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German Pages [305] Year 2018
ANGEWANDTE ETHIK Marktwirtschaft und Moral
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Ingo Pies (Hg.)
Die Tugenden des Marktes Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Luigino Bruni und Robert Sugden
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495813393
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Ingo Pies (Hg.) Die Tugenden des Marktes
MARKTWIRTSCHAFT UND MORAL
A
https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ingo Pies (Ed.) The Virtues of the Market Materials for Discussing an Article by Luigino Bruni and Robert Sugden In their pathbreaking article, which is here documented both in the English original as well as in German translation, Bruni and Sugden provide an innovative contribution to interdisciplinary understanding along the borderline between philosophy and economics. Their starting point is the finding that many approaches to virtue ethics are extremely critical of markets, since they are afraid that markets tend to erode social norms and intrinsic motivation. Bruni and Sugden criticize traditional approaches to virtue ethics for misjudging markets by employing inappropriate criteria, which then leads to the tendency of being alien or even hostile to a market economy. In their counter-approach, Bruni and Sugden define the market as a virtuous practice with its own moral goal (telos). This goal consists in bringing about mutual advantage for the partners of exchange. From this perspective, they identify eight virtues which foster the market as a moral arena. With this approach, Bruni and Sugden aim at helping people, who understand themselves as moral subjects, to reconcile with an important part of their everyday life. This book offers a guide for understanding and critically assessing the innovative and provocative contributions by Bruni and Sugden. It provides methodical support for analyzing their text. Especially stimulating for discussion are a dozen short commentaries, which illuminate their text from different perspectives.
Editor: Prof. Dr. Ingo Pies holds the Chair for Economic Ethics at Martin Luther University Halle-Wittenberg.
https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ingo Pies (Hg.) Die Tugenden des Marktes Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Luigino Bruni und Robert Sugden In einem grundlegenden Aufsatz, der hier in deutscher Übersetzung zusammen mit dem englischen Original abgedruckt wird, leisten Bruni und Sugden einen innovativen Beitrag zur interdisziplinären Verständigung zwischen Philosophie und Ökonomik. Ausgangspunkt ist der Befund, dass tugendethische Ansätze oft ausgesprochen marktkritisch sind, weil sie durch den Markt eine Erosion sozialer Normen und intrinsischer Motivation befürchten. Bruni und Sugden kritisieren die traditionelle Tugendethik dahingehend, dass diese den Markt an sachfremden Idealen messe und dadurch in eine wirtschaftsfremde und sogar wirtschaftsfeindliche Schieflage gerate. Der Gegenansatz von Bruni und Sugden bestimmt den Markt als Praxis mit einem eigenständigen Ziel (telos). Dieses besteht in der wechselseitigen Vorteilsgewährung zwischen Tauschpartnern. Von hier ausgehend, identifizieren sie (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) acht Tugenden, die der Praxis des Marktes förderlich sind. Hierin sehen Bruni und Sugden einen Beitrag, die Menschen, die sich als moralische Subjekte verstehen, mit einem wichtigen Bereich ihrer alltäglichen Lebenspraxis zu versöhnen. Dieser Band leitet dazu an, sich mit den Thesen von Bruni und Sugden intensiv und kritisch auseinanderzusetzen. Methodische Handreichungen erleichtern die Textanalyse. Besonders anregend für die Diskussion sind ein Dutzend Kurzkommentare, die den Aufsatz von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchten.
Der Herausgeber: Prof. Dr. Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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ANGEWANDTE ETHIK Herausgegeben von Ingo Pies Wissenschaftlicher Beirat: Reiner Anselm, Carlos Maria Romeo Casabona, Klaus Dicke, Matthias Kaufmann, Jürgen Simon, Wilhelm Vossenkuhl, LeRoy Walters Marktwirtschaft und Moral Band 3
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Ingo Pies (Hg.)
Die Tugenden des Marktes Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Luigino Bruni und Robert Sugden
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48878-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81339-3
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Vorwort von Ingo Pies
Luigino Bruni und Robert Sugden haben im Jahr 2013 in der USamerikanischen Zeitschrift »Journal of Economic Perspectives« einen sehr bemerkenswerten Beitrag zur interdisziplinären Verständigung zwischen Philosophie und Ökonomik veröffentlicht. Ausgangspunkt ist der Befund, dass zeitgenössische Ansätze der Tugendethik oft ausgesprochen marktkritisch sind, weil sie vom Markt eine Erosion sozialer Normen und intrinsischer Motivation befürchten. Vor diesem Hintergrund erläutern Bruni und Sugden die tugendethische Vorgehensweise, eine Praxis zu bestimmen und von da ausgehend Charaktereigenschaften zu identifizieren, die dieser Praxis förderlich sind. Dies führt sie zu zwei Thesen: (a) Bruni und Sugden weisen die tugendethische Marktkritik mit dem Argument zurück, dass sie den Markt an sachfremden Idealen messe, weil sie es bislang versäumt habe, den Markt selbst als Praxis zu bestimmen. Dadurch gerate die traditionelle Tugendethik in eine wirtschaftsfremde und sogar wirtschaftsfeindliche Schieflage. (b) Bruni und Sugden füllen die analytische Lücke: Sie bestimmen den Markt als Praxis mit einem eigenständigen Ziel (telos). Dieses besteht in der wechselseitigen Vorteilsgewährung zwischen Tauschpartnern. Von hier ausgehend, identifizieren sie (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) acht Tugenden, die der Praxis des Marktes förderlich sind. Hierin sehen sie einen Beitrag, die Menschen, die sich als moralische Subjekte verstehen, mit einem wichtigen Bereich ihrer alltäglichen Lebenspraxis zu versöhnen. Dieses Buch ist aus der Überzeugung heraus entstanden, dass der Aufsatz von Bruni und Sugden es verdient, auch im deutschen Sprachraum zur Kenntnis genommen zu werden. Die intellektuelle Auseinandersetzung lohnt sich! Und zwar auch gerade dann, wenn man den Autoren gar nicht oder jedenfalls nicht in allen Details zustimmen mag. Um eine kritische Diskussion zu fördern, offeriert dieses Buch 7 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Vorwort
diverse Materialien, die eine inhaltlich tiefschürfende Auseinandersetzung erleichtern. Es enthält: • die deutsche Übersetzung, der ein Abdruck des englischen Originalaufsatzes Absatz für Absatz gegenübergestellt ist, um eine textgenaue Lektüre zu erleichtern, 1 • ferner Anregungen für eine eigenständige Textanalyse, mit der man sich die Argumentationslinie des Aufsatzes so vor Augen führen kann, dass man als Leser über eine solide Interpretationsgrundlage verfügt, die ein fundiertes Urteil ermöglicht, • sodann 12 kurze Kommentare, die einzelne Aspekte des Themas kritisch ausleuchten • sowie schließlich einige weiterführende Hinweise für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Thesen des Aufsatzes. Das in diesem Buch versammelte Diskussionsmaterial wurde auf einer interdisziplinär besetzten Tagung vorbereitet, die vom 5.–7. September 2016 in Lutherstadt Wittenberg stattgefunden hat. Der Hanns Martin Schleyer Stiftung ist für finanzielle Unterstützung herzlich zu danken. Dank gebührt insbesondere auch den Teilnehmern der Tagung. Viele von ihnen sind als Autoren in diesem Buch vertreten. Ihre Beiträge dokumentieren, wie interessant das Thema ist und wie anregend die Diskussionen waren, die wir in Wittenberg führen konnten. Ein ganz besonderes Dankeschön verdient Gerhard Engel – und dies keineswegs nur deshalb, weil er unsere produktive Diskussionstagung in Wittenberg mit substanziellen Beiträgen und zudem mit einem hoch attraktiven musikalischen Abend bereichert (und begeistert) hat. Ich habe sehr davon profitiert, dass er dieses Buchprojekt von Anfang an mit Rat und Tat inhaltlich unterstützt hat. Dankbar bin ich auch für seine Bereitschaft, sich auf das Abenteuer einzulassen, gemeinsam mit mir zu versuchen, den englischen Originaltext Hinweis zur Zitation: Verwendete Quellen werden durch Autorennamen, Jahreszahl(en) sowie ggf. durch Seitenverweise im Text und in den Fußnoten kenntlich gemacht. Der vollständige Quellennachweis findet sich in den Literaturverzeichnissen am Ende der jeweiligen Beiträge. Stehen hinter einem Autorennamen zwei durch ein Komma getrennte Jahreszahlen, so zeigt die erste Zahl das Erscheinungsjahr der Erstausgabe, die zweite Zahl das Erscheinungsjahr der zur Zitation verwendeten Ausgabe an. Die Abkürzung H. i. O. steht für »Hervorhebung(en) im Original«. Die Zitation des Aufsatzes von Bruni und Sugden erfolgt in diesem Buch durchgehend nach einem besonderen Muster der Abkürzung und Verweisung auf Absatz-Ziffern. Beispielsweise steht »BS 4« für »Bruni und Sugden (2013, 2017; Ziffer 4)«.
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Vorwort
von Bruni und Sugden in eine gut lesbare deutsche Fassung zu übersetzen. Hier wurde um jedes Wort gerungen, an jeder Formulierung gefeilt. Ich habe in diesem Prozess sehr viel gelernt und kann nur hoffen, dass man der Übersetzung nicht ansieht, wie viel Arbeit wir da hineingesteckt haben. Für uns als Übersetzer außerordentlich hilfreich waren die zahlreichen kenntnisreichen Kommentare und konstruktiven Hinweise der Tagungsteilnehmer in Wittenberg, namentlich die von Johannes Fioole, Michael Schramm und Reinhard Zintl. Auch hierfür ein herzliches Dankeschön! Als Herausgeber bleibt mir zu wünschen, dass sich möglichst viele – insbesondere junge – Menschen von dem Geist kritischer Analyse und engagierter Diskussion inspirieren lassen, der unsere Tagung in Wittenberg prägte und in den diversen Beiträgen zu diesem Buch einen deutlichen Niederschlag gefunden hat. Dieser Wunsch, dass der Funke überspringen möge, speist sich aus zwei sehr unterschiedlichen Motiven. Das eine ist individualethischer, das andere system-ethischer Natur. Zum einen kann kein Mensch sämtliche Ausprägungen des heutigen Wirtschaftslebens affirmativ bejahen. Aber für das eigene Lebensgefühl und Wohlbefinden macht es einen erheblichen Unterschied, ob man dem Wirtschaftssystem, das man vorfindet, mit moralischer Ablehnung und Fundamentalopposition begegnet oder ob man dem zugrunde liegenden Marktprinzip aufgrund von Sachargumenten aus innerer Überzeugung und mit kritischer Loyalität zustimmen kann. Zum anderen gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen destruktiver und konstruktiver Kritik. Deshalb ist es für die kulturelle Evolution unseres Wirtschaftssystems – insbesondere auch im globalen Maßstab – von geradezu existenzieller Bedeutung, ob die Bürger zur Verwirklichung moralischer Anliegen eher eine Außerkraftsetzung oder eine Inkraftsetzung des Marktes anstreben. Bürger sind wir ja schließlich nicht nur als Wirtschaftsbürger (bourgeois), sondern auch als Staatsbürger (citoyens), die über politische Stellhebel verfügen. Die Zukunft liegt in unserer Hand! Deshalb ist die Auseinandersetzung mit den Thesen von Bruni und Sugden weitaus mehr als nur theoretischer Selbstzweck oder akademisches l’art pour l’art. Die Diskussion ist praxisrelevant für eine nachhaltige Entwicklung – auf der Ebene des Individuums ebenso wie auf der Ebene unserer (Welt-)Gesellschaft. Halle (Saale), im Oktober 2016 Ingo Pies 9 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Inhalt
Vorwort
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I. Textquelle Luigino Bruni and Robert Sugden: Reclaiming Virtue Ethics for Economics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Luigino Bruni und Robert Sugden: Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann . . . . . . . . . . . .
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II. Hinweise zur Textbearbeitung Ingo Pies: Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik. Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Bruni und Sugden . .
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III. Kommentare Gerhard Engel: Aristoteles und die Tugenden des Marktes . . . .
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Richard Sturn: Über die Wechselbeziehungen von Ethik und Markt
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Reinhard Zintl: Wieviel Markt braucht es und welche Tugend? . .
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Michael Schramm: Tugenden als »Tauglichkeiten«. Warum Bruni und Suden Recht haben, aber noch ergänzt werden müssen .
167
Birger P. Priddat: Brauchen wir Markttugenden? . . . . . . . . .
181 11
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Inhalt
Christoph Henning: Tugendethik und Marktexzesse: Philosophische Einwände gegen einen Kurzschluss . . . . . Johannes Fioole: Das Subjekt soll Richter sein – wer sonst?
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. . . 202
Stefan Hielscher und Sebastian Everding: Ist Selbstregulierung eine Markttugend? Zum Erwerb von Tugenden auf Märkten der Sharing Economy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerhard Minnameier: Tugendethik und ökonomische Rationalität: Wie man die Ökonomik wieder in die Tugendethik zurückholen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Rennert: Tugenden im institutionenökonomischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ingo Pies: Das moralische Projekt der Ethik . . . . . . . . . . .
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Ingo Pies: Moderne Ethik als Ethik der Moderne: Wie dem Phänomen der Entfremdung wirksam zu begegnen ist
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IV. Ausblick Ingo Pies: Weiterführende Hinweise Kurzangaben zu den Autoren
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I. Textquelle
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Reclaiming Virtue Ethics for Economics* Luigino Bruni and Robert Sugden**
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Economists have made use of, and have contributed to the development of, many branches of moral theory, including utilitarianism, social contract theory, libertarianism, and maximin and capability theories of justice. In contrast, virtue ethics—the study of moral character—has been an important strand in moral philosophy for literally thousands of years, but has received little attention from contemporary economists. That neglect has not been reciprocated. A significant body of philosophical work in virtue ethics is associated with a radical critique of the market economy and of economics. Expressed crudely, the charge sheet is this: The market depends on instrumental rationality and extrinsic motivation; market interactions therefore fail to respect the internal value of human practices and the intrinsic motivations of human actors; by using market exchange as its central model, economics normalizes extrinsic motivation, not only in markets but also (in its ventures into the territories of other social sciences) in social life more generally; therefore economics is complicit in an assault on virtue and on human flourishing. We will argue that this critique is flawed, both as a description of how markets actually work and as a representation of how classical and neo classical economists have understood the market. We will show how the market and economics can be defended against the critique from virtue ethics.
* Journal of Economic Perspectives—Volume 27, Number 4—Fall 2013—Pages 141– 164. ** Luigino Bruni is Professor of Economics, LUMSA University, Rome, Italy. Robert Sugden is Professor of Economics, University of East Anglia, Norwich, United Kingdom. Their emails are [email protected] and [email protected].
14 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann* Luigino Bruni und Robert Sugden**
Ökonomen haben zahlreiche Teildisziplinen der Moralphilosophie 1 für ihre Zwecke in Anspruch genommen und sogar zu ihrer Entwicklung beigetragen – dies betrifft z. B. den Utilitarismus, die Gesellschaftsvertragstheorie, den Libertarianismus sowie den MaximinAnsatz und den Fähigkeits-Ansatz in der Gerechtigkeitstheorie. Im Gegensatz dazu wird die Tugendethik, also die Untersuchung des moralischen Charakters, die über buchstäblich Tausende von Jahren ein wichtiges Thema in der Moralphilosophie war, von zeitgenössischen Ökonomen kaum beachtet. Diese Vernachlässigung beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Ein erheblicher Teil der philosophischen Arbeiten zur Tugendethik steht im Kontext einer radikalen Kritik an Marktwirtschaft und Ökonomik. Grob gesprochen lauten die Vorwürfe wie folgt: Der Markt stütze sich auf instrumentelle Rationalität und extrinsische Motivation; Markttransaktionen würden daher dem Eigenwert der Praxis menschlichen Handelns sowie der intrinsischen Motivation der Handelnden nicht gerecht; und indem die Ökonomik den Markttausch als Referenzmodell heranziehe, rechtfertige sie die extrinsische Motivation als Norm, und das nicht nur auf Märkten, sondern zunehmend auch (im Rahmen ihrer Vorstöße auf andere Gebiete der Sozialwissenschaften) im sozialen Leben allgemein; daher sei die Ökonomik mitschuldig am Angriff auf Tugend und menschliches Wohlergehen. Im Folgenden wollen wir begründen, warum diese Kri* Ursprünglich erschienen unter dem Titel »Reclaiming Virtue Ethics for Economics«, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 27, Nr. 4 (2013), S. 141–164. Der Aufsatz einschließlich der im Text angeführten Zitate wurde übersetzt von Gerhard Engel und Ingo Pies. ** Luigino Bruni ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der LUMSA Universität in Rom (Italien). Robert Sugden ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von East Anglia, Norwich, Großbritannien. Ihre eMail-Adressen lauten: [email protected] und [email protected]. Internationale Dokumentenkennung: doi=10.1257/jep.27.4.141.
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Reclaiming Virtue Ethics for Economics
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Crucially, our response to that critique will be constructed using the language and logic of virtue ethics. In this respect, it is fundamentally different from a response that many economists would find more natural—to point to the enormous benefits, including income and leisure that can be devoted to intrinsically motivated activities, that we all enjoy as a result of the workings of markets, and to the essential role of economics in explaining how markets work. Set against those benefits, it can be argued, questions about whether market motivations are virtuous are second-order concerns that economists can safely leave to moral philosophers. Thus, for example, responding to the philosopher Michael Sandel’s objection to markets in carbon dioxide emissions on the grounds that they express nonvirtuous attitudes to the environment (Sandel 2012, pp. 72–6), Coyle (2012) writes, »I would rather see an effective scheme to reduce greenhouse gas emissions, but then I’m an economist.« We are economists too, and have some sympathy with such sentiments. Nevertheless, the virtue-ethical critique of economics is gaining credence in public debate. Many people see it as providing intellectual support for popular attitudes of opposition to capitalism and globalization, and of hostility to economics as a discipline. Philosophically, the critique is grounded in an ancient and respected tradition of ethical thought: it is not something that economics can or should simply brush aside. Our premise is that economics needs a response to this critique that takes virtue ethics seriously.
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Another possible reply, made for example by van Staveren (2009) and Besley (2013), is that, in their critique of economics, the virtue ethicists fail to recognize the diversity of the discipline. Eco16 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
tik fehl geht: Weder liefert sie eine angemessene Beschreibung der tatsächlichen Funktionsweise von Märkten, noch vermittelt sie eine zutreffende Vorstellung davon, wie klassische und neoklassische Ökonomen den Markt aufgefasst haben. Wir wollen zeigen, auf welche Weise der Markt und die Ökonomik gegen eine tugendethische Kritik verteidigt werden können. Dabei ist entscheidend, dass unsere Antwort auf diese Kritik sich 2 ganz ausdrücklich auf die Begriffe und die Logik der Tugendethik stützt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Beitrag fundamental von der Antwort, die viele Ökonomen einleuchtender finden würden – nämlich vom Hinweis auf die immensen Vorteile wie Geldeinkommen und Freizeit, die wir für intrinsisch motivierte Aktivitäten aufwenden können und in deren Genuss wir letztlich durch funktionierende Märkte und durch die maßgebliche Rolle der Ökonomik bei der Erklärung der marktlichen Funktionsweise kommen. Gemessen an diesen Vorteilen, so könnte man argumentieren, sei die Frage, ob die Beweggründe für Markthandlungen tugendhaft seien, eine zweitrangige Angelegenheit, die man getrost den Moralphilosophen überlassen könne. Ganz in diesem Sinne schreibt beispielsweise Coyle (2012) in ihrer Antwort auf den Einwand des Philosophen Michael Sandel (2012; S. 72–76), ein Markt für Kohlendioxid-Emissionen lasse eine tugendhafte Haltung gegenüber der Umwelt vermissen: »Mir wäre es eigentlich wichtiger, dass wirksame Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen ergriffen werden, aber da spricht freilich der Ökonom aus mir.« Wir sind ebenfalls Ökonomen und hegen durchaus Sympathie für diese Geisteshaltung. Dessen ungeachtet gewinnt die tugendethische Kritik an der Ökonomik in der öffentlichen Debatte an Überzeugungskraft. Viele Menschen sehen in ihr eine intellektuelle Rückendeckung für gängige Vorbehalte, die gegen Kapitalismus und Globalisierung gerichtet sind, sowie für Ressentiments gegen die Ökonomik als wissenschaftliche Disziplin. Philosophisch gesehen wurzelt die Kritik in einer sehr alten und angesehenen Tradition ethischen Denkens; wir haben es hier also mit etwas zu tun, das Wirtschaftswissenschaftler nicht einfach vom Tisch wischen können oder zu wischen versuchen sollten. Wir gehen vielmehr davon aus, dass die Ökonomik einer Antwort auf ihre Kritiker bedarf, die tugendethische Argumente ernst nimmt. Eine andere mögliche Antwort, wie sie beispielsweise von van 3 Staveren (2009) und Besley (2013) formuliert wurde, besagt, dass Tugendethiker, die Kritik an der Ökonomik üben, es typischerweise 17 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics
nomics has never been unanimous or unconditional in advocating markets; indeed, it is possible to read the development of normative economics in terms of a continually expanding catalog of market failures and their remedies. In particular, a recent development in economics has been the growth of a literature in which concepts of intrinsic motivation are used to explain individual behavior. Although this work is not explicitly virtue ethical in the normative sense, it allows economics to model a »crowding-out« mechanism that is similar to the virtue ethicists’ account of the corrupting effects of markets. However, pointing to the diversity of economics merely deflects the virtue-ethical critique from economics in general to a particular but surely major tradition of economic thought—that liberal tradition that understands the market as a domain in which socially desirable consequences emerge from the pursuit of private interests. In contrast, our response meets the critique head-on. We aim to show that economists can teach about and defend the market without standing for nonvirtue against virtue. 1
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The logic of our response requires that we use the modes of argument of virtue ethics. We write as philosophically and historically inclined economists, hoping to be read both by philosophers and by our fellow economists. For the benefit of the economists and with apologies to the philosophers, we assume no prior knowledge of virtue ethics on the part of the reader. Thus, we begin with a brief introduction to virtue ethics. We then describe some prominent critiques of the market that are grounded in virtue ethics and in the related economic and psychological literature on intrinsic motivation.
In this respect, our approach has more in common with McCloskey’s (2006) account of the »bourgeois virtues.« However, our analysis is more systematic and economicsspecifi c than McCloskey’s imaginative but discursive exploration of the seven virtues of traditional Christian thought and their role in economic life.
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
versäumen, den inneren Facettenreichtum dieser Wissenschaftsdisziplin anzuerkennen. Ökonomen haben niemals einhellig oder gar bedingungslos Märkte befürwortet; es ist vielmehr durchaus möglich, die Entwicklung der normativen Ökonomik im Sinne einer ständig länger werdenden Liste von Kriterien für Marktversagen und entsprechenden Abhilfemaßnahmen zu interpretieren. Vor allem in jüngster Zeit ließ sich innerhalb der Wirtschaftswissenschaften die Zunahme einer Literatur beobachten, in der man Konzepte intrinsischer Motivation zur Erklärung individuellen Verhaltens verwendet. Obwohl diese Arbeiten nicht explizit tugendethisch im normativen Sinne sind, erlauben sie es der Ökonomik, einen moralischen Verdrängungsmechanismus (»crowding-out«) zu modellieren, der sehr dem ähnelt, was Tugendethiker als korrumpierende Effekte des Marktes beschreiben. Doch wie dem auch sei: Der Hinweis auf den inneren Facettenreichtum der Ökonomik verlagert die tugendethische Kritik an der Wirtschaftswissenschaft lediglich auf eine spezielle, aber zweifellos wichtige Tradition des ökonomischen Denkens – nämlich auf die liberale Tradition, die den Markt als einen Lebensbereich auffasst, in dem sich aus der Verfolgung privater Interessen gesellschaftlich wünschenswerte Konsequenzen ergeben. Im Gegensatz zu solchen Rechtfertigungsversuchen geht unsere Antwort die Kritik frontal an. Wir wollen zeigen, dass Ökonomen über den Markt informieren und ihn verteidigen können, ohne einen Sittenverfall zu tolerieren und gegen die Tugend Partei zu ergreifen. 1 Soll unsere Antwort folgerichtig sein, müssen wir uns auf die 4 Argumentationsweisen der Tugendethik stützen. Wir schreiben als philosophisch und historisch interessierte Ökonomen und hoffen, sowohl von Philosophen als auch von unseren Kollegen in der Wirtschaftswissenschaft gelesen zu werden. Um den Ökonomen den Zugang zu erleichtern, setzen wir aufseiten des Lesers kein Vorwissen über die Tugendethik voraus – und rechnen dabei mit dem nachsichtigen Verständnis der Philosophen. Dementsprechend beginnen wir mit einer kurzen Einführung in die Tugendethik. Anschließend stellen wir einige prominente Ansätze zur Marktkritik vor, die ihre Wur-
In dieser Hinsicht hat unser Ansatz mehr mit der Darstellung »bürgerlicher Tugenden« bei McCloskey (2006) gemeinsam. Unsere Analyse ist allerdings eher systematisch und spezifisch auf die Ökonomik ausgerichtet als McCloskeys zwar ideenreiche, aber auch weit ausgreifende Untersuchung der sieben Tugenden des traditionellen christlichen Denkens und ihrer Rolle im Wirtschaftsleben.
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Reclaiming Virtue Ethics for Economics
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Following this introduction, we use the methods of virtue ethics to develop a conception of market virtue that is consistent with many classical and neo classical economists’ accounts of how markets work and of what purposes they serve. Our central idea is that the public benefits of markets should be understood as the aggregate of the mutual benefits gained by individuals as parties to voluntary transactions, and that the market virtues are dispositions that are directed at this kind of mutual benefit. For a virtuous market participant, mutual benefit is not just a fortunate by-product of the individual pursuit of self-interest: he or she intends that transactions with others are mutually beneficial.
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Using this idea, we identify some specific character traits that have the status of virtues within the domain of the market. Our list of market virtues (which we do not claim is complete) includes universality, enterprise and alertness, respect for the tastes of one’s trading partners, trust and trustworthiness, acceptance of competition, self-help, non-rivalry, and stoicism about reward. We will argue that these market virtues, grounded on ideas of reciprocity and mutual benefit, are closely associated with virtues of civil society more generally. It is therefore a mistake to think that the market is a virtuefree zone, or that the character traits that best equip individuals to flourish in markets are necessarily corrosive of virtue in other domains of life.
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The idea that economic agents should understand their interactions as mutual assistance is characteristic of a tradition of naturallaw philosophy from which mainstream economic thought turned away in the later eighteenth century. Nevertheless, as we will show, the idea that mutual benefit is in some sense the purpose of the market is implicit in the writings of many major economists from the eighteenth century to the present day. The specific market virtues that we present feature in some canonical accounts of the desirable 20 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
zeln in der Tugendethik haben sowie in der mit ihr verwandten ökonomischen und psychologischen Literatur zur intrinsischen Motivation. Im Anschluss an diese Einführung entwickeln wir mit Hilfe tu- 5 gendethischer Methoden ein Konzept der Markttugend, das mit zahlreichen Schilderungen klassischer und neoklassischer Ökonomen übereinstimmt, wie Märkte funktionieren und welchen Zwecken sie dienen. Unsere zentrale Idee besteht darin, dass die gesellschaftlichen Vorteile des Marktes als Summe der wechselseitigen Besserstellungen aufgefasst werden sollten, welche Individuen als Beteiligte an freiwilligen Tauschprozessen erzielen, und dass es sich bei Markttugenden um solche Dispositionen handelt, welche auf diese Art wechselseitiger Besserstellung gerichtet sind. Für tugendhafte Marktteilnehmer ist der gegenseitige Nutzen nicht nur ein willkommenes Nebenprodukt der individuellen Verfolgung des eigenen Interesses: Vielmehr streben sie bewusst an, dass Tauschhandlungen mit anderen für beide Seiten nutzbringend sind. Ausgehend von dieser Idee identifizieren wir einige spezifische 6 Charakterzüge, die im Bereich des Marktes den Status von Tugenden besitzen. Unsere Liste der Markttugenden (für die wir keine Vollständigkeit beanspruchen) umfasst Universalität, Unternehmergeist und Wachsamkeit, Respekt für die Vorlieben der Tauschpartner, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, die Akzeptanz des Wettbewerbs, Selbsthilfe, Neidfreiheit sowie stoischen Gleichmut in Vergütungsfragen. Unser Argument besagt: Diese Markttugenden, die auf den Ideen der Reziprozität und der gegenseitigen Vorteilsgewährung basieren, sind eng mit den Tugenden einer Bürgergesellschaft im Allgemeinen verknüpft. Es wäre folglich ein Fehler, wollte man glauben, dass es sich beim Markt um eine tugendfreie Zone handelt oder dass die Charaktereigenschaften, die den Einzelnen am besten für den Markterfolg rüsten, notwendigerweise die Tugend auf anderen Gebieten des Lebens zersetzen. Die Idee, Wirtschaftsakteure sollten ihr Zusammenwirken als 7 wechselseitige Hilfe und Förderung auffassen, kennzeichnet eine Tradition naturrechtlicher Philosophie, von der sich die Hauptströmungen des ökonomischen Denkens im späten 18. Jahrhundert abgewandt haben. Gleichwohl werden wir zeigen, dass die Idee, gegenseitige Nutzenstiftung sei in gewissem Sinne der Zweck des Marktes, unausgesprochen die Schriften vieler führender Ökonomen vom 18. Jahrhundert bis heute prägt. Die spezifischen Markttugen21 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics
properties of markets. In this sense, our paper can also be read as an attempt to reconstruct a submerged current of virtue-ethical thought in economics.
What is Virtue Ethics? 8 The central concern of virtue ethics, broadly interpreted, is with mor-
al character—with what sort of person one is and should be. Virtues are acquired character traits or dispositions that are judged to be good. Crucially, virtues are not judged to be good because they tend to induce actions that, for other moral reasons, are good or right. In virtue ethics, actions are judged to be good because they are in character for a virtuous person—they are constitutive of living well, of »flourishing.« A morally well-constituted individual cultivates virtues not as rules of thumb for moral action, but because such virtues are characteristic of the kind of person she is or wants to be.
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Aristotle’s Nicomachean Ethics (c. 350 BC [1980]) is traditionally seen as the founding text of virtue ethics. Aristotle’s account of virtue begins from the idea that within any »practice« or domain of life, goodness is understood in relation to the telos (literally, »end« or »purpose«) of that domain—»that for whose sake everything is done.« For example, Aristotle (Book 1, section 1) treats medicine as a domain whose telos is »health« and military strategy as a domain whose telos is »victory.« In relation to a given domain, an acquired character trait is a virtue to the extent that the person who possesses it is thereby better able to contribute to the telos of that domain. The underlying idea is that human happiness or flourishing (eudaimonia) requires that people are oriented towards their various activities in ways that respect the intrinsic ends of the domains to which those activities belong.
22 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
den, die wir hier vorstellen, sind bereits in einigen klassischen Schilderungen dessen enthalten, was man als wünschenswerte Eigenschaften von Märkten ansehen kann. In diesem Sinne kann unser Aufsatz auch als Versuch gelesen werden, einen innerhalb der ökonomischen Literatur unter der Oberfläche verlaufenden Strom tugendethischen Denkens freizulegen.
Was ist Tugendethik? Das zentrale Thema der Tugendethik dreht sich, grob gesprochen, um 8 den moralischen Charakter – also darum, welche Art von Person man ist und sein sollte. Tugenden sind eingeübte Charakterzüge (»Dispositionen«), die im moralischen Sinne als gut angesehen werden. Dabei ist entscheidend, dass Tugenden nicht deshalb als gut gelten, weil sie in der Regel zu Handlungen führen, die ihrerseits, aus anderen moralischen Gründen, gut oder richtig sind. In der Tugendethik gelten geradewegs umgekehrt Handlungen als gut, weil sie dem Wesen einer tugendhaften Person entsprechen – sie sind konstitutiv für ein erfülltes Leben, für das »Gedeihen« der Person. Ein moralisch wohlgeratenes Individuum pflegt Tugenden nicht als Faustregeln für moralisches Handeln, sondern weil derartige Eigenschaften charakteristisch sind für die Art von Person, die man ist oder sein möchte. Die Nikomachische Ethik von Aristoteles (ca. 350 v. Chr. [1980]) 9 wird üblicherweise als Gründungsdokument der Tugendethik betrachtet. Seine Konzeption der Tugend geht von der Vorstellung aus, dass innerhalb einer »Praxis« oder eines Lebensbereichs das Gute mit Bezug auf das telos (wörtlich: das »Ende« oder den »Zweck«) dieses Lebensbereichs bestimmt wird – also als »dasjenige, um dessentwillen alles getan wird«. Aristoteles (Buch 1, Abschnitt 1) behandelt beispielsweise die Medizin als einen Bereich, dessen telos die »Gesundheit« darstellt, und die Kriegskunst als einen Bereich, dessen telos im »Sieg« liegt. In Bezug auf einen gegebenen Lebensbereich ist eine erworbene Charaktereigenschaft genau in dem Maße eine Tugend, als die Person, die sie besitzt, mit ihr besser in der Lage ist, zum telos dieses Bereichs beizutragen. Die zugrunde liegende Idee lautet: Ein erfülltes Leben im Sinne menschlichen Glücks oder Gedeihens (»eudaimonia«) verlangt, dass Menschen ihre verschiedenen Tätigkeiten so ausrichten, dass sie die intrinsischen Zwecke jener Lebensbereiche beachten, zu denen ihre Tätigkeiten jeweils gehören. 23 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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How is the telos of a domain determined? Aristotle seems to think of the telos as a natural fact that can be ascertained by intuition, but many modern virtue ethicists favor a communitarian approach. This approach, exemplified by the work of MacIntyre (1984), understands the concept of flourishing as internal to specific communities and cultural traditions. Thus, to identify the telos of a practice, one must discover the meaning of that practice within the community of practitioners. In this view, a claim about the telos of an practice is not just the expression of a personal value judgement; it involves some (perhaps creative) interpretation of what is already there (Sandel 2009, pp. 184–92, 203–7; Anderson 1993, p. 143). As Sandel (p. 98) puts it, »we identify the norms appropriate to social practices by trying to grasp the characteristic end, or purpose, of those practices.«
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There is much common ground between Aristotelian virtue ethics, with its emphasis on the intrinsic value of practices, and those strands of modern »positive psychology« that emphasis the importance of intrinsic motivation for human happiness, in particular the self-determination theory of Deci and Ryan (1985). In this theory, the analog of flourishing is a concept of psychological health or wellbeing. The core hypothesis is that individual autonomy is a source of psychological well-being, and thus that human flourishing is linked with authenticity and self-realization. In Ryan and Deci’s (2000) taxonomy of motivation, there is a continuum from »amotivation,« through increasingly autonomous forms of »extrinsic motivation,« to the full autonomy of »intrinsic motivation.« A person who is extrinsically motivated performs an activity »in order to obtain some separable outcome.« Extrinsic motivations can become more »internal« (and thereby more autonomous) to the extent that the individual has a sense of having chosen the objective on which he acts and endorsed its value. But an intrinsically motivated person performs an activity »for its inherent satisfactions rather than for some separable consequence«; such a person »is moved to act for the fun or challenge entailed rather than because of external prods, pressures, or rewards« (pp. 56–60). Thus, the analog of telos is the meaning that an indivi-
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Wie wird nun das telos eines Lebensbereichs bestimmt? Aristo- 10 teles scheint anzunehmen, dass das telos eine natürliche Tatsache ist, die sich durch Intuition feststellen lässt; doch viele moderne Tugendethiker bevorzugen einen kommunitarischen Denkansatz. Dieser Ansatz, wie er etwa im Werk von MacIntyre (1984) vorliegt, fasst den Begriff des Gedeihens als eine Praxis-Eigenschaft, die konkreten Gemeinschaften und kulturellen Traditionen innewohnt. Um also das telos einer Handlungsweise (»Praxis«) zu bestimmen, muss man die Bedeutung dieser Handlungsweise innerhalb der Handlungsgemeinschaft entdecken. Nach dieser Auffassung ist eine Behauptung über das telos einer Handlungsweise nicht lediglich Ausdruck eines personengebundenen Werturteils; es umfasst vielmehr eine (möglicherweise schöpferische) Interpretation dessen, was immer schon vorliegt (Sandel 2009; S. 184–192, 203–207; Anderson 1993; S. 143). Wie Sandel (S. 98) es ausdrückt, »identifizieren wir die Normen, die einer gesellschaftlichen Praxis angemessen sind, durch den Versuch, das wesenseigene Ziel oder den Zweck der betreffenden Praxis zu verstehen.« Es gibt zahlreiche Berührungspunkte zwischen der aristote- 11 lischen Tugendethik mit ihrer Betonung des intrinsischen Werts von Handlungsweisen und jenen Strömungen der modernen »positiven Psychologie«, die die bedeutende Rolle intrinsischer Motivation für das menschliche Lebensglück hervorheben, allen voran die Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci und Ryan (1985). In dieser Theorie bildet der Begriff der psychischen Gesundheit oder des Wohlbefindens das Äquivalent zum Gedeihen. Die Kernannahme lautet, dass individuelle Selbstbestimmung (»Autonomie«) eine Quelle psychischen Wohlbefindens ist und dass sich daher menschliches Gedeihen mit Authentizität und Selbstverwirklichung verbindet. Gemäß der Taxonomie der Motivationsarten nach Ryan und Deci (2000) gibt es ein Kontinuum von Zuständen der »Amotivation« über zunehmend selbstbestimmte Formen »extrinsischer Motivation« bis hin zur voll ausgebildeten Selbstbestimmung »intrinsischer Motivation«. Eine extrinsisch motivierte Person vollzieht eine Handlung, »um ein von intrinsischen Gesichtspunkten unabhängiges Ergebnis zu erzielen.« Extrinsische Motivationen können in dem Maße »interner« (und damit autonomer) werden, in dem das Individuum das Gefühl hat, den Zweck gewählt zu haben, für den es handelt und dessen Wert es gutheißt. Eine intrinsisch motivierte Person dagegen vollführt eine Tätigkeit »eher wegen ihrer inhärenten Qualität und nicht 25 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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dual attaches to an activity when he sees the activity as an end in itself.
The Instrumentality of the Market: The Critique from Virtue Ethics 12
In critiques of economics by virtue ethicists, a recurring theme is that markets rely on extrinsic and thereby nonvirtuous motivations. This idea can also be traced back to Aristotle, who wrote (Book 1, § 5): »The life of money-making is one undertaken under compulsion, and wealth is evidently not the good we are seeking; for it is merely useful and for the sake of something else.« This sentence makes two claims that are echoed in critiques of economics made by modern virtue ethicists. The first claim is that when individuals participate in markets, they show a lack of autonomy—they act under compulsion. The suggestion seems to be that a truly autonomous person would not need to seek wealth (perhaps because he would already have as much as he needed without having to seek for it). 2 The second claim is that the motivation for economic activity is extrinsic and thereby of an inferior kind—the things that economic activity can achieve are merely useful and for the sake of something else.
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Here, we will focus on how three prominent contemporary virtue ethicists apply these themes in their writings about economics and the market. Of these criticisms of the market, MacIntyre’s (1984) book After Virtue is the most radical. Taken literally, MacIntyre’s elegant despair has no real point of contact with modern economics. But precisely because it takes the critique of the instrumentality of markets to its logical conclusion, it offers a useful point of In a witty account of the history of Western intellectuals’ criticisms of capitalism, Alan Kahan (2010, p. 31) presents the »Three Don’ts« of anti-capitalism. The first is »Don’t make money (just have it)«.
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für ein davon abtrennbares Resultat«; eine solche Person »wird eher aus Freude an der Sache oder an der Herausforderung, die die Sache mit sich bringt, zum Handeln bewogen als durch externe Anstöße, Druck oder Belohnungen« (S. 56–60). Das Äquivalent zum telos ist also die Bedeutung, die eine Person einer Handlung dann zuschreibt, wenn sie diese Handlung als Selbstzweck auffasst.
Die Zweckdienlichkeit des Marktes: Die tugendethische Kritik Märkte stützen sich auf extrinsische und daher nicht tugendhafte Be- 12 weggründe – so lautet eine immer wiederkehrende Formel der tugendethischen Kritik an der Wirtschaftswissenschaft. Dieser Gedanke kann ebenfalls bis zu Aristoteles zurückverfolgt werden. Er schrieb (Buch I, § 5): »Das auf Gelderwerb gerichtete Leben führt man unter Zwängen, und Reichtum ist offensichtlich nicht das Gut, nach dem wir streben; denn er ist lediglich zweckdienlich und um einer anderen Sache willen da.« Dieser Satz enthält zwei Behauptungen, die noch in ökonomiekritischen Abhandlungen moderner Tugendethiker ihren Nachhall finden. Die erste Behauptung ist: Wenn Individuen an Märkten teilnehmen, sind sie nicht völlig autonom – sie handeln unter Zwängen. Die Annahme scheint zu sein, dass eine wirklich autonome Person es nicht nötig hätte, nach Reichtum zu streben (vielleicht weil sie schon so viel besitzt, wie sie bräuchte, um nicht nach ihm streben zu müssen). 2 Die zweite Behauptung ist, dass die Motivation für ökonomische Tätigkeit extrinsisch und deshalb etwas Minderwertiges sei: Was ökonomische Aktivität bewerkstelligen könne, sei bloß nützlich und um anderer Dinge willen da. Wir wollen nun zeigen, auf welche Weise drei bekannte zeitge- 13 nössische Tugendethiker in ihren Schriften über die Ökonomik und den Markt diese Thematik aufgenommen haben. Von diesen kritischen Abhandlungen über den Markt bildet MacIntyres (1984) Buch After Virtue die radikalste. Genau genommen hat MacIntyres elegante Verzweiflung keinen wirklichen Berührungspunkt mit der modernen Ökonomik. Aber genau deshalb, weil seine Arbeit die Kritik an In seiner humorig geistreichen Darstellung der Geschichte der Kapitalismuskritik westlicher Intellektueller präsentierte Alan Kahan (2010; S. 31) »die drei Taburegeln« des Antikapitalismus. Die erste lautet: »Kein Geld verdienen (hab’ es einfach)«.
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reference. MacIntyre (p. 187) presents an account of morality that is built on the concept of a practice. A practice is a »coherent and complex form of socially established cooperative human activity« which realizes »goods internal to that form of activity.« A practice has intrinsic ends, and internal standards of excellence that make sense in relation to those ends. Associated with the practice are certain acquired character traits that assist in the achievement of excellence, or in recognizing and internalizing communal understandings of the meaning of the practice. The traits can be viewed as the virtues of the practice.
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For MacIntyre (1984), a person who fails to treat an activity as a practice with an internal end is failing to display virtue—either because the activity falls within a practice whose internal ends the person is failing to respect, or because the activity is of such a morally impoverished and instrumental kind that it is not a practice at all— MacIntyre’s (p. 187) questionable example of an activity that does not count as a practice is bricklaying. This way of thinking immediately makes markets morally suspect. The market motivation of creating goods for exchange conflicts with the idea that activities, or the goods that they realize, are ends in themselves. Thus, according to MacIntyre, the exposure of a practice to market forces is liable to corrupt its excellences and virtues. MacIntyre does not quite claim that practices can never coexist with market exchange. For example, he maintains that portrait painting from the time of Giotto to that of Rembrandt was a practice with internal ends and standards of excellence. He recognizes that many excellent painters were also able to achieve (and presumably cared about) goods external to the practice of art, including the income they were able to earn from the sale of their services (pp. 189–90). The suggestion is that the corrupting tendencies of the market can be contained only to the extent that individuals are at least partially motivated by the internal ends of practices (as, in MacIntyre’s account, the great painters were).
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der Zweckdienlichkeit des Marktes zu ihrem logischen Ende führt, bietet sie eine geeignete Belegstelle. MacIntyre (S. 187) vertritt eine Interpretation von Moralität, die auf dem Begriff einer Praxis gründet. Eine Praxis ist eine »zusammenhängende und komplexe Form gesellschaftlich eingerichteter, auf kooperatives Zusammenwirken ausgerichteter menschlicher Tätigkeit«, die das jeweilige »Gute« verwirklicht, »das dieser Art von Tätigkeit inhärent ist«. Eine Praxis weist intrinsische Zwecke auf sowie interne Exzellenzmaßstäbe, die von diesen Zwecken ihren Sinn und ihre Berechtigung beziehen. Bestimmte eingeübte Charakterzüge erweisen sich nun in Verbindung mit der jeweiligen Praxis als förderlich für das Erreichen vortrefflicher Ergebnisse; sie begünstigen auch die Anerkennung und Internalisierung eines gemeinschaftlichen Verständnisses für die Bedeutung dieser Praxis. Solche Charakterzüge können als Tugenden der jeweiligen Praxis angesehen werden. Für MacIntyre (1984) ist eine Person, die unfähig ist, eine Tätig- 14 keit als Praxis mit einem internen Zweck zu vollziehen, ebenso unfähig, Tugenden zu zeigen – sei es, weil die betreffende Tätigkeit unter eine Praxis fällt, deren interne Zwecke die Person nicht anerkennen kann, sei es, weil die Tätigkeit von einer moralisch derart dürftigen und instrumentellen Art ist, dass sie überhaupt keine Praxis darstellt. MacIntyres (S. 187) fragwürdiges Beispiel für eine Tätigkeit, die nicht als Praxis gelten könne, ist das Maurerhandwerk. Diese Art des Denkens lässt Märkte schlagartig moralisch suspekt werden. Die dem Markt eigene Motivation, Güter für den Tausch herzustellen, steht mit der Idee im Widerspruch, dass Tätigkeiten oder die Güter, auf die sie zielen, Zwecke in sich selbst sind. Indem wir nach MacIntyre eine Praxis Marktkräften aussetzen, sind wir dafür verantwortlich, dass genau jene vorzüglichen Leistungen und Tugenden korrumpiert werden, die diese Praxis wesentlich ausmachen. Allerdings geht MacIntyre nicht so weit, explizit zu behaupten, dass eine moralische Praxis niemals mit einem Markttausch zusammen bestehen könne. Beispielsweise argumentiert er, dass die Porträtmalerei in der Zeit von Giotto bis Rembrandt eine Praxis mit internen Zwecken und Exzellenzmaßstäben gewesen sei. Er gesteht zu, dass viele hervorragende Maler durchaus in der Lage waren (und das vermutlich sogar gern), Güter zu erwerben, die der künstlerischen Praxis äußerlich sind – darunter das Einkommen, das sie durch den Verkauf ihrer Dienste erzielen konnten (S. 189–190). Dies legt nahe, dass die korrumpierenden Tendenzen des Marktes doch in dem Maße einge29 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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However, as MacIntyre (1984) recognizes, practices as he understands them are not, and cannot be, characteristic of ordinary economic life in the world in which we live. Treating the household as a paradigm case of communal life, he argues that »[o]ne of the key moments in the creation of modernity« occurs when production moves from the household to an impersonal domain of »means-ends relationships« (p. 227). This thought reflects the presupposition that production for exchange belongs to the domain of external goods. The implication is that an economy of practices cannot make effective use of comparative advantage and the division of labor. MacIntyre’s ultimate response to economic reality is a yearning for an imagined and ill-defined economy of communal production somehow devoid of the hierarchical power relationships found in real historical economies.
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Similar themes, developed in somewhat less unworldly forms, are prominent in the work of Anderson (1993) and Sandel (2009, 2012). These writers recognize, at times reluctantly, that markets are a necessary part of social organization. But they argue that the instrumental logic of markets is liable to corrupt virtues that are proper to other domains of social life, and that it is therefore appropriate for the state to impose limits on the scope of markets.
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Thus, the first sentence of Anderson’s Value in Ethics and Economics (1993) is: »Why not put everything up for sale?« This rhetorical question signals several elements of her position: to allow all areas of social life to be governed by market relationships would be morally objectionable; this truth ought to be obvious to a morally aware reader; but some opinion-formers do want to put everything up for sale, and their arguments need to be countered. More specifically, the people against whom she is arguing fail to understand that 30 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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dämmt werden können, in dem Individuen wenigstens teilweise durch die internen Zwecke der jeweiligen Praxis motiviert sind (wie es nach MacIntyres Einschätzung bei den großen Malern der Fall war). Allerdings ist nach MacIntyres (1984) Auffassung die Form mo- 15 ralischer Praxis, wie er sie versteht, nicht typisch für das normale Wirtschaftsleben in der Welt, in der wir leben – und sie kann es auch gar nicht sein. Er betrachtet den Haushalt als Musterfall für ein gemeinschaftliches Zusammenleben und argumentiert, dass »[e]in entscheidender Augenblick bei der Geburt der Moderne« eintrat, als sich die Produktion vom Haushalt in den unpersönlichen Bereich der »Zweck-Mittel-Beziehungen« verlagerte (S. 227). Dieser Gedanke spiegelt die Annahme wider, dass eine Produktion für den Tausch dem Bereich der einer Praxis äußerlichen Güter angehört. Daraus folgt: Eine auf die Form moralischer Praxis gestützte Wirtschaft kann komparative Kostenvorteile und Arbeitsteilung nicht wirkungsvoll zur Geltung bringen. MacIntyres abschließendes Urteil über die ökonomische Wirklichkeit läuft auf die Sehnsucht nach einem bloß imaginierten und unscharf skizzierten Wirtschaftssystem gemeinschaftlicher Produktion hinaus, das auf ungeklärte Weise ohne hierarchische Machtbeziehungen auskommt, wie sie in realen historischen Wirtschaftssystemen angetroffen werden. Thematisch ähnlich gelagerte Überlegungen, wenn auch in nicht 16 ganz so weltfremder Form, nehmen in den Schriften von Anderson (1993) und Sandel (2009, 2012) einen prominenten Platz ein. Diese Autoren erkennen (freilich bisweilen widerwillig) an, dass Märkte ein notwendiger Bestandteil der gesellschaftlichen Organisation sind. Aber sie wenden ein, dass die instrumentelle Logik des Marktes für die Korrumpierung von Tugenden verantwortlich sei, die in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eine Frage des Anstands sind, und dass es daher angebracht sei, dass der Staat dem Anwendungsbereich des Marktes Grenzen setze. Darum lautet der erste Satz von Andersons Value in Ethics and 17 Economics (1993) so: »Warum nicht alles zum Verkauf anbieten?« Diese rhetorische Frage lässt mehrere Bestandteile ihrer Position erkennbar werden, nämlich: Die Erlaubnis, alle Bereiche des sozialen Lebens durch Marktbeziehungen zu regeln, wäre moralisch verwerflich; diese Wahrheit sollte einem moralisch sensiblen Leser unmittelbar einleuchten; einige Meinungsbildner wollen jedoch alles zum Verkauf anbieten; ihren Argumenten muss man daher entgegentre31 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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there are »ways we ought to value people and things that can’t be expressed through market norms« (pp. xi–xiii).
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Anderson (1993) proposes a »pluralist theory of value« in which different kinds of goods ought to be valued in different ways (p. 12). She tries to delimit the proper scope of the market by identifying the norms that are characteristic of market relations, and the corresponding class of goods that are properly valued in terms of those norms. For Anderson, the ideal economic good is a »pure commodity.« The mode of valuation appropriate to pure commodities is »use.« She writes (p. 144): »Use is a lower, impersonal, and exclusive mode of valuation. It is contrasted with higher modes of valuation, such as respect. To merely use something is to subordinate it to one’s own ends, without regard for its intrinsic value.« This definition immediately introduces the Aristotelian ranking of intrinsic value over instrumental value. Anderson is presenting market norms as a kind of second-rate morality: the market’s mode of valuation is lower than that of other domains of social life; it is merely use; it has no regard for intrinsic value. In this account, market norms are impersonal and egoistic. Impersonality is the idea that market transactions are viewed instrumentally: each party to a transaction considers it only as a means to the satisfaction of his own ends. Egoism is the idea that those ends are defined in terms of self-interest.
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Anderson (1993) acknowledges that market norms embody a moral ideal of »economic freedom.« However, this ideal is presented in negative terms—as freedom from the kinds of moral constraints that one would face if one recognized the intrinsic value of goods, the obligations of personal relationships, and the potential validity of other people’s judgements about value (pp. 144–46). Indeed, Anderson seems comfortable with the ideal of economic freedom only in the context of in essential but harmless consumer products. Accepting (if condescendingly) that »the market […] also has its proper place in human life,« her examples of goods that properly belong to the do32 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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ten. Ihre Position besagt: Den Leuten, die sie kritisiert, mangele es an Verständnis dafür, dass es »Praxisnormen für die Beurteilung von Menschen und Gütern gibt, die sich nicht in Marktnormen übersetzen lassen« (S. xi–xiii). Anderson (1993) schlägt eine »pluralistische Werttheorie« vor, 18 nach der unterschiedliche Arten von Gütern auch in unterschiedlicher Weise bewertet werden sollten (S. 12). Sie versucht, den zulässigen Bereich des Marktes abzustecken – zum einen durch die Bestimmung der für Marktbeziehungen charakteristischen Normen, zum anderen durch die Kennzeichnung jener Klasse von Gütern, die angemessenerweise nach Marktnormen zu bewerten sind. Für Anderson ist ein ideales ökonomisches Gut eine »reine Ware«. Die für reine Waren angemessene Bewertungsmethode sei der »Gebrauch«. Sie schreibt (S. 144): »›Gebrauch‹ ist eine minderrangige, unpersönliche und ausschließende Bewertungsweise. Sie steht im Gegensatz zu höherrangigen Bewertungsweisen wie etwa dem Respekt. Etwas bloß zu gebrauchen heißt, es eigenen Zwecken unterzuordnen, ohne Rücksicht auf seinen intrinsischen Wert.« Diese Definition führt unvermittelt die auf Aristoteles zurückgehende Höherbewertung des intrinsischen Wertes gegenüber dem instrumentellen Wert ein. Anderson stellt Marktnormen als eine Art zweitrangiger Moralität dar: Die Methode der Marktbewertung ist von geringerem Wert als die in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens; sie drückt bloß den Gebrauchswert aus; sie nimmt keine Rücksicht auf den intrinsischen Wert. Nach dieser Auffassung sind Marktnormen unpersönlich und egoistisch. Unpersönlichkeit bedeutet, dass Markttransaktionen instrumentell interpretiert werden: Jeder Tauschpartner betrachtet sie lediglich als Mittel zur Erfüllung seiner Zwecke. Egoismus bedeutet, dass diese Zwecke ausschließlich in Bezug auf das jeweils eigene Interesse definiert werden. Anderson (1993) räumt ein, dass Marktnormen ein moralisches 19 Ideal »ökonomischer Freiheit« verkörpern. Doch dieses Ideal wird in negativ aufgeladenen Begriffen präsentiert – als Freiheit von den spezifisch moralischen Restriktionen, die man in den Blick bekäme, würde man erkennen, dass Güter einen intrinsischen Wert haben, dass persönliche Beziehungen mit Verpflichtungen einher gehen und dass die Werturteile sowie Wertzuweisungen anderer Menschen durchaus ihre Berechtigung haben können (S. 144–146). Tatsächlich scheint Anderson sich mit dem Ideal ökonomischer Freiheit nur im Rahmen nachrangiger und unbedenklicher Konsumgüter anfreunden zu kön33 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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main of economic freedom are »the conveniences, luxuries, delights, gadgets, and services found in most stores« (166–67). There is no mention of the role of the market in supplying private goods like food, clothing, fuel, and shelter, on which we all depend for our survival.
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Anderson (1993) develops her critique of the instrumentality of the market by considering the intrinsic value of the goods and services provided by professional workers such as doctors, academics, athletes, and artists. Like MacIntyre (1984) in his discussion of portrait painters, Anderson recognizes that professionals can be intrinsically motivated even though they produce for sale. But she argues (pp. 147–50) that the norms of the market can conflict with »the norms of excellence internal to their professional roles.« The result is that, when professionals sell their services, intrinsically valuable goods are »partially commodified.« She does not claim that commodification is wholly undesirable, but the thrust of her argument is that the internal goals of professional practices must be partially insulated from the extrinsic motivations that are fostered by markets. If necessary, taxpayers should bear some of the costs of this insulation, for example through subsidies to the arts and to pure research. Sandel (2009) develops a different but complementary critique of 21 the market, focusing on the virtue ethics of justice. 3 Like MacIntyre, he works with a concept of social practices; each practice has its Aris-
In a more recent book, Sandel (2012) presents an argument about the »moral limits of markets.« His paper in this issue takes up some of these arguments. As he acknowledges (p. 208, note 18), this argument is similar to that of Anderson (1993). Sandel sees economics as complicit in the inappropriate propagation of »market values.« Sandel is less precise than Anderson in explaining what those values are, but it is clear that he sees them in opposition to the civic virtues of »social solidarity,« including »shar[ing] in a common life,« and »car[ing] for the common good« (pp. 128, 203).
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nen. Indem sie (wenn auch etwas von oben herab) zugesteht, »dass der Markt […] einen durchaus zulässigen Platz im menschlichen Leben hat«, nennt sie als Beispiele von Gütern, die maßgeblich zum Bereich der ökonomischen Freiheit gehören, »Annehmlichkeiten, Luxus, Delikatessen, technische Spielereien und Serviceleistungen, wie sie in den meisten Läden zu finden sind« (S. 166–167). Sie verliert kein Wort über die Rolle des Marktes bei der Bereitstellung von privaten Gütern wie Lebensmittel, Kleidung, Brennstoffe und Wohnraum, die für uns alle überlebensnotwendig sind. Anderson (1993) entfaltet ihre Kritik an der Zweckdienlichkeit 20 des Marktes, indem sie den intrinsischen Wert jener Güter und Dienstleistungen in den Blick nimmt, die von Fachleuten wie Ärzten, Akademikern, Sportlern und Künstlern bereitgestellt werden. Ähnlich wie MacIntyre (1984) in seiner Diskussion der Porträtmalerei gesteht Anderson zu, dass Fachleute intrinsisch motiviert sein können, selbst wenn sie zum Zweck des Verkaufs produzieren. Aber sie behauptet (S. 147–150), dass Marktnormen mit denjenigen »Exzellenznormen« in Konflikt geraten können, »die ihrem professionellen Rollenverständnis entsprechen«. Daraus folgt: Wenn Fachleute ihre Dienste verkaufen, werden intrinsisch wertvolle Güter »teilweise zu Waren«. Sie behauptet nicht, dass Kommerzialisierung in jeder Hinsicht unerwünscht ist; aber der Tenor ihres Arguments lautet, dass die internen Zwecke einer Berufspraxis teilweise abgeschottet werden müssen gegen die extrinsischen Motive, die von Märkten ausgehen. Wenn nötig, sollten die Steuerzahler einen Teil der dabei anfallenden Kosten tragen – beispielsweise durch Fördermittel für die Künste und für die Grundlagenforschung. Sandel (2009) entwickelt ergänzend eine andere Marktkritik, in- 21 dem er die tugendethischen Aspekte der Gerechtigkeit ins Blickfeld rückt. 3 Wie MacIntyre arbeitet er mit einem Praxis-Begriff gesellIn einem neueren Buch liefert Sandel (2012) eine Begründung für die »moralischen Grenzen des Marktes«. Sein Aufsatz zu diesem Thema – Sandel (2013) – greift einige dieser Gründe auf. Wie er selbst sagt (2013; S. 208, Anmerkung 18), ähnelt sein Argument dem von Anderson (1993). Sandel hält die Ökonomik für mitschuldig an einer unangemessenen Propagierung von »marktorientierten Werthaltungen«. Zwar ist Sandel weniger präzise als Anderson, wenn es darum geht zu erläutern, worin diese Werthaltungen bestehen; aber es ist offenkundig, dass sie aus seiner Sicht im Widerspruch stehen zu den Bürgertugenden der »gesellschaftlichen Solidarität« einschließlich der »Teilhabe an einem gemeinsamen Leben« und der »Sorge um das Gemeinwohl« (2013; S. 128, 203).
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totelian telos and its associated excellences and virtues. However, Sandel’s concern is less with the cultivation of proper attitudes towards goods and practices, and more with how individuals are honored and rewarded for showing appropriate virtues. Justice, for Sandel, is about »giving people what they deserve.« That requires judgements about »what virtues are worthy of honor and reward, and what way of life a good society should promote« (p. 9).
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Sandel (2009) begins his book by describing some recent issues of public debate in America, intended to support his claim that virtue ethics is alive and well in ordinary political discourse. Two of these issues concern what Sandel sees as the ethical limitations of the market. The first issue is the conduct of those firms that charged scarcity prices for such goods as motel rooms, emergency repairs, and bottled water in the aftermath of Hurricane Charley in Florida in 2004. At the time, some economists argued that market-clearing prices promote efficiency in the use of resources, and that this truth is not invalidated by hurricanes. Sandel sides with the opinion that this kind of »price gouging« should be illegal. His reason is an application of virtue ethics: the firms that charged scarcity prices were motivated by greed; since greed is »a vice, a bad way of being,« the state should discourage it (pp. 7–8). The second issue is the remuneration of senior corporate executives. Sandel asks whether the chief executive officers of large American corporations deserved the payments they received in the years leading up to 2008, when their firms were generating large profits. We are invited to conclude that effort and talent are qualities that are worthy of reward in business, but that when the market rewards executives for profits that are not attributable to effort or talent, a principle of justice is being violated (pp. 12–8). The message from both examples, developed over the course of the book, is that the market generates incomes that are not properly aligned with the virtues of the people who receive them.
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
schaftlicher Lebensbereiche; jede Praxis hat ihr aristotelisches telos sowie ihre dazugehörigen Exzellenzmaßstäbe und Tugenden. Sandels Anliegen besteht allerdings weniger darin, die den diversen Gütern und Praxisformen jeweils angemessenen Geisteshaltungen zu kultivieren; ihm geht es vielmehr um die Frage, wie einzelne Menschen geachtet und vergütet werden, wenn sie sich tugendhaft verhalten. Gerechtigkeit bedeutet für Sandel, »den Menschen das zu geben, was sie im moralischen Sinne verdienen«. Damit werden Werturteile darüber erforderlich, »wieviel Ehre und Entgelt Tugenden wert sind, und welchen Lebensstil eine moralisch gute Gesellschaft fördern sollte« (S. 9). Am Anfang seines Buches geht Sandel (2009) auf einige kontro- 22 verse Themen ein, die in jüngster Zeit die öffentliche Debatte in den USA bestimmt haben – offenbar in der Absicht, seine Behauptung zu stützen, dass die Tugendethik im alltäglichen politischen Diskurs quicklebendig und wohlauf sei. Zwei dieser Themen betreffen das, was Sandel als die moralischen Grenzen des Marktes ansieht. Zunächst geht es um das Geschäftsgebaren derjenigen Unternehmen, die im Jahre 2004 nach dem Hurrican »Charley« in Florida für solche Güter wie Motelzimmer, Notfallreparaturen und Trinkwasserflaschen Knappheitspreise forderten. Damals argumentierten manche Ökonomen, dass bei der Nutzung von Ressourcen markträumende Preise die Effizienz fördern und dass diese Wahrheit auch nicht durch Wirbelstürme außer Kraft gesetzt werde. Sandel schlug sich damals auf die Seite derer, die die Meinung vertraten, eine solche Art von »Preiswucher« solle für illegal erklärt werden. Seine Begründung stützt sich auf angewandte Tugendethik: Die Unternehmen, die Knappheitspreise forderten, seien von Gier getrieben; und da Gier als »ein Laster, eine moralisch schlechte Art der Lebensführung« einzustufen sei, solle der Staat ein solches Verhalten zu verhindern suchen (S. 7–8). Das zweite Thema betrifft das Einkommen von Vorstandsmitgliedern großer Unternehmen. Sandel stellt die Frage, ob die Vorstandsvorsitzenden großer US-Firmen die Vergütungen wirklich ›verdienten‹, die sie in den Jahren bis 2008 erhielten, als ihre Unternehmen große Gewinne erwirtschafteten. Als Leser werden wir eingeladen, daraus den Schluss zu ziehen, dass Leistung und Talent zwar Qualitäten sind, die im Geschäftsleben etwas zählen; aber wenn der Markt Vorstandsmitglieder für Gewinne bezahlt, die nicht ihrer Leistung oder ihrem Talent zugeschrieben werden können, werde ein Gerechtigkeitsgrundsatz verletzt (S. 12–18). Die Botschaft bei37 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics
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To an economically trained reader, these critiques of economics and the market often seem divorced from the reality of everyday economic life. MacIntyre (1984) and Anderson (1993) seem to find it hard to find moral significance in the ordinary useful jobs by which most people earn their livings. Sandel (2009) seems to find it hard to come to terms with the fact that market rewards depend on luck as well as talent and effort. We will argue that virtue ethicists are failing to find virtue in markets because they are not seeing the market as a practice in its own right.
Intrinsic Motivation and Economics 24 Although there is little explicit analysis of virtue in modern econom-
ics, a large literature in behavioral economics echoes Anderson’s (1993) argument about the importance of insulating intrinsic motivation from contamination by the market (for example, Gneezy, Meier, and Rey-Biel 2011). The concept of intrinsic motivation has come to economics from social psychology, and particularly from Ryan and Deci’s self-determination theory. That theory has strong undertones of Aristotelian hostility to markets. Recall that according to Ryan and Deci’s (2000) definition, an intrinsically motivated person does an activity for its inherent satisfactions rather than for some separable consequence; such a person is not motivated by external prods, pressures, or rewards. Notice how this definition excludes all ordinary market activities. It should be no surprise that the economic literature on intrinsic motivation has been seen as supporting the virtue-ethical critique of markets (for example, Sandel 2012, pp. 64–5, 113–20).
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
der Beispiele, wie sie im Laufe des Buches entwickelt wird, lautet: Der Markt erzeugt Einkommensniveaus, die nicht – wie es eigentlich angemessen wäre – auf die Tugenden der jeweiligen Menschen abgestimmt sind, welche die Einkommen erzielen. Auf einen ökonomisch vorgebildeten Leser wirkt diese Kritik an 23 Ökonomik und Markt oft recht abgehoben von der Realität des wirtschaftlichen Alltagslebens. MacIntyre (1984) und Anderson (1993) kommen offenbar mit der Aufgabe nur schwer zurecht, moralisches Gewicht in den allgemein nützlichen Beschäftigungen zu entdecken, mit denen die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und Sandel (2009) fällt es offenbar schwer, sich mit der Tatsache zu arrangieren, dass Marktentgelte nicht nur von Talent und Anstrengung, sondern auch vom Zufall abhängen. Wir dagegen wollen nun zeigen, dass Tugendethiker auf der Suche nach den Tugenden des Marktes bislang nicht fündig werden, weil sie es versäumen, den Markt als eine eigenständige Praxis zu erkennen und anzuerkennen.
Intrinsische Motivation und Ökonomik Obwohl es in der modernen Ökonomik nur wenige explizite Unter- 24 suchungen zu Tugenden gibt, wiederholt eine umfangreiche verhaltensökonomische Literatur Andersons (1993) Argument, es sei wichtig, die intrinsische Motivation vor einer Kontaminierung durch den Markt zu bewahren (vgl. beispielsweise Gneezy, Meier und Rey-Biel 2011). Der in der Ökonomik verwendete Begriff der intrinsischen Motivation stammt aus der Sozialpsychologie, vor allem aus der Selbstbestimmungstheorie von Ryan und Deci. Diese Theorie weist einen starken Beiklang aristotelischer Marktfeindschaft auf. Es sei daran erinnert, dass nach der Definition von Ryan und Deci (2000) eine intrinsisch motivierte Person eine Handlung eher wegen der damit verbundenen inneren Befriedigung ausübt als wegen einer davon unabhängigen Handlungskonsequenz; solch eine Person wird nicht von außen durch Anstöße, Druck oder Belohnungen motiviert. Man beachte, wie diese Definition alle gewöhnlichen Tauschhandlungen ausschließt. Es sollte daher nicht überraschen, dass die ökonomische Literatur zur intrinsischen Motivation als Bestätigung der tugendethischen Kritik des Marktes angesehen wurde (vgl. etwa Sandel 2012; S. 64–65, 113–120).
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An important hypothesis in this psychological literature is that external rewards can crowd out intrinsic motivation (Deci 1971; Lepper and Greene 1978); a parallel hypothesis in relation to social policy is due to Titmuss (1970). Titmuss’s famous example is the effect of introducing financial incentives for blood donors. In a regime in which donors are entirely unpaid, blood donation is motivated by altruism, reciprocity, or public spirit. If financial incentives are introduced into such a setting, this prompts the thought that people who supply blood may be self-interested sellers rather than altruistic donors. This can undermine the sense of would-be donors that giving blood is a morally significant and socially valued act, and so lead to a reduction in the supply of blood. A similar interpretation is now often given for the much discussed finding that fines for lateness in collecting children from a day-care center led to an increase in the incidence of lateness (Gneezy and Rustichini 2000a).
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The economic implications of the hypothesis of motivational crowding-out were first explored by Frey (1994, 1997). 4 Defining intrinsic motivation in essentially the same way as Deci and Ryan do, Frey (1997, p. 2) maintains that it is »neither possible nor desirable to build a society solely or even mainly on monetary incentives«; intrinsic motivation has an essential role to play.
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Within economics, there is growing interest in theorizing about how intrinsic motivation can be shielded from market forces. One approach is summarized in the slogan »getting more by paying less.« Suppose there is some occupation, say nursing, in which workers are better able to provide the services that their employers value if they are intrinsically motivated to pursue the internal ends of that occupation—if, in Ryan and Deci’s (2000) terminology, they are attracted by its »inherent satisfactions« and »challenges.« Viewed in the standard conceptual framework of economics, a person with such a motivation It is only very recently that economists have taken this hypothesis seriously. Titmuss’s (1970) work was well-known to economists in the 1970s, but his crowding-out argument was viewed skeptically (for example, Arrow 1972). Gneezy and Rustichini (2000a, 2000b) discussed motivational crowding-out as a possible explanation of their findings, but favored a more conventional economic interpretation in terms of incomplete contracts.
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
Eine einflussreiche Hypothese in der psychologischen Literatur 25 besagt, dass externe Belohnungen eine intrinsische Motivation verdrängen können (Deci 1971; Lepper und Greene 1978); eine entsprechende Hypothese in Bezug auf die Sozialpolitik geht auf Titmuss (1970) zurück. Sein berühmtes Beispiel betrifft die Folgen einer Einführung finanzieller Anreize für Blutspender. In einem System, in dem Spender völlig ohne Bezahlung bleiben, werden Blutspenden durch Altruismus, Reziprozität oder Gemeinschaftsgeist motiviert. Wenn man in einem solchen Umfeld finanzielle Anreize setzt, legt das den Gedanken nahe, dass Menschen, die ihr Blut zur Verfügung stellen, eher eigeninteressierte Verkäufer als altruistische Spender sind. Dies könne das (Selbst-)Verständnis potenzieller Spender unterminieren, Blutspenden sei eigentlich eine moralisch bedeutsame und gesellschaftlich wertgeschätzte Handlungsweise, und damit zu einer Verringerung des Blutangebots führen. Eine ähnliche Deutung wird für den vieldiskutierten Befund gegeben, dass Gebühren für die verspätete Abholung von Kindern aus Kindertagesstätten zu einem Anstieg der Verspätungsfälle führten (Gneezy und Rustichini 2000a). Die ökonomische Tragweite der Hypothese einer motivationalen 26 Verdrängung wurde erstmals von Frey (1994, 1997) untersucht. 4 Er baut im Grunde auf der gleichen Definition von intrinsischer Motivation auf wie Deci und Ryan und behauptet (Frey 1997; S. 2), es sei »weder möglich noch wünschenswert, eine Gesellschaft allein oder auch nur hauptsächlich auf monetäre Anreize zu gründen«; intrinsische Motivation müsse eine maßgebliche Rolle spielen. Innerhalb der Ökonomik gibt es ein zunehmendes Interesse an 27 der Entwicklung von Theorien darüber, wie sich eine intrinsische Motivation gegenüber Marktkräften abschirmen lässt. Ein Ansatz ist im Motto »Mehr bekommen durch weniger zahlen« zusammengefasst. Nehmen wir das Beispiel einer beruflichen Tätigkeit – etwa die Krankenpflege –, bei der die Angestellten ihre vom Arbeitgeber gewünschten Dienstleistungen in besserer Qualität erbringen könnten, wenn sie intrinsisch dazu motiviert sind, die internen Zwecke dieser Es ist noch nicht lange her, dass Ökonomen damit begonnen haben, diese Hypothese ernst zu nehmen. Die Arbeit von Titmuss (1970) war in den 1970er Jahren unter Ökonomen zwar wohlbekannt, aber seine »Crowding-out«-Argumentation wurde skeptisch gesehen (zum Beispiel von Arrow 1972). Gneezy und Rustichini (2000a, 2000b) erörterten motivationale Verdrängungseffekte als eine mögliche Erklärung ihrer Befunde, bevorzugten aber eine gängigere ökonomische Interpretation unter dem Aspekt unvollständiger Verträge.
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Reclaiming Virtue Ethics for Economics
for nursing has a lower reservation wage for working as a nurse than for working in other occupations. So employers may be able to separate the better workers from the worse by offering low wages—they can get more by paying less (Brennan 1996; Katz and Handy 1998; Heyes 2005). When a person accepts the low wages of an employer who is looking for intrinsic motivation, she signals to herself and to others that she is intrinsically motivated. So there need be no crowding-out effect.
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We suspect that many readers will share our unease about this argument. Nelson (2005) formulates this unease by raising two objections. First, because low wages may screen out intrinsically motivated individuals who need to support themselves and their families, access to intrinsically rewarding occupations may be restricted to people with private incomes or well-off partners or parents. Second, when social norms treat self-sacrifice as a characteristic virtue of »caring« occupations such as nursing, they act as a cover for, and an incitement to, exploitation. These objections draw attention to a questionable assumption of the »getting more by paying less« argument —that a person is virtuous or authentic to the extent to which that person is willing to sacrifice material rewards in the pursuit of intrinsic ends. In a model in which all motivations are represented as properties of individuals’ preferences, that assumption is almost unavoidable, since an individual’s preference for »consuming« an intrinsic good is defined in terms of how much of other goods she is willing to give up in exchange. However, it is not an essential part of a virtueethical approach in which the exercise of virtue is associated with flourishing rather than sacrifice, nor of a decision-theoretic approach in which intentions for mutual benefit are represented as »team reasoning« (Bruni and Sugden 2008).
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Tätigkeit zu verfolgen – wenn sie sich, in der Terminologie von Ryan und Deci (2000), durch die mit dieser Tätigkeit verbundene »innere Befriedigung« und »Herausforderung« angezogen fühlen. Legt man den üblichen Begriffsapparat der Ökonomik zugrunde, wird eine derart motivierte Person für ihre Arbeit in der Pflege einen niedrigeren Lohnanspruch anmelden als für die Arbeit in anderen Berufszweigen. Auf diese Weise sind Arbeitgeber möglicherweise gerade dadurch, dass sie niedrige Löhne anbieten, dazu fähig, gute Arbeitskräfte von den weniger guten zu unterscheiden. Kurz: Sie können mehr bekommen, indem sie weniger zahlen (Brennan 1996; Katz und Handy 1998; Heyes 2005). Wenn eine Person die niedrigen Löhne eines Arbeitgebers akzeptiert, der auf intrinsische Motivation aus ist, signalisiert sie sich selbst und anderen ihre intrinsische Motivation. Auf diese Weise braucht es keinen Verdrängungseffekt zu geben. Wir vermuten, dass viele Leser das Unbehagen teilen, welches 28 dieses Argument bei uns auslöst. Nelson (2005) bringt dieses Unbehagen mit zwei Einwänden auf den Punkt. Erstens: Weil niedrige Löhne intrinsisch motivierte Menschen aussortieren, die sich und ihre Familien ernähren müssen, könnte der Zugang zu intrinsisch attraktiven Tätigkeiten solchen Menschen vorbehalten bleiben, die über zusätzliche Einkommensquellen oder über gut gestellte Partner bzw. Eltern verfügen. Zweitens: Wenn soziale Normen die Selbstaufopferung als typische Tugend für sozial engagierte Tätigkeiten einstufen, wie es die Pflegeberufe sind, bieten sie ein Feigenblatt – und einen Anreiz! – für Ausbeutung. Diese Einwände lenken die Aufmerksamkeit auf eine fragwürdige Voraussetzung der »Mehr bekommen durch weniger zahlen«-Argumentation – dass nämlich eine Person in dem Maße als tugendhaft oder authentisch zu gelten habe, wie sie bereit ist, materielle Belohnungen zugunsten intrinsischer Zwecke zu opfern. In einem Modell, in dem alle Motivationen als Eigenschaften individueller Präferenzen repräsentiert sind, ist diese Voraussetzung fast unvermeidbar, weil die Präferenz eines Individuums für den »Konsum« eines intrinsischen Gutes dadurch definiert ist, auf wie viel andere Güter sie dafür zu verzichten bereit ist. Indessen ist dieser Aspekt kein wesentlicher Bestandteil eines tugendethischen Ansatzes, in dem die Ausübung einer Tugend eher mit dem eigenen Gedeihen als mit Opfern verbunden ist; auch in einem entscheidungstheoretischen Ansatz, in dem Zwecke gegenseitiger Besserstellung als »Team-Denken« repräsentiert sind (Bruni und Sugden 2008), spielt dieser Aspekt keine größere Rolle. 43 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics 29
Folbre and Nelson (2000) suggest that the crowding-out problem can be countered by separating the payment of intrinsically motivated workers from the specific services they provide, so that payment can be construed as an acknowledgement of intrinsic motivation rather than as one side of a market exchange. The implication seems to be that authentic caring is compromised if carers and cared see their relationship as that of seller and buyer. There is another echo here of the Aristotelian idea that market relationships are instrumental and thereby nonvirtuous.
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But how is the payment of service suppliers to be separated from exchange relationships? One possibility is to use gift relationships. Consider the case of restaurant waiters who are paid less than the market wage, but with the expectation that their earnings will be supplemented by tips from customers. Perhaps this practice supports dispositions towards friendliness and efficiency that restaurant owners value in their waiters and find costly to monitor, but one might think that it impairs rather than supports the waiter’s sense of autonomy.
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A different model (and probably the one that Folbre and Nelson 2000 have in mind) is that of a salaried professional. Think of the role of the tenured academic in a well-financed university, as that role used to be (and sometimes still is) understood. The academic is awarded tenure in the expectation of a continuing intrinsic motivation to pursue excellence in teaching and research, but is subject to only the lightest of monitoring. He is paid a good salary that has no direct relationship to the services he provides, but is seen as expressing a social valuation of the excellence that is expected. Actual excellence in teaching will be rewarded by the gratitude of students; excellence in research, by the respect of peers. This kind of separation of payment from services rendered can give professionals an enviable degree of autonomy; and it can protect whatever intrinsic motivation they have from crowding-out effects. But it also insulates them from pressures to respond to the interests of the people to whom their services are being provided. Just as the waiter loses autonomy in hav44 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
Folbre und Nelson (2000) schlagen vor, das Verdrängungspro- 29 blem dadurch anzugehen, dass man die Bezahlung intrinsisch motivierter Arbeitskräfte von den spezifischen Dienstleistungen trennt, die sie erbringen, so dass die Bezahlung dann eher als Anerkennung ihrer intrinsischen Motivation gedeutet werden kann und nicht mehr so sehr als Gegenleistung innerhalb eines Markttausches erscheint. Die Schlussfolgerung scheint zu sein, dass authentische Pflege dann beeinträchtigt ist, wenn Pflegekräfte und Pflegebedürftige ihr Beziehungsverhältnis als das von Verkäufern und Käufern ansehen. Hier kommt erneut die aristotelische Auffassung zum Vorschein, dass Marktbeziehungen einen instrumentellen Charakter haben und daher nicht tugendhaft sind. Aber auf welche Weise ließe sich die Bezahlung der Pflegeanbie- 30 ter von ihrer Tauschbeziehung trennen? Eine Möglichkeit bestünde darin, Geschenkelemente einzubauen. Betrachten wir den Fall von Servicekräften im Restaurantbereich, die weniger als den marktüblichen Lohn verdienen, aber erwarten, dass ihr Verdienst von der Kundschaft durch Trinkgelder aufgestockt wird. Vielleicht fördert diese Praxis die Bereitschaft, freundlich und effizient zu kellnern, eine Bereitschaft, die Restaurantbesitzer bei ihren Angestellten sicherlich schätzen, aber nur kostenaufwendig überprüfen können; allerdings kann man durchaus auf den Gedanken kommen, dass eine solche Praxis das Autonomieempfinden der Servicekräfte eher schwächt als stärkt. Ein andersgeartetes Modell (und vermutlich dasjenige, das Fol- 31 bre und Nelson (2000) vor Augen haben) ist das einer festangestellten Fachkraft. Man denke an die Stellung unkündbarer Wissenschaftler an einer finanzstarken Universität, und daran, wie diese Stellung gewöhnlich aufgefasst wurde (und gelegentlich noch wird). Dem Wissenschaftler wird eine unkündbare Stellung in der Erwartung zuerkannt, dass er in seinem Streben nach Exzellenz in Forschung und Lehre dauerhaft intrinsische Motivation zeigt, wobei er obendrein nur sehr lockeren Kontrollen unterliegt. Ihm wird eine ordentliche Besoldung gewährt, die keine direkte Beziehung zu den von ihm erbrachten Gegenleistungen aufweist, sondern als Ausdruck der gesellschaftlichen Wertschätzung jener Spitzenleistungen gilt, die man erwartet. Wirklich herausragende Leistungen in der Lehre werden durch die Dankbarkeit der Studierenden belohnt, herausragende Leistungen in der Forschung durch die Anerkennung von Seiten der Fachkollegen. Indem man auf diese Weise Bezahlung und Gegenleis45 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics
ing to depend on the good will of the customer, so does the client in having to depend on the professional’s intrinsic motivation.
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These examples illustrate the difficulty of shielding intrinsic motivation from the supposedly corrosive effects of exchange relationships. These difficulties have a common source: it is inherent in the concept of intrinsic motivation that an individual’s autonomy and authenticity are compromised whenever she enters into exchange relationships, but such relationships are fundamental to the workings of any economy that relies on comparative advantage and the division of labor. The literature of intrinsic motivation invites us to aspire to the ideal of an economy in which everyone’s actions and efforts are coordinated to realize gains from trade, but in which no one is actually motivated to seek those gains. This ideal seems as profoundly unrealistic as MacIntyre’s (1984) imaginary world of an economy built on practices. If we are to reconcile the ideas of virtue and authenticity with real economic life, we need a way of understanding market relationships that acknowledges that gains from trade are not realized by accident: they are realized because individuals seek them out.
The Telos of the Market 33 In the literature of virtue ethics, the market is seen as opposed to
virtue and authenticity because behavior in markets fails to respect intrinsic value. Intrinsic value is attributed to practices in which goods are produced—for example, the practices of art, scientific enquiry, or nursing—as well as to nonmarket practices which transfer goods between individuals, like gift-giving and the honoring of excellence. But 46 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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tung voneinander trennt, kann man einem Berufsstand ein beneidenswertes Ausmaß an Selbstbestimmung gewähren; und das kann ihre wie auch immer geartete intrinsische Motivation gegen Verdrängungseffekte abschirmen. Aber genau das schottet sie zugleich auch gegen jeden Druck ab, auf die Interessen jener Menschen einzugehen, für die sie ihre Gegenleistungen erbringen (sollen). Genauso, wie die kellnernden Servicekräfte an Autonomie verlieren, indem sie auf den guten Willen des Gastes angewiesen sind, hängt nun umgekehrt der Leistungsempfänger von der intrinsischen Motivation des Dienstleisters ab. Diese Beispiele veranschaulichen, wie schwierig es ist, eine in- 32 trinsische Motivation gegen die vermeintlich zersetzenden Auswirkungen einer Tauschbeziehung abzuschirmen. Diese Schwierigkeiten haben eine gemeinsame Quelle: Die intrinsische Motivation enthält schon die begriffliche Festlegung, dass die Autonomie und Authentizität eines Individuums beeinträchtigt werden, sobald es in Tauschbeziehungen eintritt. Aber für die Funktionsweise jeder Wirtschaft, die auf komparativen Kostenvorteilen und Arbeitsteilung beruht, sind solche Tauschbeziehungen fundamental. Die Literatur zur intrinsischen Motivation fordert uns folglich dazu auf, das Ideal einer Wirtschaft anzustreben, in der die Handlungen und Bemühungen aller darauf abgestimmt sind, Tauschgewinne herbeizuführen, in der aber niemand wirklich motiviert ist, solche Tauschgewinne anzustreben. Dieses Ideal mutet ebenso abgrundtief unrealistisch an wie MacIntyres (1984) imaginäre Welt einer Wirtschaft, die allein auf Formen moralischer Praxis basiert. Wenn wir die Begriffe von Tugend und Authentizität mit dem realen Wirtschaftsleben in Einklang bringen wollen, benötigen wir ein Verständnis von Marktbeziehungen, welches anerkennt, dass Tauschgewinne nicht durch Zufall entstehen: Sie entstehen, weil Individuen sie gezielt anstreben.
Das telos des Marktes Die Literatur zur Tugendethik sieht den Markt als Gegensatz zu Tu- 33 gend und Authentizität, weil sie davon ausgeht, dass marktorientiertes Verhalten nicht in der Lage sei, intrinsischen Wert angemessen zu berücksichtigen. Intrinsischer Wert wird Praxisformen zugeschrieben, und zwar zum einen solchen Praxisformen, in denen etwas produziert wird – wie es beispielsweise in Kunst und Wissenschaft oder 47 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics
there is a reluctance to treat the market as a practice in its own right, with its own forms of intrinsic value and authenticity. We suggest that the first step in a virtue ethics of the market is to think of the market in this way.
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It must be said that economists have been partly responsible for the difficulty that virtue ethicists have had in seeing the market as a practice. After all, generations of economists have pictured the market as a domain in which socially desirable consequences emerge as unintended consequences of individuals’ pursuit of their private interests. Two famous expressions of this idea are due to Adam Smith (1776 [1976], pp. 26–7, 456)—the assertion that »It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker, that we expect our dinner, but from their regard to their own interest,« and the description of the merchant who »intends only his own gain, [but is] led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention.« In Smith’s theory of markets, the primary motivation for action is self-love, even though in fact everyone’s self-interested actions combine to create benefits for all. To say this is not to assert that Smith shared his successors’ lack of interest in virtue ethics. The virtues of sympathy and benevolence are important in Smith’s (1759 [1976]) earlier work The Theory of Moral Sentiments, even though they play only minor roles in his economic analysis. And for Smith, self-interest expressed within the rules of a commercial society is not opposed to virtue. To the contrary, character traits associated with the pursuit of long-term self-interest, particularly prudence, temperance, and self-command, are virtues (on this, see Hirschman 1997, especially pp. 18–19). We take it as given that such traits are indeed virtues of economic life, but our focus will be on how, within a market economy, individuals relate to one another.
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
im Pflegebereich der Fall ist –, als auch zum anderen solchen nicht marktgebundenen Praxisformen, bei denen Güter zwischen Individuen transferiert werden – wie bei Geschenken oder bei Auszeichnungen für herausragende Leistungen. Aber es herrscht eine gewisse Abneigung dagegen, den Markt selbst als eine eigenständige Praxis sui generis* zu betrachten – als eine moralische Praxis eigener Art mit ihren je spezifischen Ausprägungen von intrinsischen Werten und Authentizität. Für uns besteht der erste Schritt einer Tugendethik des Marktes darin, den Markt in dieser Weise zu denken. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass die Ökonomen zum Teil 34 selbst dafür verantwortlich sind, dass Tugendethiker den Markt nicht als eine Praxis eigener Art interpretiert haben. Schließlich haben Generationen von Ökonomen ihn als einen Bereich beschrieben, in dem gesellschaftlich wünschenswerte Ergebnisse als unbeabsichtigte Resultate der individuellen Verfolgung jeweils eigener Interessen entstehen. Zwei bekannte Formulierungen dieser Idee gehen auf Adam Smith (1776 [1976]; S. 26–27, 456) zurück – nämlich die Behauptung: »Es ist nicht das Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers, das uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern der Blick auf sein Eigeninteresse«, sowie die Beschreibung des Kaufmanns, der »nur seinen eigenen Vorteil im Sinn hat, [aber] von einer Unsichtbaren Hand dazu gebracht [wird], sich für ein nicht beabsichtigtes Ziel einzusetzen«. In Smiths Markttheorie bildet die Selbstliebe die primäre Handlungsmotivation, auch wenn in Wirklichkeit erst das Zusammenwirken der eigeninteressierten Handlungen aller den Nutzen für alle hervorbringt. Dies besagt freilich nicht, Smith habe wie seine Nachfolger nur wenig Interesse an der Tugendethik gezeigt. Tugenden wie Mitgefühl und Wohlwollen nehmen in Smiths (1759 [1976]) früherem Werk The Theory of Moral Sentiments einen hohen Stellenwert ein, auch wenn sie in seiner ökonomischen Analyse nur eine untergeordnete Rolle spielen. Und für Smith stellt das Selbstinteresse, wenn es im Regelrahmen einer Marktgesellschaft verfolgt wird, keinen Gegensatz zur Tugend dar. Im Gegenteil: Bestimmte Charaktereigenschaften, die er mit der Verfolgung langfristigen Eigeninteresses in Zusammenhang bringt, gelten ihm als Tugenden – vor allem * Anmerkung der Übersetzer: Der lateinische Ausdruck »sui generis« heißt wörtlich »eigener Art«. Wir fügen diesen Ausdruck hier ein, weil es Bruni und Sugden darauf ankommt, den Anspruch anzumelden, dass der Markt als eine eigenständige moralische Praxis, als eine Praxis »eigener Art« erkannt und anerkannt werden sollte.
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Can the market be viewed as a practice with its own intrinsic values? In terms of MacIntyre’s (1984) definition of practices, the market is certainly a coherent and complex form of socially established cooperative human activity. But does it have moral goods that are internal to itself? Does it have internal standards of excellence? From the standpoint of virtue ethics, the answer to these questions begins by asking: »What is the telos of the market?« For many readers (and perhaps particularly for those who are economists), it will be tempting to reply that the presupposition of the question is either false or meaningless. We ask such readers to set aside their skepticism for a moment, and to translate this question into common-sense terms. What is the characteristic end or purpose or raison d’être of the market? How would you describe, in the simplest and most general terms, what markets do that is valuable? If you had to write a mission statement for the market, what would it say?
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Thoughtful economists have offered answers to such questions. For example, Friedman (1962, p. 13) wrote that, in relation to the problem of coordinating economic activity, »the technique of the market place« is »voluntary cooperation of individuals.« Buchanan and Tullock (1962, p. 103) wrote: »The raison d’être of market exchange is the expectation of mutual gains.« We are not claiming here that Friedman, Buchanan, and Tullock are virtue ethicists. All we are attributing to them is the idea that markets have a point or purpose, and that that purpose is mutual benefit. Most economists, faced with our questions, would probably invoke in one way or another the idea of mutual benefit or gains from trade through voluntary transactions.
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
Wachsamkeit, Besonnenheit und Selbstbeherrschung (vgl. dazu Hirschman 1997; bes. S. 18–19). Im Folgenden gehen wir davon aus, dass solche Charakterzüge in der Tat als Tugenden des Wirtschaftslebens angesehen werden können; unser Hauptaugenmerk legen wir aber auf die Frage, wie Personen im Rahmen einer Marktwirtschaft zueinander in Beziehung stehen und sich zueinander verhalten. Können wir den Markt als eine Praxis sui generis mit eigenen 35 intrinsischen Werten ansehen? Wenn wir an die Definition der Praxisformen nach MacIntyre (1984) denken, ist der Markt sicherlich eine zusammenhängende und komplexe Form gesellschaftlich eingerichteter, auf kooperatives Zusammenwirken ausgerichteter menschlicher Tätigkeit. Aber besitzt er moralische Qualitäten, die ihm selbst innewohnen? Besitzt er interne Exzellenzmaßstäbe? Vom Standpunkt der Tugendethik aus gesehen beginnt eine Antwort auf diese Fragen mit der Vorfrage: »Was ist das telos des Marktes?«. Für viele Leser (und wohl vor allem für die Ökonomen unter ihnen) wird als Antwort naheliegen, dass die Voraussetzung dieser Vorfrage entweder falsch oder bedeutungslos ist. Wir bitten solche Leser, ihre Skepsis vorerst zurückzustellen und die Vorfrage in Begriffe des Alltagsverstandes zu übersetzen. Was ist der typische Zweck, der Sinn oder die Existenzberechtigung, die raison d’être des Marktes? Wie würden Sie mit möglichst einfachen und sehr allgemeinen Worten umschreiben, was Märkte Wertvolles leisten? Und wenn Sie ein Leitbild des Marktes verfassen müssten: Wie würde es aussehen? Umsichtige Ökonomen haben auf derartige Fragen Antworten 36 gegeben. Im Hinblick darauf, wie wirtschaftliche Aktivitäten aufeinander abgestimmt werden, kennzeichnet beispielsweise Friedman (1962; S. 13) »die Methode des Marktes« als »freiwillige Zusammenarbeit von Individuen«. Buchanan und Tullock (1962; S. 103) schreiben: »Die Existenzberechtigung des Markttausches liegt in der Erwartung wechselseitiger Besserstellung.« Wir behaupten hier natürlich nicht, dass Friedman, Buchanan und Tullock Tugendethiker waren. Wir schreiben ihnen lediglich die Vorstellung zu, dass Märkte einen Sinn oder Zweck haben, und dass dieser Zweck in gegenseitiger Vorteilsgewährung besteht. Wahrscheinlich würden die meisten Ökonomen, konfrontiert mit unserer Frage, in ihrer Antwort auf die eine oder andere Weise das Konzept wechselseitiger Besserstellung oder wechselseitigen Zugewinns durch Tauschvorteile auf der Basis freiwilliger Handlungen anführen.
51 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics 37
If economists were asked to nominate one simple diagrammatic representation of a market, the »Edgeworth box« would surely be one of the commonest choices, and the point of that diagram is to understand markets as networks of mutually beneficial voluntary transactions. Edgeworth (1881, pp. 16–7) himself, in a famous passage in which he declares that the first principle of economics is that every agent is activated only by self-interest, distinguishes between »war« and »contract,« differentiated by whether »the agent acts without, or with, the consent of others affected by his actions«; his analysis of competitive markets is presented as an analysis of contract. If economists were asked to nominate a theorem to represent the market in its best light, many would opt for the first fundamental theorem of welfare economics, which is essentially equivalent to showing that in competitive equilibrium, no opportunities for mutually beneficial transactions, however complex, remain unexploited. Another strong contender would be Ricardo’s (1817, Ch. 7) comparative advantage theorem, which shows that there are typically opportunities for gains from trade between any pair of countries (and by extension, any pair of individuals), whatever their respective endowments and productivity.
38
How else might one answer our question about the telos of the market? One obvious alternative answer is that the telos of the market is wealth creation: after all, the founding text of economics is called The Wealth of Nations. But even for the author of that text, the fundamental mechanism by which wealth is created is the division of labor and the extension of the market, and the division of labor is the consequence of the human propensity »to truck, barter and exchange one thing for another« (Smith 1776 [1976], p. 25). Other economists have emphasised how the market creates wealth by exploiting comparative advantage (Ricardo 1817), the division of knowledge (Hayek 1948), and increasing returns to scale (Marshall 1920, pp. 222–42; Arrow 1984, p. 188); but all of these mechanisms operate through mutual gains from trade. Another possible answer is that the telos of the market is economic freedom. The association between the market and freedom is a recurring theme in economics; 52 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
Müssten Ökonomen ein einfaches Beispiel für eine graphische 37 Darstellung eines Marktes geben, wäre die »Edgeworth box« sicherlich eine der am häufigsten genannten. Diese Graphik bezweckt, Märkte als Netzwerke freiwilliger Transaktionen zu modellieren, die wechselseitig vorteilhaft sind. Edgeworth (1881; S. 16–17) selbst unterscheidet in einer berühmten Passage, in der er erklärt, der erste Grundsatz der Ökonomik laute, jeder Handelnde sei nur durch das Eigeninteresse motiviert, zwischen »Krieg« und »Vertrag«; der Unterschied zwischen beiden bestehe in der Antwort auf die Frage, ob »der Handelnde ohne oder mit Einverständnis Anderer agiert, die von seinen Handlungen betroffen sind«; seine Untersuchung von Wettbewerbsmärkten stellt sich daher als eine Untersuchung der Institution des Vertrages dar. Müssten Ökonomen ein Theorem nennen, das den Markt in seiner idealen Gestalt repräsentiert, würden sich viele für das Erste Fundamentaltheorem der Wohlfahrtsökonomik entscheiden. Es besagt im Wesentlichen, dass in einem Wettbewerbsgleichgewicht alle Möglichkeiten vollständig ausgeschöpft sind, freiwillige Transaktionen zum wechselseitigen Vorteil durchzuführen, mögen sie auch noch so komplex sein. Ein weiterer aussichtsreicher Anwärter wäre das Theorem der komparativen Kostenvorteile von Ricardo (1817; Kap. 7). Es besagt, dass es zwischen zwei beliebigen Ländern (und verallgemeinert: zwischen zwei beliebigen Individuen) typischerweise ein Potential wechselseitiger Tauschgewinne gibt, und zwar völlig unabhängig davon, wie ihre jeweilige Ressourcenausstattung und ihre jeweilige Produktivität beschaffen sind. Welche Möglichkeiten gäbe es sonst noch, unsere Frage nach 38 dem telos des Marktes zu beantworten? Ein naheliegender Vorschlag wäre, das telos des Marktes in der Schaffung von Wohlstand zu sehen; schließlich heißt das Gründungsdokument der Ökonomik »Der Wohlstand der Nationen«. Aber sogar für den Autor dieses Textes liegen die grundlegenden Mechanismen, durch die Wohlstand geschaffen wird, in der Arbeitsteilung und in der Ausweitung von Märkten; und die Arbeitsteilung selbst ist die Folge der menschlichen Neigung »zu verhandeln, Handel zu treiben und die eine Sache für eine andere einzutauschen« (Smith 1776 [1976]; S. 25). Andere Ökonomen haben hervorgehoben, wie der Markt durch die Ausnutzung komparativer Kostenvorteile (Ricardo 1817), die Wissensteilung (Hayek 1948) und durch steigende Skalenerträge in der Produktion (Marshall 1920; S. 222–242; Arrow 1984; S. 188) Wohlstand schafft; doch all diese Mechanismen arbeiten mit wechselseitigen Tauschge53 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics
famous expositors of this idea include Mill (1848 [1910]), Marshall (1920, p. 8), Hayek (1948), and Friedman (1962). But economic freedom is not the freedom of each person to get what he wants tout court; it is his freedom to use his own possessions and talents as he sees fit and to trade with whoever is willing to trade with him. We suggest that the common core of these understandings of 39 markets is that markets facilitate mutually beneficial voluntary transactions. Such transactions can be seen as valuable because individuals want to make them, because they satisfy individuals’ preferences, because they create wealth, and because the opportunity to make them is a form of freedom. We therefore propose to treat mutual benefit as the telos of the market.
Market Virtues 40 On the supposition that the telos of the market is mutual benefit, a
market virtue in the sense of virtue ethics is an acquired character trait with two properties: possession of the trait makes an individual better able to play a part in the creation of mutual benefit through market transactions; and the trait expresses an intentional orientation towards and a respect for mutual benefit. In this section, we present a catalog of traits with these properties, without claiming that our catalog is exhaustive.
41
According to the logic of virtue ethics, such traits are properly or consistently viewed as praiseworthy within the practice of the market, when that practice is understood as directed at mutual benefit. Thus, we should expect the traits in our catalog to have been evaluated favorably in the tradition of liberal economic thought from 54 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
winnen. Eine weitere mögliche Antwort wäre, dass das telos des Marktes in der wirtschaftlichen Freiheit liegt. Die Verbindung von Markt und Freiheit ist ein wiederkehrendes Thema in der Ökonomik; zu den bekannten Vertretern dieser Idee gehören Mill (1848 [1910]), Marshall (1920; S. 8), Hayek (1948) und Friedman (1962). Ökonomische Freiheit bedeutet jedoch nicht die Freiheit jeder Person, ohne jede Einschränkung alles zu bekommen, was immer sie möchte; sie besteht vielmehr in der Freiheit jeder Person, von ihrem Eigentum und ihren Talenten nach eigenem Gutdünken Gebrauch zu machen und mit jeder anderen Person Tauschbeziehungen aufzunehmen, die dazu bereit ist. Das legt nahe, den gemeinsamen Kern dieser diversen Auffas- 39 sungen des Marktes darin zu sehen, dass Märkte freiwillige Tauschhandlungen erleichtern, die wechselseitig vorteilhaft sind. Solche Markttransaktionen können als wertvoll betrachtet werden, weil Individuen ein Interesse an ihnen haben, weil sie individuelle Präferenzen befriedigen, weil sie Wohlstand schaffen und weil die Möglichkeit, solche Transaktionen durchzuführen, eine Form der Freiheit ist. Wir schlagen daher vor, das telos des Marktes in der wechselseitigen Vorteilsgewährung zu sehen.
Markttugenden Unter der Voraussetzung, dass das telos des Marktes in der wechsel- 40 seitigen Vorteilsgewährung besteht, liegt eine Markttugend im Sinne der Tugendethik dann vor, wenn ein Charaktermerkmal erworben wurde, das zwei Eigenschaften aufweist: Zum einen ist, wer über ein solches Merkmal verfügt, eher in der Lage, aktiv daran mitzuwirken, dass Markttransaktionen wechselseitigen Nutzen stiften; und zum anderen bringt das Merkmal zum Ausdruck, dass die wechselseitige Vorteilsgewährung bewusst intendiert und als wertvoll erachtet wird. In diesem Abschnitt legen wir ohne Anspruch auf Vollständigkeit einen Katalog von Charaktermerkmalen vor, die diese Eigenschaften aufweisen. Nach der Logik der Tugendethik gelten Charaktermerkmale im 41 Rahmen der Marktpraxis als angemessen oder anerkennenswert, sofern der Merkmalsträger diese Praxis so versteht, dass sie auf wechselseitige Besserstellung ausgerichtet ist. Von daher sollte man erwarten, dass die Charaktermerkmale in unserer Liste vor allem in der 55 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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which we have distilled the telos of mutual benefit. We maintain that this is the case, and will point to illustrative examples. Recall that virtue ethicists claim to uncover the virtues of practices by philosophical reflection, and not simply by sociological observation. It is in the spirit of such enquiry to look to thoughtful economists as well as to market participants for insights into the nature of market virtues. We will not claim that all market participants display the market 42 virtues. (The logic of virtue ethics does not require that kind of implausibility: virtue ethicists can, for example, describe bravery as a military virtue without asserting that all soldiers are brave.) But we do maintain that the market virtues are broadly descriptive of traits that many people, including people who are successful in business, display when they participate in markets. Readers who are accustomed to equating virtue with self-sacrifice may suspect that this claim is overoptimistic, but we repeat that such an equation is alien to virtue ethics. It is fundamental to the classical and neoclassical understanding of markets that, under normal circumstances, each party to a market transaction benefits from involvement in it. Thus, a disposition to seek mutual benefit in markets will normally incline individuals towards the kinds of individually beneficial behavior that economic theory has traditionally described. Our account of market virtue is not a new theory of nonselfish behavior. It is a description of a distinctive moral attitude to market relationships—an attitude characterized not by altruism but by reciprocity.
Universality 43 Our first market virtue is universality—the disposition to make mu-
tually beneficial transactions with others on terms of equality, who56 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
Tradition des liberalen ökonomischen Denkens, aus der wir das telos des Marktes gewonnen haben, untersucht und positiv bewertet worden sind. Wir sind der Meinung, dass genau dies auch tatsächlich der Fall ist, und werden auf einschlägige Beispiele verweisen. Erinnern wir uns an die Behauptung der Tugendethiker, die einer Praxis zugrundeliegenden Tugenden ließen sich durch philosophische Reflexion und nicht einfach durch soziologische Beobachtung sichtbar machen. Es liegt dann ganz auf der Linie einer derartigen Untersuchung, dass man nicht nur auf umsichtige Ökonomen, sondern in gleicher Weise auch auf Marktteilnehmer zurückgreift, wenn man Einsichten in die Beschaffenheit der Markttugenden gewinnen will. Wir behaupten nicht, dass alle Marktteilnehmer Markttugenden 42 aufweisen. (Die Logik der Tugendethik erfordert nicht, derart unglaubwürdige Dinge zu postulieren: Tugendethiker können beispielsweise die Tapferkeit als eine militärische Tugend schildern, ohne geltend zu machen, dass ausnahmslos alle Soldaten tapfer seien.) Aber wir behaupten, dass Markttugenden im Großen und Ganzen solche Charaktermerkmale beschreiben, die viele (und insbesondere auch die geschäftlich erfolgreichen) Menschen aufweisen, wenn sie am Marktgeschehen teilnehmen. Leser, die gewöhnlich Tugenden mit Selbstaufopferung gleichsetzen, könnten nun argwöhnen, dass diese Behauptung unangemessen optimistisch ist; doch wir betonen erneut, dass eine derartige Gleichsetzung der Tugendethik fremd ist. Für das klassische und neoklassische Marktverständnis ist es grundlegend, dass unter normalen Bedingungen alle an einer Markttransaktion Beteiligten profitieren. Die Bereitschaft, am Markt wechselseitige Vorteile zu suchen, wird den Einzelnen daher in der Regel zu genau jenen individuell nützlichen Verhaltensweisen veranlassen, welche die ökonomische Theorie traditionellerweise beschrieben hat. Unsere Darstellung der Markttugend ist daher keine neue Theorie nicht-egoistischen Verhaltens. Sie ist vielmehr die Beschreibung einer unverwechselbar moralischen Einstellung zu Marktbeziehungen – einer Haltung, die nicht durch Altruismus, sondern durch Reziprozität gekennzeichnet ist.
Universalität Unsere erste Markttugend ist Universalität – die Bereitschaft, wech- 43 selseitig vorteilhafte Transaktionen vorzunehmen, und zwar auf glei57 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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ever those others may be. If the market is to be viewed as an institution that promotes the widest possible network of mutually beneficial transactions, universality has to be seen as a virtue. Its opposites— favoritism, familialism, patronage, protectionism—are all barriers to the extension of the market.
44
It is intrinsic to the virtue of universality that market relations are not based on personal ties of kinship, community, friendship, or gratitude—the kind of ties that Anderson (1993) sees as characteristic of »higher« modes of valuation. As Smith (1776 [1976], p. 27) makes clear in his account of how we get our dinners, it is because the market is based on free horizontal relations between equals that it allows us to satisfy our economic needs with independence and self-respect. This independence can be compromised if economic transactions depend on relations other than mutual benefit. However, this is not to say that market relations must be impersonal in the sense that each party treats the other merely as a means to an end. When trading partners intend their transactions to be mutually beneficial, it is possible for their relations to have the characteristics of friendliness and goodwill that we (Bruni and Sugden 2008) describe as »fraternity.«
45
Friedman (1962, pp. 108–18) identifies another valuable aspect of universality when he argues that market forces tend to counter racial and religious prejudice. His leading example is the case of the Jews of medieval Europe, who (between outbreaks of outright persecution) were able to survive in a hostile social environment by working on their own account and trading with non-Jews. For Friedman, it must be said, universality is a desirable but unintended consequence of the pursuit of self-interest, rather than a virtue in our sense; but nonetheless, the customer who chooses where to shop on the basis of price and quality rather than the shopkeeper’s religion can be thought of as exhibiting a market virtue.
58 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
cher Augenhöhe mit den jeweiligen Tauschpartnern, wer auch immer diese sein mögen. Wenn der Markt als eine Institution gesehen wird, die das größtmögliche Netzwerk wechselseitig vorteilhafter Tauschbeziehungen fördert, dann muss Universalität als Tugend verstanden werden. Das Gegenteil von Universalität – Günstlingswirtschaft, Nepotismus, Klientelismus, Protektionismus – stellt ein Hindernis für die Expansion von Märkten dar. Für die Tugend der Universalität ist wesentlich, dass Markt- 44 beziehungen nicht auf personalen Bindungen wie Blutsverwandtschaft, Gemeinschaftszugehörigkeit, Freundschaft oder Dankbarkeit beruhen – also nicht auf jener Art von Bindungen, die nach Anderson (1993) ein Kennzeichen für »höherstehende« Bewertungsweisen sind. Es ist genau so, wie Smith (1776 [1976]; S. 27) es in aller Deutlichkeit klarstellt, indem er schildert, wie wir an unsere Mahlzeiten gelangen: Gerade weil der Markt auf freien horizontalen Beziehungen zwischen Gleichen beruht, die sich auf Augenhöhe begegnen, wird es uns möglich, unsere wirtschaftlichen Bedürfnisse unter Wahrung unserer Unabhängigkeit und Selbstachtung zu befriedigen. Diese Unabhängigkeit kann in Gefahr geraten, wenn wirtschaftliche Tauschhandlungen an anderen Kriterien als dem der wechselseitigen Vorteilsgewährung ausgerichtet werden. Das heißt freilich nicht, Marktbeziehungen müssten unpersönlich sein in dem Sinne, dass jede Seite die andere bloß als Mittel zum Zweck behandelt. Wenn Tauschpartner ihre Transaktionen ganz bewusst an der Idee wechselseitiger Vorteilsgewährung ausrichten, rücken Merkmale wie Freundschaftlichkeit und Wohlwollen, die wir (Bruni und Sugden, 2008) als »Brüderlichkeit« bezeichnen, für ihre Transaktionsbeziehung in den Bereich des Möglichen. Friedman (1962; S. 108–118) weist auf einen weiteren wert- 45 vollen Aspekt der Universalität hin, wenn er geltend macht, dass Marktkräfte tendenziell rassistischen und religiösen Vorurteilen entgegenwirken. Sein einschlägiges Beispiel sind die Juden im mittelalterlichen Europa, die (zwischen Ausbrüchen offener Verfolgung) in einer feindlich gesinnten gesellschaftlichen Umwelt überleben konnten, indem sie als Selbständige arbeiteten und mit Nichtjuden Handel trieben. Wir weisen darauf hin, dass Universalität für Friedman eine wünschenswerte, aber unbeabsichtigte Konsequenz der Verfolgung eigener Interessen darstellt – und folglich keine Tugend in unserem Sinne. Aber ein Kunde, der seine Kaufentscheidung gezielt auf der Grundlage von Preis sowie Qualität trifft und nicht nach der 59 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Enterprise and Alertness 46 If the telos of the market is mutual benefit, enterprise in seeking out
mutual benefit must be a virtue. Discovering and anticipating what other people want and are willing to pay for is a crucial component of entrepreneurship. (Think of Freddie Laker’s pioneering of no-frills aviation, Steve Jobs’s development of graphical user interfaces, or Art Fry’s discovery of the commercial potential of the Post-it.) Successful entrepreneurship requires empathy and imagination, as Jevons (1871 [1970], pp. 102–3) recognized in one of the founding texts of neoclassical economics: »Every manufacturer knows and feels how closely he must anticipate the tastes and needs of his customers: his whole success depends on it.« 47 The virtue of alertness to mutual benefit applies to both sides of the market: for mutual benefit to be created, the alertness of a seller has to engage with the alertness of a buyer. Thus, the inclination to shop around, to compare prices, and to experiment with new products and new suppliers must be a virtue for consumers. Arguing that the law of one price has more application to wholesale than to retail markets, Mill (1848 [1909], p. 441) wrote: »Either from indolence, or carelessness, or because people think it fine to pay and ask no questions, three-fourths of those who can afford it give much higher prices than necessary for the things they consume.« Notice how Mill’s empirical claim that well-off consumers are not inclined to search for the lowest prices is linked with moral criticism.
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
Religion des Ladenbesitzers fragt, kann durchaus als jemand eingestuft werden, der Markttugend an den Tag legt.
Unternehmergeist und Wachsamkeit Wenn das telos des Marktes in wechselseitiger Vorteilsgewährung 46 besteht, muss der unternehmerische Geist, solche wechselseitigen Vorteile aufspüren zu wollen, eine Tugend sein. Ein entscheidendes Element des Unternehmergeistes besteht darin, zu entdecken und vorauszuahnen, was andere Menschen sich wünschen und was sie dafür zu zahlen bereit sind. (Hinsichtlich unternehmerischer Pioniertaten denke man etwa an Freddie Lakers Billigflüge, an Steve Jobs’ Entwicklung graphischer Benutzeroberflächen oder an Art Frys Entdeckung der kommerziellen Verwertbarkeit des Post-it-Klebstoffes.) Ein erfolgreicher Unternehmergeist setzt Empathie und Vorstellungskraft voraus, wie Jevons (1871 [1970]; S. 102–103) es in einem der Gründungstexte der neoklassischen Ökonomik beschreibt: »Jeder Handwerker weiß und spürt, wie genau er den Geschmack und die Bedürfnisse seiner Kunden vorausahnen muss: sein gesamter Erfolg hängt davon ab.« Die Tugend der Wachsamkeit bezüglich wechselseitiger Besser- 47 stellung gilt für beide Marktseiten: Um ein Potential gegenseitiger Vorteilsgewährung zu (er-)finden, müssen sich Anbieter und Abnehmer umsichtig aufeinander einlassen und zusammenwirken. Insofern ist die Vorliebe, von Laden zu Laden zu bummeln, Preise zu vergleichen und mit neuen Produkten und neuen Anbietern zu experimentieren, für Verbraucher als Tugend einzustufen. Mill (1848 [1909]; S. 441) meinte, das Gesetz der Einheitspreise [von Jevons, d. Ü.] sei eher auf den Großhandel als auf den Einzelhandel anwendbar und merkte an: »Entweder aus Trägheit oder aus Nachlässigkeit oder weil die Leute glauben, es sei in Ordnung, wenn man zahlt und keine Fragen stellt, akzeptieren drei Viertel derjenigen, die es sich leisten können, für ihre Konsumgüter viel höhere Preise als nötig.« Man beachte, wie die empirische Aussage, wohlhabende Konsumenten tendierten dazu, nicht stets den niedrigsten Preis ausfindig zu machen, von Mill mit einem moralischen Tadel verknüpft wird.
61 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Respect for the Tastes of One’s Trading Partners 48
One is more likely to succeed in making mutually beneficial transactions if one is disposed to respect the preferences of potential trading partners. The spirit of this virtue is encapsulated in the business maxim that the customer is always right. This virtue is closely related to the idea that market transactions are made on terms of equality, and opposed to the paternalistic idea that the relationship of supplier to customer is that of guardian to ward. It is also opposed to the idea of virtues based on intrinsic motivation, or on professional and craft standards. It is perhaps true (as MacIntyre 1984 and Anderson 1993 claim) that when professionals and craft workers sell their services, they are liable to compromise the standards of excellence that are internal to their respective practices, but that does not invalidate the proposition that producing what customers do want to buy is an aspect of a practice—the practice of the market—with its own standards of excellence and its own forms of authenticity. From this perspective, it is unsurprising that Smith (1776 [1976], pp. 758–64) favored the payment of university teachers by their students on a fee-for-service basis—a practice that gives the relationship between professional and client essentially the same status as that between shopkeeper and customer.
49
In speaking of respect for the preferences of trading partners, we mean something more than the recognition that satisfying those preferences is a source of profit. Consider a famous case in which this virtue is lacking. Gerald Ratner, the chief executive of a (then) successful low-price British jewelery business, made a speech in 1991 to the Institute of Directors in which he referred to his firm’s products with the joke: »People say, ›How can you sell this for such a low price?‹ I say, ›because it’s total crap.‹« When this was reported in the press, the business lost £ 500 million in market value and eventually had to be relaunched with a new name—and Ratner lost his job (Ratner 2007). Notice that Ratner was not saying, as suppliers of lowerpriced products often and quite properly do, that what he was selling 62 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Respekt für die Vorlieben der Tauschpartner Die Erfolgswahrscheinlichkeit, wechselseitig vorteilhafte Transaktio- 48 nen durchführen zu können, ist wesentlich größer, wenn man gewillt ist, die Präferenzen potenzieller Tauschpartner zu respektieren. Der Kern dieser Tugend verbirgt sich im Leitspruch des Geschäftslebens, dass der Kunde immer recht hat. Diese Tugend ist eng mit der Vorstellung verbunden, dass Markttransaktionen unter Bedingungen der Gleichheit ablaufen, und sie steht im Gegensatz zum paternalistischen Gedanken, die Beziehung zwischen Anbieter und Kunde gleiche der zwischen Vormund und Mündel. Ferner steht sie im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Tugenden notwendig auf intrinsischer Motivation beruhen oder auf handwerklichen bzw. allgemein fachlichen Exzellenzstandards. Es ist möglicherweise richtig (wie MacIntyre 1984 und Anderson 1993 behaupten), dass Handwerker oder allgemein Fachleute beim Verkauf ihrer Dienste dazu neigen, Zugeständnisse hinsichtlich der ihrer internen Praxis zugrunde liegenden Exzellenzstandards zu machen; aber das entkräftet keineswegs die These, dass die Ausrichtung der Produktion an dem, was Konsumenten tatsächlich zu kaufen wünschen, ebenfalls einer Praxis zugehörig ist, nämlich der Praxis des Marktes – mit ihren je eigenen Exzellenzstandards und Formen von Authentizität. So gesehen ist es nicht überraschend, wenn Smith (1776 [1976]; S. 758–764) empfahl, die Entlohnung von Universitätslehrern solle durch ihre Studenten erfolgen, und zwar auf der Basis von Vorlesungsgebühren – eine Praxis, die der Beziehung zwischen einem Experten und seinen Dienstleistungsnehmern denselben Status verleiht wie der Beziehung zwischen einem Ladenbesitzer und seinen Kunden. Wenn wir von der Respektierung der Präferenzen unserer 49 Tauschpartner sprechen, meinen wir damit mehr als das Wissen darum, dass die Befriedigung dieser Präferenzen eine Gewinnquelle darstellt. Betrachten wir einen berühmten Fall, in dem diese Tugend fehlte. Gerald Ratner, der Geschäftsführer einer (damals) erfolgreichen britischen Niedrigpreis-Juwelierkette, hielt 1991 eine Rede vor Geschäftsleuten, in der er auf die Produkte seiner Firma mit einem Scherz zu sprechen kam: »Die Leute sagen: ›Wie können Sie das für einen so niedrigen Preis verkaufen?‹ Ich sage: ›Weil es totaler Schrott ist!‹« Als das in die Presse gelangte, verlor das Unternehmen 500 Millionen Pfund an Marktwert und musste schließlich unter einem neuen Namen gestartet werden – und Ratner verlor seinen Job (Rat63 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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was cheap and cheerful and aimed at those consumers for whom value for money was a priority. But nor, as we understand this story, was he confessing to taking advantage of some lack of information on the part of his customers, and so failing to return their trust: the objective properties of his products were transparent enough. He was expressing contempt for the tastes to which his business catered, and thereby for the idea that the relationship between supplier and customer is one of mutual benefit.
Trust and Trustworthiness 50 Because the monitoring and enforcement of contracts is often difficult
or costly, dispositions of trust and trustworthiness (qualified by due caution against being exploited by the untrustworthy) facilitate the achievement of mutual benefit in markets. If that is right, these dispositions must be market virtues. 51
The idea that markets rely on trust and trustworthiness has a long history in economics. Smith (1763 [1978], pp. 538–39) recognizes the importance of »probity« for the workings of markets and describes this trait as a »virtue.« Significantly, Smith sees this virtue as consistent with long-term self-interest. He claims that it is most prevalent in the most commercial societies, and explains this observation by arguing that a reputation for probity is more valuable, the more one engages in trade. The idea that commercial transactions typically depend on an element of trust has continued to be recognized by leading economists, including Marshall (1920, p. 6) and Arrow (1972). Following the work of Akerlof (1982), trust relationships have featured in many economic models.
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ner 2007). Man beachte, dass Ratner nicht gesagt hat (wie es Anbieter von Niedrigpreis-Produkten oft und in durchaus angemessener Weise tun), sein Modeschmuck sei gut und günstig und speziell für solche Kunden bestimmt, die ihr Geld zusammenhalten müssen. So, wie wir diesen Fall interpretieren, hat er aber andererseits auch nicht gesagt, er bekenne sich dazu, seine Kunden zu übervorteilen und etwa ein Informationsdefizit auszunutzen, was ja bedeuten würde, das Vertrauen der Kunden zu missbrauchen; die objektiven Produkteigenschaften seines Modeschmucks waren für alle offenkundig. Was er sagte, ließ vielmehr eine Missachtung des Kundengeschmacks erkennen, auf den sein Geschäftsmodell ausgerichtet war, und damit auch eine Missachtung des Gedankens, dass das Beziehungsverhältnis zwischen Anbieter und Nachfrager auf eine wechselseitige Vorteilsgewährung angelegt ist.
Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit Die Überwachung und Durchsetzung von Verträgen ist oft schwierig 50 oder teuer. Insofern leistet die Neigung, anderen (unter gebührender Vorsicht vor Ausbeutung) mit Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zu begegnen, einen Beitrag dazu, in Märkten wechselseitige Besserstellung zu erreichen. Wenn man das anerkennt, müssen die Dispositionen des Vertrauens und der Vertrauenswürdigkeit Markttugenden sein. Die Einsicht, dass Märkte auf Vertrauen und Vertrauenswürdig- 51 keit beruhen, reicht tief in die Geschichte der Ökonomik zurück. Bereits Smith (1763 [1978]; S. 538–539) erkennt die Bedeutung der »Redlichkeit« für die Funktionsweise von Märkten und nennt diesen Charakterzug eine »Tugend«. Bezeichnenderweise sieht Smith diese Tugend im Einklang mit dem langfristigen Eigeninteresse. Er macht geltend, dass sie am stärksten in jenen Ländern vorherrscht, wo sich die Gesellschaft am stärksten zur Marktgesellschaft entwickelt hat, und erklärt diese Beobachtung dadurch, dass der Ruf, redlich zu sein, umso wertvoller ist, je mehr man in Tauschakte involviert ist. Der Gedanke, dass wirtschaftliche Transaktionen normalerweise von einem Moment des Vertrauens abhängen, ist seitdem von führenden Ökonomen immer wieder anerkannt worden, unter anderem von Marshall (1920; S. 6) und von Arrow (1972). Im Anschluss an Arbeiten von Akerlof (1982) haben Vertrauensbeziehungen in viele ökonomische Modelle Eingang gefunden. 65 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics 52
A recent public discussion about the role of trustworthiness in business was initiated by an open resignation letter written by a senior executive in Goldman Sachs and published in the New York Times. The executive, Greg Smith (2012, p. A27), wrote that the »culture« of Goldman Sachs had changed in a way that he could no longer identify with. At one time, »always doing right by our clients« had been at the heart of this culture, but now »I attend derivatives sales meetings where not one single minute is spent asking questions about how we can help clients. It’s purely about how we can make the most possible money off of them.« Like Adam Smith, and in the spirit of virtue ethics, Greg Smith argued that the virtue (or »culture«) of trust was not opposed to long-term self-interest: »It astounds me how little senior management gets a basic truth: If clients don’t trust you they will eventually stop doing business with you.«
Acceptance of Competition 53
If the telos of the market is mutual benefit, a virtuous trader will not obstruct other parties from pursuing mutual benefit in transactions with one another, even if that trader would prefer to transact with one or another of them instead. The spirit of this virtue is expressed in the »Thank you and goodbye« messages of some airlines, in which, before expressing the hope that its own services will be used again, the airline acknowledges that customers have a choice of carriers. The suggestion is that the airline is confident that its offer is better than those of its competitors and welcomes being put to the test of comparison.
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A virtuous trader will not be motivated to seek to be protected by barriers to entry, or to ask potential trading partners to trade for reasons other than price and quality. Nor will a virtuous trader be in66 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
In jüngster Zeit hat das Rücktrittsschreiben einer Führungskraft 52 von Goldman & Sachs, das in der New York Times veröffentlicht wurde, eine öffentliche Diskussion über die Rolle der Vertrauenswürdigkeit im Geschäftsleben angestoßen. Der Manager Greg Smith (2012; S. A27) schrieb, die »Kultur« von Goldman & Sachs habe sich auf eine Art und Weise verändert, dass er sich nicht länger mit ihr identifizieren könne. Einstmals hätte die Maxime im Mittelpunkt gestanden, »sich den Kunden gegenüber stets anständig zu verhalten«; aber jetzt, so schrieb er, »nehme ich an Vertriebstagungen für Derivate teil, wo nicht eine einzige Minute für Fragen verbleibt, wie wir den Klienten helfen können. Es geht nur darum, wie wir es schaffen, aus ihnen so viel Geld wie möglich herauszuholen.« Wie schon Adam Smith, und ganz in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Tugendethik, vertrat Greg Smith den Standpunkt, dass die Tugend (oder die »Kultur«) des Vertrauens keineswegs dem langfristigen Eigeninteresse widerspricht: »Es erstaunt mich, wie wenig die Geschäftsführung eine grundlegende Wahrheit versteht: Wenn einem die Kunden nicht mehr vertrauen, werden sie schließlich die Geschäftsbeziehung beenden und aufhören, Kunden zu sein.«
Akzeptanz des Wettbewerbs Wenn das telos des Marktes in der wechselseitigen Vorteilsgewäh- 53 rung liegt, wird ein tugendhafter Marktteilnehmer andere Akteure nicht daran hindern, dass sie sich gegenseitig nützlich sind, indem sie miteinander tauschen – auch wenn dieser Marktteilnehmer es lieber sähe, mit dem einen oder anderen dieser Akteure selbst in eine Tauschbeziehung zu treten. Der Kern dieser Tugend kommt in den »Wir danken Ihnen und Auf Wiedersehen«-Botschaften zum Ausdruck, mit denen manche Fluglinien ihre Gäste verabschieden; noch bevor die Fluglinie die Hoffnung äußert, man möge ihre Dienste wieder in Anspruch nehmen, erkennt sie an, dass Kunden eine Auswahl zwischen verschiedenen Fluggesellschaften treffen können. Damit verbindet sich das Signal, dass die Fluglinie darauf vertraut, ihr Angebot sei besser als das ihrer Wettbewerber, und dass sie nichts dagegen hat, einem Vergleichstest unterzogen zu werden. Ein rechtschaffener Marktteilnehmer wird nicht die Intention 54 verfolgen, sich durch Markteintrittsbarrieren vor dem Wettbewerb schützen zu lassen; ebenso wenig wird er potenzielle Tauschpartner 67 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Reclaiming Virtue Ethics for Economics
clined to make agreements with other traders on the same side of the market to restrict supply or demand, or to partition the market and then not compete. It might be objected that such cartel agreements are mutually beneficial transactions for the firms that are parties to them. But they are not the transactions in goods and services that constitute the market, and with respect to which mutual benefit is understood by those economists who see mutual benefit as the telos of the market. If obstructing other parties’ transactions is nonvirtuous, so too is participation in cartels.
55
This market virtue seems inescapable, given our approach, but there is no denying that traders often find it hard to live by. For example, Adam Smith famously claimed: »People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or some contrivance to raise prices« (1776 [1976], p. 45). Nevertheless, it is obvious from the tone of these and similar remarks—for example about »the wretched spirit of monopoly« (p. 461)—that Smith does not approve of this trait. The idea that cartel agreements are unethical—unworthy of a virtuous trader—is a recurring theme in the writings of pro-market economists. Even Friedman (1962, pp. 131–32), who argues that market power is not a serious problem unless it is positively supported by governments, approves the common law doctrine that combinations in restraint of trade are unenforceable in the courts. 56 This is a convenient place to ask whether being concerned about externalities resulting from one’s activities should be included among the market virtues. One way of posing this question is to ask whether the telos of the market is mutual benefit among the parties to market transactions (considered severally), or mutual benefit among everyone in a society. We suggest the former. On this view, the existence of
68 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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angehen, eine Geschäftsbeziehung mit ihm aufzunehmen, und hierfür andere Gründe ins Feld führen als allein die Argumente des Preises und der Qualität. Ferner wird ein rechtschaffener Marktteilnehmer keinen Hang verspüren, Vereinbarungen mit anderen Akteuren auf der gleichen Marktseite zu treffen, um das Angebot oder die Nachfrage zu begrenzen oder um den Markt aufzuteilen, in der Absicht, nicht länger im Wettbewerb zu stehen. Nun könnte man einwenden, dass derartige Kartellvereinbarungen durchaus wechselseitig nützlich sind, zumindest für diejenigen Akteure, die am Kartell teilnehmen. Aber die Transaktionen innerhalb eines Kartells sind ganz andere Transaktionen als jene Tauschakte von Gütern und Dienstleistungen, die einen Markt ausmachen und auf die sich Ökonomen beziehen, wenn sie eine wechselseitige Vorteilsgewährung als das telos des Marktes ausweisen. Wenn es moralisch unstatthaft ist, die Transaktionen anderer Parteien zu behindern, dann ist es auch moralisch unstatthaft, an Kartellvereinbarungen teilzunehmen. Wenn man von unserem Denkansatz ausgeht, ist der Schluss 55 unausweichlich, dass es sich hier um eine Markttugend handelt – auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass es Kaufleuten oft schwerfällt, sie im Geschäftsleben tatsächlich zu beherzigen. Ein berühmt gewordenes Beispiel hierfür schildert Adam Smith: »Wenn Wirtschaftsakteure aus derselben Branche zusammentreffen, und sei es auch nur zu geselligen Anlässen oder zum Zeitvertreib, dann endet ihr Treffen nur in den seltensten Fällen ohne eine Verschwörung gegen die Allgemeinheit oder ohne einen Plan auszuhecken, die Preise zu erhöhen« (1776 [1976]; S. 45). Gleichwohl geht aus dem Ton dieser und ähnlicher Bemerkungen eindeutig hervor – man denke etwa an die Formulierung vom »erbärmlichen Geist des Monopols« (S. 461) –, dass Smith diesen Charakterzug nicht billigte. Die Auffassung, Kartellvereinbarungen seien unmoralisch und sogar eines anständigen Kaufmanns unwürdig, ist ein häufig wiederkehrendes Thema in den Schriften von Ökonomen, die den Markt befürworten. Sogar Friedman (1962; S. 131–132), der argumentiert, dass Marktmacht kein ernsthaftes Problem darstellt, solange sie nicht durch die Regierung aktiv gefördert wird, befürwortet den Common-LawGrundsatz, dass Unternehmenszusammenschlüsse, die den Wettbewerb beschränken wollen, vor Gericht keinen Bestand haben. An dieser Stelle ist die Frage angebracht, ob man zu den Markt- 56 tugenden auch die Sorge um »Externalitäten« zählen sollte, also um jene Wirkungen auf unbeteiligte Dritte, welche aus den eigenen 69 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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externalities can be a reason for governments to regulate markets, but self-regulation is not part of the internal practice of the market. 5
Self-Help 57
Within the practice of a market that is structured by mutual benefit, each individual’s wants and aspirations are relevant to others only in so far as they can be satisfied in mutually beneficial transactions. Thus, it is a market virtue to accept without complaint that others will be motivated to satisfy your wants, or to provide you with opportunities for self-realization, only if you offer something that they are willing to accept in return. Smith (1776 [1976], p. 45) appeals to the virtue of self-help or independence when, in relation to how we get our dinners, he writes: »Nobody but a beggar chuses to depend chiefly upon the benevolence of his fellow-citizens.« (The phrase »chuses to« is important here. Smith is not denigrating dependence on others by people who have no other means of subsistence.)
To this extent, we agree with Friedman (1962, pp. 133–136) that »social responsibility« is not a proper role of business. However, Friedman argues that the only responsibility of business is »to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition, without deception or fraud.« Our idea that market virtue involves intentions for mutual benefit is broader than this claim.
5
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Marktaktivitäten resultieren. Allerdings kommt es darauf an, wie man diese Frage stellt: Liegt das telos des Marktes in einer wechselseitigen Vorteilsgewährung der an Markttransaktionen beteiligten Vertragsparteien (die man je für sich betrachtet), oder liegt es im gegenseitigen Nutzen aller Gesellschaftsmitglieder? Wir plädieren für das erstere. So gesehen mag die Existenz von Externalitäten zwar einen Grund dafür liefern, dass der Staat den Markt reguliert; aber es gehört nicht zur internen Praxis des Marktes, sich selbst zu regulieren. 5
Selbsthilfe Innerhalb der Praxis eines Marktes, der nach dem Grundsatz gegen- 57 seitiger Besserstellung aufgebaut ist, sind die Wünsche und Hoffnungen eines Individuums für andere Marktakteure nur in dem Maße relevant, in dem sie durch wechselseitig vorteilhafte Transaktionen erfüllt werden können. Daher ist es eine Markttugend, klaglos zu akzeptieren, dass andere nur unter der Bedingung bereit sein werden, meine Bedürfnisse zu befriedigen oder mir Gelegenheiten zur Selbstverwirklichung zu verschaffen, wie ich ihnen etwas zu bieten habe, das die anderen als Gegenleistung zu akzeptieren bereit sind. Smith (1776 [1976]; S. 45) appelliert an diese Tugend der Selbsthilfe bzw. Unabhängigkeit, wenn er mit Bezug auf die Frage, wie man sein Abendessen erhält, schreibt: »Niemand außer einem Bettler entscheidet sich dafür, hauptsächlich vom Wohlwollen seiner Mitbürger abhängig zu sein.« (Der Ausdruck »entscheidet sich dafür« ist hier wichtig. Smith verunglimpft nicht die Abhängigkeit von anderen, wenn sie Menschen betrifft, denen es an der Möglichkeit mangelt, ihren Unterhalt selbst bestreiten zu können.)
Insoweit stimmen wir mit Friedman (1962; S. 133–136) darin überein, dass »Gesellschaftliche Verantwortung« sinnvollerweise nicht zu den Aufgaben eines Unternehmens gehört. Allerdings stellt Friedman die These auf, die einzige Verantwortung eines Unternehmens bestehe darin, »seinen Ressourceneinsatz und seine Aktivitäten auf das Ziel auszurichten, den eigenen Gewinn so weit zu erhöhen, wie es die Spielregeln zulassen – oder mit anderen Worten, solange es am offenen und freien Wettbewerb ohne Täuschung und Betrug teilnimmt.« Unsere Vorstellung, dass die Markttugend eine wechselseitige Vorteilsgewährung intendiert, geht über diese enge Auffassung hinaus.
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A person who upholds the virtue of self-help will avoid asking others to reward her for producing goods that those others do not value. Thus, for example, an artist will not treat the intrinsic value of her work, as judged within the practice of art, as a reason to be paid by people (whether as consumers or as taxpayers) who do not recognize that work as beneficial to them. Nor will she treat the self-realization that she achieves through that work as a reason to be paid. In this respect, the market virtue of self-help conflicts with the positions taken by Anderson (1993) and Sandel (2009). From the perspective of market virtue, the commodification of a practice is nothing more than its orientation towards mutual benefit. Expecting others to pay for one’s preferred form of self-realization is a kind of civil (as distinct from clinical) narcissism. One might add a person who thinks of her interactions with others in terms of self-realization is treating those others as means to her own ends rather than as partners in a cooperative relationship.
59
Self-help is also opposed to self-sacrifice, and so to the conception of virtue and intrinsic motivation that underlies the idea of »getting more by paying less.« A relationship in which one party incurs a loss so that another person can gain is not a mutually beneficial transaction between equals, and so does not express market virtue on either side. The motivational asymmetry of such a relationship— which might be revealed in the giver’s expectation of gratitude or status recognition, or in either party’s assumption that the recipient’s desires or interests take precedence over the giver’s—contrasts with the symmetry of a normal market transaction. The »trade not aid« slogan of the fair trade movement is an expression of the market virtue of self-help.
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Seeing self-help as a virtue makes it easier to understand how people can find satisfaction in work that they would not choose to do 72 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Wer die Tugend der Selbsthilfe hochhält, wird es vermeiden, von 58 seinen Mitmenschen eine Belohnung für die Produktion solcher Güter einzufordern, für die sie keine Wertschätzung empfinden. Demzufolge würde beispielsweise ein Künstler den intrinsischen Wert seines Werkes, wie er gemäß der Praxis der jeweiligen Kunst beurteilt wird, nicht als Begründung dafür ansehen, von seinen Mitbürgern (seien sie nun Konsumenten oder Steuerzahler) entlohnt zu werden, sofern diese sein Werk nicht als jeweils für sie selbst nutzbringend und mithin wertvoll einschätzen. Auch würde ein Künstler die Selbstverwirklichung, die er durch dieses Werk weiter zu vollenden sucht, nicht als Grund für seine Bezahlung anführen. In dieser Hinsicht kollidiert die Tugend der Selbsthilfe mit Positionen, wie sie Anderson (1993) und Sandel (2009) einnehmen. Aus Sicht der Markttugend ist der Prozess der Kommerzialisierung einer Praxis nichts anderes als ihre Ausrichtung auf eine wechselseitige Vorteilsgewährung. Von anderen zu erwarten, dass sie für die von mir bevorzugte Form der Selbstverwirklichung bezahlen, ist eine Art von bürgerlichem Narzissmus (also zu unterscheiden von einem klinischen Narzissmus). Man könnte hinzufügen: Eine Person, die ihre Interaktionen mit anderen im Sinne der eigenen Selbstverwirklichung interpretiert, behandelt diese anderen Personen eher als Mittel zum Zweck – und gerade nicht als Kooperationspartner in einer wechselseitig vorteilhaften Beziehung. Selbsthilfe steht auch im Gegensatz zur Selbstaufopferung sowie 59 zu den Begriffen von Tugend und intrinsischer Motivation, wie sie der Idee »Mehr bekommen durch weniger zahlen« zugrunde liegen. Eine Transaktion, in der der eine verliert, was der andere gewinnt, ist kein wechselseitig vorteilhaftes Geschäft zwischen Gleichen, und daher ist eine solche Transaktion auch kein Ausdruck von Markttugend, und zwar weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Die motivationale Asymmetrie einer derartigen Transaktion – die sich darin zeigen mag, dass der Geber Dankbarkeit oder Statusanerkennung erwartet, oder darin, dass vielleicht die eine oder andere Seite davon ausgeht, die Wünsche oder Interessen des Vorteils-Empfängers hätten normativ Vorrang gegenüber denen des Vorteils-Gebers – steht im Gegensatz zur Symmetrie eines regulären Markttausches. Demgegenüber drückt der Slogan der Fair-trade-Bewegung »Handel statt Hilfe« einprägsam die Markttugend der Selbsthilfe aus. Wenn man Selbsthilfe als Markttugend betrachtet, kann man 60 besser verstehen, wie Menschen in einer Arbeit Zufriedenheit finden 73 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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if they were not paid for it. Large parts of most people’s working lives are not »fun« or »challenging« in the sense of self-determination theory. Nor are they most naturally understood as the pursuit of artistic, professional, or craft excellence, or as self-sacrificing caring. They are simply activities by which one earns a living by being useful to other people in ways that they are willing to pay for. But that surely does not mean that these activities lack authenticity or virtue.
Non-Rivalry 61 If opportunities for mutual benefit are to be realized, individuals must
perceive the market as a domain in which such opportunities exist. Thus, it must be a market virtue to see others as potential partners in mutually beneficial transactions rather than as rivals in a competition for shares of a fixed stock of wealth or status. A disposition to be grudging or envious of other people’s gains is a handicap to the discovery and carrying through of mutually beneficial transactions. The corresponding virtue is that of being able to take pleasure in other people’s gains—particularly those that have been created in transactions from which you have gained too.
62
As viewed in the liberal tradition of economics, the market is not the archetypal locus of positional competition, with success measured by relative wealth. Indeed, positional competition may be more typical of professions that have maintained some insulation from the market and have developed nonmarket institutions for ranking excellence, such as literary, artistic, and scientific honors and prizes. Perhaps one of the reasons why academic writers (including some economists) often find it difficult to understand how markets can be structured by mutual benefit is that competition in the intellectual community is so positional.
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können, die sie sich nicht ausgesucht hätten, wenn sie für sie nicht bezahlt würden. Große Teile des Arbeitslebens der meisten Menschen sind nicht »amüsant« oder »reizvoll« im Sinne der Selbstbestimmungstheorie. Für gewöhnlich geht es im Arbeitsleben auch nicht einfach um ein Streben nach künstlerischer, fachmännischer oder handwerklicher Exzellenz oder um eine selbstaufopfernde Pflege. Es handelt sich vielmehr um Tätigkeiten, mit denen man schlicht und einfach seinen Lebensunterhalt verdient, und zwar dadurch, dass man anderen Menschen so nützlich ist, dass sie dafür eine Zahlungsbereitschaft aufbringen. Aber das bedeutet ganz sicher nicht, dass es solchen Tätigkeiten an Authentizität oder an Tugend mangelt.
Nicht-Rivalität Wenn die Möglichkeiten für eine wechselseitige Vorteilsgewährung 61 genutzt werden sollen, müssen Menschen den Markt als einen Lebensbereich wahrnehmen, in dem es solche Möglichkeiten gibt. Folglich muss es eine Markttugend sein, in den Mitmenschen potenzielle Partner für wechselseitig vorteilhafte Tauschprozesse zu sehen, statt sie als Rivalen in einem wettbewerblichen Nullsummen-Spiel um Wohlstand oder Status aufzufassen. Eine Neigung zu Neid oder Missgunst angesichts der Tauschgewinne anderer Menschen ist ein Handicap für die Entdeckung und die Durchführung gegenseitig nützlicher Transaktionen. Die entsprechende Tugend ist die Fähigkeit, sich an den Tauschgewinnen anderer Menschen zu erfreuen – vor allem an solchen Gewinnen, die durch Tauschprozesse zustande kamen, von denen man selbst auch etwas hatte. Die liberale Tradition der Ökonomik betrachtet den Markt nicht 62 als den typischen Ort für den Wettbewerb um Positionsgüter, bei denen Erfolg durch relativen Wohlstand gemessen wird. Ein positioneller Wettbewerb ist tatsächlich wohl eher ein Kennzeichen für Berufszweige, die eine gewisse Isolierung vom Markt aufrechterhalten und spezifisch nicht-marktliche Verfahren zur Leistungsbewertung entwickelt haben wie etwa literarische, künstlerische oder wissenschaftliche Ehrungen und Preise. Vielleicht ist einer der Gründe, warum Schriftsteller (einschließlich einiger Ökonomen) es oft nur schwer nachvollziehen können, wie Märkte auf wechselseitige Vorteilsgewährung angelegt sind, in dem Umstand begründet, dass der Wett-
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From the earliest days of economics, prominent economists have argued against positional understandings of market competition, and have presented nonpositional attitudes as virtuous. For example, Hume (1760 [1985], pp. 327–28) argues against the »narrow and malignant opinion« that the relationship between commercial economies is that of zero-sum rivalry: »[T]he encrease of riches and commerce in any one nation, instead of hurting, commonly promotes the riches and commerce of all its neighbours.« 6 Writing almost a century later, Mill (1848 [1909], pp. 581–82) expresses the same sentiment: »[C]ommerce first taught nations to see with good will the wealth and prosperity of one another. Before, the patriot […] wished all countries weak, poor, and ill-governed, but his own: now he sees in their wealth and progress a direct source of wealth and progress to his own country.«
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What about rivalry between firms, and in particular the case in which the successful entry of one firm into an industry squeezes out another? Even in these cases, the motivation of the entrant need not be positional. Indeed, even a self-interested entrant would have no reason to want to displace an incumbent firm, except as a means of making profit; and that profit can be earned only through mutually beneficial transactions with customers. A virtuous entrant, one might say, intends that the transactions he offers to make are mutually beneficial for the parties that will be involved in them; the entrant does not intend or take satisfaction in the failure of competitors, even if that external effect is a predictable consequence of successful entry.
That international trade promotes peace by making nations dependent on one another was argued even earlier, by Montesquieu (1748 [1914], Book 20, Section 2). However, Hume is more explicit in arguing that trade gives each country an interest in the prosperity of its trading partners.
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bewerb in der Intellektuellengemeinschaft von ausgeprägt positioneller Art ist. In der Geschichte der Ökonomik haben prominente Ökonomen 63 von Beginn an gegen eine positionelle Auffassung des Marktwettbewerbs argumentiert und dementsprechend nicht-positionelle Haltungen als tugendhaft dargestellt. Hume beispielsweise (1760 [1985]; S. 327–328) argumentiert gegen die »engstirnige und bösartige Meinung«, die Beziehung zwischen privatwirtschaftlich organisierten Gesellschaften sei eine Nullsummen-Rivalität: »Die Zunahme von Wohlstand und Handel in einem Land ist nicht schädlich, sondern in der Regel förderlich für den Wohlstand und Handel aller seiner Nachbarn.« 6 Fast ein Jahrhundert später drückt Mill (1848 [1909]; S. 581– 582) dieselbe Einschätzung aus, wenn er schreibt: »[H]andelsbeziehungen lehrten die Nationen als Erste, den Wohlstand und das Gedeihen anderer Nationen mit Wohlwollen zu betrachten. Zuvor […] wünschte sich ein Patriot alle Länder schwach, arm und schlecht regiert, außer natürlich seinem eigenen; jetzt sieht er in ihrem Wohlstand und Fortschritt eine direkte Quelle von Wohlstand und Fortschritt für sein eigenes Land.« Wie steht es mit der Rivalität zwischen Unternehmen und vor 64 allem mit einer Situation, in der der erfolgreiche Markteintritt eines Unternehmens ein anderes Unternehmen dieser Branche massiv unter Druck setzt? Selbst in diesen Fällen muss die Motivation für den Markteintritt nicht positioneller Natur sein. Tatsächlich hätte selbst ein rein eigeninteressierter Marktneuling keinen Grund, eine etablierte Firma verdrängen zu wollen, außer als ein Mittel, um Gewinne zu machen; und solche Gewinne können nun einmal nur dadurch entstehen, dass man mit den Kunden wechselseitig vorteilhafte Transaktionen durchführt. Ein tugendhaft in den Markt eintretendes Unternehmen, so könnte man sagen, handelt in der Absicht, dass die von ihm angebotenen Transaktionen wechselseitige Vorteile entstehen lassen für die Parteien, die in sie involviert sind; hingegen ist es keineswegs so, dass ein solches Unternehmen das Scheitern von Wettbewerbern beabsichtigt oder gar eine Genugtuung dabei empfin-
Dass internationale Handelsbeziehungen den Frieden fördern, indem sie Nationen voneinander abhängig machen, wurde sogar noch früher vermerkt, nämlich von Montesquieu (1748 [1914]; Buch 20, Abschnitt 2). Dennoch ist Hume noch klarer, wenn er argumentiert, dass der Handel in jedem Land ein Interesse an der Prosperität seiner Handelspartner entstehen lässt.
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Stoicism about Reward 65 In a market structured by mutual benefit, each individual benefits
according to the value that other people place on their transactions with that individual. In terms of any defensible concept of what people deserve, this form of economic organization cannot consistently reward people according to their deserts. Desert is a backward-looking concept: what people deserve can depend on how they behaved in the past. But mutual benefit, in the sense that markets can be said to facilitate its achievement, is defined in terms of people’s circumstances and beliefs at the time at which they trade. Because economic circumstances can change unpredictably, efforts that were made with reasonable expectations of return may turn out not to be rewarded by the market. Conversely, being in a position to gain from mutually beneficial transactions with others at a particular time and place can involve luck as well as foresight. Sandel’s (2009) example of being able to benefit from possessing the human and physical capital of a hotelier or builder in the aftermath of a hurricane is just an extreme case of this general feature of market reward. If Sandel’s interpretation of the pay of senior corporate executives in the pre-2008 period is that that those executives were benefiting from the good luck of being able to exercise their trade in a bull market, that example illustrates the same point.
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To recognize this feature of markets is not to oppose all redistributive policies. Indeed, one might argue that a market economy is politically sustainable only if everyone can expect to benefit in the long run from the wealth that markets create, and that might require some collective commitment to redistribution. But if the market is to 78 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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det, selbst wenn dieser externe Effekt eine voraussehbare Konsequenz seines erfolgreichen Markteintritts sein sollte.
Stoischer Gleichmut bei der Entlohnung In einem auf wechselseitige Vorteilsgewährung angelegten Markt 65 profitiert jedes Individuum je nach dem Wert, den andere Menschen den Austausch-Transaktionen mit diesem Individuum beilegen. Im Sinne eines vertretbaren Begriffs von dem, was Menschen ›verdienen‹, kann diese Form wirtschaftlicher Ordnung die Menschen nicht durchgehend nach ihren ›Verdiensten‹ belohnen. ›Verdienst‹ ist ein vergangenheitsorientierter Begriff; was Menschen verdienen, kann stark davon abhängen, wie sie sich in der Vergangenheit verhalten haben. Demgegenüber ist eine ›wechselseitige Vorteilsgewährung‹ in dem Sinne, wie sie von Märkten gefördert wird, ausgesprochen gegenwartsorientiert – nämlich definiert mit Bezug auf die Umstände und Überzeugungen der Menschen zu dem Zeitpunkt, zu dem sie tauschen. Weil sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf unvorhersehbare Weise ändern können, ist es möglich, dass Investitionen, die mit durchaus plausiblen Renditeerwartungen unternommen wurden, vom Markt nicht belohnt werden. Umgekehrt gilt: Wenn man in der glücklichen Lage ist, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort von wechselseitig vorteilhaften Transaktionen zu profitieren, kann dies ebenso gut auf Zufall wie auf Weitsicht zurückzuführen sein. Das Beispiel von Sandel (2009), dass man in den Nachwehen eines Wirbelsturmes als Anbieter von Hotelbetten oder als Bauhandwerker aus dem Besitz von Sach- und Humankapital Profit schlagen könne, ist nur ein extremes Beispiel für dieses generelle Muster marktlicher Entlohnung. Und wenn Sandels Interpretation der Vergütung von Unternehmensvorständen in den Jahren vor 2008 darauf abstellt, dass diese Führungskräfte von dem glücklichen Umstand profitierten, ihre Vergütungsverträge in einer Zeit stark steigender Aktienkurse abschließen zu können, dann illustriert dieses Beispiel denselben Punkt. Diese Eigenschaft von Märkten anzuerkennen heißt nicht, jed- 66 wede Umverteilungspolitik abzulehnen. In der Tat kann man sogar argumentieren, dass eine Marktwirtschaft nur dann politisch nachhaltig ist, wenn jedermann erwarten kann, auf lange Sicht vom Wohlstand zu profitieren, den die Märkte schaffen; und dies mag eine 79 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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function, rewards cannot be perfectly aligned with desert (Sugden 2004, 2012). To some critics, this disconnect between reward and desert comprises a moral failure of the market. Sandel (2009) refers to a passage in which Milton and Rose Friedman (1980, pp. 136–37) argue that this aspect of the unfairness of life is a price we have to pay for the freedom and opportunity that the market gives us. Sandel (pp. 164–65) thinks this a »surprising concession« from advocates of the market. His thought seems to be that material wealth is the currency of market reward, and that individuals’ earnings from the market ought therefore to be in due proportion to effort and talent.
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Of course it is true that most people value material wealth, and that, in this morally neutral sense, wealth is a currency of reward in the market, as it is in other domains of life. But an adequate account of market virtue cannot maintain that what a person earns from market transactions is a reward for the exercise of virtue, in the sense that a literary prize can be seen as a reward for artistic excellence. A person can expect to benefit from market transactions only to the extent that she provides benefits that trading partners value at the time they choose to pay for them. To expect more is to create barriers to the achievement of mutual benefit. Thus, market virtue is associated with not expecting to be rewarded according to one’s deserts, not resenting other people’s undeserved rewards, and (if one has been fortunate) recognizing that one’s own rewards may not have been deserved.
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This attitude of fortitude or stoicism towards the distribution of rewards in a market economy is fundamental to Hayek’s (1976) account of the moral status of the market and »the mirage of social justice.« Hayek accepts that the market often fails to reward desert, 80 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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kollektive Selbstverpflichtung zur Umverteilung notwendig machen. Aber wenn der Markt funktionieren soll, ist es unmöglich, dass der Lohn perfekt das ›Verdienst‹ abdeckt (Sugden 2004, 2012). Für einige Kritiker besteht in dieser Entkoppelung von Lohn und ›Verdienst‹ ein moralisches Versagen des Marktes. Sandel (2009) zitiert eine Passage, in der Milton und Rose Friedman (1980; S. 136–137) die Auffassung vertreten, dieser Aspekt der Ungerechtigkeiten des Lebens sei der Preis, den wir zu zahlen haben, um in den Genuss der Freiheit und all der Wahlmöglichkeiten zu gelangen, die der Markt uns gewährt. Sandel (S. 164–165) hält diese Auffassung für ein »überraschendes Zugeständnis« der Fürsprecher des Marktes. Seine Überlegung scheint darauf hinauszulaufen, dass materieller Wohlstand die Währung der Marktentlohnung ist, und dass es insofern normativ wünschenswert sei, dass die Markteinkünfte der Menschen in einem angemessenen Verhältnis zu ihrer Anstrengung und ihrem Talent stehen sollten. Natürlich trifft es zu, dass die meisten Leute materiellen Wohl- 67 stand schätzen. In diesem moralisch neutralen Sinne stellt Wohlstand in der Tat die Belohnungswährung des Marktes dar, ganz analog zu anderen Bereichen des Lebens, wo es sich genauso verhält. Aber eine adäquate Darstellung der Markttugend kann unmöglich die Auffassung vertreten, das von einer Person durch Markttransaktionen erzielte Einkommen entspreche einer Belohnung für die Ausübung einer Tugend in dem Sinne, wie ein Literaturpreis als Belohnung für künstlerische Spitzenleistungen angesehen werden kann. Eine Person kann nur in dem Maße erwarten, von Markttransaktionen zu profitieren, wie sie Leistungen bereitstellt, die ihre Tauschpartner zu dem Zeitpunkt bewerten, in dem sie sich zur Zahlung entschließen. Etwas anderes zu erwarten hieße, die Durchführung einer wechselseitigen Vorteilsgewährung zu erschweren. Aus diesem Grund besteht die Markttugend gerade darin, nicht zu erwarten, nach seinen ›Verdiensten‹ entlohnt zu werden, anderen Menschen ihr ›unverdient‹ zustande gekommenes Markteinkommen nicht zu verübeln, und (wenn man vom Glück begünstigt war) nicht zu verkennen, dass der eigene Lohn einem eigenen ›Verdienst‹ weder entspringt noch entspricht. Diese Haltung innerer Stärke oder stoischen Gleichmuts hin- 68 sichtlich der Zuteilung marktwirtschaftlicher Belohnungen ist grundlegend dafür, wie Hayek (1976) den moralischen Status des Marktes bestimmt und das »Trugbild der sozialen Gerechtigkeit« kennzeich81 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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but writes: »It is precisely because in the cosmos of the market we all constantly receive benefits which we have not deserved in any moral sense that we are under an obligation also to accept equally undeserved diminutions of our incomes. Our only moral title to what the market gives us we have earned by submitting to those rules which make the formation of the market order possible« (p. 94).
Conclusion 69 We have presented a view of the market as a domain of human life
with a distinctive constellation of virtues. We have argued that this view of the market is compatible with, and to some extent implicit in, a long tradition of liberal economic thought. The virtues we have discovered do not, as some moral critics of the market might have expected, merely normalize egoism and instrumentality: they are genuine virtues that can be upheld with authenticity.
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We stress again that virtues are defined relative to practices. The traits that make a person good as a participant in markets need not be evaluated positively in all domains of human life. To acknowledge that there are market virtues is not to claim that the market is the only morally relevant domain, nor that the market virtues are the only virtues. We have argued (in agreement with some but not all virtue ethicists) that the virtues of different domains can conflict with one another. Thus, the market virtue of universality can conflict with loyalty to community and tradition. Respect for one’s trading partners’ tastes can conflict with upholding standards of professional and craft excellence. The virtue of self-help, as viewed by a potential philanthropist, can conflict with benevolence. Stoicism about market reward can conflict with the pursuit of social justice. However, it should not be thought that the market virtues apply only within the practice 82 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
net. Hayek gesteht zu, dass der Markt es oft nicht schafft, ›Verdienst‹ zu belohnen. Aber dann schreibt er (S. 94): »Aus dem Umstand, dass der Kosmos der Märkte uns allen ständig Vorteile verschafft, die wir nicht in einem moralischen Sinne ›verdient‹ haben, erwächst die Verpflichtung, auch ebenso ›unverdiente‹ Einkommenseinbußen hinzunehmen. Einen moralischen Anspruch auf das, was der Markt uns an Vorteilen gewährt, haben wir einzig und allein dadurch erworben, dass wir uns jenen Regeln unterwerfen, die die Entstehung der marktlichen Ordnung möglich machen.« (S. 94)
Abschließende Überlegungen Wir haben eine Sichtweise auf den Markt vorgestellt, die ihn als 69 einen Bereich des menschlichen Lebens auffasst, welcher durch eine unverwechselbare Gruppe von Tugenden gekennzeichnet ist. Wir haben Gründe dafür angeführt, dass diese Sichtweise des Marktes mit einer langen Tradition des liberalen ökonomischen Denkens nicht nur vereinbart werden kann, sondern in einem gewissem Maße auch schon längst implizit in ihr enthalten ist. Anders, als manche moralischen Kritiker des Marktes vielleicht erwartet haben dürften, weisen die Tugenden, die wir herausgearbeitet haben, den Egoismus und Instrumentalismus nicht einfach nur in ihre Schranken: Vielmehr handelt es sich bei diesen Tugenden um genuin moralische Haltungen, die mit einer ganz eigenständigen Authentizität eingenommen werden können. Wir betonen noch einmal, dass Tugenden immer nur mit Bezug 70 auf eine bestimmte Praxis definiert werden können. Die Eigenschaften, die eine am Markt teilnehmende Person als moralisch gut auszeichnen, müssen nicht für alle Bereiche des menschlichen Lebens als wünschenswert bewertet werden. Anzuerkennen, dass es Markttugenden gibt, ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass der Markt der einzige moralisch relevante Lebensbereich wäre; übrigens auch nicht mit der Behauptung, dass es neben den Markttugenden nicht noch weitere Tugenden gäbe. Wir haben (in Übereinstimmung mit einigen, aber nicht allen Tugendethikern) Gründe für die Auffassung angeführt, dass die Tugenden unterschiedlicher Lebensbereiche miteinander in Konflikt geraten können. So kann die Markttugend der Universalität mit einer Loyalität zur Gemeinschaft oder zur Tradition in Widerspruch stehen. Der Respekt für die geschmack83 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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of the market. On our account, the telos of the market is mutual benefit. Thus, market virtues will apply in other domains of human life that are understood as cooperation among equals for mutual benefit and that, as Mill (1861 [1976], pp. 29–30) argues, thereby provide the environment in which the »social feelings of mankind« can develop. As Mill and many later theorists of social capital recognize, market relations form one part of the network of cooperative relations of which civil society is made up (for example, Putnam 1993). Thus, the market virtues are also virtues of civil society in general.
71
We close with an expression of this idea by Antonio Genovesi (1765–67 [2005]), an Italian contemporary of Adam Smith who, like Smith, tried to understand the motivations driving the growth of commercial societies in his time and who made an attempt to build a theory of commercial society based on the idea of mutual assistance (Bruni and Sugden 2000). Significantly, the name that Genovesi tried to give our discipline was not political economy but civil economy. We quote the final words of his Lectures on Commerce, or on Civil Economy (Genovesi, 1765–67 [2005], our translation), delivered at the University of Naples, where he was the world’s first professor of economics. Having taught his students how a commercial society works, he concludes: »Here is the idea of the present work. If we fix our eyes at such beautiful and useful truths, we will study [civil economy] […] to go along with the law of the moderator of the world, which commands us to do our best to be useful to one another.«
84 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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lichen Vorlieben unserer Tauschpartner kann mit einer Aufrechterhaltung von handwerklichen oder anderen fachmännischen Exzellenzmaßstäben kollidieren. Die Tugend der Selbsthilfe kann aus der Perspektive eines potenziellen Philanthropen mit der Mildtätigkeit in Konflikt geraten. Der stoische Gleichmut gegenüber den Belohnungsmustern des Marktes kann unvereinbar sein mit einem Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Dennoch sollte man nicht glauben, dass die Markttugenden ausschließlich innerhalb einer einzigen Praxis, dem Lebensbereich des Marktes, Anwendung finden können. Nach unserer Auffassung ist das telos des Marktes die wechselseitige Vorteilsgewährung. Daher werden Markttugenden auch in anderen Bereichen des menschlichen Lebens zur Geltung kommen, die man als Kooperation zwischen Gleichen zum Zwecke gegenseitiger Besserstellung verstehen kann; wie Mill (1861 [1976]; S. 29–30) folgert, werden die Markttugenden daher auch für ein Umfeld sorgen, in dem sich die »sozialen Gefühle der Menschheit« entwickeln können. Wie Mill und viele spätere Theoretiker des Sozialkapitals erkannten, formen Marktbeziehungen einen Teil des Netzwerks jener Kooperationsbeziehungen, die eine Bürgergesellschaft ausmachen (vgl. zum Beispiel Putnam 1993). Daher sind die speziellen Tugenden des Marktes ganz allgemein auch Tugenden der Bürgergesellschaft. Wir schließen damit, wie diese Idee bei Antonio Genovesi 71 (1765–1767 [2005]) zum Ausdruck gekommen ist, einem italienischen Zeitgenossen von Adam Smith, der wie Smith jene Motivationen zu verstehen suchte, die als treibende Kräfte das zeitgenössische Wachstum marktförmig organisierter Gesellschaften hervorbrachten. Er unternahm den Versuch, eine Theorie der Marktgesellschaft zu entwerfen, die auf dem Gedanken der gegenseitigen Unterstützung beruht (Bruni und Sugden 2000). Bezeichnenderweise war der Name, den Genovesi unserer Disziplin zu geben versuchte, nicht der einer politischen, sondern einer staatsbürgerlichen Ökonomik. Wir zitieren die abschließenden Worte aus seinen Vorlesungen über den Handel bzw. über die staatsbürgerliche Ökonomik (Genovesi 1765– 1767 [2005]) in eigener Übersetzung. Die Vorlesungen wurden an der Universität von Neapel gehalten, wo er der weltweit erste Professor für Ökonomik war. Nachdem er seinen Studenten auseinandergesetzt hatte, wie eine Marktgesellschaft funktioniert, schloss er mit den Worten: »Hier liegt die Kernidee der vorliegenden Arbeit. Wenn wir unseren Blick auf solche schönen und nützlichen Wahrheiten richten, werden wir [die staatsbürgerliche Wirtschaft und Gesellschaft] stu85 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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86 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann
dieren […], indem wir dem Gesetz des Weltenrichters folgen, der uns gebietet, unser Bestes zu tun, um einander nützlich zu sein.«
Literatur Akerlof, George (1982): Labor Contracts as Partial Gift Exchange. In: Quarterly Journal of Economics 97, Nr. 4, S. 543–569. Anderson, Elizabeth (1993): Value in Ethics and Economics. Cambridge, MA: Harvard University Press. Aristoteles (ca. 350 v. Chr. [1980]): The Nicomachean Ethics of Aristotle. Übersetzt von William David Ross. Oxford University Press. Arrow, Kenneth J. (1972): Gifts and Exchanges. In: Philosophy and Public Affairs 1, Heft 4, S. 343–362. Arrow, Kenneth J. (1984): Collected Papers of Kenneth J. Arrow, Vol. 1: Social Choice and Justice. Oxford: Basil Blackwell. Besley, Timothy (2013): What’s the Good of the Market? An Essay on Michael Sandel’s What Money Can’t Buy. In: Journal of Economic Literature 51, Heft 2, S. 478–495. Brennan, Geoffrey (1996): Selection and the Currency of Reward. In: The Theory of Institutional Design, hrsg. von Robert E. Goodin, Cambridge University Press, S. 256–275. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2000): Moral Canals: Trust and Social Capital in the Work of Hume, Smith and Genovesi. In: Economics and Philosophy 16, Heft 1, S. 21–45. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2008): Fraternity: Why the Market Need Not Be a Morally Free Zone. In: Economics and Philosophy 24, Heft 1, S. 35– 64. Buchanan, James M. und Gordon Tullock (1962): The Calculus of Consent. Ann Arbor: University of Michigan Press. Coyle, Diane (2012): Should You Pay to Jump the Queue – Or for a New Kidney? It’s Hard to Define Where Cash Has No Place. A Review of What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets by Michael Sandel. In: The Independent, 5. Mai. http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/books/ reviews/what-money-cant-buy-the-moral-limits-of-markets-by-michaelsandel-7711785.html. Deci, Edward L. (1971): Effects of Externally Mediated Rewards on Intrinsic Motivation. In: Journal of Personality and Social Psychology 18, Heft 1, S. 105–115. Deci, Edward L. und Richard M. Ryan (1985): Intrinsic Motivation and Self-Determination in Human Behavior. New York: Plenum. Edgeworth, Francis Ysidro (1881): Mathematical Psychics. London: Kegan Paul. Folbre, Nancy und Julie A. Nelson (2000): For Love or Money – Or Both? In: Journal of Economic Perspectives 14, Heft 4, S. 123–140. Frey, Bruno S. (1994): How Intrinsic Motivation Is Crowded In and Out. In: Rationality and Society 6, Heft 3, S. 334–352.
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Reclaiming Virtue Ethics for Economics Interpersonal Relations, edited by Benedetto Gui and Robert Sugden, 250–61. Cambridge University Press. Putnam, Robert D. 1993. Making Democracy Work. Princeton University Press. Ratner, Gerald. 2007. Gerald Ratner: The Rise and Fall … and Rise Again. North Mankato, MN: Capstone. Ricardo, David. 1817. On The Principles of Political Economy and Taxation. London: John Murray. Ryan, Richard M., and Edward L. Deci. 2000. »Intrinsic and Extrinsic Motivations: Classic Definitions and New Directions.« Contemporary Educational Psychology 25(1): 54–67. Sandel, Michael J. 2009. Justice: What’s the Right Thing to Do? London: Penguin. Sandel, Michael J. 2012. What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets. New York: Farrar, Straus and Giroux. Smith, Adam. 1759 [1976]. The Theory of Moral Sentiments. Oxford: Clarendon Press. Smith, Adam. 1763 [1978]. Lectures on Jurisprudence. Oxford University Press. Smith, Adam. 1776 [1976]. An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Oxford: Clarendon Press. Smith, Greg. 2012. »Why I Am Leaving Goldman Sachs.« New York Times, March 14. Sugden, Robert. 2004. »Living with Unfairness: The Limits of Equality of Opportunity in a Market Economy.« Social Choice and Welfare 22(1): 211–36. Sugden, Robert. 2012. »The Market as a Cooperative Endeavour.« Public Choice 152(3): 365–70. Titmuss, Richard. 1970. The Gift Relationship: From Human Blood to Social Policy. London: Allen and Unwin. van Staveren, Irene. 2009. »Comunitarianism and the Market: A Paradox.« Review of Social Economy 67(1): 25–47.
We are grateful for comments from participants at various conferences and workshops at which earlier versions of this paper were presented, and from the editorial team at the Journal of Economic Perspectives. Sugden’s work was supported by the Economic and Social Research Council through the Network for Integrated Behavioural Science (grant reference ES/K002201/1).
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Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann Mill, John Stuart (1861) [1976]: Utilitarianism. London: Dent. Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de (1748) [1914]: The Spirit of the Laws. Übersetzt von Thomas Nugent. London: Bell and Sons. Nelson, Julie (2005): Interpersonal Relations and Economics: Comments from a Feminist Perspective. In Economics and Social Interaction: Accounting for Interpersonal Relations, hrsg. von Benedetto Gui und Robert Sugden. Cambridge University Press, S. 250–261. Putnam, Robert D. (1993): Making Democracy Work. Princeton University Press. Ratner, Gerald (2007): The Rise and Fall … and Rise Again. North Mankato, MN: Capstone. Ricardo, David (1817): On The Principles of Political Economy and Taxation. London: John Murray. Ryan, Richard M. und Edward L. Deci (2000): Intrinsic and Extrinsic Motivations: Classic Definitions and New Directions. In: Contemporary Educational Psychology 25, Heft 1, S. 54–67. Sandel, Michael J. (2009): Justice: What’s the Right Thing to Do? London: Penguin. Sandel, Michael J. (2012): What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets. New York: Farrar, Straus and Giroux. Smith, Adam (1759) [1976]: The Theory of Moral Sentiments. Oxford: Clarendon Press. Smith, Adam (1763) [1978]: Lectures on Jurisprudence. Oxford University Press. Smith, Adam (1776) [1976]: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Oxford: Clarendon Press. Smith, Greg (2012): Why I Am Leaving Goldman Sachs. In: New York Times, 14. März. Sugden, Robert (2004): Living with Unfairness: The Limits of Equality of Opportunity in a Market Economy. In: Social Choice and Welfare 22, Heft 1, S. 211–236. Sugden, Robert (2012): The Market as a Cooperative Endeavour. In: Public Choice 152, Heft 3, S. 365–370. Titmuss, Richard (1970): The Gift Relationship: From Human Blood to Social Policy. London: Allen and Unwin. van Staveren, Irene (2009): Communitarianism and the Market: A Paradox. In: Review of Social Economy 67, Heft 1, S. 25–47.
Die Autoren danken den Teilnehmern verschiedener Konferenzen und Workshops für ihre Kommentare zu früheren Versionen dieses Aufsatzes sowie dem Herausgeber-Team des Journal of Economic Perspectives. Sugdens Arbeit wurde durch das Economic and Social Research Council through the Network for Integrated Behavioural Science gefördert (Bewilligungsbescheid ES/K002201/1).
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II. Hinweise zur Textbearbeitung
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Ingo Pies
Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik: Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Bruni und Sugden 1 Der Aufsatz von Bruni und Sugden ist außerordentlich lesenswert, und dies gleich aus mehreren Gründen: • Der Aufsatz überschreitet die üblichen Fachgrenzen. Er ist interdisziplinär ausgerichtet. Seine inhaltliche Botschaft wendet sich zugleich an Philosophen und Ökonomen – und an uns Bürger generell. • Das Thema des Aufsatzes ist von allgemeinem Interesse: Es geht um die moralische Qualität des Marktes. • Die Behandlung des Themas ist tiefschürfend, grundlegend, radikal, an die Wurzeln gehend: Der Text will das übliche Denkmuster (Paradigma, »mind-set«) differenzieren und modifizieren. Er will seinen Lesern perspektivisch die Augen öffnen. • Die Argumentation ist ambitioniert. Sie will die tugendethische Kritik am Markt mit den Mitteln der Tugendethik zurückweisen, also gleichsam den argumentativen Gegner auf seinem eigenen Boden und mit seinen eigenen Waffen schlagen. • Der Aufsatz ist das genaue Gegenteil einer hastigen Niederschrift locker assoziierter Gedanken. Er ist das Resultat sorgsamer Textarbeit. Das zeigt sich daran, dass nicht nur an einzelnen Formulierungen gefeilt wurde, sondern auch an der Strukturierung der einzelnen Argumente und an ihrer Zusammenführung zu einer Argumentationslinie, die den Text wie ein roter Faden durchzieht: Die Gedankenführung folgt einer durchdachten Komposition. Aufgrund dieser besonderen Textqualitäten lohnt es sich sogar, den Aufsatz von Bruni und Sugden gründlich zu lesen, ihn zu studieren: sich Zeit für den Text zu nehmen, ihn auf sich wirken zu lassen und sich in aller Ruhe mit ihm gedanklich auseinanderzusetzen. Um es pointiert zuzuspitzen: Dieser Text verdient gute Leser. Was das be1
Für wertvolle Hinweise ist Gerhard Engel und Stefan Hielscher herzlich zu danken.
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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
deutet, kann man sich leicht selbst erschließen, indem man einen Aphorismus von Friedrich Nietzsche zu Hilfe nimmt. Unter der Überschrift »Die schlechtesten Leser« findet man im zweiten Band seines Buches »Menschliches, Allzumenschliches« als Aphorismus 137 folgende Kennzeichnung: »Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze.« 2
Schlechte Leser sind auf schnelle Beute aus. Sie begeben sich auf einen Raubzug und reißen an sich, was sie leicht aneignen können: einen Satz, eine Formulierung, eine Metapher – als Bruchstück. Gute Leser hingegen sind ohne Hast und lassen sich auf den Gesamttext ein. Sie interessieren sich nicht nur für Argumente, sondern für die Argumentation; nicht nur für einzelne Gedanken, sondern für die Gedankenkette, die der Text bietet. Sie lesen mit einem Blick aufs Ganze. Ihnen geht es nicht um schnelle Beute, sondern um eine langfristig wirksame Bereicherung durch die Chance auf individuelles Lernen. Sie lesen nicht en passant – im Vorbeigehen –, mit flüchtigem Blick, sondern lassen sich auf die Anstrengung bzw. auf das Vergnügen ein, mit den Autoren des Textes in eine geistige Auseinandersetzung zu treten. Sie nehmen den Text ernst. Dem Aufsatz von Bruni und Sugden wäre zu wünschen, dass er viele gute Leser findet. Allerdings stehen die Chancen dafür wohl leider nicht so gut. Und zwar aus folgendem Grund: In der modernen Medienwelt der Zeitungen, des Internet und der auf Schlagzeilen verkürzten Twitter-Meldungen werden wir alle mit Texten konfrontiert, die für den momentanen Konsum geeignet sein sollen. Es handelt sich gewissermaßen nicht um Gebrauchstexte, sondern um Verbrauchstexte, bei denen es sich nicht lohnt, sie ein zweites oder gar drittes Mal zu lesen und bei denen deshalb eine sorgfältige Lektüre von vornherein vergebliche Liebesmühe wäre. Zudem begegnet man in Schule und Hochschule zahlreichen Büchern, die nicht als Lern-Bücher, sondern als Lehr-Bücher konzipiert wurden und zumeist so schlecht geschrieben sind, dass man zögern möchte, hier überhaupt von »Literatur« zu sprechen. Andererseits ist natürlich nicht in Abrede zu stellen, dass es auch durchaus schön(geschrieben)e Literatur gibt. Doch spielt die Belletristik gleichsam in einer 2
Nietzsche (1878–86).
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Ingo Pies
anderen Liga, weil es sich bei ihr ja gerade nicht um Sach-Literatur handelt. Die Lesegewohnheiten unseres Alltags sind also an einer Textqualität geschult, die üblicherweise gar nicht erst die Erwartung aufkommen lässt, dass es sich lohnen könnte, bei der Texterfassung mehr Mühe zu verwenden, als für eine flüchtige Durchsicht erforderlich ist. Und das völlig zu Recht: Mehr intellektueller Aufwand macht sich dort einfach nicht bezahlt. Wer aber mit solchen Lesegewohnheiten an akademische Texte herantritt, die gleichzeitig auf mehreren Ebenen argumentieren, wird Schwierigkeiten haben, die in ihnen enthaltenen Lektionen sich selbst zu erarbeiten. Diese Texte sind oft sehr viel länger als unsere Alltags»Literatur«, und so erscheinen sie dem ungeübten Auge oft nur als langweilige Bleiwüsten aneinandergereihter Buchstaben. Das macht den Zugang zum Verständnis schwer. Sinn erschließt sich so nicht. Interesse kann folglich nicht aufkommen, ein Funke nicht überspringen. Wer so liest, bereitet selbst den faszinierendsten Wissenschaftsautoren intellektuell das Grab: Die Texte bleiben tote Materie. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Wie kann man (potentiell lehrreiche) akademische Texte zum Leben erwecken? Wie kann man sie für sich zugänglich machen, wie sie erschließen und so aufbereiten, dass sie zu einem sprechen und dass man aus ihnen lernen kann – übrigens vollends unabhängig davon, ob man in einzelnen Punkten zum Zuspruch oder zum Widerspruch tendiert? Auf diese Frage sind natürlich mehrere Antworten möglich. Im Folgenden will ich (m)eine spezielle Antwort skizzieren. Sie beschreibt eine Methode, die vier Schritte umfasst. 3 • Der erste Schritt besteht darin, sich an der Maxime zu orientieren, dass der kürzeste Sinnabschnitt in einem klassischen Text nicht der Satz, sondern der Absatz ist: Jeder Absatz bekommt eine eigene Nummer, und dann schreibt man – inklusive Überschrift und Zwischenüberschriften – für jede Absatznummer einen möglichst kurzen prägnanten Satz, der den Inhalt des Absatzes in eigenen Worten zusammenfasst. Ich habe diese Methode seit 1990 in zahlreichen Lektüre-Kursen und Seminaren (auch in Form von »co-teaching«) allmählich entwickelt und dabei von meinen akademischen Lehrern und Kollegen, aber auch von den Studierenden immer wieder neue Anregungen aufgenommen. Stellvertretend für viele Inspirationsquellen möchte ich an dieser Stelle Karl Homann und Tatjana Schönwälder-Kuntze für gemeinsame Lehr-Erfahrungen danken, bei denen ich viel gelernt habe.
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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
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Der zweite Schritt besteht darin, hierauf aufbauend – gleichsam aus der Vogelperspektive – einen Blick auf den Text und seine Argumentationsstruktur zu werfen. Manchmal bietet es sich an, eine kleine Skizze anzufertigen, die den Argumentationsgang nachzeichnet. In jedem Fall aber gilt es, den roten Faden zu entdecken. Hierfür sind die folgenden Leitfragen hilfreich: � Welche Problemstellung liegt der Argumentation zugrunde? (Dies ist die wichtigste Frage überhaupt! Sie ist gleichsam der Türöffner zum Tresor und »erschließt« das Textverständnis.) � Wie wird die Problemstellung bearbeitet? Welche Herangehensweise wurde gewählt? � Welche Thesen werden entwickelt? � Welche Problemlösung wird vorgeschlagen? Der dritte Schritt besteht darin, eine interne Kritik vorzunehmen. Hierzu wird überprüft, ob der Text seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird. Dafür sind die folgenden Leitfragen hilfreich: � Dienen die Thesen dazu, das vom Text selbst aufgeworfene Problem zu lösen? � Ist die Argumentation in sich konsistent? � Bauen die einzelnen Argumente logisch aufeinander auf, oder enthält der Text argumentative Sprünge? � Gibt es blinde Flecke? Werden wichtige Aspekte der Problemstellung ausgeblendet? � Sofern es Widersprüche im Text gibt (oder zu geben scheint): Was wollen die Autoren wirklich sagen? Ist ihnen der Widerspruch nicht aufgefallen? Warum nicht? Oder gibt es Anlass für Missverständnisse – z. B. in Form sprachlicher Formulierungen, deren Sinn sich im Laufe der Zeit geändert hat –, so dass der heutige Leser Positionen in den Text hineinliest, die die Autoren gar nicht vertreten haben? Vor solchen Missverständnissen muss man insbesondere dort auf der Hut sein, wo man es mit alten Texten oder mit Übersetzungen aus anderen Sprach- und Kulturräumen zu tun hat. � Sofern Faktenaussagen getroffen werden: Halten sie einer kritischen Prüfung Stand? � Sofern sich der Text auf Referenzpositionen stützt: Werden sie korrekt wiedergegeben? � Welche (Art von) Literatur wird zitiert, welche nicht? � Wo liegen die Stärken, wo die Schwächen der Argumentation? 97 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ingo Pies
Der vierte Schritt besteht darin, eine externe Kritik vorzunehmen. Hier geht es vor allem darum, den Text durch aktuelle thematische Bezüge neu zu kontextualisieren, um seine Leistungsfähigkeit für jene Probleme einzuschätzen, die uns als Leser interessieren. Die zentrale Leitfrage lautet: Was können wir aus einem in der Vergangenheit (und in einem anderen Kulturkreis) geschriebenen Text für unsere Zukunft lernen? Diese Frage lässt sich auf mindestens zwei Ebenen beantworten: � Inhaltliche Ebene: Welche Informationen bzw. Argumente sind noch heute aktuell und aufschlussreich? Welche erweisen sich als zeitbedingt und überholt bzw. aktualisierungsbedürftig? Sind bestimmte Aussagen schlicht veraltet und damit falsch (geworden), oder sind sie aus heutiger Sicht lediglich differenzierungsbedürftig? � Methodische Ebene: In vielen Fällen lässt sich weder die Problemstellung des Textes noch seine Problemlösung im Maßstab 1:1 auf unsere Gegenwart und Zukunft übertragen. Oft ist es aber dennoch möglich, aus einem akademischen Text zu lernen, indem man fragt, ob die Art der Problembehandlung Stärken bzw. Schwächen aufweist, die uns bei der Lösung heutiger Probleme als Orientierungshilfen dienen können. In vielen Fällen ist es hilfreich (und lehrreich), bei der kritischen Rezeption eines Textes nicht nur auf die einzelnen Argumente, sondern auch auf die Art des Argumentierens zu achten: auf die Gedankenführung und sogar auf die Architektur des argumentativ errichteten Gedankengebäudes. � Beide Ebenen hängen systematisch zusammen. Deshalb muss man sie im Zusammenhang – und auf diesen Zusammenhang hin – reflektieren. Also: Welche Fragen werden gestellt, und wie werden sie gestellt? Welche Antworten werden gegeben, und wie werden sie begründet? Ich werde im Folgenden versuchen, zumindest annäherungsweise den Weg zu skizzieren, den man mit den vier Schritten dieser methodischen Handreichung zurücklegen kann.
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Schritt I Ich beginne mit einer grau unterlegten Zusammenfassung der Textaussagen nach Absätzen und füge zum besseren Überblick die erste Überschrift sowie eine Nummerierung der Absatzüberschriften ein: 0. Einleitung 1. Tugendethische Ansätze sind zur Marktwirtschaft, aber auch zur Wirtschaftswissenschaft traditionell kritisch eingestellt. In vielen Fällen beruht eine solche Kritik allerdings auf Missverständnissen. 2. Bruni und Sugden wollen ihre Zurückweisung der Kritik tugendethisch vornehmen, d. h. sie wollen die moralischen Argumente und Bedenken der Kritiker nicht einfach beiseite wischen, sondern ernstnehmen. 3. Sie wollen anders argumentieren, als Ökonomen es sonst üblicherweise tun. Insbesondere wollen sie zeigen, dass man den Markt als Institution befürworten kann, ohne damit moralischen Verfall in Kauf zu nehmen. 4. Bruni und Sugden richten ihre Argumentation interdisziplinär aus. Sie wollen sowohl Ökonomen als auch Philosophen ansprechen. 5. Die Autoren argumentieren mit Markttugenden. Darunter verstehen sie Dispositionen, die auf Tauschakte gerichtet sind, welche eine wechselseitige Besserstellung bewirken. 6. Die Autoren kündigen eine Liste diverser Markttugenden an und vertreten die Auffassung, dass Markthandlungen tugendhaft sein können und dass Markttugenden nicht notwendig im Widerspruch zu anderen Tugenden stehen müssen. 7. Die Autoren erheben den Anspruch, dass ihre Argumentation nicht neu ist. Die These, der Markt sei als eine spezifisch wirtschaftliche Sphäre von Tugenden aufzufassen, finde sich bei zahlreichen führenden Vertretern der ökonomischen Literatur, und zwar vom 18. Jahrhundert bis heute. 1. Was ist Tugendethik? 8. Die Tugendethik arbeitet mit einer Vorstellung vom »guten Leben«, aus der dann abgeleitet wird, welche Charaktereigenschaften eine Person haben – genauer: durch Einübung erwerben – sollte, um ein solches »gutes Leben« führen zu können. Diese 99 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Charaktereigenschaften werden als moralische Tugenden bezeichnet (und empfohlen). 9. Die aristotelische Tugendethik bestimmt das Gute im Hinblick auf einen Lebensbereich (»praxis«), dem ein Zweck (»telos«) innewohnt. Tugend ist dann die Disposition, sich so zu verhalten, wie es der Zweck des Lebensbereichs erfordert. Beispiel: die Tapferkeit eines Soldaten. 10. Moderne Tugendethiken bestimmen das telos der Praxis kommunitarisch, d. h. durch Bezugnahme auf eine konkrete Gemeinschaftskultur. 11. Die aristotelische Tugendethik hat zahlreiche Berührungspunkte mit modernen psychologischen Theorien intrinsischer Motivation. 2. Die Zweckdienlichkeit des Marktes: Die tugendethische Kritik 12. Die moderne tugendethische Kritik an der Marktwirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft stützt sich auf zwei Ideen, die sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen lassen: (a) Marktteilnehmer handeln nicht autonom (= ihre Zwecke selbst festsetzend), sondern unter Bedingungen der Knappheit und damit unter Zwang. (b) Ökonomische Tätigkeit ist immer nur Mittel zum Zweck; sie ist nicht intrinsisch, sondern extrinsisch motiviert und damit moralisch nachrangig und sogar minderwertig. 13. Auseinandersetzung mit MacIntyre (1984): Er arbeitet mit einem Praxisbegriff, der einem Lebensbereich Zwecke zuschreibt, aus denen interne Exzellenzmaßstäbe abgeleitet werden, die als Kriterium für tugendhaftes Verhalten dienen. 14. Für diesen Denkansatz sind Märkte moralisch suspekt, weil die Tätigkeit des Produzierens sich nicht auf ein Gut als Selbstzweck (zur Eigennutzung), sondern auf ein Gut als Mittel zum Tausch bezieht. Dieser instrumentelle Charakterzug der Markttätigkeit wird als Korruption eingestuft, als moralischer Verfall. 15. Bruni und Sugden halten MacIntyres Denkansatz für utopisch. Sie kritisieren, dass er die gemeinschaftliche Haushaltsproduktion romantisch als Ideal verklärt und dass es mit diesem (unrealistischen) Ideal von vornherein – kategorial bedingt, also gleichsam per definitionem – unvereinbar ist, Prozesse arbeitsteiliger Spezialisierung zu organisieren.
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16. Auseinandersetzung mit Anderson (1993) und Sandel (2009), (2012): Sie wollen auf den Markt nicht vollends verzichten, aber doch seinem Anwendungsbereich enge Grenzen setzen, weil sie befürchten, dass die instrumentelle Logik des Marktes Tugenden korrumpiert. 17. Andersons Argument: Nicht alle Praxisnormen lassen sich in Marktnormen übersetzen. Deshalb führt die Ausdehnung des Marktes zur Verdrängung traditioneller Tugenden und mithin zu moralischem Rückschritt. 18. Anderson fordert, dass unterschiedliche Güterarten unterschiedlich bewertet werden sollten. Die wirtschaftliche Bewertungsweise ist für sie moralisch zweitrangig, weil hier Güter nicht nach ihrem intrinsischen Wert, sondern stattdessen bloß (auf zudem unpersönliche und eigeninteressierte Weise) nach ihrem Gebrauchswert eingestuft werden. 19. Anderson gesteht dem Markt nur einen vergleichsweise kleinen Anwendungsbereich zu. 20. Anderson geht davon aus, dass Marktnormen mit jenen Exzellenznormen in Konflikt geraten können, die dem professionellen Selbstverständnis von Fachleuten entsprechen. Deshalb müsse die Berufspraxis (der Ärzte, Akademiker, Sportler und Künstler) teilweise gegen Marktkräfte abgeschottet werden, um die intrinsischen Werte der Fachleute gegen extrinsische Motivlagen zu schützen. 21. Sandel (2009) stützt seine Marktkritik auf einen Gerechtigkeitsbegriff, demzufolge jeder Mensch das bekommen soll, was ihm im moralischen Sinne zusteht. 22. Bruni und Sugden ordnen Sandel zwei Thesen zu: (a) Sandel spreche sich dafür aus, der Staat solle verbieten, dass Unternehmen in Katastrophenfällen ihre Preise anheben dürfen, weil Preiswucher ein Zeichen lasterhafter Gier sei. (b) Sandel sehe in den überbordenden Managergehältern eine Verletzung des Gerechtigkeitsgrundsatzes. Und weiter: Ihrer Interpretation zufolge münden beide Thesen Sandels in das Verdikt, dass der Markt dabei versagt, den wirtschaftlichen Verdienst am moralischen Verdienst auszurichten. 23. Bruni und Sugden kritisieren, den drei exemplarisch diskutierten Tugendethikern falle es offenbar schwer, allgemein nützlichen Marktaktivitäten, mit denen zahlreiche Menschen ihre wirtschaftliche Existenz bestreiten, einen moralischen Stellen101 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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wert zuzuweisen. Auch bereite es offenbar Schwierigkeiten, die Funktionsprinzipien zu würdigen, die den (finanziellen) Verdienst und das (moralische) Verdienst auf Märkten systematisch auseinandertreten lassen. Ihr Hauptpunkt ist jedoch, dass Tugendethiker es bislang versäumt haben, den Markt als eine eigenständige Praxis – mit zugehöriger Tugend – aufzufassen. 3. Intrinsische Motivation und Ökonomik 24. Die sozialpsychologische und verhaltensökonomische Literatur zur intrinsischen Motivation wird oft als eine Bestätigung der tugendethischen Kritik des Marktes angesehen. 25. Eine wichtige These dieser Literatur besagt, dass externe Belohnungen eine bereits vorhandene intrinsische Motivation verdrängen können. 26. Daraus haben Ökonomen wie Frey (1997) den Schluss gezogen, es sei weder möglich noch wünschenswert, eine Gesellschaft allein auf monetäre Anreize zu gründen. 27. Zur Ökonomik intrinsischer Motivation: Wenn eine Pflegekraft intrinsisch motiviert ist, kranken Patienten zu helfen, wird sie sich mit einem vergleichsweise niedrigeren Lohn zufriedengeben. Arbeitgeber, die niedrige Löhne bieten, können folglich einen stabilen Selbstselektionseffekt erzielen. Einerseits schrecken sie rein extrinsisch motivierte Pflegekräfte ab, und andererseits ist es gerade der – nach außen gut sichtbare – niedrige Lohn, der die intrinsische Motivation davor bewahrt, extrinsisch korrumpiert zu werden. So bekommen sie mehr Leistung, indem sie weniger zahlen. 28. Bruni und Sugden äußern Unbehagen an einer solchen Analyse. Besonders wichtig ist ihnen, dass hier ein Tugendbegriff zugrunde gelegt wird, dem es nicht mehr um das eigene Gedeihen geht, sondern um Opferbereitschaft. 29. Auch in dem Vorschlag, Pflegekräfte so zu bezahlen, dass sie ihr Einkommen als eine Form persönlicher Anerkennung empfinden und nicht einfach nur als marktliche Entlohnung einer Dienstleistung, sehen Bruni und Sugden ein Wiederaufleben der aristotelischen Auffassung, dass Markttransaktionen nicht als tugendhaft gelten können. 30. Aus Sicht von Bruni und Sugden wäre es ambivalent – also keinesfalls nur zu begrüßen –, wenn Pflegekräfte zukünftig so wie
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Kellner auf ein Trinkgeld – als Form von Anerkennung – angewiesen wären. 31. Ebenso wären nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile zu erwarten, wenn Pflegekräfte zukünftig wie Wissenschaftler eine unkündbare Dauerstellung hätten. Das würde zwar vielleicht ihre intrinsische Motivation gegen externe Anreize abschirmen. Aber genau dies würde die Pflegebedürftigen vom guten Willen der Pfleger abhängig machen und ihnen jede Handhabe rauben, sich in einem etwaigen Interessenkonflikt durchzusetzen. Die Autonomie der Pfleger würde gestärkt, die der Pflegebedürftigen hingegen geschwächt. 32. Solange man sich damit begnügt, den Begriff der Tugend so zu fassen, dass Markthandlungen von vornherein als untugendhaft oder doch als moralisch minderwertig eingestuft werden, kann es nicht gelingen, unsere Moralvorstellungen mit unserem Wirtschaftsleben in Einklang zu bringen. 4. Das telos des Marktes 33. Der erste Schritt zu einer Tugendethik des Marktes besteht darin, die Sphäre freiwilliger Tauschhandlungen als eigenständige moralische Praxis zu begreifen. 34. Obwohl es in den Schriften von Adam Smith viele Anhaltspunkte dafür gebe, dass er Markthandlungen als tugendhaft einstufte, machen Bruni und Sugden ihn doch maßgeblich dafür verantwortlich, dass große Teile der ökonomischen Literatur den Markt nicht als moralische Praxis aufgefasst haben, weil sie Smith darin gefolgt sind, die nicht-intendierten Wirkungen intentionalen Handelns in den Vordergrund zu stellen. 35. Für Bruni und Sugden lautet die entscheidende Ausgangsfrage: Was ist das telos des Marktes, seine raison d’être, sein sozialer Sinn, seine innere Zweckbestimmung? 36. Autoren wie Friedman, Buchanan und Tullock kennzeichnen den Markt in einer für die Ökonomik typischen Weise als Sphäre freiwilliger Zusammenarbeit zur Gewährung wechselseitiger Besserstellung. 37. Schon Edgeworth (1881) betont den Umstand, dass der marktliche Tauschakt ein Vertragsverhältnis konstituiert, das auf freiwilliger Zustimmung beruht. Und bereits zuvor weist Ricardo (1817) mit seinem Theorem komparativer Kostenvorteile darauf
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hin, dass der marktliche Tausch ein Potential wechselseitiger Vorteilsgewährung eröffnet. 38. Alternativ könnte man das telos des Marktes als Schaffung allgemeinen Wohlstands oder als Schaffung individueller wirtschaftlicher Freiheit bestimmen. 39. Diese beiden Effekte werden jedoch mit eingefangen, indem Bruni und Sugden sich dafür entscheiden, das telos des Marktes als wechselseitige Vorteilsgewährung zu kennzeichnen. 5. Markttugenden 40. Ausgehend von der wechselseitigen Vorteilsgewährung als telos des Marktes, muss ein erworbenes Charaktermerkmal Bruni und Sugden zufolge zwei Eigenschaften aufweisen, um als Markttugend gelten zu können: (a) Das Merkmal muss es Personen erleichtern, durch Markthandlungen wechselseitigen Nutzen zu stiften (Beitrag zum telos). (b) Das Merkmal muss zum Ausdruck bringen, dass die wechselseitige Vorteilsgewährung bewusst angestrebt und als wertvoll erachtet wird (Wertschätzung des telos). 41. Historische Beschreibungen von Marktteilnehmern und Ökonomen als Marktbeobachtern liefern umfangreiches Material zur Kennzeichnung markttypischer Charaktermerkmale. 42. Markttypische Charaktermerkmale sind nicht durch Altruismus (Opfer und Verzicht), sondern durch Reziprozität (wechselseitige Vorteilsgewährung) gekennzeichnet. Universalität 43. Die Markttugend der Universalität besteht in der Bereitschaft zum Tausch ohne Ansehen der Person. Die zugehörigen Laster lauten: Günstlingswirtschaft, Nepotismus, Klientelismus und Protektionismus. 44. Universalität bedeutet, sich auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und sachfremde Gesichtspunkte – jenseits der Gewährung wechselseitiger Vorteile – auszublenden. Dies ist mit einer Haltung des Wohlwollens vereinbar. 45. Für Bruni und Sugden liegt tugendhaftes Verhalten nur dann vor, wenn die Universalität – als bewusster Verzicht auf Diskriminierung – gezielt angestrebt wird.
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Unternehmergeist und Wachsamkeit 46. Die Markttugend unternehmerischen Geistes besteht darin, Potentiale für eine wechselseitige Vorteilsgewährung aufspüren bzw. erschaffen zu wollen. Wie schon Jevons (1871) betont hat, impliziert dies Phantasie und Empathie: die Vorstellungskraft, sich in andere Menschen und deren Bedürfnisse hineindenken und hineinfühlen zu können. 47. Wachsamkeit im Sinne von Preissensibilität und Experimentierfreude ist eine Markttugend des Verbrauchers, worauf bereits Mill (1848) hingewiesen hat. Respekt für die Vorlieben der Tauschpartner 48. Respekt für die Präferenzen der Tauschpartner ist eine Markttugend. Es dient dem telos des Marktes, die Produktion an den Bedürfnissen der Konsumenten auszurichten – auch wenn dies bedeutet, bestimmte Exzellenzvorstellungen professioneller Anbieter den Marktbedürfnissen anzupassen. Ganz in diesem Sinne schlug bereits Adam Smith (1776) vor, die Professoren sollten von den Studierenden bezahlt werden. 49. Praxisbeispiel für fehlenden Respekt: Ein abfälliger Scherz über Billigschmuck. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit 50. Anderen mit Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zu begegnen, ist eine Markttugend, weil sie Tauschakte und die damit verbundene wechselseitige Vorteilsgewährung erleichtert. 51. Bereits Adam Smith (1763) stuft »Redlichkeit« als Markttugend ein. Viele moderne Ökonomen sind ihm darin gefolgt. 52. Praxisbeispiel: Vertrauen widerspricht nicht dem langfristigen Eigeninteresse. Akzeptanz des Wettbewerbs 53. Andere nicht daran zu hindern, miteinander Tauschbeziehungen einzugehen, ist eine Markttugend. 54. Hierzu gehört, keine Kartelle einzugehen, aber auch, nicht die Intention zu verfolgen, sich durch Markteintrittsbarrieren vor dem Wettbewerb schützen zu lassen. 55. Die Auffassung, dass Kartellvereinbarungen unmoralisch sind, weil sie den sozialen Sinn des Marktes konterkarieren, wird in der ökonomischen Literatur allgemein geteilt. 105 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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56. Bruni und Sugden beziehen die wechselseitige Vorteilsgewährung auf die am Markttausch Beteiligten, nicht auf die Betroffenen. Damit ordnen sie die Regulierung externer Effekte der Verantwortung des Staates zu. Es gehört für sie nicht zur moralischen Praxis des Marktes, sich selbst zu regulieren. Selbsthilfe 57. Bruni und Sugden erklären es zur Markttugend, nicht auf Almosen angewiesen sein zu wollen, sondern stattdessen das Prinzip von Leistung und Gegenleistung anzuerkennen. Anklänge für diese moralische Einschätzung der Eigenverantwortung und Selbsthilfe finden sich bereits bei Adam Smith (1776) und seiner Kritik des Bettlers, der sich dafür entscheidet, vom Wohlwollen seiner Mitbürger abhängig zu sein, anstatt seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu verdienen. 58. Die Tugend der Selbsthilfe hindert einen Künstler daran, den intrinsischen Wert seines Kunstwerks zum Maßstab dafür zu nehmen, wie hoch die Zahlungsbereitschaft seiner Mitbürger sein sollte. Stattdessen akzeptiert er, dass die subjektive Wertschätzung, die die Mitbürger seinem Werk beimessen, den Marktpreis bestimmt – und dass hierbei das Ausmaß seiner Selbstverwirklichung keine Berücksichtigung findet. In diesem Punkt melden Bruni und Sugden massiven Widerspruch zur Deutung traditioneller Tugendethiker an. 59. Bruni und Sugden bringen die Markttugend der Selbsthilfe nicht nur gegen eine Überschätzung der eigenen Bedürfnisse in Stellung, sondern auch gegen eine Unterschätzung der eigenen Bedürfnisse. Selbsthilfe erfordert kein Opfer, sondern lediglich die Teilnahme an Win-Win-Transaktionen. 60. Die Markttugend der Selbsthilfe versöhnt den einzelnen Menschen mit seiner Berufswelt und lässt verständlich werden, dass es bezahlter Arbeit weder an Tugend noch an Authentizität mangeln muss. Nicht-Rivalität 61. Menschen nicht als Konkurrenten, sondern als (potentielle) Kooperationspartner anzusehen, ist eine Markttugend. 62. Vielleicht ist die marktkritische Haltung vieler Intellektueller darauf zurückzuführen, dass sie Wettbewerb vor allem als Kon-
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kurrenz um Positionsgüter erfahren, also als NullsummenWettbewerb, in dem der eine verliert, was der andere gewinnt. 63. Bereits Hume (1760) und Mill (1848) haben darauf hingewiesen, dass der internationale Handel gerade auch die Patrioten lehrt, das Ausland mit Wohlwollen zu betrachten. 64. Andere vom Markt verdrängen zu wollen, ist in der Regel nicht Teil der Motivation von Marktakteuren. Stoischer Gleichmut bei der Entlohnung 65. Anzuerkennen, dass die Entlohnung im Rahmen einer wechselseitigen Vorteilsgewährung dem eigenen moralischen Verdienst nicht entspricht und auch gar nicht entsprechen kann, ist für Bruni und Sugden eine Markttugend. 66. Gerade deshalb, weil die Marktentlohnung immer auch von Glück und Pech bestimmt sein kann, halten Bruni und Sugden eine sozialpolitische Kompensation der Verlierer für möglich und im Sinne einer politischen Nachhaltigkeit sogar für geboten, um eine langfristige Akzeptanz der Wirtschaftsordnung sicherzustellen. 67. Ein Literaturpreis ist Zeichen der Anerkennung einer künstlerischen Spitzenleistung. Ein Marktpreis hingegen wird von ganz anderen Faktoren bestimmt und ist deshalb niemals im analogen Sinn ein Zeichen der Anerkennung für tugendhafte Exzellenz. Deshalb gehört es auch zur Markttugend stoischen Gleichmuts, anderen ihr »unverdientes« Einkommen nicht zu neiden. 68. Bruni und Sugden verweisen auf die Kritik an der für Märkte kategorial ungeeigneten Idee sozialer Gerechtigkeit bei Hayek (1976). Er hatte argumentiert, dass die Inanspruchnahme der systemisch erzeugten Vorteile des Marktes moralisch dazu verpflichtet, die im gleichen sozialen Prozess gelegentlich entstehenden Nachteile – in Form unverdienter Einkommenseinbußen – klaglos hinzunehmen. 6. Abschließende Überlegungen 69. Für die Perspektive, den Markt als moralische Praxis mit spezifischen Tugenden aufzufassen, gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte in der ökonomischen Literatur. 70. Tugenden können immer nur im Hinblick auf eine bestimmte Praxis bestimmt werden, und die Tugenden einer Praxis können mit den Tugenden einer anderen Praxis in Konflikt geraten. Bei107 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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spiele: (a) Im Bereich des Marktes kann die Tugend der Familiensolidarität als Nepotismus (= als Verstoß gegen die Tugend der Universalität) gewertet werden. (b) Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit widerspricht dem stoischen Gleichmut gegenüber marktlichen Entlohnungsmustern. – Andererseits können die Markttugenden durchaus auch mit anderen Tugenden harmonieren, insbesondere mit einer kosmopolitischen Ausrichtung der Tugenden der Bürgergesellschaft. 71. Bereits Antonio Genovesi, der weltweit erste Professor für Ökonomik, hat in seinen Vorlesungen an der Universität von Neapel (1765–67) im Hinblick auf die entstehende Marktgesellschaft den Gedanken formuliert, das moralische Gebot bestehe darin, unser Bestes zu tun, um einander nützlich zu sein.
Schritt II Auch wenn ich kritisch bzw. selbstkritisch feststellen muss, dass es mir angesichts des im Text entfalteten Gedankenreichtums nicht recht gelungen ist, die wesentlichen Aussagen der Absätze immer in wirklich kurzen Sätzen zusammenzufassen, so wird es durch die dennoch erreichte Verdichtung möglich, eine makroskopische Perspektive einzunehmen und gleichsam aus der Vogelschau ein Gesamtbild zu entwerfen, das die Argumentationsstruktur des Textes ins Blickfeld rückt und den roten Faden sichtbar werden lässt. Ich orientiere mich zunächst an der formalen Gliederung des Textes und schreibe die Überschriften und Zwischenüberschriften, die die Autoren selbst gewählt haben, zusammen mit der von mir eingeführten ersten Überschrift und Nummerierung einfach hintereinander auf (Abb. 1). Geht man nun die Inhalte durch, so fällt sofort auf, dass sich die Argumentation noch weiter verdichten lässt. Die gestrichelten Linien deuten es bereits an: Die ersten drei Abschnitte nach der Einleitung (1–3) gehören inhaltlich eng zusammen (Block I). Demgegenüber bilden auch die letzten drei Abschnitte (4–6) einen eigenständigen argumentativen Block II. Damit lässt sich bei makroperspektivischer Betrachtung folgendes Bild der argumentativen Grobstruktur entwerfen (Abb. 2).
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0. Einleitung (BS 1–7) 1. Was ist Tugendethik? (BS 8–11) 2. Die Zweckdienlichkeit des Marktes: Die tugendethische Kritik (BS 12–23) 3. Intrinsische Motivation und Ökonomik (BS 24–32) 4. Das telos des Marktes (BS 33–39) 5. Markttugenden (BS 40–68) a. Universalität (BS 43–45) b. Unternehmergeist und Wachsamkeit (BS 46–47) c. Respekt für die Vorlieben der Tauschpartner (BS 48–49) d. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit (BS 50–52) e. Akzeptanz des Wettbewerbs (BS 53–56) f. Selbsthilfe (BS 57–60) g. Nicht-Rivalität (BS 61–64) h. Stoischer Gleichmut bei der Entlohnung (BS 65–68) 6. Abschließende Überlegungen (BS 69–71) Abbildung 1: Die formale Gliederung im Überblick
0. Einleitung (BS 1–7) I.
Tugendethische Marktkritik in Philosophie, Psychologie und Verhaltensökonomik (BS 8–32) Moralische Vorbehalte stützen sich auf den (vermeintlichen) Egoismus und Instrumentalismus von Markthandlungen. Zugrunde liegt eine weitgehende Gleichsetzung von Tugend = moralische Motivation = intrinsische Motivation
II. Zurückweisung der tugendethischen Marktkritik (BS 33–71) – Kernidee: der Markt als Praxis und das telos des Marktes – Folgerung: Die Tugenden des Marktes: (a) – (h) – Pointe 1: Widerlegung der tugendethischen Marktkritik – Pointe 2: Moralische Verteidigung des Marktes Abbildung 2: Die argumentative Grobstruktur
Nach der Einleitung setzt die Argumentation damit ein, den Denkansatz der Tugendethik zu kennzeichnen und die Spuren dieses in der antiken Philosophie entstandenen Denkansatzes in der zeitgenössi109 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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schen Psychologie und Verhaltensökonomik nachzuverfolgen. Die Autoren versuchen herauszuarbeiten, dass Tugendethiker üblicherweise den (vermeintlichen) Egoismus und Instrumentalismus von Markthandlungen kritisieren, dass sie sich Sorgen um die Erosion intrinsischer Motivation machen und dass sie darauf setzen, dem Markt möglichst enge Grenzen zu setzen, damit wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vor der korrumpierenden Wirkung marktlicher Anreize geschützt werden. Auf diesen ersten gedanklichen Schritt folgt ein zweiter: Nachdem Bruni und Sugden die Kernargumente der tugendethischen Marktkritik dargestellt haben (Block I), versuchen sie sich an einer Widerlegung (Block II). Man kann auch sagen: Die Rekonstruktion der Marktkritik mündet in ihre Dekonstruktion. Bruni und Sugden argumentieren, dass die tugendethische Marktkritik auf dem folgenschweren Denkfehler beruht, den Markt an fremden Maßstäben zu messen, indem man die Ideale nichtmarktlicher Praxis als Kriterium anlegt, um dann regelmäßig festzustellen, dass der Markt diesen Kriterien nicht genügt und systematisch gar nicht genügen kann – was man dann moralisch zu Lasten des Marktes auslegt. So könne man sich immer wieder von neuem darüber enttäuscht zeigen, dass die marktliche Beziehung zwischen (oft anonym bleibenden) Anbietern und Nachfragern die menschliche Qualität intimer Freundschaftsbeziehungen nicht erreicht oder dass die für Märkte konstitutive Ausrichtung der Produktion an den Konsumentenbedürfnissen etwas kategorial anderes ist als die Ausrichtung künstlerischer Produktion an den Exzellenzvorstellungen des autonomen Künstlers. Insbesondere der Einwand, dass eine Marktaktivität wie beispielsweise die abhängige beschäftigte Arbeit kaum jemals reiner Selbstzweck ist, sondern typischerweise Mittel zum Zweck, und dass ihr insofern etwas Instrumentelles anhaftet, werde so zu einer reichlich sprudelnden Quelle moralischer Vorbehalte gegen den Markt. Bruni und Sugden identifizieren einen blinden Fleck der tugendethischen Literatur. Der besteht ihres Erachtens darin, dass der Markt als moralische Praxis sui generis nicht wirklich ernst genommen wird, obwohl er doch einen großen – und historisch betrachtet: sogar immer größer werdenden – Teil des gesellschaftlichen Lebens ausmacht. Aufgrund dieses blinden Flecks habe die einschlägige Literatur gar nicht gemerkt, dass sie permanent Maßstäbe anlegt, die kategorial ungeeignet sind, um die moralische Qualität des Marktes 110 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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kritisch zu bestimmen. Zur Aufhellung dieses blinden Flecks – man könnte auch sagen: als Aufklärungsbeitrag zur konstruktiven Fehlerkorrektur – setzen sie auf die Idee, (a) den Markt als Praxis aufzufassen, (b) nach dem telos dieser Praxis zu fragen und sodann (c) Tugenden zu bestimmen, die diesem telos zuträglich sind. Auf diese Weise erklären sie die wechselseitige Vorteilsgewährung zur Zweckbestimmung des Marktes, erstellen daraufhin eine (exemplarische, d. h. unvollständige) Liste von nicht weniger als acht Markttugenden und lassen ihre Argumentation schließlich in zwei Pointen münden. Die erste Pointe besteht darin, einige der tugendethischen Vorbehalte gegen den Markt explizit tugendethisch zurückzuweisen. Und die zweite Pointe besteht darin, einen innovativen Beitrag zur moralischen Verteidigung des Marktes zu leisten, der vielen Menschen dabei helfen mag, sich mit der je kontingenten Rolle, die sie im Markt spielen, nicht nur abfinden, sondern sogar identifizieren zu können – und so sich selbst als moralisches Subjekt zu erfahren. Insofern kann man den Aufsatz von Bruni und Sugden als einen Versuch auffassen, die Bürger mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Praxis der Marktwirtschaft zu versöhnen – und jene Entfremdung abzubauen, die ausgerechnet dadurch zustande kommt, dass große Teile der tugendethischen Literatur kategorial fehlgeleitet sind.
Schritt III Ich komme nun zur internen Kritik, beschränke mich aber notgedrungen auf einige wenige und zudem sehr knapp gehaltene Punkte, die ausreichen mögen, um die Methode zu illustrieren. Die Leifragen lauten: Welchen Anspruch erheben die Autoren? Wie versuchen die Autoren, ihren Anspruch einzulösen? Gelingt ihnen das konsistent? Oder gibt es vielleicht einen Schwachpunkt in ihrer Argumentation? Falls ja: Ist eine konstruktive interne Kritik möglich, die diesen Schwachpunkt so behebt, dass die Autoren dem zustimmen könnten? • Bruni und Sugden erheben den Anspruch, die tugendethische Marktkritik mit tugendethischen Argumenten zurückweisen zu können. • Zur Einlösung dieses Anspruchs identifizieren die Autoren Markttugenden: Sie bestimmen den Markt als moralische Praxis und listen sodann moralische Dispositionen auf, die dieser Praxis zuträglich sind. 111 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Ausgestattet mit dieser Liste, treten sie der in der tugendethischen Literatur verbreiteten Auffassung entgegen, es sei moralisch wünschenswert, dass Marktpreise das moralische Verdienst der Marktteilnehmer widerspiegeln oder dass die Exzellenzideale der Produzenten – anstatt die Bedürfnisse der Konsumenten – im Markt ausschlaggebend sein sollten. In beiden Fällen setzen sie einen klaren Kontrapunkt und erklären es zur Markttugend, Knappheitspreise zu akzeptieren und die Produktion am gewünschten Verbrauch auszurichten. • Diese Zurückweisung tugendethischer Marktkritik ist in sich konsistent. Denn sie argumentiert, dass Markthandlungen am telos des Marktes und eben nicht am telos irgendeiner anderen beliebigen Praxis zu messen sind, also gewiss nicht am telos einer kleinen homogenen Gemeinschaft mit einem ausgeprägten Wertekonsens zur Anerkennung moralischer Verdienste und auch nicht am telos einer elitären Kunstproduktion, für die stillschweigend vorausgesetzt wird, dass ein autonomer Künstler der Notwendigkeit enthoben ist, seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Kunst zu bestreiten, so dass er es sich leisten kann, alle Kundenwünsche vollständig zu ignorieren und nur seinen eigenen Vorstellungen von künstlerischer Exzellenz zu huldigen. (1) Allerdings gibt es auch einen Schwachpunkt in der Argumentation. Er betrifft die Frage der Intention tugendhaften Verhaltens. Hierzu schreiben Bruni und Sugden (BS 5, H. i. O.): »Für tugendhafte Marktteilnehmer ist der gegenseitige Nutzen nicht nur ein willkommenes Nebenprodukt der individuellen Verfolgung des eigenen Interesses: Vielmehr streben sie bewusst an, dass Tauschhandlungen mit anderen für beide Seiten nutzbringend sind.« Nimmt man diese Passage wörtlich, so kommt man in Schwierigkeiten. Am Beispiel: Wenn ich nach einem Großeinkauf im Supermarkt an der Kasse stehe und mehrere Dutzend Artikel aus dem Einkaufswagen aufs Band lege, muss ich dann zuvor mehrere Dutzend Mal bewusst angestrebt haben, die jeweiligen Hersteller der Waren (sowie ihre Zulieferer und deren Zulieferer usw.) durch meinen Einkauf besserzustellen? Falls ich das versäumt habe: Ist es dann unausweichlich, dass ich als nicht-tugendhafter Konsument eingestuft werden muss? Oder anders gefragt: Wird hier die ethische Methode korrekt zum Einsatz gebracht, vom telos der Praxis auf Tugend zu schließen? Setzt das Gedeihen des Marktes als Sphäre wechselseitiger Vorteilsgewährung den »guten Willen« – und vor allem: den mir •
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selbst stets bewussten guten Willen – als treibende Motivation meiner Kaufhandlungen wirklich voraus? Man sieht: Bruni und Sugden unterläuft hier eine Formulierung, die utopische Anforderungen an tugendhaftes Verhalten stellt. Dass sie das nicht wirklich gemeint – oder jedenfalls: nicht bewusst angestrebt – haben können, wird schon daran deutlich, dass sie MacIntyre dafür kritisieren, utopische Anforderungen an tugendhaftes Verhalten gestellt zu haben. Sie halten so etwas prinzipiell für einen Fehler. Folglich darf man annehmen, dass sie diesen Schwachpunkt gerne vermieden hätten. (2) Damit stellt sich nun die Frage, wie sich dieses Problem lösen ließe – und ob es sich vielleicht sogar so lösen ließe, dass Bruni und Sugden einer solchen Lösung ihre Zustimmung geben könnten, weil die Lösungsidee ihre Argumentation – als konstruktive interne Kritik – nicht schwächer, sondern stärker macht. Hierzu möchte ich vorschlagen, am tugendethischen Begriff der Disposition anzuknüpfen. »Disposition« meint eine durch Gewohnheitsbildung erworbene oder – bei natürlicher Anlage – eine durch Gewohnheitsbildung stabilisierte und sogar verstärkte Einstellung oder Haltung. Die zugrunde liegende Vorstellung ist die einer erübten Tüchtigkeit. Allerdings erwirbt man Tugend nicht durch blindes und gedankenloses Training. Der Tugendethik geht es nicht um Konditionierung. Die Leitidee besteht vielmehr darin, dass beim Erwerb einer moralischen Disposition Übung mit Reflexion einhergeht. Der tugendhafte Bürger soll sich des sozialen Sinns vergewissert haben, den die Praxis entfaltet, deren telos er mit seinen Handlungen befördert. Damit ist Folgendes gemeint: Zur Tugend einer Person gehört nicht nur, die tugendhaften Handlungen auszuüben. Zur Tugend einer Person gehört auch, sich selbst und anderen im Bedarfsfall Auskunft darüber geben zu können, inwiefern die tugendhafte Handlung guten Gewissens ausgeübt werden kann, indem sie (a) zum eigenen Gedeihen, aber auch (b) zum Gedeihen der moralischen Praxis beiträgt, deren telos sie befördert, und inwiefern (c) diese moralische Praxis einen sozialen Sinn im gesellschaftlichen Kontext entfaltet. Man würde diese klassische Idee von Tugend gründlich missverstehen – und sie zu einem utopischen, d. h. realitätsfremden und sogar realitätsfeindlichen Ideal degenerieren lassen –, wenn man nun die Forderung erheben wollte, die reflektierte Intention zur Tugend müsse im Akt der tugendhaften Handlung präsent sein. Dies würde Denken und Handeln miteinander vermengen. Und das könnte nicht 113 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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gutgehen. Am klassischen Beispiel: Der tugendhafte Soldat muss in der konkreten Kampfsituation tapfer handeln und gerade nicht räsonnieren. Einerseits. Andererseits aber ist auch der tapferste Soldat nur dann tugendhaft, wenn er in der Vor- und Nachbereitung des Kampfes über sein Tun räsonniert. Der tapfere Soldat ist keine Kampfmaschine, sondern ein wehrhafter Bürger und als solcher ein zoon politikon. Wenn man die beiden Elemente des tugendhaften Dispositionserwerbs, nämlich Übung und Reflexion, nicht vermischt, sondern verbindet, wenn man sie nicht zur selben Zeit, sondern nacheinander anordnet, dann verschwindet der Widerspruch, der ja nur dadurch entsteht, dass man sich durch eine verirrte begriffliche Engführung zu der utopischen Forderung verleiten lässt, Denken und Handeln sollten uno actu stattfinden. Die Unterscheidung, auf die es hier ankommt, ist die zwischen »reflektierend handeln« und »reflektiert handeln«. Ersteres ist praktisch unmöglich. (Die meisten Menschen kommen ins Stolpern oder geraten aus dem Gleichgewicht, wenn sie während des Gehens darüber nachdenken, dass sie gehen und wie sie gehen.) Letzteres hingegen ist ein nicht nur erstrebenswertes, sondern auch realistisches Ideal. Es läuft darauf hinaus, dass man eine Handlung guten Gewissens durchführt, weil man über ihren Sinn bereits nachgedacht hat – ohne sich dadurch vom Handeln ablenken (oder gar abhalten) zu lassen, dass man während des Handelns (im Akt des Tuns, uno actu) moralische Reflexionen anstellt. Übertragen auf das zu lösende Problem bei Bruni und Sugden bedeutet dies, dass auch der Marktteilnehmer als tugendhafte Person Übung und Reflexion verbinden sollte. Das hieße dann freilich nicht, dass von ihm gefordert werden kann, dass er mit jedem Tauschakt zugleich auch die Besserstellung des Tauschpartners bewusst intendieren muss. Wohl aber kann von ihm gefordert werden, dass er im Bedarfsfall sich selbst und anderen mit wohl begründeten Argumenten darüber Auskunft geben kann, warum er guten Gewissens handelt: (a) inwiefern die Handlung ihm selbst nützt, also zu seinem eigenen Wohlergehen beiträgt; (b) inwiefern die Handlung seinen Tauschpartnern nützt, also auf reziproke Weise zu deren Wohlergehen beiträgt; (c) inwiefern die Handlung der Praxis des Marktes gemäß ist, d. h. im Dienst reziproker Besserstellung steht, und (d) inwiefern der Markt, an dem er mit seiner Handlung teilnimmt, als institutionalisierte Praxis wechselseitiger Vorteilsgewährung zur gesellschaftlichen Wohlfahrt(ssteigerung) beiträgt. 114 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Punkt (c) verdient noch eine kurze Erläuterung: Genau so, wie man von einem integren Vertragspartner erwarten darf, dass er nicht nur nicht gegen den Buchstaben, sondern auch nicht gegen den Geist des Vertrages verstößt, so darf man von einem tugendhaften Marktteilnehmer erwarten, dass er nicht die Praxis unterminiert, zu deren Förderung er moralisch aufgerufen ist. Das bedeutet im Klartext, dass ein tugendhafter Marktteilnehmer (i) auf die Übervorteilung der Marktgegenseite (durch Täuschen statt Tauschen) ebenso verzichtet wie auf (ii) unfaire Wettbewerbspraktiken, die die Konkurrenz ausbooten sowie auf (iii) jeden Versuch, den marktlichen Leistungswettbewerb durch Rent-Seeking (= Suche nach politisch gewährten Privilegien, also dysfunktionales »public ordering«) oder durch Kartellbildung (= geheime Preisabsprachen mit Konkurrenten, d. h. dysfunktionales »private ordering«) außer Kraft zu setzen. 4
Schritt IV Mit all diesen Vorarbeiten ist nun endlich der Boden für eine externe Kritik bereitet. Ich wechsle jetzt von der Binnen- zur Außenperspektive. Auch hier beschränke ich mich wieder auf einige wenige Aspekte, die ich für besonders relevant halte – und die zum eigenständigen Weiterdenken anregen könnten. (1) Zunächst zu den Stärken des Aufsatzes. Hier will ich vier Punkte hervorheben. Sie betreffen vor allem die erste Pointe der Ar-
Ich will den aus meiner Sicht entscheidenden Punkt noch einmal reformulieren: Bruni und Sugden reicht es nicht aus, dass ein Marktteilnehmer zur wechselseitigen Besserstellung (Win-Win) beiträgt. Vielmehr erklären sie es zur notwendigen Bedingung einer Markttugend, dass ein Marktteilnehmer die wechselseitige Besserstellung auch noch bewusst intendieren muss. Das ist problematisch, weil es strenggenommen unmöglich (= utopisch) ist, diese Forderung zu erfüllen. Deshalb ist zu überlegen, wie man mit dieser offenkundigen Schwäche umgeht: Nicht problematisch wäre es, die Forderung aufzustellen, dass man als Marktteilnehmer keine unfaire Übervorteilung der Tauschpartner (Win-Lose) anstreben darf. Ebenfalls nicht problematisch wäre es, die Forderung, Win-Win zu intendieren, nicht auf jeden einzelnen Handlungsakt, sondern – gleichsam eine Stufe höher – allgemein auf die Teilnahme an der Marktpraxis zu beziehen. Das entspricht zwar nicht dem exakten Wortlaut von Bruni und Sugden, trifft aber mit Sicherheit das, was sie innerhalb ihres Ansatzes konsistent vertreten können, und vielleicht trifft es sogar das, was sie mit ihrer utopisch verunglückten Formulierung eigentlich zum Ausdruck bringen wollten.
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gumentation von Bruni und Sugden (Abb. 2), also die tugendethische Zurückweisung der tugendethischen Marktkritik. • Bruni und Sugden gehen die Marktkritik frontal an. Sie setzen ihre Zurückweisung als eine interne Kritik der tugendethischen Literatur an. Metaphorisch ausgedrückt, packen sie damit den Stier bei den Hörnern. Gerade dadurch gelingt ihnen ein echtes Überbietungsargument! Denn so können sie zeigen, dass die konsistente Anwendung tugendethischer Kriterien zu ganz anderen Schlussfolgerungen zwingt, als es großen Teilen der Literatur bislang bewusst war. 5 • Ebenfalls zu den Stärken des Aufsatzes von Bruni und Sugden gehört der – wiederum als interne Kritik formulierte – Hinweis (BS 28, 42, 59 f.), dass die Übertragung traditioneller tugendethischer Argumente auf den Kontext des Marktes gelegentlich dazu führt, sich stillschweigend von der für die Tugendethik eigentlich konstitutiven Idee zu verabschieden, dass eine tugendhafte Handlung auch das eigene Wohlergehen fördern soll. Wenn man stattdessen von Marktakteuren fordert, sie sollten auf ihr Eigeninteresse verzichten und Opfer bringen, so ist dies aus einer genuin moralischen Sicht zu kritisieren. 6 Ein besonders markanter Beleg für diese argumentative Stärke ist die folgende Passage (BS 67, H. i. O.): »[E]ine adäquate Darstellung der Markttugend kann unmöglich die Auffassung vertreten, das von einer Person durch Markttransaktionen erzielte Einkommen entspreche einer Belohnung für die Ausübung einer Tugend in dem Sinne, wie ein Literaturpreis als Belohnung für künstlerische Spitzenleistungen angesehen werden kann. Eine Person kann nur in dem Maße erwarten, von Markttransaktionen zu profitieren, wie sie Leistungen bereitstellt, die ihre Tauschpartner zu dem Zeitpunkt bewerten, in dem sie sich zur Zahlung entschließen. Etwas anderes zu erwarten hieße, die Durchführung einer wechselseitigen Vorteilsgewährung zu erschweren. Aus diesem Grund besteht die Markttugend gerade darin, nicht zu erwarten, nach seinen ›Verdiensten‹ entlohnt zu werden, anderen Menschen ihr ›unverdient‹ zustande gekommenes Markteinkommen nicht zu verübeln, und (wenn man vom Glück begünstigt war) nicht zu verkennen, dass der eigene Lohn einem eigenen ›Verdienst‹ weder entspringt noch entspricht.« 6 Eine mustergültige Fassung dieses ethischen Arguments gegen die (un-)moralische Vorstellung der Selbst-Aufgabe und Selbst-Opferung findet man bei Friedrich Nietzsche. Er formuliert im fünften Buch seines Bandes »Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile« – Nietzsche (1881; S. 327, H. i. O.) – unter der Überschrift »Seinen Dämon nicht in den Nächsten fahren lassen!« folgenden Aphorismus Nr. 516: »Bleiben wir immerhin für unsere Zeit dabei, dass Wohlwollen und Wohltun den guten Menschen ausmache; nur lasst uns hinzufügen: ›vorausgesetzt, dass er zuerst gegen sich selber wohlwollend und wohltuend gesinnt sei!‹ Denn ohne Dieses – wenn er vor sich flieht, sich hasst, sich Schaden zufügt – ist er gewiss kein guter 5
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Ganz auf dieser Argumentationslinie liegt eine weitere Stärke des Aufsatzes von Bruni und Sugden, auch wenn dieser Punkt nicht voll ausgearbeitet ist, sondern nur vorsichtig angedeutet wird. Sie erklären es zur Aufgabe der Tugendethik, zur Versöhnung der Menschen mit ihrer moralischen Praxis beizutragen. Deshalb halten sie es für einen Missstand, dass führende Vertreter der traditionellen Tugendethik ihrer eigentlichen Bestimmung nicht gerecht werden. Hierzu liest man (BS 23): Sie »kommen offenbar mit der Aufgabe nur schwer zurecht, moralisches Gewicht in den allgemein nützlichen Beschäftigungen zu entdecken, mit denen die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten.« Hier wird sehr schön deutlich, wie Bruni und Sugden der Diagnose eines moralischen Marktversagen ihre Diagnose eines Versagens ethischer Theorie entgegensetzen. Radikal zugespitzt, besagt ihr Argument, dass die tugendethische Marktkritik nicht nur ökonomisch, sondern vor allem auch philosophisch dilettiert. Eine weitere Stärke des Aufsatzes von Bruni und Sugden besteht darin, dass sie eine wichtige Differenzierung vornehmen, mit der sie für interne Konsistenz sorgen und sich gewissermaßen selbst treu bleiben, indem sie auf den für eine moderne Gesellschaft signifikanten Pluralismus von Lebensbereichen und Tugenden hinweisen. Sie schreiben (BS 70, H. i. O.): »Wir betonen …, dass Tugenden immer nur mit Bezug auf eine bestimmte Praxis definiert werden können. Die Eigenschaften, die eine am Markt teilnehmende Person als moralisch gut auszeichnen, müssen nicht für alle Bereiche des menschlichen Lebens als wünschenswert bewertet werden. Anzuerkennen, dass es Markttugenden gibt, ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass der Markt der einzige moralisch relevante Lebensbereich wäre; übri-
Mensch. Dann rettet er sich nur in die Anderen, vor sich selber: mögen diese Anderen zusehen, dass sie nicht schlimm dabei fahren, so wohl er ihnen anscheinend auch will! – Aber gerade Dies: das ego fliehen und hassen und im Anderen, für den Anderen leben – hat man bisher, ebenso gedankenlos als zuversichtlich, ›unegoistisch‹ und folglich ›gut‹ geheißen!« – Der klassischen Tugendethik ging es stets darum, dass die Person in der Gemeinschaft nicht verkümmert, sondern gewissermaßen – um es in der typischen Pflanzenmetaphorik auszudrücken – in der Gemeinschaft blüht und gedeiht und so zur vollen Entfaltung gelangt. Das Ideal ist nicht Ich-Schwäche, sondern Ich-Stärke.
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gens auch nicht mit der Behauptung, dass es neben den Markttugenden nicht noch weitere Tugenden gäbe.« Vielleicht ist es angebracht, diesen vierten Punkt noch etwas näher zu erläutern. Ich interpretiere Bruni und Sugden wie folgt: Für sie ist es klar – und sogar selbstverständlich –, dass es kategorial verfehlt wäre, wollte man von Eltern erwarten oder gar fordern, dass sie die Versorgung ihres Kleinkinds mit Nahrung an dem marktlichen Prinzip von Leistung und Gegenleistung ausrichten. Dies würde dem Prinzip familialer Fürsorge widersprechen. Ebenso klar – aber leider nicht ebenso selbstverständlich – ist aus ihrer Sicht der Analogieschluss: dass es kategorial verfehlt wäre, wollte man von Marktteilnehmern erwarten, dass sie sich wie Familienmitglieder behandeln. Übersetzt in die Sprache des »ordonomischen« Forschungsprogramms, lässt sich diese Botschaft vielleicht noch klarer formulieren – und zum Denkanstoß zuspitzen: Bruni und Sugden vermeiden eine falsche Einseitigkeit, indem sie einerseits vor einer systemischen Kolonialisierung der Lebenswelt und andererseits – strikt analog! – vor einer lebensweltlichen Kolonialisierung des Systems warnen. 7 Die traditionelle Tugendethik hat eine intellektuelle Schlagseite, weil sie sich nur auf die erste Gefahr kapriziert und dabei übersieht, dass sie – mit ihren an Marktakteure gerichteten Moralappellen und Schuldzuweisungen – zur zweiten Gefahr aktiv beiträgt. (2) Nun zu den Schwächen des Aufsatzes. Auch hier will ich vier Punkte hervorheben. Sie betreffen vor allem die zweite Pointe der Argumentation von Bruni und Sugden (Abb. 2), also ihre moralische Verteidigung des Marktes. • Auch wenn man den Autoren zugutehalten muss, dass sie den Markt als ein Geflecht simultaner Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen charakterisieren, fällt doch auf, dass sie in ihren Ausführungen allein auf Individuen abstellen und damit die Rolle von Organisationen weitgehend ausblenden. Ebenfalls unterbelichtet bleibt, dass von Marktakteuren ganz unterschiedliche Tugenden erwartet werden können, je nachdem, ob sie sich im
Zum ordonomischen Forschungsprogramm vgl. Pies (2009a). Zur Diagnose, dass die moderne Gesellschaft unter zwei spiegelbildlichen Pathologien der Moderne leidet, vgl. Pies (2011): Die systemische Kolonialisierung der Lebenswelt neigt zum Zynismus, die lebensweltliche Kolonialisierung des Systems zum Moralismus. Beiden Pathologien kann man ordonomisch entgegenwirken mit Vorschlägen zur (Re-)Formierung der Ordnungen des Denkens und Handelns. Vgl. hierzu Pies (2016a).
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Markt als Unternehmen/Manager, als abhängig Beschäftigte oder aber als Konsumenten betätigen. Hier hätte man sich eine stärker differenzierte Argumentation vorstellen können. Am Beispiel: Die Tugenden eines Buchhalters sind – sachlich bedingt – ganz andere als die einer Innovationsmanagerin, und wenn ich im Supermarkt einen Schokoriegel für mich einkaufe, muss ich – sachlich bedingt – in meinem Kaufverhalten ganz andere Tugenden an den Tag legen, als wenn ich mir (für meine Familie) ein Haus anschaffen möchte. Ähnliches gilt auch für die radikale Absage, die Bruni und Sugden all denen erteilen, die eine marktliche Selbstregulierung für nicht unmöglich halten, wenn es darum geht, das Problem externer Effekte in den Griff zu bekommen. Hier hätte man sich eine differenziertere Argumentation vorstellen können. Die Autoren blenden all das aus, was in der neueren Literatur zu Branchenstandards und anderen New-Governance-Initiativen diskutiert wird. Dieser zweite Kritikpunkt hängt freilich eng mit dem ersten zusammen: Bruni und Sugden lassen in ihrem Aufsatz vollkommen unberücksichtigt, inwiefern sich die Erwartungen an tugendhafte Unternehmen (als Organisationen!) historisch verändert haben und weiter verändern, wovon die internationale Diskussion zu »Corporate Social Responsibility« und »Corporate Citizenship« beredtes Zeugnis ablegt. Auch eine dritte Schwäche liegt ganz auf dieser Linie. Bruni und Sugden begnügen sich mit einer – quasi statischen – Bestandsaufnahme exemplarischer Markttugenden. Aber sie unterlassen es zu fragen, wie diese Markttugenden im historischen Zeitablauf entstehen, stabilisiert, verstärkt und konstruktiv weiterentwickelt werden können. Den ganzen Fragekomplex zur »Genealogie der Moral« sparen sie aus. Ähnlich wie große Teile der Literatur es versäumen, den (externen!) Ursprüngen »intrinsischer« Motivation auf den Grund zu gehen, bleibt hier ungefragt, wo die Markttugenden eigentlich herkommen und wie sie gegebenenfalls gezielt gefördert werden können. Um es nochmals zu betonen: Diese Frage müsste nicht nur auf natürliche Personen, sondern auch auf juristische Personen bezogen werden. In der modernen Wirtschaft geht es um die – gesellschaftlich zu fördernde – Tugendbildung von Individuen und von Organisationen. Aber die Leitfrage der (ordonomischen) Unternehmensethik, durch welche Governance-Vorkehrungen eine Organisation zu 119 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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einem moralisch integren Akteur avancieren kann, wird bei Bruni und Sugden vollkommen ausgeblendet. 8 • Eine vierte Schwäche kommt hinzu. Sie betrifft die Reichweite und Tragfähigkeit der Argumentation dieses Aufsatzes: Bruni und Sugden wollen ja nicht nur bestimmte Formen tugendethischer Marktkritik als verfehlt zurückweisen. Sie wollen zudem den Markt als Institution moralisch verteidigen (BS 1, 3, 69, 70). 9 Dabei übersehen sie jedoch, dass eine rein tugendethische Argumentation dafür nicht ausreicht. Dieser Punkt ist so wichtig, dass er eine etwas ausführlichere Erläuterung verdient. Die Überlegungen hierzu will ich in drei Schritten entwickeln. Erster Schritt: Ich greife das klassische Beispiel des tugendhaften Soldaten wieder auf. Und ich unterstelle – for the sake of argument –, dass es möglich ist, den Krieg als Praxis mit eigenem telos zu kennzeichnen und von dort aus Tugenden – wie beispielsweise die Tapferkeit – als diesem telos zugehörig und es fördernd zu beschreiben. Zudem ist es möglich, soldatentypische Gemeinschaftserlebnisse in den blühendsten Farben (und unter Verwendung moralischer Metaphorik) zu beschreiben – als Kameradschaft und sogar Waffenbrüderschaft bis hin zum überwältigenden Solidaritätsgefühl einer durch gemeinsame Lebensgefahr zusammengeschworenen Gruppe von Schicksalsgefährten, die mutig bis in den Tod hinein (unter Einschluss der edelsten Selbstaufopferung) wechselseitig füreinander einstehen. Was aber folgt daraus für die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Praxis? Meine Antwort: Ohne weiteres – nichts! 10 Zur ordonomischen Unternehmensethik vgl. Pies (2009b). Dies ist das Betätigungsfeld der ordonomischen Wirtschaftsethik. Vgl. Pies (2009a). 10 Um nachdenklich zu stimmen, verweise ich an dieser Stelle nochmals auf Friedrich Nietzsche. Er formuliert im fünften Buch seines Bandes »Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile« – Nietzsche (1881; S. 356) – unter der Überschrift »Auf einen Feind los« folgenden Aphorismus Nr. 557: »Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind losmarschiert!«. Dieser Aphorismus ist für eine moderne Moraltheorie in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich: (a) Er dokumentiert, wie sich die Ethik von ihrem Gegenstand distanziert. (b) Er zeigt, dass die Ethik ihren distanzierten Standpunkt einnimmt, um einen klare(re)n Blick darauf zu werfen, wie sich das moralische Bewusstsein selbst wahrnimmt. (c) Er formuliert eine ethische Kritik der Moral. Kernpunkt dieser Kritik ist die Warnung, dass die moralische Wahrnehmung (Selbst-)Täuschungen unterliegen kann, die unmoralische Konsequenzen nach sich zu ziehen vermögen. Mit dieser Warnung verbindet sich eine eminent wichtige ethische Erkenntnis. Sie lautet: Sich emotional in die Hochstim8 9
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Zweiter Schritt: Ich verallgemeinere den Befund. Es gibt zahlreiche soziale Praktiken, die wir für uns heute allgemein ablehnen – nota bene: mit guten Gründen ablehnen –, obwohl sie sich stets als moralische Phänomene beschreiben lassen – und historisch auch so empfunden und argumentativ verteidigt worden sind. Man denke beispielsweise an die aristotelische Vorstellungswelt und ihre Einstellung zu Frauen, zu Sklaven, zu Fremden, zu Armen. All dies kommt uns heute befremdlich (und sogar moralisch abstoßend) vor. Oder man denke an die Stammespraktiken des Kannibalismus und der Menschenopfer. Oder an die zur Gewalteskalation neigenden Kulturen der Ehre (und an den für sie typischen Brauch der Kollektivstrafe, etwa der Blutrache; und an die Kultur des Duellierens; und an die Kultur der Ehrenmorde, vor allem an weiblichen Familienmitgliedern). 11 Oder an die nicht unter einem Mangel, sondern unter einem Übermaß an Moralempfinden leidenden Gruppen, die in ideologischer Verblendung (= mit gutem Gewissen!) zu Kreuzzügen, Pogromen und Hexenverfolgungen ebenso fähig waren wie zur frommen Verfolgung Andersgläubiger. Oder man denke daran, dass jede kriminelle Organisation (wie etwa die Mafia) sich als Gemeinschaft mit charakteristischer Gruppenmoral und einem entsprechenden Verhaltenskodex (»omertà«) beschreiben lässt. Oder daran, dass sogar Terroristen dazu tendieren, sich selbst als moralische Akteure zu empfinden, weil sie davon beseelt sind, sich in den Dienst einer Gemeinschaft zu stellen und deren (vermeintliche) Feinde zu bekämpfen. Dritter Schritt: Genauso wenig, wie wir heutzutage den Krieg befürworten, weil er Soldaten Gelegenheit gibt, die Tugend der Tapferkeit zu üben oder das Gemeinschaftsgefühl der Kameradschaftlichkeit auszuleben, genauso wenig tolerieren wir die kriminelle Praxis der Mafia, weil sie ihren Angehörigen die Möglichkeit verschafft, dem Ideal der »Ganovenehre« nachzustreben. Analog gilt: Den Markt (allein) damit zu rechtfertigen, dass er eine geeignete Praxis zur Einund Ausübung von Markttugenden darstellt, ist noch kein überzeugendes Argument zu seiner moralischen Verteidigung. Damit will ich
mung zu versetzen, guten Gewissens zu handeln, ist keine hinreichende Bedingung dafür, dass das eigene Verhalten auch von (allen) anderen als moralisch qualifiziert werden kann. Empirisch ist immer wieder zu beobachten: Noch die größten Übeltäter halten sich selbst nicht für böse, sondern für gerecht(fertigt). 11 Zu diesem ganzen Fragenkomplex vgl. Appiah (2010).
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sagen: In der argumentativen Gedankenkette von Bruni und Sugden gibt es ein »missing link«. Da fehlt ein Glied in der Kette. Bruni und Sugden konzentrieren sich – durchaus mit Erfolg – auf den inneren Zusammenhang zwischen dem telos des Marktes und den daraus abgeleiteten Markttugenden, aber sie vernachlässigen den Nachweis, dass die Praxis des Marktes der gesellschaftlichen Wohlfahrt zuträglich ist. Eine moralische Verteidigung des Marktes setzt den Nachweis voraus, dass es ein vitales gesellschaftliches Interesse daran gibt, die Praxis des Marktes zu kultivieren – also etwa ein prinzipielles MarktInteresse auch jener Bürger, die an einem bestimmten Markt selbst gar nicht teilnehmen wollen. Einen solchen Nachweis aber führen Bruni und Sugden nicht. Sie streben ihn noch nicht einmal an. Das dürfte daran liegen, dass sie es versäumt haben, sich über die systematisch begrenzte Reichweite und Tragfähigkeit tugendethischer Argument(ation)e(n) intellektuelle Klarheit zu verschaffen. 12
Fazit Die methodischen Hinweise zur Textlektüre, Textbearbeitung und Textkritik sowie ihre beispielhafte Illustration sollen vor Augen führen, wie man sich in die formale Struktur und inhaltliche Argumentation eines anspruchsvollen Aufsatzes einarbeiten kann. Hierbei kommt es allerdings nicht so sehr auf die Lösung als vielmehr auf das Problem an: Es geht vor allem darum, zunächst einmal überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Lesegewohnheiten des Alltags nicht ausreichen, um einem akademischen Text gerecht zu werden, der auf mehreren Ebenen argumentiert und so eine enorme Komplexität entfaltet. Hat man dieses Problem erst einmal klar im Blick, gibt es durchaus unterschiedliche Möglichkeiten zur Problemlösung. Insofern ist das hier durchlaufene Verfahren keineswegs alternativlos. Zudem ist es auch in einem weiteren Sinne nur als exemplarisch zu verstehen, denn es lässt Raum für subjektive Differenzierungen, die vom eige-
In der Literatur gibt es zahlreiche – durchaus unterschiedliche – Versuche, genau die Argumentation zu liefern, die Bruni und Sugden schuldig bleiben. Für einen Überblick vgl. z. B. Pies (2015) sowie (2016b), (2016c), (2016d), (2016e), (2016f) und (2016g). Für eine spezifisch ordonomische Argumentation vgl. Pies (2009a).
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nen Erkenntnisinteresse und Bildungshintergrund geprägt sind und insofern helfen, sich nicht nur über die eigene Interpretation des Textes, sondern auch über die dabei in Anspruch genommene Perspektive – mitsamt ihrem spezifischen Fokus und ihren blinden Flecken – intellektuell Rechenschaft abzulegen. Wer die vier Schritte gewissenhaft absolviert, kann also auch zu durchaus anderen Schlussfolgerungen gelangen. Insgesamt sollte gezeigt werden, dass die Erarbeitung eines eigenständigen und inhaltlich fundierten Urteils über die Argumentation des Textes nicht nur (a) Mühe erfordert, sondern auch (b) der Mühe wert ist. Ich jedenfalls darf freimütig mitteilen, dass ich den Aufsatz von Bruni und Sugden (z. B. als Mitübersetzer) mehrfach besonders intensiv gelesen hatte und dass sich mein Verständnis dieses Aufsatzes durch den nachträglichen Vollzug der vier Schritte dieser methodischen Handreichung zur Textinterpretation gleichwohl nochmals gründlich weiterentwickelt und stellenweise sogar gewandelt hat. Das liegt auch daran, dass die sorgfältige Trennung von interner und externer Kritik dazu anregt, nicht nur auf den Text zu reflektieren, sondern auch auf die eigenen Beurteilungsmaßstäbe, die man an den Text heranträgt. Um es bildlich auszudrücken: Die methodische Handreichung leitet dazu an, nicht nur das beleuchtete Objekt besser zu erkennen, sondern auch sich des eigenen Scheinwerfers deutlicher bewusst zu werden sowie der alternativ möglichen Blickwinkel, welche Licht und Schatten der zu analysierenden Argumentation jeweils unterschiedlich hervortreten lassen. Vor diesem Hintergrund gelange ich zu folgender subjektiven Einschätzung: • Der Text von Bruni und Sugden erläutert auf geradezu vorbildliche Weise die methodische Vorgehensweise der tugendethischen Marktkritik. • Ihr Aufsatz kritisiert die tugendethische Literatur mit dem Argument, dass sie den methodischen Fehler begeht, den Markt nicht als Praxis ernstzunehmen. Bruni und Sugden erheben den Vorwurf, dass diese Literatur die in anderen Lebensbereichen einund ausgeübten Tugenden zum Maßstab erhebt, an dem Markthandlungen gemessen werden, um diese dann moralisch abzuwerten oder gar ganz abzulehnen. • Ihr Aufsatz hellt nicht nur den blinden Fleck der Literatur auf. Er korrigiert das Versäumnis auch. Bruni und Sugden entwerfen in den Grundzügen ein Argument, wie im Hinblick auf das telos 123 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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wechselseitiger Vorteilsgewährung diverse Markttugenden bestimmt werden können. • Gestützt auf diese Markttugenden, weisen Bruni und Sugden die tugendethische Marktkritik in wichtigen Punkten entschieden zurück. Darin liegt die erste Pointe ihres Textes. Diese Argumentation verdient Beachtung – unabhängig davon, ob man ihr letztlich zustimmen mag oder nicht. Aber für mich persönlich kann ich sagen, dass ich es sehr überzeugend finde, wie Bruni und Sugden den Nachweis führen, dass die tugendethische Marktkritik von ihrem methodischen Ansatz her kategorial verfehlt ist. Das sollte den Philosophen zu denken geben! • Weniger überzeugend finde ich die zweite Pointe. Die von Bruni und Sugden angestrebte moralische Verteidigung des Marktes bleibt aus meiner Sicht wirtschaftsethisch defizitär. Sie unterschätzen m. E. die begrenzte Reichweite und Tragfähigkeit ihrer tugendethischen Argumentation. Hier bleiben zahlreiche wichtige Fragen nicht nur unbeantwortet, sondern ungestellt. Denn m. E. müsste nicht nur gezeigt werden, dass der Markt eine moralische Praxis ist. Gezeigt werden müsste auch, warum es allgemein wünschenswert ist, diese moralische Praxis gesellschaftlich einzurichten und nachhaltig zu kultivieren – im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen. Ein Verweis auf die Ehrbarkeit der Kaufleute und andere Tugenden der Marktteilnehmer reicht dazu nicht aus. Aus meiner Sicht ist Bruni und Sugden – trotz mancher Mängel im Aufsatz – das enorm wichtige Verdienst zu bescheinigen, einen höchst originellen, den Dialog zwischen Philosophen und Ökonomen anregenden Beitrag geleistet zu haben, der der Diskussion um die moralische Legitimation der Marktwirtschaft wichtige Impulse zu geben vermag. Besonders interessant finde ich, dass ihr Aufsatz geeignet ist – sei es unmittelbar, sei es mittelbar: durch die Gegenargumente, zu denen er provoziert –, das Niveau der Diskussion in Wissenschaft und Öffentlichkeit anzuheben. Unabhängig davon, ob sie zum Zuspruch oder zum Widerspruch motivieren: Von den zum eigenständigen Weiterdenken provozierenden Überlegungen, die Bruni und Sugden hier vorgelegt haben, können beide Seiten lernen – die Befürworter ebenso wie die Kritiker der Marktwirtschaft, so dass diese gesellschaftspolitisch höchst relevante Auseinandersetzung in Zukunft intelligenter, sachlicher und ertragreicher geführt werden kann.
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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik
Literatur Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Kitcher, Philip (2011): The Ethical Project, Cambridge, Mass. und London. Nietzsche, Friedrich (1878–86): Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Am 17. August 2016 im Internet unter: http:// www.nietzschesource.org/#eKGWB/MA-II Nietzsche, Friedrich (1881): Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. Am 17. August 2016 im Internet unter: http://www.nietzschesource. org/facsimiles/DFGA/M Pies, Ingo (2009a): Moral als Heuristik. Ordonomische Schriften zur Wirtschaftsethik, Berlin. Pies, Ingo (2009b): Moral als Produktionsfaktor. Ordonomische Schriften zur Unternehmensethik, Berlin. Pies, Ingo (2011): System und Lebenswelt können sich wechselseitig »kolonisieren«! – Eine ordonomische Diagnose der Moderne, in: Lino Klevesath und Holger Zapf (Hrsg.): Demokratie – Kultur – Moderne. Perspektiven der Politischen Theorie, München, S. 281–298. Pies, Ingo (Hrsg.) (2015): Der Markt und seine moralischen Grundlagen. Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Jeff R. Clark und Dwight R. Lee, Freiburg und München. Pies, Ingo (2016a): Individualethik versus Institutionenethik? – zur Moral (in) der Marktwirtschaft, in: Gerhard Minnameier (Hrsg.): Ethik und Beruf: Interdisziplinäre Zugänge, Bielefeld, S. 17–39. Pies, Ingo (2016b): Walter Euckens Ordnungspolitik, in: ders.: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Von Karl Marx bis Milton Friedman, Tübingen, S. 195–230. Pies, Ingo (2016c): F. A. von Hayeks konstitutioneller Liberalismus, in: ders.: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Von Karl Marx bis Milton Friedman, Tübingen, S. 231–265. Pies, Ingo (2016d): Ludwig von Mises’ ökonomische Argumentationswissenschaft, in: ders.: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Von Karl Marx bis Milton Friedman, Tübingen, S. 453–497. Pies, Ingo (2016e): William Baumols Markttheorie unternehmerischer Innovation, in: ders.: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Von Karl Marx bis Milton Friedman, Tübingen, S. 498–535. Pies, Ingo (2016f): Edmund Phelps’ strukturalistische Ökonomik, in: ders.: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Von Karl Marx bis Milton Friedman, Tübingen, S. 536–569. Pies, Ingo (2016g): Joseph A. Schumpeters Theorie gesellschaftlicher Entwicklung, in: ders.: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Von Karl Marx bis Milton Friedman, Tübingen, S. 570–605.
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III. Kommentare
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes* »Indessen gibt es vielleicht kein eigenes Bestes ohne HaushalAristoteles tungskunst und Staatskunst.« 1
Einleitung: Der Markt und die Tugenden Eine Diskussion über die tugendethischen Aspekte des Marktes kann mit mehreren Zielsetzungen geführt werden. – Wir können behaupten, dass Märkte Tugenden erodieren lassen. Das Erosions-Argument lautet: Weil Märkte den Einzelnen dazu ermuntern, sein Eigeninteresse ohne besondere Rücksichten auf die Gemeinschaft geltend zu machen, würden allmählich diejenigen Verhaltensweisen verschwinden, von denen die Funktionsfähigkeit von Gemeinschaften abhängt. Kurz: Märkte sägen am Ast, der die Gemeinschaft zusammenhält. – Wir können andererseits behaupten, dass Märkte Tugenden stützen oder sogar aufbauen. Das Unterstützungs-Argument lautet: Märkte zwingen durch ihre institutionelle Struktur dazu, im Interesse des Anderen zu handeln; täte man es nicht, verlöre man Kunden und schädigte sich selbst. Daher müssen wir uns um die Bedürfnisse anderer Menschen Gedanken machen, wenn wir wollen, dass sie freiwillig zu uns kommen. Kurz: Märkte stärken den Ast, auf dem wir sitzen. – Wir können ferner behaupten, dass Märkte als soziales System andere Vor- und Nachteile aufweisen, als sie mit tugendethischen Mitteln beurteilt werden können. Das System-Argument lautet: Unabhängig davon, was der Einzelne tut, will oder soll, können Märkte als Institution unbeabsichtigte Nebenwirkungen entfalten, für deren Bewertung tugendethische Mittel nicht ausrei-
* Ich danke den Teilnehmern der Konferenz in Wittenberg, insbesondere Gerhard Minnameier, Michael Schramm, Richard Sturn und Matthias Will, für wertvolle kritische Hinweise. 1 NE, 1142a9. In heutige Sprache übersetzt: Es gibt wohl keine Ethik ohne Ökonomik und Politik.
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes
chen. Eine solche positive Nebenwirkung wäre etwa die, dass Märkte Bürgerkriegen vorbeugen: Sie verlagern die Auseinandersetzung darüber, wer was und wie viel bekommt, von der Ebene des Schlachtfeldes auf die Ebene friedlichen Wettbewerbs. 2 Eine negative Nebenwirkung dagegen wären etwa die ökologischen Folgewirkungen des mit dem Markt verbundenen innovativen Verhaltens des Menschen. Kurz: Warum und wozu man Märkte braucht, kann nicht allein mit tugendethischen Mitteln begründet werden; wohl aber kann man zeigen (wie Bruni und Sugden es erfolgreich getan haben), dass Märkte, wenn sie denn einmal existieren, durchaus einer tugendethischen Beurteilung offenstehen. Es ist offensichtlich, dass wir derartige Behauptungen nicht ohne umfassende empirische Forschung beantworten können. Denn selbstverständlich lassen sich immer bestätigende Einzelbeispiele für jede der drei Behauptungen finden; aber auch die Liste der jeweiligen Gegenbeispiele ließe sich dann fast beliebig verlängern. Daher geht es bei einer ernsthaften empirischen Untersuchung nicht um eine apologetische, sondern um eine wissenschaftliche Betrachtungsweise: Gerade als Handelnde wollen und müssen wir wissen, wie es um die empirischen Randbedingungen und Folgewirkungen unseres Tuns wirklich bestellt ist. Und hier lohnt ein erneuter Blick auf Aristoteles, den wir ja gemeinhin als ›Begründer‹ der ›Tugendethik‹ ansehen. Dieser Beitrag soll zeigen, dass Aristoteles weniger daran interessiert war, abstrakte Ratschläge zu erteilen, wie der Einzelne sich verhalten sollte, wenn er ein ›guter Mensch‹ sein möchte, sondern eher darüber forschte, auf welche Weise Menschen sich zu Gemeinschaften zusammenfinden und welche Verhaltensweisen nützlich sind, wenn man sich für ein bestimmtes kollektives Ziel entschieden hat. Hier soll also auf ein ursprüngliches Verständnis von Tugendethik zurückgegangen werden: In ihr ging es weniger um die Frage »Wie werde ich ein guter Mensch?«, sondern um die Frage »Wie müssen wir uns verhalten, wenn wir uns ein bestimmtes Ziel gesetzt haben?«. Es geht hier also um eine technische, nicht um eine normative Lesart der aristotelischen Ethik.
Vgl. dazu das besonders allgemein verständliche Buch von Usher (1983) und Abschnitt 3 unten.
2
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Betrachtet man vor diesem Hintergrund den lehrreichen und bahnbrechenden Aufsatz von Bruni und Sugden (2013, 2017), rücken drei Fragen in den Mittelpunkt: – Sind aus aristotelischer Sicht tugendethische Betrachtungen universell gültig? – Ist die aristotelische Tugendethik deskriptiv oder normativ? – Gibt es Systemeigenschaften der Institution ›Markt‹, die nicht allein tugendethisch beschrieben und beurteilt werden können?
1.
Tugendethik und Staatsverfassung
Die Nikomachische Ethik des Aristoteles (im Folgenden: NE) ist ein Lehrwerk mit pädagogischem Anspruch. 3 Darin geht es nicht um das, was ist, sondern um das, was sein soll. Allerdings geht es um diese Frage in einer besonderen Weise. Fragen wir zunächst danach, was die Formulierung ›sein soll‹ nicht bedeutet. Erstens bedeutet sie nicht, dass das, was ist, Ergebnis unseres Wünschens, Wollens oder gar Forderns sein könnte. In heutiger Sprechweise ausgedrückt: Die Erkenntnisse der Wissenschaften gelten unabhängig davon, ob wir sie begrüßen, ablehnen oder trostreich finden – auch wenn sie beispielsweise besagen, dass die Welt als Ganze endlich ist oder wir Menschen mit den heutigen Affen gemeinsame Vorfahren haben. Während im mythischen Weltempfinden der Bereich des Seins mit dem des Sollens noch zusammenhängt (»Möge Zeus euch mit seinem Blitz zerschmettern!«), trennt Aristoteles erstmals deutlich die Sphäre des Seins von der des menschlichen Sollens und Wollens und bringt damit die Ausdifferenzierung des westlichen Denkens in Naturwissenschaften, Ethik, Politik und praktische Philosophie einen wesentlichen Schritt voran. Mit der Betrachtung des Sollens und Wollens betreten wir den Bereich des menschlichen Handelns. Während nach Aristoteles die Wissenschaft als Bereich der theoretischen Rationalität das ›Seiende‹ erforscht, nämlich ›das, was nicht anders sein kann‹, geht es in der praktischen Rationalität um den Bereich, in dem alles anders sein kann, als wir es beobachten. Wie ist das zu verstehen? Die NE besteht aus einer Sammlung von Vorlesungsmanuskripten. Es ist wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass sich der Name des Buches von Aristoteles auf seinen Sohn Nikomachos bezieht. Vgl. dazu Höffe (1995; S. 6).
3
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes
Im Gegensatz zur Natur, in der es nach aristotelischem Verständnis nicht anders sein kann, als es ist (ein fallender Stein strebt immer zu seinem ›natürlichen Ort‹, nämlich nach ›unten‹), können Menschen immer anders handeln, als sie es gerade tun. Modern gesprochen: Menschliches Handeln weist Freiheitsgrade auf. Wir können beispielsweise ein Buch lesen oder fernsehen; wir können das Buch gründlich lesen oder nur durchblättern; Sie können kurze Zeit, aber auch längere Zeit in diesem Aufsatz lesen. Menschen haben also immer Alternativen – und das konstituiert den Bereich der menschlichen Freiheit. Was genau sie dann tun, welche Alternative sie also realisieren, hängt für Aristoteles vom Zweck der Handlung, vom Ziel ab, das sie jeweils verfolgen. Analoges gilt nach seiner Auffassung auch für eine Gemeinschaft. Auch sie stehe vor Alternativen, wie und zu welchem Zweck sie ihr Zusammenleben organisieren will, und auch sie müsse sich für eine bestimmte dieser Alternativen entscheiden. Diese Entscheidung fällt in einer Gemeinschaft dadurch, dass sie sich über die Vorzugswürdigkeit bestimmter Alternativen vernünftig verständigt: »Praktische Rationalität ist nicht nur der Alternativen mächtig, sondern zugleich zu einer von ihnen als einem Gut entschieden. Eine Auffassung des Guten aber bildet sich der Mensch nach Aristoteles niemals mit sich allein, sondern nur im Austausch mit anderen. Deshalb ist der Mensch, insofern er rational handelt, auch ein genuin politisches, d. h. in Kategorien der Gemeinschaftlichkeit denkendes Wesen.« 4
Dabei geht es idealerweise nicht darum, unsere jeweils eigenen Vorstellungen vom »Guten« mit Tricks und Propaganda gegen die anderen durchzusetzen, sondern darum, mit anderen das für alle »Gute und das Beste« (NE 1094a22) herauszufinden. Zum einen geschieht das dadurch, dass wir unsere moralischen Begriffe klären. Was meinen wir beispielsweise, wenn wir von ›Tugenden‹ sprechen? Zum anderen gilt es, im Bereich der praktischen Philosophie allgemeine Sätze aufzustellen und sie in einen durchsichtigen Begründungszusammenhang zu bringen. Rational begründetes Handeln folgt für Aristoteles aus Grundsätzen, aus denen sich Antworten auf moralisch bedeutsame Fragen ableiten lassen, die in der jeweiligen Gemeinschaft für wichtig gehalten werden.
4
Buchheim (1999; S. 140; H. i. O.). Vgl. auch Priddat (1989).
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So gesehen stellt der antike Tugendethiker keine Forderungskataloge auf, sondern untersucht Tugenden in analytischem und instrumentellem Sinne. Wenn bestimmte Tugenden zum Funktionieren einer Gemeinschaft beitragen; wenn man an einem gelingenden Leben interessiert ist; und wenn die Gemeinschaft an ihrer Stabilität (modern: Nachhaltigkeit) interessiert ist – dann sollte sie sich darum kümmern, dass ihre Mitglieder auch entsprechende charakterliche Dispositionen (›Tugenden‹) ausbilden. Wenn seine oben zitierte Voraussetzung gilt, dass Menschen eine Auffassung des Guten aber »niemals mit sich allein, sondern nur im Austausch mit anderen« bilden, bedeutet das zum anderen: Moralische Ideale wie die Tugenden lassen sich nicht unabhängig von der geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation begründen, in der sich die Menschen befinden. Das Bemühen um eine in diesem Sinne angemessene Ethik ist für Aristoteles von grundsätzlicher gesellschaftlicher Bedeutung. Er schreibt: »Allem Anschein nach gehört es [das Bemühen um eine angemessene Ethik, G. E.] der maßgebendsten und im höchsten Sinne leitenden Wissenschaft an, und das ist offenbar die Staatskunst. Sie bestimmt, welche Wissenschaften oder Künste und Gewerbe in den Staaten vorhanden sein, und welche und wie weit sie von den Einzelnen erlernt werden sollen.« 5
Diese historisch einflussreiche Auffassung von der gemeinschaftsrelativen Gültigkeit der Tugenden kommt sogar noch in den Schriften zum Ausdruck, die im marxistisch-leninistischen Machtbereich nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden. Wir lesen dort beispielsweise: »Die Begründer des Marxismus-Leninismus lehrten, dass die Moral eine historische Kategorie ist. Es gibt keine Moral, die für alle Zeiten und Völker taugt, und es kann eine solche Moral auch nicht geben. Mit der Veränderung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse ändern sich auch die Regeln für den Umgang der Menschen miteinander, die Regeln für ihr Verhalten in der Gesellschaft. […] Die Erziehung des Sowjetvolkes im Geiste der kommunistischen Sittlichkeit ist untrennbar verbunden mit der Formung kommunistischer Willens- und Charakterzüge. […] Die großen Lehrer und Führer, W. I. Lenin und J. W. Stalin, haben wiederholt auf die Notwendigkeit hingewiesen, in den Sowjetmenschen derartige Willensund Charakterzüge zu entwickeln und zu festigen wie Zielstrebigkeit, Be-
5
Aristoteles, NE, 1094a27-b2.
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes
harrlichkeit, Entschlossenheit, Initiative, Ausdauer, Organisiertheit und Kühnheit.« 6
Daher seien auch die ›Untugenden‹ des ›bürgerlich-kapitalistischen‹ Entwicklungsstadiums zu bekämpfen, wie sie sich beispielsweise in »nachlässiger Einstellung zur Arbeit und zum gesellschaftlichen Eigentum, im Individualismus und Egoismus, in Überheblichkeit und Prahlerei, in gesellschaftsfeindlichem Verhalten« zeigen. 7 Inzwischen ist das Vertrauen, »dass der Kommunismus den Endsieg davontragen wird«, 8 spürbar geschrumpft. Allerdings bedeutet das nicht, dass auch die am Ende des obigen Zitats aufgezählten kommunistischen Tugenden für eine marktwirtschaftliche Ordnung insgesamt ohne Bedeutung wären. Im Gegenteil: Wer sich kommunistischen Zielen nicht (mehr) verpflichtet fühlt, kann diese Tugenden auch in einer anderen Gesellschaftsordnung mit Gewinn leben. Allerdings gibt es auch wichtige Unterschiede: Vor allem der Individualismus und damit die Hochschätzung des einzelnen Menschen mit seinen Ansichten und Bedürfnissen sowie (im weiteren historischen Verlauf) die Zulassung von Privateigentum an Produktivvermögen unterscheiden den christlichen Kulturkreis und die in seinem Einflussbereich entstandenen liberalen Gesellschaften vom Gegenentwurf einer kommunistischen Gesellschaft. 9 Mein Fazit: Es geht Aristoteles um eine Perspektive, in der die Abhängigkeit der moralischen Ideale einer Gemeinschaft von der jeDer Text, aus dem dieses Zitat stammt, wurde verfasst vom »Kandidaten der pädagogischen Wissenschaften« N. I. Boldyrjow (1954; S. 38–39). 7 Ebd., S. 39. 8 Titarenko (1954; S. 7). 9 Man kann aber zugeben, dass der kommunistische Gesellschaftsentwurf wenigstens der Absicht nach den Individuen dienen wollte. Vgl. dazu Pies und Leschke (2005). In der Einschätzung der Rolle des Christentums bei der Entwicklung des liberalen Individualismus des Westens folge ich dem höchst anregenden Buch von Siedentop (2015). Danach legte das Christentum vom zweiten bis zwölften nachchristlichen Jahrhundert die ideellen und rechtlichen Grundlagen für eine Gesellschaftsordnung, in der jeder einzelne Mensch (als ›Abbild Gottes‹) etwas zählt und über dessen Interessen nicht einfach (wie in der Antike) hinwegregiert werden darf – »Grundlagen, die später dafür sorgten, dass das Individuum zur maßgeblichen sozialen Rolle, der Staat zur charakteristischen Regierungsform und die Tausch- oder Marktwirtschaft zur beherrschenden Form des Wirtschaftens wurde« (Siedentop, 2015; S. 207). Alle Menschen wurden in diesem Zeitraum Schritt für Schritt moralisch gleichgestellte Akteure, die ohne moralischen Makel miteinander tauschen durften. Jedem, der an Fragen der Identität Europas interessiert ist, sei dieses Buch nachdrücklich zur Lektüre empfohlen. 6
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weiligen – wie wir heute sagen würden – gesellschaftlichen Grundstruktur und den jeweiligen gesellschaftlichen Grundentscheidungen in den Blick kommt. Diese Entscheidungen müssen von der Gemeinschaft selbst getroffen werden und sind kein legitimes Ergebnis sozialer Fremdbestimmung. Schon für Aristoteles gilt: Jede Gemeinschaft hat ihre eigene Ordnungsverantwortung. 10
2.
Tugendethik und Tugendlehre
Werfen wir nun einen genaueren Blick auf die Stellung der Tugenden im aristotelischen Entwurf. Um sich im Dschungel der Ethik zurechtzufinden, ist es in der Philosophie üblich, verschiedene grundlegende Unterscheidungen zu treffen. Die wichtigste Unterscheidung betrifft die Frage, ob wir es in der ›Ethik‹ mit beschreibenden oder vorschreibenden Überlegungen zu tun haben. In diesem Sinne gehört die Frage »Was verstehen Menschen unter ›Tugenden‹ ?« zur deskriptiven Ethik. Mit den Antworten auf diese Frage ist noch nichts darüber gesagt, ob bestimmte Tugenden angemahnt werden dürfen oder gar mit gesellschaftlicher oder staatlicher Unterstützung erworben werden sollen. Wir können im Rahmen der deskriptiven Ethik nur feststellen, dass bestimmte Tugenden in einer bestimmten Gemeinschaft angestrebt werden und dort als Wert gelten. In der normativen Ethik dagegen versuchen wir, diese Forderungen auch als ethisch begründet zu erweisen, und zwar für alle Menschen – so, wie es beispielsweise das »katholische« (= umfassende) Christentum seit den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung anstrebt. Die zweite Unterscheidung betrifft die Frage, worauf legitime Begründungen fußen sollen. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten – etwa eine bestimmte religiöse Tradition, einen bestimmten Vernunftbegriff, nutzenorientierte Begründungen im Rahmen des Utilitarismus, interessenbasierte Ethiken sowie tugendethische Begründungen. Die Tugendethik richtet den Blick auf einzelne Menschen als Adressaten moralischer Maßstäbe und Forderungen. Sie kommt ihrerseits in zwei normativen und in einer deskriptiven Variante vor.
Zu diesem Begriff vgl. Beckmann und Pies (2006); Beckmann, Hielscher und Pies (2008).
10
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes
–
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Die normative Tugendethik (I) argumentiert so: Dürfen wir einfach darauf vertrauen, dass unsere gelebte Moral in der Realität auch »mit einem Volk von Teufeln« 11 fertig wird, wie es Kant einmal ausdrückte? Können uns die Dispositionen und Eigenschaften der Menschen, mit denen wir leben, also wirklich gleichgültig sein? Oder dürfte sich eine Investition in die im einzelnen Menschen verwurzelten Verhaltensdispositionen nicht insofern lohnen, als wir uns dann nicht auf glaubwürdige und teure innerweltliche Strafandrohungen verlassen müssten? Statt dessen wollen wir darauf vertrauen können, dass die Menschen irgendwann von sich aus den Wunsch verspüren, bestimmte moralische Haltungen zu entwickeln und zu leben. Wir als Gesellschaft müssten also dem Aufbau der Tugenden im Verhaltensrepertoire des Einzelnen besondere Aufmerksamkeit widmen. 12 Die normative Tugendethik (II) argumentiert hingegen so: Wenn wir als Einzelne Glück und Zufriedenheit anstreben, dann werden wir diese Zustände aus psychologischen Gründen nicht erreichen, wenn wir nicht mit unseren Leidenschaften in einer Weise umzugehen lernen, die uns als Individuen längerfristig zufrieden und glücklich werden lässt – und zwar unabhängig von der Gesellschaft, in die wir zufällig hineingeboren wurden. 13 Diese Form der Tugendethik fragt nicht: ›Was soll ich tun?‹, sondern: ›Wie soll ich sein?‹ 14 Und schließlich: Die deskriptive Tugendethik legt ihren Schwerpunkt auf die empirische Untersuchung der betreffenden Phänomene. Heute würden wir sagen: Sie ist eine Sparte der Moralpsychologie und Moralsoziologie.
Wo ist in diesem Spektrum nun die aristotelische Ethik zu verorten? Meine These lautet: Die aristotelische Ethik ist eine deskriptive Variante der Tugendethik. Ich will diese Ansicht mit zwei Argumenten untermauern. 1. Wollen wir herausfinden, welcher wesentliche Gesichtspunkt das Werk eines Philosophen dem Verständnis erschließt, so lohnt es Vgl. dazu Höffe (1988). Das Zitat stammt aus Kants Traktat »Zum ewigen Frieden« von 1795 und kann unter http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kant,+Immanuel leicht gefunden werden. 12 Als ein Vertreter dieser Richtung kann Alasdair MacIntyre (1981/1995) gelten. 13 Das ist der Grundgedanke der Stoischen Ethik. Vgl. etwa Forschner (1995). 14 Borchers (2010; S. 2784). 11
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sich, ein zentrales Motiv zu suchen, das intellektuell oder lebensgeschichtlich verständlich werden lässt, warum ein Philosoph sich überhaupt die Mühe gemacht hat, ein meist doch recht kompliziertes Gedankengebäude zu errichten. Was war für Aristoteles das zentrale Motiv? Ich denke, Aristoteles lässt sich am besten verstehen, wenn wir ihn als Biologen sehen. Das bedeutet: Er war (in heutiger Terminologie) ein empirischer Wissenschaftler, der an der Erkenntnis der Natur und des Menschen interessiert war. Das verlangt vor allem eine genaue Bestandsaufnahme dessen, was man beobachten kann – vor allem die zielorientierten und endlichen Wachstumsprozesse, die Aristoteles in Natur und Gesellschaft faszinierten. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Platon, der über die ideale Staatsverfassung nachdachte, legten Aristoteles und seine Schüler daher eine Sammlung der realen, also tatsächlich existierenden Staatsverfassungen an. Und sein theoretisches Interesse galt weniger dem idealen Staat als der Frage, ob nicht jedes empirisch vorfindliche Staatsmodell strukturelle Mängel aufweist, die seinen Zerfall wahrscheinlich machen. Eine empirische Anschlussfrage wäre: Gibt es Regelmäßigkeiten beim dann zu erwartenden Wechsel der vorfindlichen Staatsformen? Kurz: Aristoteles war viel zu sehr mit empirischen Fragen (»Wie sieht die Welt aus?«) beschäftigt, um der Frage »Wie soll die Welt sein?« mehr als nur kursorische Aufmerksamkeit zu schenken. 2. Das zweite Argument ist begriffsgeschichtlicher Natur. In der Begriffsgeschichte prüfen wir, ob es einen bestimmten Begriff schon immer gegeben hat und ob er in früheren Zeiten vielleicht einen ganz anderen Sinn hatte als heute. 15 Konsultieren wir unter diesem Aspekt das »Historische Wörterbuch der Philosophie«, so stellen wir zunächst fest: Hier gibt es keinen Artikel ›Tugendethik‹. Es gibt aber einen Artikel »Tugendlehre«, in dem Aristoteles und andere Philosophen mit ihren Auffassungen darüber, was erstrebenswerte Tugenden seien, wenn (!) Menschen an Glück und Zufriedenheit interessiert sind, ausführlich besprochen werden. 16 Der Unterschied zwischen beiden Begriffen ist folgender: Eine Tugendethik sagt uns allen verbindlich, welche Tugenden wir uns aneignen sollen, wenn wir unser Handeln an anspruchsvolleren Beweggründen als an Lust und Laune ausrichten wollen. Eine Tugendlehre dagegen untersucht, welche Tugenden Menschen in einer bestimmten Gemeinschaft für erstrebens15 16
Vgl. dazu Pies (2017). Merle (1998).
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wert halten und welche Auswirkungen diese Tugenden (oder ihr Fehlen) in der sozialen und psychischen Wirklichkeit haben. Werfen wir in einem zweiten Schritt einen Blick in den Artikel »Tugend«. Hier stellen wir fest: Der Begriff ›aretē‹ (ἀρετή) bedeutete in der Antike nicht ›Tugend‹ im heutigen Sinne einer moralisch positiv zu bewertenden Disposition. Er hätte also in der Diskussion darüber, ob ein ›tugendhaftes‹ Mädchen von 16 Jahren um 22:00 Uhr zu Hause zu sein hat, keine Rolle spielen können. Statt dessen geht es bei der ›aretē‹ um diejenigen Eigenschaften einer Sache oder Person, die sie ›für etwas gut‹, also für den mit ihr verbundenen Zweck ›gut geeignet‹ machen. Für diesen Begriff gibt es im Deutschen keine substantivische Entsprechung: ›Gutheit‹ gibt es nicht, ›Güte‹ ist ein moralischer Charakterbegriff und geht über die eher technische Bedeutung von ›aretē‹ hinaus, und ›Tauglichkeit‹ ist zwar ein Substantiv, ihm fehlt aber die normative Dimension, die über ein technisches Verständnis des Begriffs hinausgeht. Nach griechischer Vorstellung gibt es nun zwar auch Eigenschaften, die einen Menschen als ›gut geeignet‹, ›tauglich‹ zum Zusammenleben machen. Jedoch: »Wie es immer, wenn vom Gutsein die Rede ist, eine substantielle, d. h. nicht durch die Bedeutung des Wortes entschiedene Frage ist, was bei der jeweiligen Gegenstandsklasse die gut-machenden Eigenschaften sind, so ist es auch, wenn vom Gutsein, der Aretē, eines Menschen die Rede ist, eine substantielle Frage, welches die Eigenschaften sind, die einen Menschen gut machen. Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Eine mögliche Antwort ist, das, was einen Menschen zu einem guten mache, sei seine Moralität. Aber das kann bestritten werden.« 17
Außerdem ist der abstrakte Hinweis auf die Bedeutung von »Moralität« und die daraus folgende Definition der Tugenden so lange unzureichend, wie sie nicht auf eine Verfassung und auf die jeweiligen Staatsziele rückbezogen werden, in deren Rahmen Tugenden produziert und stabilisiert werden. Aristoteles positioniert sich in seiner Ethik m. E. also nicht in der Art eines viktorianischen Tugendwächters, der bei allen Menschen ›tugendsames‹ Verhalten anmahnt, sondern in der Art eines empirischen Wissenschaftlers, der an realen Zusammenhängen interessiert ist – also etwa am Zusammenhang zwischen Staatsverfassung und
17
Stemmer (1998; S. 1532 f.).
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Tugenden, an der Vielgestaltigkeit der Verfassungen und an den Regelmäßigkeiten in deren Wandel. 18 Und aus heutiger evolutionärer Perspektive (Aristoteles dachte, wie erwähnt, in biologischen Denkmodellen!) könnte man hinzusetzen: Er wäre heute erst recht an der Suche nach den Ursachen interessiert, die gesellschaftliche Stabilität und sozialen Wandel erklären können. Der Zusammenhang von Staatsverfassung, deskriptiven und normativen Tugendbegriffen sei in Abbildung 1 noch einmal zusammengefasst. Verhaltensweisen Soziale Reichweite
Individuell
Kollektiv
Wanderziele
Links- oder Rechtsverkehr
Ethischer Anspruch Neutral
»Tugenden« (aretai) Beschreibend (Tugendlehre)
(»Was sehen die Leute in ihrer Gemeinschaft als erstrebenswerte menschliche Eigenschaften an?«)
Verfassungsformen
Rechtswesen, Staatsziele Begründungsbedürftig
Handlungen mit Auswirkungen auf andere
(auf gemeinsame Vorstellung vom anzustrebenden Guten gegründet)
»Tugenden« (aretai) Normierend (Tugendethik)
(»Auf welche menschliche Eigenschaften legen wir in unserer Gemeinschaft Wert?«)
Ausbildung und Stabilisierung von …
Abbildung 1: Der systematische Ort der Tugendethik nach Aristoteles (mit Beispielen) Buchheim (1999; S. 148) schreibt mit Recht: »Keineswegs will Aristoteles durch den Gebrauch dieses Begriffs eine bestimmte Anzahl idealer Beschaffenheiten für den Menschen festlegen, denen er immer und ewig zu entsprechen hätte.«
18
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes
Man könnte aus liberaler Sicht einwenden, normative Tugendethiken seien insgeheim autoritär. Sollte es denn in einer freien Gesellschaft im Wesentlichen nicht jedem selbst überlassen bleiben, was für ihn »das Gute und das Beste« ist? Ja und nein: Ja, weil gerade liberale Gesellschaften besonderen Wert auf die Wünsche des Einzelnen legen, die er sich im Austausch mit anderen erfüllen kann. Der Individualismus moderner Gesellschaften ist dabei durchaus normativer Natur, wie der folgende logische Schluss verdeutlicht: (1) Fast immer weiß niemand besser als das einzelne Individuum, was es möchte. (2) Individuen haben moralische Autonomie. (3) Deshalb sollen wir ihm entsprechende Entscheidungsspielräume zubilligen. 19 Nein, weil liberale Gesellschaften auch miteinander unvereinbare Zielvorstellungen koordinieren müssen; und nein, weil sie sich außerdem um den Bestand und die Produktion von Tugenden kümmern sollten, die existierende Entscheidungsspielräume schützen und angestrebte Spielräume vorbereiten helfen. Und schon Aristoteles wusste, dass es in diesem Fall darauf ankommt, Argumente zu liefern, die alle Mitglieder der Gemeinschaft überzeugen können. Kurz: Das moralisch Gute ist für ihn das Ziel vernunftgesteuerter gemeinsamer Beratung in der jeweiligen Gemeinschaft. Er schreibt: »Die vernünftige Rede aber ist zur Mitteilung des Vorteilhaften und Schädlichen da und deswegen auch des Gerechten und Ungerechten. Dies nämlich ist im Vergleich zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, dass sie allein die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, Gerechten und Ungerechten etc. besitzen. Aber die Gemeinschaft in diesen Dingen schafft den Haushalt und die Polis.« 20
Aristoteles war allerdings insofern ein antiker Denker, als er den Kreis derjenigen, die an dieser gemeinsamen Beratung teilnehmen durften, eng begrenzte, nämlich auf männliche Vollbürger einer bestimmten Stadt, die am besten sogar der Aristokratie angehören sollten – nach unseren Maßstäben ein Defizit, das erst die »Demokratisierung der Vernunft« und die »Erfindung des Individuums« im Ausnahmen von dieser Regel müssen besonders begründet werden. Aristoteles, Politik, I,2., 1253a13–19, zitiert nach der Übersetzung von Buchheim (1999; S. 141). Die dort zu findende Quellenangabe habe ich korrigiert.
19 20
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mittelalterlichen Christentum überwanden. 21 Dennoch gilt bereits für Aristoteles: Die Staatskunst als Kunst der Mittelanwendung und das Staatsziel als ›vernünftig‹ begründete kollektive Selbstbindung zu einem bestimmten Zweck legen in letzter Instanz fest, welche moralischen Ansprüche Menschen einer bestimmten Gemeinschaft aneinander stellen dürfen, und ob und wie sie begründet werden können. Deshalb ist in Abbildung 1 das Feld »Rechtswesen, Staatsziele« auch hervorgehoben, weil nach aristotelischem Verständnis erst das Staatsziel festlegt, was im jeweiligen Staat in normativem Sinn als Tugend gelten soll und welche Verfassung schützenswert ist. Und die dabei getroffenen gesellschaftlichen Grundentscheidungen unterliegen historischem Wandel und müssen sich dann im Lichte von ideellen und realen Alternativen bewähren.
3.
Die systemischen Vorteile des Marktes
Die ökonomischen und staatsphilosophischen Überlegungen des Aristoteles waren auf die antike Polis ausgerichtet – also auf einen überschaubaren Klein- oder Stadtstaat, in dem kollektiv wichtige Themen noch unter der Beteiligung aller Vollbürger behandelt werden konnten. Die Bürger eines derartigen vormodernen Staates fühlten sich an gemeinsame Werte und Ziele gebunden, die sie mit Hilfe ihrer Verfassung festlegten und mit Hilfe lokaler Götter mit der notwendigen Bindungswirkung ausstatteten. Solche vormodernen Gesellschaften gelten daher als wertintegriert. Moderne Großgesellschaften sind demgegenüber nicht wert-, sondern regelintegriert. Da ein Konsens über Ziele und Werte angesichts zahlreicher Gruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen immer schwerer möglich ist, sucht man in ihnen nicht mehr nach konsensfähigen Werten und Zielen, sondern nach konsensfähigen Regeln. Bei dieser Suche spielen Märkte eine überragende Rolle. Einige Gründe dafür seien im Folgenden genannt. 22 1. Märkte erlauben die Koordinierung menschlichen Handelns mit einem Minimum an Konsensbedarf und Zwang. Nur Käufer und Verkäufer müssen sich einigen; Komitees, Gremien, der Blockwart, der Imam oder auch bloß der Nachbar müssen nicht gefragt werden. 21 22
Vgl. dazu Siedentop (2015), Kap. 18 (»Die Demokratisierung der Vernunft«). Vgl. zu den folgenden Punkten Engel (2005).
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes
2. Die Politik wird durch Märkte von der Aufgabe entlastet, Verteilungsprobleme zu lösen. Der amerikanische Ökonom Dan Usher hat dies in einem berühmt gewordenen Gedankenexperiment folgendermaßen erläutert: »Wir stellen uns eine Gemeinschaft mit fünfzehn Leuten vor, die in einer Demokratie organisiert sind, in der alle Entscheidungen per Votum getroffen werden und in der die strenge und unbegrenzte Mehrheitsregel vorherrscht. Um zu zeigen, was passiert, wenn eine demokratische Regierung das Einkommen unter den Bürgern aufzuteilen versucht, abstrahieren wir von der Produktion und unterstellen statt dessen, dass das Volkseinkommen in Höhe von 300.000 Dollar der Gemeinschaft wie Manna vom Himmel in den Schoß fällt und dass diese keine andere Wahl zu treffen hat als über die Zuteilung der 300.000 Dollar auf ihre Bürger abzustimmen. In der Realität könnte es sich bei einer solchen Gemeinschaft um einen demokratisch regierten Staat handeln, in dem Ölkonzessionen die einzige Einkommensquelle sind. Die für uns relevante Frage lautet nun: Wie würde das Einkommen in einer solchen Gesellschaft zugeteilt werden?« 23
Ushers Antwort: Eine vorgenommene Zuteilung wäre dauerhaft instabil, weil wechselnde Koalitionen ständig wechselnde Verteilungsergebnisse erzwingen könnten. Im Extremfall könnten acht Leute die anderen sieben enteignen, so dass die Sieben einen großen Anreiz hätten, einen achten aus der Mehrheitskoalition herauszukaufen – bis hin zu einem Krieg aller gegen alle. 3. Märkte verringern die negativen Auswirkungen tendenziell illegitimer Mehrheitsentscheidungen. Eine Mehrheitsentscheidung ist deshalb tendenziell illegitim, weil die überstimmte Minderheit mit ihren Präferenzen nicht zum Zuge kommen konnte. Daher ist eine Politik, die den Konsensbedarf minimiert, einer Politik vorzuziehen, die ihn maximiert – und der Markt ist das beste bekannte Mittel, den Konsensbedarf zwischen Menschen zu minimieren. 4. Märkte registrieren nicht nur Präferenzen, sondern auch deren Intensitäten; sie drücken sich in der Zahlungsbereitschaft aus. So bilden sich Marktpreise, die wiederum Angebot und Nachfrage regulieren und die Chancen maximieren, dass jeder mit seinen Bedürfnissen am Markt berücksichtigt wird. 5. Tauschpartner müssen über Güter und Leistungen verfügen, die anderen attraktiv erscheinen. Nur dann sind sie ja bereit, ihre 23
Usher (1983), S. 38.
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Gerhard Engel
eigenen Güter und Leistungen gegen die der Marktgegenseite zu tauschen. Das zwingt die Menschen dazu, in gegenseitigem Interesse zu arbeiten. Selbst Egoisten haben unter dem Markt-Regime einen Anreiz, den Interessen anderer zu dienen. 6. Durch wachsenden Austausch stellen sich alle besser. Denn jeder gewinnt – sonst würde der Austausch nicht zustande kommen. Ein wachsendes Handelsvolumen ist daher ein guter Indikator für den gemeinsam erzeugten Wohlstand einer Gesellschaft. 7. Der Markt erzeugt systematisch Innovationsanreize: Neue Ideen führen zu besseren oder billigeren Produkten. Daher gibt es Fortschritt und Entwicklung – vom quäkenden Grammophon zur DVD-Dolby-Surround-Multimedia-Anlage und vom lärmenden Zweitakter mit Holzschalensitz von Carl Benz zum katalysatorbewehrten Achtzylinder-Einspritzmotor-Mercedes mit Ledersitzen, Klimaanlage und GPS-System. 8. Funktionierende Märkte erfüllen auch politische Funktionen: Sie schützen Minderheiten. Wer schmackhafte Brötchen backt, hat Kunden – unabhängig von seiner Hautfarbe oder Weltanschauung. Märkte fördern also auch die Integration von Migranten. 9. Globale Märkte sind das beste bisher bekannte Mittel zur Förderung des Weltfriedens: Demokratisch verfasste Marktwirtschaften haben bisher noch nie gegeneinander Kriege geführt. 24 10. Und schließlich erfüllen erfolgreiche Marktwirtschaften in optimaler Weise das Ideal der Selbstbestimmung. Geld ist, wie Dostojewski erkannte, geprägte Freiheit – und je mehr man davon hat, desto größer sind die individuellen Handlungsfreiheiten und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass man in einem System lebt, das auch politische Freiheiten kennt. Diese systemischen Vorzüge des Marktes kommen aber erst dann in den Blick, wenn wir uns entschließen, seine Voraussetzungen, Funktionen und Nebenwirkungen empirisch zu untersuchen. Und hier können wir nahtlos an Aristoteles anschließen: Von ihm können wir lernen, empirische Zusammenhänge ernst zu nehmen und die Frage »Wie leben Menschen?« für mindestens gleichrangig mit der Frage »Wie sollen sie leben?« zu halten. Insofern stellt auch die aristotelische Philosophie keine Ausnahme von der Forschungsmaxime dar, bei der Beschäftigung mit den philosophischen Das ist die schon von Kant aufgestellte These vom ›kapitalistischen Frieden‹. Aus neuerer Sicht vgl. Weede (1992) sowie Schneider und Gleditsch (2013, 1015).
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Aristoteles und die Tugenden des Marktes
Klassikern eher auf ihre Methoden als auf ihre Ergebnisse zu achten. Denn der Wille, genau hinzuschauen, wie die Welt funktioniert, veraltet nicht.
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Richard Sturn
Über die Wechselbeziehungen von Ethik und Markt
I.
Vorbemerkungen zum Begriff der Tugend
Tugenden sind Charaktereigenschaften. Charaktereigenschaften, die ein wirkmächtiges Potential besitzen, das tatsächliche Handeln zu beeinflussen. Eine Tugend verleiht einer Person die Einsicht in Handlungsgründe für ein bestimmtes Spektrum von Entscheidungssituationen: Aufgrund ihrer Tugend weiß diese Person dann in einer konkreten Situation, was sie zu tun hat. Sie ist nicht nur motiviert, es tatsächlich zu tun. Sie tut es auch aus den richtigen Gründen. Dieses tugendethische Handlungsmodell scheint aus mehreren Gründen quer zum Handeln auf modernen Märkten zu liegen. Erstens beruht die Koordinationsfunktion von Märkten darauf, dass Akteure sich an Preissignalen orientieren: Menschen handeln »richtig«, wenn sie im Sinne ihrer Interessen auf die Anreize und Beschränkungen reagieren, die vom Preissystem vorgegeben werden. Der Bäcker bestimmt Menge und Art der von ihm produzierten Brötchen auf Basis der Preise, zu denen er die unterschiedlichen Brötchen verkaufen kann. Es hat nicht den Anschein, dass dies mit jener Art Einsicht in Handlungsgründe viel zu tun hat, die von der Tugendethik gemeint ist. Zweitens ist den klassischen Tugenden eines gemeinsam: Das Üben der Tugenden in praktischen Entscheidungssituationen ist vom Leitmotiv »Maß und Mitte« geprägt. Tugend ist nie maßlos und extrem. Viele bedeutende Autoren betonen mit unterschiedlichen Hintergründen, dass das Handeln auf modernen Märkten mit Maximierung und Zukunftsoffenheit, aber auch mit Maßlosigkeit und Unersättlichkeit verbunden ist. Manche beklagen den Verlust von »Maß und Mitte« (so auch der Titel eines Buch des bedeutenden ordoliberalen Ökonomen Wilhelm Röpke 1950). Aber damit nicht genug: Maßlosigkeit wird mit Untugenden bzw. Lastern in Verbindung gebracht, welche sich jedoch in einem Marktkontext am Ende als Motor von Prosperität und Wachstum herausstellen: »Für Tugend hat’s – in 145 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Richard Sturn
großen Staaten nicht viel Platz« reimte Bernard Mandeville (1705; X) in diesem Sinn, denn (1705; Y): Tugend hält die Völker nicht am Leben (»Bare Virtue can’t make nations live.«) Drittens vermitteln Märkte die wechselseitig vorteilhafte arbeitsteilige Kooperation von Menschen, deren Ziele bzw. Vorstellungen vom guten Leben unterschiedlich sind. Erfolgreiche Markttransaktionen setzen nicht voraus, dass wir uns über unsere Vorstellungen vom guten Leben verständigen. Der klassische Begriff der Tugend ist aber zutiefst sozial. Tugend ist nicht etwas, was jeder für sich selbst entwickelt. Der Erwerb von Tugend setzt einen Sozialisierungsprozess im Sinn der einübenden Teilnahme am sozialen Leben voraus. Das Lernen von Tugenden ist mithin komplexer als das individuelle Aneignen eines Lehrstoffs, aber auch als die Entwicklung individueller Präferenzen oder subjektiver Vorlieben. Tugenden und den damit verbundenen Handlungsgründen liegen sozial verankerte Vorstellungen über das gute Leben zugrunde. Gemeinsame Vorstellungen über das gute Leben stehen auch im Hintergrund des inhaltlich schillernden Diktums: »Die Tugend ist ihr eigener Preis«, oder wie es im Englischen etwas klarer formuliert heißt: »Virtue is its own reward«. Ob dieses Diktum Sinn macht und was damit genau gemeint ist, wird unter Philosophen kontrovers diskutiert (vgl. etwa Sumner 1998). Jedenfalls kann damit nicht das Handeln gemäß einer subjektiven Präferenz gemeint sein. Indes wird nach einigem Überlegen deutlich, dass dieses Diktum mit Gleichgewichtsvorstellungen verbunden ist. Personen, die tugendhaft handeln, sind in einem inneren Gleichgewicht. Wenn sie ihr Handeln reflektieren, sind sie damit zufrieden, denn sie haben ja aus den richtigen Gründen gehandelt. Tugenden sind aber gleichzeitig auch Zentralelemente eines sozialen Gleichgewichts. Die Vermittlung sozialer Interdependenzbeziehungen setzt die gelingende Abstimmung von Erwartungen voraus. Tugend wirkt im Sinne einer solchen Abstimmung.
II.
Die Argumentation von Bruni und Sugden
Der Kern der Argumentation von Bruni und Sugden (2013, 2017) ist durch die Idee bestimmt, das Funktionieren moderner Märkte hänge eng mit der Verbreitung bestimmter Tugenden zusammen. Damit schreiben sie gegen eine Tradition an, die wesentlich umfangreicher ist als das Spektrum jener Autoren, die sie in ihren kritischen Blick 146 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Über die Wechselbeziehungen von Ethik und Markt
nehmen, nämlich die Protagonisten einer tugendethisch inspirierten Marktkritik. Folgt man der Argumentation von Bruni und Sugden, ist diese tugendethische Marktkritik durch Defizite behaftet, die aus zwei Perspektiven zu betrachten sind. (a) Aus sozialtheoretisch-ökonomischer Perspektive existiert ein Defizit, das mangelnder Kenntnis des Funktionierens von Märkten geschuldet ist: Entgegen dem oberflächlichen Anschein haben im Kontext des Handelns auf Märkten bestimmte Tugenden – nennen wir sie markt-systemrelevante Tugenden – sehr wohl ihren Platz. (b) Die philosophische Perspektive diagnostiziert ein Defizit, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Die tugendethischen Marktkritiker haben nicht erkannt, dass eine moderne Tugendethik die Praxis moderner Märkte angemessen einbeziehen kann und muss, sonst ist sie angesichts der ubiquitären Bedeutung von Märkten ein verfehltes philosophisches Projekt. Ohne adäquates ökonomisches Verständnis ist dies nicht zu leisten. Denn nur dadurch werden Einsichten vermittelt, die im Fall der markt-systemrelevanten Tugenden jenes innere Gleichgewicht schaffen, das mit dem Handeln aus den richtigen Gründen zusammenhängt. Mit Hilfe der Ökonomik lässt sich die einzig brauchbare und sinnvolle Tugendethik für die heutige Zeit komponieren. Ansonsten bleibt die Tugendethik ein Torso: Ein zentraler Bereich sozialer Interaktion, der Markt, wird letztlich wie ein störender Fremdkörper im Gesamtgefüge der Gesellschaft behandelt. Für das praktische Leben können aus diesem Torso nur dürftige Maximen mit zweifelhafter Orientierungskraft abgeleitet werden. Womöglich laufen sie – bei Lichte besehen – auf das berühmte Adorno-Diktum hinaus: »Es gibt kein wahres Leben im Falschen.« Hingegen fundiert eine sozialtheoretischökonomisch aufgeklärte Tugendethik jene Tugenden, die mit dem Gelingen von Transaktionen auf anonymen Märkten und der Stabilität politischer Rahmenordnungen zusammenhängen. Anders gesagt, eine solche Tugendethik könnte wiederum das leisten, was das eigentliche Programm einer Tugendethik ist: Sie wäre wirksam im Sinne eines umfassenden sozialen Gleichgewichts, welches auch ein reflektives Gleichgewicht auf Ebene der Akteure einschließt. Bruni und Sugden verfolgen somit ein sozialtheoretisch und philosophisch ambitioniertes Vorhaben. Vieles daran leuchtet ein und ist attraktiv. Vor allem gilt dies für ihre Kritik an der tugendethischen Marktkritik. Ihr eigentliches Projekt ist aber wohl der Entwurf einer sozialtheoretisch-ökonomisch fundierten Tugendethik, die der Bedeutung von Märkten und damit verbundener Institutionali147 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Richard Sturn
sierungen im modernen sozialen Leben gerecht wird. Dieses Projekt ist notwendig und folgerichtig: Es ist an der Zeit, eine plausible Weiterentwicklung der Tugendethik für die heutige Zeit zu versuchen. Mit Bruni und Sugden (2013, 2017) liegt also ein Versuch vor, auf den man sich in etlichen Diskussionen um die normativ-institutionellen Grundlagen der Marktwirtschaft wird beziehen können – kritisch, aufbauend, oder wie auch immer. Aber wie überzeugend ist dieser Versuch in seiner vorliegenden Form insgesamt? Ich meine, er ist nicht ganz überzeugend. Die Gründe für diese Einschätzung werden im Folgenden skizziert. Sie liegen auf jenen beiden Ebenen, auf denen Bruni und Sugden die Defizite der tugendethischen Marktkritik verorten: (a) Die erste Ebene betrifft die Mobilisierung sozialtheoretisch-ökonomischer Einsichten in die Funktionsweise von Märkten, Anreizsystemen, Konventionen usw. Diese Einsichten könnten konsequenter und umfassender genutzt werden. (b) Die zweite Ebene umfasst die Frage nach dem inneren Gleichgewicht, zu welchem eine adäquate moderne Tugendethik führen könne.
III. Tugenden und Markt in der ökonomischen Analyse Bruni und Sugden bringen die Ökonomik in ein Programm ein, welches auf die Sprache und Logik der Tugendethik baut. Das Programm des großen Philosophen und Sozialtheoretikers David Hume (1711– 1776) ist bei ihrem Versuch auch ohne einschlägige Verweise unübersehbar. Hume (1739/40) nutzt ebenfalls die Sprache der Tugendethik, um eine erklärende Sozialtheorie der Moral (er nennt dies »experimental moral philosophy«) zu bauen. Die Krönung dieser Theorie ist die Erklärung der »künstlichen Tugenden« (artificial virtues), die von den »natürlichen Tugenden« unterschieden werden. Die künstlichen Tugenden sind jene, die auf das Engste mit dem Funktionieren moderner, komplexer Großgesellschaften zusammenhängen. Wodurch unterscheiden sich nun natürliche und künstliche Tugenden? Bei natürlichen Tugenden wird das Gute in jedem einzelnen Fall evident, in dem sie das Handeln bestimmen. Das mit der Übung künstlicher Tugenden verbundene Gute tritt hingegen nur auf die Dauer und im Durchschnitt zutage – durch ihre günstigen Effekte auf die soziale Ordnung, das öffentliche Interesse oder anders gesagt, die gelingende Vermittlung komplexer sozialer Wechselwirkungen. 148 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Über die Wechselbeziehungen von Ethik und Markt
David Hume betont ausdrücklich, dass im Einzelfall die günstigen Wirkungen künstlicher Tugenden nicht sichtbar zu sein brauchen: In manchen Fällen hat etwa die künstliche Tugend der Gerechtigkeit sogar Auswirkungen, die man intuitiv als dem Guten abträglich einzuschätzen geneigt ist: Gerechte Urteile in Eigentumsfragen führen in manchen Fällen dazu, dass Leuten das Eigentumsrecht an Dingen zugesprochen werden muss, die andere besser gebrauchen könnten, oder die es mehr verdient hätten, oder die sie im Sinne der Allgemeinheit besser einsetzen würden. Dennoch sind die dem Gerichtswesen zugrundeliegenden Gerechtigkeitsnormen Teil eines institutionellen Gefüges, das sich letztlich zum Vorteil aller auswirkt. Die künstlichen Tugenden bilden eine psychologische Disposition zur Loyalität mit bestimmten, als sozial vorteilhaft erkannten Normen und Institutionen. Sie sind eine zivilisatorische Errungenschaft, die dazu befähigt, von konkreten Umständen bestimmter Einzelsituationen und den jeweiligen Ergebnissen zu abstrahieren, und zwar nicht nur kognitiv, sondern auch auf der Ebene wirksamer Motive: Die künstlichen Tugenden führen dazu, dass jene unmittelbaren Handlungsimpulse zurückgedrängt werden, die zu erwarten wären, wenn Akteure diese Handlungssituationen als Einzelsituationen betrachten würden. Mit David Hume kann man die künstlichen Tugenden als Kompetenzen betrachten, welche die Menschen zu produktiven, zukunftsgerichteten Interaktionen in modernen großen Markgesellschaften befähigen. Man kann vermuten, dass sie sich diese spezifische Kompetenz in einer Art Ko-Evolution mit den entsprechenden Institutionalisierungen (z. B. dem Ordnungsrahmen einer sozialen Marktwirtschaft) entwickeln. Diese Idee von Handlungskompetenz passt gerade auch in ihrem Bezug zu entsprechenden Institutionen durchaus zu einem tugendethischen Verständnis, so wie es eingangs skizziert wurde. Künstliche Tugenden sind gemäß dieser Vorstellung mit den Funktionsbedingungen moderner, großer, arbeitsteiliger Marktgesellschaften und deren auf die Dauer und im Durchschnitt anfallenden Vorteilen verbunden. In diesem Sinn setzen auch Bruni und Sugden auf künstliche Tugenden. Die von ihnen zitierten marktaffinen Tugenden sind im Wesentlichen »künstliche Tugenden«, wie man etwa anhand des »Stoizismus im Hinblick auf Entlohnung« sofort sieht, wenn man sich die eingangs dieses Abschnitts zusammengefasste Unterscheidung von David Hume in Erinnerung ruft. Die experimentelle Ökonomik und eine verhaltensökonomisch 149 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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erweiterte Spieltheorie haben in der letzten Zeit die Voraussetzungen deutlich verbessert, um die komplexen Wechselwirkungen auszuleuchten, die all dem zugrunde liegen. Betrachten wir einen der typischen Fälle, anhand deren die Entfaltung künstlicher Tugenden studiert werden kann, nämlich ein soziales Dilemma von der Art des spieltheoretischen Gefangenendilemmas. In solchen Dilemma-Situationen ist es für den einzelnen Akteur vorteilhaft, Trittbrett zu fahren bzw. die Tauschpartner zu hintergehen, egal wie sich die andere Person verhält. Die übliche Lösung für solche Probleme ist eine explizite Änderung der Spielregeln, also etwa eine hinreichend hohe und glaubwürdig durchgesetzte Strafdrohung, die es allen als vorteilhaft erscheinen lässt, auf Trittbrettfahren oder das Hintergehen der Tauschpartner zu verzichten. Dies setzt aber eine handlungsfähige institutionelle Ebene voraus, die zur Durchsetzung einer solchen Regeländerung in der Lage ist. Zahlreiche verhaltensökonomische Laborexperimente deuten darauf hin, dass das Zustandekommen von Lösungen tatsächlich einiges mit künstlichen Tugenden zu tun haben könnte. Beispielsweise wurde gezeigt, dass Änderungen in der Spielstruktur, welche die grundlegende Situation nicht verändern (es ist nach wie vor individuell vorteilhaft, Trittbrett zu fahren), aber den Individuen mehr Möglichkeit bieten, ihre Partner zu »bestrafen«, die Ergebnisse deutlich verändern können. Eine von Fehr und Gächter (2000) eingeleitete Reihe von Aufsätzen berichtete über Experimente, die in diesem Sinn als Durchsetzung sozial vorteilhafter Kooperation über künstliche Tugenden betrachtet werden können. Bei diesen Experimenten wurde die Durchsetzung durch individuelle Akteure bewerkstelligt, die dezentral und auf eigene Kosten Trittbrettfahrer sanktionierten, obwohl sich keiner davon unmittelbar individuelle Vorteile erhoffen konnte – sondern allenfalls Vorteile, die vielleicht auf die Dauer und im Durchschnitt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eintreten würden, wenn sich genügend Leute ähnlich verhielten. Auf diese Art konnte also eine sozial vorteilhafte Norm durch individuelle Akteure stabilisiert werden. Man könnte somit sagen, das Handeln dieser Akteure wurde durch eine Art »künstliche Tugend« geleitet. Die Akteure brachten anscheinend aus ihrer früheren Sozialisation Kompetenzen mit, die sie in strategischen Interaktionssituationen zu sozial vorteilhaften Handlungsmustern befähigten, obgleich erhebliche individuelle Anreize in die Gegenrichtung wirkten. Die soziale Kompetenz (»künstliche Tugend«) der Akteure eben 150 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Über die Wechselbeziehungen von Ethik und Markt
erwähnter Experimente tritt umso klarer hervor, wenn man sie mit den Ergebnissen ganz analoger Experimente kontrastiert, über die ein Mitarbeiter von Fehr und Gächter, Benedikt Herrmann (2008), berichtet. Herrmann führte diese in Jekaterinburg und anderen Orten der ehemaligen Sowjetunion durch. Dabei zeigte sich, dass die Strafoption dort das Niveau sozial vorteilhafter Kooperation keineswegs erhöhte, sondern im Gegenteil senkte – weil die Individuen die Strafoption nicht zur Durchsetzung von Kooperation, sondern anscheinend im Sinne der Erlangung positionaler Vorteile nutzten. Herrmann (2008; 211) bringt dies mit folgender Frage in Verbindung: »Welche Rahmenbedingungen verursachen diese Unterschiede in der Anwendung der Strafnormen? Offensichtlich spielt Status-Orientierung eine Rolle. Geht es darum, um jeden Preis mehr zu verdienen als der andere, … dann kann die Bestrafungsoption einen effizienzzerstörenden Wettbewerb zwischen den Akteuren auslösen.« Daran knüpft sich nun die weitere Frage, welche Faktoren die Entstehung dessen begünstigen, was man als »künstliche Tugend« bezeichnen könnte. Der Umstand, dass die erstgenannten Experimente in der Schweiz und in vergleichbar entwickelten Marktwirtschaften durchgeführt wurden (wohingegen die Ex-Sowjetunion eine vergleichsweise schwache marktwirtschaftliche Tradition aufweist), könnte nun als Indiz im Sinne von Bruni und Sugden aufgefasst werden. Dabei ist Vorsicht jedoch angebracht. Zum einen bestehen auch erhebliche Unterschiede in der politischen und rechtlichen Verfasstheit und bei anderen kulturellen Faktoren, die zwar zum Teil mit den Rahmenbedingungen funktionierender Marktwirtschaften in Verbindung zu bringen sind, aber gesondert analysiert werden müssen. Zum anderen ist auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass auch in Marktwirtschaften Dynamiken auftreten können, welche die Transformation von Marktwettbewerb zu Positionswettbewerb (oder anderen Formen eines destruktiv scharfen Wettbewerbs) begünstigen. Diese Bemerkung leitet nun vom begrenzten Beispiel einer bestimmten Gruppe von Experimenten zu einer allgemeineren verhaltensökonomischen Betrachtung zu Tugenden und anderen Verhaltensdispositionen über, die möglicherweise mit dem Markt in Verbindung stehen. Ein Übersichtsartikel von Bowles, Gintis und Osborne (2001), welcher verhaltensökonomisch fundierte Empirie zu den Bestimmungsgründen von Marktentlohnungen darstellt, kommt diesbezüglich zu interessanten Ergebnissen. Ob eine bestimmte Verhaltensdis151 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Richard Sturn
position sich am Markt für ihren Träger vorteilhaft auswirkt, hängt auch vom konkreten institutionellen Milieu und der Rolle bzw. Rollenzuschreibung des Individuums in einer Organisation ab. Bowles, Gintis und Osborne unterscheiden zwei Klassen von Bestimmungsgründen für Lohnunterschiede, die mit Verhaltensdispositionen (und nicht mit Humankapital im Sinn kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten) in Verbindung stehen: Coaseanische und Schumpeterianische Verhaltensdispositionen (so genannt nach den Ökonomen Ronald Coase, 1910–2013, und Joseph Schumpeter, 1883–1950). In einem Arbeitsmarktkontext mit unvollständigen Arbeitsverträgen 1 unterstützen Coaseanische Dispositionen formale Anreize des Arbeitgebers, mit denen dieser versucht, ein erwünschtes Verhalten des Arbeitnehmers herbeizuführen. Sie senken somit die Transaktionskosten des Arbeitsvertrags und sind für den Arbeitgeber attraktiv. Deswegen sollte er einen etwas höheren Lohn bieten, wenn er Grund zur Vermutung hat, dass der betreffende Arbeitnehmer über Coaseanische Tugenden verfügt. Interessant sind aber auch jene (aus der Sicht mancher Tugendethiken wohl ambivalente) Motivationslagen, die Bowles et al. als »Schumpeterian traits« bezeichnen. Diese könnten mit Schumpeterianischen Milieus von Ungleichgewichten und schöpferischer Zerstörung in Verbindung stehen. Wenn Wandel, Innovation, Entrepreneurship und monopolistische Konkurrenz die Szene dominieren, dann stehen Coaseanische Tugenden womöglich weniger im Vordergrund. Hingegen ist zu erwarten, dass einige der schon von Schumpeter (1912) beschriebenen Charakterzüge des innovativen Unternehmers zum Tragen kommen, die von Findigkeit über Durchsetzungsfähigkeit bis hin zu dem reichen, was Bowles, Gintis und Osborne (221; S. 1161) als »Machiavellismus« bezeichnen. Welche dieser unterschiedlichen Dispositionen im Markt Vorteile und deshalb höhere Erträge bringen, hängt von allgemeinen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen (also etwa der Spezifizierung der Regeln für Konkurrenz), aber auch von organisationalen Milieus, der jeweiligen Branche und der spezifischen Rolle der jeweiligen Akteure ab. Von einem Portier wird man eher Coaseanische als SchumArbeitsverträge können als Paradebeispiel unvollständiger Verträge gelten, weil es nur in wenigen Fällen möglich/zweckmäßig sein wird, alle für die Vertragspartner interessanten spekte der Vertragsbeziehung explizit im Vertrag festzuhalten. Vor allem betrifft dies Qualität und Intensität der Arbeitsleistung.
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Über die Wechselbeziehungen von Ethik und Markt
peterianische Tugenden verlangen, bei einem Verkaufsleiter ist es unter Umständen umgekehrt. Fazit: Die eigentliche Herausforderung ist die Erforschung der institutionellen Kontingenz von Tugenden und Verhaltensdispositionen. In Märkten gedeihen sowohl Verhaltensdispositionen, die man füglich als Tugenden im Sinne einer ehrenwerten Tradition bezeichnen kann, als auch solche, für die man das Wort Tugend eher nicht verwenden würde. Was davon überwiegt, und inwiefern es sinnvoll ist, bei Entwicklung des regulatorischen Rahmens auch auf die Entwicklung »echter« Tugenden zu achten, ist erst noch zu analysieren. Hierfür bieten neuere Entwicklungen in experimenteller Ökonomik, verhaltensökonomisch erweiterter Spieltheorie und evolutionärer Spieltheorie aber gute Ansatzpunkte. Eine positive Theorie entsprechender Wechselwirkungen nutzt, auf David Humes Analyse von Konventionen und künstlichen Tugenden aufbauend, die genannten Ansätze, um Aufschlüsse über den Zusammenhang zwischen Regelsystemen, Institutionen und Milieus einerseits und Verhaltensmotiven (der »Charakterbildung«) andererseits zu gewinnen. Dies bringt eine Reihe von Einsichten, welche nicht nur der sozialtheoretischen Argumentation von den Diskussionen von Bruni und Sugden mehr Tiefenschärfe verleihen. Sondern es lässt sich auch ein »triftiger Kern« verbreiteter Formen von tugendethischer Marktkritik herausarbeiten. Denn man wird beispielsweise zeigen können, dass Regelsysteme, die bestimmte Formen von »scharfem Wettbewerb« begünstigen, tatsächlich unter bestimmten Umständen zu »Tugenderosion« beitragen, wie Röpkes Diktum vom Wettbewerb als Moralzehrer unterstellt.
IV. Keine Tugendethik ohne Ökonomik? Wie eingangs ausgeführt, werfen Bruni und Sugden den tugendethischen Marktkritikern nicht nur vor, (a) dass sie die mögliche Rolle von Tugenden für die Funktion von Märkten verkennen, weil sie auf ein völlig unzureichendes sozialtheoretisch-ökonomisches Verständnis von Märkten bauen. Dass Bruni und Sugden in diesem Punkt Recht haben, wurde eben ausgeführt, wenngleich wichtige Differenzierungen angemerkt wurden. Bruni und Sugden verweisen zudem (b) auf ein wesentliches Defizit aus Sicht der Tugendethik selbst: Die kritisierten Autoren haben nicht erkannt, dass eine moderne Tugend153 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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ethik die Praxis moderner Märkte angemessen einbeziehen kann und muss, sonst ist sie ein verfehltes philosophisches Projekt. Eine sinnvolle Tugendethik für die heutige Zeit muss (oder müsste) sich, hierin ist Bruni und Sugden zuzustimmen, auf Marktzusammenhänge und deren ökonomische Analyse einlassen. Diesem Argument ist einiges abzugewinnen. Allerdings muss ein daraus zu entwickelndes Projekt sich spezifischen Herausforderungen stellen. Diese Herausforderungen betreffen zum einen den moralischen Status des Marktes. Sind Märkte im Wesentlichen wegen der durch sie ermöglichten Allokationseffizienz bzw. Innovationsdynamik vorzugswürdig, also als Mittel zum Zweck? Oder haben sie darüber hinaus moralische Qualität? Worin genau besteht diese? In dieser Perspektive erörtert Alan Gibbard (1985) mögliche Antworten auf die Frage, »what’s morally special about free exchange?«. Eine Tugendethik, die das Handeln auf Märkten als integrativen Teil der conditio humana behandelt, wird wohl nicht überzeugen können, wenn sie nicht eine gehaltvolle Antwort auf Gibbards Frage gibt. Eine andere Ebene von Herausforderungen wird etwa von Jerome B. Schneewind (1990) und (1998) ausführlich unter Einbezug eines reichen ideengeschichtlichen Hintergrunds diskutiert. Hierbei nimmt die mit dem Denken David Humes verbundene Problematik einen besonderen Stellenwert ein. Diese kann für den hier vorliegenden Argumentationskontext wie folgt zusammengefasst werden: Die Markttugenden sind im Wesentlichen künstliche Tugenden. Das heißt, die Wirkung dieser Tugenden erfolgt über komplexe Vermittlungsprozesse und ist nicht unmittelbar einsichtig. Die Ökonomik vermag – wie gezeigt – Einsichten zu vermitteln, die im Fall der marktrelevanten Tugenden das Handeln aus den richtigen Gründen ermöglichen. Sie kann auch erklären, wie marktrelevante Tugenden bzw. entsprechende Konventionen zustande kommen können. Aber selbst wenn dies gelingt, ist noch nicht klar, dass damit ein inneres Gleichgewicht wie im Falle der natürlichen Tugenden hergestellt wird. Ein Projekt à la David Hume ist eben auf die Erklärung moralischer Urteile und moralischen Handelns gerichtet. Es liefert nicht in einem Zug zureichende Gründe mit, die uns zu korrekten moralischen Urteilen bzw. entsprechendem Handeln motivieren. Damit bleibt ein Spannungsverhältnis. Es ist zu vermuten, dass dieses Spannungsverhältnis auch durch eine modernisierte Tugendethik nicht 154 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Über die Wechselbeziehungen von Ethik und Markt
aufzulösen ist. Aber vielleicht dürfen wir hoffen, dass wir diese Spannungen besser aushalten und verarbeiten, wenn wir über ein Grundverständnis der entsprechenden Zusammenhänge verfügen.
Literatur Bowles, Samuel, Herbert Gintis und Melissa Osborne (2001): The Determinants of Earnings: A Behavioral Approach. In: Journal of Economic Literature XXXIX, Heft 4, S. 1137–1176. Bruni, Luigino und Robert Sudgen (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Fehr, Ernst und Simon Gächter (2000): Cooperation and Punishment in Public Goods Experiments. In: The American Economic Review 90, Heft 4, S. 980– 994. Gibbard, Alan (1985): What’s Morally Special about Free Exchange? In: Social Philosophy and Policy 2, Heft 2, S. 20–28. Herrmann, Benedikt (2008): Homo despoticus zu Gast im Labor der Wirtschaftswissenschaften. In: Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Jahrbuch 7: Macht in der Ökonomie, Marburg, S. 191–213. Hume, David (1739/40): Treatise of Human Nature. London. Mandeville, Bernard (1705): The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest. London. Schneewind, Jerome B. (1990): The Misfortunes of Virtue. In: Ethics 101, Heft 1, S. 42–63 Schneewind, Jerome B. (1998): The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy. Cambridge. Schumpeter, Joseph (1912, 2006): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der 1. Auflage von 1912, herausgegeben und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller. Berlin. Sumner, Leonard W. (1998): Is Virtue Its Own Reward? In: Social Philosophy & Policy 15, Heft 1, S. 18–36.
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Reinhard Zintl
Wieviel Markt braucht es und welche Tugend?
1.
Die Kernthese von Bruni und Sugden
Bruni und Sugden (2013, 2017) kritisieren die kommunitaristische Sicht auf den Markt – also die Ansicht, dass das Tauschprinzip die menschliche Zusammenarbeit kulturell und ethisch gefährde oder zerstöre. Bruni und Sugden beschreiben die Argumente und beurteilen sie als nicht überzeugend (BS 12–23). Die Kernthese von Bruni und Sugden ist: Es gibt eine eigene spezifische Tugend-Ethik des Marktes. Und sie kann mit den anderen Tugenden anderer gesellschaftlicher Sphären sehr wohl zusammenwirken. Die Praxis von Markt/Tausch sollte man ernst nehmen als eine eigenständige gesellschaftliche Praxis (BS 23). Das Telos dieser Praxis sei wechselseitige Vorteilsgewährung (BS 39). Von diesem Kriterium aus ist zu entscheiden, welche Gegenstände in diese Praxis gehören und welche Gegenstände besser in einer anderen Praxis/ Sphäre belassen werden. Bruni und Sugden charakterisieren diese spezielle Ethik durch Universalität, Unternehmergeist und Wachsamkeit, Respekt für die Vorlieben der Tauschpartner, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, Akzeptanz des Wettbewerbs, Selbsthilfe, Nicht-Rivalität sowie stoischen Gleichmut bei der Entlohnung (BS 40–68).
2.
Zur Einordnung der Kernthese
Dieser Beitrag versucht, die Position von Bruni und Sugden zwischen anderen Positionen einzuordnen – nicht nur gegenüber Kommunitaristen, sondern auch gegenüber Kommunisten sowie radikalen Indi-
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vidualisten, die im Folgenden nicht »Neoliberalisten«, sondern »Libertäre« 1 genannt werden. Dabei werden diejenigen Tugenden betrachtet, welche eine Person im Umgang mit anderen Personen pflegen sollte: Respekt, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit. Es geht dabei weniger um die inneren Eigenschaften der Personen (wie beispielsweise stoischen Gleichmut – eine wundervolle Eigenschaft) als um Tugenden des Miteinanders. Bei Bruni und Sugden kommen zwei unterschiedliche Ebenen der Betrachtung zur Sprache: • Zum einen geht es ihnen um die Frage, welchen Platz der Markt in einer Gesellschaft bekommen soll: Welche Kriterien sollten gelten, wenn es um die Grenzen/die Reichweite des Tauschprinzips geht? Wann sollten Entscheidungen im Markt und wann sollten sie eher in der Politik stattfinden? Diese Ebene behandelt die Tugenden nicht direkt, sondern die Maßstäbe der institutionellen Entscheidungen, die diese Tugenden ermöglichen oder unterstützen könnten. • Zum anderen geht es bei ihnen darum, welche Ethik innerhalb des Marktes notwendig oder gewünscht ist: Welchen Habitus sollten die beteiligten Akteure haben? Auf dieser Ebene werden die Handlungs-Tugenden direkt betrachtet. Im Folgenden will ich diesen beiden Ebenen kurz erläutern.
3.
Erste Ebene: Reichweite und Grenzen des Marktes
Thematisch einschlägig und inhaltlich aufschlussreich ist die Bemerkung von Bruni und Sugden (BS 16) über die beiden Kommunitaristen Anderson (1993) und Sandel (2012): »[S]ie wenden ein, dass … es angebracht sei, dass der Staat dem Anwendungsbereich des Marktes Grenzen setze.« Für Bruni und Sugden ist klar: Den genannten Kom-
»Neo-Liberalismus« bedeutet sehr Unterschiedliches: In der angelsächsischen Verwendung bezeichnet man mit diesem Begriff eher eine minimalstaatliche Position; in Deutschland meinte man damit ursprünglich eher einen ordnungspolitischen Liberalismus im Sinne von Walter Eucken. Aber der Sprachgebrauch wandelt sich. Inzwischen wechselt man auch in Deutschland immer öfter von der zweiten zur ersten Version. Um unnötige Missverständnisse zu vermeiden, nehme ich hier einen anderen Begriff, der etwa von Hayek verwendet wird.
1
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munitaristen geht es nicht um die Abschaffung des Marktes; sie verachten seine Existenz nicht. Die ordnungspolitischen Fragen stellen sich dann bei den marktskeptischen Argumenten von Sandel und Anderson ebenso, wie sie sich bei marktfreundlichen Argumenten stellen würden. Die inhaltlichen Fragen sind: Welche Menschenbilder, welche Gerechtigkeitsideen, welche gesellschaftliche Harmonie und welche gesellschaftlichen Konflikte sind wichtig? Bedeutet »Privatisierung« immer Erweiterung der individuellen Autonomie? Geht mit »Kommerzialisierung« grundsätzlich individuelle Entfremdung einher? Und die Verfahrensfragen sind: Welche ordnungspolitischen Zuständigkeiten soll die Gesetzgebung haben, warum und wie?
4.
Zweite Ebene: Habitus innerhalb des Marktes
Wenn man einen Markt hat, wie klein oder groß er auch sein mag, stellen sich folgende Fragen: Wie sollen die Personen dort miteinander umgehen? Ist allein entscheidend, dass es ihnen im ökonomischen Wettbewerb um die eigenen Interessen geht, also darum, mit welchen Handlungen sie Gewinne maximieren können – gegebenenfalls auch mit »Cleverness« und »Zockerei«? Oder ist es nicht auch richtig und vernünftig, dass es den Beteiligten um ihre Vertrauenswürdigkeit geht, oder um Fairness? Oder möglicherweise sogar gelegentlich um Mitleid? Unstrittig sind unter den marktskeptischen wie den marktfreundlichen Denkern die essentiellen rechtlichen Verbote: Wenn allen Personen Freiheit zusteht, dann dürfen alle Personen bestimmte Dinge nicht tun, um den Schutz aller zu gewährleisten – sie dürfen nicht stehlen, nicht töten, nicht erpressen usw. Freiheit bedeutet nicht, dass alle tun dürfen, was immer sie wollen, sondern nur das, was sie innerhalb der rechtlichen Grenzen wollen. Nicht ganz so klar ist, ob der Handlungsspielraum der freien Akteure durch noch mehr rechtliche Restriktionen verkleinert werden kann und darf. Was wären unnötige Restriktionen im Sinne einer »Gängelung«? Welche Art Schutz der Schwächeren vor den Stärkeren wäre vernünftig? Im Rahmen des Rechts wird dann die Tugend wichtig. Tugend hat zum einen damit zu tun, wie weit man das Recht internalisiert hat. Befolgt man das Recht auch dann, wenn man nicht von außen kontrolliert wird? Es geht zum zweiten um den Habitus innerhalb des 158 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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rechtlichen Spielraums – sucht man nach dem Sinn der Gesetze 2 oder eher nach den Lücken im Gesetz? Erkennbar ist, dass zwischen Recht und Tugend ein Unterschied besteht und zugleich eine Beziehung. Ordnungspolitische Überlegungen müssen unweigerlich die Wechselwirkungen von Gesetz und Habitus im Blick behalten. Ob und wie weit kann und darf der Spielraum der Wettbewerbs-Handlungen beeinflusst, eingeschränkt oder mit Anreizen versehen werden? Das begründet sich nicht notwendig aus dem Misstrauen gegenüber allen Menschen und ihrer fehlenden Tugend. Die Menschen werden normalerweise nicht als sämtlich gewissenlos angesehen. Es geht vielmehr oft darum, die Anständigen zu schützen – und deshalb die Versuchungen der Gewissenlosen zu begrenzen. Die mögliche Bandbreite solcher TugendPrinzipien ist groß, und daher ist es umstritten, wieviel man tun sollte oder könnte.
5.
Zum Zusammenhang der beiden Ebenen
Es geht bei beiden Ebenen – Marktgrenzen und innerem Habitus – nicht um einfache Dichotomien wie viel/wenig oder ja/nein. Beide Themen weisen eine Spannbreite auf. Es gibt an den Enden extreme Rand-Positionen, aber dazwischen gibt es etliche Differenzierungsgrade. Die Art der Verteilung von Meinungen, Positionen, DenkSchulen, auch Ideologien, könnte unterschiedlich sein – beispielsweise könnte man viele Meinungen in der Mitte und nur wenig an den Rändern finden, oder aber es könnte sich um eine eher polarisierte Verteilung handeln, um eine Spaltung. Darauf wird später zurückzukommen sein. Eine Bemerkung speziell zur Tugend-Thematik ist notwendig: Die Rede ist zunächst nur von der Tugend innerhalb des Marktes. Es geht hier noch nicht darum, wie es um etwaige Tugenden in anderen Lebensbereichen steht, vor allem nicht um die Tugend der Kollektiventscheidung, des politischen Handelns. Natürlich sind die verschiedenen Lebensbereiche nicht unabhängig voneinander. Plausibel sind vermutlich folgende Vorstellungen: Zum einen die, dass Tugend weder im Markt noch in der Politik zu finden ist. Das ist eine verbreitete Im Sinne des Geistes der Gesetze bei Montesquieu (1748, 1950), der Tugend als die wesentliche Grundlage einer Republik ansah.
2
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skeptische Fiktion, ein Instrument, um Probleme zu finden, manchmal steckt dahinter auch ein zynisches Menschenbild. Am anderen Ende der Spannbreite steht die Vorstellung, dass die jeweilige Tugend sowohl im Markt als auch in der Politik zu finden ist. Das ist eine wünschenswerte oder auch optimistische Beschreibung einer gelungenen Zusammenwirkung der beiden Praxiswelten. Dazwischen schließlich liegt die Vorstellung, dass es einen tugendlosen Markt und eine tugendhafte Politik gibt. Das sind die eher marktpessimistischen und politikoptimistischen Positionen (der logisch mögliche vierte Fall – Tugend im Markt und tugendlose Politik – ist faktisch nicht so plausibel: Wenn die Politik ohne jegliche Tugend stattfindet, wird der Markt auch nicht lang Tugend ernst nehmen). Von den beiden Dimensionen Marktgröße und persönlicher Habitus könnte man zunächst meinen, dass sie eng miteinander zusammenhängen. Zugespitzt: Viel Tugend und wenig Markt einerseits, und viel Markt und wenig Tugend andererseits. In diesem Fall wären die beiden Grenzfälle so zu beschreiben: Am einen Ende findet sich die Vorstellung, dass die Tugend essentiell für das Miteinander der Personen ist; auch im Markt passende Tugend wäre vielleicht schön, aber das geht nur mit einem eng begrenzten Markt – wenn überhaupt. Am anderen Ende steht die Auffassung, dass man möglichst viel Markt und wenig Staat haben sollte, wobei der Staat nur das Recht durchsetzen und kein Tugendwächter sein soll. Wie passen Bruni und Sugden in diese Matrix, wo stehen sie? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst einmal die weiteren denkbaren Fälle betrachtet:
6.
Vier Fallunterscheidungen
Ausgangspunkt ist eine einfache Dichotomie mit vier Fällen. Die beiden Grenzfälle, die gerade beschrieben wurden, sind nun in der Diagonale zu finden:
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Schmaler Markt Nur Interessen im Markt relevant Auch Tugend im Markt relevant
Starker Markt Libertäre
Kommunitaristen
Libertäre trauen dem Staat nicht viel zu, seine Macht sei immer bedenklich, immer in Versuchung zu Nepotismus und Machtspielen; also wird der Minimalstaat gefordert (z. B. Nozick 1974, 2011): Der Staat soll das Recht durchsetzen und schützen. Ansonsten soll er sich heraushalten und die Gesellschaft weder steuern noch gestalten. Die klassischen Prinzipien der Französischen Revolution würden die Libertären wohl so einschätzen: Liberté gegen Fremdherrschaft – ja; Égalité – ja, des Rechts, aber nur des Rechts; und Fraternité – ja bitte, freiwillig, aber nicht als staatliches Instrument. Darüber hinaus ist der Markt am produktivsten, wenn alle Beteiligten tun, was sie wollen. Also ist minimale Ordnungspolitik gewünscht – wobei man Cleverness in Kauf nimmt, weil sie besser ist als politische Gängelung. Radikal und ausdrücklich bei Thatcher: »Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen.« Andere Libertäre haben weniger staatsskeptische Tugend-Überlegungen angestellt, etwa Friedman (1962). Kommunitaristen wie etwa Sandel oder Anderson sehen die Ethik des Marktes nicht als irrelevant an, aber sie konzentrieren sich viel mehr auf die Ethik der Kooperation. Es geht ihnen durchaus um die individuelle Entfaltung der Menschen und nicht nur um kollektives Gemeinwohl. Aber dennoch – die Entfremdung ist für sie ein zentrales Thema. Sie befürchten, dass die Kommodifizierung zu vieler Güter und Themen die Entfaltung der Personen zerstört. Deshalb sind Kommunitaristen immer marktskeptisch, weil für sie im TauschPrinzip zu viele Versuchungen lauern. Aus ihrer Sicht sollte der Markt eher klein bleiben. Eine Bandbreite findet sich freilich auch in dieser Denkschule: Einige Kommunitaristen können mehr Tausch akzeptieren, etwa Walzer (1987, 1992): Er geht von den unterschiedlichen Sphären aus, und alle sollten eingebettet und respektiert werden, in einem ethischen Pluralismus. Andere, am anderen Ende, wie McIntyre (1981), trauen dem Tausch prinzipiell nicht – es kann da
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kaum Tugend möglich sein, und deshalb sollte eigentlich alles gemeinsam entschieden werden. Mit McIntyres Position gerät man bereits in die Nähe eines weiteren Falles: Schmaler Markt
Starker Markt
Nur Interessen im Markt relevant
Kommunismus
Libertäre
Auch Tugend im Markt relevant
Kommunitaristen
Kommunismus: Für Marx ist philosophisch klar, dass der Markt menschlich unbrauchbar ist. 3 Nicht immer findet Ausbeutung statt (nur speziell im Kapitalismus), immer aber Entfremdung in jeglicher bürgerlichen Gesellschaft. Erst die kommunistische Gesellschaft geht mit den Menschen anders um: Jeder soll nach seinen Fähigkeiten beitragen, jedem soll nach seinen Bedürfnissen gegeben werden (Marx 1875, 1974). Da braucht man viel Tugend, um richtig zusammenzuarbeiten. Der Markt ist philosophisch irrelevant. Im realen kommunistischen Staat sah es dann ein wenig anders aus: De facto und in praxi ließ der Staat etliche Märkte als marginales Instrument zu. Die bekannten und gerne beschriebenen Beispiele sind Schrebergärten mit dem Gemüsemarkt und Schwarzmärkte in der Produktionswelt – sie waren zum einen Ventile und zum anderen Schmiermittel. Der Staat nahm das hin und brauchte diese Märkte, aber natürlich brauchten kommunistische Staaten keine relevante Markt-Ethik, ja nicht einmal spezifische Rechtsregeln. Eher nützlich war dort schlichter individualistischer Utilitarismus. Märkte waren nicht erlaubt, man verbot sie aber auch nicht, weder explizit noch implizit. Lesenswert hierzu ist Olson (2000).
Vgl. Marx, vor allem seine Frühschriften (1844, 1968; insbesondere S. 510 ff.). Vgl. auch Zintl (2005).
3
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Und schließlich noch der vierte Quadrant:
Schmaler Markt
Starker Markt
Nur Interessen im Markt relevant
Kommunismus
Libertäre
Auch Tugend im Markt relevant
Kommunitaristen
u. a. Bruni und Sugden
Hier finden sich viele ökonomische Verfassungstheorien. Bruni und Sugden präsentieren eine spezielle Version: Sie gehen von zwei und möglicherweise mehr als zwei Praxen aus, die zusammenwirken und einem komplexen Meta-Telos folgen. Aus der philosophischen und ökonomischen Welt ist vor allem Adam Smith (1759, 1977) zu nennen, und auch die ordnungspolitische Freiburger Schule 4 ist diesem Quadranten zuzuordnen. An den Grenzen gibt es Abstufungen und Grenzüberschreitungen – etwa mit Buchanan 5 und Hayek 6, die insofern libertär sind, als sie staatliche Zurückhaltung fordern, zugleich aber recht viel über den notwendigen Habitus nachdenken.
7.
Versuch einer Einordnung von Theoretikern und Philosophen
Folgende Matrix ist ein Versuch, die Diskussion anzuregen, sie will keine Positionen zementieren:
Vgl. vor allem Eucken (1952, 2008), aber auch Müller-Armack (1947, 1966), Röpke (1958, 2009) und Rüstow (1949). 5 Vgl. Buchanan (1975, 1984) sowie Zintl (2016). 6 Vgl. Hayek (1960, 1971) und (1981, 2003) sowie Zintl (2000). 4
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Schmaler Markt
Starker Markt
Nur Interessen Karl Marx im Markt relevant
Thatcher Friedman
McIntyre
Hayek Buchanan Eucken (Ordoliberale)
Anderson Auch Tugend Sandel im Markt relevant
Walzer
Rüstow Adam Smith Bruni und Sugden
Die Platzierung der Positionen ist insofern flexibel, als sie davon abhängt, welche Aspekte man in den Vordergrund stellt. Zu sehen ist, dass solche Einschätzungen nicht einfach und nicht eindeutig sind. Es sind mehrdimensionale Kriterien, die die Autoren selbst verwenden.
8.
Fazit
Zugespitzt ist das Kernargument von Bruni und Sudgen: Wer einen starken Markt will, muss auch mehr Tugend anstreben und unterstützen. Das ist eine komplette Gegenposition zum Kommunismus, was nicht überrascht. Darüber hinaus stehen Bruni und Sugden ambivalent zu den beiden anderen Positionen, den Kommunitaristen und den Libertären: nahe in einer und fern in anderer Hinsicht. Es sind, könnte man sagen, zwei Koalitionen vorstellbar, die unterschiedliche spezifische Konfliktlinien aufweisen. Die partielle Koalition mit den Kommunitaristen beinhaltet eine gemeinsame ethische Kritik an den Libertären: Es ist eine Koalition gegen individualistischen Egoismus, der eine Gesellschaft zerreißt und ihre kulturellen und ethischen Grundlagen spaltet. Zugleich stellt die Koalition Fragen an die Theorie der Libertären: Wie kommt eigentlich die Rechtsbefolgung zustande, die ihnen wichtig ist? Ist es plausibel, dass auch dort keine Tugend existiert, nur externe Kontrolle? Durch welche Instanzen findet eine Kontrolle statt, der man trauen kann? Umgekehrt ermöglicht die partielle Koalition mit den Libertären 164 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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eine gemeinsame ethische Kritik an den Kommunitaristen: Es ist eine Koalition gegen das Wunschdenken gesellschaftlicher Harmonie. Diese Harmonie hat Schwierigkeiten nicht nur mit der Freiheit, sondern auch mit dem Wohlstand. Pluralistische und komplexe Gesellschaften, auch mit Konflikten, sind produktiver. Zugleich stellt diese Koalition folgende Fragen an die Theorie der Kommunitaristen: Wie steht es mit dem Zusammenhang von Tugend und Interessen? Tugenden und Interessen sind nicht einfache Alternativen. Das Verhältnis von innerer Moral und externen Anreizen ist komplex: Es gibt sicherlich manchmal einen Tradeoff oder ein Crowding-out (Blutspenden-Altruismus kann mit Bezahlung erodieren), aber es gibt auch oft komplementäre Zusammenwirkung. Beide Koalitionen sind einleuchtend, auch ihre Kritik und Konflikte. Sie zeigen die Komplexität der Gesellschaft.
Literatur Anderson, Elizabeth (1993): Value in Ethics and Economics. Cambridge, MA: Harvard University Press. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Buchanan, James M. (1975, 1984): Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. Tübingen: Mohr Siebeck. Eucken, Walter (1952, 2008): Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen: Mohr Siebeck. Friedman, Milton (1962): Capitalism and Freedom. Chicago: University of Chicago Press. Hayek, Friedrich A. v. (1960, 1971): Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck. Hayek, Friedrich A. (1981, 2003): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen. Tübingen: Mohr-Siebeck. Marx, Karl (1844, 1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Berlin: MEW, Bd. 40 [Ergänzungsband], S. 456–588. Marx, Karl (1875, 1974): Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programms). Berlin: MEW, Bd. 19, S. 15–32. McIntyre, Alisdair (1981): After Virtue: A Study in Moral Theory. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press. Montesquieu, Charles Louis de (1748, 1992): Vom Geist der Gesetze. Tübingen: UTB. Müller-Armack, Alfred (1947, 1966): Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. In: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg: Rombach, S. 78–134. Nozick, Robert (1974, 2011): Anarchie, Staat, Utopia. München: Olzog.
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Reinhard Zintl Olson, Mancur (2000): Power and Prosperity. Outgrowing Communist and Capitalist Dictatorships. New York: Basic Books. Röpke, Wilhelm (1958, 2009): Jenseits von Angebot und Nachfrage. Düsseldorf: Verlagsanstalt des Handwerks. Rüstow, Alexander (1949): Zwischen Kapitalismus und Kommunismus. In: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 2, S. 100–169. Sandel, Michael J. (2012): What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets. New York: Farrar, Straus and Giroux. Smith, Adam (1759, 1977): Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg: Meiner. Walzer, M. (1987, 1992): Sphären der Gerechtigkeit. Frankfurt/New York: Campus. Zintl, Reinhard (2000): Die libertäre Sozialstaatskritik bei von Hayek, Buchanan und Nozick. In: W. Kersting (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats. Weilerswist: Velbrück, S. 95–119. Zintl, Reinhard (2005): Privateigentum, Ausbeutung, Entfremdung: Karl Marx. In: A. Eckl, B. Ludwig (Hrsg.), Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas. München: Beck, S. 176–190. Zintl, Reinhard (2016): James M. Buchanan: Liberaler Gesellschaftsvertrag und freiheitliche Kultur. In: Th. Biebricher (Hrsg.), Der Staat des Neoliberalismus, Baden-Baden: Nomos, S. 99–120.
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Michael Schramm
Tugenden als »Tauglichkeiten« Warum Bruni und Sugden Recht haben, aber noch ergänzt werden müssen
Das Wort »Tugend« hat für die meisten Zeitgenossen einen reichlich altbackenen, vielleicht sogar lächerlichen Beigeschmack. Bereits 1935 schrieb Paul Valéry: »Tugend, meine Herren, das Wort Tugend ist tot […]. Seit 1840 haftet dem Wort Tugend etwas Fragwürdiges an. Es bekommt einen leicht lächerlichen Klang. […] Man erträgt das Wort Tugend kaum noch in offiziellen Reden.« Es ist »nur noch im Katechismus, in der Posse, in der Akademie und in der Operette anzutreffen.« 1
Dass die Tugend erledigt sei, ist paradoxerweise auch die gemeinsame Vermutung einiger ihrer heutigen Anhänger und Kritiker. Während manche Fans Krokodilstränen angesichts eines »Verlustes der Tugend« vergießen 2, wird der Relevanzverlust der klassischen Tugendethik von Kritikern angesichts der Bedingungen der Moderne ausdrücklich proklamiert, so etwa von dem Wirtschaftsethiker Karl Homann: »Das Paradigma der Ethik wird von der […] Tugendethik auf eine […] Ordnungsethik umgestellt. […] Moral erscheint […] nicht mehr […] als Tugend, sondern als (rechtliche) Restriktion.« 3
Ich bin jedoch der Auffassung, dass das Konzept der Tugend von der Sache her alles andere als angestaubt oder erledigt, sondern grundsätzlich relevant und nützlich ist. Diese Sichtweise vertreten wohl auch Luigino Bruni und Robert Sugden, denn wie sie uns im Titel ihres Aufsatzes mitteilen, bemühen sie sich um Mittel und Wege, »wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann«. Ihr Vorschlag lautet, dass man dieses Zurückholungsunter-
1 2 3
Valéry (1935; S. 657, 659 und 660). Vgl. MacIntyre (1981, 1987). Homann (1993; S. 34 f.).
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Michael Schramm
fangen über die Identifizierung von sogenannten »Markttugenden« bewerkstelligen kann. Ich denke, dass diese Strategie von Bruni & Sugden (2013, 2017) einerseits originell ist und im Prinzip auch überzeugen kann (siehe Abschnitt 2), dass ihre Kopplung von Markt und Tugend(en) aber andererseits noch unter ihren Möglichkeiten bleibt und zumindest entsprechend ergänzt werden könnte (siehe Abschnitt 3). Beide Punkte möchte ich im Folgenden erörtern. Zunächst jedoch muss etwas zur Frage gesagt werden, was ein ernst zu nehmendes Tugendkonzept, das nicht auf bestimmte »Sekundärtugenden« des 19. Jahrhunderts (wie etwa Gehorsam oder Pflichtbewusstsein) eingeengt werden kann, eigentlich besagt.
1.
Was ist »Tugend« eigentlich?
Das klassische Konzept der »Tugend(en)« ist schon sehr alt und stammt von dem Philosophen Aristoteles (* 384 vC; † 322 vC) – und es unterscheidet sich deutlich von der in der Tat altbackenen oder angestaubten Tugendvorstellung, die heutzutage die meisten Leute im Kopf haben. Um sich das ursprüngliche, also von Aristoteles vertretene Tugendkonzept vor Augen zu führen, ist es hilfreich, von der Herkunft des deutschen Wortes »Tugend« auszugehen. »Tugend« leitet sich nämlich von »taugen« ab (mittelhochdeutsch »tougen«). Wir sagen etwa: »Dieses Werkzeug hier taugt etwas!« und meinen damit, dass dieses Werkzeug brauchbar oder zu etwas nützlich ist. Wenn jemand nun irgendeine »Tugend« hat, dann besitzt er Aristoteles zufolge irgendeine nützliche Eigenschaft, eine Fähigkeit, die man zu irgendeinem Zweck gut gebrauchen kann. Das Wort Tugend benennt ursprünglich also eine »Tauglichkeit«. Um das zu illustrieren und zugleich die thematische Breite des aristotelischen Tugendkonzepts auszuweisen, schauen wir uns Abb. 1 an:
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Tugenden als »Tauglichkeiten« Glück, »Glückseligkeit« (εὐδαιμονία)
Theorie (θεωρία): Handlungspraxis Wahrheit (πρᾶξις): Entscheidungen und Handlungen
Herstellen (ποίησις): Produkte
Vernunft (νοῦς) verstandesmäßige (dianoetische) Tugenden
Wissen (ἐπιστήμη)
Klugheit (φρόνησις)
Technik, Können (τέχνη)
Weisheit (σοφία)
ethische Tugenden
Tapferkeit, Mäßigkeit, Großzügigkeit, … Gerechtigkeit
Abb. 1: Tugenden bei Aristoteles
Beginnen wir mit der rechten Spalte. Hier geht es darum, dass jemand etwas hervorbringt, etwas »erschafft« oder herstellt (griechisch: Poiesis) und damit ein »Können« beweist, eine »technische« Fähigkeit. Ein einfaches Beispiel wäre ein Schreiner, der über das »technische« »Können« verfügt, einen Tisch oder einen Stuhl zu zimmern. Ein solcher Schreiner »taugt« etwas, er hat laut Aristoteles eine Tugend oder »Tauglichkeit«: nämlich die Fähigkeit, einen guten Stuhl herzustellen. Wir sehen, dass Aristoteles den Begriff der Tugend durchaus nicht nur für ethische Tugenden reserviert hat, sondern alle möglichen »Tauglichkeiten« damit benennt. Näherhin unterscheidet er (siehe zweite Zeile) drei Bereiche menschlicher Fähigkeiten auf dem Gebiet des Wissens und erklärt, dass
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Michael Schramm
»jedes Denkverfahren entweder auf eine Handlungspraxis oder auf ein Herstellen geht oder von theoretisch betrachtender Art ist.« 4
In jedem dieser drei Bereiche gibt es spezifische »Tugenden«, also »Tauglichkeiten«, die Aristoteles »verstandesmäßige« (»dianoetische«) Tugenden nennt (siehe dritte Zeile): • Um im Bereich der Theorie (θεωρία), die auf die Wahrheit über Gott und die Welt abzielt 5, erfolgreich zu sein, bedarf es der Vernunft (νοῦς), des Wissens (ἐπιστήμη) und der Weisheit (σοφία). • Im Bereich der Handlungspraxis (πρᾶξις), die sich um Entscheidungen und Handlungen auf zwischenmenschlichem Gebiet dreht, braucht ein Mensch die Tugend der Klugheit (φρόνησις). Denn: »Gut gemeint ist noch nicht gut gemacht!« • Und schließlich gibt es noch die »Tauglichkeiten« der »Technik« oder des »Könnens« (τέχνη) im Bereich der Herstellung (ποίησις) von Produkten – seien es jetzt Tische und Stühle oder aber Gedichte. All diese »verstandesmäßigen« (»dianoetischen«) Tugenden sind bei Aristoteles aber kein Selbstzweck; vielmehr haben sie einen Nutzen 6, indem sie einem Ziel und Zweck dienen: nämlich (siehe erste Zeile) dem »Glück« oder der »Glückseligkeit« (εὐδαιμονία). Wenn jemand eine Wahrheit über die Welt herausfindet, eine kluge politische Entscheidung trifft oder einen stabilen Tisch oder heute ein leistungsstarkes Smartphone produziert, trägt er zum »Glücken« oder Gelingen des menschlichen Lebens in der Gesellschaft bei: »Entscheidend für die Glückseligkeit sind die tugendgemäßen Tätigkeiten.« 7
Nun gibt es bei Aristoteles aber nicht nur diese »verstandesmäßigen« Tugenden, sondern eben auch »ethische« Tugenden: Aristoteles (1966; S. 131; Met 1025 a 25; Übersetzung modifiziert). Näherhin unterscheidet Aristoteles »drei betrachtende philosophische Wissenschaften […]: Mathematik, Physik, Theologie« (Aristoteles 1966; S. 132; Met 1026 a 17). Hier müsste man heute natürlich noch andere Natur- oder Gesellschaftswissenschaften wie etwa Biologie, Soziologie oder Ökonomik aufführen. 6 Aristoteles (1972/1984; S. 83; NE 1103 b 26): »Denn wir fragen nicht, um zu wissen, was die Tugend sei, sondern damit wir tugendhaft werden, da wir anders keinen Nutzen von ihr hätten.« 7 Aristoteles (1972/1984; S. 73; NE 1100 b 10). Vgl. auch (ebd., S. 65; NE 1097 b 20): »So scheint also die Glückseligkeit das vollkommene und selbstgenügsame Gut zu sein und das Endziel des Handelns.« 4 5
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Tugenden als »Tauglichkeiten«
»[D]ie einen Tugenden nennen wir verstandesmäßige, die anderen ethische: verstandesmäßige sind etwa die Weisheit, Auffassungsgabe und Klugheit, ethische die Großzügigkeit und Besonnenheit.« 8 »Die Tugend ist also von doppelter Art, verstandesmäßig und ethisch.« 9
Um ethisch richtige Entscheidungen treffen zu können, bedarf es – wie erwähnt – zwar auch einer »verstandesmäßigen« »Tauglichkeit«, nämlich der Klugheit (φρόνησις). Man benötigt also etwa empirische Kenntnisse, um die Folgen einer Handlung oder einer Spielregel abschätzen zu können. (Wie gesagt ist »gut gemeint« noch nicht »gut gemacht«!) Aber reine Verstandesklugheit reicht auch nicht aus. Vielmehr bedarf es zusätzlich auch genuin ethischer Tugenden oder »Tauglichkeiten«, um Entscheidungen und Handlungen hervorzubringen, die tatsächlich zum Ziel eines »glückenden« Lebens führen. Es ist jetzt nicht so entscheidend, welche ethischen Tugenden Aristoteles hier aufzählt 10 – konzeptionell wichtiger sind meines Erachtens die beiden grundsätzlichen Kennzeichen, die er den ethischen Tugenden zuschreibt: (a) Die ethischen Tugenden seien allesamt zum einen die gute goldene »Mitte« (μεσότης) zwischen zwei schlechten Extremen. Wenn zum Beispiel jemand wohlhabend ist, also relativ viel Geld hat und es jetzt darum geht, wie der richtige Umgang mit diesem Geld aussehen sollte, dann wäre das eine Extrem der Geiz und das entgegengesetzte Extrem die Verschwendung, während die goldene »Mitte« von Aristoteles als die »Großzügigkeit« bestimmt wird. 11 Ähnlich ist etwa die Tugend der Tapferkeit die Mitte zwischen den Extremen Feigheit und Toll(kühn)heit. Also: »Die Tugend […] betrifft die […] Handlungen, bei welchen das Übermaß ein Fehler ist und der Mangel tadelnswert, die Mitte [μεσότης] aber das Richtige trifft.« 12 Aristoteles (1972/1984; S. 80; NE 1103 a 2). Aristoteles (1972/1984; S. 81; NE 1103 a 14). 10 Bei Aristoteles wird eine Reihe von »ethischen Tugenden« und bei Bruni & Sugden eine Reihe von »Markttugenden« aufgezählt. Solche Listen haben immer etwas Kontingentes an sich – man kann sich auch andere Aufzählungen vorstellen. Ich interessiere mich daher hier mehr für die systematischen (formalen) Merkmale der Tugenden. 11 »Bei Geben und Nehmen von Geld ist die Mitte die Großzügigkeit, Übermaß und Mangel sind Verschwendung und Geiz.« (Aristoteles 1972/1984; S. 92; NE 1107 b 8; Übersetzung leicht modifiziert) 12 Aristoteles (1972/1984; S. 90; NE 1106 b 25). Die (durchaus kontingente) Tugend8 9
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Michael Schramm
(b) Und zum anderen müsse man, so Aristoteles, die ethischen Tugenden durch praktische Ausübung erwerben, bis sie zu einer »Gewohnheit« geworden seien. »Die ethische [Tugend] […] ergibt sich aus der Gewohnheit […]. Hieraus ergibt sich auch, daß keine der ethischen Tugenden uns von Natur aus gegeben ist. […] Die Tugenden […] erwerben wir, indem wir sie zuvor ausüben« 13.
Wenn man sich ein tugendhaftes Verhalten durch Gewohnheit zu eigen gemacht hat (zu einem »Habitus«, ἕξις), dann tut man das Richtige nahezu automatisch oder spontan und ohne langwieriges Nachdenken. Da fällt zum Beispiel eine ältere Dame auf der Straße hin und ohne zu zögern helfe ich ihr selbstverständlich und ohne große Pro- und Contra-Überlegungen auf, weil ich die Hilfsbereitliste des Aristoteles sieht folgendermaßen aus (mit den jeweiligen Extremen): 1. Tapferkeit (Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit), 2. Besonnenheit/Mäßigkeit (Teilnahmslosigkeit vs. Zuchtlosigkeit), 3. Großzügigkeit/Freigebigkeit (Geiz/Knauserigkeit vs. Verschwendung), 4. Hochherzigkeit (Engherzigkeit vs. Großtuerei/Prahlsucht), 5. Seelengröße/Hochsinn (Verzagtheit/Ängstlichkeit vs. Aufgeblasenheit/ Prahlerei), 6. Strebsamkeit (Antriebslosigkeit vs. krankhafter Ehrgeiz), 7. Sanftmut (Teilnahmslosigkeit vs. Jähzorn), 8. Aufrichtigkeit (Selbstironie vs. Unverschämtheit/Eingebildetheit), 9. Humor (Steifheit vs. ordinäre Possenreißerei), 10. Freundlichkeit/Freundschaftlichkeit (Streitsüchtigkeit vs. schmeichlerischer Gefallsüchtigkeit). 11. Eine Sonderstellung nimmt die Tugend der Gerechtigkeit ein, die Aristoteles als »die vollkommene Tugend […] im Hinblick auf den anderen Menschen« (Aristoteles 1972/1984; S. 155; NE 1129 b 26) bezeichnet. (a) Hier unterscheidet er zunächst zwischen der »Verteilungsgerechtigkeit« und der »Tauschgerechtigkeit«. Dabei funktioniert die »Gerechtigkeit der Verteilung« (vgl. Aristoteles 1972/1984; S. 160; NE 1131 b 10) nach dem Prinzip »geometrischer Proportionalitat«, die das Ganze und die Anteile am Ganzen betrachtet (Beispiel: Wenn ein Mitarbeiter eines Unternehmens zum »Kuchen« des Unternehmensgewinns 10 % beigetragen hat, sollte er auch einen Lohnanteil von 10 % bekommen.) Dagegen folgt die »ausgleichende Gerechtigkeit« (»Tauschgerechtigkeit«; »Vertragsgerechtigkeit«) (vgl. Aristoteles 1972/1984; S. 161; NE 1131 b 24) dem Prinzip der »arithmetischen Proportionalitat«, bei der es nicht um das Verhältnis von Ganzem und seinen Teilen geht – es gibt hier kein Ganzes –, sondern um arithmetische (rechnerische) Gleichheit auf zwei Seiten (Beispiele: Wenn ich fünf Äpfel kaufe, muss ich auch Geld im Wert von fünf Äpfeln bezahlen. Wenn ich jemanden geschlagen habe, dann sollte der Richter eine Strafe verhängen, die rechnerisch der Schwere des Delikts entspricht.) (b) Im Fall der Gerechtigkeit fragt man sich nun aber, inwiefern diese Tugend denn eine »Mitte« sein soll. Aristoteles (1972/1984; S. 166 f.; NE 1133 b 9) erklärt hierzu: »Die Gerechtigkeit ist also eine Mitte, freilich nicht auf dieselbe Art wie die übrigen Tugenden, sondern weil sie eine Mitte schafft. Die Ungerechtigkeit dagegen schafft die Extreme.« 13 Aristoteles (1972/1984; S. 81; NE 1103 b 17. 19. 31).
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Tugenden als »Tauglichkeiten«
schaft mein Leben lang eingeübt habe und sie mir sozusagen »in Fleisch und Blut« übergegangen ist: Ein tugendhafter Mensch ist »im Handeln sicher und ohne Wanken« 14. Er handelt mit einer gewissen »Leichtigkeit« 15.
2.
Warum Bruni und Sugden Recht haben
Die Hauptthese von Bruni & Sugden besagt, dass ein Marktteilnehmer nicht von vornherein ein moralisch fragwürdiges Subjekt sein muss, sondern dass er oder sie durchaus »tugendhaft« – also moralisch integer – handeln kann: »Unsere zentrale Idee besteht darin, dass die gesellschaftlichen Vorteile des Marktes als Summe der wechselseitigen Besserstellungen aufgefasst werden sollten, welche Individuen als Beteiligte an freiwilligen Tauschprozessen erzielen, und dass es sich bei Markttugenden um solche Dispositionen handelt, welche auf diese Art wechselseitiger Besserstellung gerichtet sind. Für tugendhafte Marktteilnehmer ist der gegenseitige Nutzen nicht nur ein willkommenes Nebenprodukt der individuellen Verfolgung des eigenen Interesses: Vielmehr streben sie bewusst an, dass Tauschhandlungen mit anderen für beide Seiten nutzbringend sind.« (BS 5)
Das ist eine »zentrale Idee« aus zwei Teilen: zum einen die (Teil)Idee, dass Märkte nicht von Hause aus Ausbeutungsveranstaltungen sind, sondern Instrumente der wechselseitigen Besserstellung sein können – diesen Teil der zentralen Idee werde ich hier nicht weiter diskutieren 16. Zum zweiten die (Teil)Idee, dass eine tugendhafte Marktteilnehmerin im Vollzug einer wirtschaftlichen Transaktion bewusst
Aristoteles (1972/1984; S. 87; NE 1105 a 30). Aristoteles (1972/1984; S. 84; NE 1107 b 8; Übersetzung leicht modifiziert). 16 Dass funktionierende (!) Märkte keine Ausbeutungsunternehmungen, sondern eine nicht nur ökonomisch, sondern auch ethisch zu begrüßende Institution sind, hat Karl Homann bekanntlich so auf den Punkt gebracht: »Wettbewerb ist solidarischer als Teilen.« (Homann / Blome-Drees 1992, S. 16 und 26) Natürlich sieht die Sache anders aus, wenn Märkte nicht funktionieren (weil zum Beispiel ein Monopol zu diagnostizieren ist) oder Märkte versagen (wenn es etwa um öffentliche Güter geht). Ein weiteres Problem des realen Marktgeschehens liegt beispielsweise darin, dass das Marketing von Unternehmen natürlich gezielt irrationale Schwächen realer Menschen anspricht, um ihnen – also uns – alle möglichen Produkte »anzudrehen« (vgl. Akerlof / Shiller 2015). 14 15
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nicht nur den eigenen, sondern den wechselseitigen Vorteil aktuell »intendiere« [»intends«]. Zunächst möchte ich meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass Bruni & Sugden mit ihrem »Konzept der Markttugend« (BS 5) tatsächlich meinen, was sie sagen (oder schreiben). Es ist für mich kaum vorstellbar, dass es sich bei der Ausformulierung ihrer »zentralen Idee« um einen sprachlichen »Betriebsunfall« handelt, um eine unglückliche »Formulierung«, die etwas ausdrückt, das »sie […] nicht wirklich gemeint […] haben können« 17. Dagegen spricht schon allein die Tatsache, dass die Formulierung, tugendhafte Marktteilnehmer würden »ihre Transaktionen ganz bewusst an der Idee wechselseitiger Vorteilsgewährung ausrichten« (BS 44) an mehreren Stellen explizit und zentral auftaucht (etwa in BS 5; 40; 44; 56, Fn. 5; 64). 18 Dass Bruni & Sugden nicht wissen, was sie mehrfach schreiben, ist wenig wahrscheinlich. Des Weiteren stimme ich dem »Konzept der Markttugend« (BS 5) von Bruni & Sugden inhaltlich durchaus zu. Was ihnen bei ihrer »zentralen Idee« meines Erachtens vorschwebt, möchte ich anhand einer Szene aus dem 2011 veröffentlichten Film Der große Crash – Margin Call (englischer Originaltitel: Margin Call) von Jeffrey C. Chandor illustrieren. Margin Call spielt im Spätfrühling 2007, kurz vor dem Beginn der Finanzkrise, und dreht sich um eine fiktionale Investmentbank, deren Analysten eines Nachts feststellen, dass die Finanzprodukte, mit denen sie handelt 19, nur ein Haufen von wertlosen Schrottpapieren sind – was aber »der Markt« noch nicht weiß! Firmenchef John Tuld (gespielt von Jeremy Irons) erklärt daher, alle Schrottpapiere müssten sofort nach Börsenöffnung verkauft werden. Vorstandsmitglied Sam Rogers (Kevin Spacey) bringt aber während des entscheidenden Meetings ökonomische und moralische Einwände gegen diese Strategie vor: Sam Rogers: »Aber John, mal rein hypothetisch. Falls wir es wirklich schaffen, das durchzuziehen – was schon ein Wunder wäre –, stellt sich mir die Frage: an wen wollen wir das alles verkaufen?« So aber der Interpretationsvorschlag bei Pies (2017). In BS 34 setzen sie sich überdies von der in der ökonomischen Standardtheorie seit der »unsichtbaren Hand« von Adam Smith einschlägigen Sichtweise ab, die wechselseitige Besserstellung könne gar nichts anderes sein als nur das »unbeabsichtigte [»unintended«] Resultat der individuellen Verfolgung jeweils eigener Interessen«. 19 Es handelt sich um MBS (»Mortgage-Backed Securities«), die zu CDOs (»Collateralized Debt Obligations«) verpackt oder »strukturiert« wurden. 17 18
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Tugenden als »Tauglichkeiten«
John Tuld: »An dieselben Menschen, denen wir seit zwei Jahren unsere Optionen andrehen. Wir verkaufen an jeden, der kaufen will.« Sam Rogers: »John, wenn Sie das wirklich tun, zerstören Sie für Jahre den Markt! Das war’s dann. Aus und vorbei. Und Sie verkaufen etwas, von dem Sie wissen, dass es keinen Wert hat!« John Tuld: »Wir verkaufen an willige Geschäftskunden zu einem fairen, marktbestimmten Preis. Aus nur einem Grund: damit wir überleben! […] Das ist die Lösung! Ich sage Ihnen: Das ist die Lösung!« (ab 00:51:17 Min.)
Dieses durchaus realitätsnahe Beispiel illustriert meines Erachtens das, was Bruni & Sugden bei ihrer »zentralen Idee«, ein tugendhafter Marktteilnehmer »intendiere« im Vollzug einer wirtschaftlichen Transaktion bewusst nicht nur den eigenen, sondern den wechselseitigen Vorteil, meinen. Während für John Tuld eben nur der eigene Vorteil zählt, repräsentiert der Widerspruch von Sam Rogers den »tugendhaften Marktteilnehmer«, der sich dagegen wendet, ahnungslosen Marktteilnehmern etwas »anzudrehen«, von dem man genau weiß, dass es nur Schrottwert hat. 20 Natürlich ist der Umstand, dass eine Transaktion nicht der »wechselseitigen Besserstellung« dient und nicht »für beide Seiten nutzbringend« ist (vgl. BS 5), in einem eher drastischen Fall wie dem in Margin Call wesentlich deutlicher sichtbar als beim Einkauf von Joghurtbechern oder Allesreinigern im Supermarkt. Hier wäre es nur mit einem nicht machbaren Aufwand möglich, empirisch nachzuprüfen, ob mein Kauf tatsächlich allen anderen Beteiligten (Hersteller bzw. Arbeiter in der Produktion, Zulieferer und Subzulieferer mit den dortigen Arbeiterinnen usw.) zum Vorteil gereicht. Gleichwohl kann ich zumindest bis zu einem gewissen Grade die Frage der »wechselseitigen Besserstellung« berücksichtigen, indem ich etwa Bio-Jogurt oder sozialökologisch verträglicheren Allesreiniger kaufe. Und: Auch wenn ich nicht in jedem Fall die empirische Frage entscheiden kann, ob eine Transaktion tatsächlich der »wechselseitigen Besserstellung« dient und »für beide Seiten nutzbringend« ist, so kann ich gleichwohl die »wechselseitige Besserstellung« »intendieren« oder »bewusst anstreben« – wohlgemerkt: »wechselseitige Besserstellung« nicht nur allgemein durch das Gesamtsystem des Marktes, sondern in jedem (Tausch)Akt. Etwas
Dass Sam Rogers am Ende des Films dann doch mitspielt, zeigt nicht, dass das »Konzept der Markttugend« (BS 5) falsch wäre, sondern dass die reale Markttugend im realen Geschäftsalltag eine kontingente Größe ist.
20
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anders sieht die Lage gegenüber Konkurrenten aus – dass man hier keine wechselseitigen Vorteile intendieren kann, ist klar. Aber diesbezüglich fordern Bruni & Sugden als »Markttugend« auch nur, dass keine Intention des Scheiterns von Wettbewerbern und keine Genugtuung darüber vorliegt (BS 64). Abb. 2 gibt einen Überblick. gegenüber Tauschpartnern
gegenüber Konkurrenten
Intention wechselseitiger Vorteile (BS 5; [34]; 40; 44; 56, Fn 5; 64)
keine Intention des Scheiterns von Wettbewerbern und keine Genugtuung darüber (BS 64)
in jedem (Tausch) durch das in jeder Trans- im Gesamtsystem Akt Gesamtsystem des aktion des Marktdes Marktes Marktes wettbewerbs praktisch oft nicht durchführbar, aber »eigentlich« JA
JA
JA
JA
Abb. 2: »Markttugenden« gegenüber Tauschpartnern und Konkurrenten
3.
Warum das Konzept der »Markttugend« von Bruni und Sugden systematisch ergänzt werden sollte
Bruni & Sugden stellen uns in ihrem Aufsatz ihr »Konzept der Markttugend« (BS 5) vor und greifen hierzu auch auf die Tugendlehre des Aristoteles zurück (vgl. vor allem BS 9 bis 12). Wenn man sich die oben referierte aristotelische Tugendkonzeption vor Augen führt, fällt jedoch auf, dass Bruni & Sugden hiervon lediglich die »teleologische« Ausrichtung der Tugenden – dass Tugenden also dem Ziel und Zweck des »Glücks« oder der »Glückseligkeit« (εὐδαιμονία) dienen und von daher nützlich sind – aufgreifen (vgl. BS 9), nicht jedoch (a) Aristoteles’ Lehre von der »Mitte« und auch nicht (b) seine Beschreibung der Tugenden als »Gewohnheiten«. Genau dies wäre meines Erachtens jedoch hilfreich. (a) Zieht man die meines Erachtens plausible Vorstellung des Aristoteles von der richtigen »Mitte« (μεσότης) heran, um das Geschehen 176 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugenden als »Tauglichkeiten«
auf Märkten präziser beschreiben zu können, so wäre das Konzept der Markttugend folgendermaßen zu rekonstruieren: Die von Bruni & Sugden kritisierten moralisierenden Tugendethiken werten das Eigen- oder Gewinninteresse ab, indem sie zum Mangel-Extrem tendieren, es sei »das Ideal einer Wirtschaft«, wenn »niemand […] motiviert ist, […] Tauschgewinne anzustreben« (BS 32). Doch auch mit dem gegenteiligen Übermaß-Extrem befindet man sich abseits der goldenen »Mitte« der Markttugend. Dieses Übermaß an Eigen- oder Gewinninteresse liegt dann vor, wenn jemand nichts anderes mehr im Kopf hat als mit allen Mitteln die maximalen Tauschgewinne herauszuholen (auch indem man den »Partner« über den Tisch zieht oder vernichtet). Ein Beispiel hierfür sind die Äußerungen des früheren Chefs von Lehman Brothers, Richard »Dick« S. Fuld (Spitzname: »der Gorilla«): »Wir werden […] alle Menschen besiegen, die uns im Weg stehen. So wünsche ich mir Lehman Brothers: Es gilt, unsere Gegner zu zermalmen.« (1994) »Wir werden diese Typen zerquetschen. Wir werden fest zudrücken. […] Was ich wirklich tun will: ihnen das Herz herausreißen und es aufessen, bevor sie sterben.« (2007). 21
Fuld verkörpert präzise die von Bruni & Sugden kritisierte Untugend, die dann vorliegt, wenn ein Manager oder ein »Unternehmen das Scheitern von Wettbewerbern beabsichtigt oder gar eine Genugtuung dabei empfindet« (BS 64). (b) Darüber hinaus ist es meines Erachtens auch deskriptiv hilfreich, Aristoteles’ Beschreibung der Tugenden als »Gewohnheiten« (ἕξις oder »Habitus«) für das Konzept der Markttugend heranzuziehen. Hier geht es ja darum, dass eine tugendhafte Person das Richtige nahezu automatisch oder spontan und ohne langwieriges Nachdenken tut. Wendet man dies nun auf die Frage des Verhaltens im Markt und auf das Konzept der »Markttugend« an, dann muss man zwei verschiedene, aber gleichermaßen wichtige Formen von »Handlungen, die wir ohne Nachdenken ausführen können« 22, unterscheiden: Videoaufnehmen: https://www.youtube.com/watch?v=FPlZi8zugNM (00:07:43 Min. und 00:08:46 Min.) 22 Ich entnehme diese Formulierung einem Zitat des Philosophen Alfred N. Whitehead: »Es ist ein völlig irriger Gemeinplatz, der in allen Lehrbüchern und in Vorträgen hervorragender Leute immer wiederkehrt, dass wir die Gewohnheit entwickeln sol21
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Michael Schramm
Auf der einen Seite ist da das ökonomische oder marktorientierte Verhalten. Damit meine ich ein Verhalten, das sich »marktgerecht« am Preismechanismus orientiert. Dieser Punkt wurde vor allem von Friedrich August von Hayek hervorgehoben: Da in den Marktpreisen das verstreute Wissen unzähliger Einzelpersonen und unüberschaubarer Verhältnisse als aggregierte Information enthalten sei, sei es richtig, sich dem Signalsystem der relativen Preise anzuvertrauen – weil es völlig unmöglich sei, den globalen Marktprozess zu durchdenken. 23 Das ist der eine Typus von »Handlungen, die wir ohne Nachdenken ausführen können« sollten. • Darüber hinaus aber ist auch die Tugend eine Art von Handlung, in der nun das ethisch Gute spontan und ohne langwieriges Nachdenken getan wird. Der Unterschied zwischen dem marktorientierten und dem tugendhaften Handeln in wirtschaftlichen Entscheidungssituationen ist dabei folgender: • Während wir den »Inhalt« des Preismechanismus (also die unendlich verzweigten Wege des Zustandekommens der relativen Preise) in der Tat nicht wissentlich präsent haben, weil wir ihn nicht annähernd überblicken können (das Argument Hayeks), • ist der »Inhalt« der Tugend im tugendhaften Akteur völlig präsent, weil er ihm aufgrund der eingeübten Gewohnheit (ἕξις) so »in Fleisch und Blut übergegangen« ist, dass er sein Denken und Fühlen durchströmt (das Argument des Aristoteles). Ein Test hierfür ist eine Situation, wie ich sie oben anhand des Films Margin Call dargestellt habe: Sam Rogers wird hier aufgefordert, gegen seine habitualisierten »tugendhaften« Überzeugungen zu handeln und anderen Marktteilnehmern wertlose Finanzprodukte (»CDOs«) anzudrehen. Dass dies moralisch falsch ist, fühlt Sam Rogers mit jeder Faser seiner Existenz und reagiert deswegen sofort und spontan mit Widerstand. 24
•
len, bewusst zu denken, was wir tun. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Der Fortschritt der Zivilisation besteht darin, dass die Zahl der wichtigen Handlungen, die wir ohne Nachdenken ausführen können, immer größer wird.« Im Original findet sich diese Passage bei Whitehead (1911; S. 61). Sie wird ohne Angabe der Quelle zitiert bei Hayek (1948/1976; S. 117); von dort habe ich auch die deutsche Übersetzung übernommen. 23 Zu von Hayeks Argument vgl. die Kurzübersicht bei Horn (2015). 24 Dass er am Ende nach längerem Hin und Herr dann doch mitspielt, zeigt nur, dass
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Tugenden als »Tauglichkeiten«
Ausblick: Tugenden auf allen Ebenen (Mikro, Meso, Makro) Nur hinweisen möchte ich abschließend auf einer weitere, meines Erachtens aber notwendige Ergänzung des »Konzept[s] der Markttugend« (BS 5) von Bruni & Sugden. Sie beschränken sich auf die Mikroebene der Tugend(en) individueller Marktteilnehmer, was aber ausgeblendet bleibt, sind die Mesoebene und die Makroebene: • Da wäre also einerseits auf der Mesoebene die Frage nach der »Tugend kollektiver Akteure«, etwa der Wirtschaftsunternehmen, zu stellen. 25 • Und weiters wäre auf der Makroebene die Frage nach der »Tugend gesellschaftlicher Institutionen« zu thematisieren. 26
Literatur Akerlof, George A. / Shiller, Robert J. (2015): Phishing for Fools. Manipulation und Täuschung in der freien Marktwirtschaft, Berlin: Econ. Aristoteles (1966): Metaphysik (übersetzt von Hermann Bonitz, hg. von Héctor Carvallo & Ernesto Grassi) (Griechische Literatur, Bd. 10), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Aristoteles (1972/1984): Die Nikomachische Ethik (hg. von Olof Gigon), 5. Aufl., München: dtv. Bruni, Luigino und Robert Sudgen (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Hayek, Friedrich August von (1948/1976): Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Aufl., Salzburg: Neugebauer.
es eben unterschiedliche genuine Interessen gibt: nicht nur moralische Interessen, die sich in Tugenden habitualisiert haben, sondern auch ökonomische Interessen (Eigennutzinteressen). 25 Vgl. etwa Wieland (2001). 26 Es ist interessant, dass John Rawls (1971/1979; S. 19) die soziale Gerechtigkeit als »die erste Tugend sozialer Institutionen« bezeichnet. Es ist nicht klar, warum er hier gesellschaftliche Spielregeln mit dem Begriff der »Tugend« verbindet (was zumindest außerordentlich unüblich ist). Ich neige zu zwei Vermutungen: (a) Gesellschaftliche Institutionen »taugen« etwas, wenn sie gerecht sind; sie führen dann nämlich für alle zu einem »glückenderen« Leben. (b) So wie individuelle Tugenden bei den Akteuren ein nahezu »automatisches« Handeln bewirken, so können Spielregeln eine ähnliche Funktion haben: Indem sie das Verhalten der betroffenen (individuellen oder kollektiven) Akteure kanalisieren, führen sie nahezu »automatisch« zum gesellschaftlich erwünschten Verhalten und fungieren wirtschaftsethisch somit als funktionale Tugendäquivalente. Näher hierzu: Schramm (2006).
179 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Michael Schramm Homann, Karl (1993): Wirtschaftsethik. Die Funktion der Moral in der modernen Wirtschaft, in: Wieland, Josef (Hg.): Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft, Frankfurt (M.): Suhrkamp, S. 32–53. Homann, Karl / Blome-Drees, Franz (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Horn, Karen (2015): Friedrich August von Hayek. Wider die Anmaßung von Wissen, in: Nienhaus, Lisa (Hg.): Die Weltverbesserer. 66 große Denker, die unser Leben verändern, München: Hanser, S. 57–59. Auch online: http:// www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/die-weltverbesserer/fried rich-august-von-hayek-wider-die-anmassung-von-wissen-12605023.html MacIntyre, Alasdair (1981/1987): Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (Theorie und Gesellschaft, Bd. 5), Frankfurt (M.) / New York: Campus. Pies, Ingo (2017): Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik: Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Bruni und Sugden, in diesem Band. Rawls, John (1971/1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt (M.): Suhrkamp. Schramm, Michael (2006): Das Management moralischer Interessen. Zur Praxisrelevanz von Tugenden in der Wirtschafts- und Unternehmensethik, in: Wieland, Josef (Hrsg.): Die Tugend der Governance (Studien zur Governanceethik, Bd. 4), Marburg: Metropolis, S. 51–82. Valéry, Paul (1935): Über die Tugend, in: Europäische Revue 11, S. 657–665. Whitehead, Alfred North (1911): An Introduction to Mathematics, New and Revised Edition, London: Williams & Norgate. Wieland, Josef (2001): Die Tugend kollektiver Akteure, in: Wieland, Josef (Hrsg.): Die moralische Verantwortung kollektiver Akteure (Ethische Ökonomie. Beiträge zur Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur, Bd. 6), Heidelberg: Physica, S. 22–40.
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Birger P. Priddat
Brauchen wir Markttugenden?
Sind Tugenden wichtig für die Erklärung von Marktprozessen? Gewöhnlich verwenden Ökonomen diesen Begriff nicht; sie können systematisch damit nichts anfangen. Ihre Handlungstheorie ist auf rationale Wahlhandlungen ausgelegt. Jeder Akteur ist demnach in der Lage, gegebene Alternativen danach auszuwählen, welche davon für ihn die beste ist. Die beste Alternative auszuwählen heißt, optimal zu wählen Die ökonomische Theorie ist eine Theorie der effizienten Allokation. Natürlich kennt dieses Handlungsschema auch Restriktionen (constraints). Moralische Haltungen z. B. schränken den Wahlbereich der Alternativen ein (wer religiöse Gebote befolgt, trinkt keinen Alkohol etc.). Man kann sagen, dass die Wahl unter der Einschränkung rational ist, aber die Einschränkung ist moralisch, nicht rational. Es gibt kein Kriterium der (rationalen) Wahl optimaler Moral. Wozu nun Tugenden? Reichen nicht die moralische Kriterien? Tugenden sind zwar alltagssprachlich irgendwie mit der Moral gekoppelt, aber sie entstammen einer anderen Soziologie und sind für unsere hypermoderne Gesellschaft kaum brauchbar. Bei Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik die Tugenden – als ethische gegenüber den dianoetischen Tugenden der Klugheit – konzeptionell ausgearbeitet hat für das Abendland, sind sie von der Art sozialer Kompetenzen. Und zwar charakterlich divers verteilt über die Population der Bürger: der Mutige ist nicht notwendig zugleich gerecht; und der Freigebige ist beides nicht etc. Tugenden sind Klassen von Verhaltensmustern, die asymmetrisch über die Bürgerschaft verteilt sind. Alle Tugenden haben eine prosoziale Komponente: sie stärken die Gemeinschaft auf ihre besondere Weise arbeitsteiliger ethischer Kompetenzen. Tugenden bezeugen den Status, den man in der Gemeinschaft der Polis hat. Es gibt – neben den ethischen Tugenden – keine besondere Moral in der Polis. Wenn wir heute über Tugenden reden, reden wir über Haltun181 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Birger P. Priddat
gen. Die Haltungen müssen erkenn- und beobachtbar sein, d. h. gleichsam als Charakterzüge, die man verlässlich erwarten kann. Wer gerecht ist, betrügt nicht. Wer freigebig ist, feilscht nicht, sondern lässt es ›auch einmal gut sein‹. Wir können diese Haltungen als esteem oder als belief structures in das ökonomische Handeln einbauen, aber es sind keine stabilen bzw. erwartungssicheren Muster. Denn niemand ist verpflichtet, Tugend zu haben. Tugenden treten vereinzelt auf, und man ist nicht darin geübt, sie zu erwarten. Sie leisten keine transaktionskostensenkende Orientierung; sie sind eher kontigente Ereignisse in Marktprozessen. Man kann es am besten so erklären: Tugenden sind latent in jedem Akteur vorhanden (sozialisiert), aber man weiß nicht (auch der Akteur selber nicht), wann sie aktiviert werden (Priddat 2006). Es gibt Situationen, in denen Akteure unvermittelt tugendhaft auftreten, wenn es niemand von ihnen erwartet; gleichsam als Kompensation für vorherige Serien rein interessenbezogenen Handelns (moralische Bilanzierung: Priddat 1997). Zudem sind Tugenden divers verteilt; nicht jeder hat welche und wenn, nicht ›alle‹. Welche Tugend kann man von wem erwarten? Wir haben ein Identifizierungsproblem; nur in stabilen Netzwerken, die über längere Zeit interagieren, bilden sich die Erwartungsmuster der Tugenden aus. In schnellen, dynamischen Märkten nicht. Oder eher nur kontingent. Tugenden sind taugliche Verhaltensmuster für Vertrauensnetzwerke, aber kaum für anonyme Märkte. Deidre McCloskey hat die Entwicklung des Händlerkapitalismus in der Neuzeit über das Vertrauen der Händlereliten untereinander erklärt (bourgeois virtues) (McCloskey 2006). Adam Smith’s Politische Ökonomie des 18. Jahrhunderts kennt das Vertrauen schon nicht mehr. Das Vertrauen in die social networks des Internets heute ist gänzlich anderer Art, flüchtig und nicht tugendausbildend. Bruni/Sudgen zählen ein paar Tugenden auf, die sie für Markttugenden halten: »Universalität, Unternehmergeist und Wachsamkeit, Respekt für die Vorlieben der Tauschpartner, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, die Akzeptanz des Wettbewerbs, Selbsthilfe, Neidfreiheit sowie stoischen Gleichmut in Vergütungsfragen« (BS 3). Keine dieser Tugenden ist notwendig, damit Transaktionen gelingen. Ich halte das für eine beliebige Aufzählung. Ich würde andere Tugenden vorschlagen: Ambiguitätsresistenz, Risikoaffinität, Aufmerksamkeit, Volatilitätsgelassenheit, Netzagilität. In meiner Liste sind es ambivalenzannehmende Haltungen, die 182 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Brauchen wir Markttugenden?
nicht die alte Eindeutigkeit der klassischen Tugendmarkierungen haben. Ich will nicht darauf bestehen, dass meine Liste endgültig oder überhaupt nötig ist. Aber wenn man heute Tugenden einführt, müssen sie Ambiguitätsaushaltungen sein; alles andere ist eher konservativ auf Sicherheits- und Eindeutigkeitsphantasien bezogen. Transaktionen – die Kernoperationen der Märkte – sind keine Treueschwüre, sondern eine moderne Form der Kopplung von Interessen, in die Tugenden ohne weiteres einfließen können, aber ohne konstituierende Formierungskraft. Tugenden sind Angebote von Verhaltenskontinuitäten, aber keine Regeln oder Normen, die unbedingt befolgt werden müssen. Sie sind nicht bindend, sondern freiheitliche Optionen, keine Regelgefüge. In tradierten Gesellschaften kann man Tugenden als Verhaltensmuster erwarten, in hypermoderen Gesellschaften sind Tugenden durchaus positive Optionen, aber durchschnittlich nicht erwartbar. Das Risiko besteht darin, dass man in den heutigen dynamischen Umgebungen nicht erwarten kann, dass Tugenden, auf die man meint sich verlassen zu können, invariant durchgehalten werden. Und weil wir so wenig Erfahrungen mit Tugenden haben, sind sie korruptiv ausbeutbar (Modellfall Enron).
Marktugenden als Kooperation zwischen Gleichen Bruni/Sudgen plädieren allerdings dafür, dass moderne Märkte in gewisser Weise tugendformiert sind: »Nach unserer Auffassung ist das telos des Marktes die wechselseitige Vorteilsgewährung. Daher werden Markttugenden auch in anderen Bereichen des menschlichen Lebens zur Geltung kommen, die man als Kooperation zwischen Gleichen zum Zwecke gegenseitiger Besserstellung verstehen kann.« (BS 20)
Die individuellen rational actors achten nach diesem Vorschlag neben der Optimierung ihrer Interessen in einer Transaktion auch auf die Interessenoptimierung des anderen. Die Tugend, die hier in Anschlag gebracht wird, ist eine Art Freigebigkeit, die eigenen Interessen nicht egoistisch zu optimieren, jedenfalls nicht auf Kosten anderer. Man gesteht dem anderen zu, was man selber beansprucht – schenkt ihm eine Art Gleichheit im gemeinsam koordinierten Transagieren. Man könnte ja umgekehrt den anderen übervorteilen wollen, was in der 183 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Birger P. Priddat
Bruni/Sudgen-Version aber tugend-schematisch zurückgenommen wird. Transaktionen lassen eine Kooperation zum Zwecke gegenseitiger Besserstellung ohne weiteres zu, brauchen sie aber nicht notwendig, um als Transaktion effektiv zu gelingen. Man sollte unterscheiden zwischen der ›Kooperation von Gleichen‹ und zwischen der ›gegenseitigen Besserstellung‹. Die Versicherung auf Gegenseitigkeit, die die Kooperation der Transaktionspartner als Gleiche auszeichnet, ist tatsächlich eine kulturelle Leistung der Transaktion: sie stellt eine gewisse Symmetrie her, scheidet Herrschaftsbeziehungen aus. Sie aber auf ›gegenseitige Besserstellung‹ bzw. auf ›wechselseitige Vorteilsgewährung‹ auszuweiten, überdehnt die Leistung der Transaktion. Denn transagiert wird im Normalfall auch, wenn beide sich nicht besserstellen noch wechselseitig Vorteile gewähren, sondern lediglich bekommen, was sie brauchen. Die Transaktion ist auch dann effektiv, wenn keine Effizienznormen bedient werden. In der Besserstellungskategorie wird eine doppelte Akteursrationalität hineingezaubert in die Transaktionskoordination. Doch braucht die Transaktion nicht notwendig rationale Akteure, um effektiv wirksam zu sein. Märkte funktionieren hocheffektiv, aber nicht notwendig effizient (Priddat 2016). Konsequent müsste man, wenn man seinen Vorteil wahrnimmt, diesen nicht ausnutzen, sondern dem anderen den gleichen Vorteil schenken. Es ist – in dieser Bruni/Sudgen-Tugendefinition – ein Geben und Nehmen: eine reziprozitäre ›Verfassung‹ des Transaktionsprozesses. Prinzipiell ist das in jeder Transaktion möglich: Wenn sich zwei sympathisch sind, können sie innerhalb des bargaining einer Transaktion Vereinbarungen jenseits der Konkurrenz tätigen (Priddat 2011). Bruni/Sudgen meinen aber nicht diesen Fall, sondern setzen die Markttugend wie eine Norm, die jeder rationale Akteur vernünftig finden muss bzw. die durch vernünftige Reflektion einsichtig ist. Anstelle der Betonung der rational actor-Qualität der Transaktionsbeteiligten nominieren Bruni/Sudgen sie qua Kooperationszuschreibung zu tugendhaften Akteuren. Als Individuen bleiben sie rational actors, als Kooperanden bekommen sie eine Art shared mental model der gegenseitigen Anerkennung. Wer aber denkt so? Wer verhält sich durchschnittlich so? Man kann es nur rechtfertigen, wenn man diese wechselseitige Anerkennung als Konvention, als eingespielte, unbewusst ausgeübte Handlungsverfassung voraussetzen kann. Dann aber haben alle die gleiche Tugend; wir reden fast schon wieder von einer moralischen Regel: der 184 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Brauchen wir Markttugenden?
Vorteil, der wechselseitig gewährt werden soll, muss fair zustande kommen. Doch wo bilden sich solche Verhaltensstandards aus? Im Markt? Wird die wechselseitige Vorteilsgewährung nicht eher durch die Rechtsform der Verträge gewährleistet als durch tugendhaftes Verhalten? Bruni/Sudgen sehen es in einem weiteren Zusammenhang. Das Zitat, das wir oben anfingen, geht wie folgt weiter: »Nach unserer Auffassung ist das telos des Marktes die wechselseitige Vorteilsgewährung. Daher werden Markttugenden auch in anderen Bereichen des menschlichen Lebens zur Geltung kommen, die man als Kooperation zwischen Gleichen zum Zwecke gegenseitiger Besserstellung verstehen kann; wie Mill (1861 [1976]; S. 29–30) folgert, werden die Markttugenden daher auch für ein Umfeld sorgen, in dem sich die »sozialen Gefühle der Menschheit« entwickeln können. Wie Mill und viele spätere Theoretiker des Sozialkapitals erkannten, formen Marktbeziehungen einen Teil des Netzwerks jener Kooperationsbeziehungen, die eine Bürgergesellschaft ausmachen (vgl. zum Beispiel Putnam 1993). »Daher sind die speziellen Tugenden des Marktes ganz allgemein auch Tugenden der Bürgergesellschaft.« (BS 20 f.) Der antagonistische Interessengegensatz der beiden Akteure in einer Transaktion wird zu einem Kooperationsmodus, der als Modell der Gesellschaft insgesamt ausgewiesen wird. Von John St. Mill wird die Metapher des ›sozialen Gefühls der Menschheit‹ geliehen, die nun im 21. Jahrhundert etwas fremd erscheint, zumal sie aus dem 19. Jahrhundert der Klassenkämpfe entstammt, also mit gänzlich anderen Soziologien operiert. Man sollte Mill gegenüber misstrauisch sein, wenn er vom ›sozialen Gefühl‹ redet: sein Liberalismus ist ein Elitetheorem (Priddat 2000). Die Kooperation der Gleichen, die die Autoren definieren, ist in einer Klassengesellschaft ein Clubphänomen der Eigentümer und Vermögenden. Das ›soziale Gefühl der Gleichheit der Menschheit‹ bleibt dann eine paternalistische Geste im Kampfraum der sozialen Frage im 19. Jahrhundert, weder die Arbeiterklasse noch die kolonialisierten Ethnien umfassend. Dass die speziellen Tugenden des Marktes auch die Tugenden der Bürgergesellschaft sein sollen, beruht auf einer Idee der Neuzeit, nach der der Handel friedensbringend ist (gegenüber der adeligen Kriegswelt. Implizite ist die Republik die geeignetere Form bürgerlichen Lebens anstelle der Monarchie). Nur war die Montesqieu’sche Formel des ›douce commerce‹ auf die Welt der Händlereliten ge185 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Birger P. Priddat
münzt, nicht auf eine moderne Gesellschaft insgesamt. Adam Smith machte dann in seinen Lectures of Jurisprudence die Bilanz auf: mehr Wohlstand, auf Kosten der Tugenden (wealth versus virtue [Smith 1982]). Das ist bereits eine neue Epoche: die Händlertugenden spielen weniger eine Rolle als die kapitalistischen Interessen, die allein durch ihre Investitionen Arbeit und Einkommen im Konkurrenzfeld schaffen. Die Einkommen/Löhne – bescheiden wie sonst nichts – sind positive Nebeneffekte des Investitionsverhaltens. Hier braucht man keine Tugenden (außer man zählt den unternehmerischen Wagemut dazu [vgl. Moretti 2014]).
Verschiedene Märkte, verschiedene Tugenden Bei genauerer Betrachtung verteilt sich das Tugendthema auf die verschiedenen Märkte verschieden. Im Gütermarkt sind die Tugenden kaum präsent. Was ein Konzern an Markenqualität verspricht, muss er halten. Hier wird er durch die Konkurrenz zur ›Tugend‹ genötigt. Ist umgekehrt Markentreue eine Konsumententugend? Wäre sie rational rechtfertigbar? Anders sieht es im Arbeitsmarkt aus. Was die Verträge versprechen, muss notwendig eingehalten werden; dafür sind rechtliche Instanzen erstellt, das zu kontrollieren. Aber die Arbeitsverträge – als relationale Verträge – müssen freilassen, was und wie dann tatsächlich gearbeitet werden wird. Hier käme es auf Tugenden an: wie Vorgesetzte sich verhalten? Wie Versprechen eingehalten werden? Welche Regeln überhaupt gelten? Wer dafür einsteht, dass sie gelten? Über ein Wertemanagement und die damit verknüpften Tugenden stärkt sich das soziale Kapital einer Organsiation und ihre Führungskompetenz (Wieland 2005). Anders die Lage in den Kapitalmärkten. Was ein Bankberater verspricht, ist kaum der Rede wert, weil nicht er, sondern die Märkte die künftigen Werte generieren. Man wünscht sich tugendhaft redliches Beraten; aber faktisch kann das in einer Risikowelt nicht gelingen. Dennoch laufen die Versprechungen auf Transparenz, Ehrlichkeit, Moral, Kompetenz etc. hinaus – auf Tugendansprüche, die in einer volatilen und kontingenten Wertschöpfungswelt der Kapitalmärkte nicht gelten können. Wäre ein Bankberater tugendhaft, müsste er im gleichen Maße auf die Risiken verweisen (Bank-Kunden-
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Brauchen wir Markttugenden?
Beziehung): was seine berufliche Karriere nicht fördert (Bank-Mitarbeiter-Arbeitsvertrag) (Priddat 2012). In den Arbeitsmärkten, insbesondere im Umgang mit Verträgen in den Organisationen, haben wir die einzige Arena, in der Tugenden: bindende Versprechen, einzuhaltende Verabredungen, faire Behandlungen (und Bezahlungen) etc. wahrhaftige Produktivitätseffekte erbringen. Die Tugendmomente bilden sich in den Relationen zwischen Führung und Mitarbeitern ab. Wer hält sein Wort? Wer verhält sich anständig? Wer motiviert? Es ist die Frage, ob die modernen Märkte eigene Tugenden ausbilden, die dann – so die Mill-These – auf die Gesellschaft übertragen werden. Oder ob nicht vielmehr die Interessenorientierungen der modernen Märkte stabile Tugendordnungen als ethische Infrastrukturen voraussetzen. Wenn das der Fall ist, müssen wir auf Soziologie umschalten und klären, welche Tugendpotentiale hypermoderne Gesellschaften noch haben und wie sie diese regenerieren. Denn in den Märkten herrschen andere Anreizsysteme, die nicht tugendorientiert arbeiten. Es bleibt offen, wie Bruni/Sudgen sicherstellen wollen, dass Märkte aus ihren Prozessen heraus die Tugenden weiter ausbilden oder gar nur halten. Wenn wir uns die Transaktionen, die Kern-Operationen der Märkte, ansehen, brauchen wir keine moral standards: alles Ungerechte regelt das Vertragsrecht. Wenn a und b in der Transaktion T aufeinandertreffen, was nützt die Tugend z. B. von b? Und wenn a gar keine hat? Was aber, wenn a und b beide tugendhaft sind, aber verschiedene Tugenden haben? Was koordiniert sich dadurch? Das Einzige wäre dieses: dass beide, a wie b, frei miteinander agieren können, d. h. die Freiheit zu transagieren haben. Ist das bereits ein Tugendarrangement? Beide wollen etwas Differentes, eigentlich Unvermittelbares. Die Transaktion ermöglicht die Kooperation als Vermittlung des Unvermittelbaren. Das ist eine kulturelle Errungenschaft (Markt als Kulturform), aber nicht ins klassische Tugendmuster applizierbar. Die kulturelle Pointe lautet vielmehr, tugendlos miteinander anonym kooperieren zu können. Bzw. dass es keiner Tugendauszeichnung bedarf, um als Partner anerkannt werden werden. Man transagiert mit jedem, weil, im Falle des Scheiterns, vor Gericht abgerechnet wird, und nicht vor einem ›Gerichtshof der Moral‹. Es braucht keine gesellschaftliche Instanz (der Tugendwacht). In dem Sinne erweitert die vertragsjuris187 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Birger P. Priddat
tisch geschützte Transaktion den Spielraum des Handelbaren: jeder kann transagieren, anonym, ohne Tugendqualifikation, wie auch ohne Familien- oder Clan-Ausweis. Wir sind uns gewöhnlich gar nicht im Klaren, welche kulturelle Extension die moderne Transaktion ermöglicht. Hier noch wieder Tugendschranken zu errichten, wäre kontraproduktiv. Dass wir Sekundärmerkmale haben, die das, was früher Tugenden leisten sollten, ersetzen, ist offensichtlich: Kreditfähigkeit (Schufa-Prüfung), Zahlungsfähigkeit (ebenfalls Schufa oder eigene Erfahrung: Kundentreue), etc. In der hypermodernen Welt setzen wir nicht mehr auf Tugenden, weil sie selber opportunismusanfällig sind. Die kulturelle Transformation, die die moderne Marktwirtschaft mit sich brachte, war eine Verschiebung von den ethischen auf die dianoetischen Tugenden: auf die Klugheitsoperationen (wie Ph. Wicksteed die marginal revolution einschätzte: als dianoetische Tugendtheorie der Ökonomie (Wicksteed 1910). Wenn wir smartness bzw. rationality höher schätzen als stabile Tugendhaltungen, können wir Bruni/Sudgens Tugendprogramm nurmehr als Programm der dianeotischen Tugenden – in wechselseitiger Klugheit – lesen. Inzwischen mehren sich aber Zweifel, ob die rational choice von Normalakteuren in persuasiven Güter- bzw. Konsummärkten überhaupt durchgehalten werden kann, angesichts der mannigfaltigen überredenden und affektiven Beinflussungen (Akerlof / Shiller 2015; Priddat 2015). In einer medienkommunikativen Marktwelt nach ethischen Tugenden zu suchen, ist gewagt. Wir sollten die Tugendfrage in der Ökonomie auf die Bereiche fokussieren, in denen Menschen tatsächlich und ständig kooperieren müssen: auf die Einhaltung von wertschätzenden Beziehungen in Arbeitswelten.
Literatur Akerlof, G. A. / Shiller, R. J. (2015): Phishing for Phools: The Economics of Manipulation and Deception, Princeton University Press. Bruni, L. / Sudgen, R. (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. McCloskey, D. N. (2006): The Bourgeois Virtues: Ethics for an Age of Commerce. University of Chicago Press. Mill, John Stuart (1861) [1976]: Utilitarianism. London: Dent.
188 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Brauchen wir Markttugenden? Moretti, F. (2014): Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne, Berlin: Suhrkamp Priddat, B. P. (1997): Moralischer Konsum. Über das Verhältnis von Rationalität, Präferenzen und Personen, in: Lohmann, K. R./Priddat, B. P. (Hrsg.): Ökonomie und Moral. Beiträge zur Theorie ökonomischer Rationalität, München: Oldenbourg: Scienta Nova, S. 46–78. Priddat, B. P. (2000): Nonkonformität und Öffentlichkeit. John Stuart Mills Sozialphilosophie, reconsidered, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 86, 4. Quartal, Heft 4, S. 518–536. Priddat, B. P. (2006): Tugend als Social Strings, in: Wieland, J. (Hrsg.): Die Tugend der Governance, Marburg: Metropolis, S. 23–30. Priddat, B. P. (2011): Kollaborative Vertragsprozesse und Netzwerke. Williamson and beyond, in: Grüninger, St./Fürst, M./Pforr, S./Schmiedeknecht, M. (Hrsg.): Verantwortung in der globalen Ökonomie gestalten. Governanceethik und Wertemanagement, Marburg: Metropolis, S. 111–146. Priddat, B. P. (2012): Vertrauen, Wissen, Nichtwissen – Bank-Kunden-Beziehungen in der Finanzkrise, in: Kraemer, K./Nessel, S. (Hrsg.): Entfesselte Finanzmärkte. Soziologische Analysen des modernen Kapitalismus, Ffm.: Campus, S. 263–279. Priddat, B. P. (2015): Economics of Persuasion. Ökonomie zwischen Markt, Kommunikation und Überredung, Metropolis Priddat, B. P. (2016): Transaktion als Juxtaposition und als Kooperation: differente Interpretationen des Marktes, in: Hans-Christoph Schmidt am Busch (Hrsg.): Die Philosophie des Marktes, Hamburg: Felix Meiner Verlag (im Erscheinen). Putnam, Robert D. (1993): Making Democracy Work. Princeton University Press. Smith, A. (1982): Lectures on Jurisprudence, eds. R. L. Meek/D. D. Raphael/ P. G. Stein, Indianapolis. Wicksteed, Ph. W. (1910, 2nd ed., 1933): The Common Sense of Political Economy: Including a Study of the Human Basis of Economic Law, London: Macmillan. 2 vols (reprinted in 1933, L. Robbins, ed., Clifton NJ: Augustus M. Kelley Publishers). Wieland, J. (2005): Die Tugend der Governance, in: derselbe: Normativität und Governance, Marburg: Metropolis, S. 83–104.
189 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Christoph Henning
Tugendethik und Marktexzesse: Philosophische Einwände gegen einen Kurzschluss
Die Kritik an bestimmten Phänomenen der Marktwirtschaft, die von AutorInnen wie Alasdair MacIntyre oder Martha Nussbaum formuliert wird (Henning 2015; S. 215 ff., S. 334 ff.), kann man »Tugendethik« nennen, weil diese Autorinnen zugleich Rückbezug nehmen auf Aristoteles, von dem die Tugendethik maßgeblich stammt. Bruni und Sugden (2013, 2017) nehmen die Marktkritik der Tugendethiker nun als eine solche wahr, die nicht nur den Markt selbst betrifft, sondern auch die ökonomische Theorie, die Marktprozesse analysiert (daher die Rede von »Ressentiments gegen die Ökonomik«, BS 2) – und darüber hinaus der Politik eine stärkere Vermarktlichung empfahl. Sie wollen die eigene Zunft, das universitäre Fach der Ökonomik, vor der Kritik der Tugendethiker in Schutz nehmen, indem sie im Markt selbst eine eigene Familie von Tugenden freilegen. Strategisch ist das eine gewitzte Idee. Ich möchte trotzdem drei Fragen aus philosophischer Sicht stellen, denn das Ganze ist etwas zu konstruiert, als dass es vollends überzeugen würde. Dabei geht es einerseits um den sozialen Kontext der Tugendethik, der bei Bruni/Sugden etwas zu kurz kommt, anderseits um eine methodenkritische Betrachtung darüber, ob die beiden das selbstgesteckte Ziel eigentlich erreichen – ich glaube es nämlich nicht. Die drei Fragen, die ich stellen möchte, lauten: (1.) Inwieweit ist die Rede von Tugenden des Marktes mit Aristoteles’ Ethik vereinbar, oder inwieweit liegen hier Äquivokationen vor (bloß ähnliche Namen für verschiedene Dinge)? (2.) Soweit eine Übertragung möglich ist, welche Beweisschritte wären noch zu erbringen, bevor ein solches Projekt Erfolg haben kann? (Erfolg muss angesichts des selbstgesteckten Ziels heißen: die tugendethischen Marktkritiker bzw. ihre Leser zum Umdenken zu bringen.) (3.) Welchen Erkenntnisgewinn bietet dieser Aufsatz, selbst wenn er sein zentrales Ziel nicht erreichen sollte? 190 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und Marktexzesse
1.
Lässt sich sinnvollerweise von Markt-Tugenden reden? – Über Anthropologie und Glück
Bei der Übertragung der Ideen des Aristoteles auf den heutigen Markt durch Bruni und Sugden lassen sich Zweifel anmelden. So übernehmen Bruni und Sugden von den aristotelischen Unterscheidungen nur eine, nämlich die zwischen poiesis und praxis (nach Hannah Arendt: zwischen Herstellen und Handeln). Aristoteles unterscheidet die Erzeugung von Gegenständen, bei der der Zweck der Tätigkeit der erzeugte Gegenstand ist (der der Handlung extern bleibt), von der Handlung, die ihren Zweck in sich selbst hat. Bruni und Sugden scheinen zu unterstellen, dass diese Unterscheidung in der Differenz zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation aufgeht. 1 Schon hier wäre ich skeptisch – Aristoteles’ Unterscheidung ist nicht psychologisch, sondern handlungstheoretisch. Daher ist sie von der Motivation unabhängig. Wichtiger noch ist aber, dass eine ganze Reihe weiterer Unterscheidungen schlicht fehlen – etwa die anthropologischen: Tugenden müssen praktisch eingeübt werden, weil der Mensch als leibliches Wesen nicht alles nur über den Kopf lernen kann. Hinter der Tugendethik steht also eine bestimmte Anthropologie, eine Lehre vom Menschen: Da ist beispielsweise die Seelenlehre. Sie unterscheidet einen ernährenden (vegetativen, der Pflanze ähnlichen), einen fühlenden (sensitiv-volitiven, den Tieren ähnlichen) und einen intellektuellen Seelenteil, der allein den Menschen vorbehalten ist. Die Tugendlehre ruft deswegen zur Mäßigung auf, um ein Gleichgewicht zwischen diesen Seelenteilen und den ihnen gemäßen Handlungsweisen zu ermöglichen (Henning 2011). Eigentlich sind solche »portfolio«-Analysen gar nicht so unökonomisch, doch bei Bruni/Sugden fehlen sie. Tugenden sind stets das Ergebnis einer Einwirkung von außen (was eine Unterscheidung natürlicher und künstlicher Tugenden erschwert), entweder durch Belehrung oder durch Einübung (das unterscheidet die noetischen von den dianoetischen Tugenden). Der Grund dafür, dass es einer solchen Einwirkung bedarf, die über Einübung Zur Kritik an diesem Konzept siehe Brennan/Jarkowski (2016; S. 109): »Within self-determination theory, scholars have abandoned talk of intrinsic versus extrinsic motivation in favor of a refinement of extrinsic motivation into autonomous versus controlled motivation«.
1
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Christoph Henning
dann verinnerlicht wird, ist die Maßlosigkeit vor allem der ›niederen‹ Seelenteile. Die höheren setzen die niederen stets schon voraus und können ihnen daher kaum gefährlich werden (außer in asketischen Extremfällen). Die niederen Seelenteile hingegen können, wenn sie zu viel Raum einnehmen, dazu führen, dass die höheren gar nicht erst erreicht werden (Sprichwörter wie »Voller Bauch studiert nicht gern« geben davon Zeugnis ab). Tugendhaft sein heißt also vor allem, sich an Maße halten zu können (daher die zentrale Rolle der mesotesLehre von der goldenen Mitte), sich im alltäglichen Verhalten aus eigenem Antrieb zu mäßigen. Man soll die ›niederen‹ Triebe also nicht bändigen oder unterdrücken, wie etwa stellenweise im Christentum, sondern ihnen durchaus ihr Recht einräumen; aber gerade dies, um ihnen nicht die Zügel in die Hand zu geben (so das schöne Bild vom Wagenlenker in Platons Phaidros) und auch die anderen Seelenteile – bzw. die ihnen gemäßen Handlungsweisen (gemeint sind letzten Endes Politik und Wissenschaft, bios politikos und bios theoretikos) zum Zug kommen zu lassen. Nur wenn ein jedes Moment zu seinem Recht kommt, kann eine Person frei entscheiden. Ein jeder von ihnen muss sich daher Grenzen setzen lassen, oder besser: sich selbst begrenzen. Autarkie – das zentrale Ziel des unabhängigen und selbstbestimmten Lebens – ist daher nur möglich, wenn sich die Menschen durch Einübung in die Tugend selbst begrenzen können. Daher ist bereits auf definitorischer Ebene sichtbar, dass etwas beim Aristoteles-Bezug klemmt, wenn man nun gerade dem Markt eigene Tugenden andichten möchte. Denn der Tauschhandel auf dem Markt hat für Aristoteles das gravierende Problem, dass er potentiell »unendlich« ist – dass es bei ihm gerade kein inhärentes Maß gibt (und damit im Grunde auch kein telos, kein erreichbares Ziel). Gerade deswegen bedarf es der Tugenden – schon bei Aristoteles sind sie dem Markt gegenübergestellt. Sie sollen das Leben des Genusses und der Akkumulation mäßigen, indem sie Grenzen aufzeigen, die eine untugendhafte Lebensweise gern überschreitet – zum Schaden der Akteure selbst wie des Gemeinwesens. Ein exemplarisches Vorleben eines anderen, gelingenden Leben (ein positives »role model) gehört zu diesem Konzept hinzu; und vielleicht fehlen uns heute solche Vorbilder – heute wollen Jugendlich oft reich und berühmt werden. Tugenden sind bei Aristoteles also immer schon auf den Markt bezogen, aber dies negativ: in mäßigender und grenzziehender Absicht (Gronemeyer 2007). Es macht daher prima facie wenig Sinn, 192 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und Marktexzesse
das Marktgeschehen selbst als »tugendhaft« zu bezeichnen, denn dies verdreht den Gedankengang des Aristoteles. Zumindest setzt es eine andere Definition von Tugend voraus als die Aristotelische. Wird solch eine alternative Deutung von Bruni und Sugden angeboten? Ich meine nicht. An dieser Stelle eine Zwischenbemerkungen zum Charakter der Rede von »Grenzen« im Bereich der Tugendethik, gerade im Zusammenhang mit dem Begriff des telos: Eine Grenze zu benennen heißt nicht in rein deskriptiver Redeweise zu behaupten, dass sie nicht überschritten werden kann. Denn die meisten Grenzen können selbstverständlich überschritten werden (ich kann mich ›maßlos‹ betrinken, mein Gegenüber beleidigen etc.). Philosophie macht lediglich die Konsequenzen klar, die ein solches Überschreiten hat, und hofft auf die Einsicht der Hörenden. Eine Grenze wird auch dann überschritten, wenn eine Tätigkeit über das Erreichen des Zieles hinaus weitergetrieben wird (etwa: wenn ich mehr esse, als mein Körper benötigt – das wäre Völlerei; wenn ich mehr trinke, als ich vertragen kann, einen Partner mit anderen betrüge etc.). Ein Bild dafür ist die umgekehrte U-Kurve: Eine gewisse Zeit lang hat die Tätigkeit gute Folgen, dann kommt es zum Zenit, danach sind die Folgen eines Weitermachens eher negativ – man sollte stattdessen etwas anderes tun und es »gut« sein lassen. Wenn es dem guten Leben abträglich ist, sich durch zu viel Stress Magengeschwüre zu holen oder seine Freunde und seine Familie durch Unausgeglichenheit zu vergraulen, dann ist man gut beraten (das Konzept der »Eubolia«), wenn man versucht, dies zu vermeiden. Ähnliches lässt sich in politischen Zusammenhängen sagen. Man möchte mit solchen Bemerkungen durchaus in das Geschehen eingreifen und spricht damit nie ›rein‹ deskriptiv. Man beschreibt die Wirklichkeit mitsamt der in ihr verkörperten Wertgestalten, den realen Möglichkeiten gelingenden Lebens. Damit wieder zurück zur Tugend. Es gilt nun zu erläutern: Warum eigentlich begreift Aristoteles den Markt als potentiell unendlich und daher der einhegenden Tugenden bedürftig? Dafür gibt es verschiedene Gründe, strukturelle wie psychologische. Das Geld selbst ist eine erste materiale Voraussetzung dafür: Im Gegensatz etwa zu Gütern wie Getreide oder Wein lässt es sich potentiell unendlich horten, und psychologisch gibt es offensichtlich einen vergleichbaren Mechanismus: Ich »brauche« nur ein Bett und ein Fahrrad (die Suffizienz ist hier schnell erreicht), aber wann hätte ich je genug Geld? Wahrscheinlich niemals. Strukturell hat diese Unendlichkeit mit der 193 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Christoph Henning
Umstellung von einer Gebrauchsorientierung auf die Tauschorientierung zu tun: Gebrauchsgüter intendieren das Gut des Gebrauchenden und sind daher glücksförderlich (etwa: Ich freue mich, wenn du die Nudeln isst, die ich für dich gekocht habe). Tauschgüter dagegen sind vom Verbrauch abgekoppelt; sie intendieren stattdessen primär einen maximalen Gewinn. Ich tausche nur dann Schuhe gegen Hosen und diese gegen Holz, wenn das Holz am Ende mehr wert ist als die Schuhe, etc. Potentiell unendlich ist dieser Akt aus zwei Gründen: Erstens kann ich ihn unendlich oft wiederholen, wie es noch heute einige ›Zocker‹ an der Börse tun. Zweitens kann ich dabei zumindest versuchen, den Gewinn unendlich zu steigern (wie es heute etwa bei Entlohnungssystemen für Banker und Topmanager der Fall zu sein scheint). Es gibt keine eingebauten Schranken, die mir sagen, wann es »gut« ist, wann es reicht – es gibt also in diesem Sinne gerade kein »telos«. Umgekehrt hat Autarkie mit einem Sinn für Suffizienz zu tun; daher waren um ihre Unabhängigkeit bestrebte Nationen oft bemüht, sich nicht allzu sehr vom Weltmarkt oder gar von bestimmten Anbietern abhängig zu machen. Für ein gutes Leben, die Eudaimonia, braucht es aber genau ein solches Innehalten, ein Übergehen von einer Tätigkeit zu einer anderen. Anders gesagt: Muße, als Grundlage der Kultur, setzt voraus, dass das Wirtschaften irgendwann ein Ende hat und man sich anderen Dingen zuwenden kann. Ein mittlerer Reichtum ist dafür die Grundlage, aber er ist ein Mittel und kein Selbstzweck. Seine ethische Empirie sagt Aristoteles, dass das Übertreten solcher Grenzen, das Nichtablassenkönnen von nur einer Tätigkeit (die er zudem, als ernährend, unter die einfacheren Vermögen rechnet), dem Glück sowohl der Individuen wie der Gemeinschaft abträglich ist. Dem Glück der Individuen deswegen, weil man aus dem zusätzlich gewonnenen Geld irgendwann keinen Nutzen mehr zieht, aber dennoch nicht mehr davon ablassen kann (Binswanger 2012). Auf der Minusseite verliert man so Zeit und Gelegenheit sowie die Bereitschaft dazu, noch etwas anderes zu tun. »Das Andere« sind die Güter des Leibes und der Seele: Zeit mit Freunden, mit einem Buch, mit der Natur, mit und für sich selbst und die anderen. Daher ist noch für Karl Marx der wahre Reichtum »disposable time, freie Zeit« zur eigenen Entwicklung (MEW 26; S. 251 f.). Das setzt einen gewissen Reichtum voraus, aber auch die politische Möglichkeit und individuelle Fähigkeit, nicht ständig nur um die Vermehrung dieses materiellen Reichtums zu kreisen. 194 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und Marktexzesse
Dem Glück der Gemeinschaften ist ein Fehlen dieser Zeit und des Umschaltenkönnens zu anderen Tätigkeiten deswegen abträglich, weil mit dem anwachsenden Geld kein Gut der Gemeinschaft mehr verbunden ist: Es ist vom Gebrauch entkoppelt und im Wortsinne austauschbar. Zudem wird es nur von einigen wenigen (privat) angeeignet. Das führt zu wachsenden sozialen Unterschieden, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft gefährden können. Der Effekt einer solchen Handlungsweise kann also eine Erosion lokaler Standards zur Folge haben. Man mag dies mit Bruni und Sugden »Universalität« (BS 43–45) oder »Freiheit« (BS 38 f., 66) nennen, doch solange keine neuen Standards etabliert werden, ist der bloße Abbau von Verhaltensregeln ein zweifelhafter Gewinn. Habermas (1998) sprach daher von der Notwendigkeit einer neuen politischen »Schließung« auf postnationaler Grundlage, nach der weitgehenden Marktöffnung durch die EU. Marktprozesse bedürfen also der Begrenzung durch die Tugenden, weil sie strukturell unabschließbar sind. Sie führen ein potentiell unendliches Wachstum mit sich, das zu einem Selbstläufer werden kann und der Kontrolle der Beteiligten wie der Nichtbeteiligten zu entgleiten droht. Daher bedarf es im Grunde einer doppelten Einhegung: einmal durch politische Rahmeninstitutionen, die Regeln aufstellen und sanktionieren; und dann durch eine biopolitische Habitualisierung von Wertkodizes, welche den Akteuren moralische und staatsbürgerliche Tugenden »einleibt«, welche den maßlosen wirtschaftlichen Interessen Grenzen setzen können (denken wir an Dinge wie Steuerehrlichkeit oder das Einhalten sozialer Standards). Das kommt nicht aus dem Markt selbst, sondern wird ihm als Korsett mitgegeben. Da dies auf verschiedene Weise geschehen kann, gibt es nicht nur einen »Kapitalismus«, sondern institutionell gesehen verschiedene Versionen (Clark 2016). Ein »entbetteter« Markt wechselt nur eine Einbettung gegen eine andere aus.
2.
Welche Schritte fehlen für eine vollständige Beweiskette? – Über Tugendkonflikte und Theodizee
Schenken wir es Bruni und Sugden aber einmal, for the sake of the argument, dass es Sinn macht, bei vermarktlichten Tauschhandlungen und der sich um sie herumkristallisierenden Lebenswelt von »Tugenden« zu sprechen Das Beweisziel ist damit noch keineswegs er195 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Christoph Henning
reicht, dass man das, was vorher keine »Tugend« war, nun Tugend nennt. Vielmehr wäre allererst die Frage zu beantworten, was zu tun ist, wenn verschiedene solcher Tugenden aufeinander treffen. Ich komme damit auf einen weiteren Punkt, nämlich den Konflikt zwischen verschiedenen Tugenden. Hier, so glaube ich, missverstehen Bruni und Sugden die Tugendethiker. Diese sind keineswegs gegen Marktprozesse per se, als lebten sie in einer Traumwelt, wo sich alles von allein regelt (so der Vorwurf, BS 14–16). Ihr Widerstand richtet sich vielmehr gegen die stete Ausdehnung der Märkte, gegen ihren Kolonialismus (im Wortsinn der Eroberung neuer geographischer Einflusszonen wie im übertragenen Sinne der »Landnahme«, der Vermarktlichung gesellschaftlicher Sphären, die einst anders geregelt waren – Bildung, Gesundheit, Alterssicherung, Verkehr etc.). Das Argument der tugendethischen Marktkritiker gegen die Ausbreitung der Logik des Marktes und die Kommodifizierung und Monetarisierung aller sozialen Sphären ist nicht einfach nur, dass der Markt keine Tugenden kenne. Auch er setzt ja eine gewisse Verlässlichkeit voraus (z. B. »Zahlungsmoral«, Kreditwürdigkeit oder, modern gesagt, »Employability«). Das Argument ist vielmehr, dass es unterschiedliche Tugenden und Wertvorstellungen gibt. Zwischen diesen gibt es für die Tugendethiker die Vermutung einer Werthierarchie, die Aristoteles u. a. durch die Unterscheidung von poiesis und praxis artikuliert hatte. Setzen wir einmal voraus, es gebe tatsächlich ökonomische Tugenden, aber auch ethische sowie politische oder gesellschaftliche. Setzen wir weiter, der Markt habe seinen Zweck darin, Güter bereitzustellen und so die Versorgung der Bürger zu sichern. Dann ist dies eine poiesis, die Herstellung eines Gutes, die der Tätigkeit selbst äußerlich ist. Sie hat also eine dienende Funktion (so noch Ulrich 2008). Wenn Markthandlungen zum Selbstzweck würden, handelte es sich nach dieser Wahrnehmung um eine Zweck-MittelVerkehrung, um eine Obsession (wie es Filme wie Wallstreet von 1987, Cosmopolis von 2012 oder The Wolf of Wallstreet von 2013 veranschaulichen). Steht diese Tätigkeit im Interesse der Gemeinschaft im Konflikt mit dieser Gemeinschaft selbst, so ist es klar, dass der Zweck das Mittel beugt und nicht umgekehrt. Die Tugenden der Gesellschaft stehen im Zweifelsfall also höher als die des Marktes. 2 Erst dies ist die VerBeispiele wären wie folgt: Wenn die Vermarktlichung der Altersversorgung, der Bildung und der Gesundheit dazu führt, dass das Renten-, Bildungs- und Gesund-
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Tugendethik und Marktexzesse
marktlichungskritik der Tugendethiker. Gegen sie ist noch nichts gewonnen, wenn man Marktprozesse ebenfalls als tugendhaft benennt. Für das Erreichen des Beweiszieles fehlt noch etwas Entscheidendes, nämlich der Nachweis, warum die »Markttugenden« höher zu werten wären als ethische oder gesellschaftliche Tugenden (etwa die Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit, die Solidarität oder der Handwerksstolz, die Bruni und Sugden aufrufen, BS 70). Sollte dies anders gemeint sein, so wäre noch immer die Frage, was eine mögliche Entscheidungsregel wäre, um mit solchen Konflikten umzugehen. Das Kriterium der Tugendethik ist der republikanische Gedanke des Blühens eines Gemeinwesens, welches durch die Tugenden sichergestellt wird und im Zweifelsfalle Vorrang genießt. Was aber wäre das Entscheidungskriterium von Bruni und Sugden? Sind es bloße Wachstumsraten? Oder gibt es vielleicht gar keines? Ein zweites fehlendes Glied in der Beweiskette lässt sich im Anschluss an die Theodizeefrage so ausdrücken: unde malum? Woher kommt eigentlich das Schlechte? Ich bezweifle, dass Bruni und Sugden ihr Material einer empirischen Betrachtung entnehmen, wie Ingo Pies und Gerhard Engel annehmen. Dann nämlich hätten sie auf historische Studien oder Forschungen der Wirtschaftssoziologie (etwa im Ausgang von Karl Polanyi) zurückgreifen müssen. Dort gibt es allerdings nur verschiedene gesellschaftliche Situationen, unter denen einzelne wirtschaftliche Praktiken erprobt werden. Ein reines, idealisierendes Bild von »dem« Markt und seinen Tugenden ist aus dieser Perspektive hochgradig unwahrscheinlich – es handelt sich ja um ein idealisiertes Modell. Vielmehr kommt aus einer empirischen Perspektive auch eine durchaus dunkle Unterseite von Marktprozessen zu tage. So haben Marktgesellschaften eine Tendenz, Kolonien zu bilden. Neben dem friedlichen, reziproken und »universalistischen« Tausch steht damit eine kriegerische, ausbeuterische und partikularistische Tugend – vom alten Athen über Florenz und Venedig, die Niederlande und England bis zu den Golfkriegen des 20. Jahrhunderts ist das zu beobachten. Empirisch lässt sich das aus einer Beobachtung von heitsniveau sich verschlechtert, dann sollten die Tugenden des Marktes zurücktreten. Wenn der profitable Handel mit Zigaretten, Antibiotika im Tierfutter oder Glyphosat massive Nachteile für Beteiligte wie für Bystander nach sich zieht (obwohl es dabei marktgerecht zugeht), sind sie zu kritisieren. Oder: Wenn die Kommodifizierung von Gefühlen und sozialen Dienstleistungen dazu führt, dass die Bindungsfähigkeit der Menschen abnimmt, ist auch dies kritisch zu betrachten.
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Christoph Henning
Marktprozessen schlecht ausgrenzen. Ausgrenzen lässt es sich nur, wenn man aus einer anderen Quelle ein Ideal zugrunde legt, und alles, was dem Ideal nicht entspricht, aus der empirischen Betrachtung ausscheidet. Aber das ist Rosinenpickerei oder, mit Karl Popper gesagt, Verifikationismus: Man sucht sich nur die passenden Beispiele aus und glaubt fälschlich, damit etwas bewiesen zu haben. So etwas sehe ich auch bei Bruni und Sugden: Ein bezeichnendes Beispiel ist etwa der Aufruf des Umgangs mit den Juden im Mittelalter (BS 45). Nimmt man dies als Beispiel, kann man nicht lediglich die friedlichen Zeiten herauspicken und als Beleg für eine Tugend des Marktes nehmen. Wie die Autoren selbst sagen, gab es immer wieder Ausbrüche einer offenen Verfolgung. Auch diese aber gilt es, empirisch zu analysieren – doch dann sehen die Marktprozesse weit weniger rosig aus. Ökonomisch jedenfalls spricht wenig dagegen, diejenigen aus dem Weg zu räumen, bei denen man sich bis über die Ohren verschuldet hat. 3 Ähnliches lehrt der Blick auf die Geschichte des Welthandels: Bei allen Nationen wechseln sich Perioden des Freihandels mit Perioden des Protektionismus ab, ohne dass »der Markt« etwas dagegen gehabt hätte. Auf welcher Grundlage will man sagen, dass das eine der tugendhafte »Markt« war, das andere aber nicht? Bruni und Sugden entnehmen ihre Tugenden also keiner empirischen Betrachtung; sie entnehmen sie der ökonomischen Lehrmeinung, der Dogmatik des eigenen Faches, welches sie ja verteidigen möchten. Aufgerufen werden Ricardo und Edgeworth, Friedman und Buchanan – alles Autoren, die hochgradig konstruktivistisch vorgehen und nicht empirisch im Sinne etwa von Schmoller und Knies. Doch wenn man sein Material schönfärberisch vorauswählt, entsteht unweigerlich eine Art Theodizeefrage: Wenn es mit den Markttugenden nichts zu tun haben soll, woher kommt denn das Schlechte in der Welt, auf das sich die Marktkritiker beziehen? Wenn der Markt nur Gutes schaffen soll, dann braucht es noch einen Gegen-Gott, der all das Schlechte schafft. Wer oder was wäre dies? Darüber schweigen »Wenn ich den Nationalökonomen frage: Gehorche ich den ökonomischen Gesetzen, wenn ich aus der Preisgebung, Feilbietung meines Körpers an fremde Wollust Geld ziehe …, oder handle ich nicht nationalökonomisch, wenn ich meinen Freund an die Marokkaner verkaufe …, so antwortet mir der Nationalökonom: Meinen Gesetzen handelst du nicht zuwider; aber sieh dich um, was Frau Base Moral und Base Religion sagt; meine nationalökonomische Moral und Religion hat nichts gegen dich einzuwenden« (Marx, MEW 40, S. 550, H. i. O.).
3
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Tugendethik und Marktexzesse
sich Bruni und Sugden aus. Sehen wir die Beispiele daher einmal näher an: »Lebensmittel, Kleidung, Brennstoffe und Wohnraum« (BS 19). Bei all diesen Dingen ist nicht »der« Markt, sondern die zunehmende Vermarktlichung hochgradig umstritten: • Um Lebensmittel dreht sich etwa der derzeitige Streit um Ceta und TTIP. Wollen sich Konsumenten um Effizienzgewinne der Konzerne willen wirklich vorschreiben lassen, ob Gentechnik und Pestizide in ihrem Essen sind, welche Umweltstandards gelten, und welche Gerichte im Zweifelsfall entscheiden? Gerade hier regen sich starke Widerstände. • Um die Produktionsbedingungen von Kleidung drehen sich der Streit um die Bekleidungsfirma KIK sowie laufende internationale Rechtsverfahren: große Marktakteure haben (der Theorie nach sowohl im Interesse der eigenen Profite wie der Kunden) Produktionsstätten in Billigstländer verlagert und dort Sicherheits- und Sozialstandards missachtet. Offensichtlich hatte »der Markt« dagegen wenig einzuwenden. Es bedarf der moralischen Empörung und rechtlichen Ahndung, um hieran etwas zu verändern. • Um Brennstoffe sind noch im 20. Jahrhundert Kriege entbrannt und Diktaturen entstanden, auch mit Unterstützung marktorientierter Nationen (man denke nur an Chile, Saudi-Arabien oder den Irak). Auch hier wird es schwierig, im Marktgeschehen nur die behaupteten Tugenden zu finden. • Schließlich ist auch die Vermarktlichung von Wohnraum stark umstritten: In vielen großen Städten kommt es zur Gentrifizierung, zur Vertreibung angestammter Bevölkerungsschichten aus ihren Vierteln, im Interesse der Generierung höherer Gewinne. Nicht umsonst sind soziale Probleme dieser Art in der Vergangenheit durch sozialen Wohnungsbau, nicht allein durch »den« Markt gelöst worden (man denke nur an die Gartenstadtbewegung, das rote Wien oder die »first houses« in Manhattan). Woher kommen all diese Probleme? Solange es darauf keine Antwort gibt, fehlt der Theorie etwas Entscheidendes. Denn man kommt nicht weiter mit der immunisierenden Behauptung, in all diesen Fällen hätten die Akteure die »Markttugenden« nicht richtig verstanden. Vielmehr beobachtet man in all diesen Fällen eine Instanz, die von außen eingreift und das Geschehen auf der Grundlage anderer Tugenden oder Wertvorstellungen ordnet. (»Ordnungspolitik« rekurriert also auf andere als nur ökonomische Tugenden.) Und mit dieser Beobach199 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Christoph Henning
tung hat die Tugendethik gewonnen: Es braucht im Interesse des guten Lebens einer Zähmung der Marktkräfte, die nicht allein auf denjenigen Tugenden basieren kann, die der Markt selbst hervorbringt (das sagen selbst Neokonservative wie Wilson 1995). Die Beispiele von Bruni und Sugden gehen nach hinten los.
3.
Welchen wissenschaftlichen Wert hat die Suche nach Wert-Tugenden?
Obwohl dieser Aufsatz sein Beweisziel, der tugendethischen Marktkritik ihren Wind aus den Segeln zu nehmen, nicht erreicht, kann man etwas aus ihm lernen. Gehen wir mit Bruni und Sugden davon aus, dass Marktprozesse bei den Beteiligten bestimmte Charaktereigenschaften hervorbringen (oder voraussetzen), welche in der Folge institutionalisiert werden und durch Erziehung und Gewöhnung Konsequenzen für die ganze restliche Gesellschaft haben. Dann kann man sich durchaus die Frage stellen, was charakterlich mit Menschen in Gesellschaften geschieht, in denen Märkte immer wichtiger werden. Das ist angesichts der Marktausweitungen unserer Zeit sogar eine zentrale Fragestellung. Wenn man es so betrachtet, war dies bereits die Ausgangsfragestellung von Autoren wie Georg Simmel (1900, 1989) und Max Weber (1904/05, 1988), also den Klassikern der Soziologie. Simmel fragte nach den sozio-kulturellen Auswirkungen der Geldwirtschaft und nannte u. a. den Freiheitsgewinn, aber auch Effekte einer Vergleichgültigung. Max Weber untersuchte konkrete »Berufsethiken«, deren Ehrenkodizes sowie die Zugangsregeln und Usancen der beteiligten sozialen Schichten. »Der« Markt wirkt, soziologisch gesehen, ja nicht unmittelbar auf »die« Gesellschaft. Vielmehr unterliegen zunächst die unmittelbar handeltreibenden Schichten (etwa reisende Händler) seinem Einfluss, die dann im beginnenden Kapitalismus immer mehr soziale Macht erlangen und erst allmählich weitere Gesellschaftsschichten nach ihrem Bilde zu gestalten suchen – sowohl durch mächtige Organisationen (von der Hanse über die East India Company bis zur WTO) wie auch durch veränderte Tugend- und Erziehungskataloge (dazu Himmelfarb 1996, Brown 2015). Es gilt, beides zu unterscheiden: zum einen die Effekte auf das Verhalten, die eine Beteiligung am Markt ›naturwüchsig‹ zeitigen kann (in der Analyse von Hirschman 1987 war der langfristige Effekt tatsächlich eine 200 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und Marktexzesse
»Mäßigung«, da aus Leidenschaften Interessen wurden); zum anderen den Versuch, solche Verhaltensdispositionen bei anderen mithilfe politischer Maßnahmen künstlich oder gar zwangsbewehrt zu installieren (Mead 1997). Man müsste sich dann allerdings auf das Feld der Konflikte zwischen verschiedenen Tugendkatalogen einlassen (und die favorisierten Tugenden anderen gegenüber begründen) und kann es nicht dabei belassen, nur die Kritik der anderen zu kritisieren.
Literatur Aristoteles (o. J., 1995): Nikomachische Ethik, Hamburg: Meiner. Binswanger, Mathias (2012): Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun? Freiburg: Herder. Brennan, Jason und Peter M. Jarkowsky (2016): Markets without Limits. Moral Virtues and Commercial Interests, New York: Routledge. Brown, Wendy (2015): Undoing the Demos: Neoliberalism’s Stealth Revolution, New York: Zone. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Clark, Barry (2015): The Evolution of Economic Systems: Varieties of Capitalism in the Global Economy, New York: Oxford University Press. Gronemeyer, Matthias (2007): Profitstreben als Tugend? Zur politischen Ökonomie bei Aristoteles, Marburg: Metropolis. Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt: Suhrkamp. Halbig, Christoph (2013): Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt: Suhrkamp Hirschman, Albert O. (1987): Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt: Suhrkamp. Marx, Karl (o. J.): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in Marx Engels Werke (MEW) 40, Berlin. Marx, Karl (o. J.): Theorien über den Mehrwert, in: Marx Engels Werke (MEW) 26, Berlin. Mead, Lawrence (Hrsg.) (1997): The New Paternalism. Supervisory Approaches to Poverty, Washington: Brookings Institute. Simmel, Georg (1900, 1989): Die Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, Frankfurt: Suhrkamp. Ulrich, Peter (2008): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern, Haupt. Weber, Max (1904/05, 1988): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, Mohr, S. 1–206. Wilson, James Q. (1995), On Character. Essays, Washington, AEI Press.
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Johannes Fioole
Das Subjekt soll Richter sein – wer sonst?
I.
Eine kleine Geschichte des Subjekts
Was meinen wir heute, wenn wir im philosophischen Sinne von einem Subjekt sprechen? Wörtlich bezeichnet das Subjekt »das Dahinterliegende« oder »das Zugrundeliegende« (lat. sub-iectum; griech. hypo-keimenon). Vom Subjekt zu sprechen bedeutete einst, eine Idee oder eine Wirklichkeit (durchaus auch: die Wahrheit) anzunehmen, die sich hinter all den Dingen in der Welt, die der Mensch wahrnahm, verbarg. Hinter allen Tischen, um das klassische Schulbeispiel aufzugreifen, liegt eine Idee oder eine Wirklichkeit des Tisches, die den Tisch erst zu einem Tisch macht. Wer einen Tisch als Tisch erkennt, dem gelingt das aufgrund der Kenntnis des Subjekts des Tisches: Er sieht mehr als eine Platte und eine Anzahl an Beinen, er erkennt auch das, was dem Tisch zugrunde liegt. In der antiken griechischen Philosophie (und noch lange danach) galt es als ausgemacht, dass das Subjekt der Dinge außerhalb des Menschen bestehe. In der Aufklärung änderte sich das radikal, ja: vielleicht ist die Umdeutung des Subjekts gar identitätsstiftend für die Epoche gewesen, wiewohl die Aufklärung natürlich mehr Leitbegriffe hatte (Vernunft, Natur, …). In der Aufklärung versuchten Philosophen, objektiv zu bestimmen, was der Mensch wissen könne – und was nicht. Den wohl radikalsten erkenntnistheoretischen Satz kennt bis heute jeder Gymnasiast, nämlich René Descartes’ »Ich denke, daher bin ich.« (lat. ego cogito, ergo sum). Der Skeptiker Descartes drückte mit ihm aus, dass er keine Erkenntnis sicher wissen konnte, außer, dass er dachte. 1 Wenn es also eine Wahrheit geben konnte, Vgl. Descartes (1644, 2005; S. 15): »Wenn wir […] alles zurückweisen, das wir auf irgendeine Weise bezweifeln können […], dann fällt es uns zwar leicht, zu unterstellen, dass es keinen Gott gebe, keinen Himmel, keine Körper, […] aber dass wir, die derartige Gedanken verfolgen, nicht sind, lässt sich nicht ebenso leicht unterstellen.
1
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Das Subjekt soll Richter sein – wer sonst?
dann musste sie sich dort befinden, wo gedacht wurde: Das Zugrundeliegende verlagerte sich von ominösen Orten hinter den Dingen hin zum denkenden Menschen. Kurz: Der Mensch wurde zum Subjekt, war also das Zugrundeliegende, denn nur sein Denken versprach Wahrheit. Politisch ernten wir bis heute die Früchte dieses cartesianischen Subjekts 2 und seines neuen Ich-Bewusstseins. Der Mensch war nicht länger von Natur aus Untertan eines Monarchen, er verstand sich nicht als natürlich Untergebener eines Gottes oder Klerikers. Vom Objekt wurde der Mensch zum selbstbestimmten und -bestimmenden Subjekt, zum Menschen, der sich seine eigenen Gesetze auferlegt und der für sich ausmacht, was er als Wahrheit akzeptiert. Die Subjektivität machte den Menschen autonom. 3 Wie ich gleich zeigen werde, ist das cartesianische Subjekt inzwischen Gegenstand fortwährender Kritik (II.). Anschließend lege ich dar, dass die Subjektkritik als Gesellschaftskritik eine verfehlte Stoßrichtung hat, die nicht zuletzt in misslicher Manier auf dem Markt bemerkbar wird (III.). Darum frage ich im letzten Abschnitt (IV.), ob die Tugendethik von Bruni und Sugden das cartesianische Subjekt intakt hält.
II.
Subjektkritiken
Wer heute mit den gesellschaftlichen Zuständen unzufrieden ist, der kann zum kritischen Rundumschlag ausholen, alles Politische oder Ökonomische restlos infrage stellen, indem er bei ebendiesem Subjekt ansetzt 4 und eine ganz andere Geschichte des Subjekts erzählt. Die elementaren Institutionen der Demokratien westlicher Prägung stehen und fallen schließlich mit der Annahme eines freien Subjekts. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, aktueller Liebling der gesellschaftskritischen Feuilletonisten und Autor von Pflichtlektüren der marxistischen Lesekreise, stellt ganz richtig fest: Denn offenbar ist es widersprüchlich, anzunehmen, dass dasjenige, das denkt, in eben derselben Zeit, in der es denkt, nicht existieren sollte. Und deshalb ist die Erkenntnis, ich denke, daher bin ich, die überhaupt erste und sicherste, auf die jeder regelgeleitet Philosophierende stößt.« 2 Von Cartesius, d. h. (René) Descartes auf Lateinisch. 3 Vgl. einführend Zima (2010; S. 94–106). 4 Oder eben bei den anderen Grundbegriffen der Aufklärung – was vernünftig und was natürlich ist, ist selbstredend auch strittig.
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Johannes Fioole
»Ein Gespenst geht um in der westlichen Wissenschaft: das Gespenst des cartesianischen Subjekts. Um es auszutreiben, haben sich alle wissenschaftlich-akademischen Mächte zu einer heiligen Allianz zusammengeschlossen: der Obskurantist des New Age … und der postmoderne Dekonstruktivist, […] der habermasianische Kommunikationstheoretiker … und der Verfechter des heideggerianischen Seinsdenkens […], der Kognitionswissenschaftler […] und der Fundamentalökologe […], der kritische (Post-)Marxist […] und die Feministin.« 5
Übertrieben ist an dieser Polemik nur, dass Žižeks Typen glücklicherweise nicht die vollständige Wissenschaft abstecken. 6 An den Rändern der wissenschaftlichen Ordnung befindet sich die Subjektkritik jedoch keineswegs. Es ist lange her, dass nur von französischen, poststrukturalistischen Autoren, deren Texte klar denkende Menschen kaum durchdringen konnten, postuliert wurde, das Subjekt sei keine Eigenschaft des einzelnen Menschen, sondern immerzu in notwendiger Abhängigkeit mit gesellschaftlichen Strukturen. In der Tat gehört es zum guten Ton auch wohlbekannter normativ-kritischer Theoretiker, die Selbstgenügsamkeit und die Autonomie des Subjekts zu widerlegen. Insbesondere geschieht das mithilfe der Figur des Anderen. 7 Da ist Jürgen Habermas, der jenseits von einzelnen Akteuren und deren individuellen Entscheidungen in seiner Diskurstheorie (wie wohl andere Diskurstheoretiker auch) mit der »höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen« und der »subjektlosen Kommunikation« rechnet. 8 Deutlicher noch ist das Othering bei einem anderen Frankfurter. Axel Honneth kommt nach einer kurzen Hegel-Exegese zum Schluss, es gebe nur einen Ausdruck für die Besonderheit der menschlichen Gattung: »›An-
Vgl. Žižek (1999, 2001; S. 7). Richtiger ist daher (ebd.): »Wo gibt es eine wissenschaftlich-akademische Richtung, der von ihren Gegnern nicht vorgeworfen würde, sie hätte ihr cartesianisches Erbe noch nicht so richtig abgelegt?« 7 Der Andere mit großem »A« ist ein Fachbegriff, den der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1956, 1997; S. 322) eingeführt hat. Der Andere ist »der Ort, wo sich das ich [sic] konstituiert […]«. Mit dieser Definition will Lacan betonen, dass der Andere nicht eine konkrete andere Person ist, sondern schlicht eine beliebige Ordnung, sofern sie nur das Ich unterwirft (also wörtlich: subjektiviert). Inzwischen scheint mir der Andere bei vielen Theoretikern durchaus auch ein Mensch aus Fleisch und Blut sein zu können, sodass ich den Begriff nicht mit den gleichen strengen Grenzen, die sein Urheber intendierte, verstehen werde. 8 Vgl. Habermas (1992, 1997; S. 288). 5 6
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Das Subjekt soll Richter sein – wer sonst?
erkennung‹ – die wechselseitige Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen.« 9 Und: »Im anerkennenden Subjekt vollzieht sich eine Dezentrierung, weil es einem anderen Subjekt einen Wert einräumt, der die Quelle von legitimen Ansprüchen ist, die der eigenen Selbstliebe Abbruch tun.« 10
Und der neueste Stern am soziologischen Himmel vermag unter dem Subjekt nicht mehr zu verstehen als »[…] diejenigen Entitäten, die Erfahrungen machen oder, wenn man in Rechnung stellt, dass Erfahrungen immer auch intersubjektiv konstituiert sind, an denen sich Erfahrungen manifestieren.« 11
Hartmut Rosa sieht Belege dafür, dass »menschliche Subjekte sich in ihrem Handeln nicht nur nach Resonanzerfahrungen sehnen […], sondern dass es Resonanzbeziehungen sind, welche erst Subjektivität und Sozialität ermöglichen.« 12 Noch eine Spur rabiater hat all das Michel Foucault gedacht. Dieser konstatierte (nicht: forderte!) »den Tod des Subjekts, des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wissens der Freiheit, der Sprache und der Geschichte. […] In dem Erdbeben, das uns heute erschüttert, müssen wir vielleicht die Geburt einer Welt erblicken, in der man wissen wird, dass das Subjekt nicht eins ist, sondern zerrissen; nicht souverän, sondern abhängig; nicht absoluter Ursprung, sondern stets wandelbare Funktion.« 13
Das Subjekt als wandelbare Funktion lesen wir auch bei Jacques Derrida, wenn ich dessen sibyllinische Formeln richtig zu entschlüsseln weiß. Für gewöhnlich nehmen wir an, Entscheidungskraft sei unabdingbar für ein Subjekt-sein. Für Derrida muss dieser Gedanke paradoxal sein, denn wenn »das Wer und Was des Subjekts im Voraus bestimmt werden kann, dann gibt es keine Entscheidung.« 14 Ein gegebenes, stabiles Subjekt (das Wer) bedeutet für Derrida einen Determinismus, der Kontingenz und Zufall ausschließt, sodass aus der Entscheidung (das Was) »einfach eine Anwendung eines Gesetzes«
Vgl. Honneth (2008, 2010; S. 32). Vgl. Honneth (2003; S. 22). 11 Vgl. Rosa (2016; S. 65). 12 Vgl. ebd. (S. 72). 13 Vgl. Foucault (1969, 2001; S. 1002 f.). 14 Vgl. Derrida (1999; S. 186). 9
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würde. 15 Solcherlei lehnt Derrida ab. Er nimmt zwar immer noch ein Subjekt an, aber ein offenes, welches sich immerdar durch Entscheidungen neu identifiziert (bzw. das alte Ich de-identifiziert). Wenn nun das Subjekt gleich dem heraklitischen Fluss 16 im stetigen Wandel ist, sich neu erfindet, gibt es eine ständige Verschiebung vom vergangenen Subjekt hin zum Anderen. Wer immerzu bei sich bleibt, kann sich schließlich nicht wandeln. 17
III. Eine liberale Subjekttheorie? Man wird den liberalen Gesellschaftstheoretikern und den Aufklärern vorwerfen müssen, die Subjektkritik nie ernsthaft und im gebotenen Umfang angegangen zu sein. Das liberal-aufgeklärte Individuum, also die Vorstellung einer unteilbaren Singularität, die unabhängig, frei und autonom ist, ist in den einschlägigen Theorien immer eine implizite Annahme oder eine stillschweigende Dezision geblieben. Dass Demokratie, Menschenrechte, Markt, Privatheit und andere liberale Kernforderungen sinnlos sind, ohne ein individuelles Subjekt zu denken, steht fest. Doch eine philosophisch wie soziologisch und ja: naturwissenschaftlich informierte liberale Subjekttheorie, die erklärt, wie liberale Subjekte entstehen oder überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden können, ist noch nicht geschrieben worden. In der Folge zehrt die Rede vom Individuum noch immer von den aufklärerischen Schriften, die mitunter – gegen ihren eigenen Anspruch, versteht sich – nicht ganz frei von Metaphysik sind. Wohlan, es scheint mir keine unüberwindbare Hürde zu sein, eine solche Subjekttheorie – im Sinne eines aufgeklärten Liberalismus, aktualisiert für die Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts – zu formulieren. Mein Optimismus rührt nicht nur daher, dass ein solches Unternehmen selbstredend nicht bei null beginnen müsste, liegen doch schon etliche Puzzlestücke und Anknüpfungspunkte einer solchen Theorie auf der Hand. Zu denken ist möglicherweise an Studien Vgl. ebd. Nach Heraklit (o. J., 1903; Fragment 91) können wir bekanntlich nicht zweimal in denselben Fluss steigen, da sowohl der Mensch als auch das Wasser des Flusses sich ständig verändern. 17 Diese Überlegungen dienen Derrida (1999; S. 188 f.) übrigens dazu, das Subjekt gewissermaßen politisch-ethisch zu retten. Er will zeigen, dass das Subjekt trotz seiner Dezentrierung Verantwortung übernehmen kann. 15 16
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zur Identität, Autonomie oder Person, aber auch von Subjektkritiken kann gelernt werden – etwa von der doch sehr plausiblen Idee, dass der Mensch nicht als cartesianisches Subjekte geboren wird, sondern ein selbstreflexives Ich-Bewusstsein erst sozialisiert werden muss. Doch wichtiger noch: Das liberale Subjekt ist vielerlei Missverständnissen zum Trotz gar nicht mal so voraussetzungsreich. Es muss keine guten, sozialen, gerechten oder tugendhaften (bzw. als solche intendierten) Entscheidungen treffen – dafür bedürfte es in der Tat eines für das Subjekt konstitutiven Anderen. Ja, es muss geradezu gezeigt werden können, dass einzelne Menschen zentrierte Orte sind, an denen unabhängig von anderen Menschen Entscheidungen getroffen werden können. Das – und nur das – ist das Kriterium für ein Individuum, das Träger von Menschenrechten ist, in der politischen Öffentlichkeit aktiv oder passiv hervortritt oder am Markt eine Tauschhandlung durchführt. Ob dieses Handeln (oder auch nur das vorangehende Wollen der Handlungen) nach irgendjemandes Richtlinie außer dem des subjektiven Individuums gebilligt werden kann, ist gemäß der liberalen Ethik unerheblich. 18 Überdies ist es eine weitläufige Annahme unter Liberalen (nicht nur unter führenden Vertretern der Österreichischen Schule der Nationalökonomie), dass die individuelle Vernunft bruchstückhaft, fragmentiert und endlich ist. Eine liberale Subjekttheorie muss also mitnichten ein Fabelwesen begründen. Trotz dieses konstatierten Nachholbedarfs dürfte eine Auseinandersetzung mit den oben genannten Autoren Kritiken selbstredend nicht scheuen. Ich habe diese und keine anderen Autoren ausgewählt, um auf einen gewichtigen Fehler mancherlei Subjektkritik aufmerksam zu machen. Wohlverstanden: Es wäre falsch, Subjektkritiken schlechthin oder auch nur die hier zitierten Theoretiker über einen Kamm zu scheren – Subjektkritiker sind keine Sekte! Indes, bei den in diesem Aufsatz aufgezählten Beispielen 19 sollte uns nicht entgehen, dass die Gesellschaftskritiker ein dezentriertes Subjekt postulieren, das irgendwo zwischen dem Ich und dem Wir schillert, um auf sehr elementarer Ebene Normen wie Anerkennung, kommunikative Vernunft, Resonanz und dergleichen mehr begründen zu können. Das cartesianische Subjekt, das sich im Individuum zentriert, soll dekonstruiert werden, damit es gar keine Instanz mehr gibt, die noch ego18 19
Vgl. etwa Mises (1949, 1963; S. 2 und 20). Außer im Falle Foucaults.
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Johannes Fioole
istisch oder gemäß eines eigenen Interesses handeln könnte. Dieser Zug überspannt den Bogen: Er wirft nicht nur die störende Frage auf, wer denn jetzt noch Subjekt sein könnte (ist es das Individuum oder der Andere?), sondern ist Ursache eines gleich doppelten Kategorienfehlers. Erstens scheinen mir die Subjektkritiker von einem vorgeblichen Sein auf das Sollen zu schließen (Verstoß gegen das Hume’sche Gesetz). Zweitens fordern sie Normen für die Gesellschaft ein, die zur Anwendung auf die Gesellschaft inkompatibel sind. Anerkennung, um ein Beispiel aufzugreifen, ist eine Norm für den Nahbereich, für Freunde, Nachbarn und Familie. Alle Mitglieder der Gesellschaft, also Abermillionen von anonymen Fremden anzuerkennen, wäre aber eine Aufgabe, die selbst den in allerbester Absicht handelnden Menschen moralisch überfordern würde. 20
IV. Das Subjekt bei Bruni und Sugden Ich halte es daher für begründet, dass, wenn wir eine Tugendethik des Marktes wie die von Bruni und Sugden (2013, 2017) prüfen möchten, wir als Bewertungskriterium berücksichtigen, ob sie das Subjekt intakt lässt. Zu prüfen ist also anhand des Maßstabes, ob das Individuum am Markt unabhängig von anderen entscheiden kann, obschon es natürlich mit anderen handelt. Dass Tugendethiken dieses Kriterium erfüllen, ist durchaus nicht selbstverständlich. 21 Mehr noch, mir scheint es die Regel zu sein, dass das nicht geschieht, sind Tugendethiken doch meistens vom Versuch inspiriert, das interessengeleitete, individuelle Denken empfindlich zu relativieren. Es spricht jedoch viel dafür, die ökonomische Tugendethik von Bruni und Sugden in dieser Hinsicht als Ausnahme einzuordnen. Ich halte das schon deswegen für lobenswert, weil die Standardsituation des Tausches ohne Anderen gar nicht auskommt – für einen Tausch bedarf es ex definitione mindestens zweier Personen. Trotzdem verlieren die Marktteilnehmer aus Sicht von Bruni und Sugden ihren Subjektcharakter nicht bzw. werden sie nicht erst durch einen Anderen (weder individuell noch gemeinsam) zu einem (Markt-)Subjekt. Wer nur die Einleitung von Wie man die Tugendethik wieder in
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Vgl. Hayek (1988, S. 17 f.). Vgl. dazu etwa Fioole (2016).
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Das Subjekt soll Richter sein – wer sonst?
die Ökonomik zurückholen kann liest, führt sich zunächst auf eine falsche Fährte. Dort heißt es: »Für tugendhafte Marktteilnehmer ist der gegenseitige Nutzen nicht nur ein willkommenes Nebenprodukt der individuellen Verfolgung des eigenen Interesses: Vielmehr streben sie bewusst an, dass Tauschhandlungen mit anderen für beide Seiten nutzbringend sind.« (BS 5)
Diese Stelle suggeriert ein Individuum, das ohne den Anderen unvollständig ist; erst, wenn es bewusst und ohne Hintergedanken nicht nur den eigenen, sondern auch den Nutzen des Anderen anstrebe, sei es ökonomisch tugendhaft. Tatsächlich irritiert mich diese Formulierung insoweit, als dass sie alledem widerspricht, was Bruni und Sugden später schreiben. Zunächst lesen wir eine Kritik an den Psychologen Ryan und Deci 22 (BS 24); fast sarkastisch stellen Bruni und Sugden fest, wir müssten alle gewöhnlichen Tauschhandlungen aus der Tugendethik ausschließen, wenn wir Handlungskonsequenzen außen vor ließen. Einige Absätze später (BS 32) wird diese Kritik generalisiert: »Die intrinsische Motivation enthält schon die begriffliche Festlegung, dass die Autonomie und Authentizität eines Individuums beeinträchtigt werden, sobald es in Tauschbeziehungen eintritt. […] Die Literatur zur intrinsischen Motivation fordert uns folglich dazu auf, das Ideal einer Wirtschaft anzustreben, in der die Handlungen und Bemühungen aller darauf abgestimmt sind, Tauschgewinne herbeizuführen, in der aber niemand wirklich motiviert ist, solche Tauschgewinne anzustreben.«
Bruni und Sugden umgehen diese Aporie, indem sie ihr ökonomisch tugendhaftes Individuum eben nicht unabhängig von jeglicher Handlungskonsequenz denken lassen. Sie erkennen den wechselseitigen Nutzen zwar als telos des Marktes, doch lassen sie offen, ob dieses telos klassisch aristotelisch selbstgenügsam ist oder vielmehr Mittel zu einem eigentlichen Zweck ist. Auch diesen eigentlichen Zweck lassen sie betont offen (BS 39): »Solche Markttransaktionen können als wertvoll betrachtet werden, weil Individuen ein Interesse an ihnen haben, weil sie individuelle Präferenzen Die Rahmung dieses Forscherpaars in dem Aufsatz von Bruni und Sugden ist übrigens äußerst unglücklich. Die bahnbrechende psychologische Forschung von Deci und Ryan (1985) bildet in der Pädagogik und der Didaktik die Grundlage für die Selbstbestimmungstheorie, die einzige einigermaßen rezipierte Motivationstheorie, die auf Autonomie und Individualität von Schülern setzt.
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Johannes Fioole
befriedigen, weil sie Wohlstand schaffen und weil die Möglichkeit, solche Transaktionen durchzuführen, eine Form der Freiheit ist.«
In dieser Strategie sehe ich das entscheidende Kunststück des Aufsatzes. Nur mit ihm können die Autoren ihr selbstgestecktes Ziel (BS 42) einhalten, Tugend nicht mit Selbstaufopferung gleichsetzen zu müssen – und so gelingt es ihnen ganz nebenbei, auf moraline, seichte Sprache zu verzichten, zu der sich manch anderer Tugendethiker gelegentlich hinreißen lässt. Doch bedeutsamer als dieser Realismus scheint mir, dass mit der offenen Handlungskonsequenz Raum bleibt für die Subjektivität des Individuums. Ökonomisch tugendhaft ist jeder Marktteilnehmer bereits dann, wenn er über Charaktereigenschaften verfügt, die das telos des Marktes zum Ausdruck bringen, es bewusst intendieren und es als wertvoll erachten (BS 40). Wozu das telos in konkreten Kontexten intendiert ist und warum und für wen es wertvoll sein soll, all das muss jedes Mal aufs Neue entschieden werden. Ganz richtig betonen Bruni und Sugden überdies, dass die Markttugenden ihrerseits weder selbstverständlich noch notwendig seien, ja: dass überhaupt mit irgendeinem der unzähligen »potenzielle[n] Partner« (BS 61) getauscht werde, sei Ursache einer freiwilligen Entscheidung (BS 40). Wer nun, müssen wir zuletzt fragen, soll Träger all dieser Entscheidungen sein? John Locke stellte sich einst die rhetorische Frage, wer darüber entscheiden sollte, ob eine Regierung legitim sei. Seine Antwort: »Das Volk soll Richter sein. Wer sonst […]?« 23 Mit ähnlich demonstrativer Verwunderung sollten wir auf die Frage antworten, wer über legitime Tauschhandlungen entscheiden sollte: Das Subjekt soll Richter sein. Wer sonst?
Literatur Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Deci, Edward L. und Richard M. Ryan (1985): Intrinsic Motivation and Self-determination in Human Behavior, New York. Derrida, Jacques (1999): Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus, in: Dekonstruktion und Pragmatismus: Demokratie, Wahrheit und Vernunft, hrsg. v. Chantal Mouffe, Wien, S. 171–195.
23
Locke, John (1689, 1977; § 240).
210 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Das Subjekt soll Richter sein – wer sonst? Descartes, René (1644, 2005): Die Prinzipien der Philosophie, Übers. v. Christian Wohlers, Hamburg. Fioole, Johannes (2016): Sandels republikanische Kritik der Marktmoral, in: Die moralischen Grenzen des Marktes. Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Michael J. Sandel, hrsg. v. Ingo Pies, Freiburg und München, S. 118–127. Foucault, Michel (1969, 2001): Die Geburt einer Welt, Übers. v. Michael Bischoff, in: Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I: 1954–1969, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main, S. 999–1003. Habermas, Jürgen (1992, 1997): Drei normative Modelle der Demokratie, in: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 2. Aufl., hrsg. v. dems. Frankfurt am Main, S. 277–292. Hayek, Friedrich A. von (1988): The Fatal Conceit. The Errors of Socialism, London. Heraklit (o. J., 1903): Über die Natur (Fragmente), in: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, hrsg. v. Hermann Diels, Berlin, S. 66–83. Honneth, Axel (2008, 2010): Von der Begierde zur Anerkennung. Hegels Begründung von Selbstbewusstsein, in: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, hrsg. v. dems., Frankfurt, S. 15–32. Honneth, Axel (2003): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt am Main. Lacan, Jacques (1956, 1997): Du bist jener, der mir folgen wirst, in: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956): Die Psychosen, Übers. v. Michael Turnheim, Weinheim und Berlin, S. 320–335. Locke, John (1689, 1977): Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung, in: John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. v. Walter Euchner, Frankfurt, S. 200–354. Mises, Ludwig von (1949, 1963): Human Action. A Treatise on Economics, 4. Aufl., San Francisco. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin. Zima, Peter V. (2010): Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 3. Aufl., Tübingen und Basel. Žižek, Slavoj (1999, 2001): Die Tücke des Subjekts, Übers. v. Eva Gilmer, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt und Anne von der Heiden, Frankfurt am Main.
211 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Stefan Hielscher und Sebastian Everding
Ist Selbstregulierung eine Markttugend? Zum Erwerb von Tugenden auf Märkten der Sharing Economy
Bruni und Sugden (2013, 2017) entwickeln in ihrem Aufsatz einen außerordentlich bemerkenswerten Vorschlag, wie die Ökonomik auf die weitverbreitet tugendethisch inspirierte Kritik an Märkten reagieren kann. Diese Kritik besagt im Kern, dass Märkte eine generelle Tendenz aufweisen, etablierte und wertvolle soziale Praktiken – einschließlich der Tugenden, die zur gelingenden Praxis beitragen – in der Gesellschaft zu unterminieren oder gar zu zerstören. Die Sorge um diese Tendenz veranlasst Tugendethiker typischerweise, Märkten mit grundsätzlicher Skepsis zu begegnen und sie aus diesem Grund in enge Schranken weisen zu wollen (vgl. etwa Sandel 2013). Brunis und Sugdens innovativer Ratschlag an die Ökonomik besteht nun darin, dieser tugendethischen Marktkritik nicht mit utilitaristischen Argumenten zu begegnen, sondern eine Argumentationsstrategie pro Marktwirtschaft »ganz ausdrücklich auf die Begriffe und die Logik der Tugendethik« (BS 2, H. i. O.) zu stützen. Im Kern geht es um die Idee, den Markt selbst als eine soziale Praxis mit eigenständigen Exzellenzstandards ernst zu nehmen (BS 48). Insofern ist der von Bruni und Sugden entwickelte Katalog von acht Tugenden als ein Vorschlag zu verstehen, eine Reihe von Verhaltensweisen zu beschreiben, die dazu beitragen können, eine gelingende soziale Praxis auf Märkten zu etablieren. Die Idee unseres Beitrags besteht darin, Brunis und Sugdens tugendethisches Verständnis von Märkten auf das neuartige Marktphänomen der Sharing Economy anzuwenden. In den letzten Jahren hat die Sharing Economy eine rasante Entwicklung genommen, insbesondere deshalb, weil es privaten Organisationen gelungen ist, Plattformen zu entwerfen und profitabel zu administrieren, auf denen sich Märkte für Dienstleistungen entwickeln. 1 Die Logik dieser speziellen Märkte besteht im Wesentlichen darin, dass private Anbie1
Vgl. u. a. Zervas, Proserpio und Byers (2016; S. 3).
212 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend?
ter einen temporären Zugang zu Ressourcen für Nachfrager schaffen. 2 Die Mechanismen, die zum Erfolg der Sharing Economy beigetragen haben, sind freilich kein neues Phänomen. Die Innovation besteht vielmehr darin, dass die Sharing Economy Governancestrukturen etabliert, mit deren Hilfe auch solche Ressourcen von fremden Privatpersonen geteilt werden können, die aufgrund unsicherer Eigentumsrechte bis dato nicht auf Märkten verfügbar waren. 3 Auf diese Weise entstehen gegenwärtig immer neue Formen des Teilens: Individuen können private Unterkünfte an Touristen vermieten (Airbnb), Autobesitzer können als Taxifahrer arbeiten (Uber) oder ihre Autos vermieten (BuzzCar). Nimmt man die einschlägigen Untersuchungen ernst, wird in Zukunft eine breite Vielzahl an Dienstleistungen auf Märkten der Sharing Economy verfügbar sein. Die Anwendung der Tugendethik von Bruni und Sugden auf die Sharing Economy ist in zweierlei Hinsicht informativ. Erstens eröffnet diese Anwendung eine innovative Perspektive auf die Sharing Economy. Sie zeigt, dass die Sharing Economy, einschließlich ihrer User, eigenständig Tugenden entwickelt, die zu einer wertvollen sozialen Praxis beitragen (können). Diese Perspektive ist innovativ für die Literatur zur Sharing Economy. Zweitens ermöglicht diese Anwendung eine differenzierte Perspektive auf die Rolle und Bedeutung von Selbst-Regulierung auf Märkten, die, gemäß Bruni und Sugden, explizit kein Bestandteil der internen Praxis von Märkten ist (BS 56). Die Sharing Economy ist in dieser Hinsicht als Anwendungsbeispiel interessant, weil hier private Akteure Regulierungsaufgaben übernehmen, die bei Bruni und Sugden eigentlich dem Staat als politische Aufgabe zugewiesen werden (sollen). Die Besonderheit besteht darin, dass die privaten Anbieter von Sharing Plattformen nicht nur als Marktakteure auftreten, sondern auch als Enabler so genannter zweiseitiger Märkte und auf diese Weise dazu beitragen, dass Anbieter und Nachfrager auf diesen Märkten Tugenden ausbilden können. Insofern ist die Sharing Economy nur ein Beispiel unter vielen, die es ratsam erscheinen lassen, die Selbstregulierung in Märkten selbst als Tugend ernst zu nehmen – und zwar deshalb, weil Selbstregulierung eine strukturell wachsende Bedeutung in Märkten einnimmt.
Vgl. Eckhardt und Bardhi (2015). Vgl. Munger (2015; S. 189 f.), Albinsson und Perera (2012; S. 305 f.) sowie Hielscher et al. (2016).
2 3
213 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Stefan Hielscher und Sebastian Everding
1.
Markttugenden in Märkten der Sharing Economy: Die Sharing Economy als gelingende Praxis marktförmiger Tauschhandlungen
Brunis und Sugdens Tugendethik für Märkte unterscheidet im Aristotelischen Sinne zwischen telos und Tugenden. Das telos beschreibt das konkrete Ziel der sozialen Praxis. Tugenden hingegen betreffen die Mittel, die dazu beitragen, dass eine soziale Praxis gelingen kann. Insofern beschreiben Tugenden jene Verhaltensweisen und Eigenschaften, die zur Verwirklichung des telos beitragen. Im Hinblick auf den Markt als soziale Praxis besteht das telos ihrer Auffassung nach darin, dass sich Tauschpartner in ihren Tauschhandlungen wechselseitig Vorteile gewähren. Zu diesem Ziel tragen acht verschiedene Markttugenden bei: Universalität, Unternehmergeist und Wachsamkeit, Respekt für die Vorlieben der Tauschpartner, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, Akzeptanz des Wettbewerbes, Selbsthilfe, NichtRivalität und stoischer Gleichmut bei der Entlohnung (BS 6 und 43– 68). Diese Tugenden werden im Folgenden auf einen besonders kontrovers diskutierten Markt der Sharing Economy übertragen, der von Airbnb organisiert wird. • Universalität: Bruni und Sugden betonen, dass »der Markt auf freien horizontalen Beziehungen zwischen Gleichen beruht« (BS 44), so dass Interaktionen ohne Ansehen der Person erfolgen. Die Markttugend der Universalität meint jedoch konkret nicht, dass Personen und ihre Eigenschaften in Tauschhandlungen keine Rolle spielen. Vielmehr geht es um das Prinzip der NichtDiskriminierung: Bei marktlichen Tauschhandlungen spielt es generell keine Rolle, welche persönlichen Eigenschaften die Transaktionspartner mitbringen, etwa im Hinblick auf Ethnizität, Hautfarbe, Religiosität oder sexuelle Orientierung. Die Beziehung ist von derartigen Aspekten »befreit« und konzentriert lediglich auf das Tauschobjekt und seinen Preis. Illustriert am Beispiel der Sharing-Plattform Airbnb: Bei Airbnb mieten und vermieten Gäste und Gastgeber Unterkünfte ohne Ansehen der Person. Gäste und Gastgeber achten dabei im Wesentlichen auf die transaktionsrelevanten Eigenschaften, die sich in den Bewertungen (und ihrer Historie) widerspiegeln. Religiöse Aspekte, die Hautfarbe und andere Merkmale hingegen spielen bei der Vermietung und Anmietung einer Unterkunft prinzipiell keine Rolle. 214 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend?
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Unternehmergeist und Wachsamkeit: Bruni und Sugden argumentieren, dass sowohl der Unternehmergeist des Entrepreneurs als auch die Wachsamkeit des Kunden eine wichtige Markttugend darstellen. Unternehmer sorgen mit Hilfe von Produkten und Produkt-Innovationen nach Möglichkeiten und neuen Wegen, die Bedürfnisse der Kunden besser zu befriedigen, als es die bereits verfügbaren Alternativen erlauben. Kunden hingegen tragen zur wechselseitigen Besserstellung der potentiellen Tauschpartner bei, indem sie aktiv Produkte und Preise vergleichen (BS 46–47). Mit dieser Investition in die Suche gratifizieren und belohnen die Nachfrager letztlich die Anstrengungen der Anbieter, die ihre Produkte an die Wünsche der Kunden anpassen. Angewendet auf die Sharing Initiative Airbnb bedeutet dies, dass sich potentielle Gastgeber intensiv Gedanken darüber machen, wie ihre Unterkunft an die Präferenzen potentieller Gäste angepasst werden kann. Dazu zählt im Wesentlichen die Aufwertung der Unterkunft im Sinne der Gäste. Zu denken ist etwa an den Kauf neuer Möbel oder die Bereitstellung von WLAN, Frühstück oder Handtüchern. Die Wachsamkeit des Gastes hingegen betrifft alle Investitionen in die Suche nach einer attraktiven Unterkunft, etwa wenn der Gast die individuellen Angebote bei Airbnb vergleicht und dann die aus seiner Sicht beste Kombination verschiedener Eigenschaften aus der Vielfalt unterschiedlicher Angebote auswählt. Respekt für die Vorlieben des Tauschpartners: Der Respekt beider Tauschpartner für die jeweiligen Vorlieben des Anderen wird von Bruni und Sugden ebenfalls als Markttugend interpretiert. Im Gegensatz zur Universalität, welche die Gleichheit zwischen Tauschpartnern betont, geht es Bruni und Sugden hier um Toleranz und Rücksicht für die transaktionsrelevanten Eigenschaften und Aspekte potentieller Tauschpartner (BS 48–49). Am Beispiel Airbnb äußert sich diese Tugend etwa darin, dass ein Gastgeber seine Unterkunft für potenzielle Gäste neu möbliert bzw. dekorativ(er) gestaltet oder dass er Stadtpläne und Flyer für Aktivitäten und Unternehmungen in der Umgebung bereithält. Auf der Seite des Gastes zeigt sich die Tugend z. B. darin, dass er die privaten Gegenstände des Gastgebers sorgsam behandelt und keine überzogenen Forderungen stellt. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit: Bruni und Sugden interpretieren es als eine wichtige Markttugend, wenn sich Tausch215 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Stefan Hielscher und Sebastian Everding
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partner mit Vertrauen begegnen, und wenn sie Vertrauenswürdigkeit entwickeln, indem sie potentiellen Tauschpartnern signalisieren, dass sie deren Vertrauen auch tatsächlich verdienen (BS 50–52). Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zwischen Gast und Gastgeber ist ebenfalls eine existenzielle Funktionsbedingung für Sharing Plattformen und Märkte wie Airbnb. Kann der Gastgeber nicht darauf vertrauen, dass der Gast seine vertraglich festgelegten Leistungen erbringt, wird die Vermietung nicht zustande kommen. Umgekehrt gilt für den Gast das gleiche: Kann der Gast nicht auf die verabredete Gegenleistung des Gastgebers vertrauen, wird er sich nicht auf das Wagnis einlassen, eine private Unterkunft über Airbnb anzumieten. Akzeptanz des Wettbewerbs: Für Bruni und Sugden ist es eine Markttugend, wenn Anbieter ihre Konkurrenten nicht durch unlauteren Wettbewerb hindern, ihrerseits in wechselseitig vorteilhafte Tauschbeziehungen einzutreten (BS 53–56). Diese Markttugend findet sich auch auf Sharing-Plattformen wie Airbnb wieder: Mit der Entscheidung, ein Gastgeber bei Airbnb zu werden, akzeptieren die Anbieter, dass es auf der Plattform (und damit auch potentiell in ihrer Nachbarschaft) weitere Anbieter von Privatunterkünften gibt, die zu ihnen in unmittelbarer Konkurrenz stehen. Außerdem beteiligen sich Airbnb-Gastgeber nicht an Kartelllösungen, die eine Marktmacht zum Nachteil potentieller Gäste nach sich ziehen würde. Selbsthilfe: Selbsthilfe ist Bruni und Sugden zufolge eine Markttugend, weil tugendhafte Individuen nicht als Almosenempfänger auftreten, sondern als Arbeitnehmer oder Unternehmer, die als Produzenten an Märkten teilnehmen und damit ihren Lebensunterhalt selbstbestimmt bestreiten können (BS 57–60). Diese Tugend tritt in besonderer Weise bei Sharing-Initiativen wie Airbnb zu Tage: Individuen erhalten durch die Sharing Economy die Möglichkeit, ohne größere Hürden an Märkten als Anbieter teilzunehmen. Im Fall von Airbnb können Individuen als Anbieter Wohnraum zur temporären Vermietung bereitstellen und damit ihr privates Einkommen aufbessern. Dass diese Möglichkeit vor allem von Gruppen mit eher niedrigen Einkommensniveaus genutzt wird, zeigt eine empirische Untersuchung aus den USA. Dieser Studie zufolge nutzen insbesondere junge Menschen (51 % der Nutzer sind zwischen 18 und 34 Jahre) und ethnische Minderheiten die Angebote der Sharing Economy (55 %
216 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend?
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der Nutzer). 4 Insofern liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Märkte der Sharing Economy als Selbsthilfe insbesondere für (einkommensschwache) Individuen dienen, die, wie im Falle von Airbnb, Unterkünfte auch deswegen vermieten, um sich eine eigene Wohnung auch in Innenstadtlage leisten zu können. Gerade angesichts der negativen Folgen der Gentrifizierung von Innenstädten ist dieser Punkt von besonderer Bedeutung. Nicht-Rivalität: Bruni und Sugden halten es für eine Markttugend, Mitmenschen nicht als potentielle Rivalen oder Konkurrenten, sondern als »potenzielle Partner für wechselseitig vorteilhafte Tauschprozesse« (BS 61) anzusehen. Diese Tugend weist eine große Nähe zu der von Albert A. Hirschman (1977, S. 56 ff.) als »doux commerce«-These popularisierten Vorstellung auf, dass marktförmige Tauschhandlungen eine erzieherische und zivilisierende Wirkung auf ihre Marktakteure ausüben, insbesondere im Hinblick auf Zurückhaltung, Mäßigung, Besonnenheit, Vorsicht, Anstand und Ehrlichkeit. Diese Perspektive betont die Tendenz von Märkten, zur inneren und äußeren Befriedung von Gesellschaften beizutragen, indem sie die negativen Folgen von Statuswettbewerb abmildern. Die Märkte der Sharing Economy sind hierfür ein besonders illustratives Beispiel: Hier werden Mitmenschen weniger als Konkurrenten, sondern vielmehr als potenzielle Tauschpartner angesehen, deren Gegenleistungen auch als Bereicherung des eigenen Lebens wahrgenommen werden. Insbesondere der globale Charakter von Sharing Plattformen wie Airbnb ist hierbei informativ. Der vielfach nicht-intendierte Effekt der von Airbnb vermittelten Unterkünfte besteht auch darin, dass Gäste ein besseres Verständnis für die Lebensumstände ihrer Gastgeber (und umgekehrt) entwickeln, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen fremd sind, und zwar nicht nur auf internationaler, sondern auch auf nationaler Ebene. Aber auch auf Gastgeber-Ebene findet Verständigung statt: So treffen sich Airbnb-Gastgeber eines Gebietes gelegentlich zu sogenannten »Meetups«, um Kontakte zu knüpfen, Tipps und Informationen auszutauschen und gemeinsame Aktivitäten zu unternehmen. 5
Vgl. Steinmetz (2016). Vgl. Airbnb (2016c).
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Stefan Hielscher und Sebastian Everding
Stoischer Gleichmut: Ferner argumentieren Bruni und Sugden, dass der Markt die Tugend des stoischen Gleichmuts bei der Entlohnung erfordert (und dass Marktakteure diese Tugend auch ausbilden). Bruni und Sugden sehen eine Tugend darin, dass Akteure ihre jeweilige, in Markttransaktionen realisierte Entlohnung mit nahezu stoischem Gleichmut anerkennen und zugleich verstehen und akzeptieren, dass diese materielle Entlohnung die jeweiligen Knappheitsrelationen abbildet, nicht aber ihr moralisches Verdienst (BS 65–68). Bei Sharing Plattformen gibt es auch hierzu Entsprechungen: Die Gastgeber von Airbnb akzeptieren den vereinbarten Mietzins als Marktpreis für ihre Unterkunft. Sollten Vermieter der Auffassung sein, dass ihre Unterkunft einen tatsächlich höheren Mietpreis verdient, als es der Markt hergibt, steht es ihnen frei, die Exit-Option zu wählen. Alle acht Markttugenden beschreiben Exzellenzstandards, deren Einhaltung durch Individuen (und Organisationen) dazu beiträgt, dass der Markt als eine wertvolle und schützenswerte soziale Praxis allererst entstehen und florieren kann. Die Anwendung auf Märkte der Sharing Economy zeigt, dass die Akteure der Sharing Economy, d. h. insbesondere Non-Profit-Unternehmen wie auch For-Profit-Unternehmen, dazu beitragen, eine gelingende soziale Praxis in Bereichen der Gesellschaft zu etablieren, die bisher nicht oder nur eingeschränkt durch Marktaktivitäten organisiert werden konnten, weil bislang prohibitiv hohe Transaktions- und Governancekosten die Entwicklung von Märkten verhindert haben. Auf diese Weise blieben wertvolle gesellschaftliche Ressourcen ungenutzt. Man kann es auch so formulieren: Die Sharing Economy ermöglicht heute Tauschbeziehungen mit Fremden, die früher nur im engen Bereich des Familien- oder Freundeskreises möglich waren. Insofern kann mit Bruni und Sugden die These formuliert werden, dass die Märkte der Sharing Economy zur Entwicklung und Verbreitung von elementaren und gesellschaftlich wünschenswerten Tugenden beitragen, die früher auf intime Nahbeziehungen beschränkt waren. Zu diesen Markttugenden zählen folgende Tugenden: Universalität im Hinblick auf die Toleranz transaktionsirrelevanter Eigenschaften, Respekt für die Vorlieben des Tauschpartners, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, Akzeptanz des Wettbewerbes, Selbsthilfe, Nicht-Rivalität und stoischer Gleichmut bei der Entlohnung. Schenkt man den einschlägigen empirischen Untersuchungen Glauben, dann entwickeln sich diese Tugenden vor allem bei jenen schwächeren Einkommensgruppen, die bisher unter-
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218 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend?
durchschnittlich in die gesellschaftlichen Tauschprozesse eingebunden waren.
2.
Markttugenden für Märkte der Sharing Economy: Selbstregulierung als eigenständige Markttugend?
Märkte der Sharing Economy entstehen nicht von selbst, sie werden von privaten Akteuren etabliert, von Unternehmen oder von gemeinnützigen Initiativen. Insofern ähneln Märkte der Sharing Economy jenen Märkten, die durch Plattform-Provider wie Ebay oder Amazon entwickelt werden, auf denen Güter getauscht und gehandelt werden. In der ökonomischen Literatur werden Märkte, die durch private Akteure etabliert werden, als zweiseitige Märkte bezeichnet. Zweiseitige Märkte liegen vor, wenn ein Unternehmen oder eine Plattform mindestens zwei Gruppen von Nachfragern oder Anbietern bedient und zwischen diesen Gruppen indirekte Netzwerkeffekte vorliegen. 6 Abbildung 1 verdeutlicht diese Beziehungen am Beispiel der Sharing-Initiative Airbnb: Das Unternehmen tritt als »Platform Enabler«, d. h. als (Ver-)Mittler zwischen Gast und Gastgeber auf, wobei der Gast mit Hilfe der von Airbnb bereitgestellten Plattform eine Unterkunft mieten und der Gastgeber seine Unterkunft via Airbnb anbieten kann.
Platform Enabler Gastgeber vermitteln
Unterkunft mieten
Gast vermitteln
Unterkunft anbieten
Externe Netzwerkeffekte
Gast
Gastgeber Externe Netzwerkeffekte
Markttugenden 2. Ordnung
Markttugenden 1. Ordnung
Abbildung 1: Airbnb als zweiseitiger Markt 7
Abbildung 1 symbolisiert folgende Beziehung: Auf der ersten Ebene stehen sich Gast und Gastgeber als potentielle Tauschpartner gegen6 7
Vgl. Rochet und Tirole (2003) sowie Armstrong (2006). Eigene Darstellung nach Dewenter et al. (2014, S. 14)
219 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Stefan Hielscher und Sebastian Everding
über. Allerdings würde es den potentiellen Tauschpartnern ohne den Platform Enabler Airbnb nicht gelingen, die potentielle Tauschbeziehung unter Fremden tatsächlich zu realisieren: In der Regel entstehen prohibitiv hohe Suchkosten, das Vertrauen zwischen den Akteuren ist niedrig, und es besteht Unsicherheit im Hinblick auf die Wahrung der Eigentumsrechte und die Motive des jeweils anderen. 8 Man muss damit rechnen, dass ein Gast die Wohnung des Gastgebers beschädigt oder Diebstahl begeht. Umgekehrt könnte auch der Gastgeber den Gast bestehlen. Diese Probleme verhindern zunächst, dass eine im Prinzip wechselseitig vorteilhafte Tauschbeziehung zustande kommen kann. Auf der zweiten Ebene werden diese Probleme jedoch gelöst: Airbnb als Platform Enabler richtet eine Governancestruktur ein, die dafür sorgt, dass Eigentumsrechte etabliert, aufrecht erhalten und sanktionsbewährt geschützt werden. Diesem Zweck dienen nahezu alle Vorkehrungen von Airbnb, angefangen mit der Internetplattform, welche die Suche vereinfacht, über die Abwicklung von Zahlungen und Stornierungsbedingungen, das zweiseitige Bewertungssystem 9, das auch einen Ausschluss von Mitgliedern zulässt, wenn sie dauerhaft schlechte Bewertungen durch andere Mitglieder erzielen, bis hin zu Versicherungsleistungen für den Gastgeber, um eventuelle Schäden bei der Vermietung abzufangen. 10 Die Rekonstruktion von Airbnb als zweiseitiger Markt verdeutlicht, dass innerhalb der Sharing Economy (Tausch-)Beziehungen auf zwei verschiedenen Ebenen bestehen: Zum einen besteht eine Beziehung zwischen Nachfrager und Anbieter (bzw. zwischen Gast und Gastgeber) auf dem Markt, den die Sharing-Initiative etabliert. Zum anderen besteht eine Beziehung zwischen dem Platform Enabler und dem Markt, auf dem Anbieter und Nachfrager eigenständig interagieren. Insofern liegt es nahe, zwischen den Verhaltensweisen zu unterscheiden, die sich auf Märkten abspielen und dort zu beobachten sind, und jenen Verhaltensweisen, die maßgeblich für die Etablierung, Aufrechterhaltung und Verbesserung der Governancestruktur des Marktes sind. Letztlich entspricht dies einer klassischen Unterscheidung, die James M. Buchanan als »choices within rules« and als »choices among rules« 11 beschreibt. Vgl. Botsman und Rogers (2010; S. x f.). Vgl. Koopman et al. (2015; S. 541 ff.). 10 Vgl. Airbnb (2016a). 11 Vgl. Buchanan (1990; S. 11). 8 9
220 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend?
Bruni und Sugden betrachten in ihrem tugendethischen Ansatz explizit nur Ebene 1. Auf dieser Ebene unterscheiden sie acht Tugenden, deren Befolgung Anbieter und Nachfrager dazu befähigt, Exzellenzstandards von Märkten zu realisieren. Allerdings sind sie explizit der Auffassung, dass jegliche private Initiative der »Selbstregulierung« – also jede private Form, Märkte in Kraft zu setzen (Ebene 2) – nicht zur internen Tugendpraxis von Märkten zählt. Die Autoren schreiben explizit: »[E]s gehört nicht zur internen Praxis des Marktes, sich selbst zu regulieren« (BS 56). Würde man Bruni und Sugden hier folgen wollen, dann zöge dies die Konsequenz nach sich, dass alle Marktaktivitäten, die Sharing-Plattformen wie Airbnb durchführen, um Marktakteure dazu zu befähigen, Tugenden zu entwickeln, selbst nicht als zu den Markttugenden zählend eingeschätzt werden könnten. Eine solchermaßen verkürzte Perspektive ist insbesondere aus wirtschaftsethischer Sicht unbefriedigend. Die These unseres Beitrags lautet demgegenüber, dass auch die Etablierung von Märkten als eine wichtige Tugend anzusehen ist, mit deren Hilfe das telos des Marktes – die Ermöglichung von wechselseitiger Vorteilsgewährung – realisiert werden kann. Nimmt man diese Überlegung ernst, dann ist zwischen Markttugenden erster Ordnung und zweiter Ordnung zu unterscheiden: Marktugenden erster Ordnung betreffen alle Tugenden, die sich auf der Ebene des Marktes abspielen und sich auf die konkreten Verhaltensweisen von Anbietern und Nachfragern in Tauschbeziehungen beziehen (»choices within rules«). Markttugenden zweiter Ordnung hingegen betreffen die Verhaltensweisen von privaten Akteuren, die dazu beitragen, Märkte für wechselseitige Vorteilsgewährung allererst zu etablieren, aufrecht zu erhalten und zu verbessern. Bezogen auf Märkte der Sharing Economy betrifft dies die Beziehungen zwischen Platform Enabler und Anbietern sowie zwischen Platform Enabler und Nachfragern. Platform Enabler versetzen Marktteilnehmer in die Lage, neue Regulierungsumwelten wählen zu können (»choices among rules«). Folgt man dieser Überlegung, dann kann man nun – in konzeptioneller Hinsicht – folgendermaßen mit Bruni und Sugden über Bruni und Sugden hinaus argumentieren: Interpretiert man den Katalog der Markttugenden von Bruni und Sugden als Katalog von Markttugenden erster Ordnung, kann man diesen Katalog verwenden, um mit seiner Hilfe Markttugenden zweiter Ordnung zu identifizieren, die erforderlich sind, um Märkte für wechselseitige Vorteilsgewährung allererst zu etablieren, aufrecht zu erhalten und zu verbessern. 221 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Stefan Hielscher und Sebastian Everding
Die folgenden Überlegungen stellen skizzenhaft dar, wie Markttugenden zweiter Ordnung am Beispiel der Sharing Initiative Airbnb identifiziert werden könnten: • Universalität: Die Markttugend der Universalität zeigt sich im genannten Beispiel darin, wie Airbnb die Governancestruktur der Sharing Plattform konzipiert: Gemäß der Regeln der Plattform kann sich jedes Individuum unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion als Mitglied registrieren und in Tauschbeziehungen eintreten. • Unternehmergeist und Wachsamkeit: Die Markttugend Unternehmergeist und Wachsamkeit äußert sich darin, dass der Platform Enabler Airbnb stets darum bemüht ist, die Governancestruktur der Plattform zu verbessern und sie gemäß der Bedürfnisse der Mitglieder anzupassen. So hat Airbnb einen Versicherungsschutz für Gastgeber gegen Risiken wie Diebstahl und Vandalismus eingeführt. 12 • Respekt gegenüber Vorlieben: Die Markttugend Respekt gegenüber Vorlieben zeigt sich im Beispiel darin, dass Airbnb Respekt für die Vorlieben der Mitglieder entwickelt. Ein Beispiel ist die Katastrophenhilfe: Nach den starken Verwüstungen infolge eines Hurrikans in New York im Jahr 2012 hat ein Airbnb-Mitglied seine Unterkunft kostenlos für geschädigte New Yorker Mitbürger zur Verfügung gestellt. 13 Da offensichtlich eine breite Bereitschaft für Katastrophenhilfe bestand, hat Airbnb diese Bedürfnisse der Gastgeber ernst genommen und eine schnelle und einfache Option für kostenlose Unterkünfte im Katastrophenfall eingeführt. Hierbei wird auf Servicegebühren verzichtet. 14 • Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit: Die Markttugend Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit betrifft bei Airbnb zwei unterschiedliche Ebenen: Zum einen herrscht Vertrauen zwischen Airbnb und den Mitgliedern. Zum anderen besteht das Geschäftsmodell von Airbnb darin, Vertrauen zwischen den Mitgliedern (d. h. zwischen Gast und Gastgeber) zu schaffen. Beide Tugenden sind nahezu überlebenswichtig für das Unternehmen: Verlieren die Mitglieder Vertrauen in die Plattform, droht Ab-
12 13 14
Vgl. Airbnb (2014). Vgl. Airbnb (2016b). Vgl. Airbnb (2016b).
222 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend?
wanderung (exit). Dieselbe Gefahr droht jedoch auch, wenn es zu einem Vertrauensverlust zwischen den Mitgliedern kommt. • Akzeptanz des Wettbewerbs und Nicht-Rivalität: Die Markttugend Akzeptanz des Wettbewerbs betrifft erneut zwei Ebenen: Einerseits sorgt Airbnb aktiv dafür, dass seine Mitglieder keine unangemessene Marktmacht entfalten oder Kartelle bilden. Das (von politischer Seite forcierte) Vorgehen von Airbnb gegen kommerzielle Anbieter auf der eigenen Plattform in Berlin kann auf diese Weise interpretiert werden. Andererseits duldet Airbnb selbst die Konkurrenz anderer Plattformen wie Couchsurfing oder Wimdu. 15 Zwischen den Anbietern wäre auch eine partielle, wettbewerbskonforme, Zusammenarbeit denkbar, etwa um eine gemeinsame politische Strategie gegen eventuell dysfunktionale staatliche Regulierung abzustimmen. Eine solche konzertierte Aktion könnte auch in die Markttugend Nicht-Rivalität eingeordnet werden. • Selbsthilfe: Erstens kann die Schaffung und Etablierung der Plattform Airbnb selbst als eine Form von Selbsthilfe der Gründer aufgefasst werden. Die via Airbnb erzielten Einkünfte entheben die Gründer des Angewiesenseins auf fremde Hilfe. Möglicherweise noch wichtiger sind, zweitens, die Maßgaben, mit deren Hilfe Airbnb Hilfe für Selbsthilfe organisiert und potentielle Mitglieder in die Lage versetzt, einen Beitrag zur Deckung der Lebenshaltungskosten zu erwirtschaften, vor allem in Bereichen, in den früher eine Einkommenserzielung nur schwer möglich war. • Stoischer Gleichmut bei Entlohnung: Angewendet auf das Beispiel Airbnb bedeutet dies, dass einerseits der Platform Enabler die erzielten Einkünfte der Gastgeber akzeptiert und schützt, unter anderem dadurch, dass er eine angemessene Servicegebühr festlegt. Andererseits sorgt er auch dafür, dass Gastgeber selbst einen stoischen Gleichmut bei ihrer Entlohnung ausbilden. Um es noch einmal deutlich zu formulieren: Diese Skizze ist keine vollständige Ausarbeitung von Markttugenden zweiter Ordnung. Sie verdeutlicht allerdings, wie die von Bruni und Sugden katalogiCouchsurfing ist eine Internetplattform, auf der Mitglieder ihre »Couch« kostenlos an Reisende vermieten können. Wimdu ist ein 2011 von Rocket Internet in Berlin gegründetes Unternehmen, welches das Geschäftsmodell von Airbnb als Blaupause hat.
15
223 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Stefan Hielscher und Sebastian Everding
sierten Markttugenden auf jene Unternehmen selbst angewendet werden könn(t)en, die die institutionellen Voraussetzungen für die Entwicklung von Markttugenden schaffen. Vor allem aber sind sie als Plädoyer zu verstehen, die Etablierung von Märkten selbst als eine Markttugend im engeren Sinne zu begreifen, und zwar primär deswegen, weil hier eine private Bereitstellung von Rahmenbedingungen für wechselseitige Vorteilsgewährung erfolgt.
4.
Fazit und Ausblick
Der hier vorgelegte Beitrag verdeutlicht, dass Tugenden auf Märkten entwickelt werden und dass die institutionelle Rahmenordnung eine wichtige Rolle spielt, einschließlich der privaten Akteure, die für diese Ordnung Verantwortung übernehmen. Insofern ist es ratsam, nicht nur eine statische Perspektive für Markttugenden zu entwickeln, sondern auch eine dynamische Perspektive. Zu einer solchen dynamischen Perspektive gehört selbstverständlich auch die Einsicht, dass Märkte nicht nur Tugenden, sondern auch Laster entwickeln. Als Laster sind etwa die Nicht-Einhaltung von Versprechen oder die Diffamierung von Konkurrenten einzuordnen. Sie sorgen dafür, dass Märkte ihre positiven Wirkungen nicht (voll) entfalten können. Damit auf Märkten vorwiegend Tugenden und nicht Laster ausgebildet werden, ist ein institutionelles Umfeld erforderlich – ein enabling environment –, in dem tugendhaftes Verhalten durch Einübung und Fehlerkorrektur belohnt und, spiegelbildlich gesehen, lasterhaftes Verhalten bestraft wird. Das Plädoyer dieses Beitrags besteht darin, die Etablierung von institutionellen Rahmenbedingungen für funktionale Wettbewerbsmärkte selbst als Markttugend in verschiedenen Dimensionen zu interpretieren. Dies gilt, wie hier dargelegt, einerseits für die Selbstregulierungsanstrengungen privater Akteure, aber andererseits natürlich auch für staatliche Organisationen, die Wettbewerbsbedingungen für Märkte etablieren und aufrechterhalten. Die in diesem Beitrag vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Tugenden erster und Tugenden zweiter Ordnung ermöglicht weitere Schlussfolgerungen und Erkenntnisse für die zukünftige Forschung: • Nicht nur Individuen, sondern auch Organisation selbst bilden Markttugenden aus. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Unternehmen in der Sharing Economy und traditionellen Unternehmen ist, dass die erstere tugendhaftes Marktverhalten der 224 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend?
•
16
User fördern. Hier geht es im Kern um die Entwicklung von Märkten durch private Unternehmen und um den Erwerb von Tugenddispositionen auf Seiten der Marktteilnehmer, insbesondere im Hinblick auf das besondere Zusammenspiel von Kooperation zwischen den Marktseiten und Wettbewerb innerhalb derselben Marktseite. Traditionelle Unternehmen hingegen fördern tugendhaftes Verhalten ihrer Mitarbeiter. Hier geht es im Kern um die Entwicklung eines organisationalen Umfeldes, das Kooperation in Teams fördert. Der Fokus dieses Beitrages liegt auf den Markttugenden erster und zweiter Ordnung in Sharing-Initiativen, die als For-ProfitUnternehmen organisiert sind. Allerdings weist die Sharing Economy eine Vielzahl unterschiedlicher Initiativen auf, einschließlich vieler Non-Profit-Organisationen. Ein wichtiger Unterschied zwischen For-Profit und Non-Profit Sharing-Initiativen dürfte in der Logik liegen, mit der Vertrauen auf den Märkten hergestellt wird. Im Anschluss an eine grundlegende Unterscheidung von F. A. Hayek (1988) kann generell argumentiert werden, dass Sharing-Initiativen versuchen, mit Hilfe neuartiger Governance-Instrumente funktionale Äquivalente für die Vertrauensbildung innerhalb von Kleingruppen zu (er)finden, um diese Vertrauensbildung auf die Großgruppe zu übertragen. Allerdings scheint die Logik jeweils unterschiedlich zu sein: Während etwa bei der Non-Profit-Initiative Couchsurfing Freundschaft und gemeinsame Interessen zwischen Gastgeber und Gast eine hohe Bedeutung aufweisen, spielen bei Airbnb funktionale Regeln und Sanktionen zur Förderung ihrer Einhaltung eine größere Rolle. 16 Insofern kann vermutet werden, dass Non-Profit Sharing-Initiativen tendenziell eine Logik der Ausweitung der Kleingruppenlogik auf Großgruppen verfolgen, während For-ProfitInitiativen tendenziell stärker auf die anonymen Signale von Preisen abstellen, die für die Koordination von Großgruppen funktional(er) zu sein scheinen.
Vgl. Norman (2015).
225 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Stefan Hielscher und Sebastian Everding
Literatur Albinsson, Pia A. und B. Yasanthi Perera (2012): Alternative marketplaces in the 21st century: Building community through sharing events, in: Journal of Consumer Behaviour, Vol. 11, S. 303–315. Airbnb (2016a): What to do if your host cancels, online verfügbar unter: https:// www.airbnb.com/help/article/170/what-to-do-if-your-host-cancels?locale= en, (Zugriff am 18. 08. 2016). Airbnb (2016b): Disaster Response Program, online verfügbar unter: https:// www.airbnb.com/disaster-response?locale=en, (Zugriff am 18. 08. 2016). Airbnb (2016c): What are Airbnb meetups?, online verfügbar unter: https:// www.airbnb.com/help/article/356/what-are-airbnb-meetups?locale=en, (Zugriff am 13. 09. 2016). Armstrong, Mark (2006): Competition in Two-Sided Markets, in: The RAND Journal of Economics, Vol. 37, Nr. 3, S. 668–691. Botsman, Rachel and Roo Rogers (2010): What’s mine is yours: How collaborative consumption is changing the way we live, London. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Buchanan, James M. (1990): The Domain of Constitutional Economics, in: Constitutional Political Economy 1 (1), S. 1–18. Dewenter, Ralf, Jürgen Rösch und Anna Terschüren (2014): Abgrenzung zweiseitiger Märkte am Beispiel von Internetsuchmaschinen, Diskussionspapier No. 151, Helmut Schmidt Universität; Fächergruppe Volkswirtschaftslehre, Hamburg. Eckhardt, Giana M. und Fleura Bardhi (2015): The Sharing Economy isn’t about Sharing at all, in: Harvard Business Review, online verfügbar unter: https:// hbr.org/2015/01/the-sharing-economy-isnt-about-sharing-at-all, (Zugriff am 01. 02. 2016). Hayek, Friedrich A. von (1988): The Fatal Conceit: The Errors of Socialism. Chicago. Hielscher, Stefan, Sebastian Everding und Ingo Pies (2016): A Governance Perspective for the Sharing Economy: Implications for Normative Views on Private Grass-Root Market Development, Unveröffentlichtes Manuskript. Hirschman, Albert O. (1977): The passions and the interests: Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton, N.J. Koopman, Christopher, Matthew Mitchell und Adam Thierer (2015): The Sharing Economy and Consumer Protection Regulation: The Case for Policy Change, in: The Journal of Business, Entrepreneurship & the Law, Vol. 8(2): 529–545. Munger, Michael (2015): Coase and the ›sharing economy‹, in: Cento Veljanovski (Hrsg.): Forever Contemporary – The economics of Ronald Coase, London. Norman, James (2015): Why I’d rather take a free couchsurfer than make money from Airbnb, in: The Guardian, online verfügbar unter: http://www.the guardian.com/travel/2015/feb/10/why-id-rather-take-a-free-couchsurferthan-make-money-from-airbnb, (Zugriff am 19. 06. 2016).
226 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ist Selbstregulierung eine Markttugend? Rochet, Jean-Charles und Tirole, Jean (2003): Platform Competition in TwoSided Markets, in: Journal of Economic Association, Vol. 1, Nr. 4, S. 990– 1029. Steinmetz, Katy (2016): Exclusive: See How Big the Gig Economy Really Is, in: Time Magazine, online verfügbar unter: http://time.com/4169532/sharingeconomy-poll/, (Zugriff am 07. 07. 2016). Zervas, Georgios, David Proserpio und John W. Byers, (2016): The Rise of the Sharing Economy: Estimating the Impact of Airbnb on the Hotel Industry, in: Boston U. School of Management Research, Vol. 2013–16, S. 1–42.
227 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Gerhard Minnameier
Tugendethik und ökonomische Rationalität: Wie man die Ökonomik wieder in die Tugendethik zurückholen kann 1.
Problemstellung
Seit langem gelten ökonomisches Denken und eine marktwirtschaftliche Orientierung für moderne gesellschaftliche Steuerung als unerlässlich, zugleich aber auch als ethisch bedenklich. Vor allem Michael Sandel (z. B. 2013, 2016) hat in den letzten Jahren immer wieder auf Defizite einer einseitig ökonomistischen Orientierung hingewiesen und hervorgehoben, dass diese zu Fehlentwicklungen führt. Damit wird begründet, dass ökonomisches Denken durch ethische Reflexion zu ergänzen ist, ja mehr noch: dass es nämlich in tugendethische Betrachtungen eingebettet sein müsse. Die tugendethische Marktwirtschaftskritik knüpft an die aristotelische Tugendlehre an. Tugendhaftigkeit ist dort auf die Idee des »guten Lebens« (Eudaimonia) bezogen, wobei ein gutes Leben im Kontext der (Polis-)Gemeinschaft zu denken ist, denn nur in der Gemeinschaft kann der Mensch leben und über das verfügen, was er zum Leben braucht. Insofern sind Ethik und das gute Leben bei Aristoteles stets am guten Funktionieren der Gemeinschaft orientiert. 1 Ganz in diesem Sinne konzipieren die sog. Kommunitaristen Tugenden als Handlungsorientierungen von Menschen, die es ihnen ermöglichen, zum Gelingen einer sozialen Praxis beizutragen, die ihrerseits einem bestimmten sozialen Zweck dient, den es zu erfassen gelte (BS 10). Kritisiert wird also, dass marktwirtschaftliche Institutionen instrumentelle Nützlichkeit fokussieren, anstatt das Augenmerk auf die (eigentlichen) Zwecke des Handelns bzw. der fraglichen sozialen Praxen zu richten (z. B. wenn es um Mitmenschlichkeit in verschiedenen Kontexten geht oder um den Schutz und die Erhaltung von Gemeingütern).
1
Vgl. hierzu Minnameier (2005) sowie Engel (2017).
228 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und ökonomische Rationalität
Hier setzen Bruni und Sugden (2013, 2017) an und führen im Gegenzug aus, dass die Marktwirtschaft selbst eine solche soziale Praxis darstellt, die von Marktteilnehmern entsprechende Tugenden verlangt. Diese tugendethische Deutung der Marktwirtschaft und des Handelns der Markteilnehmer ist für sich genommen eine herausragende Leistung. Ich will darauf hier allerdings nicht näher eingehen, weil mir die Argumentation von Bruni und Sugden als stichhaltig und insofern unproblematisch erscheint. In ein gravierendes systematisches Problem manövrieren sich Bruni und Sugden dabei dennoch selbst, gerade weil sie die tugendethische Perspektive als solche vorbehaltlos übernehmen. So führen sie unter Bezug auf McIntyre, Sandel und Anderson aus (BS 10): »Um also das telos einer Handlungsweise (»Praxis«) zu bestimmen, muss man die Bedeutung dieser Handlungsweise innerhalb der Handlungsgemeinschaft entdecken. Nach dieser Auffassung ist die Behauptung über das telos einer Handlungsweise nicht lediglich Ausdruck eines personengebundenen Werturteils; es umfasst vielmehr eine (möglicherweise schöpferische) Interpretation dessen, was immer schon vorliegt«. Das bedeutet, man muss die soziale Praxis, um die es geht, in ihrem Kern verstehen – interaktionsökonomisch Gebildete würden hier von »Spielverständnis« sprechen (vgl. Suchanek 2015) oder von »Semantik« (vgl. Pies 2009 und 2016) – und dann entsprechend auch bereit und motiviert sein, dieses »Spiel« zu spielen. Dies unterstreichen die Autoren, wenn sie in den nachfolgenden Absätzen (BS 11–23) zunächst auf intrinsische Motivation im Sinne der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1985) eingehen und argumentieren, intrinsisch motivierte – also »tugendhafte« – Akteure würden das moralisch Richtige tun, auch wenn es gegenläufige extrinsische Motivatoren gibt. Anders gesagt: Die Moral muss sich gegenüber bloßen Klugheitsüberlegungen – also strategischem Vorteilsdenken – abgrenzen und durchsetzen (s. z. B. Alzola 2015). Das Problem ist, dass man hierbei eben doch Moral gegen Klugheit (und damit gegen ökonomisches Kalkül) in Stellung bringt, und die Frage ist, wie weit Menschen hierbei gehen sollen, wie viele persönliche Nachteile man im Dienste der Moral in Kauf zu nehmen hätte. Hier gerät man in die Diskussion der moralischen Motivation mit all ihren Problemen (vgl. z. B. Homann 2004 sowie Minnameier 2016a). Fraglich ist außerdem, inwieweit bzw. in welche sozialen Praxen 229 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Gerhard Minnameier
hinein die Marktwirtschaft und die Markttugenden wirken sollen und wo entsprechend die Grenzen zu anderen sozialen Praxen und entsprechenden Tugenden zu ziehen wären. Diese Frage bleibt bei Bruni und Sugden offen (vgl. Zintl 2017). Um diese beiden Probleme – das der Frage nach der moralischen Motivation und das der Frage nach der Grenzziehung zwischen sozialen Praxen – zu lösen, schlage ich eine dem Vorgehen von Bruni und Sugden entgegengesetzte Strategie vor, nämlich eine ökonomische Rekonstruktion jener sozialen Praxen und der entsprechenden Tugenden. In dieser Argumentationsrichtung geht es darum zu zeigen, dass letztlich alle Moral und Ethik einen ökonomischen Kern beinhalten. Dies geschieht in zwei Etappen, die auch den beiden Problemen entsprechen. Im ersten Schritt wird das Problem der moralischen Motivation ökonomisch internalisiert, im zweiten das der Moral als solcher.
2.
Ökonomische Internalisierung der »moralischen Motivation«
Moralische Prinzipien internalisiert zu haben und ihnen gemäß leben zu wollen, ist das eine, es zu können, etwas anderes (vgl. Homann 2014). Das Gefangenendilemma ist hierfür ein passendes Beispiel. Es wird an dieser Stelle als bekannt vorausgesetzt. 2 Präsentiert wird nur eine Auszahlungsmatrix, in der (abstrakte) Nutzenwerte eingetragen sind, wobei die Höhe der Zahl die Größe des Nutzens indiziert (vgl. Abb. 1). Bei diesem Dilemma besteht ein grundlegender Interessenkonflikt, und das bedeutet konkret Folgendes: Wer in diesem Fall – als einer der Gefangenen – die Belange des jeweils anderen mit einbeziehen und nicht nur sein persönliches Interesse verfolgen möchte, Beim Gefangenendilemma stehen zwei Gefangene vor der Wahl, den jeweils anderen durch eine Aussage zu belasten oder aber zu schweigen. Wer sein Gegenüber belastet, kommt in den Genuss einer Kronzeugenregelung und geht straffrei aus. Der andere wird dann eines schweren Vergehens überführt und bekommt die maximale Strafe. Würden beide schweigen, könnte man sie nur einer minderen Straftat überführen. Belasten sie sich gegenseitig, werden sie beide bestraft und bekommen nur eine geringe Strafmilderung, weil sie beide geständig waren. Die Auszahlungsmatrix im Text verdeutlicht die Situation in abstrakten Nutzenwerten. Zu schweigen bedeutet »Kooperation«, zu reden bedeutet »Defektion«.
2
230 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und ökonomische Rationalität
müsste eigentlich kooperieren. Kooperation wäre schließlich auch der Lösungsansatz, um den pareto-optimalen Zustand zu erreichen, bei dem alle insgesamt maximal profitieren (wobei sich »alle« hier auf den eingeschränkten Kreis der beiden Gefangenen bezieht). Der Gesamtnutzen beträgt bei beiderseitiger Kooperation 6 Nutzeneinheiten, und diese sind zudem noch gleich verteilt. Das Problem ist jedoch, dass man sich auf diese Weise ausbeutbar macht, weil sich der andere durch Defektion den größten Vorteil sichern kann. Was sollte man also tun, wenn man die Erfahrung macht, dass andere aus der Situation Vorteile ziehen, und man merkt, dass man sich durch einseitige Kooperation selbst schädigt? Hier würden moralische Akteure letztlich bestraft und unmoralische belohnt, was im Ergebnis sicherlich als »unmoralisch« oder »unfair« zu beurteilen wäre! B
Spieler A
Strategien
Defektieren
Kooperieren
Kooperieren
1, 4
3, 3
Defektieren
2, 2
4, 1
Abb. 1: Das originäre Gefangenendilemma 3
Zur Lösung dieser Frage gibt es im Wesentlichen zwei Ansätze. Der eine greift auf das Konzept der moralischen Motivation zurück, welches üblicherweise als Erklärungskonzept dafür herangezogen wird, dass Menschen meist sehr wohl wissen, was moralisch richtig ist und diese Idee des moralisch Richtigen auch selbst unterstützen. Zum Beispiel finden die meisten, dass jeder (auch sie selbst) seine Steuern zahlen und damit seinen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens und zur Bereitstellung öffentlicher Güter leisten sollte. Dennoch entsprechen viele diesen – ihren eigenen (!) – Moralvorstellungen nicht und hinterziehen Steuern oder beschäftigen Schwarzarbeiter. Mehr noch: Die meisten von ihnen werden dabei vielleicht noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben, sondern sich eher über den Gewinn freuen. Wie kann man das erklären?
Zahlen vor dem Komma: Auszahlungen für Spieler A; Zahlen hinter dem Komma: Auszahlungen für Spieler B. »2, 2« repräsentiert das Nash-Gleichgewicht, in dem kein Spieler einen Anreiz hat, einseitig seine Strategie zu verändern. »3, 3« repräsentiert die pareto-superiore Strategiekombination, die für beide Spieler vergleichsweise attraktiver ist.
3
231 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Gerhard Minnameier
Bei diesem ersten Ansatz wird ein Mangel an moralischer Motivation unterstellt und entsprechend dafür plädiert, dass diese Motivation gefördert werden sollte. Eine solche Motivation entspräche der intrinsischen Motivation sensu Deci und Ryan, so wie Bruni und Sugden sie in die Diskussion einführen: Man hat den Sinn der Steuern (also der sozialen Praxis) erfasst und ist deshalb motiviert, seine Steuern zu bezahlen. Man tut es dann von sich aus und nicht, weil man potentielle Strafen fürchtet. Ganz in diesem Sinne gilt nach Gertrud Nunner-Winkler (2007) als moralisch (hoch) motiviert, wer im Gefangenendilemma kooperiert. Umgekehrt wird demjenigen mangelnde moralische Motivation attestiert, der im Gefangenendilemma defektiert. So kann man zwar ansetzen, löst damit aber nicht das Problem der Ungerechtigkeit, dass im geschilderten Fall die Kooperierer für ihre »Moral« bestraft und die Defektierer für ihre »Unmoral« belohnt werden. Der zweite Ansatz setzt ökonomisch an, indem er Moral mit dem Rational-Choice-Ansatz verknüpft (vgl. hierzu ausführlich Minnameier 2016b). Nach Letzterem werden Handlungsentscheidungen durch zwei Parameter determiniert: Präferenzen und Restriktionen. Alltägliche Konsumentscheidungen z. B. werden durch unsere Vorlieben (Präferenzen), aber auch durch unsere beschränkten finanziellen Ressourcen (Restriktionen) geprägt. Wirtschaftliches Handeln bedeutet Nutzenmaximierung bei gegebenen Präferenzen und Restriktionen. Präferenzen und Restriktionen können dabei vielfältiger Natur sein. So erlaubt die moderne Ökonomik auch, unsere moralischen Prinzipien als (grundlegende) Präferenzen zu betrachten, die für uns handlungsleitend sind. Restriktionen müssen ebenfalls weit gefasst werden und vor allem auf die subjektive Perspektive der Akteure bezogen sein. Selbst harte Daten wie etwa Kontostände werden nur für denjenigen relevant, der sie abfragt und weiß, wie es um seine Finanzen bestellt ist. Restriktionen müssen deshalb als subjektive Überzeugungen gefasst werden, und dazu gehört z. B. auch, wie man die Kooperationsneigung des Spielpartners im Gefangenendilemma einschätzt. Die Frage, ob man im Gefangenendilemma kooperieren oder defektieren soll, ist dann nicht nur von den internalisierten Moralprinzipien des Handelnden (d. h. von den Präferenzen) abhängig, sondern eben auch von den erwarteten Handlungsentscheidungen des anderen (den Restriktionen). Deshalb kann man argumentieren, dass man 232 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und ökonomische Rationalität
seinen Prinzipien nicht untreu wird, wenn man erkennt, dass sie in einer bestimmten Situation nur um den Preis der Selbstschädigung umzusetzen sind. Wenn dieser Preis zu hoch erscheint, dann ist es rational, die eigene Handlungsstrategie umzustellen (ohne dass sich dabei die Präferenzen ändern müssten!). Offen bleibt bei der eben vorgestellten ökonomischen Analyse, wie hoch der Preis sein dürfte, den man für die Durchsetzung der persönlichen Moral zu zahlen bereit sein sollte. Und müsste man hierfür gesonderte (Meta-)Präferenzen annehmen bzw. einführen? Man könnte natürlich so verfahren, aber das ist m. E. der falsche Weg, denn er behandelt Moralprinzipien wie persönliche Wertvorstellungen. Und diese Sichtweise geht, wie gezeigt, am Kern der Moral vorbei. 4
3.
Ökonomische Internalisierung der Moral
Moralische Prinzipien regeln nämlich menschliche Interaktionen, und zwar zum allgemeinen Vorteil (was man durchaus als gleichbedeutend mit Gerechtigkeit verstehen kann). Es geht dabei nicht nur um ein individuelles ökonomisches Kalkül, sondern um ein soziales Projekt. Man müsste freilich klären, wer in diesem sozialen Projekt bzw. der entsprechenden »Allgemeinheit« mit einbezogen wird, aber genau unter diesem Aspekt unterscheiden sich ja die spezifischen Moralprinzipien und ihre jeweiligen Geltungsbereiche. Moralprinzipien haben insofern den Charakter von Spielregeln. Und Spielregeln müssen von den Spielern eingehalten werden, sonst funktioniert das Spiel nicht. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die ökonomische Bedeutung von Spielregeln, denn man braucht sie vor allem, um in sogenannten »Kooperationsspielen« 5 paretoWie eingangs vermerkt, verstehen auch weder Bruni und Sugden noch die Kommunitaristen Tugenden als persönliche Werte, sondern deuten sie als den normativen Gehalt sozialer Praxen. Sie fokussieren dabei aber lediglich deren sozialen Ertrag und verknüpfen damit unmittelbar die intrinsische Motivation, die entsprechenden Praxen aufrechtzuerhalten und zu pflegen (wodurch sie doch wieder zu so etwas wie Werten werden, auf die man sich persönlich verpflichtet fühlen soll). Was dabei ausblendet wird, sind die zugrundeliegenden sozialen Dilemmata und die Frage, wie man diese lösen kann. 5 »Kooperationsspiele« sind genau diejenigen Spiele, die ohne Institutionen zu pareto-inferioren Ergebnissen (Nash-Gleichgewichten) führen. Darin unterscheiden sie sich von »Koordinationsspielen«, bei denen Nash-Gleichgewicht und Pareto-Opti4
233 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Gerhard Minnameier
optimale Zustände realisieren zu können. Kooperationsspiele sind solche Spiele, bei denen es für die Akteure individuell rational ist, eine Strategie zu verfolgen, die im Ergebnis dennoch nicht das bestmögliche Ergebnis hervorbringt (wie das Gefangenendilemma zeigt). Es bedarf daher der Erfindung und Durchsetzung geeigneter Regeln, die solche Kooperationsprobleme zu überwinden erlauben. Solche Regeln nennen Ökonomen »Institutionen«. Und es wird klar, dass auch Moralprinzipien den Charakter von Institutionen haben (vgl. hierzu auch Pies 2000). Hier sei nochmals auf das Gefangenendilemma Bezug genommen. Würden die Gefangenen nicht unter der besonderen Restriktion stehen, dass sie nicht miteinander kommunizieren dürfen, so würden sie vermutlich versuchen, sich abzusprechen. Sie würden versuchen, eine Art Vertrag zu schließen (gegenseitiges Schweigegelübde) und dabei auch Sanktionen zu installieren, so dass ein Vertragsbruch unwahrscheinlich wird (z. B. durch Androhung ewiger Feindschaft und späterer Rache). Hier nutzt man also ein Moralprinzip (wechselseitiges Versprechen), um das im Gefangenendilemma gegebene ökonomische Problem zu lösen. Das beginnt schon bei den elementarsten Moralkonzepten. Warum achten wir das Eigentum anderer? – Weil wir selbst auch möchten, dass unser Eigentum respektiert wird, und weil »Chaos« die Folge wäre, wenn sich jeder nähme, was er gerade gebrauchen könnte. Ein solches Chaos wäre für jeden nachteilig. Trotzdem ist Diebstahl lohnend, wenn man nicht erwischt und bestraft wird. Aus diesem Grund ist ohne Institution das Chaos stabil und die Ordnung im Sinne von Eigentumsrechten instabil. Stabilisiert wird sie, wie jede Institution, durch geeignete Sanktionen bzw. deren Androhung. Solche mum zusammenfallen, sowie »Nullsummenspielen« als reinen Verteilungsspielen (vgl. z. B. de Jonge 2012, S. 74 f.). In diesem Zusammenhang sei auf James Buchanan verwiesen, der sich in seinem Buch »What should economists do?« (1979) gegen das auch heute noch allgemein verbreitete Verständnis wendet, Ökonomik beschäftige sich im Wesentlichen mit der Frage, wie man mit knappen Ressourcen möglichst viel Nutzen bzw. einen bestimmten Nutzen mit möglichst geringem Ressourceneinsatz produzieren kann. In dieser Perspektive würde sich Ökonomik allein mit strategischen Problemen – also den bereits genannten Klugheitsfragen – widmen. Tatsächlich, so Buchanan, seien ökonomische Probleme jedoch im Kern solche des Austauschs zwischen Menschen (im Rahmen von Handel, Wettbewerb, Zusammenarbeit, Verträgen, usw.). Damit gerät Kooperation nicht nur ins Blickfeld der Ökonomik, sondern sie wird konstitutiv für sie.
234 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugendethik und ökonomische Rationalität
Sanktionen müssen keine Geld- oder gar Gefängnisstrafen sein. Erstens können es genuin moralische Sanktionen sein, wie z. B. Missbilligung, Verachtung etc. Zweitens können Sanktionen auch positiver Natur sein, wie z. B. Achtung, Lob, Anerkennung, Danksagungen etc. Wichtig ist zu erkennen, dass auch moralische Institutionen durch solche Sanktion(smöglichkeit)en – und nur durch sie (!) – aufrechterhalten werden und stabil bleiben können. Wie oben erläutert, greift die moderne Ökonomik damit das Grundthema der Moral auf. Aber damit nicht genug! Sie legt auch offen, dass alle Moral auf Kooperationsspiele bezogen ist und Lösungsmöglichkeiten für diese präsentiert, dass Moralprinzipien im Sinne von Institutionen zu verstehen und über Sanktion(smöglichkeit)en zu implementieren sind. Die Idee von Tugenden und tugendhaftem Handeln erscheint so, zumindest aus Sicht der Tugendethik, in einem völlig neuen Licht.
4.
Schlussfolgerungen
Blickt man mit diesem geschärften ökonomischen Blick durch die tugendethische Brille, so erkennt man, dass man auf diese Weise nichts besser oder klarer sieht, sondern stattdessen doppelt blind ist. Erstens ignoriert man – mehr oder weniger systematisch – die Restriktionen, weil man auf die soziale Praxis als ganze und deren mögliche Erträge schielt, ohne die spezifischen Kooperationsprobleme im Blick zu haben. Anders gesagt: Man verliert die Gelingensbedingungen jener sozialen Praxen leicht aus den Augen und handelt ausschließlich gemäß den persönlichen Präferenzen (Werten). Man kann dann noch so stolz auf die eigene moralische Standfestigkeit sein – bezüglich der sozialen Praxis ist es »Wunschdenken«. Das ist es vor allem deshalb, weil man zweitens übersieht, dass Moralprinzipien und die ihnen entsprechenden Moralregeln Institutionen sind, zu deren Aufrechterhaltung charakteristische Sanktionsmöglichkeiten vonnöten sind. Völlig verkannt wird dies, wenn man Moral im Sinne intrinsischer Motivation allein auf der Ebene individueller Motivation zu verorten versucht – hier folgen Bruni und Sugden dem Ansatz von Deci und Ryan, auf den sich z. B. auch Sandel (2013, 2016) bezieht. Konstituiert man Moral bzw. Tugenden in dieser Weise, dann ist im Übrigen auch kaum mehr zwischen Moral und Interesse zu unterscheiden, weil moralische Orientierungen dann al235 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Gerhard Minnameier
lenfalls einer bestimmten Klasse von Interessen zugehören – zugegebenermaßen zur Klasse prosozialer Interessen, welche Verhaltensökonomen typischerweise als »soziale Präferenzen« explizieren (vgl. Fehr & Schmidt 2006). Dieses Problem wird bereits sowohl bei Gauthier (1967) als auch bei Hegselmann (1997) diskutiert, die beide fragen, was der Unterschied zwischen Moralurteilen und Klugheitsurteilen ist, die aber letztlich beide zu keinem klaren Ergebnis kommen. Versteht man nun aber Moralprinzipien als Institutionen, dann lässt sich klar zwischen Klugheit und Moral unterscheiden. Klugheit fragt nach dem, was für einen bestimmten Akteur bei gegebenen Präferenzen am besten ist. Hier geht es um strategische Überlegungen, gleich ob das Handlungsziel etwas mit Moral zu hat oder nicht. Moral hingegen fragt, wie interindividuelle Konflikte sozialverträglich gelöst werden können. Im Bereich der Moral sind demnach genau genommen zwei Aspekte zu unterscheiden (vgl. z. B. Homann 2014): Der Normativitätsaspekt bezieht sich auf Lösungsansätze für soziale Konflikte (Moralurteile), der Implementationsaspekt bezieht sich auf die praktische Umsetzung und Durchsetzung von Moralprinzipien (Klugheitsurteile). Wichtig ist jedoch zu erkennen, dass Institutionen hier nicht bloß als Implementationsinstrument anzusehen sind, sondern eben als Lösungsansätze für die zugrundeliegenden Moralprobleme. Man benötigt bestimmte Arten von Moral (und Ethik), um bestimmte Spiele überhaupt verstehen und damit spielen zu können. Auch die ethische Seite der Marktwirtschaft muss man in dieser Weise verstehen, um zu wissen, welche Probleme man mit ihr lösen kann und welche nicht. Wenn man es genau nimmt, dann gibt es ohne Moral keine ökonomische Spieltheorie. Spieltheoretiker übersehen diesen wichtigen Punkt zumeist, weil sie den normativen Aspekt üblicherweise durch Annahmen über Präferenzen und geteiltes Wissen [»Common Knowledge«-Annahme] internalisieren und ihr Hauptaugenmerk auf den Implementationsaspekt richten. Wer dies nicht erkennt, betreibt Spieltheorie letztlich als verkappte Entscheidungstheorie und reduziert sie damit auf den Klugheits- bzw. Implementationsaspekt. 6 Diesen Fehler begehen nicht nur Spieltheoretiker, sonDemgemäß beginnt die Einführung zu einem in vierter Auflage erschienenen Lehrbuch zur Spieltheorie mit folgenden bemerkenswerten Sätzen: »Spieltheorie ist Entscheidungstheorie. Zugegeben, sie ist ein spezieller Teil der Entscheidungstheorie,
6
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Tugendethik und ökonomische Rationalität
dern auch Tugendethiker, die ökonomisches Handeln als instrumentelles Handeln (miss)verstehen. Bruni und Sugden haben dieses letztere Missverständnis aufgeklärt, aber sie haben es versäumt herauszuarbeiten, dass alle Tugend auf ökonomische Füße gestellt werden muss, sowohl was Moralprinzipien als Lösungskonzepte für Kooperationsspiele, als auch was Klugheitsfragen im Kontext der Implementation dieser Lösungen betrifft. Auf dieser Basis lassen sich einerseits tatsächlich Tugenden begründen und sogar gegen einen simplistischen Ökonomismus verteidigen. Andererseits wird transparent, warum die tugendethische Kritik an Markt und Ökonomik ins Leere geht.
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237 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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Christian Rennert
Tugenden im institutionenökonomischen Denken
1.
Einleitung
Ökonomen haben die Arbeitsteilung als ein Prinzip entdeckt, das wirtschaftlichem Fortschritt zugrunde liegt. Das lässt den Schluss zu, dass Arbeitsteilung durch methodische Spezialisierung ebenso den wissenschaftlichen Fortschritt befördert. Nun muss das nicht heißen, dass die gelegentliche Überwindung der Arbeitsteilung in den Wissenschaften durch Ausflüge von Wissenschaftlern in ihre Nachbarwissenschaften nicht inspirierend sein kann. Angesichts der Produktivität der Arbeitsteilung bergen solche Grenzüberschreitungen jedoch die Gefahr hoher Opportunitätskosten. Die Ökonomen Luigino Bruni und Robert Sugden (2013, 2017) nehmen in ihrem Aufsatz »Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann« eine solche Grenzüberschreitung vor und dringen tief in eine philosophische Kerndisziplin, die aristotelische Tugendethik, ein. Sie rekonstruieren philosophische Fragen nicht mit ökonomischen Instrumenten (in diesem Fall würden sie bei der methodischen Spezialisierung bleiben), sondern ökonomische Phänomene mit philosophischen Mitteln (BS 2 ff.). Was ist das Telos des Marktes? Welches Verhalten auf Märkten ist tugendhaft? Viele Ökonomen sind sicherlich von dem entwickelten Tugendkatalog angetan; so auch der Verfasser dieses Aufsatzes. Es lassen sich nur schwer Gründe finden, warum die Berücksichtigung der diskutierten Tugenden im konkreten Handeln von Marktakteuren nicht bedeutsam für langfristigen Unternehmenserfolg und die dauerhafte Funktionsfähigkeit von Märkten sein sollte. Dennoch bleiben Zweifel, ob der von Bruni und Sugden eingeschlagene Weg aussichtsreich sein kann. Tugenden können zwar in Bildungsprozessen eingeübt werden, jedoch schnell in den Hintergrund geraten, wenn die entsprechend erzogenen Akteure in der Marktwirklichkeit feststellen müssen, dass untugendhafte Zeitge239 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Christian Rennert
nossen ihre Ziele mit einem geringeren Verbrauch an zeitlichen oder materiellen Ressourcen erreichen als sie selbst. Tugendhaftes Verhalten und ebenso funktionsfähige Märkte und Organisationen scheinen insofern eher prekär bzw. höchst voraussetzungsvoll zu sein, so dass die Frage bleibt, ob eine philosophische Begründung ausreicht, um Tugenden als »genuin moralische Haltungen« im Markt- und Organisationsalltag »mit einer ganz eigenständigen Authentizität« leben zu können, wie dies Bruni und Sugden behaupten (BS 69). Ökonomik verstanden als praktisch-normative Wissenschaft will über Handlungen auf Märkten und in Organisationen aufklären und Vorschläge in den Diskurs einbringen, wie Märkte und Organisationen funktionsfähig bleiben können oder wieder funktionsfähig werden. So sind in den letzten Jahrzehnten mit der Ordnungsethik von Karl Homann und der Neuen Institutionenökonomik in der Tradition von Ronald Coase auch zwei einflussreiche ökonomische Theoriearchitekturen entstanden, die funktionierende Märkte und Organisationen explizit ohne Rückgriff auf tugendhafte Handlungsorientierungen von Akteuren erklären. Innerhalb dieser Forschungsprogramme werden die Funktionsfähigkeit von Märkten und Organisationen nicht an das Vorhandensein solcher Haltungen der Akteure geknüpft, und zwar gerade weil der prekäre Charakter von tugendhaftem Verhalten auf Märkten und in Organisationen ernst genommen wird. Nachfolgend stelle ich diese beiden Ansätze im Hinblick auf ihren Umgang mit Tugenden kurz vor. Auf dieser Grundlage schlage ich einen anderen Weg als den von Bruni und Sugden vor, um Tugenden in den ökonomischen Diskurs und die ökonomische Praxis zurückzuholen. Organisationen stehen dabei im Mittelpunkt. Dies will ich im Fazit kurz skizzieren.
2.
Ordnungsethik
Ein Ausgangspunkt der von Karl Homann auf den Weg gebrachten Ordnungsethik war eine explizite Kritik an der Eignung tugendethischer Ansätze für Verständnis und Gestaltung von Märkten. Dabei interessierte sich Homann weniger für Märkte als vielmehr für Wettbewerb als Mechanismus zur Koordination von Markthandlungen. Unter Wettbewerbsbedingungen – d. h. bei der Rivalität von Akteuren um knappe Güter – erodieren Tugenden, wenn ein Akteur durch 240 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Tugenden im institutionenökonomischen Denken
die Nichtberücksichtigung von Tugenden das knappe Gut erlangt. Sofern die Akteure gute Gründe haben, dieses Verhalten wechselseitig nicht ausschließen zu können, sind sie schon aus Selbstschutz gezwungen, sich untugendhaft zu verhalten. Andernfalls gehen sie im Wettbewerb unter – wenn sie nicht als Ehrliche die Dummen sein wollen, wie man im Volksmund sagt. 1 Homann kann dieses Phänomen der Erosion von Tugenden präzise erfassen, weil er die Ökonomik nicht mehr als Aktions-, sondern als Interaktionsökonomik konzipiert. Empirische Phänomene werden aus den Vorteils-/Nachteils-Kalkulationen interagierender, d. h. voneinander abhängiger, Akteure erklärt, die mit von ihnen als relevant empfundener Knappheit umgehen müssen. 2 Wenn Tugenden in empirischen Interaktionen nicht helfen, Knappheit zu überwinden, ist davon auszugehen, dass jede philosophisch noch so ausgezeichnet durchdachte Tugendbegründung – wie etwa die von Bruni und Sugden – von Akteuren auf Märkten zwar geschätzt, aber ignoriert wird. Diese Problembeschreibung – Akteure wollen sich tugendhaft verhalten, können aber nicht – gehört zum harten Kern des Homannschen Forschungsprogramms. Daraus folgt zwangsläufig, dass die systematische Lösung des Problems nicht in einer noch differenzierteren Tugendbegründung und nachfolgenden Tugendbildung liegen kann. Vielmehr ist zunächst herauszuarbeiten, warum die Verhältnisse, unter denen die Akteure handeln, untugendhaftes Verhalten hervorrufen. Danach ist zu fragen, wie die Verhältnisse geändert werden können, so dass sich tugendhaft Handelnde mindestens nicht schlechter stellen als untugendhaft Handelnde. Kurz: Die Verhältnisse (Institutionen, Bedingungen, Regeln, Ordnung, Kontext, Situation bzw. Institutionengefüge oder Governancestruktur) müssen das stets So kann tugendhaftes Verhalten empirisch schnell zur Selbstaufopferung werden, was Bruni und Sugden nicht als Gegenstand eines tugendethischen Theorieprogramms ansehen (BS 42). Damit unterstreichen sie die Realitätsferne der Tugendethik bzw. deuten auf die Notwendigkeit hin, dass die Tugendethik auf Unterstützung anderer Wissenschaftsdisziplinen angewiesen ist, um Praxis im aristotelischen Sinne (BS 9) begründen zu können. 2 Vgl. Homann und Suchanek (2000, 2005; S. 29 ff.). Der Vor- und Nachteile kalkulierende Akteur (homo oeconomicus) wird in der Homannschen Theoriearchitektur nicht axiomatisch gesetzt, sondern ergibt sich aus der Handlungssituation der interagierenden Akteure. Eine Situation, die Akteure als Wettbewerbssituation wahrnehmen, ist demzufolge Ausgangspunkt der Theorieentwicklung. Anders ausgedrückt: Wettbewerb erzwingt das kalkulierende Nachdenken und die Konzentration auf das eigene Interesse. 1
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prekäre tugendhafte Verhalten stützen, damit es nicht kippt und sich untugendhaftes Verhalten ausbreiten kann. 3 Bei Homann ist demzufolge nicht das Wissen um Tugenden knapp, das Bruni und Sugden bereitstellen, sondern das Wissen um Situationen, in denen sich Tugenden entfalten können (oder nicht). An diesem Punkt verknüpft Homann sein Forschungsprogramm mit verschiedenen Theoriezweigen einer institutionalistisch erweiterten neoklassischen Ökonomik bzw. Rational-Choice-Ökonomik, der es um die Erforschung der Verhältnisse geht, unter denen Menschen handeln. Institutionen als Ergebnisse dieser Forschung lösen die von Homann beschriebenen Interaktionsprobleme. Institutionen verleihen Handlungssituationen eine Struktur. Sie kanalisieren Handlungen in Interaktionen und machen voraussagbar, ob sich Menschen tendenziell tugendhaft verhalten oder nicht. 4 Es sei hervorgehoben, dass Karl Homann die philosophische Tugendbegründung von Bruni und Sugden nicht in Bausch und Bogen verdammen würde. In der Ordnungsethik sind Tugenden gewissermaßen Input der Theoriebildung. Wenn die von Bruni und Sugden dargelegten Tugenden in Markthandlungen zum Ausdruck kommen sollen, erfordert dies jedoch mindestens eine parallele Beschäftigung mit den institutionellen Voraussetzungen des tugendhaften Handelns. Homann argumentiert konsequent im Paradigma einer Rational-Choice-Ökonomik und entscheidet von dort aus, wie interdisziplinäre Arbeitsteilung im Dienste eines praktisch-normativen Erkenntnisfortschritts zu organisieren ist. Der Moralphilosophie mit ihren komparativen Vorteilen in der normativen Analyse kommt die Aufgabe zu, die Ökonomik über Tugenden zu informieren, und die Rational-Choice-Ökonomik mit ihren Stärken in der positiven Analyse informiert die Moralphilosophie, ob und wie diese für auf MärkBruni und Sugden verstehen unter »normalen Bedingungen« – nach (neo)klassischem Marktverständnis sind dies die Bedingungen im Gleichgewicht – jene, unter denen alle Marktpartner gleichermaßen profitieren (BS 42). Diese Beschreibung zeigt den »blinden Fleck« der Mainstream-Neoklassik. Die Gleichgewichtslösung kann auch so aussehen, dass nicht alle Marktpartner gleichermaßen profitieren und dieses Gleichgewicht dennoch nicht unter Druck gerät. Auf diese Ambivalenz wettbewerblicher Gleichgewichtslösungen weisen Akerlof und Shiller (2015; S. 163 ff.) hin, wenn sie ein Gleichgewicht, das aufgrund von listigem und täuschendem Verhalten einer Marktseite entstanden ist und diese unangemessen besserstellt, als »Phishing Equilibrium« bezeichnen. 4 Vgl. Homann und Suchanek (2000, 2005; S. 21 ff.). 3
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Tugenden im institutionenökonomischen Denken
ten handelnde Akteure relevant werden können. Institutionen (als Ergebnisse der positiven Analyse) übernehmen dabei die Rolle von Transmissionsriemen für diese Tugenden.
3.
Neue Institutionenökonomik
In der Argumentation von Bruni und Sugden fehlen Organisationen als Akteure auf Märkten. Wie in der (alten) neoklassischen Ökonomik unterstellen sie Unternehmen als eigenständige Akteure, denen die Eigenschaft, tugendhaft zu handeln, ebenso zugewiesen werden kann wie Individuen (Unternehmen als Produktionsfunktion). Diese fehlende Berücksichtigung von Organisationen ist problematisch, weil (un)tugendhaftes Verhalten, das Ökonomen und deren Kritiker heutzutage interessiert, in vielen Fällen von Organisationen bzw. von »Organisationsmenschen« erzeugt wird. Einer solchen Behandlung von Unternehmen als »black boxes« wird in der Neuen Institutionenökonomik nicht mehr gefolgt. Individuen in Organisationen verfügen regelmäßig über Handlungsspielräume 5, und es ist nicht sichergestellt, dass sie diese durch tugendhaftes Verhalten ausfüllen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Akteure Handlungsspielräume nutzen, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen, und dass sie im Zweifel nicht davor zurückschrecken, Tugenden zu ignorieren. 6 Individuen in Organisationen haben also regelmäßig die Möglichkeit, durch untugendhaftes Verhalten ihren Interaktionspartnern oder ihrer Organisation Schaden zuzufügen. Akteure, die sich in solchen Situationen auf tugendhaftes Verhalten ihrer Transaktionspartner verlassen, sind im Wortsinn (und von Bruni und Sugden) verlassen. Der Neuen Institutionenökonomik geht es um die Entwicklung von Institutionen bzw. von einem Institutionengefüge (Governancestruktur), um solche Interaktionsprobleme in den Griff zu bekomHandlungsspielräume resultieren aus notwendigerweise unvollständigen Verträgen zwischen den als intendiert rational, aber nur beschränkt rational modellierten Interaktionspartnern. Vgl. Williamson (2010; S. 678) mit Verweis auf Herbert Simon. 6 Es wird die Verfolgung des Selbstinteresses auch unter Einschluss von List und Tücke unterstellt (Opportunismus). Vgl. Williamson (1988; S. 569 f.). Dies entspricht der Beschreibung der Akteure bei Akerlof und Shiller (2015). Opportunismus führt insofern zu asymmetrisch verteilten Informationen zwischen den Interaktionspartnern. Vgl. Williamson (1985; S. 47). 5
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men. In der Betriebswirtschaftslehre haben vor allem die Agenturtheorie in der Tradition von Michael Jensen 7 und die Transaktionskostenökonomik in der Tradition von Oliver Williamson 8 Bedeutung erlangt. Beide Theoriezweige modellieren den Austausch zwischen Interaktionspartnern als (expliziten oder impliziten) Vertrag und betten diesen in eine Governancestruktur ein. In der Agenturtheorie wird angenommen, dass die Interaktionspartner untugendhaftes Verhalten des Auftragnehmers antizipieren und im Vertragsdesign ex ante berücksichtigen. Der Auftraggeber weist die gewünschten Tugenden im Vertrag aus und ordnet ihnen Preise zu. Wie dies auf Märkten der Fall ist, werden die Preise erst gezahlt, wenn die Einzelleistungen erbracht sind. So modelliert die Agenturtheorie Organisationen als Märkte, auf denen konfligierende Ziele von Individuen über den Preismechanismus zum Ausgleich gebracht werden. Damit wird unterstellt, dass Governancestrukturen, die effiziente Märkte hervorbringen, ebenso effiziente Organisationen erzeugen. 9 In der Managementpraxis hat die Agenturtheorie weitreichende Bedeutung erlangt und prägt die (Mainstream-)Literatur zum Corporate Governance Management in Gestalt der Entwicklung von variablen Vergütungssystemen, Corporate Governance Kodizes, Corporate Reporting Maßnahmen, Compliance-Strukturen etc. Die große Resonanz, auf die das agenturtheoretisch fundierte Corporate Governance Management trifft, deutet – pointiert ausgedrückt – darauf hin, dass die Wirtschaftspraxis zwar intellektuellen Gefallen an den von Bruni und Sugden entwickelten Markttugenden finden mag, diesen Einstellungen in der Markt- und Organisationswirklichkeit aber keine größere Bedeutung zumisst. Ohne die disziplinierende Wirkung im Wege einer Verknüpfung von z. B. Kundenzufriedenheitsmaßen Vgl. Jensen und Meckling (1976, 1998). Vgl. Williamson (1985), (2005) und (2010). 9 Vgl. Jensen und Meckling (1976, 1998; S. 57) sowie Williamson (1988; S. 570, Fußnote 7). Zusätzlich versucht der Auftraggeber untugendhaftes Verhalten der Auftragnehmer in den Griff zu bekommen, indem er diese zu einem umfassenden Berichtswesen über die Auftragserledigung verpflichtet. Durch die beschriebenen Maßnahmen zur Einhegung untugendhaften Verhaltens entstehen Agenturkosten, die sich reduzieren lassen, wenn Unternehmen entlang der Wertentwicklung des Eigenkapitals gesteuert werden. Hier verbindet sich die Agenturtheorie mit der kapitalmarktorientierten Finanztheorie. Diese Verknüpfung liefert einen Grund für die beachtliche Aufmerksamkeit, die die Agenturtheorie in der Managementpraxis erfährt. Vgl. Schmidt (2007). 7 8
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Tugenden im institutionenökonomischen Denken
an die Entlohnung oder der Pflicht zur Offenlegung von CSR-Maßnahmen im Nachhaltigkeits-Reporting erscheint der Gedanke offenbar abwegig, dass Unternehmen ihre Kunden und andere Stakeholder angemessen behandeln. 10 Die agenturtheoretisch fundierten Governanceempfehlungen zum Umgang mit untugendhaftem Verhalten treffen in der Transaktionskostenökonomik auf deutliche Kritik. Im Gegensatz zur Agenturtheorie wird davon ausgegangen, dass die Interaktionspartner untugendhaftes Verhalten wechselseitig nicht antizipieren und daher im Vertragsdesign ex ante nicht berücksichtigen können. Im Gegenteil: Wenn hohe Preise für tugendhaftes Verhalten in Aussicht gestellt werden und dadurch Knappheit erzeugt wird, steigt der Anreiz zur strategischen Beeinflussung der Bewertungsinstrumente für diese Tugenden. Die agenturtheoretisch fundierten Governancestrukturen bleiben wirkungslos oder rufen sogar ein Verhalten hervor, dessen Destabilisierung sie ursprünglich bewirken sollten. 11 Daher muss es als naiv bezeichnet werden, mangelnde Tugendhaftigkeit von als opportunistisch modellierten Akteuren dadurch in den Griff bekommen zu wollen, dass man ihnen Belohnungen für tugendhaftes Verhalten in Aussicht stellt. Solche preistheoretisch fundierten Maßnahmen sind Ausweichmanöver, die eine Beschäftigung mit den wahren Interaktionsproblemen, die sich erst in der Phase der Vertragsimplementation – ex post – zeigen, unterdrücken. 12 So empfiehlt die Transaktionskostenökonomik Institutionen, mit deren Hilfe sich die Interaktionspartner tugendhaftes Verhalten während der Vertragsdurchführung glaubhaft zusichern können. Sinnbildlich geschieht dies durch Hinterlegung eines Pfands, das für den Fall als Entschädigung einbehalten wird, wenn ein Interaktionspartner durch untugendhaftes Verhalten seines Gegenübers einen Schaden erleidet. 13 Der Transaktionskostenökonomik geht es also explizit nicht um Belohnungen für tugendhaftes Verhalten wie in der Agenturtheorie, sondern darum, dass derjenige Interaktionspartner einen unmittelbar wirksamen Schaden hat, der sich nicht tugendhaft verhält. Vgl. Faber und von Werder (2014). Vgl. Williamson (2010; S. 681) sowie (2005; S. 30 ff.). Zur strategischen »Aufhübschung« von Unternehmensberichten als notwendiger Pflege der »Schauseite der Organisation« siehe bereits Luhmann (1964, 1999; S. 112). 12 Vgl. Willamson (2005; S. 26, S. 38). 13 Vgl. Williamson (2010; S. 684 f.) 10 11
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Die Pfandhinterlegung hat überdies die Eigenschaft, dass der durch untugendhaftes Verhalten seines Gegenübers geschädigte Interaktionspartner nicht sogleich den Gerichtsweg (»public ordering«) beschreiten muss, um seine Rechte einzuklagen, was dagegen die Agenturtheorie nahelegt. 14 Solange der Geschädigte im Besitz des Pfands seines untugendhaften Gegenübers ist, hat er einen Anreiz, über den Fortbestand der Interaktionsbeziehung zu verhandeln und diese an möglicherweise geänderte Umweltbedingungen anzupassen (»private ordering«). So stimuliert das Pfand das Interesse der Interaktionspartner, sich über Gründe und Konsequenzen des untugendhaften Verhaltens auszutauschen, etwaige Maßnahmen zur Schadenskompensation zu eruieren und vor allem auszuloten, ob sich die Interaktion nicht doch fortführen und wieder in eine Kooperation zum wechselseitigen Vorteil überführen lässt. 15 Durch diese Verhandlungsprozesse können die mit der Interaktion verbundenen Kosten prohibitiv hoch werden, so dass ein grundsätzlicher Wechsel der Governancestruktur angezeigt ist, unter der die Interaktion stattfindet. Die Lösung, die die Transaktionskostenökonomik vorschlägt, ist ein Institutionengefüge nicht mit starken, sondern schwachen Anreizen zur freiwilligen Interessenkoordination der Interaktionspartner. Die über starke Anreize gesteuerte freiwillige Interessenkoordination wird durch direktive, erzwungene Interessenkoordination im Wege der Anordnung oder Weisung (Bürokratie, Hierarchie) ersetzt. 16 Hierarchien erzeugen andere, neue Transaktionskosten – z. B. in Gestalt nachlassender Motivation (Dienst nach Vorschrift) 17 –, die jedoch als geringer angenommen werden als jene, die in der über starke Anreize gesteuerten Organisation anfallen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Transaktionskostenökonomik im Gegensatz zur Agenturtheorie betont, dass Governancestrukturen, die funktionsfähige Märkte hervorbringen, deutlich von Governancestrukturen zu unterscheiden sind, die funktionsfähige Organisationen erzeugen. Beide Theorieprogramme Vgl. Jensen und Meckling (1976, 1998; S. 57, Fußnote 14). Hier liegt ein Grund für das »regulatorische Feuerwerk« (v. Werder, 2011; S. 50), das die Ausbreitung der agenturtheoretisch fundierten Corporate Governance begleitet. 15 Vgl. Williamson (2010; S. 674). 16 Vgl. Williamson (2010; S. 681). 17 Vgl. dazu die von Bruni und Sugden zitierte Literatur zur intrinsischen Motivation (BS 24 ff.). 14
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Tugenden im institutionenökonomischen Denken
stimmen jedoch darin überein, dass tugendhaftes Verhalten auf Märkten kein Selbstläufer ist, wie dies Bruni und Sugden unterstellen (BS 42).
4.
Fazit
Die Ordnungsethik modelliert tugendhaftes Verhalten als instabil. Sie weist darauf hin, dass für die authentische Befolgung von Tugenden in wettbewerblich verfassten Arenen – seien dies nun Märkte oder Organisationen 18 – weniger das differenzierte Wissen um Gründe für tugendhaftes Verhalten fehlt als vielmehr Wissen um geeignete institutionelle Strukturen, die tugendhaftes Verhalten stützen. Diese zentrale Erkenntnis, die Karl Homann in seinem Werk herausgearbeitet hat, muss meines Erachtens in jedem theoretischen Vorhaben explizite Berücksichtigung finden, welches das Ziel verfolgt, Tugenden systematisch in den ökonomischen Diskurs zurückzuholen, ohne dabei hinter den erreichten Stand der ökonomischen Theorieentwicklung zurückzufallen. 19 Aus einer Praxisperspektive betrachtet, heißt dies, dass die Theorie Problemlagen jener Menschen ernst nimmt, die sich tugendhaft verhalten wollen, dies aber aufgrund situativer (Fehl-)Anreize nicht können. Auf den Punkt gebracht: Die Theorie soll auch jene Menschen in den Blick nehmen, die sich nicht den Luxus leisten können, nach öffentlicher Empörung über untugendhaftes Verhalten das Schiff zu verlassen wie der Goldman & Sachs Manager Greg Smith, dessen Geschichte Bruni und Sugden erzählen, um im gleichen Atemzug als einzige Lösung anzubieten, die Goldman Manager sollten sich tugendhaft verhalten und ihre Kunden nicht als »Melkkühe« missbrauchen, weil dies nicht in ihrem langfristigen Eigeninteresse sei (BS 52). Wenn man keine paradiesische, sondern eine realistische Vorstellung vom Leben hat, muss man meines Erachtens den Schluss zulassen, dass Knappheit und – als Folge – Wettbewerb nicht nur auf Märkten und in Organisationen vorzufinden sind, sondern Universalien des Lebens darstellen. Dies verstärkt das Argument, die Suche nach Institutionen, die ein tugendhaftes Leben ermöglichen, in den Fokus der Theoriebildung zu rücken. Die tugendethische Suche nach Gründen für ein tugendhaftes Leben erzeugt demgegenüber eher zwischenmenschliche Konflikte oder Frustration. 19 Zur experimentellen Untermauerung dieses Arguments von Karl Homann vgl. Schier, Ockenfels und Hofmann (2016). Zur empirischen Untermauerung vgl. Akerlof und Shiller (2015). 18
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Es gibt wohl kaum Ökonomen, die diese Auffassung nicht teilen, aber viele Ökonomen, die sich mit dieser Lösung nicht zufrieden geben. Die Agenturtheorie und die Transaktionskostenökonomik entwickeln konkrete Governancevorschläge, um solche Probleme in den Griff zu bekommen und untugendhaftes Verhalten zu destabilisieren. Dennoch bleiben Fragen, ob die Institutionen, die sie vorschlagen, ihr Ziel erreichen. Die Agenturtheorie, die Organisationen als Märkte modelliert, hat in ihrer praktischen Anwendung eher jene untugendhaften Geister geweckt, die sie zu vertreiben beabsichtigte. Ökonomiekritiker und Ökonomen sind sich über die Jahre in der Beurteilung näher gekommen, dass Fehlverhalten von und in Organisationen mit der Durchsetzung agenturtheoretisch fundierter Managementprinzipien zusammenzuhängen scheint. 20 Viele Bewertungen sind mittlerweile in Fatalismus umgeschlagen: Die Verhältnisse lassen sich offensichtlich nicht ändern, obwohl die Anreizwirkungen agenturtheoretisch begründeter Institutionen als weitgehend verstanden gelten. 21 Michael Jensen, der »Vater« der agenturtheoretischen Revolution im Management, hat einen tugendethischen Weg eingeschlagen und rekonstruiert untugendhaftes Verhalten nun weniger als institutionelles Problem, sondern als Konsequenz mangelnder individueller Selbstkontrolle, fehlender Authentizität und Integrität. 22 Oliver Williamson ist bei seiner Auffassung geblieben. Einige Überlegungen zu Governance-Reformen deuten darauf hin, dass sein Fokus auf Probleme während der Vertragslaufzeit in der Fachöffentlichkeit mehr Beachtung findet. Unter anderem zeigt sich dies in der zunehmenden Bedeutung des Begriffs »Nachhaltigkeit« als Heuristik für die Suche nach und Entwicklung von geeigneten Governance-Instrumenten. Nachhaltigkeit ist ein Ex-post-Phänomen. Der konsequente letzte Schritt in der Williamsonschen TheorieVgl. Goebel und Weißenberger (2016); Walgenbach (2011, S. 427 f.); siehe ebenso oben Fußnote 11. 21 So stellt etwa Axel von Werder (2011; S. 56), der zum Gründungskreis der »Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex« gehört, fest, dass der nach den herrschenden Governance Regeln berechnete, geprüfte und in mannigfachen Berichten erläuterte finanzielle Unternehmenserfolg »oft mehr mit Wirklichkeitskonstruktion zu tun hat als mit der Wirklichkeit …, [wir uns jedoch] irgendwann entschlossen [haben], die zugrundeliegenden Fiktionen und ihre Resultate zu akzeptieren.« Luhmann würde schmunzeln (siehe oben Fußnote 11). 22 Vgl. Jensen (2011; S. 11 ff.). Jensen sieht den Einfluss des Kontexts auf Verhalten (vgl. ebenda; S. 4 ff.), argumentiert im Hinblick auf die Lösung von Interaktionsproblemen jedoch strikt tugendethisch. 20
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Tugenden im institutionenökonomischen Denken
architektur ist der Ersatz der über starke Anreize gesteuerten freiwilligen Befolgung von Tugenden durch die Anweisung zu tugendhaftem Verhalten in einer Hierarchie. Das ist ein interessanter Gedanke, der dennoch unmodern klingt. Die Hierarchie entsprach dem Governanceprinzip in der Organisationswirklichkeit vor dem Vordringen der Neuen Institutionenökonomik in die Organisationstheorie. Ob sich in der heutigen Wissensgesellschaft erfolgreiche Organisationen über Direktiven errichten lassen, ist mehr als fraglich. Doch lassen sich bei Oliver Williamson Bemerkungen vor allem im Hinblick auf zukünftige Forschung finden, die auf eine erweiterte, im bekannten institutionenökonomischen Bezugsrahmen jedoch zunächst schwer zu fassende, Interpretation von Organisation hindeuten. Williamson räumt ein, dass funktionierende Organisationen Merkmale aufweisen, die auf einer Suspendierung ökonomischer Logik beruhen. Der Zwang zum kalkulierenden Abwägen, der Wettbewerbssituationen auszeichnet, und der die ständige Berücksichtigung untugendhaften Verhaltens im Entscheidungskalkül der (ökonomisch modellierten) Akteure zur Folge hat, kann der Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und nicht bedingter Tugendhaftigkeit im Wege stehen. 23 Ohne diese Eigenschaften sind Organisationen nicht in der Lage, eine eigene korporative Identität zu entwickeln und ihre Vorteile gegenüber marktvermittelter Leistungserstellung auszuspielen. Sie drohen sogar zu zerfallen. Mangelndes Vertrauen unter Marktakteuren wird in der Transaktionskostenökonomik ja gerade als ein wesentlicher Grund für die Bildung von Organisationen herausgearbeitet. Ein solcher Blick auf Organisationen, der die ökonomische Rationalität transzendiert, lässt den Schluss zu, dass Menschen in Organisationen möglicherweise weder Belohnungen noch Strafen benötigen, um Tugenden authentisch leben zu können. 24 Sie brauchen vielleicht auch keine Anweisungen, die ihnen tugendhaftes Verhalten aufzwingen, und auch keine Gründe, die es ihnen nahelegen. Warum sollen sich Menschen in Organisationen nicht aus freien Stücken – intrinsisch motiviert – tugendhaft verhalten wollen? Damit sie dies können, ist ein solches Verhalten jedoch an eine entscheidende institutionelle Voraussetzung geknüpft: Organisationen müssen sich als Organisationen, als korporative Akteure, konstituieren können, die 23 24
Vgl. Williamson (1985; S. 402 ff., ferner S. 390 ff. sowie S. 247). Vgl. Williamson (1985; S. 406, Fußnote 21).
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Christian Rennert
ihren Mitgliedern die Möglichkeit geben, sie nicht nur als Plattform für die Erlangung individueller Vorteile oder für die Vermeidung individueller Nachteile, sondern als Arenen komplexer kollaborativer Wertschöpfungsprozesse zu verstehen. Es geht um die Wiederentdeckung des Unternehmens als Produktionsfunktion, aber eben eingebettet in Governancestrukturen, die kollaborative Wertschöpfung unterstützen. Hier erscheinen Theorieansätze interessant, die für die mikrotheoretische Fundierung kollaborativer Wertschöpfung auch, aber nicht ausschließlich, auf individuelle Vorteils-Nachteilskalküle und damit auf die zweifelsohne erklärungsstarke Neoklassik zurückgreifen. So kommen Informationen über Governancestrukturen in ihrer Auswirkung auf Wertschöpfungsprozesse in den Blick, die über Erkenntnisse hinausgehen, die sich etwa aus der ökonomischen Theorie der Teamproduktion ableiten lassen. 25 Allerdings hält dieser Weg einige Zumutungen für die neoklassische Ökonomik bereit. Um dies zu verdeutlichen, sei ein Ergebnis dieser Forschung genannt: Unternehmen müssen ihre Steuerung entlang des Prinzips der Gewinnmaximierung oder abgeleiteter Größen in den Hintergrund rücken, und zwar gerade, um Gewinne maximieren zu können. 26 Das tugendhafte Verhalten der Akteure kann dann (fast) von alleine entstehen. Warum sollen Menschen ihrem Unternehmen oder seinen Stakeholdern Schaden zufügen, wenn sie beide als wichtig empfinden? »Wichtig« hat eine andere Bedeutung als vorteilhaft und lässt sich nicht ohne inhaltliche Verluste als vorteilhaft rekonstruieren. Und so entstehen auch andere Governancestrukturen. 27 Der Weg dorthin zeigt sich erst in Umrissen. Und vor allem: Wie kann eine Brücke zur Finanzmarktökonomik gebaut werden, die doVgl. Foss und Lindenberg (2012). Im Zentrum dieser Arbeiten steht die Goal-Framing-Theorie von Siegwart Lindenberg. Im Kern beschreibt sie unterschiedliche Situationswahrnehmungen von Akteuren und wie die Akteure diese Wahrnehmungen in situativ rationales Verhalten umsetzen. Es handelt sich um einen sozialpsychologisch informierten Rational-Choice-Ansatz, der die Handlungssituationen von Akteuren differenzierter (im Sinne von auch, aber nicht ausschließlich) erfasst als die Rational-Choice-Ökonomik. Vgl. dazu und zur Kritik an der Transaktionskostenökonomik Lindenberg (2015). 26 Vgl. Foss und Lindenberg (2013; S. 93 ff.) 27 Um Missverständnisse zu vermeiden, will ich nochmals betonen, dass die Wahrnehmung und Beschreibung von etwas als »wichtig« im vorliegenden Zusammenhang Resultat eines institutionellen Gefüges und nicht einer individuellen, wohlbegründeten Einstellung ist. 25
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Tugenden im institutionenökonomischen Denken
minierende Bedeutung für Unternehmensbewertung und daraus abgeleitete Unternehmensstrategien besitzt? Vielleicht taucht auf diesem Weg jedoch der eine oder andere Gedanke auf, der zur Fortentwicklung der Ökonomik beitragen kann. Und das alles ohne Tugendethik.
Literatur Akerlof, George A. und Robert J. Shiller (2015): Phishing for Phools. The Economics of Manipulation and Deception, Princeton und Oxford. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Faber, Joachim und Axel von Werder (2014): Nicht-finanzielle Ziele als Element nachhaltiger Vorstandsvergütung, in: Die Aktiengesellschaft, H. 17, S. 608– 620. Foss, Nicolai J. und Siegwart Lindenberg (2013): Microfoundations for Strategy: A Goal-Framing Perspective on the Drivers of Value Creation, in: The Academy of Management Perspectives, Vol. 27, No. 2, S. 85–102. Foss, Nicolai J. und Siegwart Lindenberg (2012): Teams, Team Motivation and the Theory of the Firm, in: Managerial and Decision Economics, Vol. 33, No. 5–6, S. 369–383. Goebel, Sebastian und Barbara E. Weißenberger (2016): The Dark Side of Tight Financial Control: Causes and Remedies of Dysfunctional Employee Behaviors, in: Schmalenbach Business Review (SBR), Jg. 17, No. 1, S. 69–101. Homann, Karl und Andreas Suchanek (2000, 2005): Ökonomik. Eine Einführung, 2. Auflage, Tübingen. Jensen, Michael C. (2011): Pioneers in Finance. An Interview with Michael C. Jensen (Part 2), in: Journal of Applied Finance, Issue 1, S. 1–12. Download: http://ssrn.com/abstract=1863994 Jensen, Michael C. und William H. Meckling (1976, 1998): Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Costs, and Ownership Structure, in: Michael C. Jensen: Foundations of Organizational Strategy, Cambridge, Mass., S. 51–102. Lindenberg, Siegwart (2015): The Third Speed: Flexible Activation and Its Link to Self-Regulation, in: Review of Behavioral Economics, Vol. 2, Issues 1–2, S. 147–160. Luhmann, Niklas (1964, 1999): Funktionen und Folgen formaler Organisation, 5. Auflage, Berlin. Schier, Uta K., Axel Ockenfels und Wilhelm Hofmann (2016): Moral values and increasing stakes in a dictator game, in: Journal of Economic Psychology, Vol. 56, S. 107–115. Schmidt, Reinhard H. (2007): Die Betriebswirtschaftslehre unter der Dominanz der Finanzmärkte?, in: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Jg. 59, Sonderheft 56/07, S. 61–81.
251 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Christian Rennert von Werder, Axel (2011): Neue Entwicklungen der Corporate Governance in Deutschland, in: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Jg. 63, Februar 2011, S. 48–62. Walgenbach, Peter (2011): Das Ende der Organisationsgesellschaft und die Wiederentdeckung der Organisation, in: Die Betriebswirtschaft (DBW), Jg. 71, H. 5, S. 419–438. Williamson, Oliver E. (1985): The Economic Institutions of Capitalism, New York und London. Williamson, Oliver E. (1988): Corporate Finance and Corporate Governance, in: The Journal of Finance, Vol. 43, No. 3, S. 567–591. Williamson, Oliver E. (2005): Transaction cost economics and business administration, in: Scandinavian Journal of Management, Vol. 21, No. 1, S. 19–40. Williamson, Oliver E. (2010): Transaction Cost Economics: The Natural Progression, in: American Economic Review, Vol. 100, No. 3, S. 673–690.
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Ingo Pies
Das moralische Projekt der Ethik* »[W]e are all embedded in the ethical project.« Philip Kitcher (2011; S. 1)
Einleitung: Die moralische Provokation der Ethik Ethik ist Theorie der Moral. Sie beginnt dort, wo man – wie beispielsweise Sokrates im antiken Athen – mit der kulturell eingespielten Gedankenlosigkeit Schluss macht, die in einem konkreten Lebensbereich empirisch vorfindlichen Moralvorstellungen wie selbstverständlich für »gut« zu halten. Ethik hinterfragt. Sie geht auf Distanz zu ihrem Gegenstand und prüft mögliche Alternativen. Sie stellt der Binnenperspektive einer moralischen Gemeinschaft eine Außenperspektive gegenüber, modern: die kosmopolitische Außenperspektive der Weltgesellschaft. Das kann zu Verunsicherungen führen, insbesondere bei Menschen, die sich als moralische Subjekte wahrnehmen und mit diesem Selbstverständnis ihre Identität als Person verknüpfen. Was ihnen als absolute Gewissheit erscheinen mag, kann durch ein ethisches Infragestellen nachhaltig erschüttert werden. Ethik beleuchtet und erhellt gerade auch die dunklen Seiten des moralischen (Selbst-)Bewusstseins. Sie klärt auf – und macht sich damit bei manchen unbeliebt. Sokrates bekam das am eigenen Leib zu spüren. Für neuere Vertreter der Ethik ist die Lebensgefahr nicht mehr ganz so groß. Aber so herausragende Ethiker wie Hobbes, Spinoza und Hume bis hin zu Hegel und Nietzsche gehör(t)en zu den schlecht beleumdeten und teilweise sogar verfemten Autoren der philosophischen Literatur. Und moderne Ethiker wie etwa Peter Singer werden des Öfteren am Sprechen gehindert, sogar im universitären Raum, weil es nach wie vor Moralisten gibt, die eine Theorie der Moral als persönliche Bedrohung empfinden. Insofern gilt auch heute noch wie eh und je: Ethik bietet neue Perspektiven an, die all jene vor den Kopf stoßen (und emotional in Wallung bringen), welche sich zuvor gar nicht vorstellen konnten, dass man bestimmte moralische * Für wertvolle Hinweise ist Gerhard Engel und Stefan Hielscher herzlich zu danken.
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Ingo Pies
Vorstellungen – üblicherweise ihre eigenen, mit denen sie sich eng identifizieren – auch ganz anders betrachten kann, und dass respektable Mitbürger über viele Dinge mit guten Gründen auch ganz anders zu urteilen vermögen, als man selbst es gewohnt ist. Als seriöse Wissenschaft betrieben, unternimmt Ethik ihre Provokation der Moral aber nicht als Selbstzweck, sondern als eine ihrerseits moralische Provokation. Der Sinn von Ethik besteht nicht darin, die moralische Praxis zu (zer-)stören, sondern vielmehr darin, sie zu (ver-)bessern. Ethik zielt auf eine konstruktive Kritik – und sogar: Selbst-Kritik – der Moral. Sie versteht die Geschichte der Menschheit, den Prozess der Zivilisation, als ein »moralisches Projekt« 1, zu dessen Fortführung sie als Wissenschaft aktiv beitragen will. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann man auch sagen: Ethik dient der Entwicklung von Moral. Ihre kritischen Beiträge zur Rationalisierung moralischen Denkens und Handelns unterstützen die Bürger in ihrem normativen Anliegen, sich gemeinsam auf die Suche nach einer besseren Welt zu begeben. Wie ist eine solche Ethik als Wissenschaft möglich? Ich will versuchen, in radikaler Kürze (m)eine Antwort auf diese Frage zu geben – und dabei deutlich werden zu lassen, wie man die einzelnen Erkenntnisbeiträge des Aufsatzes von Bruni und Sugden (2013, 2017) als diesem Projekt zugehörig einordnen kann.
I.
Der praktische Syllogismus hilft, Denkfehler zu identifizieren
Es ist nicht die Aufgabe der Ethik, strittige Werturteile zu fällen. Aber strittige Werturteile zu analysieren, um Lernprozesse in Gang zu setzen, die den Diskurs von Dissens auf Konsens umprogrammieren, das ist sehr wohl das ihr angestammte Metier. Um dieses Handwerk auszuüben, benötigt die Ethik ein geeignetes Handwerkszeug. Hier erweist sich der praktische Syllogismus (Abb. 1) als ein probates Hilfsmittel (Homann 1985, Beckmann 2016). Mit diesem Instrument lassen sich Werturteile logisch in drei Komponenten zerlegen. Sie enthalten einen mehr oder wenig stimmigen Dreiklang von Wollen, Können und Sollen.
1
Vgl. Kitcher (2011).
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Das moralische Projekt der Ethik
1. Normative Prämisse(n): + 2. Positive Prämisse(n):
Wollen (1) Können (2)
= 3. Conclusio:
Sollen
(3)
upstream downstream
Abbildung 1: Der praktische Syllogismus
1. Die erste Komponente besteht aus normativen Prämissen. Hier wird ein moralisches Wollen formuliert. 2. Die zweite Komponente besteht aus positiven Prämissen. Hier werden Aussagen über die Realität getroffen, d. h. über die empirischen Bedingungen, unter denen das normative Anliegen zur Geltung kommen soll. Diese Aussagen charakterisieren ein moralisches Können. 3. Die dritte Komponente ist wieder als normativ einzustufen. Sie besteht aus einer Schlussfolgerung, die aus den ersten beiden Komponenten logisch deduziert wird. Die Conclusio formuliert ein moralisches Sollen. Ausgestattet mit diesem praktischen Syllogismus, kann die Ethik auf Anhieb drei Arten von Denkfehlern identifizieren. 1. Der erste Denkfehler lässt sich als »normativistischer Fehlschluss« bezeichnen. Er besteht in dem Versuch, unter Auslassung der zweiten Komponente direkt vom Wollen auf das Sollen zu schließen, nach dem Muster: aus (1) ohne (2) folgt (3). 2. Der zweite Denkfehler lässt sich als »positivistischer Fehlschluss« bezeichnen. 2 Er besteht in dem Versuch, unter Auslassung der ersten Komponente direkt vom Können auf das Sollen zu schließen, nach dem Muster: aus (2) ohne (1) folgt (3). 3. Der dritte Denkfehler lässt sich als »Non-Sequitur-Fehlschluss« bezeichnen. Er besteht darin, dass beim formal korrekten Schließverfahren – nach dem Muster: aus (1) und (2) folgt (3) – ein logischer Lapsus unterläuft, so dass der Anspruch als haltlos zurückzuweisen ist, die Conclusio sei aus den Prämissen schlüssig hergeleitet. Werturteile werden nicht immer vollständig ausformuliert. Oft begnügt man sich mit Appellen oder Imperativen, wie beispielsweise 2
Verbreitet ist auch die alternative Bezeichnung »naturalistischer Fehlschluss«.
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Ingo Pies
das siebte der biblischen zehn Gebote: »Du sollst nicht stehlen.« Vor diesem Hintergrund dient das Aufspüren der ersten beiden Denkfehler vor allem dazu, sprachlich verkürzte moralische Argumente inhaltlich zu vervollständigen, indem man die Elemente, die stillschweigend vorausgesetzt werden, ausdrücklich anspricht und zur Diskussion stellt. Eine solche »Explikation der Implikationen« übernimmt die Aufgabe, sich die (oft unbewusst) in Anspruch genommenen Annahmen – wörtlich: »Voraus-Setzungen« – bewusst zu machen, um sie kritisch prüfen zu können. 3 Demgegenüber wird mit dem dritten Denkfehler die Diagnose gestellt, dass nicht nur ein möglicher, sondern sogar ein definitiver Korrekturbedarf moralischer Argumente vorliegt. Ein beachtenswertes Beispiel dafür, was Ethik hier leisten kann, liefert der Aufsatz von Bruni und Sugden, in dem auf genau ein solches »non sequitur« hingewiesen wird. Die beiden Autoren kritisieren eine verbreitete Moralauffassung für die »fragwürdige Voraussetzung«, »dass … eine Person in dem Maße als tugendhaft oder authentisch zu gelten habe, wie sie bereit ist, materielle Belohnungen zugunsten intrinsischer Zwecke zu opfern« (BS 28). Sie verbinden dies mit dem Hinweis, dass in der Tugendethik »die Ausübung einer Tugend eher mit dem eigenen Gedeihen als mit Opfern verbunden ist« (BS 28).
II.
Ethik fördert moralisches Lernen – mit zwei unterschiedlichen Stoßrichtungen
Der praktische Syllogismus ist nicht nur hilfreich, wenn es darum geht, wichtige Denkfehler zu identifizieren. Er hilft auch dabei, besser zu verstehen, dass es zwei ganz unterschiedliche Stoßrichtungen (zur ethischen Förderung) moralischer Lernprozesse gibt. Die erste Stoßrichtung sei hier als »downstream« bezeichnet. Sie folgt der Verfahrensweise des Syllogismus, von (1) und (2) auf (3) zu schließen, so wie es der linke, nach unten weisende Pfeil in Abb. 1 Am Beispiel: Positive Prämissen: (a) Diebstahl unterminiert die Gesellschaftsordnung. (b) Deshalb wird er hart bestraft. Dies vorausgesetzt, lässt sich der biblische Imperativ wie folgt in die Form des Syllogismus übersetzen: »Wenn du (1a) Nachteile für die Gesellschaft, in der du lebst, sowie (1b) Strafen für dich vermeiden willst, (3) solltest du nicht stehlen.« Auf dieser Basis kann man dann weiteres Lernen organisieren, etwa indem nach Ausnahmen von der Regel sucht und einsichtig macht, warum in bestimmten Notfällen z. B. »Mundraub« moralisch erlaubt sein kann.
3
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Das moralische Projekt der Ethik
anzeigt. Damit ist Folgendes gemeint: Werturteile können durch positive Erkenntnisse informiert (und reformiert) werden. Neue Einsichten über die empirischen Bedingungen der Wirklichkeit machen es gelegentlich möglich und nötig, traditionelle Schlussfolgerungen zu modifizieren und gegebenenfalls sogar zu revidieren. Das Downstream-Muster moralischer Lernprozesse lautet: aus (alt 1) und (neu 2) folgt (neu 3). Die zweite Stoßrichtung sei hier als »upstream« bezeichnet. Sie dreht die Denkrichtung des Syllogismus um, so wie es der rechte, nach oben weisende Pfeil in Abb. 1 anzeigt. Hier werden neue Einsichten über die empirischen Bedingungen der Wirklichkeit zum Anlass genommen, von der Ebene positiver Prämissen aus einen Rückschluss auf die Ebene normativer Prämissen anzustellen. Das Upstream-Muster moralischer Lernprozesse lautet: aus (neu 2) folgt (neu 1). Einige Beispiele mögen helfen, diese abstrakten Überlegungen konkret mit Leben zu füllen. (1) Zur Illustration von Downstream-Argumenten: Für tugendethische Ansätze ist es konstitutiv, der Leitvorstellung anzuhängen, dass es einer Person, die tugendhaft handelt, dadurch nicht schlechter, sondern besser gehen soll. Das schließt »Opfer« im umgangssprachlichen Sinn nicht aus. Aber solche »Opfer« sollten den Charakter einer »Investition« haben. Sie sollten sich – zumindest auf lange Sicht betrachtet und unter Einrechnung der sozialen Rückwirkungen tugendhaften Verhaltens – im Regelfall »auszahlen«, natürlich nicht unbedingt in barer Münze, aber doch bei einer umfassenden Abwägung der zu erwartenden materiellen und immateriellen Vor- und Nachteile. Es versteht sich von selbst, dass bei einer solchen »Kalkulation« zahlreiche Fehler unterlaufen können, etwa deshalb, weil man nicht alle relevanten Dimensionen gleichermaßen im Blick hat, wenn man über die Tugendhaftigkeit des eigenen Verhaltens nachdenkt. Für dieses Problem intellektueller Orientierung kann die Ethik Lösungen bieten, indem sie auf wissenschaftliche Erkenntnisse über relevante Zusammenhänge verweist, wie sie etwa in der empirischen Happiness-Forschung oder in Untersuchungen zur »social embeddedness« gewonnen werden. Hier wird stark betont, wie sehr das eigene Wohlbefinden (= »Glück«) von der menschlichen Qualität der Beziehungen zum sozialen Umfeld abhängt. 4 Für einschlägige Ergebnisse empirischer Moralforschung in der Psychologie vgl. z. B. Haidt (2006) und (2012).
4
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In manchen Fällen ist es sogar möglich, die Quintessenz solcher Erkenntnisse mit literarischer Qualität zum Ausdruck zu bringen, wie der folgende Aphorismus zeigt. Er spitzt eine wichtige Einsicht so zu, dass die Aufklärungsbotschaft eine überraschende Wirkung entfalten und als Augenöffner nachhaltige Aha-Effekte auslösen kann: »Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, geben uns den Halt im Leben.« 5 Mit diesem Aphorismus dreht Marie von Ebner-Eschenbach die übliche (= ›naive‹) Wahrnehmung des Alltagsverstands um und verweist auf einen einschlägigen Sachverhalt, der gerne übersehen wird und unbedacht bleibt, wenn es darum geht, anderen Menschen zu helfen und für sie da zu sein. Ein zweites Beispiel betrifft politische Maßnahmen wie etwa die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns oder die Einführung von gesetzlich festgelegten Höchstpreisen für Mietwohnungen. Im öffentlichen Diskurs werden solche Maßnahmen regelmäßig mit dem moralischen Anliegen in Verbindung gebracht, die Lebensbedingungen einer bestimmten Gruppe von Bürgern – etwa von niedrig qualifizierten Arbeitnehmern oder von Wohnraumnachfragern mit geringem Einkommen – zu verbessern. Hierbei wird (zumeist stillschweigend) vorausgesetzt, dass die Zielgruppen von den politischen Maßnahmen auch tatsächlich profitieren. Bei einer solchen Diskussionslage kann die (Wirtschafts-)Ethik auf ökonomische Funktionsüberlegungen zurückgreifen, die eine umfassende Wirkungsanalyse erlauben. Dies ist geeignet, die Aufmerksamkeit nicht nur auf solche Phänomene zu richten, die man mit bloßem Auge sieht und die einem sofort einfallen, wenn man mal kurz über das zu lösende Problem nachdenkt. Mit Hilfe positiver Forschung wird es möglich, auch solche Phänomene ins Blickfeld zu rücken, die ansonsten leicht übersehen werden und auf die man nicht ohne weiteres kommt. Bei der Auswirkung des Mindestlohns auf den Arbeitsmarkt etwa darf man nicht nur daran denken, dass einige Beschäftigte nun mehr Geld verdienen. Vielmehr muss man auch in Betracht ziehen, dass niedrig qualifizierte Frauen und Männer mit Entlassung rechnen Ebner-Eschenbach (1880, 2008; S. 17). Zur Orientierung der eigenen Moralreflexion (im Sinne einer ethisch aufgeklärten Klugheitskalkulation) dient auch die zum Paradox zugespitzte Formulierung in ihrem folgendem Aphorismus (ebd.; S. 54): »Bis zu einem gewissen Grade selbstlos sollte man schon aus Selbstsucht sein.«
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Das moralische Projekt der Ethik
müssen und dass sie es künftig sehr viel schwerer haben, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Aber selbst jene, die beschäftigt bleiben, haben nicht nur Vorteile zu gewärtigen. Vielmehr müssen sie sich darauf einstellen, dass die Qualität ihrer Jobs abnimmt, weil die Arbeitgeber auf die gesetzlich erzwungenen höheren Löhne mit Arbeitsverdichtung reagieren (müssen), so dass mit dem Arbeitstempo auch die Belastung und der Stress ansteigen. Analog das gleiche gilt für den Wohnungsmarkt und die politische Vorgabe von Höchstpreisen. Neben den (Alt-)Mietern, die in den Genuss niedrigerer Mieten kommen, muss man auch an die vorwiegend jungen Familien denken, denen es nun schwerer gemacht wird, eine neue Wohnung zu finden, u. a. deshalb, weil die Anstrengungen im Wohnungsbau zukünftig nachlassen werden, so dass die Schere zwischen Nachfrage und Angebot weiter auseinandergehen wird. Aber auch die Qualität der vorhandenen Wohnungen wird abnehmen, weil sich Erhaltungsinvestitionen für viele Vermieter nicht mehr lohnen. Die Botschaft ist in beiden Fällen die gleiche: Aufgrund der besonderen Funktionsweise von Märkten kann es passieren, dass gut gemeinte Maßnahmen das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich bewirken sollen. So kann es passieren, dass diese Maßnahmen ausgerechnet die Menschen, denen man eigentlich helfen will, nicht besser, sondern schlechter stellen. Hieraus resultiert die – ihrerseits moralische! – Verpflichtung, nicht nur die (intendierten) Nahwirkungen, sondern auch die (nicht-intendierten) Fernwirkungen im Blick zu behalten, also nicht nur auf die (oft wünschenswerten) Erstrundeneffekte zu schauen, sondern auch auf die (oft nicht wünschenswerten) Zweit- und Drittrundeneffekte. Gestützt auf eine umfassende ökonomische Funktionsanalyse, kann (Wirtschafts-)Ethik sogar noch mehr: Sie kann alternative politische Maßnahmen darauf hin untersuchen, ob sie vielleicht besser geeignet wären, das angestrebte Ziel zu erreichen. Im konkreten Fall kommt man sehr schnell auf den in der ökonomischen Literatur ausgiebig diskutierten Gedanken, dass personalisierte Lohnsubventionen oder Mietzuschüsse vergleichsweise sehr viel besser geeignet sind, das moralische Anliegen zu verwirklichen. Systematisch betrachtet, liegt dies daran, dass der politische Versuch, eine Marktseite per Gesetz zu zwingen, ihre Tauschpartner auf der gegenüberliegenden Marktseite zu alimentieren, im Markt zu Ausweichreaktionen führt, die der Zielgruppe nicht nützen, sondern schaden. Eine solche Argumentation hält die normativen Prämissen konstant und zieht aus 259 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Ingo Pies
neuen positiven Erkenntnissen eine neue Schlussfolgerung, die die alte Conclusio überbietet: Das Muster dieses Überbietungsarguments lautet: aus (1) und (neu 2) folgt nicht (3a), sondern (3b). Im Klartext: Wer eine solidarische Besserstellung sozial schwacher Gruppen befürwortet, sollte nicht auf Preisinterventionen setzen, sondern auf das alternative – und vergleichsweise überlegene – Instrument, die zu begünstigenden Gruppen per Sozialtransfer mit der nötigen Kaufkraft auszustatten, was im Endeffekt darauf hinausläuft, den Markt nicht partiell außer Kraft zu setzen, sondern ihn besser in Kraft zu setzen – um ihn für die Verwirklichung des moralischen Anliegens in Dienst zu nehmen. So jedenfalls lautet der klassische Grundgedanke einer marktkonformen Sozialpolitik. (2) Zur Illustration von Upstream-Argumenten: Das radikalste Upstream-Argument entspricht der lateinischen Formel »ultra posse nemo obligatur«. Am besten übersetzt man das so: »Über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet.« Oder kurz: »Sollen setzt Können voraus.« Übertragen auf den praktischen Syllogismus, lautet das argumentative Muster: aus (neu 2) folgt die Unmöglichkeit von (1). Hier wird die stillschweigende Annahme (= »Voraus-Setzung«), dass etwas möglich ist, durch den Nachweis korrigiert, dass etwas unmöglich ist – Element (2) wird durch (neu 2) ersetzt –, und aus diesem Nachweis wird dann der Schluss gezogen, dass eine Korrektur der normativen Prämissen erforderlich ist – weil es nicht moralisch, sondern unmoralisch ist, von Menschen etwas zu fordern, was sie nicht leisten können. Streng genommen bleibt das radikale Upstream-Argument bei dieser negativen Diagnose stehen, beispielsweise bei dem Befund, dass es unter den empirischen Bedingungen der Marktwirtschaft nicht gelingen kann, jedem Bürger ein (einklagbares) Recht auf Arbeit zu garantieren. Ein weiteres Beispiel für dieses Argumentationsmuster liefert der Aufsatz von Bruni und Sugden: Konfrontiert mit der Vorstellung tugendethischer Marktkritik, es sei wünschenswert, dass der wirtschaftliche Verdienst dem moralischen Verdienst entspreche, reagieren die beiden Autoren mit dem Nachweis, dass hier ein Maßstab aufgestellt wird, den ein Markt unmöglich erfüllen kann (BS 67). Weniger radikale, aber nichtdestotrotz extrem informative – und sogar noch leistungsfähigere – Upstream-Argumente diagnostizieren nicht die Unmöglichkeit, aber doch die Ungeeignetheit bestimmter normativer Prämissen – und zwar im Licht der relevanten Alterna260 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Das moralische Projekt der Ethik
tiven. Hier lautet das Muster argumentativer Überbietung: aus (neu 2) folgt nicht (1a), sondern (1b). Auch hierfür liefert der Aufsatz von Bruni und Sugden konkrete Beispiele: Konfrontiert mit der tugendethischen Vorstellung, es sei wünschenswert, die intrinsische Motivation von Pflegekräften zu schützen, machen sie darauf aufmerksam, dass dies nicht das einzige Ziel sein kann, wenn es darum geht, dem Markt eine vernünftige Ordnung zu geben, die die einzelnen Markthandlungen an der Idee wechselseitiger Vorteilsgewährung ausrichtet. Dazu sei es vielmehr nötig, zusätzlich auch die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen in Betracht zu ziehen (BS 31 f.). Vom Besonderen ins Allgemeine verlängert, besagt ihr Upstream-Argument, dass man ein moralisches Anliegen als normative Prämisse für Markttugenden niemals einseitig, quasi mit Scheuklappen, sondern immer nur im Hinblick auf die Bedürfnisse und Interessen beider Marktseiten formulieren sollte. Sonst verfehlt man den sozialen Sinn des Marktes, der darin besteht, die Produktion am gewünschten Konsum auszurichten. Ebenfalls die gleiche Stoßrichtung hat ihr Argument zur Tugend des Respekts für die Vorlieben der Tauschpartner. Hierzu liest man (BS 48): »Der Kern dieser Tugend verbirgt sich im Leitspruch des Geschäftslebens, dass der Kunde immer recht hat. Diese Tugend ist eng mit der Vorstellung verbunden, dass Markttransaktionen unter Bedingungen der Gleichheit ablaufen, und sie steht im Gegensatz zum paternalistischen Gedanken, die Beziehung zwischen Anbieter und Kunde gleiche der zwischen Vormund und Mündel. Ferner steht sie im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Tugenden notwendig auf intrinsischer Motivation beruhen oder auf handwerklichen bzw. allgemein fachlichen Exzellenzstandards.« Auch hier formulieren Bruni und Sugden ein Upstream-Argument: Sie machen geltend, dass die von ihnen identifizierten Markttugenden (wie beispielsweise Respekt gegenüber Kundenbedürfnissen) vergleichsweise besser als die von der tugendethischen Marktkritik vorgegebenen Leitideen (wie beispielsweise die Exzellenzvorstellungen von Experten) geeignet sind, den Handlungen der Marktteilnehmer eine allgemein sinnvolle normative Orientierung zu geben.
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III. Ethik kritisiert Moral, aber auch sich selbst Ethik wirft einen kritisch prüfenden Blick auf die historische Entwicklung der Moral, auf die gegenwärtige Praxis moralischen Denkens und Handelns sowie auf die Möglichkeiten, die empirisch vorfindliche Moral an neue Herausforderungen anzupassen. Ethik will – als Theorie der Moral – praktisch werden und zum Projekt einer zivilisatorischen Moralentwicklung aktiv beitragen. Deshalb ist es angebracht, unterschiedliche ethische Ansätze darauf hin zu befragen, inwiefern sie sich dieser Aufgabe annehmen und was sie zur Bewältigung dieser Aufgabe zu leisten vermögen. Eine solche Fragestellung öffnet den Blick dafür, die ethische Theoriebildung methodisch zu disziplinieren: sie an Zweckmäßigkeitskriterien auszurichten, die den Maßstab für eine konstruktive Kritik abgeben, so dass es möglich wird, kollektive Lernprozesse zu organisieren. Das Bemühen um konstruktive Kritik ist ein sozialer Prozess, der nicht nur auf die Moral, sondern – stärker selbstreferentiell – auch auf die Ethik selbst bezogen werden kann. Hier ist es dann möglich, dass unterschiedliche Theorieansätze miteinander kooperieren, aber auch miteinander konkurrieren, wenn es darum geht, die Ethik als Theorie der Moral so zu entwickeln, dass sie mit ihren Erkenntnisleistungen zum Projekt der Moral signifikante Beiträge zu leisten vermag. Zugespitzt formuliert, lautet die Leitfrage für eine ethische Theoriebildung, die anstrebt, trotz aller Selbstreferentialität doch immer auf ihren Gegenstand und dessen Rationalisierung bezogen zu bleiben: Durch welche methodischen Weichenstellungen kann Ethik der Moralentwicklung besser dienstbar gemacht werden? Eine solche Besinnung auf das moralische Projekt der Ethik verleiht der Entwicklung der Moraltheorie eine methodische Orientierung. Es ist genau dieser Aspekt, der auch im Beitrag von Bruni und Sugden eine wichtige Rolle spielt. Denn sie kritisieren die tugendethische Marktkritik mit dem Argument, dass diese ihrer eigentlichen Aufgabe als (Tugend-)Ethik nicht nachkomme, der »Aufgabe« nämlich, »moralisches Gewicht in den allgemein nützlichen Beschäftigungen zu entdecken, mit denen die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten« (BS 23). Bruni und Sugden erklären es mithin zur Funktion der Ethik – und daraus abgeleitet zum Prüfkriterium der internen Theoriekritik –, auch für den Lebensbereich der Wirtschaft ein sinnstiftendes Narrativ zu entwickeln, das die an diesem Lebensbereich teilnehmenden Menschen mit Interpretations262 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
Das moralische Projekt der Ethik
und Identifikations-Angeboten versorgt, die es ihnen erlauben, ein normatives (Selbst-)Verständnis als moralische Personen zu kultivieren und im Alltag zu leben. Wenn man die Theoriekritik von Bruni und Sugden – mit Hilfe eines bekannten Buchtitels von Paul Watzlawick 6 – pointiert zuspitzen wollte, könnte man formulieren, dass die traditionelle Tugendethik den im Wirtschaftsleben aktiven Frauen und Männern nicht mehr zu bieten hat als eine »Anleitung zum Unglücklichsein«. Nimmt man den methodischen Ansatz der Tugendethik ernst, so handelt es sich hier um eine geradezu vernichtende Kritik, weil sie den Finger in die Wunde legt, dass die tugendethische Marktkritik – ganz gegen die grundlegende Intention der Theoriebildung, also gleichsam wider Willen – dazu beiträgt, Phänomene individueller Entfremdung nicht abzumildern, sondern eskalieren zu lassen. Eine solche Ethik versöhnt nicht, sie spaltet. Sie führt dazu, dass zahlreiche Bürger dem Wirtschaftsleben mit innerer Distanz und – wahlweise, je nach Temperament und Lebensalter – mit einer Neigung zur Revolte oder zur Resignation entgegentreten, dass sie als Marktteilnehmer von einem schlechten Gewissen geplagt werden und argumentativ wenig zu erwidern haben, wenn man ihnen vorwirft, an einer unmoralischen Praxis teilzunehmen. Bruni und Sugden mahnen es als ein Versäumnis der Ethik, als ein Versäumnis der Moraltheorie an, dass ein für die moderne Gesellschaft so zentral wichtiger Lebensbereich nicht schon längst mit einem Arsenal guter Gründe versorgt worden ist. Hier wird ein Theorieversagen diagnostiziert. Die Pointe dieser Diagnose eines Theorieversagens sei hier ausdrücklich hervorgehoben. Bruni und Sugden begegnen der tugendethischen Marktkritik nicht primär mit dem Vorwurf, ökonomisch zu dilettieren – das freilich auch (BS 1, 5, 66, 67) –, sondern ganz grundlegend mit dem Vorwurf, ethisch zu dilettieren, indem man sich den methodischen Fehler habe zu Schulden kommen lassen, den Markt nicht als Praxis ernstzunehmen (BS 23). Dieser Fehler habe zur Folge, dass der Markt andauernd an ungeeigneten Maßstäben gemessen werde. Und das wiederum habe zwei missliche Konsequenzen: Erstens gebe die tugendethische Marktkritik Empfehlungen ab, die Märkte entweder gar nicht oder sehr viel schlechter funktionieren lassen würden (BS 32). Zweitens seien diese Empfehlungen so geartet, dass sie ausgerechnet moralisch sensiblen Menschen eine sinn6
Vgl. Watzlawick (1983).
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Ingo Pies
volle Orientierung vorenthalten und sie sogar in die Irre führen. Demgegenüber geben Bruni und Sugden die Devise aus, dass sie »die Begriffe von Tugend und Authentizität mit dem realen Wirtschaftsleben in Einklang bringen wollen« (BS 32). Sie wollen den Markt als Praxis ernstnehmen, indem sie das telos des Marktes als wechselseitige Vorteilsgewährung bestimmen und dann hieraus herleiten, welche Handlungsdispositionen als praxisfördernd und mithin als Markttugenden eingestuft werden können. Hierzu liest man (BS 33): »Die Literatur zur Tugendethik sieht den Markt als Gegensatz zu Tugend und Authentizität, weil sie davon ausgeht, dass marktorientiertes Verhalten nicht in der Lage sei, intrinsischen Wert angemessen zu berücksichtigen. […] [E]s herrscht eine gewisse Abneigung dagegen, den Markt selbst als eine eigenständige Praxis sui generis zu betrachten – als eine moralische Praxis eigener Art mit ihren je spezifischen Ausprägungen von intrinsischen Werten und Authentizität. Für uns besteht der erste Schritt einer Tugendethik des Marktes darin, den Markt in dieser Weise zu denken.«
Fazit: Ethik will praktisch werden Ethik hat nicht die Aufgabe, eine moralische Praxis mutwillig zu (zer)stören. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, eine moralische Praxis konstruktiv zu kritisieren, um zu ihrer Weiterentwicklung und (Ver-) Besserung beizutragen. Genau das ist es, was den Aufsatz von Bruni und Sugden so außergewöhnlich interessant und nachdenkenswert macht: Die beiden Ökonomen unterziehen die traditionelle Tugendethik einer grundlegenden Revision, die als interne Kritik der Ethik angelegt ist und anstrebt, die Ethik zu einer internen Kritik der Moral zu befähigen. Oder anders gesagt: Bruni und Sugden versuchen mit ihrem Aufsatz, das moralische Projekt der Ethik zu fördern. Sie streben an, die Tugendethik von ihrer traditionell marktfeindlichen Prä-Disposition zu befreien, damit sie ihrer Aufgabe besser nachkommen kann, als Ethik zum Projekt der Moral(entwicklung) konstruktiv beizutragen.
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Das moralische Projekt der Ethik
Literatur Beckmann, Markus (2016): Wollen – Können – Sollen: Normativer Pluralismus und Michael Sandels Kritik der Ökonomik im Spiegel des praktischen Syllogismus, in: Ingo Pies (Hrsg.): Die moralischen Grenzen des Marktes. Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Michael J. Sandel, Freiburg und München, S. 183–195. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Ebner-Eschenbach, Marie von (1880, 2008): Aphorismen. Mit einem Nachwort von Karl Krolow, Frankfurt a. M. Haidt, Jonathan (2006): The Happiness Hypothesis. Putting Ancient Wisdom and Philosophy to the Test of Modern Science, London. Haidt, Jonathan (2012): The Righteous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion. London u. a. O. Homann, Karl (1985): Legitimation und Verfassungsstaat, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 4, S. 48–72. Kitcher, Philip (2011): The Ethical Project. Cambridge, Mass. und London. Watzlawick, Paul (1983): Anleitung zum Unglücklichsein, München.
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Ingo Pies
Moderne Ethik als Ethik der Moderne: Wie dem Phänomen der Entfremdung wirksam zu begegnen ist* Problemstellung (1) Bruni und Sugden (2013, 2017) verfolgen mit ihrem Aufsatz zwei Ziele. Zum einen wollen sie die tugendethische Marktkritik à la Anderson, MacIntyre und Sandel auf deren eigenem Terrain – d. h. mit tugendethischen Argumenten – zurückweisen (BS 2). Und zum anderen wollen sie eine genuin tugendethische »Verteidigung« (BS 1, 3) des Marktes (und der Ökonomik) vorlegen, die die Legitimationsgrundlage des Marktes besser fundieren und so dazu beitragen soll, dass Marktteilnehmer ihre spezifisch wirtschaftlichen Rollen als moralische Subjekte mit gutem Gewissen ausfüllen können. Um ihr erstes Ziel zu erreichen, verfolgen sie die argumentative Stoßrichtung, der tugendethischen Marktkritik einen methodischen Fehler nachzuweisen: Der bestehe darin, den Markt nicht als Praxis mit eigenständigem telos ernstzunehmen. Auf diese Weise werde der Markt an Kriterien gemessen, die für ihn nicht geeignet sind und die er systematisch nicht erfüllen kann. Bruni und Sugden zufolge liegt hier ein utopischer »nirvana approach« vor, um es mit den Worten von Demsetz (1969; S. 1) zu formulieren. Alternativ könnte man auch von einem Denkfehler oder Trugschluss (»nirvana fallacy«) sprechen, weil man einer Relevanz(vor)täuschung unterliegt, wenn der Markt an einem unrealistischen Ideal gemessen wird. Damit führen Bruni und Sugden den dominant wirtschaftsskeptischen Grundzug der zeitgenössischen Tugendethik auf den methodischen Fehler eines – nicht nur latent, sondern manifest – utopischen Ansatzes zurück, mit dem die tugendethische Marktkritik den Standards ihrer eigenen (utopiekritischen) Theorietradition widerspricht. Mit diesem Argument schlagen Bruni und Sugden die tugendethische Markt* Für kritische Hinweise und hilfreiche Anmerkungen danke ich Johannes Fioole, Christoph Henning, Christian Rennert und Michael Schramm.
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Moderne Ethik als Ethik der Moderne
kritik auf deren ureigenem Feld. Sie formulieren eine interne Kritik. Deren Pointe lautet, dass die tugendethische Marktkritik nicht nur ökonomisch, sondern vor allem ethisch defizitär sei. Um ihr zweites Ziel zu erreichen, fassen Bruni und Sugden den Markt als Praxis mit einem eigenständigem telos auf. Dieses bestimmen sie als wechselseitige Besserstellung. Im Hinblick auf dieses telos stellen sie sodann einen illustrativen Katalog von Tugenden auf und versuchen zu zeigen, dass diese Tugenden der Praxis des Marktes förderlich sind. Sie wollen damit ein neues Narrativ vorlegen, das dem Abbau von Entfremdung dient. Die zugrunde liegende Idee besteht darin, Marktteilnehmern ein Arsenal guter Gründe verfügbar zu machen, die es ihnen erlauben, mit dem gestärkten Selbstverständnis, eine moralische Person zu sein, am Wirtschaftsleben so teilzunehmen, dass der Markt als moralische Praxis gefördert wird. (2) Aus meiner Sicht verhält es sich so, dass Bruni und Sugden zwar ihr erstes Ziel, nicht aber ihr zweites Ziel vollständig erreichen: Im Hinblick auf ihre Zurückweisung der tugendethischen Marktkritik kann ich nur sagen: »Herzlichen Glückwunsch! Treffer! Versenkt!«. Hier halte ich ihre Argumentation für absolut durchschlagend. – Aber im Hinblick auf ihr zweites Ziel sind m. E. mehrere Defizite festzustellen. Zwei Punkte will ich kurz ansprechen. • Erstens ist es für die Legitimation unseres Wirtschaftssystems m. E. nicht ausreichend, den Markt als moralische Praxis zu kennzeichnen. Vielmehr müsste man zeigen, inwiefern Markthandlungen das gesellschaftliche Zusammenleben fördern (und wie mit jenen Fällen umzugehen ist, in denen schädliche Effekte auftreten, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinträchtigen). Hierfür sind Systembetrachtungen erforderlich, die die Funktionsweise von Märkten erklären und eine leistungsfähige Folgenabschätzung ermöglichen. Gemessen an diesem Erfordernis sind tugendethische Betrachtungen von Handlungsmotiven zwar interessant und anregend, aber doch kategorial insuffizient. • Zweitens bleibt bei Bruni und Sugden unklar, welche Rolle die Intentionen spielen sollen. Einerseits formulieren sie scheinbar unmissverständlich (BS 5), dass tugendhafte Akteure das telos des Marktes bewusst anstreben. Andererseits aber widerspricht das von ihnen so formulierte Tugendkriterium dem tugendethischen Grundzug habitualisierter Handlungen: Für jede Gewohn-
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heitsbildung ist es schließlich konstitutiv, dass während des Handelns nicht über das Handeln nachgedacht wird. (3) Vor diesem Hintergrund will ich hier einen anderen Weg einschlagen, auf dem sich – so mein Anspruch – beide Ziele gleichermaßen gut erreichen lassen. Zu diesem Zweck entwerfe ich eine Argumentationsskizze – mehr kann es aufgrund der gebotenen Kürze nicht sein –, die zumindest die Richtung erkennen lassen soll, die ich für zielführend halte. Sicherheitshalber will ich drei wichtige Punkte schon vorab ausweisen. • Anders als Bruni und Sugden, werde ich nicht mit Antonio Genovesi gegen Adam Smith argumentieren, sondern geradewegs umgekehrt mit Adam Smith gegen Antonio Genovesi. Damit will ich sagen: Ich räume der Argumentationsfigur nicht-intendierter Effekte einen außerordentlich zentralen Stellenwert ein. Und zwar deshalb, weil diese Argumentationsfigur für genau jene Systemperspektive konstitutiv ist, mit der ich Legitimationsargumente zugunsten der Marktwirtschaft herleite. • Anders als Bruni und Sugden, setze ich nicht auf ein neues (tugendethisches) Narrativ, um dem Phänomen individueller Entfremdung entgegenzutreten, sondern auf das bereits vorfindliche (aber natürlich stets korrektiv zu aktualisierende) Narrativ eines fortschrittlichen Zivilisationsprozesses. Einerseits stufe ich diesen Prozess als welthistorisch einmalig und extrem leistungsfähig ein. Andererseits halte ich ihn für fragil. Aus meiner Sicht ist er offen für Rückschläge und läuft im ›worst case‹ sogar Gefahr, abgebrochen zu werden. • Im Hinblick auf dieses Narrativ vertrete ich die These, dass eine theoretisch und empirisch fundierte Diagnose der Moderne trotz – genauer: gerade aufgrund – ihrer Systemperspektive positive Rückwirkungen auf das individuelle Selbstverständnis moralischer Subjekte zu entfalten vermag. 1 Arbeitsteilige Spezialisierung kann Orientierungsprobleme hervorrufen, die dann typischerweise in zwei Dimensionen auftreten: Menschen, die unter Entfremdung leiden, empfinden zum einen (a) ein Sinndefizit in ihrem Alltagsleben und zum anderen (b) ein Ausgeliefertsein an die Gesellschaftsordnung, die sie als unveränderlich erfahren. Die klassische Belegstelle hierfür findet man in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« von Friedrich Schiller (1795, 2000; Sechster Brief, S. 23 f.). Dort arbeitet er mit einer Zeitdiagnose, die den antiken Menschen mit dem modernen vergleicht und hieraus auf eine Zerrissenheit des modernen Menschen
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Ich gehe nun in drei Schritten vor: (1) Ich beginne mit einer kategorischen Gegenüberstellung von Ethik und Ästhetik, indem ich Moralurteile von Geschmacksurteilen und analog Überzeugungs-Argumente von Bekundungs-Argumenten unterscheide. Dies ist eine wichtige Distinktion im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit von Argumenten in einem letztlich politischen Diskurs. (2) Darauf aufbauend, werde ich zur radikalen Zurückweisung der tugendethischen Marktkritik die These vertreten, dass die typischen Vorbehalte, die von dieser Seite gegen unser Wirtschaftssystem vorgebracht werden, nicht ethischer, sondern bloß ästhetischer Natur sind. (3) Abschließend will ich präzisieren, wie Ethik zum Abbau von Entfremdung beitragen kann. Nietzsches Bonmot zufolge macht der Asket aus der Tugend eine Not. 2 Ich beabsichtige hier das Gegenteil. Vielleicht gelingt es, aus der Not eine Tugend zu machen: Die nun folgende Argumentation ist extrem knapp gehalten sowie notgedrungen sehr holzschnittartig. Aber vielleicht hilft gerade das, die wesentlichen Grundzüge der Gedankenführung umso schärfer ins Relief treten zu lassen. Hierbei konzentriere ich mich ausschließlich auf die wirtschaftsethische Perspektive, die Legitimationsfragen des Wirtschaftssystems in den Blick schließt: »Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoss, und wenn es Not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbsttätig geben (denn wie dürfte man ihrer Freiheit ein so künstliches und lichtscheues Uhrwerk anvertrauen?), sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält. … Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd«. – Meine These ist, dass eine wirtschaftsethische Systemperspektive beiden Dimensionen argumentativ zu begegnen vermag: Einerseits kann es (a) sinnstiftend sein, sich als Teil eines Ganzen zu empfinden. Und andererseits kann es (b) befreiend wirken, sich der politischen Gestaltbarkeit des Wirtschaftssystems bewusst zu werden. 2 So Aphorismus Nr. 76 bei Nietzsche (1878, 1886).
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nimmt, und klammere mithin all das aus, was aus einer unternehmensethischen Perspektive zu be(tr)achten wäre.
I.
Ethik versus Ästhetik: Zur unterschiedlichen Leistungsfähigkeit von Moralurteilen und Geschmacksurteilen
Das lateinische Sprichwort lautet: »De gustibus non est disputandum.« Im Deutschen sagt man: »Über Geschmack lässt sich nicht streiten.« Ganz wortgetreu übersetzt, könnte man formulieren: »Über Geschmäcke (Plural!) ist nicht zu streiten.« Aber wirklich gemeint ist: »Über Geschmacksfragen kann man nicht vernünftig debattieren.« Warum ist das so? Weil es keinen allgemeinen Maßstab gibt, der einem individuellen Geschmacksurteil auch für andere Individuen Verbindlichkeit verleihen könnte. Wenn deine Lieblingsfarbe blau ist und meine rot, dann gibt es keine Basis, von der aus ich dich (oder du mich) überzeugen könntest, die Meinung zu ändern. Die Menschen sind hinsichtlich ihres Geschmacks unterschiedlich – und wahrscheinlich nehmen diese Unterschiede in der modernen Gesellschaft noch zu: Für die einen ist es der höchste Genuss, eine Wagner-Oper zu besuchen; für die anderen wäre dies eher eine persönliche Höchststrafe; bei manchen Rockkonzerten oder Volksliedfestivals mag es sich genau umgekehrt verhalten. Die einen empfinden Austern, Schnecken oder Froschschenkel als kulinarisches Highlight; die anderen ekeln sich davor. Die einen präferieren Abenteuerurlaub; die anderen suchen Ruhe und Erholung. Die einen wohnen gerne modern; die anderen ziehen einen sanierten Altbau vor. Manche lieben es, in der Stadt zu leben, andere zieht es ins Grüne. Die einen tragen ihre Haare lang, die anderen kurz. Die einen kleiden sich gediegen, die anderen gewagt. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Eine vernünftige Debatte ist als ergebnisoffener Lernprozess angelegt, in dem man sich wechselseitig mit guten Argumenten zu überzeugen versucht. Insofern kann man über Fragen des Geschmacks zwar vernünftig reden, aber nicht vernünftig debattieren. Ich kann anderen mitteilen, was mir gefällt. Und ich kann mich anregen lassen, meinen Horizont zu erweitern, indem ich mir anhöre, woran andere Gefallen finden. Aber wenn mir nicht gefällt, was anderen gefällt, dann gibt es nichts, was mich durch Überzeugung eines Besseren belehren könnte. Der Kommunikation von Geschmacks270 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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urteilen fehlt es an argumentativer Durchschlagskraft. Hier gibt es keine Basis für inter-subjektive Verbindlichkeit. Nichts auf der Welt kann mich zur Einsicht zwingen, dass mein bisheriges Geschmacksurteil falsch war und ein anderes richtig ist. Anders formuliert: Für Bekundungs-Aussagen der Kategorie »Mir gefällt das (nicht).« oder »Ich finde das (un-)schön.« gibt es keine guten (Gegen-)Argumente. Ästhetische Schlussfolgerungen dieser Art sind nicht zwingend. Insofern sind Debatten über Geschmacksurteile nicht auf Konsens, sondern auf Dissens programmiert: Deshalb wäre es vergebliche Liebesmühe, auf diesem Feld andere von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen. Folglich sollte man es lieber lassen. Genau das meint: De gustibus non est disputandum! Bei Fragen der Ethik hingegen verhält es sich grundlegend anders. De moralibus est disputandum! Denn moralische Urteile erheben Anspruch auf Verbindlichkeit. Hier sind die Aussagen systematisch anderer Natur, etwa nach folgendem Muster: »Ich tue das nicht. Und du solltest es auch nicht tun.« Wenn das Gegenüber nun nach dem Warum fragt, kann bei einem moralischem Urteil immer eine Antwort gegeben werden, die sich substanziell nicht darin erschöpft, bloßes Missfallen an einem solchen Tun zu bekunden. Eine vernünftige Debatte über Moralurteile wird stets mit Überzeugungs-Argumenten geführt, die dem Gegenüber aus seiner je individuellen Perspektive einen moralischen Verpflichtungsgrund einsichtig zu machen versuchen. Das folgende Zitat von Georg Christoph Lichtenberg (* 1742; † 1799) bringt diesen bei allen unterschiedlichen Facetten stets identischen Grundzug moralischer Debatten – ihr Charakteristikum: dass sie auf argumentative Überzeugung angelegt sind – sehr anschaulich auf den Punkt: »Wir haben nunmehr vier Prinzipien der Moral: 1. Ein philosophisches: Tue das Gute um sein selbst willen, aus Achtung fürs Gesetz. 2. Ein religiöses: Tue es darum, weil es Gottes Wille ist, aus Liebe zu Gott. 3. Ein menschliches: Tue es, weil es deine Glückseligkeit befördert, aus Selbstliebe. 4. Ein politisches: Tue es, weil es die Wohlfahrt der großen Gesellschaft befördert, von der du ein Teil bist, aus Liebe zur Gesellschaft, mit Rücksicht auf dich …
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Sollte dies nicht alles dasselbe Prinzip sein, nur von anderen Seiten angesehn?« 3
Vor diesem Hintergrund ziehe ich folgendes Zwischenfazit: Wenn in einem politischen Diskurs über Fragen des Wirtschaftssystems von Moralurteilen unversehens zu Geschmacksurteilen Zuflucht genommen wird, wenn also von Überzeugungs-Argumenten zu Bekundungs-Argumenten übergegangen wird, dann ist dies ein sicheres Anzeichen dafür, dass einer Seite die guten Gründe ausgegangen sind. Eine vernünftige, auf Lernfortschritte angelegte Debatte kann so nicht geführt werden. 4
II.
Die Argumente tugendethischer Marktkritik: eine (Dis-)Qualifizierung
Ansätze zeitgenössischer Tugendethik sind zumeist modernitätsskeptisch und insbesondere marktkritisch. Hier werden eloquente Klagelieder angestimmt. Die bevorzugte Tonleiter ist Moll. Dur ist verpönt und gilt als naiver Fortschrittglaube. Die Jeremiaden diagnostizieren moralischen Verfall, insbesondere den Verlust der Tugend. Das Motto lautet: Früher war alles besser. Gegenwart und Zukunft erscheinen als Jammertal. Um es konkret zu machen, greife ich ein Beispiel auf, mit dem sich auch Bruni und Sugden beschäftigen (BS 21–23): die tugendethische Klage, ›der‹ Verdienst und ›das‹ Verdienst falle auf Märkten auseinander.
Lichtenberg (o. J., 1996; S. 259). Mir ist wichtig, an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Ich habe nichts gegen Kunst oder Kunsttheorie (= Ästhetik). Ganz im Gegenteil! Beide können dabei helfen, neue Perspektiven einzunehmen, traditionelle Denkhorizonte aufzusprengen und Innovationen im Denken sowie Handeln zu fördern. Erst recht liegt es mir fern, irgendjemandem das Recht absprechen zu wollen, offen und öffentlich seine Meinung zu sagen und die Mitbürger darüber in Kenntnis zu setzen, dass ihm etwas missfällt. Mir kommt es lediglich darauf an, deutlich zu machen, dass in einer vernünftigen politischen Debatte über die Bewertung und Gestaltung des Wirtschaftssystems Bekundungs-Argumente eine weitaus geringere Leistungsfähigkeit entfalten als Überzeugungs-Argumente. Vielleicht lässt sich der aus meiner Sicht entscheidende Punkt wie folgt präzisieren: Bekundungs-Argumente artikulieren Kritik. Lernfortschritt ist aber auf konstruktive Kritik angewiesen. Die freilich gibt es nur mit ÜberzeugungsArgumenten.
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Wie geht man mit einem solchen Argument sinnvollerweise um? Ich empfehle, zunächst eine Plausibilitätsprüfung vorzunehmen, indem man dieses Argument nicht sofort auf das Wirtschaftssystem, sondern zuerst auf andere Systeme anwendet, z. B. auf das Verkehrssystem oder das Rechtssystem. (1) Bereits in früheren Jahrhunderten, als Karren noch von Eseln und Ochsen gezogen wurden und Pferdekutschen noch nicht von Automobilen abgelöst worden waren, gab es das auch heute noch aktuelle Problem, dass Straßen-Kreuzungen Vorfahrtsregeln erfordern. Anders als heute, spielten damals Status-Merkmale eine überragende Rolle. Bürger gewährten den Adligen Vorfahrt, Arme den Reichen, Junge den Alten, Männer den Frauen. Im modernen Straßenverkehr ist das anders. Hier gilt, sofern nichts anderes geregelt ist, rechts vor links – und zwar für alle, also völlig unabhängig davon, welche persönlichen Merkmale man aufweist, aber auch unabhängig davon, ob man ein großes oder kleines, ein neues oder altes, ein billiges oder teures Auto fährt. Insofern ist unstrittig, dass hier ein grundlegender Wandel stattgefunden hat. Aber ist wirklich strittig, wie man diesen Wandel zu bewerten hat? Der soziale Sinn eines modernen Verkehrssystems besteht ja nicht darin, Menschen gegenüber unterschiedliche Grade von Wertschätzung auszudrücken. Sondern er besteht darin, Personen und Güter möglichst schnell und sicher von A nach B zu transportieren. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, dass die Leistungsfähigkeit des Verkehrssystems dramatisch gesteigert werden konnte, indem man auf eine unpersönliche Steuerung umgestellt hat? Die Straße ist einfach nicht der geeignete Ort, um das tugendethische Ideal verdienstgemäßer Ungleichbehandlung auszuleben. Wer Dankbarkeit oder Zorn, moralische Achtung oder Missachtung anderen Menschen gegenüber zum Ausdruck bringen möchte, sollte tunlichst eine andere Gelegenheit suchen als die, ihnen im Verkehr – je nachdem – die Vorfahrt zu nehmen oder zu gewähren. (2) Analoge Überlegungen lassen sich für das Rechtssystem anstellen. In Europa hat es einen langen Streit darüber gegeben, ob die Könige dem von ihnen gesetzten Recht selbst unterworfen sind: Muss sich auch der Gesetzgeber an Gesetze halten? Im Feudalsystem wurde diese Frage auf den unteren Ebenen der Hierarchie nochmals dupliziert durch das spiegelbildliche Problem, dass die vom Adel verwaltete Rechtsprechung nicht in der Lage war, gleiches Recht für alle zu 273 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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garantieren. In mühsamen Konstitutionalisierungsprozessen wurde schließlich durchgesetzt, dass solche Privilegien heute abgeschafft sind. Sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung wurden einer Verfassung unterworfen, die Rechtsgleichheit ohne Ansehen der Person sicherstellt. Insofern gilt auch hier: Unstrittig ist, dass ein grundlegender Wandel stattgefunden hat. Aber ist wirklich strittig, wie man diesen Wandel zu bewerten hat? Der soziale Sinn eines modernen Rechtssystems besteht ja nicht darin, Menschen gegenüber unterschiedliche Grade von Wertschätzung auszudrücken. Sondern er besteht darin, die Verhältnisse zwischen Personen (und Sachen) mit Rechtssicherheit auszustatten. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, dass die Leistungsfähigkeit des Rechtssystems dramatisch gesteigert werden konnte, indem man auf eine privilegienfreie Steuerung umgestellt hat, die das Prinzip der Rechtsgleichheit ohne Ansehen der Person (und ihrer moralischen Verdienste) umzusetzen versucht? Am Unterschied zwischen Entwicklungsländern einerseits, die von Nepotismus, Korruption und Rechtsunsicherheit geplagt sind, und modernen Rechtsstaaten andererseits lässt sich ablesen, wie es um die Leistungsfähigkeit unseres Rechtssystems bestellt wäre, wenn die Durchsetzung meiner Eigentumsrechte (wieder) davon abhinge, ob ich dem Richter sympathisch bin, ob er mir zu persönlicher Dankbarkeit verpflichtet ist, ob wir in den gleichen Kreisen verkehren usw. (3) Analoge Überlegungen lassen sich nun auch für das moderne Wirtschaftssystem anstellen, dessen Produktionsleistung der Versorgung mit materiellen und immateriellen Gütern dient. Das, was manche pejorativ als ›Massenwohlstand‹ bezeichnen, schlägt sich u. a. darin nieder, dass immer mehr Menschen immer länger und gesünder leben, dass ihr durchschnittlicher Lebensstandard steigt und dass sie in einem historisch ungekannten Ausmaß ihre körperlichen und geistigen Bedürfnisse befriedigen können, wozu ausdrücklich auch gehört, der emanzipatorischen Fortschrittsleistungen unserer modernen Zivilisation teilhaftig zu werden. Letztere werden maßgeblich durch die wirtschaftliche Innovationsdynamik vorangetrieben. Man denke nur an die kontinuierlichen Verbesserungen der modernen Medizin oder an die durch moderne Kommunikationsmedien erweiterten Freiheitsspielräume im Denken und Handeln. Fakt ist, dass auf einem Markt das systemische Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage den Preis bestimmt. Das moralische Ver274 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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dienst der Konsumenten spiegelt sich im Marktpreis ebenso wenig wie das moralische Verdienst der Produzenten. Stattdessen orientieren sich (Änderungen der) Marktpreise an den erwarteten Knappheitsverhältnissen. Natürlich steht es jedem frei, dieses Faktum zu bedauern. Man mag beklagen, dass der Verdienst und das Verdienst auseinanderfallen, so dass beides möglich ist: dass man auf dem Markt reich werden kann, ohne (z. B. seinen Familienmitgliedern gegenüber) tugendhaft zu sein – und dass man tugendhaft sein, ohne (dadurch) reich zu werden. Aber man sollte nicht übersehen, dass sich eine solche Klage auf dem gleichen Niveau bewegt wie der berühmte Klagesatz, der der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley zugeschrieben wird. Sie soll im Jahr 1991 mit einem östlichen Blick auf die deutsch-deutsche Einigung gesagt haben: »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat« 5. Solche Klagesätze artikulieren subjektive Befindlichkeiten. Sie bekunden Missfallen. Aber sie argumentieren nicht in dem Sinne, dass sie zu überzeugen versuchen, wie das kritisierte System besser funktionieren würde, dessen Leistungsfähigkeit ja schließlich einem moralischen Anliegen dient. Hierzu müsste man relevante Alternativen vergleichend untersuchen. Stattdessen begnügen sich die einschlägigen Jammerreden mit der bloßen Insinuation, dass es anders besser wäre. Für eine sich selbst ernst nehmende Tugendethik bedeutet dies eine enorme Verlegenheit: Die zeitgenössische Mäkelei, die in den politischen Diskurs eingespeist wird, bleibt das entscheidende Argument schuldig – und läuft Gefahr, auf diese Weise eine vernünftige Debatte nicht zu erleichtern, sondern zu erschweren. So kann es zu Diskursblockaden bis hin zum Diskursversagen kommen.
III. Ethik gegen Entfremdung Bisher habe ich so argumentiert: Ähnlich wie das Verkehrssystem nicht besser, sondern schlechter und wie analog das Rechtssystem nicht besser, sondern ebenfalls schlechter funktionieren würde, würde es auch die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems massiv beeinträchtigen, wenn man die maßgeblichen Entscheidungen (wieder) an Personenmerkmale knüpfen wollte, anstatt ohne Ansehen der Per5
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A4rbel_Bohley
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son auf eine anonyme Systemsteuerung zu setzen. Ich sehe hierin eine im Wortsinn ›radikale‹, d. h. grundlegend an die Wurzeln gehende Zurückweisung der tugendethischen Marktkritik: Pointiert zugespitzt, ist es in politischen Debatten weder tugendhaft noch ethisch, Überzeugungs-Argumente zu verweigern und sich stattdessen auf Bekundungs-Argumente zu kaprizieren. Diese Zurückweisung flankierend, will ich nun versuchen, einen aus meinem Forschungsprogramm der »Ordonomik« stammenden Argumentationsgang zu skizzieren, den ich für ganz entscheidend halte, wenn es darum geht, dem Phänomen der Entfremdung mit einer triftigen Diagnose und einer geeigneten Therapie entgegenzutreten. 6 (1) Zur ordonomischen Diagnose: Entfremdung bedeutet, dass man sich in der modernen Gesellschaft nicht zu Hause fühlt. Dies liegt oft daran, dass man die systemische Funktionsweise dieser Gesellschaft nicht begreift – und deshalb ablehnt. Ein wichtiger Grund hierfür liegt m. E. darin, dass viele Bürger nur mit einer handlungslogischen, nicht jedoch mit einer situationslogischen Denkweise vertraut sind. Die Handlungslogik folgt dem »3H«-Paradigma, das ›Hirn‹, ›Herz‹ und ›Handlung‹ eng aneinanderbindet. Zugrunde liegt die – letztlich tugendethische – Vorstellung, dass man ein Ziel intellektuell erkannt haben und sich dann emotional an dieses Ziel gebunden fühlen muss, um schließlich so zu handeln, dass dieses Ziel erreicht wird. Die Situationslogik hingegen folgt dem Paradigma, neben inneren Beweggründen (›Hirn‹ und ›Herz‹) auch äußere Beweggründe für individuelle Handlungen in Betracht zu ziehen. Hier wird menschliches Verhalten nicht nur auf Präferenzen, sondern auch auf Restriktionen zurückgeführt. Damit rücken neben den Intentionen des Akteurs auch die Institutionen der Gesellschaft ins Blickfeld, von denen Anreizwirkungen ausgehen, mit denen sich die von den handelnden Akteuren nicht intendierten Effekte gesellschaftlich steuern lassen. Am Beispiel: Wird handlungslogisch argumentiert, liegt es nahe, Fehlleistungen des Wirtschaftssystems – z. B. in Form von Umweltverschmutzung – den Intentionen der handelnden Akteure zuzurechnen, also etwa dem übertriebenen Gewinnstreben von Unternehmen, der vermeintlichen Gier der Manager oder dem blinden Konsumismus der Verbraucher. Solche Zuschreibungen können einen in der Tat 6
Vgl. Pies (2016).
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zum Verzweifeln bringen. Denn sie vermitteln den hilflosen Eindruck, dass das ganze System von Grund auf falsch funktioniert. Dieses Entfremdungsgefühl eines tiefgreifenden Unbehagens in und an der Moderne lässt sich mit drei Aphorismen von Theodor W. Adorno trefflich zum Ausdruck bringen. Sie lauten: • • •
»Das Ganze ist das Unwahre.« 7 »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« 8 »Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg.« 9
Wird hingegen situationslogisch argumentiert, dann ist es möglich, die Vor- und Nachteile des Wirtschaftssystems mit ein und derselben Denkfigur zu erklären. Ganz in der Tradition von Adam Smith stehend, kann man dann folgende Aussagen treffen: Die emanzipatorischen Fortschrittsleistungen, die dem Markt zu verdanken sind, kommen nicht deshalb zustande, weil die Anbieter das Wohl der Konsumenten bewusst anstreben, sondern vielmehr deshalb, weil die Anbieter einem Leistungswettbewerb ausgesetzt werden, in dem sie wirtschaftlich nur überleben können, wenn sie sich bemühen, die Bedürfnisse der Nachfrager (a) zu niedrigen Kosten und (b) mit immer neuen Produkten und Verfahren zu befriedigen. Nota bene: Für diese beiden Systemleistungen der Marktwirtschaft (Produktionseffizienz und Innovationsdynamik) ist das Wohlwollen der Anbieter weder notwendig noch hinreichend! – Und analog gilt: Umweltverschmutzung wird situationslogisch nicht auf kritikwürdige Präferenzen der handelnden Akteure, sondern auf kritikwürdige Fehlanreize zurückgeführt, die durch eine kluge Ordnungspolitik korrigiert werden können. Hier wird die Perspektive auf den institutionellen Rahmen fokussiert, innerhalb dessen Handlungen stattfinden. Erst damit wird der Blick dafür frei, dass man den Markt nicht außer Kraft setzen muss, um ökologische Ziele zu erreichen, sondern dass man geradewegs umgekehrt versuchen kann, den Markt besser in Kraft zu setzen, indem man durch eine (Re-)Formierung der Eigentumsrechte dafür sorgt, dass Marktpreise die ökologische Wahrheit sagen. Nur im situationslogischen Paradigma lässt sich der Gedanke denken, dass es zielführend sein könnte, den Markt für moralische Ziele ordnungspolitisch in Dienst zu nehmen – und dass unter Wettbewerbsbedin-
7 8 9
Adorno (1951, 1985; S. 57). Adorno (1951, 1985; S. 42). Adorno (1951, 1985; S. 24).
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gungen primär die äußeren Anreize der institutionellen Rahmenordnung (und nicht etwa die inneren Handlungsmotive) einen systematischen Ansatzpunkt zur Verwirklichung moralischer Anliegen bieten. (2) Zur ordonomischen Therapie: Dass ein neues Narrativ benötigt wird, um gesellschaftliche (Orientierungs-)Probleme zu lösen, ist keine neue Erkenntnis. Ebenfalls nicht neu ist die Idee, dass es sich bei diesem Narrativ um eine Diagnose der Moderne handeln muss. Diese Idee findet sich beispielsweise schon bei Kant, Hegel und Rawls: • Kant schlägt seinen Mitbürgern vor, sich in einem historischen Prozess zu begreifen, den sie durch eine geeignete Verfassung von Politik und Wirtschaft darauf ausrichten können, Frieden und Wohlstand im weltweiten Maßstab hervorzubringen. 10 • Hegel leistet einen Beitrag zur Versöhnung, d. h. zum Abbau von Entfremdung, wenn er in seiner Rechtsphilosophie schreibt: »Das Prinzip der modernen Welt fordert, dass, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige.« 11 • Rawls schlägt seinen Mitbürgern vor, sich in einem historischen Prozess der Herstellung institutioneller Gerechtigkeit zu begreifen, der vor der Herausforderung steht, das Faktum eines vernünftigen Pluralismus zu bewältigen, was zwingend darauf hinausläuft, von Wertekonsens auf Regelkonsens umzuschalten. 12 Vor diesem Hintergrund arbeitet die Ordonomik an einem Narrativ, das ebenfalls die Form annimmt, eine Diagnose der Moderne vorzustellen. Auf seinen Kern reduziert, lässt sich dieses Narrativ in sechs Aussagen zusammenfassen. • Die moderne Gesellschaft ist eine Wachstumsgesellschaft. Als solche hat sie – trotz mancher Rückschläge – eine welthistorische Erfolgsgeschichte vorzuweisen. • Ihre Dynamik verdankt sie dem gelingenden Zusammenspiel von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. • Alle drei Systeme sind wettbewerblich strukturiert.
Vgl. Kant (1784, 1900 ff.). Hegel (1820, 1993; S. 485). 12 Vgl. Rawls (2001). Für die deutsche Fassung vgl. Rawls (2001, 2006). Vgl. hierzu auch Pies (2012). 10 11
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Moderne Ethik als Ethik der Moderne
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Wettbewerb sorgt für einen Hiatus zwischen Handlungen und Systemergebnissen. Sie werden intentional entkoppelt und zugleich institutionell verknüpft. Deshalb ist auf einem Auge blind, wer nur im handlungslogischen Paradigma zu denken versteht. Entfremdung ist nicht das Signum der Moderne, sondern das Signum dieser Blindheit. Denn erst aus dem Blickwinkel des situationslogischen Paradigmas ist zu erkennen, dass und warum unter Wettbewerbsbedingungen der (politisch gestaltbare) Ordnungsrahmen zum systematischen Ort für die Verwirklichung moralischer Anliegen avanciert. In der modernen Gesellschaft genießen Bürger eine Privatsphäre. Zudem verfügen sie über Bildung und beteiligen sich aktiv am wirtschaftlichen und politischen Leben. Anders als in vormodernen Gesellschaften, wird den Bürgern eine bestimmte moralische Identität nicht mehr vorgeschrieben. Aus der traditionellen Vorgabe ist eine je individuelle Aufgabe geworden. Die Bürger müssen sich ein Verständnis ihrer Gesellschaft und ein Selbstverständnis ihrer Rolle in dieser Gesellschaft selbst erarbeiten. Hierfür ist es hilfreich, die situationslogische Denkfigur zu kennen und einzuüben, damit man (gerade auch moralisch) beurteilen kann, (a) wie man sich in den vorfindlichen Wettbewerbsprozessen zu verhalten hat und (b) wie man diese Wettbewerbsprozesse gegebenenfalls reformieren und so ausrichten kann, dass es möglich wird, den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen nachhaltig zu begegnen.
Die Hauptthese als Fazit Gestützt auf den ordonomischen Ansatz zur Wirtschaftsethik, teile ich mit Bruni und Sugden das theoretische Anliegen, die tugendethische Marktkritik zurückzuweisen und einen Beitrag zu leisten, der es Marktteilnehmern erleichtert, sich selbst als moralische Subjekte wahrzunehmen. Allerdings wähle ich aus theoriestrategischen Gründen ganz bewusst einen anderen Weg, um diese beiden Ziele auch tatsächlich zu erreichen. Auf diesem Weg gelange ich zu folgender These: Wenn man den historischen Zivilisationsprozess, in dem wir uns als Bürger einer modernen Gesellschaft befinden, mit offenen Augen sieht, ist die – letztlich von Adam Smith inspirierte – Einsicht (a) in 279 https://doi.org/10.5771/9783495813393 .
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die enorme Bedeutung der nicht-intendierten Wirkungen intentionalen Handelns, (b) in die institutionelle Kanalisierung dieser Wirkungen durch einen Ordnungsrahmen und schließlich (c) in die politische Gestaltbarkeit des kanalisierenden Ordnungsrahmens der Ausbildung eines individuellen (Selbst-)Bewusstseins als moralisches Subjekt nicht abträglich, sondern zuträglich. Insofern bin ich zuversichtlich, dass eine moderne Ethik – als Ethik der Moderne – einen signifikanten Beitrag zu leisten vermag, um dem Phänomen der Entfremdung wirksam entgegenzutreten.
Literatur Adorno, Theodor W. (1951, 1985): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. Bruni, Luigino und Robert Sugden (2013, 2017): Wie man die Tugendethik wieder in die Ökonomik zurückholen kann, in diesem Band. Demsetz, Harold (1969): Information and Efficiency: Another Viewpoint, in: Journal of Law and Economics 12(1), S. 1–22. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1820, 1993): Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. Kant, Immanuel (1784, 1900 ff.): Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften (Akademie Ausgabe), hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Band VII, S. 15–31. Am 3. Oktober 2016 im Internet unter: https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa08/Inhalt8.html Lichtenberg, Georg Christoph (o. J., 1996): Aphorismen, Bindlach. Nietzsche, Friedrich (1878–86): Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Am 17. August 2016 im Internet unter: http://www. nietzschesource.org/#eKGWB/MA-I Pies, Ingo (2012): Regelkonsens statt Wertekonsens. Ordonomische Schriften zum politischen Liberalismus, Berlin. Pies, Ingo (2016): Individualethik versus Institutionenethik? – zur Moral (in) der Marktwirtschaft, in: Gerhard Minnameier (Hrsg.): Ethik und Beruf – Interdisziplinäre Zugänge, Bielefeld, S. 17–39. Rawls, John (2001): Justice As Fairness. A Restatement, Cambridge, Mass. und London. Rawls, John (2001, 2006): Gerechtigkeit als Fairness: Ein Neuentwurf, Frankfurt a. M. Schiller, Friedrich (1795, 2000): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen herausgegeben von Klaus L. Berghahn, Stuttgart.
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IV. Ausblick
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Weiterführende Hinweise*
Wer sich mit der Argumentation, die Bruni und Sugden (2013, 2017) vorbringen, sowie mit der Gedankenwelt, der sie entstammt, näher vertraut machen will, wird vielleicht folgende Hinweise auf weiterführende Literatur als hilfreich empfinden.
I. (1) Luigino Bruni und Robert Sugden haben im Vorfeld ihres im Jahr 2013 erschienenen Artikels zwei gemeinsame Aufsätze verfasst, die thematisch einschlägig sind: • In ihrem Aufsatz über »moralische Kanäle« 1 stellen Bruni und Sugden vergleichend gegenüber, wie drei bedeutende Autoren des 18. Jahrhunderts – David Hume, Adam Smith und Antonio Genovesi – die Vertrauensbildung auf Märkten analysiert haben. Ihre Interpretation gelangt zu dem Schluss, dass die beiden ersten Autoren als Vertreter der Schottischen Aufklärung generell die Theoriestrategie verfolgt haben, das Phänomen des Vertrauens (mit den beiden Seiten der Vertrauensbildung und der Vertrauenswürdigkeit) auf eine kluge Kalkulation jeweils eigeninteressierter Akteure zurückzuführen, während Genovesi als Vertreter der Neapolitanischen Aufklärung genau umgekehrt argumentiert habe, dass die Qualität sozialer Beziehungen in den Markt hinein getragen werde. Trotz mancher Unterschiede weisen Bruni und Sugden auf eine wichtige Gemeinsamkeit hin, die auch im vorliegenden Kontext von Interesse ist: Sowohl Adam Smith als auch Antonio Genovesi haben das für die zeitgenössischen Märkte typische Vertrauen als ein genuin modernes Phänomen auf1 1
Für hilfreiche Hinweise danke ich Gerhard Minnameier. Vgl. Bruni und Sugden (2000).
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Weiterführende Hinweise
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gefasst und nicht etwa als ein historisches Relikt der feudalen Vergangenheit kleiner Gemeinschaften. 2 In ihrem Aufsatz über »Brüderlichkeit« 3 arbeiten Bruni und Sugden heraus, dass Adam Smith und Antonio Genovesi ganz unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten haben, wie Tauschbeziehungen auf Märkten zu verstehen seien. Adam Smith habe als analytischen Ausgangspunkt die Annahme gewählt, dass die beiden Parteien eines Tauschakts mit ihrer Markthandlung jeweils nur ihre eigenen individuellen Interessen verfolgen, während Antonio Genovesi genau anders herum vorgegangen sei, im sozialen Leben gemeinsame Interessen zu beobachten und Markthandlungen als eine zeitgenössisch neu aufkommende Form zu betrachten, solche gemeinsamen Interesse noch wirkungsvoller zur Geltung zu bringen. Die radikale Folge: Bei Smith werde das Tauschverhältnis – verstanden als interpersonale Beziehung zwischen Tauschpartnern – rein instrumentell betrachtet und habe demzufolge keinen eigenständigen moralischen Wert. So erscheine der Markt als a-moralische Zone. Demgegenüber werde bei Genovesi ein Verständnis zugrunde gelegt, das es – aufgrund eines lückenlosen Kontinuums sozialer Beziehungen – erlaube, den Markt als moralische Sphäre tugendhaften Verhaltens zu begreifen. 4
(2) Hinzu kommen mehrere Bücher, die Luigino Bruni in den letzten Jahren allein verfasst hat. • In seinem Buch über »ziviles Glück« 5 geht Bruni der Frage nach, warum die Ökonomik im Verlauf ihrer theoretischen Entwicklung sich von dem zunächst auch für sie grundlegenden Gedanken entfernt hat, dass das Glück des Menschen in der Qualität der Bruni und Sugden (2000; S. 44, H. i. O.): »One important lesson to be learned from the eighteenth-century literature is that trust is not, as social commentators sometimes casually suppose, a survival from a pre-modern era of close-knit rural communities. From their different eighteenth-century perspectives, Smith and Genovesi both see trust as a modern phenomenon. Smith thinks that trust is a product of commercial society; Genovesi’s concern is that an economically backward society may lack the trust that is a precondition for commerce.« 3 Vgl. Bruni und Sugden (2008). 4 Zu diesem Aufsatz gibt es eine interessante Replik von Nelson (2009), in der mehrere aufschlussreiche Klarstellungen zum Themenbereich »intrinsischer« Motivation vorgenommen werden. 5 Vgl. Bruni (2006). 2
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Beziehungen zu suchen sei, die er mit seinen Mitmenschen unterhalte. Seine These lautet, dass die zeitgenössische Ökonomik zwar zu den Vorreitern der Happiness-Forschung gehöre, dass sie jedoch aufgrund der ihr eigenen Auffassung vom rein instrumentellen Charakter marktlicher Beziehungen ausgesprochen schlecht darauf vorbereitet sei, menschliches Glück kategorial erfassen zu können. In seinem Buch über »Wunde und Wohltat« 6 erzählt Bruni die ökonomische Theoriegeschichte als Sündenfall. Aus Brunis Sicht hat die Ökonomik gleich zu Beginn einen falschen Weg eingeschlagen, indem sie Adam Smith und nicht Antonio Genovesi gefolgt ist. Gestützt auf den klassischen Liebesbegriff mit seinen drei Dimensionen (»eros«, »philia« und »agape«), sieht Bruni in der zeitgenössischen Ökonomik ein kategorial verarmtes Theorieprogramm, das er durch eine Rückbesinnung auf die Sozialität des Menschen in humaner Weise bereichern will. In seinem Buch über »Reziprozität« 7 unterscheidet Bruni drei Konzepte von Reziprozität: (a) das wechselseitige Bedienen unterschiedlicher Interessen (= Kooperation ohne Wohlwollen, z. B. zwischen Vertragspartnern), (b) das wechselseitige Bedienen gemeinsamer Interessen (= Kooperation mit freundschaftlichem Wohlwollen) und (c) das unkonditionierte Geschenk (= Altruismus). Er versucht zu zeigen, dass alle drei Formen von Reziprozität in einer modernen Gesellschaft wichtig sind und dass ihr Zusammenspiel dazu beitragen kann, gesellschaftliche Probleme zu lösen. In seinem Buch über »Entstehung und Ethos des Marktes« 8 entwickelt Bruni folgenden gedanklichen Dreischritt: (a) In der Antike habe es Gemeinschaft ohne Individualität gegeben. (b) In der Moderne gebe es nun Individualität ohne Gemeinschaft. (c) Für die gesellschaftliche Entwicklung nötig und möglich sei eine dritte Option, die Gemeinschaft mit Individualität verbindet. Deshalb plädiert Bruni für eine »zivile Wirtschaft«. Ihm kommt es darauf an, den Markt als eine Sphäre tugendhaften Verhaltens zu begreifen, als eine Sphäre, in der es den individuellen Marktteil-
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Vgl. Bruni (2007, 2012). Vgl. Bruni (2008). Vgl. Bruni (2012).
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Weiterführende Hinweise
nehmern nicht nur um die je eigenen Interessen, sondern auch um gemeinsame Interessen geht. (3) In diesem Zusammenhang ist auf ein Symposium hinzuweisen, das in der Online-Zeitschrift »Studies in Emergent Order« veröffentlicht wurde und sich mit dem Buch von Bruni (2012) auseinandersetzt. 9 In diesem Symposium hat auch Bruni selbst einen Beitrag verfasst, in dem er Auskunft über sein Werk gibt sowie über die gemeinsam mit Sugden geschriebenen Aufsätze. Folgende Aussagen zum Ansatz von Bruni und Sugden (2013, 2017) sind bemerkenswert: • Alltägliche Markthandlungen lassen sich mit einem tugendethischen Ansatz beschreiben und verstehen. Hierfür wählen Bruni und Sugden eine Vorgehensweise, die sich in weitgehender Übereinstimmung mit Aristoteles und anderen klassischen Varianten der Tugendphilosophie befindet, aber von zeitgenössischen kommunitaristischen Theorien (wie denen von McIntyre und Sandel) abweicht. 10 • Die Grundidee der Tugendethik wird wie folgt gekennzeichnet: Ihre zentrale Frage lautet nicht »Was soll ich tun?«, sondern »Wer bin ich?« bzw. »Wer will ich sein?«. Tugenden sind nicht normative Handlungsanleitungen. Vielmehr geben sie eine Antwort darauf, welche Art von Person man ist oder sein will. Tugenden sind jene Charaktereigenschaften und Verhaltensdispositionen, die dazu beitragen, ein gelingendes Leben als genau jene Person führen zu können. 11
Vgl. die Beiträge von Wagner (2014), Smith (2014) sowie von Powell und Candela (2014). 10 Bruni (2014; S. 274): »[I]t is possible to understand and describe ordinary economic interactions coherently with the virtue-ethics approach. In doing so, I follow a path different from the mainstream of communitarian moral philosophy but consistent with the Aristotelian and classical philosophy of virtues«. 11 Bruni (2014; S. 275, H. i. O.): »What do I mean by ›virtue ethics?‹ Although there are many disagreements regarding many aspects of virtue ethics, its central focus is on moral character (what sort of person one is). Virtues are character-traits and dispositions that are judged to be good. How is this related to action? Virtues are not perceived as good because they induce actions that are independently judged as good (e. g. as utilitarians do) or right (e. g. as Kantians do). Actions are perceived as good because they are in character for a virtuous person, they are constitutive of living well and flourishing. Thus, virtues are cultivated as ›the kind of person I want to be,‹ not as rules of thumb for moral action.« 9
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Bruni zufolge vermeidet der eigene Ansatz vordergründige Normativität: Die Tugendethik von Bruni und Sugden appelliert nicht, dass Marktakteure sich tugendhaft verhalten sollen. Sondern sie argumentiert, dass man nur dann ein guter (und erfolgreicher) Marktakteur sein kann, wenn man sich tugendhaft verhält. 12 Als Vorzug des eigenen Ansatzes wird ausgewiesen, dass er zu einer veränderten Sichtweise nicht nur des Marktes, sondern auch der Ökonomik führe: Zum einen könne die in der Öffentlichkeit verbreitete Einschätzung korrigiert werden, dass die Ökonomik zu Gunsten des Marktes und damit zu Lasten von Tugenden argumentiere. Zum anderen könne gezeigt werden, dass die Tugenden des Marktes mit den Tugenden anderer Lebensbereiche vereinbar sind, so dass keinesfalls nötig sei, die Marktwirtschaft per se als eine moralische Bedrohung aufzufassen. 13 Der eigene Ansatz hebt die systematische Entkopplung von Handlungsergebnis und Handlungsintention wieder auf, die innerhalb des ökonomischen Theorieprogramms seit Adam Smith dominant geworden ist: Bruni und Sugden erklären es zur Markttugend, eine wechselseitige Vorteilsgewährung bewusst anstreben zu wollen. 14
Bruni (2014; S. 277, H. i. O.): »[T]his concept of ›good character‹ is to be understood relative to the telos of markets – in the same sense that one might say that someone is a ›good entrepreneur‹ (i. e. a person who is good at entrepreneurship, not a good person who is also an entrepreneur) or a ›good soldier‹ (i. e. a person who is good at being a soldier). So I (and Sugden) would not claim (as some virtue ethicists would) that conscript soldiers ought to display military virtue—only that if they didn’t (e. g. doing everything possible to keep out of danger and discomfort) they wouldn’t be good soldiers. Analogously, we don’t claim that when individuals act in markets, they ought to uphold market virtues (or even that there is a prevailing belief that they ought to).« 13 Bruni (2014; S. 275): »In the framework of virtue ethics, economics doesn’t stand for non-virtue against virtue; it stands for a certain set of virtues, unified by an idea of reciprocity or mutual advantage. These are virtues that are common to other domains of civil society, and needn’t be seen as a threat to virtue outside economic life.« 14 Bruni (2014; S. 283 f., H. i. O.): »Traditionally, economists have followed Smith in treating self-love as the characteristic market motivation, while arguing that the invisible hand of the market transforms individual self-love into public good; i. e. the fact that the market promotes mutual advantage is not connected with individual intentions. … I suggest that the common core of most understandings of markets is that markets facilitate mutually beneficial voluntary transactions. Such transactions 12
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Weiterführende Hinweise
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Bruni und Sugden wenden sich mit ihrer Tugendethik in erster Linie nicht an die Kritiker des Marktes, sondern an die handelnden Akteure im System. Sie zielen mit ihrer tugendethischen Beschreibung von Markthandlungen darauf ab, Marktakteuren die Augen zu öffnen für ein neues (Selbst-)Verständnis, das dazu beiträgt, sie mit der Praxis des Wirtschaftslebens zu versöhnen. 15 Für den eigenen Ansatz werden drei Gründe ins Feld geführt, die insbesondere Ökonomen interessieren sollten: Erstens eröffnet die Tugendethik ein anderes Verständnis von Normativität als das, welches üblicherweise (beispielsweise in der Wohlfahrtsökonomik) zugrunde gelegt wird. Zweitens stützen sich große Teile der öffentlichen Kritik an Marktwirtschaft und Globalisierung auf ein Arsenal tugendethischer Vorstellungen. Zum einen werde der Markt als tugendfreie Zone aufgefasst. Zum anderen werde befürchtet, dass Markthandlungen die Tugenden anderer Lebensbereiche erodieren lassen. Ökonomen sollten solche Argumente kennen. Drittens: Wenn Ökonomen solchen Vorbehalten argumentativ begegnen wollen, sollten sie in der Lage sein, ihre Überlegungen tugendethisch zu formulieren. Eine moralische Verteidigung des Marktes sollte die gleiche Sprache sprechen (können) wie die Kritiker des Marktes. 16
can be seen as valuable because individuals want to make them, because they satisfy individuals’ preferences, because they create wealth, and because the opportunity to make them is a form of freedom. We therefore propose to treat mutual benefit, not self-interest or greed, as the telos of the market. But I (with Sugden) argue that the motivation of market participants can be mutual benefit (among parties to a contract, conditional on the contract having been made), e. g. the baker intends that the customer benefits from buying the bread, the customer intends that the baker benefits from selling it. This kind of motivation doesn’t undermine the workings of markets as analyzed in neoclassical theory—to the contrary, it can facilitate their workings (e. g. by motivating trust).« 15 Bruni (2014; S. 275, H. i. O.): »Virtue ethics can be a new way of seeing the behaviour that economics already describes and explains. For generations of economists, the ›big picture of economics‹ has included the idea that the market is a virtue-free zone, in which socially desirable consequences emerge as unintended consequences of individuals’ pursuit of private interests […] In my vision (that I share with Robert Sugden), we do not need to offer a different theory of what the butcher or merchant does, but rather a different way in which they might understand what they are doing, and, as a consequence, the implications of their future behaviors and happiness (in terms of enjoying relational goods).« 16 Bruni (2014; S. 274 f., H. i. O.): »[E]conomists need to think about virtue in economic life for many reasons. Firstly, virtue ethics is seen by its proponents as an
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(4) Abschließend sei noch auf zwei weitere Bücher hingewiesen, die Luigino Bruni mit Ko-Autoren verfasst hat. Sie sind ebenfalls thematisch einschlägig. Es handelt sich (a) um sein Buch zur »Zivilökonomie« 17 und (b) um sein Buch über »wertbasierte Organisationen« 18.
II. Im Hinblick auf die von Bruni und Sugden kritisierten Autoren tugendethischer Marktkritik sind folgende Publikationen empfehlenswert: • Elizabeth Anderson hat 1990 einen aufsehenerregenden Aufsatz und 1993 ein einflussreiches Buch verfasst. 19 In beiden Publikationen vertritt sie die These, dass sich der Markt durch eine eigenständige – niederrangige – Bewertungsmethode auszeichnet, die dazu tendiere, höhere Werte erodieren zu lassen. Folgerichtig spricht sie sich in beiden Publikationen dafür aus, Märkte gewissermaßen an die Kandare zu nehmen, ihnen enge Grenzen zu ziehen. Insofern sind diese beiden Arbeiten ganz eindeutig einem Denkansatz zuzuordnen, den Karl Homann (1988) als »Domestizierungsparadigma« gekennzeichnet hat. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass Elizabeth Anderson in einer neueren Veröffentlichung ganz andere Töne anschlägt. Dort liest man: »The virtues of capitalism lie in the concrete social relations and alternative to the kinds of moral theory that have been adapted for use in normative economics (especially consequentialist theories, e. g. utilitarianism, but also deontological theories, e. g. Kantianism, or Nozickian libertarianism). So there is a danger that, by ignoring virtue ethics, we cut ourselves (as economists or social scientists) off from significant developments in moral philosophy. A second reason is that virtue ethics is closely associated with a critique of the market and economics. The essential idea is that the market depends on instrumental motivations and thereby lacks virtue, and undermines virtue in other domains of life; and that economics encourages this. Although the philosophy is abstract, many of the attitudes it supports are echoed in anti-capitalist and anti-globalisation ideas that have resonance in public debate. To respond to this critique, we need to understand the arguments that the critics can advance. Finally, it is possible to respond to these criticisms … in the language of virtue ethics.« 17 Vgl. Bruni und Zamagni (2013). 18 Vgl. Bruni und Smerilli (2014). 19 Vgl. Anderson (1990) und (1993).
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Weiterführende Hinweise
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social meanings through which capital and commodities are exchanged.« 20 Zu diesem bemerkenswerten Urteil gelangt sie in einer Untersuchung über die historische Entwicklung der Finanzmärkte – vom frühen Christentum über den Feudalismus bis zum zeitgenössischen Kapitalismus. Sie hält es für moralisch begrüßenswert, dass kapitalistische Finanzmärkte von »Status« auf »Vertrag« umgestellt haben, so dass moderne Kredite nicht mehr auf einer vertikal hierarchischen Beziehung zwischen Personen (»Schuldknechtschaft«), sondern auf einer horizontal gleichberechtigten Beziehung zwischen Vertragsparteien beruhen. 21 Sie weist darauf hin, dass es eine historische Errungenschaft ist, wenn im Kapitalismus der gesellschaftliche Status einer Person nicht mehr automatisch radikal beeinträchtigt wird, sobald sie einen Kredit aufnimmt. Anderson qualifiziert den Kreditmarkt als Überwindung tradierter Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Ungleichen. Hierin sieht sie nicht nur eine kapitalistisch bewirkte Zunahme von Gleichheit, sondern auch einen enormen Zuwachs an individueller Freiheit und bürgerlicher Emanzipation. 22 Im Klartext: Es ist gerade die (bis zur vollständigen Anonymität reichende) Entpersönlichung marktförmig vermittelter Kreditbeziehungen, der Anderson eine moralische Vorzugswürdigkeit zuschreibt, die sie sogar als »Tugend des Marktes« etikettiert. Alasdair MacIntyre hat 1981 ein moraltheoretisches Buch über Tugenden verfasst, das Klassikerstatus erhalten hat und ein Vierteljahrhundert später mit einem zusätzlichen Vorwort (und einem Postskriptum zur zweiten Auflage) neu herausgegeben wurde. 23 In diesem Buch vertritt er die These, dass die Schwierigkeiten der modernen Gesellschaft mit Moral und Moraltheorie am besten verstanden und bewältigt werden können, wenn man
Anderson (2004; S. 347). Anderson (2004; S. 347): »[C]apitalism advanced freedom and equality. One way was by transforming the social relations of creditors to debtors. This enabled millions of people to obtain credit without having to give up their personal independence to or demean themselves before their creditors.« 22 Anderson (2004; S. 348): »The kinds of freedom and equality that fundamentally matter, and that capitalism expanded, are embodied in concrete social relations governed by specific legal constraints and social norms. Freedom involves, at least, freedom from bondage to others. Equality involves a kind of social standing before others, premised on terms of interaction consistent with the dignity of both parties.« 23 Vgl. MacIntyre (1981, 2007). Für die deutsche Fassung vgl. MacIntyre (1981, 2006). 20 21
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sie vor dem Hintergrund der klassischen Tugendethik betrachtet, wie sie von Aristoteles (und Thomas von Aquin) entwickelt wurde. – Von den zahlreichen weiteren Büchern MacIntyres sei hier nur auf eines verwiesen: auf seine immer noch lesenswerte »Short History of Ethics« 24. – Zum Gesamtwerk MacIntyres, das international viel Aufmerksamkeit erfahren hat, ist jüngst ein durchgängig lesenswerter Diskussionsband erschienen, in dem zahlreiche Autoren sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln kritisch mit diesem Autor auseinandersetzen. Besonders zu empfehlen sind die Beiträge von Pippin (2015), Bormann (2015), Wils (2015), Lutz-Bachmann (2015), Reese-Schäfer (2015), Kannetzky und Borchers (2015), Haus (2015) und Pieper (2015). Michael Sandel hat 2012 ein marktkritisches Buch vorgelegt, das international viel Resonanz erzeugt hat. 25 Lesenswert sind auch seine thematisch einschlägigen »Tanner Lectures«, die dokumentieren, dass seine Überlegungen zu den (aus seiner Sicht moralisch wünschenswerten) Grenzen des Marktes über viele Jahre hinweg eine große Kontinuität aufweisen. 26 Ferner hinzuweisen ist auf einen neueren Sammelband seiner Artikel 27 sowie auf einen Diskussionsband zu dem besonders interessanten Aufsatz von Sandel (2013). 28
III. Einen informativen Überblick über die internationale Diskussion zur Tugendethik vermittelt »The Cambridge Companion to Virtue Ethics« 29. Dieses Buch ist aus zahlreichen Gründen lesenswert, von denen hier nur einige hervorgehoben werden können: Erstens bietet es eine leicht zugängliche Darstellung des aristotelischen Ansatzes sowie der antiken Tugendethik allgemein. 30 Zweitens vergleicht es die europäische Tradition der Tugendethik mit der chinesischen Tradition Vgl. MacIntyre (1966, 2002). Für die deutsche Fassung vgl. MacIntyre (1966, 1984). 25 Vgl. Sandel (2012a). Für die deutsche Fassung vgl. Sandel (2012b). 26 Vgl. Sandel (1998) und (2013). 27 Vgl. Sandel (2015). 28 Vgl. Pies (2016). 29 Vgl. Russel (2013a). 30 Vgl. Russel (2013b) und Kamtekar (2013). 24
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Weiterführende Hinweise
des Konfuzianismus. 31 Drittens bietet es einen ausgezeichneten Überblick über die tugendethische Entwicklung im Mittelalter und über den allmählichen Niedergang der tugendethischen Tradition. 32 Viertens verfolgt es die Renaissance, die die Tugendethik im 20. Jahrhundert erfahren hat, bis auf die Arbeiten von Elizabeth Anscombe (1958) sowie von Philippa Foot (1978) zurück. 33 Fünftens erläutert es die situationistische Kritik an der Tugendethik. 34 Diese Kritik beruht darauf, dass die empirisch beobachtbaren Handlungen von Personen nicht nur auf ihren Charakter (also die inneren Einflussfaktoren), sondern auch auf situative Anreize (also die äußeren Einflussfaktoren) zurückzuführen sind, was es dann nahelegt, auch institutionelle Überlegungen zur Gestaltung situativer Anreize in die Ethik einzubeziehen. Sechstens enthält es interessante Überblicksartikel zu tugendtheoretischen Anwendungen in der Bio-, Umwelt- und Unternehmensethik sowie eine lesenswerte Rekonstruktion der Tugendethik von David Hume. 35
IV. Interessante Einblicke in den deutschsprachigen Philosophiebetrieb gewährt die umfassende Untersuchung von Halbig (2013), die sich besonders intensiv mit den tugendethischen Arbeiten von Elizabeth Anscombe (1958), Michael Stocker (1976) und Alasdair MacIntyre (1981, 2006) auseinandersetzt. Dieses Buch ist gut geschrieben und relativ leicht verständlich. Es macht transparent, mit welchen begrifflichen Vorfestlegungen und sodann wie distinktionsreich – und folglich: wie extrem voraussetzungsvoll, aber auch wie abstrakt und praxisfern – die akademische Diskussion mancherorts geführt wird. Gerade aufgrund dieser Transparenz entblößt dieses Buch also auch einige Schwächen (von Teilen) der philosophischen Literatur. Drei seien hier genannt. • Erstens wird offensichtlich, welch immense Schwierigkeiten manche Philosophen mit den Befunden der empirischen MoralVgl. Ivanhoe (2013). Vgl. Porter (2013) sowie Frede (2013). 33 Vgl. Chappell (2013). 34 Vgl. Sreenivasan (2013). 35 Vgl. Oakley (2013), Zwolinsky und Schmitz (2013), Hartman (2013) sowie Russell (2013c). 31 32
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wissenschaften haben. Gerade die positiven Erkenntnisse experimenteller Forschung werden von einigen Vertretern der philosophischen Disziplin offenbar vornehmlich als Übergriffe und sogar als Angriffe auf ihr angestammtes Terrain betrachtet, wodurch sie sich dann zu entsprechenden Verteidigungsanstrengungen veranlasst sehen. Besonders anschaulich wird dies bei Halbigs Versuch, die situationistische Kritik an der Tugendethik zurückzuweisen, wenn er schreibt: »Gerade weil es sich bei ›Tugend‹ um einen wesentlich normativen Begriff handelt, entzieht er sich notwendig der Infragestellung durch empirische Untersuchungen.« 36 Zweitens legt das Buch (unfreiwillig) eine weitere Quelle für die latent – und manchmal sogar manifest – antimoderne Stoßrichtung der zeitgenössischen Tugendethiken offen. Halbig schreibt: »Die Tugendethik … sieht das Ziel moralischer Erziehung in der Ausbildung eines robusten, tugendhaften Charakters, der sich gerade aufgrund dieser Robustheit in ganz unterschiedlichen Kontexten und Lebenslagen behaupten wird; ihre Attraktivität als Grundlage moralischer Erziehung liegt nicht zuletzt darin, dass sie im Erfolgsfall verspricht, den tugendhaften Akteur unabhängig zu machen von den Handlungskontexten, in denen er sich bewegt. Gerade in einer Welt steigender Mobilität, in der sich Akteure in ständig wechselnden Kontexten wiederfinden, scheint die Kultivierung und Stärkung ihres Charakters ein aussichtsreicher Bezugspunkt für die Sicherung stabiler Handlungs-
Halbig (2013; S. 127). In der Sache läuft dieser Abwehrversuch darauf hinaus, die Möglichkeit von »Upstream-Argumenten« (Pies 2017) zu leugnen, also in Abrede zu stellen, dass positive Erkenntnisse zu einer Revision normativer Zielsetzungen beitragen können. – Für eine wesentlich informiertere und informativere philosophische Lesart der neueren empirischen Befunde vgl. Greene (2013; insbes. Kapitel 4 über »Trolleyology« und Kapitel 9). Ferner empfehlenswert sind die beiden Bücher von Haidt (2006) und (2012). – Neben der experimentellen Forschung in Psychologie und Verhaltensökonomik gibt es in den letzten Jahren auch eine breite Literatur, die den Themenkomplex der »Moral« mit Erkenntnissen der Evolutionsbiologie und Primatenforschung angeht. Als Einstieg in diese Literatur eignen sich Wilson (2007), de Waal (2006) bzw. (2006, 2008), Boehm (2012), Wilson (2012) bzw. (2012, 2016), Wilson (2015), Voland und Voland (2014) sowie Tomasello (2016). Für die (wirtschafts-) ethische Einordnung findet man hilfreiche Hinweise bei Homann (2015a) und (2015b). Kitcher (2011) unternimmt den grundlegenden Versuch, diese neuen Erkenntnisse für das Projekt der Ethik fruchtbar zu machen. Für eine Kurzfassung vgl. Kitcher (2014), für zusätzliches Hintergrundmaterial vgl. Kitcher (2012). Ebenfalls sehr empfehlenswert, aber technisch anspruchsvoller ist Binmore (2011).
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Weiterführende Hinweise
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muster zu sein.« 37 Dabei ist es für die moderne Gesellschaft schlechterdings konstitutiv, dass sich Menschen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich verhalten: auf dem Sportplatz anders als vor Gericht, in der Familie anders als auf dem Markt, in der Wissenschaft anders als im Theater oder im Krankenhaus. Arbeitsteilung, Spezialisierung, Erwartungssicherheit wären andernfalls nicht möglich. Anstatt darauf zu setzen, dass Menschen mit ihrem Charakter einen tugendhaften Widerstand gegen die je unterschiedlichen Anreizwirkungen je unterschiedlicher Handlungskontexte leisten (sollen), wäre es deshalb vielleicht eher angebracht, Erziehungsprozesse daran zu orientieren, junge Menschen mit einer moralischen Integrität auszustatten, die sie befähigt, unterschiedliche Rollen zu spielen und unterschiedliche Funktionen auszuüben, d. h. sich gesellschaftlich nützlich zu machen, ohne dies als Entfremdung empfinden zu müssen oder gar als Verrat an der eigenen Identität als moralisches Subjekt. Ein dritter Punkt bezieht sich auf die Hauptthese des Buches. Sie besagt, »[d]ass sich die Tugend nicht als Reduktionsbasis für deontische Kategorien in der Moral eignet« 38. Damit ist gemeint, dass das, was als moralisch richtig oder als moralisch verboten zu gelten hat, nicht allein aus Tugendüberlegungen hergeleitet werden kann. Für diese These führt Halbig zahlreiche Begründungen an. Ein aus seiner Sicht besonders wichtiger Einwand besteht darin, dass sich die Tugendethik selbst widerspreche und damit selbst aufhebe. Halbig schreibt: »Die Tugendethik … stellt … eine sich selbst aufhebende Theorie dar: Sie verlangt nämlich etwa von einem ehrlichen Menschen, sich an etwas anderem als an der Wahrheit zu orientieren, nämlich an Charaktermerkmalen – sei es den eigenen, sei es denen einer tugendhaften Person – und damit an Gesichtspunkten, an denen er sich gerade als tugendhafter Mensch nicht orientieren darf. … Von einem ehrlichen Menschen erwarten wir, dass es ihm um die Wahrheit zu tun ist, nicht darum, wie er seinen eigenen Charakter artikulieren kann. Ein solches Anliegen erscheint in fragwürdiger Weise selbstbezogen.« 39 Halbigs Argument ist sehr spitzfindig. Letzt-
Halbig (2013; S. 120). Halbig (2013; S. 350). 39 Halbig (2013; S. 346 f., H. i. O.). Ferner liest man bei Halbig (2013; S. 345, H. i. O.) folgende Auskunft: »Damit setzt sich die Tugendethik paradoxerweise genau dem 37 38
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lich beruht es darauf, in Frage zu stellen, ob es tugendhaft ist, tugendhaft sein zu wollen. Mit dieser Spitzfindigkeit wird eine (Schein-)Paradoxie in den Tugendbegriff hineingetragen, die der aristotelischen Theorietradition völlig fremd gegenübersteht, indem sie das zentrale Argument negiert, das von Philosophen für Tugenden ins Feld geführt wurde: dass die Tugenden zum Gedeihen der eigenen Person in der Gemeinschaft mit anderen beitragen und dass es genau daran ein vitales Eigeninteresse gebe. Um es überspitzt auf den Punkt zu bringen: Wer dem Vorurteil anhängt, manche Teilbereiche der akademischen Philosophie seien vornehmlich damit beschäftigt, ausgedachte Lösungen für ausgedachte Probleme zu verhandeln, wird nicht in allen Passagen dieses Buches Falsifikationsmaterial finden, das ihn eines Besseren belehren würde.
V. Ein im deutschen Sprachraum immer noch viel zu wenig beachtetes Werk ist die monumentale Trilogie von Deirdre McCloskey: • Band 1 – McCloskey (2006) – diskutiert ausführlich einen Katalog von sieben bürgerlichen Tugenden, wobei drei Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) christlichen Ursprungs sind und als feminin gekennzeichnet werden, während die anderen vier Tugenden (Mut, Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung) heidnischen Ursprungs sind und teilweise als maskulin (Mut und Mäßigung) bzw. teilweise als androgyn (Klugheit und Gerechtigkeit) gekennzeichnet werden. • Band 2 – McCloskey (2010) – charakterisiert die bürgerliche Gesellschaft als Wachstumsgesellschaft und vertritt die These, dass die üblichen Theorien, mit denen Wirtschaftshistoriker und Ökonomen das Entstehen und die enorme Zunahme von Massenwohlstand (mindestens um den Wachstumsfaktor 16!) zu erklären versucht haben, nicht befriedigen können. Aus ihrer Sicht wurde der in der Menschheitsgeschichte bislang einmalige Vor-
Vorwurf der Schizophrenie aus, den Michael Stocker gegen den Konsequentialismus und die deontologische Ethik als paradigmatische Formen der modernen Ethik gerichtet hatte – eine Kritik, die entscheidend dazu beigetragen hat, dem Projekt einer Tugendethik als konkurrierendem Paradigma normativer Ethik den Weg zu ebnen.« Zum gesamten Fragenkomplex vgl. Halbig (2013; S. 282–297 sowie S. 343–350).
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Weiterführende Hinweise
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gang einer allgemeinen und nachhaltigen Anhebung des durchschnittlichen Lebensstandards nicht durch Handel oder Kapitalakkumulation oder institutionelle Innovationen ausgelöst, auch nicht durch Kohleenergie oder das Aufkommen der Wissenschaft, sondern durch einen Wertewandel, der dem durchschnittlichen Bürger Würde und Freiheit einräumte und ihn ermutigte, die bürgerlichen Tugenden zu leben. Band 3 – McCloskey (2016) – buchstabiert die These aus, dass es Ideen waren und nicht Kapital oder Institutionen, die die bürgerliche Gesellschaft in eine Wachstumsgesellschaft transformiert haben: Um 1700 habe in den Niederlanden und vor allem in Großbritannien eine grundlegende Neubewertung der moralischen Maßstäbe stattgefunden. Der gemeine Bürger sei ehrenwert geworden. Diese dramatische Aufwertung bürgerlicher Tugenden habe den säkularen Wachstumsprozess ausgelöst, der mittlerweile alle Erdteile erfasst hat. Diese Diagnose läuft auf folgende Pointe hinaus: Um 1848 habe eine intellektuelle Umkehr stattgefunden. Seitdem gebe es eine stark anti-kapitalistische Schieflage der öffentlichen Diskussion, die die Fortsetzung der Wachstumserfolge in Frage stelle. Das um moralische Aufklärung bemühte Leitmotiv der Trilogie lautet: »Rhetoric made us, but can readily unmake us.« 40
VI. Ein weiterer Hinweis gilt einem Buch von Steven Pinker. 41 In diesem Buch wird der für die letzten Jahrtausende, Jahrhunderte und Jahrzehnte zu beobachtende empirische Trend abnehmender zwischenmenschlicher Gewalt umfassend dokumentiert und zu erklären versucht. Sein Vorwort beginnt Pinker (2011; S. xxi) mit einer paukenschlagartigen Ankündigung: »This book is about what may be the most important thing that has ever happened in human history. Believe it or not – and I know that most people do not – violence has declined over long stretches of time, and today we may be living in the most peacable era in our species’ existence.« So die Überschrift von »Part X« bei McCloskey (2016; S. 587, im Original hervorgehoben). 41 Vgl. Pinker (2011). Für die deutsche Fassung vgl. Pinker (2011, 2013). 40
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Für die hier interessierenden Zusammenhänge ist besonders aufschlussreich, welche Begründung der Autor dafür anführt, dass er das Faktum abnehmender Gewalt für extrem wichtig hält. Pinker (2011; S. xxi) schreibt: »How … are we to make sense of modernity – of the erosion of family, tribe, tradition, and religion by the forces of individualism, cosmopolitanism, reason, and science? So much depends on how we understand the legacy of this transition: whether we see our world as a nightmare of crime, terrorism, genocide, and war, or as a period that, by the standards of history, is blessed with unprecedented levels of peaceful coexistence.« Aus seiner Sicht ist es von eminenter Bedeutung – für unser individuelles Wohlbefinden ebenso wie für das Florieren der modernen Gesellschaft –, welches Bild wir von der Moderne haben: ob wir die Gesellschaft im Verfallsparadigma wahrnehmen und glauben, früher sei alles besser gewesen – oder ob wir umfassend bilanzieren und neben den Verlusten auch die materiellen und immateriellen Gewinne ins Blickfeld rücken, die sich mit der Moderne verbinden. Vor diesem Hintergrund gilt ein abschließender Hinweis dem überaus informativen Buch, das Jan Luiten van Zanden et al. unter dem Titel »How Was Life? Global Well-Being since 1820« herausgegeben haben. 42 Es enthält eine umfassende Dokumentation globaler empirischer Trends und hilft dabei, sich einen fundierten Überblick über die bisherige Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand der modernen Welt zu verschaffen.
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42
Vgl. van Zanden et al. (2014).
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Kurzangaben zu den Autoren
Prof. Luigino Bruni ist ordentlicher Professor für Wirtschaftswissenschaften an der LUMSA-Universität in Rom. Dr. Gerhard Engel ist Präsident der Humanistischen Akademie Bayern in Nürnberg und Mitherausgeber der Zeitschrift »Aufklärung und Kritik«. Sebastian Everding, M.Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Johannes Fioole, M.A., M.Ed., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der GeorgAugust-Universität zu Göttingen. PD Dr. Christoph Henning ist Junior Fellow für Philosophie am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Dr. Stefan Hielscher ist Prize Fellow Business & Society an der University of Bath, UK. Prof. Dr. Gerhard Minnameier ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik und Wirtschaftspädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt. Prof. Dr. Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Birger P. Priddat ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaft und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke.
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Kurzangaben zu den Autoren
Prof. Dr. Christian Rennert ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensführung am Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften der TH Köln. Prof. Dr. Michael Schramm ist Inhaber des Lehrstuhls für »Katholische Theologie und Wirtschaftsethik« an der Universität Hohenheim. Prof. Dr. Richard Sturn ist Leiter des Graz Schumpeter Centrums und des Instituts für Finanzwissenschaft und öffentliche Wirtschaft der Karl-Franzens-Universität Graz. Prof. Robert Sugden ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of East Anglia in Norwich. Prof. Dr. Reinhard Zintl ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Trimberg Research Academy der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
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