichheit und Fairness dargelegt, dass Geld nicht zu einem dominanten Gut werden und daher wirtschaftliche Macht nicht in politische Macht konvertiert werden darf. Ich habe auf der Grundlage dieses Arguments die These verteidigt, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen, welche durch die unbotmäßige Einflussnahme wirtschaftlicher Interessengruppen zustande kommen, die Fairness und Chancengleichheit von Markttransaktionen untergraben. Anschließend wurde mithilfe des ‚Korrumpierungs‘-Arguments erörtert, ob es bestimmte Güter gibt, die unter keinen Umständen für Geld zu haben sein sollten. Ich habe dieses Argument anhand der kommerziellen Leihmutterschaft diskutiert. Es wurde gezeigt, dass das Argument der Vertragsfreiheit für die Legalisierung kommerzieller Leihmutterschaften spricht. Die strittige Frage, ob es sich bei der kommerziellen Leihmutterschaft um eine intrinsisch degradierende Dienstleistung handelt, spricht allerdings eher gegen die Legalisierung. Ich habe mich bewusst nicht eindeutig zur Frage der (De-)Kommodifizierung von Leihmutterschaften positioniert. Mir ging es vorrangig darum zu zeigen, dass die Frage, ob bestimmte Güter keinesfalls über den Markt distribuiert werden sollten, hochdiffizil ist und eine sehr sorgfältige Abwägung der Argumente für und wider der Kommodifizierung bedarf. Der dritte Teil meiner Arbeit beschäftigte sich mit dem ‚gerechten‘ Lohn und der Frage, wie Arbeitnehmerrechte begründet und gerechtfertigt werden können. In Kapitel 5 habe ich zunächst die Lohnkriterien Angebot und Nachfrage, Verdienst und Bedürfnis dargestellt. Anschließend habe ich argumentiert, dass keins der angeführten Kriterien die derzeitige Einkommensverteilung zu explizieren vermag. Zudem ließ sich anhand dieser Kriterien kein ‚gerechter‘ Lohn begründen, weil es diesen in konkurrenzbasierten Märkten nicht geben kann. Die Bedeutung des Kriteriums Angebot und Nachfrage wird durch den Anreiz, Effizienzlöhne zu zahlen, welche über dem markträumenden Preis liegen, sowie die Existenz von Marktmacht unterminiert. Das normative Kriterium Verdienst hingegen bietet keine Anhaltspunkte für die Entlohnung. Daher können auch die als spezifischere Verdienstkriterien verstandenen Merkmale Humankapital
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und produktiver Beitrag nicht zur Begründung eines ‚gerechten‘ Lohns dienen. Ich habe gezeigt, dass zwar das verfügbare Humankapital des Arbeitnehmers im Markt fraglos eine Rolle spielt. Mein Argument lautet jedoch, dass ebenso entscheidend ist, in welcher Verhandlungsposition sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenübertreten. Das Kriterium produktiver Beitrag wiederum bietet keine operationalisierbare Grundlage für eine Theorie des gerechten Lohns. Die Schwierigkeiten bei Vergleich und Bemessung des jeweiligen Beitrags machen es unmöglich, dessen Wert objektiv zu beurteilen. Ich habe hingegen eine verteilungsorientierte Sicht auf die jeweiligen Einkommen stark gemacht, die betont, dass Lohnverhandlungen auch Auseinandersetzungen über angemessene Verteilungen darstellen, bei denen ein entscheidender Faktor ist, ob sich die Verhandlungspartner als Gleiche begegnen, oder aber Ungleichheiten zwischen ihnen bestehen. Dieses Argument bildete die Grundlage der weiteren Erörterungen in Kapitel 6. Abschließend habe ich in Kapitel 5.3 die Forderung nach einem Mindestlohn begründet. Mithilfe des Bedürfnis-Arguments wurde argumentiert, die Gehälter dürften nicht so niedrig sein, dass sie nicht zum Leben reichen. Der jeweilige Lohn muss also mindestens so hoch sein, dass hiermit die grundlegendsten Bedürfnisse gedeckt werden können. Mithilfe des Würde-Arguments habe ich anschließend gezeigt, dass ein in Vollzeit erwirtschafteter Lohn so hoch sein muss, dass er ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht. Dies bedeutet, dass der erzielte Lohn einen Lebensstandard ermöglichen muss, der angesichts des jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstands nicht stigmatisierend wirkt und es den Betroffenen ermöglicht, als Gleiche angesehen zu werden. In Kapitel 6 habe ich schließlich allgemeine Arbeitnehmerrechte als abgeleitete Menschenrechte bestimmt. Hierzu wurden zunächst im Anschluss an Alan Gewirth die Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ als Menschenrechte ausgewiesen, die konstitutiv für die Fähigkeit zu handeln sind. Anschließend habe ich allgemeine Arbeitnehmerrechte als dispositionell-konditionale, abgeleitete positive Rechte bestimmt, die instrumentell gerechtfertigt sind aufgrund ihrer Bedeutung für konstitutive Menschenrechte. Weil Unternehmen hierarchisch organisiert sind (konditionale Bestimmung) und abhängig Beschäftigte nicht in der Lage sind, selbst ihre konstitutiven Rechte zu verwirklichen (dispositionelle Bestimmung), ist es zum Schutz ihrer Rechte auf Freiheit und ‚Wohlergehen‘ (instrumenteller Rechtfertigungsgrund) moralisch geboten, dass ihnen Mitbestimmungsrechte und allgemeine Arbeitnehmerrechte eingeräumt werden. Nachdem hiermit allgemeine Arbeitnehmerrechte gerechtfertigt waren, habe ich im zweiten Teil des sechsten Kapitels dargelegt, warum insbesondere das Recht auf Mitbestimmung gesellschaftlich notwendig ist. Ich habe mich in Anlehnung an Christopher McMahon um einen alternativen Management-Ansatz bemüht. Hierbei spielte die Frage, wann Hierarchien und unternehmerische Autorität gerechtfertigt sind, eine zentrale Rolle. Hierarchische Autorität ist
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begründet aufgrund ihrer Funktion, zu gegenseitig vorteilhafter Kooperation beizutragen. Autorität in Unternehmen, so das Argument, muss reflexiv ausgestaltet sein. Diese Form der Autorität ist dadurch legitimiert, dass sie denjenigen gegenüber verantwortlich ist, deren Handlungen durch sie bestimmt werden. Manager sind daher in meinem Ansatz sowohl Aktionären als auch Arbeitnehmern gegenüber verantwortlich. Die Schlussfolgerung lautet, dass Entscheidungs- und Kontrollgremien in Unternehmen anteilig durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter besetzt werden müssen. Ich möchte abschließend darlegen, welche Anregungen für zukünftige Forschung sich aus meiner Arbeit ziehen lassen. Ich habe bei meinen Ausführungen implizit oder explizit industrialisierte westliche demokratische Gesellschaften vorausgesetzt, in denen die von mir begründeten Prinzipien und Grundsätze zum Tragen kommen sollen. Im Rahmen einer global business ethics wäre zu erörtern, inwiefern sich beispielsweise die aus dem Zwang-Argument abgeleiteten gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen Fairness und Chancengleichheit auf globaler Ebene begründen und implementieren ließen. Angesichts der aus dem globalen Wettbewerb resultierenden Probleme und zu erwartenden Ausweichtendenzen wäre dies eine anspruchsvolle und zugleich lohnenswerte Fragestellung. Die Praxis der kommerziellen Leihmutterschaft wurde hier lediglich diskutiert, um die hohen normativen Ansprüche für die Forderung darzustellen, den Handel mit einem bestimmten Gut zu unterbinden. Ich habe keine abschließende Evaluierung der Leihmutterschaft geleistet, weil bisher kein restlos überzeugender Ansatz für oder gegen die Legalisierung dieser Dienstleistung vorliegt. Eine aus der Behandlung dieser Frage gewonnene Erkenntnis ist, dass es gerade bei strittigen Märkten wichtig ist, sich nicht allein von moralischen Intuitionen darüber leiten zu lassen, was ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Formen des Umgangs mit bestimmten Gütern sind. Dies gilt auch für andere gesellschaftlich umstrittene Märkte wie den Organhandel, die Legalisierung harter Drogen oder die Prostitution. Am Beispiel der kommerziellen Leihmutterschaft wurde gezeigt, dass bei der Evaluation solcher Märkte eine Vielzahl unterschiedlicher Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen. Gebietet das Recht auf Vertragsfreiheit, dass potentielle Leihmütter einen Leihmutterschaftsvertrag eingehen dürfen, wenn sie es wünschen? Werden die Interessen des Kindes bei einer solchen Transaktion ausreichend berücksichtigt? Was ist mit den Interessen der zukünftigen sozialen Eltern? Ist die Leihmutterschaft ein altruistischer Akt, oder wirkt sie sich für Frauen degradierend aus? In der weiterführenden Behandlung dieser Fragen liegt ein spannendes Feld zukünftiger Forschung. Die Debatte um einen flächendeckenden Mindestlohn hat derzeit große politische Relevanz. SPD und DGB treten für einen solchen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ein. Mein Argument lautet: Wenn das gesellschaftliche Zusammenleben als gemeinsame Sache verstanden wird, dann ist es nicht zulässig, dass
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manche Gesellschaftsmitglieder trotz einer Vollzeitbeschäftigung einen Lohn erzielen, von dem sie nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Ein Lohn, der nicht die grundlegendsten Bedürfnisse deckt und ein Leben in Würde verwehrt, wirkt stigmatisierend und erschwert es den Betroffenen, als Gleiche angesehen zu werden. Solche Ungleichheiten untergraben zudem das Gefühl, dass man als demokratische Bürger ein gemeinsames Leben führt (Sandel 2000, 121) und wirken somit erodierend auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es wäre zu untersuchen, inwiefern die Prämissen, welche sich aus dem Bedürfnis- und dem Würde-Argument ableiten, in der Diskussion berücksichtigt und wie sie letztlich implementiert werden könnten. Ich habe des Weiteren in meiner Arbeit Arbeitnehmerrechte begründet und die herausragende Bedeutung des Rechts auf Mitbestimmung dargelegt. Zukünftig müsste untersucht werden, ob und wie die Implementierung von Mitbestimmung in Kontrollgremien auch in Unternehmen mittlerer Größe effizient ausgestaltet und letztlich umfassend implementiert werden könnte. Zudem habe ich nur angerissen, inwiefern Mitbestimmung förderlich für das Konzept des kooperativen Managements sein kann. Hier wäre zu erörtern, wie sich im Rahmen der verschiedenen Management-Ansätze ein umfassendes Konzept der Unternehmensethik erarbeiten ließe. Darüber hinaus habe ich mit meiner Arbeit eine Hinwendung der Wirtschaftsethik zur politischen Philosophie vollzogen, indem ich einige Thesen zur angemessenen Sphäre des Marktes skizziert habe. Ich habe zudem einige Annahmen der Ökonomik untersucht, um Rückschlüsse für die Begründung und Gestaltung normativer Grundsätze zu erhalten. Diese Verzahnung von normativer Ethik, politischer Philosophie und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung sollte m.E. weiter vorangetrieben werden im Sinne einer umfassenden wirtschaftsethischen Theorie.
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Personenregister Abowd, John 166, 167 Akerlof, George A. 11 (Anm. 5), 131 (Anm. 20), 151 (Anm. 6) Anderson, Elizabeth S. 123, 126, 127, 129, 132–136 Apel, Karl-Otto 44–47, 75 Arens, Markus 159 (Anm. 9), 161 (Anm. 10) Arneson, Richard J. 109, 220 (Anm. 27), 222 Arnold, Denis G. 107 (Anm. 5) Arnold, N. Scott 110, 147, 148, 150, 162, 163 Bartels, Larry M. 118, 173–175 Bathke, Gustav-Wilhelm 159, 161 (Anm. 10) Becker, Gary S. 78, 81–83, 161 (Anm. 10), 173 Becker, Rolf 161 (Anm. 10) Bennett, Max R. 90 Bollenbeck, Georg 84 Bowie, Norman E. 107 (Anm. 5), 217 Buchanan, James M. 23 Buchter, Heike 115 Buntenbach, Annelie 170 Card, David 172–174 Chang, Ha-Joon 153, 154, 167 Chasanov, Amy 177 Coase, Ronald H. 208, 212 Cordero, Ronald A. 179–181 Dew-Becker, Ian 164, 165 Ditton, Hartmut 159 Ehrenberg, Ronald G. 171 Esslinger, Detlef Etzioni, Amitai 40 Freeman, R. Edward 192, 215, 217
Freeman, Richard B. 173, 174, 190 Friedman, Milton 15 (Anm. 6), 130, 171, 214, 216 Gertner, Jon 173, 174 Gewirth, Alan 5, 32 (Anm. 11), 103, 104, 111, 159, 163, 165, 166, 183, 186–188, 190, 193–195, 203, 204 (Anm. 12), 218–225, 229, 230, 237, 242 Goldin, Claudia 235 (Anm. 34) Goodin, Robert E. 111, 112 Goodwin, Neva 12, 98, 145, 149, 150, 152 (Anm. 7), 164, 193, 210, 214, 215, 216, 221, 232 Gray, John H. 80 Griffin, James 188, 202 Günter, Klaus 49 Habermas, Jürgen 3, 18, 44–46, 49, 50, 64, 71, 88, 92–95, 121, 240 Hayek, Friedrich August von 101–104, 155, 156 Heath, Joseph 145, 146, 161, 162, 164, 166, 176, 171, 172, 227, 229, 236, 239 Heß, Dorit 165 Hoffmann, Catherine 68 Homann, Karl 1, 2, 8–14, 16–27, 29–35, 37, 38, 41, 69–71, 78, 82, 83–85, 90, 91, 94, 113, 118, 148, 178, 181, 184, 239, 240 Horn, Gustav 36 (Anm. 13), 67, 142 Horschel, Nicole 171 Janisch, Wolfgang 94 Jaschensky, Wolfgang 116 Jirjahn, Uwe 224 Johansen, Leif 40 Kalina, Thorsten 4, 169, 170, 177 Kant, Immanuel 24, 25, 71, 189
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Personenregister
Kettner, Matthias 33, 34, 54, 55, 57, 65–67, 69 Khurana, Rakesh 167 Kirchgässner, Gebhard 10, 11, 39, 79, 85, 96, 97, 122, 138, 191 Koller, Peter 194, 195 Kramme, Anette 170 (Anm. 14) Krueger, Alan B. 172–175 Krugman, Paul 10, 35, 36 (Anm. 12, 13), 117, 143, 149, 153–155, 157, 161 (Anm. 10), 162, 163, 173, 235 Kuttner, Robert 93, 94, 99, 100, 151, 153, 155, 157, 165, 188 Lenk, Hans 1 (Anm. 1) Lepage, Henri 87 Lesch, Hagen 150, 152, 164 (Anm. 11), 171, 172, 237 Lindblom, Charles E. 96 (Anm. 1) Luhmann, Niklas 1, 9, 19, 41, 72 Machin, Stephen 173 Maitland, Ian 107 (Anm. 5), 208, 209 Marx, Karl 108–111, 124 (Anm. 14), 146, 160, 163, 164, 185, 186 (Anm. 22) Matecki, Claus (185) McMahon, Cristopher 5, 217, 224–234, 242 Miller, David 111 (Anm. 7), 185, 220 (Anm. 27) Moriarty, Jeffrey 158, 159, 166, 168, 227, 230, 231 Murray, Charles (158)
Ragacs, Christian 173 Rawls, John 20, 21, 22 (Anm. 10), 27–31, 34, 35, 37, 59, 62, 71, 72, 73, 81, 104, 118–120, 155, 156, 158, 160, 183, 194, 225, 236, 237 (Anm. 35), 238 Robbins, Lionel 81 Rudzio, Kolja Uchatius 143 (Anm. 2) Sandel, Michael 3, 60 (Anm. 4), 86, 96, 100–102, 105, 121, 122, 130, 131 (Anm. 19), 136, 137, 139, 240, 244 Satz, Debra 99, 131, 134, 189 Scanlon, Thomas M. 96, 105, 106, 112, 113, 184, 187 Schilling, Thorsten Schulz, Thomas 117 (Anm. 12), 118 Schweickart, David 220 (Anm. 27) Sen, Armatya 11, 34, 35, 39, 91 Shue, Henry 189 (Anm. 24), 194 (Anm. 1) Simon, Herbert 11 (Anm. 5) Smith, Adam 12, 20, 217 Steigleder, Klaus 127 (Anm. 16), 183 (Anm. 20), 195 (Anm. 2, 3, 4), 196, 197, 198, 228 Stigler, George J. 81 Suchanek, Andreas 16, 20, 21, 26, 78, 82, 83, 85, 118 Thielemann, Ulrich 48, 53, 55, 59, 66, 70, 80, 145 (Anm. 3) Tugendhat, Ernst 32, 52, 147, 162, 178, 182, 238
Nagel, Thomas 87 Neckel, Sighard 163 Nell, Edward 153, 216 Neumark, David 173 Nozick, Robert 28, 29, 97, 98, 109, 110, 123, 161, 221–223
Ulrich, Peter 2, 5, 33, 36, 42, 43, 47–53, 55–75, 79, 80, 103, 112, 145 (Anm. 3), 180 (Anm. 19), 192, 193, 206 (Anm. 13, 14), 209, 218, 240
Palmowski, Jan 82, 83 Peacocke, Arthur 89, 90 Pindyck, Robert S. 151, 156, 171 Popper, Karl 121, 122, 143 Protess, Ben 114, 115
Walzer, Michael 60 (Anm. 5), 88, 96, 106, 107, 113, 114, 118, 156, 208, 238 Wellman, Carl 202, 204, 207 Werhane, Patricia H. 194, 206, 207 (Anm. 16), 211, 217, 230, 232 Werner, Micha H. 46 Wertheimer, Alan 111, 128, 129, 131, 132 Wilkinson, T. M. 175–178
Radin, Margaret J. 80, 86, 93, 107, 121, 122, 124, 125, 134, 136, 188
Vogl, Joseph 89, 91, 93, 140, 153
257
Sachregister Angebot und Nachfrage 143, 144, 146, 150–156, 212, 241 Arbeitslosigkeit 37, 108, 151 (Anm. 4), 171, 173, 177, 183, 187, 204, 219, 235 (Anm. 34) Ausbeutung, ausbeuterisch 3, 5, 15, 17, 69, 83, 106–112, 133–134, 160, 181, 184, 209, 241 Autorität – hierarchische 75, 211, 232, 242 – Managerautorität 231–232 – reflexive 226 – unternehmerische 213, 226, 242 Bedürfnis 5, 13, 43, 62, 73, 144, 146–150, 160, 168, 176, 181–190, 241–244 Beitrag, produktiver 150, 156, 165–168, 242 Bürgerrechte 35, 60, 61 (Anm. 6), 62, 71–75, 193, 201–205 Chancengleichheit 3, 15 (Anm. 7), 27, 37, 60, 72, 101–105, 117–121, 241 Degradierung, degradierend 4, 101, 120–130, 133–134, 137, 139, 214, 243 Differenzprinzip 27, 28, 30, 37, 72, 158, 183 Diskursethik, diskursethisch 42–47, 61, 63, 70–71, 93 Dominanz 107, 113, 114, 116, 118–120 – dominantes Gut 3, 96, 114, 118, 241 Effizienz 1, 2, 11, 12, 17, 43, 52, 59, 63, 65–71, 109, 151–152, 163, 166, 168, 172, 178, 181, 209, 213, 217, 221–224, 232, 241 Einkommen – Einkommensschichten 142, 157–159
– Einkommensverteilung 4, 36 (Anm. 13), 37, 68–69, 105, 142–149, 152, 154, 162, 165, 178, 223, 236, 241 Entfremdung, entfremden 124, 133, 134 Ethik – angewandte 48–51 – Aspektethik 49, 59, 80 – Individualethik, individualethisch 16, 30, 31, 41, 57, 68, 69 – Institutionenethik, institutionenethisch 2, 8, 16–19, 30, 41, 42, 57, 69, 112 – mit ökonomischer Methode 8, 10, 23, 24 – Ordnungsethik 58, 68 – Rekonstruktion der Ethik durch die Ökonomik 2, 10, 38, 64, 90, 240 – Unternehmensethik, unternehmensethisch 42, 57–58, 63, 69, 74, 75, 192, 240, 241 – Vernunftethik, vernunftethisch 45, 47, 51, 58 Fairness 3, 31, 37, 96, 104–105, 111, 118–120, 146, 175, 209, 224, 225, 236, 241, 243 forced choice 3, 66, 103, 108, 110, 219 (Anm. 26), 241 Freiheit – Freiheit aller 13, 16, 34–35, 37, 71 – als grundlegendes Menschenrecht 195–201, 202, 205, 225, 233, 242 – negative 71, 101–103, 196 – ökonomische 63, 103, 19, 237, 238 – positive 5, 102–104, 237, 241 Gefangenendilemma 13–14 Geltungsanspruch 18, 48, 49, 83 Gemeinwohl 15, 16, 25, 36, 59, 99, 119, 138
258
Sachregister
gerechter Lohn, siehe Lohn Gerechtigkeit – Rahmengerechtigkeit 4, 236 – soziale 21, 29, 117, 147 – Theorie der 20, 21, 31, 73, 107, 144, 240 – Verfahrensgerechtigkeit 4, 144, 235 – Verteilungsgerechtigkeit, verteilungsgerecht 26, 27, 29, 36–38, 105, 107, 144, 166, 240 Gesellschaft – als Institution der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil 20–22, 31, 225 – wohlgeordnete 20, 31, 34, 236 Gewinnmaximierung 12, 15, 16, 55, 56, 65–67, 215, 216, 218, 221 Güter – Elementargüter 196, 202 – Nichtverminderungsgüter 196, 197, 199 – Zuwachsgüter 196, 197 homo oeconomicus 8, 39, 40, 51, 84 Humankapital 145, 149, 156–161, 223, 241, 242 Implementierbarkeit, anreizkompatible 31, 32, 37, 41, 52 Kapital – Kapitalakkumulation 160, 161, 163, 211 – Kapitaleigner 109, 111, 150, 160, 162, 165, 229, 230 – Kapitalismus 33, 52, 67, 94, 124 (Anm. 14), 140 Kommodifizierung, kommodifizierbar 5, 79, 80, 85, 92–93, 95, 97, 101, 121, 122, 124, 130, 134, 136, 137, 139, 241 konsequentialistisch 26, 30, 138, 175–178, 179 Korrumpierung, korrumpieren 4, 96, 100, 101, 120, 121, 129, 130, 133, 241 Kosten – Entscheidungskosten 213, 220, 221, 222 – Transaktionskosten 212, 213
Lebenswelt 3, 64, 78, 88, 92–95, 121, 239, 240 Legitimität 24, 47, 58, 69, 71, 84, 192, 217, 223–225 Leihmutterschaft 4, 96, 120, 125–128, 130, 131, 134, 135–137, 139, 241, 243 Lohn – Effizienzlohn 151, 166 – gerechter 4, 68, 142, 166, 168, 182, 183, 191, 194, 216, 224, 235, 236, 241, 242 – Mindestlohn 5, 106–108, 144, 147, 150, 168–186, 188, 190, 191, 236, 242, 243 – Niedriglohn 169, 171, 172, 191, 236 – Untergrenze 168, 177, 182, 184–186 Macht – Machtgleichgewicht 166, 219 – Marktmacht 98, 113, 115, 150, 152, 241 – politische 60, 83, 106, 107, 112–115, 241 – Machtungleichgewicht 98, 110, 112, 144, 152, 153, 194, 218, 237 – wirtschaftliche 60, 106, 112, 114, 241 Markt – Grenzen des Marktes 3–5, 38, 40, 41, 75, 80, 81, 96, 97, 99, 114, 122, 139, 140, 240 – Marktmacht 98, 113, 115, 150, 152, 241 Mehrwertabschöpfung 109–111, 160–162 Mindestlohn, siehe Lohn Minimalstaat 97, 116, 202 ökonomischer Imperialismus 64, 78, 80, 81, 83, 84, 85, 87, 89, 91, 95, 240 Ökonomisierung 78–80, 86, 91, 92, 93, 95, 239 Ökonomismus 3, 42, 43, 51, 53, 63, 64, 75, 78, 80, 91, 240 Ökonomik – normative 11, 25 – positive 11, 25, 64, 91 Pflicht – Fürsorgepflicht 123, 129, 130, 135 – negative 103, 194, 195 (Anm. 1), 200 – positive 104, 127, 190, 194, 195 (Anm. 1), 199, 202, 205 Präferenzen 10, 23, 81, 88, 91, 156, 163 Principle of Generic Consistency 199
Sachregister
Rationalität – strategische 10, 40, 80 – ökonomische 12, 43, 49, 59, 64 Rationales Verhalten / Handeln 11, 23, 51 Rechte – Rechtsanspruch 124, 125, 203 – Arbeitnehmerrechte 4, 5, 65, 74, 150, 191, 193–194, 201, 203–209, 216, 224–225, 234, 236–237, 239, 240 – Recht auf Fortpflanzung 126 (Anm. 15), 127, 186 (Anm. 22) – Recht auf Freiheit 5, 71, 183 (Anm. 21), 186 (Anm. 22), 195, 198, 199, 202, 218, 219, 220, 222, 224, 225, 226, 229, 233, 237, 242 – Recht auf Mitbestimmung, Mitbestimmungsrechte 5, 193, 194, 207, 210, 215, 216, 218, 219, 223, 224, 229, 233, 236, 237, 242, 244 – auf Vertragsfreiheit 4, 127, 128, 130, 208, 209, 241 – Recht auf Wohlergehen 183 (Anm. 21), 186 (Anm. 22), 198, 199, 219, 220, 222, 224, 225, 229, 233, 237, 242 – Bürgerrechte, siehe Bürgerrechte – Eigentumsrecht 129, 230 – Mitspracherecht 75, 144, 166, 192, 215, 219, 226, 228, 232 – negatives 61, 71, 103, 127, 194 f. (Anm. 1), 199, 200, 204 (Anm. 12) – positives 5, 71 f., 103, 104, 127, 193, 194 f. (Anm. 1), 199, 200, 203, 204, 205, 216, 226, 233, 237, 242 – Sorgerecht 125, 129, 133, 135 Reduktionismus 3, 78, 89, 90, 240 Ressourcenknappheit, knappe Ressourcen 26, 27, 51, 81, 82, 84, 147, 148, 182 Sachzwang 42, 51, 53–58, 61, 63, 65–69, 101 (Anm. 4)
259
shareholder 5, 154, 193, 213–216, 226–230 Solidarität aller 2, 8, 15, 16, 23–26, 33–36, 91, 239 Sozialstaat, sozialstaatlich 21, 37, 183, 185, 186, 187, 190, 202 Soziale Herkunft 29, 149, 158–161 Sphäre des Geldes 88, 96, 113, 238 stakeholder 5, 74, 75, 192,193, 214–218, 229 Statusunterschiede 129 (Anm. 18), 187–189 Subsistenz 108, 184, 185, 186 (Anm. 22), 218 Transaktion – freie 3, 66, 99, 100–101, 105, 108, 119, 130, 140, 213, 240 f. – verzweifelte 106–108, 241 Universalisierungsgrundsatz 49, 200 Verdienst 144, 145, 147–150, 152, 155, 156, 158, 159–160, 162, 163 Verfügungsgewalt 110, 134, 140, 213, 231 Wirtschaftsbürgerrechte 2, 5, 60–63, 74, 192, 193, 240 Wirtschaftsdemokratie 193, 218–220, 223, 232, 239 Wirtschaftsethik, integrative 2, 41–43, 46 (Anm. 1), 47–49, 51–53, 57, 59, 61, 63, 64, 70, 71, 73, 75, 239, 240 Wohlstand aller 8, 13, 14, 16, 31, 34, 35, 37, 239 Würde, selbstbestimmtes Leben in 5, 144, 168, 178, 179, 186, 187, 188, 190, 236, 242