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German Pages 335 [336] Year 2009
Erich Frauwallner Die Philosophie des Buddhismus
Erich Frauwallner DIE PHILOSOPHIE DES BUDDHISMUS Fünfte Auflage Mit einem Vorwort von Eli Franco und Karin Preisendanz
Akademie Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004531-3
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: HSB Telecom & Multimedia, Altenmünster Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
MEINEM VEREHRTEN FREUND ETIENNE LAMOTTE GEWIDMET
INHALT Vorwort (Eli Franco und Karin Preisendanz) Appendix I Frauwallners Skizze für seine Geschichte der indischen Philosophie Appendix II Bibliographie der Schriften Erich Frauwallners Appendix III Weiterführende und ergänzende Literatur zum südasiatischen Buddhismus (Auswahl) Einleitung
XI
XXXI XXXIV
XLI 1
A. DIE LEHRE DES BUDDHA Der Buddha (um 560-480 v. u. Z.)
6
Die Predigt von Benares (Dharmacakrapravartanasütram)
7
Der buddhistische Erlösungsweg
9
Änanda
12
Das Sütra von Vatsagotra und dem Feuer (Aggivacchagottasuttantam) . . 13 Das Sütra vom Lastträger (Bhärahärasütram) Der Lehrsatz vom abhängigen Entstehen Der Bericht von der Erleuchtung (Bodhikathä)
16 17 18
Das große Sütra von den Grundlagen des Entstehens (Mahänidänasuttantam)
20
Das Sütra vom abhängigen Entstehen (Pratityasamutpädasütram)
25
Aus Vasubandhus „Kommentar zum Sütra vom abhängigen Entstehen" (PratTtyasamutpädavyäkhyä)
28
Das Sütra von der jungen Reispflanze (Sälistambasütram)
31
B. DIE DOGMATIK DES HÏNAYÂNA Die Entstehung der buddhistischen Schulen
38
Die philosophischen Hauptlehren des Sarvästiväda
39
Aus den „Fragen des Menandros" (Milindapañhá) Vasubandhu der Jüngere (um 400-480 n. u. Z.)
42 47
Vili
Inhalt
Aus der „Schatzkammer des Abhidharma" (Abhidharmakosah) (Es gibt keine Seele)
48
Aus der „Widerlegung der Person" (Pudgalapratisedhaprakaranam).... 54 Aus der „Schatzkammer des Abhidharma" (Abhidharmakosah) (Es gibt keine Substanz, S. 63; Die Augenblicklichkeit der Dinge, S. 65) Die Dogmatik des Sarvästiväda Aus dem „Werk über die fünf Gruppen" (Pañcaskandhakam) Die Schule der Sauträntika Aus der „Schatzkammer des Abhidharma" (Abhidharmakosah) (Das scheinbar und das wahrhaft Wirkliche, S. 76; Das Wesen der Erlangung, S. 77) Die Erlösungslehre des HInayäna
63 69 69 74
75 79
Aus der „Schatzkammer des Abhidharma" (Abhidharmakosah) (Die Unterdrückung durch Erkenntnis, S. 82; Das Nirvana als ein Nichtsein, S. 83)
82
Aus dem „Nachweis der Wahrheit" (Tattvasiddhih)
85
C. DIE SCHULEN DES MAHÄYÄNA 1. Die Madhyamaka-Schule
90
Die Anfange des Mahäyäna
90
Die Sütren des Mahäyäna
91
Die Prajfiäpäramitä-Literatur
92
Aus der „Vollkommenheit der Einsicht in achttausend Verszeilen" (Astasähasrikä Prajüäpäramitä) Aus dem „Juwelenhaufen" (Ratnakütah) Nägärjuna (um 200 n. u. Z.)
95 103 107
Aus den „Merkversen der mittleren Lehre" (Madhyamakakärikä). . . .
112
Aus der „Streitabwehrerin" (Vigrahavyâvartanï)
129
Aus der „Juwelenkette" (Ratnävali) Äryadeva (Anfang des 3. Jahrhunderts n. u. Z.) Aus dem „Werk in vierhundert Strophen" (Catuhsatakam) Buddhapälita (etwa 5. Jahrhundert n. u. Z.) Aus dem „Kommentar zu den Merkversen der mittleren Lehre" (Mülamadhyamakavrttih) Bhävaviveka (Mitte des 6. Jahrhunderts n. u. Z.)
134 141 143 144 145 146
Inhalt
IX
Aus der „Leuchte der Einsicht" (Prajflâpradïpah)
147
Aus dem „Juwel in der Hand" (Tchang tchen)
151
Candraklrti (7. Jahrhundert n. u. Z.)
156
Aus der „Wortklaren" (Prasannapadä)
157
Aus der „Einführung in die Madhyamaka-Lehre" (Madhyamakävatärah)
162
2. Die Schule Säramatis
165
Säramati (um 250 n. u. Z.)
166
Aus der „Erläuterung des Keimes der (drei) Juwelen" (Ratnagotravibhägah)
167
3. Die Schule der Yogäcära
172
Die Anfänge der Yogäcära-Schule
173
Aus der „Stufe des Bodhisattva" (Bodhisattvabhümih)
176
Aus der „Erläuterung des geheimen Sinnes" (Samdhinirmocanasütram)
185
Maitreyanätha (um 300 n. u. Z.)
192
Aus dem „Schmuck der Sütren des Mahäyäna" (Mahäyänasüträlamkärah)
201
Aus der „Erläuterung der Mitte und der Extreme" (Madhyäntavibhägah) Asañga (um 315-390 n. u.Z.)
212 214
Aus der „Zusammenfassung des Mahäyäna" (Mahäyänasamgrahah) . . 220 Vasubandhu der Ältere (um 320-380 n. u. Z.) Der „Nachweis, daß (alles) nur Erkenntnis ist, in zwanzig Versen" (Vimsatikä Vijflaptimätratäsiddhih)
229 240
Der „Nachweis, daß (alles) nur Erkenntnis ist, in dreißig Versen" (Trimsikä Vijflaptimätratäsiddhih) Dignäga (um 480-540 n. u. Z.)
252 256
Aus der „Zusammenstellung der Mittel richtiger Erkenntnis" (Pramänasamuccayah) Sthiramati und Dharmapäla (Mitte des 6. Jahrhunderts n. u. Z.)
257 258
Aus Hiuan-tsangs „Nachweis, daß (alles) nur Erkenntnis ist" (Tch'eng wei che louen)
262
Quellen und Literatur
267
Ergänzende Bemerkungen Sach-und Namenverzeichnis
273 278
Vorwort1 Mehr als fünfzig Jahre sind seit dem ersten Erscheinen des vorliegenden Bandes verstrichen. Warum nun dieser Neudruck? Als einer der beiden Autoren dieses Vorwortes vor etwa dreißig Jahren sein Studium der Philosophie begann, zeigte ihm sein Lehrer, Professor Ben-Ami Scharfstein, Frauwallners Philosophie des Buddhismus und sagte: „Dies ist das beste Buch, das jemals über buddhistische Philosophie geschrieben wurde." Ist ein solches Urteil auch heute noch gültig? In unseren Augen ist das sicherlich der Fall. Die kurzen Einleitungen zu den verschiedenen philosophischen Traditionen sind informativ, präzis und klar, die Übersetzungen sehr zuverlässig. Außerdem ist die Form der Darstellung, die allgemeine Überblicke, Einführungen in das Denken individueller Philosophen und umfangreiche wörtliche Übersetzungen verknüpft - also eine Darstellungsform, die sich zwischen einem einfuhrenden Überblick und einer Anthologie bewegt - , sehr glücklich gewählt; unseres Wissens ist sie in der Literatur zum Buddhismus in europäischen Sprachen einmalig. 2 Sie spiegelt auch Frauwallners feste Überzeugung wider, dass Übersetzungen so wörtlich wie möglich sein sollten; im anderen Falle sind sie für ihn keine Übersetzungen mehr, sondern Bearbeitungen der zugrunde liegenden Texte. 3 Die Übersetzungen spiegeln zudem Frauwallners Praxis wider, philosophische Fachbegriffe im Sanskrit mit Ausdrücken zu übersetzen, die - zumindest seiner Ansicht nach - ungefähr das vermitteln,
1
Wir möchten an dieser Stelle Frau Anne MacDonald für ihre sehr nützlichen und einsichtsreichen Bemerkungen zu einer früheren englischsprachigen Version dieses Vorwortes danken, sowie für ihre wertvollen, auf die Struktur der Darstellung bezogenen Vorschläge. Ferner sind wir Herrn Vincent Eltschinger für seine sorgfaltige Lektüre der letzten englischen Version, die hier leicht modifiziert ins Deutsche übertragen wurde, zu Dank verpflichtet. Frau Judith Starecek danken wir für ihre Unterstützung bei der Erstellung der englischen wie auch der deutschen Version, ferner Herrn Christian Ferstl und Frau Alexandra Böckle für ihre Durchsicht des neugesetzten Textes des Buches.
2
Obwohl es Dutzende allgemeiner Einführungen in den Buddhismus gibt, gibt es nur sehr wenige, die ausschließlich der buddhistischen Philosophie gewidmet sind.
3
Siehe G. Oberhammer und Ch. H. Werba (Hrsg.), Erich Frauwallner, Nachgelassene Werke II. Philosophische Texte des Hinduismus. Wien 1992, S. 7: „Eine Übersetzung hat dem der Sprache unkundigen Leser möglichst getreu zu vermitteln, was das Original enthält.... Sonst ist sie keine Übersetzung mehr, sondern eine Bearbeitung."
XII
Vorwort
was der jeweilige Begriff einem indischen Leser primär vermittelt hätte.1 Trotz der aus heutiger Sicht fragwürdigen Grundannahme und Vorgehensweise bleibt Frauwallners große Leistung in diesem Buch unerreicht. Das ursprüngliche Manuskript des vorliegenden Bandes war Bestandteil eines größeren Werkes. In seiner Geschichte der indischen Philosophie1 kündigt Frauwallner die bevorstehende Veröffentlichung eines Begleitbandes mit ausgewählten Übersetzungen in der Serie Philosophische Lesebücher beim B. Funck-Verlag in München an. Aus unbekannten Gründen zog er sein Manuskript zurück und erwog später, es bei einem anderen Verleger in Wien zu publizieren. Als der Berliner Indologe Walter Ruben ihn jedoch 1955 einlud, einen Band zur buddhistischen Philosophie in der Serie Texte der indischen Philosophie beizutragen, nahm er das Angebot an und sah in der Folge von der Veröffentlichung der Teile, die er bereits zur nicht-buddhistischen Philosophie geschrieben hatte, ab. Von den insgesamt 550 Seiten des ursprünglichen Manuskripts nahm der Teil zur buddhistischen Philosophie die Seiten 103 bis 463 ein.3 Die Seiten 464-512 wurden separat unter dem Titel Aus der Philosophie der sivaitischen Systeme veröffentlicht (Berlin 1962). Die verbliebenen Teile wurden nach Frauwallners Tod von seinem Nachfolger Gerhard Oberhammer zusammen mit Chlodwig H. Werba herausgegeben. 4 Die Philosophie des Buddhismus erlebte bisher vier Auflagen beim Akademie Verlag, Berlin. Auf die Erstauflage von 1956 folgte 1958 eine zweite, unveränderte Auflage. Die dritte Auflage von 1969 wird als revidierte Auflage bezeichnet; der einzige Unterschied zur ersten und zweiten Auflage scheint jedoch in der Hinzufügung eines neues Vorwortes von Walter Ruben und ergänzender Bemerkungen Frauwallners auf S. 418-425 zu bestehen. Der Index der Begriffe und Namen wurde entsprechend auf S. 426-431 verschoben. Beide Änderungen sind allerdings im Inhaltsverzeichnis der dritten Auflage nicht berücksichtigt worden. Die vierte Auflage wurde 1994 nach der Wiedervereinigung Deutschlands veröffentlicht. Sie unterscheidet sich von der dritten Auflage nur durch das Fehlen des Vorworts von Walter Ruben. Der vorliegende Neudruck mit Korrekturen des Originals basiert auf dieser vierten Auflage.
1
2 3 4
A.a.O., S. 8: „Ich habe daher Übersetzungen gewählt, die etwa das Selbe ausdrücken, was für die Inder das betreffende Wort zunächst besagt." Die Frage der angemessenen Übersetzung philosophischer Begriffe aus dem Sanskrit ist oft diskutiert worden; ein rezenter Überblick über die relevante Literatur mit einer scharfsinnigen Analyse und reichhaltigen bibliographischen Verweisen findet sich bei D. Seyfort Ruegg, „La traduction de la terminologie technique de la pensée indienne et bouddhique depuis Sylvain Lévi", in: L. Bansat-Boudon und R. Lardinois (Hrsg.), Sylvain Lévi (1863-1935). Études indiennes, histoire sociale. Turnhout 2007, S. 145-171. Siehe Band I, S. 5. Siehe G. Oberhammer und Ch. H. Werba (wie oben S. XI, Fußnote 3), S. 5. Siehe wieder oben S. XI, Fußnote 3.
Vorwort
XIII
Der erste Teil des Buches (Teil A) „Die Lehre des Buddha" (S. 6-37), hat die vier edlen Wahrheiten und die Lehre vom abhängigen Entstehen zum Schwerpunkt; in diesem Zusammenhang schloss Frauwallner auch einige historisch spätere Materialien ein, wie Vasubandhus Pratityasamutpädavyäkhyä und das Sälistambasütra. In der Tat stellt Frauwallner anderswo kühn fest: „Was er [d.h. der Buddha] Philosophisches zu sagen hat, erschöpfte sich im wesentlichen im Lehrsatz vom ursächlichen Entstehen (pratitya samutpada).'" Auf Teil A folgt ein relativ kurzer Abschnitt (Teil B) zur Scholastik (Abhidharma) des „Kleinen Fahrzeugs" oder konservativen Buddhismus (Hïnayâna) (S. 38-89), der hauptsächlich die Lehre vom Nicht-Selbst (anätman) behandelt. Frauwallner stellt dabei zu Recht fest (S. 39), dass der Buddha die Existenz einer beständigen Seele keineswegs ablehnte, sondern lediglich verneinte, die fünf Konstituenten der empirischen Persönlichkeit (pañcaskandha) könnten mit einer solchen Seele identifiziert werden. Der Großteil des Buches (Teil C, S. 90-266) ist der Philosophie des „Großen Fahrzeugs" (Mahäyäna) gewidmet. Frauwallner unterscheidet drei Schulen: Madhyamaka, Tathägatagarbha (von ihm „Schule des Säramati" genannt2) und Yogäcära.3 Frauwallners Darstellung der Philosophie des Madhyamaka ist im Allgemeinen sehr klar und auf den Punkt gebracht. Es ist lediglich zu bedauern, dass er die Argumentation Nägäijunas, der Gründerfigur des Madhyamaka, nicht
1
2
3
„Indische Philosophie", S. 52 = Kleine Schriften (im folgenden Kl. Sehr.), S. 4. Alle Literaturverweise ohne Angabe des Namens des Autors beziehen sich im Folgenden auf Schriften Frauwallners, die in seiner unten in Appendix II beigefügten Bibliographie angeführt sind. Frauwallner folgt hierin der chinesischen Tradition, die den Ratnagotravibhäga einem gewissen Säramati zuschreibt. Diese Benennung verweist jedoch auch auf Frauwallners ständige Bemühung, den in einem unpersönlichen Stil geschriebenen philosophischen Werken Indiens einen individualistischen Zug zu verleihen, um sie ansprechender zu machen; siehe „Indische Philosophie", S. 49 (= Kl. Sehr., S. 1): „Wir treffen ... in ihr [d.h. der indischen Philosophie] nicht die großen und eigenartigen Persönlichkeiten, welche die Beschäftigung mit der griechischen Philosophie so anziehend machen." Siehe auch unten, S. 92, wo Frauwallner feststellt, dass „die vorliegende Darstellung vor allem die persönlich fassbaren Philosophen vorführen [soll]". Diese Tendenz ist auch in Frauwallners Geschichte der indischen Philosophie ersichtlich, wo er die Evolutionslehre des Sämkhya, hier lediglich als „bequeme Arbeitshypothese", einem philosophischen Lehrer namens Paücasikha zuschreibt (Band I, S. 300). Von besonderer Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang Frauwallners brillanter Versuch, die Erkenntnislehre des Sämkhya-Philosophen Vrsagana (oder Värsaganya) in seinem verloren gegangenen Werk mit dem Titel Sastitantra zu rekonstruieren. Weitere Beispiele für diese Vorliebe Frauwallners zeigen sich in seinen Mlmämsä-Studien, in denen er die Lehren eines anonymen Kommentators (Vrttikära) and des Mîmâmsâ-Philosophen Bhavadäsa zu rekonstruieren sucht. Gemäß der tibetischen Überlieferung bildet die Tathägatagarbha-Tradition keine separate Schule, sondern ist im Yogäcära eingeschlossen.
XIV
Vorwort
sehr ernst nahm. Er bemerkt lediglich, dass weder Nägäijuna noch seine Zeitgenossen in der Lage waren, den seiner Argumentation zugrunde liegenden Fehler zu erkennen: „Den Fehler, der dieser Folgerung zugrunde liegt, vermochte weder er noch seine Zeit zu erkennen" (S. 173). Es muss natürlich offen bleiben, wie Frauwallner zu der rezenten Kontroverse über Nägäijunas Argumente und ihre metaphysischen Voraussetzungen zwischen Claus Oetke, David Seyfort Ruegg und anderen Buddhismuswissenschaftlern Stellung genommen hätte, aber er hätte wahrscheinlich die Partei der „Existentialisten" ergriffen, die annehmen, dass die Welt der Phänomene gemäß Nägäijuna eine beschränkte Wirklichkeit hat.1 Es ist ferner bemerkenswert, dass Frauwallner die RatnävalT fur ein authentisches Werk Nägäijunas hielt oder seine traditionelle Zuschreibung an ihn für gegeben erachtete. In den letzten Jahrzehnten wurde die Authentizität dieses Werkes jedoch mehrfach bezweifelt. Der Yogäcära war wahrscheinlich Frauwallners „Lieblingssystem", als er die Philosophie des Buddhismus verfasste; auf jeden Fall ist der Behandlung des Yogäcära im vorliegenden Band mehr Platz gewidmet als irgendeiner anderen Schule. Auch hier ist Frauwallners Leistung beträchtlich. Er bestimmte die Yogäcärabhümi als ein älteres Yogäcära-Werk (heute wird sie sogar als das älteste betrachtet), erkannte zu Recht ihre kompilierte und heterogene Natur und stellte ihre Zuschreibung an Maitreyanätha oder Asañga in Frage. Von Bedeutung ist auch Frauwallners Unterscheidung zwischen Werken, die er Maitreyanätha zuschreibt, den er - gegen die indische Tradition - fur eine historische Persönlichkeit hielt,2 und solchen, denen er Asañga als Autor zuweist (siehe S. 4 und 192). Gemäß Frauwallner besteht Maitreyanäthas Leistung darin, dass er eine Systematisierung älterer Materialien vornahm und sie zu einem kohärenten Ganzen formte. Bedeutende Komponenten sind Frauwallner zufolge dabei Säramatis Lehren über das höchste Sein und seine besondere Doktrin der Buddhaschaft; wesentlich ist auch die alte YogäcäraLehre von den drei Merkmalen (aus dem Sandhinirmocanasütra bekannt, siehe S. 195), die von Maitreyanätha vervollständigt und bereichert wurde. Frauwallner weist schließlich noch auf den Einfluss des Madhyamaka hin, der besonders darin sichtbar ist, dass Maitreyanätha versucht, seine Lehre als den wahren mittleren Weg zu präsentieren, und den Begriff der Leerheit (sünyatä) verwendet, wenn auch in einer anderen Bedeutung als im Madhyamaka. Die erlösende Einsicht erfolgt gemäß seiner Lehre in Form einer Erkenntnis, die frei von begrifflicher Vorstellung ist (nirvikalpakaßäna); ihre Folge wird als „Umwandlung der Grundlage" (äsrayaparivrtti) bezeichnet. Asangas Leistung hingegen besteht gemäß Frauwallner in der Anpassung und Einschließung der Scholastik des Hinayäna; darüber hinaus integrierte er den größten Teil der alten soteriologischen Scholastik fest in sein System (S. 214).
1 2
Siehe auch „Indische Philosophie", S. 56 (= Kl. Sehr., S. 8). Siehe auch oben S. XIII, Fußnote 2.
Vorwort
XV
Frauwallners Hypothese zu Maitreyanätha und Asañga wurde von Paul Demieville und David Seyfort Ruegg sowie jüngst von Klaus-Dieter Mathes kritisch untersucht; letzterer bietet eine handliche Zusammenfassung der vorangegangenen Forschung zum Thema. 1 Mathes scheint einer zweifachen Autorschaft, wie sie von Frauwallner angenommen wird, zuzustimmen, 2 weist jedoch darauf hin,3 dass die in den Werken Maitreyanäthas und Asangas feststellbaren Unterschiede nicht widersprüchliche Positionen berühren (die zentrales Zeugnis fur die Annahme zweier verschiedener Autoren wären), sondern darin begründet sind, dass ihre Werke verschiedenen Themenbereichen gewidmet sind. Es scheint uns, dass diese Position letztendlich der Argumentation für die Existenz zweier verschiedener Autoren ihre Grundlage entzieht, obwohl Mathes selbst einen solchen Schluss nicht zieht.4 Nicht unerwähnt bleiben darf Frauwallners Theorie der Existenz zweier Autoren namens Vasubandhu. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum anzunehmen, dass Frauwallner den einen für einen Hïnayâna-Realisten hielt, den anderen für einen Mahäyäna-Idealisten. Tatsächlich ließ er die in diesem Kontext relevante Frage nach der Identität des Autors der Vimsatikä und der Trimsikä offen, als er seine Monographie Ort the Date of the Buddhist Master of the Law Vasubandhu (Rom 1951) schrieb. Im vorliegenden Band (S. 230) stellt er jedoch ausdrücklich fest, dass beide Werke von Vasubandhu dem Jüngeren verfasst wurden, d.h. vom Autor des scholastischen Werkes Abhidharmakosa. Seine Behauptung ist in diesem Kontext etwas rätselhaft, weil man sich dann fragt, warum beide Werke die einzigen übersetzten Stücke im Kapitel über Vasubandhu den Älteren darstellen, d.h. über den Mahäyäna-Idealisten, den Frauwallner für einen Bruder Asañgas hielt. Wie dem auch sei, die Theorie der zwei Vasubandhus wurde zwischenzeitlich ernsthaft erschüttert. Zunächst wurde von Lambert Schmithausen überzeugend dargelegt, dass sich einige enge Parallelen zwischen dem Lankävatärasütra und der Trimsikä nicht durch Bezug auf eine dritte, gemeinsame Quelle erklären lassen, sondern vielmehr daraufhinweisen, dass das Lankävatärasütra aus der Trimsikä zitiert.5 Nun stammt die früheste erhaltene chinesische Übersetzung des
'
Siehe K.-D. Mathes, Unterscheidung der Gegebenheiten von ihrem wahren Wesen (Dharmadharmatävibhäga). Swisttal-Odendorf 1996, S. 11 ff.
2
Er weist jedoch die Annahme zweier verschiedener Autoren für den Ratnagotravibhäga auf der einen Seite und die Maitreya-Werke auf der anderen Seite zurück; siehe a.a.O., S. 13.
3
Siehe a.a.O., S. 15.
4
Es ist bemerkenswert, dass Frauwallner in seinem Aufsatz „Indische Philosophie", der 1959 veröffentlicht wurde, nur auf Asañga und Vasubandhu als „Schulhäupter" des Yogäcära Bezug nimmt (siehe S. 56 = Kl. Sehr., S. 8). Maitreyanätha wird in diesem Aufsatz nirgends erwähnt.
5
Siehe L. Schmithausen, „A Note on Vasubandhu and the Lankävatärasütra", Asiatische Studien / Études Asiatiques XLVI. 1 (1992), S. 392-397.
XVI
Vorwort
Lankävatärasütra aus dem Jahr 443 u. Z. (eine frühere Übersetzung, datiert auf 433, scheint unwiederbringlich verloren zu sein). Wahrscheinlich aus Respekt gegenüber seinem Lehrer versuchte Schmithausen, die Implikationen seiner eigenen Studie zu Vasubandhus Datierung herunterzuspielen, indem er abschließend feststellte, die Lebenszeit des jüngeren Vasubandhu, der gemäß Frauwallner von 400-480 lebte, sei einige Jahrzehnte nach vorn zu verschieben, „fünf oder sechs, oder sogar weniger". Dieser Schluss ist jedoch zu konservativ. Sollte er zutreffend sein, so müssten wir annehmen, dass nicht mehr als zehn Jahre zwischen der Abfassung der Trimsikä und des Lankävatärasütra vergingen, der Abstand zwischen der Abfassung des Lankävatärasütra und seiner Übersetzung ins Chinesische nicht mehr als zehn Jahre betrug und die relevante Parallelstelle eine spätere Hinzufügung ist und in der im Jahr 433 übersetzten, verlorenen Version des Sütra noch fehlte. Selbst wenn alle drei Annahmen zutreffen sollten, müsste Vasubandhus Datum eher um sechs Jahrzehnte vorgezogen werden, nicht um fünf oder sogar weniger.1 Wenn man auf der anderen Seite ein Minimum von zwanzig Jahren zwischen der Abfassung des Lankävatärasütra und seiner Übersetzung ins Chinesische zugesteht und ein Minimum von weiteren zehn Jahren zwischen der Abfassung der beiden Werke, oder die relevante Passage nicht als spätere Einfügung in das Lankävatärasütra ansieht, bedeutet dies, dass Frauwallners Datierung des jüngeren Vasubandhu um mindestens siebzig bis achtzig Jahre nach vorn zu korrigieren ist, da Vasubandhu kurz nach der Abfassung der Trimsikä verstorben sein soll. Damit werden die beiden Vasubandhus fast zu Zeitgenossen, da Frauwallner als Lebenszeit Vasubandhus des Älteren 320-380 ansetzt.2 In den „ergänzenden Bemerkungen" zum Hauptteil des vorliegenden Bandes (siehe unten, S. 277) nimmt Frauwallner an, dass Schmithausens Untersuchung der Sauträntika-Voraussetzungen in Vimsatikä und Trimsikä3 seine Ansicht stützt, beide Werke seien dem jüngeren Vasubandhu zuzuschreiben. Wie andernorts ausgeführt, 4 kann die Tatsache, dass das älayavijnäna genannte untergründige Bewusstsein („Schatzkammerbewußtsein" in Frauwallners Übersetzung), das die Annahme eines vielschichtigen Erkenntnisstroms voraussetzt, in der Vimsatikä nicht erwähnt wird, nicht als Hinweis auf die Anerkennung
1
Man könnte natürlich auch annehmen, dass lediglich ein Jahr die Abfassung der beiden Werke trennte und das Lankävatärasütra sofort ins Chinesische übersetzt wurde, doch wäre eine solch schnelle zeitliche Abfolge sehr unwahrscheinlich.
2
Die Annahme, dass dieser Vasubandhu nur sechzig Jahre lang lebte, im Gegensatz zu achtzig Jahren, ist natürlich rein hypothetisch und folgt lediglich Frauwallners Konvention, für Philosophen, über deren Lebensdauer nichts weiteres bekannt ist, eine Lebensspanne von sechzig Jahren anzusetzen; siehe seine „Landmarks in the History of Indian Logic", S. 129 (= Kl. Sehr., S. 851).
3
Siehe L. Schmithausen, „Sauträntika-Voraussetzungen in der Vimsatikä und Trimsikä", WZKS 11 (1967), S. 109-136.
4
Siehe E. Franco, Dharmakîrti on Compassion and Rebirth. Wien 1997, S. 77-78.
Vorwort
XVII
eines einschichtigen Erkenntnisstroms seitens Vasubandhu verstanden werden. Wenn wir diesen Schluss ziehen, müssten wir annehmen, dass Vasubandhu die Vorstellung des älayavijnäna in seiner Karmasiddhi vertrat, sie in der Vimsatikä ablehnte und in der Trimsikä wieder akzeptierte. Die Annahme, die Vimsatikä sei vor der Karmasiddhi verfasst worden, würde jenes Problem nicht lösen, weil sie beinhalten würde, dass Vasubandhu die Lehre, dass alles nur Bewusstsein ist (vijnaptimätratä), in der Vimsatikä vertrat, in der Karmasiddhi zurückwies und dann in der Trimsikä wieder vertrat. All das soll natürlich nicht implizieren, dass Yasomitra in seinem Kommentar zu Vasubandhus Abhidharmakosa mit dem Ausdruck „der alte Vasubandhu" (vrddhavasubandhu) nicht auf einen anderen Vasubandhu Bezug nahm. Dieser Vasubandhu war jedoch offensichtlich ein HTnayäna-Scholastiker und es gibt keinerlei Evidenz dafür, ihn mit dem Bruder Asañgas in Verbindung zu bringen, wie Frauwallner es getan hat.1 Schon lange bevor Frauwallner seine Theorie der beiden Vasubandhus entwickelt hatte, stellte de La Vallée Poussin fest: „Es ist eine verzweifelte Hypothese, den Bruder und Konvertiten Asañgas mit dem Alten Vasubandhu zu identifizieren."2 Frauwallners Hypothese der zwei Vasubandhus kann zur Zeit sicherlich nicht definitiv widerlegt werden, aber es gibt immer weniger Zeugnisse, die für sie sprechen.3 Problematisch an jeder Hypothese dieser Art ist, dass sie eine Kohärenz und Einheit im Denken der alten Autoren voraussetzt, die man nicht einmal im Traum für unsere Zeitgenossen annehmen würde. Man stelle sich vor, wie viele Voltaires, Diderots und Heines man annehmen könnte, würde man nicht wissen, dass sie tatsächlich alle ihnen zugeschriebenen Werke verfassten. Was die allgemeine Darstellung der buddhistischen Philosophie im vorliegenden Band betrifft, so sind zwei Dinge bemerkenswert, die im Lichte der beschriebenen Ansichten Frauwallners verständlich werden. Zunächst ist für Frauwallner Philosophie im Grunde auf Ontologie oder Metaphysik beschränkt. 1
Siehe On the Date of the Buddhist Master of the Law Vasubandhu, S. 21.
2
Siehe L. de La Vallée Poussin, L 'Abhidharmakosa de Vasubandhu, Band I. Nachdruck Brüssel 1980, Introduction, S. xxvii.
3
Eine aktuelle Diskussion findet sich in R. Kritzer, Vasubandhu and the Yogäcärabhümi. Yogäcära Elements in the Abhidharmakosabhäsya. Tokio 2005, S. xxiiff. Kritzers Diskussion hat das zusätzliche Verdienst, auch die japanischen Untersuchungen zu diesem Thema einzubeziehen; er weist darauf hin, dass ,,[i]m Allgemeinen japanische Gelehrte Frauwallners Theorie nicht übernahmen". Rritzer selbst hingegen scheint die Annahme der „Existenz anderer Figuren namens Vasubandhu" zu billigen oder ihr gegenüber zumindest aufgeschlossen zu sein. Ausgehend von Schmithausens Aufsatz zu Vasubandhu und dem Lankävatärasütra (s. S. XV, Fußnote 5) und unter erneuter Betrachtung der epigraphischen und numismatischen Evidenz sowie unter Berücksichtigung weiterer Literatur stellt ferner Deleanu die überzeugende Hypothese auf, dass Vasubandhu von ca. 350-430 lebte und ca. 390 seine kreative Mahäyäna-Periode begann. Siehe F. Deleanu, The Chapter on the Mundane Path (Laukikamärga) in the Srävakabhümi. A Trilingual Edition (Sanskrit, Tibetan, Chinese), Annotated Translation, and Introductory Study, Band 1, Tokio 2006, S. 186-194.
XVIII
Vorwort
Weder die Epistemologie noch die Ethik erhalten hier den ihnen angemessenen Platz. Ferner schloss Frauwallner, zweifelsfrei einer der größten Gelehrten im Gebiet der erkenntnistheoretischen Tradition des Buddhismus, keinerlei Materialien aus eben dieser Tradition ein. Seine Darstellung von Dignägas Denken ist kursorisch und stellt eigentlich nur eine Art Fußnote zu seiner Darstellung von Vasubandhus Bewusstseinslehre dar; der aus Dignägas Werk übersetzte Teil, drei Strophen aus seinem Pramänasamuccayabetrifft nicht das zentrale Thema der Mittel gültiger Erkenntnis {pramäna), sondern die Einteilung des Bewusstseins in drei Aspekte: Subjekt, Objekt und Selbstbewusstsein. Man kann nun nicht annehmen, dass Frauwallner sich nicht der Wichtigkeit der buddhistischen Logiker bewusst war, weil im Jahre 1956, als der vorliegende Band zuerst veröffentlicht wurde, seine bahnbrechenden Studien zur pramäna-Schule, mit Ausnahme des Aufsatzes „Dignäga, sein Werk und seine Entwicklung", 2 schon lange erschienen waren. Es sieht eher so aus, als hätte Frauwallner es vorgezogen, hier den ontologisch kreativen Teil der buddhistischen Philosophie vorzustellen, der Frauwallners „arischer Komponente" der indischen Philosophie entspricht, die wiederum eine Entwicklungsperiode charakterisiert, deren Höhepunkt er gegen die Mitte des ersten Jahrtausends u. Z. ansetzte (siehe unten, S. XXIII). Am Ende des Kapitels über Vasubandhu (siehe unten, S. 255) stellt Frauwallner fest, dass die logisch-epistemologische Schule des Buddhismus eine reiche Literatur hervorbrachte und ,,eine[n] der Höhepunkte" der indischen Philosophie darstellte; er fügt jedoch knapp, wenn nicht sogar rätselhaft, hinzu, dass „von alledem ... hier abgesehen werden [muss]".
Leben und Werk von Erich Frauwallner Erich Frauwallner, Sohn des Beamten Dr. Friedrich Georg Frauwallner und seiner Frau Maria Barbara Riedler, wurde am 28. Dezember 1898 in Wien geboren. Er erhielt seine weiterführende Schulausbildung zunächst am Staatlichen Gymnasium im 7. Wiener Bezirk, später am Akademischen Gymnasium. 3 Nachdem er am 11. Mai 1916 in die Kaiserliche Armee eingezogen worden war, erhielt Frauwallner am 17. November 1916 während eines Fronturlaubs die so genannte Kriegsmatura. Im Verlaufe des Ersten Weltkriegs nahm er an der „Isonzoschlacht" und an der Rumänienoffensive teil und kehrte dann nach Italien zurück, um in Udine als Fähnrich zu dienen. Zu Ende des Krieges wurde er am 30. November 1918 offiziell aus dem Militärdienst entlassen, obwohl er Wien schon etwas früher erreicht haben muss, da Frauwallner schon im Winter1
Kapitel 1, Strophen 11-13.
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Dieser wichtige Aufsatz erschien im Jahre 1959 (= Kl. Sehr., S. 759-841).
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Alle Einzelheiten zu Frauwallners Leben und seinem akademischen Werdegang in Wien, die auf den folgenden Seiten angeführt sind, entstammen verschiedenen Dokumenten, die im Archiv der Universität Wien aufbewahrt sind.
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semester 1918/1919 an der Universität Wien eingeschrieben war. Unmittelbar darauf wurde er Mitglied des pangermanischen Deutschen Turnerbunds und der Burschenschaft „Vandalia". Frauwallner studierte Klassische Philologie, ergänzt durch Lehrveranstaltungen in Indologie und Iranistik. Nach sechs Semestern, von denen er eines in Schweden an der Universität Göteborg verbrachte, reichte er seine Doktorarbeit in Klassischer Philologie mit dem Titel „De synonymorum quibus animi motus significantur, uso tragico" [„Zu den Synonymen, die seelische Regungen bezeichnen, in ihrer Verwendung in den Tragödien"] ein, die am 30. Juni 1921 angenommen wurde und in der er die Begriffe des Zorns (ira), Hasses (odium) und Leidens (dolor) in den Werken von Aischylos, Sophokles und Euripides untersuchte; er unterzog sich den „strengen Prüfungen" im Juli 1921 und erwarb damit seinen Doktorgrad. Nachdem Frauwallner ein weiteres Jahr studiert hatte, bestand er am 17. Juni 1922 die Lehramtsprüfung für staatliche Gymnasien und erhielt darauf die Stelle eines Lehrers für klassisches Griechisch und Latein an einer Mittelschule im 20. Wiener Bezirk. Frauwallner scheint in seinen Jahren an der Universität nicht besonders stark an der Indologie interessiert gewesen zu sein. Während der fünf Semester an der Universität Wien besuchte er nur vier Lehrveranstaltungen von Leopold von Schroeder, dem Nachfolger von Georg Bühler auf der Lehrkanzel für Indische Philologie und Altertumskunde am Institut für Orientalistik,1 und zwar Sanskritgrammatik (Wintersemester 1918/1919), Sanskrit für Anfanger, Lektüre der Upanishaden (Sommersemester 1919) und Rgveda (Wintersemester 1919/1920). Frauwallner muss sich jedoch diesem Studiengebiet schon bald, nachdem er Bundeslehrer wurde, zugewandt haben. Seine erste indologische Veröffentlichung, der Aufsatz „Untersuchungen zum Moksadharma. Die nichtsämkhyistischen Texte", erschien nämlich bereits im Jahre 1925. Diese frühe Studie hat eine recht trockene Diktion und weist noch nicht den berühmten fesselnden Stil, die tadellose Klarheit und die täuschende Leichtigkeit auf, die wir mit Frauwallners Schriften verbinden. Der Aufsatz zeugt jedoch von einer bemerkenswerten Gelehrtheit und der Methode, die fiir Frauwallners zukünftiges Schaffen kennzeichnend werden wird, nämlich dem Streben, in der philosophischen Literatur Zeugnisse für die historische Entwicklung von Ideen zu finden. 1
Schon damals scheint Frauwallner von Schroeder nicht sehr geschätzt zu haben; auf jeden Fall urteilte er viele Jahre später, im Jahre 1961, als er über „Geschichte und Aufgaben der Wiener Indologie" schrieb, recht hart über ihn. Siehe S. 86 (= Kl. Sehr., S. 28): „ ... als Nachfolger Bühlers versagte er. ... die innere Bindung an seine Wissenschaft fehlte." Siehe auch S. 88 (= Kl. Sehr., S. 30), wo Frauwallner sich auf die zuvor von Hermann Oldenberg geäußerte Kritik bezieht: „Es ist wohl der härteste Vorwurf, der einen Gelehrten treffen kann, wenn ihm von berufenster Seite vorgehalten wird, daß er nicht einmal mehr auf seinem engsten Arbeitsgebiet zu Hause ist." Eine umfangreiche Bibliographie der Schriften Leopold von Schroeders, die auch Publikationen zu ihm und seinem Werk enthält, findet sich in Ch. H. Werba und A. Griffiths, „Leopold von Schroeder: Eine annotierte Bibliographie". WZKS 50 (2006), S. 5-25.
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Die Ergebnisse dieser ersten Untersuchung wurden von Frauwallner viele Jahre später in den Teil über die Yoga-Philosophie in seiner Geschichte der indischen Philosophie integriert. Obwohl die „Untersuchungen zum Moksadharma" Frauwallners ersten publizierten Aufsatz darstellen, ist es gut möglich, dass er erst nach seinen „Untersuchungen zu den älteren Upanischaden" verfasst wurde, die ein Jahr später (1926) erschienen, weil sich Frauwallner in der ersten Anmerkung zu den genannten Moksadharma-Untersuchungen auf die Untersuchungen zu den Upanishaden bezieht. Am 5. Juni 1926 reichte Frauwallner den Aufsatz „Untersuchungen zu den älteren Upanischaden" als Habilitationsschrift im Fachgebiet der Indologie ein. Heutzutage wäre eine Habilitationsschrift mindestens zehnmal so lang, aber selbst damals sah die eingesetzte Kommission ein Problem darin, dass der Umfang von Frauwallners publizierten Schriften recht gering war und sich nur auf einen kleinen Teil der indischen Philosophie bezog. Frauwallner wurde gebeten, weitere Studien vorzulegen, und im Jahre 1928 reichte er das Manuskript einer in Arbeit befindlichen annotierten Übersetzung von Dignägas Älambanapariksä ein (1930 publiziert) sowie ein zum Teil übersetztes Stück aus Dharmakïrtis Pramänavärttika mit dem Kommentar des Devendrabuddhi. Dieses Mal stimmte die Kommission Frauwallners Antrag zu, obwohl ein Mitglied, Theodor Gomperz, bekannt durch seine Arbeiten zur griechischen Philosophie, vorschlug, Frauwallners Habilitation auf das Fachgebiet der indischen Philosophie zu beschränken, da sich sein Werk nur auf diesen Bereich der Indologie bezog. Frauwallner hielt seinen „Probevortrag" am 16. März 1928 über „Die Entwicklung der Philosophie der Upanisaden". Interessanterweise dokumentiert das Protokoll der entsprechenden Kommissionssitzung keine einhellige Begeisterung über den Vortrag. Bernhard Geiger, der seit 1920 sowohl auf dem Gebiet der Indologie als auch der Iranistik als außerordentlicher Professor lehrte und der einzige Indologe in der Kommission war, bemerkte, dass Frauwallner „nicht bis hin zum eigentlichen Thema gelangtfe]" und der Vortrag „formell nicht ganz einwandfrei" war. Gomperz, der bereits Frauwallners Auftritt in seiner Doktorprüfung mit „3" bewertet hatte, damals aber von den beiden anderen Prüfern überstimmt worden war, hielt den Vortrag für „langweilig" und Frauwallner „nicht für die Vertretung einer Lehrkanzel geeignet". Die venia legendi für das gesamte Fach Indologie wurde Frauwallner schließlich am 16. April 1928 verliehen; er begann seine Lehre an der Universität Wien jedoch erst im Wintersemester 1930/1931 auf der Basis eines nicht remunerierten Lehrauftrags. Das Bildungsministerium lehnte den Antrag der philosophischen Fakultät auf Erteilung eines remunerierten Lehrauftrags ab, setzte jedoch Frauwallners schulische Lehrverpflichtung von siebzehn auf zehn wöchentliche Stunden herab. 1930 veröffentlichte Frauwallner den ersten Teil einer Serie von Studien zur buddhistischen Sprachphilosophie, genauer zur Lehre der Erkenntnis der Bedeutung von Worten durch Ausschluss von Anderem (apoha), welche auch die Übersetzung einer ansehnlichen Zahl von Strophen aus dem Pramänavärttika
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enthielt. Zu dieser Zeit war der Sanskrit-Text des Pramänavärttika noch nicht verfügbar und die Übersetzung stützte sich daher allein auf die tibetische Übersetzung. Nun, wo der ursprüngliche Sanskrit-Text verfügbar ist, kann Frauwallners Leistung voll gewürdigt werden. Ein Kollege meinte einmal, dass die tibetische Übersetzung und Frauwallners Übersetzung dieser Übersetzung so hervorragend seien, dass das Endprodukt wie direkt aus dem Sanskrit übersetzt erschiene. Das ist zweifelsohne etwas übertrieben, aber die Qualität von Frauwallners Übersetzung ist in der Tat sehr beeindruckend. Es ist nicht bekannt, wann Frauwallner das Studium des klassischen Tibetisch aufnahm, aber es ist ziemlich sicher, dass er die Kenntnisse dieser Sprache als Autodidakt erwarb, so wie er sich in späteren Jahren ohne Lehrer buddhistisches Chinesisch und modernes Japanisch aneignete. Im Sommer 1934 stellten Geigerund andere Professoren der philosophischen Fakultät einen Antrag auf die Ernennung Frauwallners zum „außerordentlichen Professor". 1 Geiger, der in der zuständigen Kommission als Referent fungierte, betonte die Wichtigkeit von Frauwallners Arbeiten zur buddhistischen pramänaSchule, speziell zu Dignäga und Dharmakïrti. Zwischenzeitlich hatte Frauwallner, zusätzlich zur laufenden Veröffentlichung seiner Studien zur apohaLehre, eine weitere Untersuchung zu Dignäga („Dignäga und Anderes", 1933) und seine grundlegende Arbeit zu den im Nyäyavärttika erhaltenen Fragmenten aus logischen Werken des Buddhismus (ebenfalls 1933 erschienen) publiziert; in der letzteren Arbeit identifizierte er zum ersten Mal Fragmente aus den zwei verloren gegangenen Werken Vasubandhus zur philosophischen Debatte, dem Vädavidhi und dem Vädavidhäna, ferner Fragmente aus Dignägas Pramänasamuccaya und Nyäyamukha. Auf der Grundlage dieser Fragmente und weiterer Bruchstücke, die er aus der tibetischen Übersetzung von Jinendrabuddhis Kommentar zum Pramänasamuccaya, der Pramänasamuccayatikä, isolierte, unternahm er viele Jahre später (1957) seinen brillanten, wenn auch etwas spekulativen Versuch der teilweisen Rekonstruktion von Vasubandhus Vädavidhi. In der zuständigen Sitzung stimmte die überwältigende Mehrheit der Professoren der philosophischen Fakultät (40:1:1) für den Antrag der Kommission auf Erteilung des Titels eines außerordentlichen Professors an Frauwallner; dennoch wurde dem Antrag vom Ministerium, möglicherweise aus politischen Gründen, nicht stattgegeben und Frauwallner unterrichtete weiterhin, bis 1938, als Lehrbeauftragter. Nach wie vor veröffentlichte er mindestens einen grundlegenden Aufsatz pro Jahr: „Dharmaklrtis SambandhaparTksä" (1934), „Dharmottaras Ksanabhañgasiddhih" (1935) und „Beiträge zur Geschichte des Nyäya" (1936). Er brachte ferner seine Studien zur αροΛα-Lehre in den Werken Dharmaklrtis und Dharmottaras zum Abschluss (1935 und 1937).
Zu dieser Zeit wurden in Österreich Professuren, die ad personam geschaffen wurden, als „außerordentliche Professuren" bezeichnet. Im Gegensatz zur gegenwärtigen akademischen Nomenklatur Österreichs handelte es sich dabei um Professuren im vollen Sinne und die ernannten Wissenschaftler waren Mitglieder der Professorengruppe.
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Politisch war Frauwallner ein überzeugter Nationalist mit antisemitischen Neigungen (was sich selbst nach dem Krieg nicht änderte). Er trat der Nationalsozialistischen Partei (NSDAP) bereits am 29. November 1932 bei, als die Partei in Österreich noch verboten war; offensichtlich arbeitete er für ihren Nachrichtendienst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich sein Geschick schnell zum Besseren wendete, nachdem Österreich am 13. März 1938 vom nationalsozialistischen Deutschland annektiert worden war. Nur fünf Tage später wurde er vom Schuldienst beurlaubt, um sich ganz seinen Verpflichtungen an der Universität widmen zu können. Am 23. Mai 1938 wurde er für die Besetzung einer außerordentlichen Professur für Indologie und Iranistik vorgeschlagen. Geiger hingegen erlitt, wie alle Wissenschaftler jüdischer Abstammung, das Schicksal, der Universität verwiesen zu werden; glücklicherweise gelang es ihm, in die USA auszuwandern, wo er in New York bis zu seinem Ruhestand am Asia Institute und an der Columbia University lehrte. Am 31. August 1939 wurde Frauwallner vom Ministerium in Berlin zum außerordentlichen Professor für Indologie und Iranistik ernannt; die Urkunde ist, wie alle Ernennungsschreiben, vom Kanzler Adolf Hitler unterzeichnet. Im Jahre 1940 wurde Frauwallner zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt (die Wahl zum „wirklichen" Mitglied erfolgte erst 1956) und am 13. August 1942 folgte die Ernennung zum Direktor des Instituts für Orientalistik der Universität Wien.1 Nachdem er am 30. April 1943 zum Wehrdienst eingezogen worden war, diente Frauwallner bei verschiedenen „Flak"-Einheiten in Wien und Umgebung. Nach dem Krieg tauchte er eine Weile unter (gemäß einem Brief seines Schwiegervaters, Rudolf Püringer, datiert vom 4. April 1945, war er „spurlos verschwunden"). Am 6. Juni 1945 wurde Frauwallner vom Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten aufgrund seiner Parteimitgliedschaft von der Universität entlassen, eine Maßnahme, die Ende 1948 in die Versetzung in den dauerhaften Ruhestand mit einer kleinen Pension umgewandelt wurde. Nach der Prüfung seiner Verwicklung mit den Nationalsozialisten und seines Verhaltens während der nationalsozialistischen Zeit und während des Krieges wurde ihm am 22. März 1952 die venia legendi erneut verliehen; genau drei Jahre später wurde er zum außerordentlichen Professor für Indologie ernannt. Das Institut für Indologie der Universität Wien wurde zur gleichen Zeit gegründet, mit Frauwallner in der Funktion des ersten Vorstandes. Im Jahre 1957 versuchte Frauwallner vergeblich, seine venia legendi auf die Iranistik zu erweitern. Gegen Ende des folgenden Jahres stellten einige Kolle1
Ein Forschungsprojekt zu „Erich Frauwallner und der Nationalsozialismus" von Jakob Stuchlik unter der Leitung von Ernst Steinkellner durchgeführt, wurde jüngst am Institut für Kultur- und Geistesgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften abgeschlossen. Die Ergebnisse sollen Ende 2009 von der Akademie veröffentlicht werden.
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gen einen Antrag, dem seitens der philosophischen Fakultät zugestimmt wurde, Frauwallner anlässlich seines sechzigsten Geburtstages zum ordentlichen Professor zu befördern. Der Antrag erhielt auch große Unterstützung durch Walter Ruben (Berlin) und Jean Filliozat (Paris). Am 24. Januar 1959 wurde Frauwallner der Titel verliehen und am 29. Februar 1959 fand die eigentliche Ernennung statt. Frauwallner emeritierte Ende des Jahres 1963, nahm aber die Funktion des Vorstands des Instituts für Indologie wahr, bis sein Nachfolger, Gerhard Oberhammer, ernannt worden war. Während der Jahre des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte Frauwallner wenig. Außer einigen kurzen Buchbesprechungen lassen sich eigentlich für mehr als ein Jahrzehnt, von 1939 bis 1950, nur zwei Aufsätze anführen, und diese sind ideologisch gefärbt: „Der arische Anteil an der indischen Philosophie" (1939)1 und „Die Bedeutung der indischen Philosophie" (1944).2 In „Der arische Anteil an der indischen Philosophie" hebt Frauwallner mit den auffälligen Ähnlichkeiten zwischen den Philosophien Europas und Indiens an und behauptet, angesichts des Fehlens einer direkten gegenseitigen Abhängigkeit dieser Traditionen sei die Ähnlichkeit nur damit erklärbar, dass beide Philosophien von Völkern „gleichen Blutes" geschaffen wurden, nämlich von arischen Völkern. Da die indische Philosophie jedoch vielerlei „Fremdartiges" und „Absonderliches" enthalte, sei anzunehmen, dass die Entwicklung der indischen Kultur von der nicht-arischen „Urbevölkerung" beeinflusst wurde. Es sei die Aufgabe des sich mit der indischen Philosophie beschäftigenden Forschers festzustellen, was in ihr als arisch betrachtet werden kann. Frauwallner argumentiert, dass die Geschichte der indischen Philosophie in zwei Perioden eingeteilt werden könne. Die erste Periode beginnt mit der vedischen Zeit und erreicht ihren Höhepunkt in Form der philosophischen Systeme, die sich in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends u. Z. entwickelten; danach beginnt die Phase des Verfalls, bis diese Periode mit Ende des ersten Millenniums schließt. Die zweite Periode beginnt mit dem Philosophen Sañkara (ca. 800) und dauert bis zum achtzehnten Jahrhundert, als die Einführung westlichen Gedankenguts unter der britischen Herrschaft in Indien der Entwicklung der einheimischen indischen Philosophie ein Ende setzt. Der Übergang von der ersten zur zweiten Periode kann gemäß Frauwallner dabei nicht als eine einheitliche gleichmäßige Entwicklung verstanden werden. Es habe vielmehr ein dramatischer Wechsel stattgefunden. Die älteren Systeme (Sämkhya, Vaisesika, Lokäyata, Buddhismus und Jinismus) waren atheistisch in dem Sinne, dass sie sich nicht auf einen höchsten Gott als grundlegendes Prinzip der Welt berufen. Sie waren, wie Frauwallner es ausdrückt, „nicht religiös-dogmatisch gebunden",3 1
Eine zweiseitige Zusammenfassung mit dem gleichen Titel war ein Jahr zuvor in der ZDMG erschienen.
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Eine kurze Zusammenfassung unter dem gleichen Titel wurde 1942 in der ZDMG veröffentlicht.
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„Der arische Anteil an der indischen Philosophie", S. 271.
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sondern strebten danach, „ihre Lehren wissenschaftlich voraussetzungslos abzuleiten". Die neuen Systeme hingegen waren theistisch und die göttliche Offenbarung durch áiva oder Visnu wurde als die höchste Quelle des Wissens anerkannt. Angesichts der Tatsache, dass die Religionen, die &iva oder Visnu als höchste Gottheit haben, nicht-arischen Ursprungs sind, sei anzunehmen, dass es sich bei jener radikalen Änderung des Wesens der indischen Philosophie „um einen Sieg nichtarischen Wesens über die ermattende Kraft des in den älteren Systemen schöpferischen arischen Geistes handelt".1 Diese Periodisierung der indischen Philosophie findet sich auch in „Die Bedeutung der indischen Philosophie". Frauwallner wiederholt sie noch bei zwei weiteren Gelegenheiten, in seiner Geschichte der indischen Philosophie, wo die arische Grundlage der indischen Philosophie eindeutig, wenn auch weniger auffällig, erwähnt wird,2 und selbst noch im Jahre 1959 in seinem Aufsatz „Indische Philosophie", in dem er behauptet, dass „die klassische indische Philosophie der älteren Zeit im wesentlichen eine Schöpfung der [nach Südasien] eingewanderten arischen Inder ist".3 In „Die Bedeutung der indischen Philosophie" stellt Frauwallner eingangs fest, dass die indische Philosophie in westlichen Veröffentlichungen oft falsch dargestellt sei. Ihre Anfange und die frühe Periode würden unverhältnismäßig ausführlich behandelt, während die spätere Periode nur kurz thematisiert werde. Dies erzeuge den falschen Eindruck, dass nach der Bildung der philosophischen Systeme des Sämkhya und des Vaisesika das philosophische Denken versteinerte und keine weiteren wichtigen Entwicklungen stattfanden. Gemäß Frauwallner sähe eine genauere Darstellung wie folgt aus. Die ältesten Systeme, das Sämkhya und das Vaisesika, spielten in den ersten Jahrhunderten u. Z. noch eine führende Rolle. In der gleichen Periode wurden innerhalb des Buddhismus und des Jinismus philosophische Systeme geschaffen und die materialistischen Cärväkas systematisierten ihre Lehren. Nach dem zweiten Jahrhundert u. Z. erlangten skeptische und idealistische Bewegungen zunehmend Bedeutung, besonders die buddhistischen Schulen des Madhyamaka und des Yogäcära. Epistemologische Fragestellungen traten in den Vordergrund und führten zur Schaffung des Nyäya-Systems auf der einen Seite und der buddhistischen pramänaSchule auf der anderen.
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A.a.O., S. 285. Band I, S. 26-27. Hier ist auch auf Frauwallners Verwendung des typischen nationalsozialistischen Terminus „Volkskörper" hinzuweisen, d.h. die Vorstellung der deutschen Nation als Körper, der gesund, sauber und frei von Krankheiten, schädlichen Einflüssen und Parasiten (wie zu so genannten minderwertigen Rassen gehörende Minderheiten) zu halten ist. Siehe „Indische Philosophie", S. 50 (= Kl. Sehr., S. 2): „ ... während die klassische indische Philosophie der älteren Zeit im wesentlichen eine Schöpfung der eingewanderten arischen Inder ist." Hier fugt Frauwallner jedoch vorsichtig hinzu: „Aber eine endgültige Aussage darüber scheint verfrüht."
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Gegen Ende des ersten Jahrtausends ändert sich das Bild. Die alten Systeme verlieren jetzt an Bedeutung; lediglich die logischen Schulen erleben eine reiche Nachblüte.1 Neue Systeme treten in den Vordergrund. Zunächst wird der Vedänta, von áankara neu gestaltet, zu einem vollwertigen philosophischen System und neue, im Sivaismus und Visnuismus begründete Schulen werden geschaffen: gegen Ende des ersten Jahrtausends das Saivadarsana und das Pratyabhijüädarsana, in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends verschiedene visnuitische Vedänta-Schulen und weitere sivaitische Systeme. Bis zum siebzehnten Jahrhundert kann man noch von gedeihendem philosophischem Denken sprechen; danach beginnt ein Niedergang, bis die britische Vorherrschaft und die Einführung westlichen Gedankenguts die über viele Zeitalter währende Entwicklung zu einem Ende brachte. Als Endergebnis von Frauwallners Darstellung in „Die Bedeutung der indischen Philosophie" ist festzuhalten, dass die Bedeutung der indischen Philosophie nicht nur in ihrem Reichtum liegt, sondern auch in der Tatsache, dass sie sich unabhängig von der europäischen Tradition entwickelte und die einzige mit ihr vergleichbare nicht-europäische philosophische Tradition darstellt. Nur diese beiden Traditionen können verglichen werden, weil allein sie einen wissenschaftlichen Charakter haben, der z.B. der chinesischen Tradition fehlt;2 das zeigt sich in der Tatsache, dass Epistemologie und Logik jedem Beweis zugrunde liegen, und in der methodisch genauen Art und Weise, wie die Hauptlehren der Systeme abgeleitet und abgesichert werden.3 Frauwallner wiederholt, dass die alten Systeme atheistisch und auf wissenschaftliche Weise voraussetzungslos seien.4 Ihm zufolge kann diese Ähnlichkeit zwischen der indischen und der europäischen Tradition, wie auch weitere Ähnlichkeiten, nur mit der gleichen rassisch bedingten „Veranlagung" erklärt werden. Die grundsätzliche Umwandlung des indischen Volkes, die in die Ausbildung des Hinduismus mündete, sei aus rassischen Gründen erfolgt und könne „mit der Aufsaugung des arischen Einwandererstromes durch die Urbevölkerung begründet" werden. Die alten philosophischen Systeme seien auf vergleichbare Weise von den nicht-wissenschaftlichen sivaitischen und visnuitischen Systemen überwältigt und marginalisiert worden. Es ist daher gemäß Frauwallner sicher, dass der wissenschaftliche Charakter der frühen Systeme rassisch bedingt war. Die indische Philosophie verdiene daher nicht nur deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil sie die wichtigste Entwicklung außerhalb Europas darstellt, sondern auch, weil sie eine typische Schöpfung eines „arischen Volkes" sei. Frauwallner zitiert in diesem Zusammenhang zustimmend W. von Soden, der behauptete, „daß Wissenschaft im strengen Sinn 1
Frauwallner meint hiermit wahrscheinlich vor allem die Schule(n) des Neuen Nyaya (Navya-Nyäya); siehe unten, Appendix I, §§ 18-21.
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Siehe „Die Bedeutung der indischen Philosophie", S. 162.
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Siehe auch die oben S. XXIII, Fußnote 2, erwähnte Zusammenfassung, S. *41.
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Siehe auch Frauwallners entsprechende Feststellung in: Der IX. Deutsche Orientalistentag zu Bonn 1938, S. *9.
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des Wortes etwas ist, das nur von den von der nordischen Rasse bestimmten Indogermanen geschaffen werden konnte".1 Frauwallners Behauptungen sind, milde ausgedrückt, nicht unproblematisch. Abgesehen von der rassistischen Interpretation des Ursprungs der indischen Philosophie, die leicht als moralisch verwerflich und sachlich falsch verurteilt werden kann, und unabhängig davon, ob es angebracht ist, die gesamte Geschichte der indischen Philosophie in nur zwei Perioden einzuteilen,2 ist unklar, in welchem Sinne die buddhistischen und jinistischen Philosophien als nicht religiös bezeichnet werden können. Außerdem klafft eine erhebliche Zeitlücke zwischen der Entstehung der angeblich nicht-arischen Religionen, in denen Visnu oder Krsna der höchste Gott ist, und der Entstehung der Frauwallner zufolge nicht-arischen Philosophien. Die ersteren treten bereits im Epos Mahäbhärata in Erscheinung; dennoch repräsentiert die Philosophie des Epos, selbst gemäß Frauwallner, eine Entwicklungsphase, die der Bildung der klassischen philosophischen Systeme des Sämkhya und Vaisesika vorausgeht. Ferner lässt sich kaum ernsthaft befürworten, dass mit den Begriffen „wissenschaftlich", „voraussetzungslos", „atheistisch" und so fort die indische Philosophie der frühen und der klassischen Zeit (oder jeder anderen Zeitperiode) angemessen beschrieben ist; sie könnten nur dann als für eine Beschreibung der indischen Philosophie geeignet erachtet werden, wenn man sich die eigenartige, sehr enge und etwas willkürliche Bedeutung dieser Begriffe zu eigen macht, von der Frauwallner ausgeht.3 Der fesselndste Aspekt von Frauwallners Periodisierung, zumindest in unseren Augen, besteht darin, dass er die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends (d.h. ca. 500-1000 u. Z.) für eine Periode des Niedergangs hält.4 Es ist schwer 1
Siehe„Die Bedeutung derindischenPhilosophie", S. 169. Dieses Zitat Frauwallners wird auch von Reinhold Grünendahl angeführt, allerdings im Kontext eines verworrenen und ungeschickten Versuchs, Frauwallner vom Vorwurf der Verbundenheit mit der nationalsozialistischen Ideologie (speziell durch Sh. Pollock, siehe unten S. XXVII, Fußnote 2) freizusprechen; siehe S. 232-233 in seinem Aufsatz „Von der Indologie zum Völkermord", in: U. Hüsken, P. Kieffer-Pülz und A. Peters [Hrsg.], Jaina-Itihäsa-Ratna. Festschriftfìir Gustav Roth zum 90. Geburtstag. Marburg 2006, S. 209-236. Es ist hier jedoch nicht der Platz, näher auf Grünendahls eigenartige und polemisch fehlgeleitete Interpretationen von Frauwallners Äußerungen einzugehen.
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Anders ausgedrückt: Kann man die Periode vom achten Jahrhundert v. u. Ζ bis zum fünften Jahrhundert u. Z., oder, wenn der Niedergang eingeschlossen werden sollte, bis zum zehnten Jahrhundert, wirklich als eine einzige Periode betrachten?
3
In Frauwallners Sinne könnte man auch die griechische Religion als „atheistisch" bezeichnen und jede nicht-theistische oder nicht-religiöse Lehre könnte „wissenschaftlich voraussetzungslos" genannt werden.
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Die verschiedenen Formulierungen erstrecken sich über einen Zeitraum von über zwanzig Jahren (1939-1959), aber wir konnten keine wesentlichen Unterschiede zwischen ihnen erkennen. Siehe „Der arische Anteil", S. 283: „Die erste [Entwicklungsperiode] beginnt mit den älteren Upanisaden, erreicht ihren Höhepunkt in den philo-
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verständlich, wie man behaupten kann, dass der wissenschaftliche Charakter, der in Frauwallners eigenen Worten in der Epistemologie und Logik ersichtlich ist, insofern er die Grundlage jedes Beweises bildet, in der ersten, und nicht in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends seinen Höhepunkt erreichte. Ist die (tendenziöse) Logik des Värsaganya der Höhepunkt des wissenschaftlichen Geistes in Indien? Es mutet seltsam an, dass die Periode der hellsten Sterne am Firmament der indischen Philosophie - Dignäga, Prasastapäda, Uddyotakara, Prabhäkara, Kumärila, Dharmakïrti, Akalañka, Dharmottara, Mandanamisra, Jayaräsi, Prajñakaragupta, Bhasarvajña, Udayana und so weiter und so fort - als eine Periode des Niedergangs betrachtet und etwas abwertend als „Periode der logisch-erkenntnistheoretischen Spekulationen"1 bezeichnet werden sollte. Das könnte nur mit Frauwallners impliziter Vorstellung erklärt werden, dass wahre Philosophie eigentlich in systematischer Metaphysik besteht. Dennoch lässt sich eine strenge Methodik, mit der die Hauptlehren der Systeme abgeleitet und bewiesen worden sein sollen, in der Periode, in der der arische Einfluss angeblich vorgeherrscht haben soll, schwerlich feststellen. Frauwallners stark von der Berücksichtigung des Faktors „Rasse" geprägte Bewertung der indischen Zivilisation war weder originell noch außergewöhnlich.2 Man betrachte zum Beispiel die folgenden Ausführungen des großen Vedisten und Buddhismuswissenschaftlers Hermann Oldenberg, den Frauwallner
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sophischen Systemen, die vor allem in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends n. Chr. blühen, und endet etwa mit der Jahrtausendwende. Sie ist rein philosophisch, atheistisch und wissenschaftlich voraussetzungslos ..."; „Die Bedeutung der indischen Philosophie", S. 161: „Mit der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends bahnt sich aber nun eine große Wende an. Die alten Systeme verlieren mehr und mehr an Bedeutung"; Geschichte der indischen Philosophie, Band I, S. 25: „Der erste [Abschnitt] hat seine Anfange in der vedischen Zeit, erreicht seinen Höhepunkt mit der Schöpfung voll ausgebildeter philosophischer Systeme, klingt ab in der Periode der logisch-erkenntnistheoretischen Spekulation und endigt mit dem Absterben der alten Systeme um das Ende des 1. Jahrtausends n. Chr."; „Indische Philosophie", S. 50 (= Kl. Sehr., S. 2): „Sie [d.h. die erste Periode der indischen Philosophie] erreicht ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 1. nachchristlichen Jahrtausends und stirbt dann allmählich ab." Geschichte der indischen Philosophie, Band I, S. 25. Die Geschichte der Indologie während und unmittelbar vor der nationalsozialistischen Periode harrt noch einer gründlichen Untersuchung. Einen nützlichen Anfang machte Sh. Pollock in seinem Aufsatz „Ex Oriente Nox. Indologie im nationalsozialistischen Staat", in: S. Conrad und S. Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt / New York 2002, S. 335-371, trotz der recht oberflächlichen und emotionalen, manchmal sogar bösartigen und gehässigen Kritik seiner Ausführungen durch R. Grünendahl (siehe oben, S. XXVI, Fußnote 1), der nicht davor zurückschreckt, Pollocks - zugegebenermaßen manchmal gewagte und pauschale - Behauptungen und Hypothesen zu verzerren und falsch darzustellen.
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bewunderte und für brillant hielt und der eine unmittelbare Inspiration für ihn gewesen zu sein scheint:1 „Vor allem werden jene Einflüsse (seil, der Urbewohner Indiens) in einer tiefsten Weise gewirkt haben, die wir nur ahnen können: durch die allmählich fortschreitende Wandlung des Blutes, die eine Wandlung der Seele bedeutet, durch das beständige Einströmen neuer Mengen von Wilden- und Halbwildenblut in die Adern derer, die sich noch immer Arier nannten. Zeus und Apollon haben ihre Herrschaft behalten, solange es griechische Götter gab, denn das Griechenvolk blieb dasselbe. Indra und Agni mussten andern Göttern das Feld räumen, denn das indische Volk war ein andres geworden. Für diese Geister, in denen unergründliche Mischungen widerstreitender Kräfte, miteinander verschlungen, gegeneinander entfesselt, ihr Spiel trieben, waren die Vedagötter allzu kindlich einfach; gar zu leicht war ihr Wesen ausgeschöpft. Sie waren von Norden gekommen: jetzt brauchte man tropische Götter. Es waren kaum mehr feste Gestalten; es waren ganze Gestaltenknäuel, Körper, aus denen Köpfe über Köpfe, Arme über Arme hervorquollen, Mengen von Händen, die Mengen von Attributen, Keulen und Lotusblumen halten: überall üppige und düstere, grandiose Poesie, Überfülle und verschwommene Formlosigkeit: Ein böses Verhängnis für die bildende Kunst." Im Gegensatz zur Kriegsperiode und den Nachkriegsjahren zeigten die sechs Jahre zwischen 1951 und 1956 eine erstaunliche Produktivität Frauwallners und begründeten definitiv seinen Ruhm als einer der größten Gelehrten im Gebiet der indischen Philosophie. Neben brillanten und bahnbrechenden Aufsätzen wie „Die Reihenfolge und Entstehung der Werke Dharmakïrti's" (1954), dessen Ergebnisse nach mehr als fünfzig Jahren noch immer gültig sind, veröffentlichte Frauwallner nicht weniger als fünf Bücher, drei von ihnen im Jahre 1956: den zweiten Band der Geschichte der indischen Philosophie, der sich hauptsächlich mit der Naturphilosophie des Vaisesika befasst, The Earliest Vinaya and the Beginnings of Buddhist Literature, eine Monographie, in der er den Versuch unternahm, die älteste Biographie des Buddha zu rekonstruieren, und die anschaulich eine beachtliche Vertrautheit des Autors mit der chinesischsprachigen Literatur zu den monastischen Regeln (Vinaya) zeigt, und die Philosophie des Buddhismus, also den Band, den Sie in Händen halten. Nach der Veröffentlichung seiner Untersuchung zum Vinaya im Jahre 1956 bis zu seinem Tode im Jahre 1974 arbeitete Frauwallner regelmäßig am dritten und vierten Band seiner Geschichte.2 Der Plan für diese Bände ist in mehreren Versionen erhalten; der umfangreichste unter ihnen wurde nach Frauwallners Tod von Emst Steinkellner veröffentlicht 3 (siehe unten, Appendix I). Der dritte Band sollte die buddhistischen Schulen abdecken, d.h. den (kanonischen) Abhidharma, 1 2
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Die Literatur des alten Indien, 2. Auflage, Stuttgart 1923, S. 132-133. Siehe Ernst Steinkellners Vorbemerkung in E. Steinkellner (Hrsg.), Erich Frauwallner, Nachgelassene Werkel. Aufsätze, Beiträge, Skizzen. Wien 1984, S. 63-65. Siehe a.a.O., Anhang C, S. 137-138.
Vorwort
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Sauträntika, Madhyamaka und Yogäcära (siehe §§ 9-12 im unten abgedruckten Plan), der vierte Band sollte den Nyäya, die Mîmâmsâ and die logische Schule des Buddhismus behandeln (siehe §§ 13-15 unten). Die Textgrundlage für den dritten Band ist somit teilweise in der Philosophie des Buddhismus enthalten; zusätzliche Materialien finden sich in Frauwallners nachgelassenen Schriften und werden vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt von Steinkellner herausgegeben werden. 1 Von 1956 bis 1962 arbeitete Frauwallner vor allem am vierten Band der Geschichte und veröffentlichte erste Resultate seiner Untersuchungen in mehreren grundlegenden Aufsätzen, die in der von ihm im Jahre 1957 begründeten Wiener Zeitschrift für die Kunde Süd- und Ostasiens erschienen, die eine spezielle Abteilung für Untersuchungen zur indischen Philosophie enthält („Archiv für indische Philosophie"): „Vasubandhu's Vädavidhih" (1957), der oben (S. XXI) bereits erwähnte Versuch, Teile von Vasubandhus berühmtem Debattierhandbuch zu rekonstruieren, „Die Erkenntnislehre des klassischen Sämkhya-Systems" (1958), ein Aufsatz, in dem er den Anfang von Värsaganyas Sastitantra rekonstruierte, und „Dignäga, sein Werk und seine Entwicklung", eine Ehrfurcht einflößende und bis heute unübertroffene Einführung in das Denken Dignägas. Ferner veröffentlichte er auch einige Aufsätze zur Sprachphilosophie, deren Kern wahrscheinlich in das Kapitel über die MImämsä im vierten Band der Geschichte integriert werden sollte (siehe § 14 unten): „Die Eindringling der Sprachtheorie in die indischen philosophischen Systeme" (1959), ein Aufsatz, in dem Frauwallner vorangegangene Untersuchungen von Otto Strauss in eine historische Perspektive rückt, „Sprachtheorie und Philosophie im Mahäbhäsyam des Patañjali" (1960), „MTmämsäsütram I, 1, 6-23" (1961), wo Frauwallner überzeugend dafür argumentiert, dass sütras 1.1.6-23 einen Einschub darstellen, 2 und „Kumärila's Brhattlkä" (1962), eine Arbeit, in der er Zitate aus diesem berühmten verlorenen Werk Kumärilas identifizierte und es teilweise rekonstruierte. 3 In den Jahren 1957 bis 1959 verfasste
1
A.a.O., S. 63, Fußnote 4.
2
Im gleichen Jahre veröffentlichte Frauwallner auch seine „Landmarks in the History of Indian Logic", einer seiner wenigen Aufsätze in englischer Sprache, in welchem er die wichtigsten buddhistischen Philosophen datiert; die von ihm vorgeschlagenen Datierungen, mit Ausnahme der Datierung der beiden Vasubandhus (siehe oben, S. XV-XVII), sind immer noch weithin anerkannt.
3
In diesem Aufsatz vertritt Frauwallner die Position, dass die Brhattlkä (teilweise) als Reaktion auf das Svärthänumäna-Kapitel im Pramänavärttika Dharmakîrtis verfasst wurde, womit sich die Reihenfolge Élokavârttika (ein anderes philosophisches Werk Kumärilas) - Svärthänumäna-Kapitel - Brhattlkä ergibt. Diese Sequenz wurde von John Taber in „Further Observations on Kumärila's Brhattlkä" (Journal of Oriental Research 62 (1991), S. 179-189) stark bezweifelt. Viele Forscher stehen in diesem Punkt zwar immer noch auf Frauwallners Seite (siehe z.B. H. Krasser, „Dharmaklrti's and Kumärila's Refutations of the Existence of God: A Consideration of their Chronological Order", in: S. Katsura (Hrsg.), Dharmakîrtis Thought and Its Impact on Indian and Tibetan Philosophy. Proceedings of the Third International Dharmakirti
XXX
Vorwort
Frauwallner auch mehrere Skizzen für Kapitel, oder Abschnitte von Kapiteln, des vierten Bandes der Geschichte·, sie wurden nach seinem Tode von Steinkellner veröffentlicht. 1 Frauwallner stellte ferner eine Arbeitsübersetzung einiger Abschnitte aus Prabhäkaras Brhatï her. Nach 1962 nahm Frauwallner seine Arbeit am Abhidharma-Teil des dritten Bandes der Geschichte wieder auf; seine „Abhidharma-Studien" I und II wurden 1963 und 1964 veröffentlicht. Diese Studien wurden jedoch durch die Ankunft von Gopikamohan Bhattacharya in Wien unterbrochen. Frauwallner betreute nicht nur Bhattacharyas Dissertation mit dem Titel Die Lehre von der vyäptih bei Raghunätha Siromanih, sondern verfasste auch wichtige Aufsätze zu Prabhäkara Upädhyäya, einem Autor des Navya-Nyäya (1965), und zu Raghunätha Siromani (1966 und 1967). Seine Studien im Bereich des Navya-Nyäya gipfelten in der Monographie Die Lehre von der zusätzlichen Bestimmung (upädhih) in Gahgesa's Tattvacintämanih (1970). Gegen Ende seines Lebens fand Frauwallner die Zeit, die Abhidharma-Studien fortzusetzen; „Abhidharma-Studien" III, IV und V wurden in den Jahren 1971, 1972 und 1973, etwa ein Jahr vor seinem Tode am 5. Juli 1974, veröffentlicht. Alle Studien zur Abhidharma-Literatur, zusammen mit einem Aufsatz zur Entstehung der buddhistischen Systeme (1971), wurden von Sophie Francis Kidd, betreut von Ernst Steinkellner, bestens ins Englische übersetzt und bleiben eine unentbehrliche Quelle für die Forschung zu diesem wichtigen Bereich der Buddhismuskunde. Eine englische Übersetzung des vorliegenden Bandes wurde von Gelong Lodrö Sangpo (Jürgen Balzer), in Zusammenarbeit mit Bhikshuni Migme Chödrön und Jigme Sheldrön (Donna Ross), angefertigt, wiederum von Ernst Steinkellner betreut, und soll in Indien erscheinen.
Eli Franco und Karin Preisendanz
Conference Hiroshima, November 4-6, 1997. Wien 1999, S. 215-223), doch stützen jüngere Untersuchungen die Annahme, dass Kumärila Dharmakïrtis Werk nicht kannte (siehe besonders K. Yoshimizu, „Reconsidering the Fragment of the Brhattîkâ on Inseparable Connection (avinäbhäva)", in Β. Kellner et al., Pramânakïrtih. Papers Dedicated to Ernst Steinkellner on the Occasion of his 70th Birthday. Wien 2007, S. 1079-1103). 1
Siehe S. 66-134 in Nachgelassene
Werke I.
Appendix I
XXXI
Appendix I Frauwallners Skizze fiir seine Geschichte der indischen Philosophie1 Die Philosophie der Inder 1. Teil Vorwort. § 1 Die Gliederung der indischen Philosophie. § 2 Die Überlieferung.
I. Die Philosophie der älteren Zeit. A. Die Frühzeit. § 3 Die Philosophie des Vedah. § 4 Die Übergangszeit. Die Philosophie des Epos. Der Yogah. § 5 Der Buddha und der Jina (Äjivikäh).
B. Die Zeit der Systeme. § 6 Das Sämkhyam (Yogah). § 7 Das Vaisesikam. § 8 Das Lokäyatam. § 9 Die Systembildung im Buddhismus. Der Abhidharmah. § 10 Die Sauträntikäh.
Dieser Plan wurde als Appendix C in Nachgelassene Werke I, S. 137-138 herausgegeben. §§ 1-8 and 12b von Abschnitt I wurden als die beiden ersten Bände der Geschichte der indischen Philosophie veröffentlicht; §§ 9-12 sollten den dritten und §§ 13-15 den vierten Band ausmachen. Es dürfte Frauwallner klar gewesen sein, dass er Teil 2 jenes Plans nicht ausfuhren würde.
XXXII
Appendix I
§ 11 Die Madhyamakalehre. § 12 Der Idealismus der Yogäcäräh. § 12b Das System der Jaina (Umäsvätih).
C. Die Nachblüte. § 13 Die Vädahandbücher. DerNyäyah. § 14 Die MTmämsä. § 15 Die logische Schule der Buddhisten. (Logik der Jaina).
Die Philosophie der Inder 2. Teil
II. Die Philosophie der späteren Zeit. A. Das Fortleben der Gedankenwelt des Vedah und die Antangè des Vedäntah. § 1 Die jüngeren Upanisaden (Bhagavadgitä). § 2 Die Sprachphilosophie der Grammatiker. § 3 Die Anfänge des Vedäntah. Sankarah und Mandanamisrah.
B. Die religiösen Sekten und die Systeme der Saiva. § 4 Das Paücarätram (Puränam). § 5 Das Päsupatam (und andere Sekten der Saiva). § 6 Das Saiva-System. § 7 Das Pratyabhijflä-System. § 8 Der südliche Saivasiddhäntah. § 9 Die Lingäyatäh
C. Die Ausklänge des Buddhismus und die tantrischen Schulen. § 10 Die Ausklänge des Buddhismus. Der buddhistische Tantrismus. § 11 Die Schule der Näthäh. (Die Kaula-Lehre). § 12 Die Säkta.
D. Die Schule Saòkara's und die Vedäntasysteme der Vaisnava. §13 Der spätere Saiikaravedäntah.
Appendix I
XXXIII
§ 14 Die Visistädvaita-Lehre des Rämänujah. (Der modifizierte Monismus). §15 Der Dualismus des Änandatirthah. §16 Der strenge Monismus des Vallabhah. §17 Caitanyah und andere späte Vaisnava-Lehrer.
£. Das Weiterleben der alten Systeme. §18 Der neue Nyäyah (Vaisesikam). § 19 Die spätere Mïmâmsâ. § 20 Die Renaissance des Sämkhyam und des Yoga-Systems. § 21 Der spätere Jinismus.
III. Die moderne indische Philosophie. Zusammenfassung und Abschluß. § 22 Das philosophische Denken der Inder. Grundgesetze und indische Eigenart.
XXXIV
Appendix II
Appendix II Bibliographie der Schriften Erich Frauwallners1 Abkürzungen: WZKM WZKS WZKSO ZDMG
Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Wiener Zeitschrift für die Kunde Südasiens Wiener Zeitschrift für die Kunde Süd- und Ostasiens Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
1921 De synonymorum, quibus animi motus significantur, usu tragico. Dissertation, Wien (unveröffentlicht). 1925 Untersuchungen zum Moksadharma. Die nicht-sämkhyistischen Texte. Journal of the American Oriental Society 45, S. 51-67. Untersuchungen zum Moksadharma. Die sämkhyistischen Texte. WZKM 32, S. 179-206. 1926 Untersuchungen zum Moksadharma. Das Verhältnis zum Buddhismus. WZKM 33, S. 57-68. Untersuchungen zu den älteren Upanisaden. Zeitschrift für Indologie und Iranistik 4, S. 1-45. 1927 Zur Elementenlehre des Sämkhya. WZKM 34, S. 1-5. 1
Diese Bibliographie enthält keine Buchbesprechungen; siehe hierzu die alphabetische Liste, veröffentlicht in WZKS 20 (1976), S. 22-35.
Appendix II
XXXV
1929 Bemerkungen zu den Fragmenten Dignägas. WZKM 36, S. 136-139. 1930 Dignägas Älambanapanksä. Text, Übersetzung und Erläuterungen. WZKM 37, S. 174-194. Beiträge zur Apohalehre. I. Dharmakïrti. WZKM 37, S. 259-283. 1932 Jftänasn. WZKM38, S. 229-234. Beiträge zur Apohalehre. I. Dharmakïrti. Übersetzung. WZKM 39, S. 247-285. 1933 Beiträge zur Apohalehre. I. Dharmakïrti. Übersetzung (Fortsetzung). WZKM 40, S. 51-94. Zu den Fragmenten buddhistischer Logiker im Nyäyavärttikam. WZKM 40, S. 281-304. Dignäga und Anderes. In: Otto Stein und Wilhelm Gampert (Hrsg.), Festschrift förMoriz Winternitz. Leipzig, S. 237-242. 1934 Dharmaklrtis Sambandhapariksä. Text und Übersetzung. 261-300.
WZKM 41, S.
1935 Beiträge zur Apohalehre. I. Dharmakïrti. Zusammenfassung. WZKM 42, S. 93102. Dharmottaras Ksanabhangasiddhih. Text und Übersetzung. WZKM 42, S. 217258. 1936 Beiträge zur Geschichte des Nyäya. I. Jayanta und seine Quellen. WZKM 43, S. 263-278. 1937 Zu den Fragmenten buddhistischer Autoren in Haribhadras Anekantajayapataka. WZKM 44, S. 65-74.
XXXVI
Appendix II
Beiträge zur Apohalehre. II. Dharmottara. WZKM44, S. 233-287. 1938 Bhävanä und Vidhih bei Mandanamisra. I. Bhävanä. WZKM 45, S. 212-252. Der arische Anteil an der indischen Philosophie. ZDMG 92, Heft 2/3, S. *9*.*10* 1939 Der arische Anteil an der indischen Philosophie. WZKM 46, S. 267-291. 1942 Die Bedeutung der indischen Philosophie. ZDMG 96, Heft 3, S. 40-42. 1944 Die Bedeutung der indischen Philosophie. In: H. H. Schaeder (Hrsg.), Der Orient in deutscher Forschung. Vorträge der Berliner Orientalistentagung. Leipzig, S. 158-169. 1951 On the Date of the Buddhist Master of the Law Vasubandhu. Serie Orientale Roma 3. Rom. Amalavijñanam und Älayavijfiänam. In: Beiträge zur indischen Philologie und Altertumskunde, Walther Schubring zum 70. Geburtstag dargebracht. Alt- und Neu-Indische Studien 7. Hamburg, S. 148-159. 1952 Die buddhistischen Konzile. ZDMG 102, S. 240-261. Die ceylonesischen Chroniken und die erste buddhistische Mission nach Hinterindien. In: R. von Heine-Geldern (Hrsg.), Actes du IVe Congrès International des Sciences Anthropologiques et Ethnologiques, Vienne, Band 2. Wien, S. 192-197. 1953 Geschichte der indischen Philosophie. I. Band. Die Philosophie des Veda und des Epos, der Buddha und der Jina, das Sämkhya und das klassische YogaSystem. Salzburg. 1954 Die Reihenfolge und Entstehung der Werke Dharmakïrti's. In: Asiatica. Festschrift Friedrich Weller. Leipzig, S. 142-154.
Appendix II
XXXVD
1955 Der Stand der Erforschung der indischen Philosophie. ZDMG 105, S. *55*-*56*. Candramati und sein Dasapadärthasästram. In: Studia Indologica. Festschriftfiir WillibaldKirfel. Bonner Orientalistische Studien 3. Bonn, S. 65-85. Die Anthropologie des Buddhismus. Anthropologie Religieuse, Supplemente zu Numen, Band 2. Leiden, S. 120-132. 1956 Geschichte der indischen Philosophie. 2. Band. Die naturphilosophischen Schulen und das Väisesika-System, das System der Jaina, der Materialismus. Salzburg. The Earliest Vmaya and the Beginnings of Buddhist Literature. Serie Orientale Roma 8. Rom. Die Philosophie des Buddhismus. Philosophische Studientexte. Texte der indischen Philosophie 2. Berlin (2. unveränd. Aufl., Berlin 1958; 3. durchges. Aufl., Berlin 1969; 4. Aufl., Berlin 1994). 1957 The Historical Data We Possess on the Person and the Doctrine of the Buddha. East and West 7, S. 309-312. Zu den buddhistischen Texten in der Zeit Khri-Sron-Lde-Btsan's. WZKSO 1, S. 95-103. Vasubandhu's Vädavidhih. WZKSO 1, S. 104-146. The Editions of Mallavädi's Dvädasäranayacakram. WZKSO 1, S. 147-151. 1958 Die Erkenntnislehre des klassischen Sämkhya-Systems. WZKSO 2, S. 84-139. 1959 Dignäga, sein Werk und seine Entwicklung. WZKSO 3, S. 83-164. Indische Philosophie. In: Fritz Heinemann (Hrsg.), Die Philosophie im XX. Jahrhundert. Stuttgart, S. 49-67. 1960 Das Eindringen der Sprachtheorie in die indischen philosophischen Systeme. In: Ernst Waldschmidt (Hrsg.), Indologen-Tagung 1959. Verhandlungen der Indologischen Arbeitstagung in Essen-Bredeney, Villa Hügel, 13.-15. Juli 1959. Göttingen, S. 239-243.
XXXVm
Appendix II
Sprachtheorie und Philosophie im Mahäbhäsyam des Patañjali. WZKSO 4, S. 92-118. Devendrabuddhi. WZKSO 4, S. 119-123.
1961 Mimämsäsütram I, 1, 6-23. WZKSO 5, S. 113-124. Landmarks in the History of Indian Logic. WZKSO 5, S. 125-148. Geschichte und Aufgaben der Wiener Indologie. Anzeiger der philosophischhistorischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1961, Nr. 10, S. 77-95. Dignäga, die Entwicklung eines indischen Philosophen. Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 10, S. 1410-1412.
1962 Aus der Philosophie der sivaitischen Systeme. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften 78. Berlin. Kumärila's Brhattlkä. WZKSO 6, S. 78-90.
1963 Abhidharma-Studien. I. Pañcaskandhakam und Pañcavastukam. WZKSO 7, S. 20-36. 1964 Abhidharma-Studien. II. Die kanonischen Abhidharma-Werke. WZKSO 8, S. 5999. Mahatma Gandhi. In: Die geistig-politischen Profile der Gegenwart in Asien. Eine Auswahl von Vorträgen der Seminare der Osterreichischen Unesco-Kommission. Wien, S. 21-31.
1965 Prabhäkara Upädhyäya. WZKSO 9, S. 198-226.
1966 Raghunätha Siromani. WZKSO 10, S. 86-207.
Appendix II
XXXIX
1967 Raghunätha Siromani (1. Fortsetzung). WZKSO 11, S. 140-208. 1968 Materialien zur ältesten Erkenntnislehre der Karmamimämsä. Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 259,2 = Veröffentlichungen der Kommission für Sprachen und Kulturen Süd- und Ostasiens 6. Wien. 1970 Die Lehre von der zusätzlichen Bestimmung (upädhih) in Gañgesa's Tattvacintämanih. Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 266,2 = Veröffentlichungen der Kommission fur Sprachen und Kulturen Süd- und Ostasiens 9. Wien. Raghunätha Siromani (2. Fortsetzung). WZKS 14, S. 161-208. Der ursprüngliche Anfang der Vaisesika-Sütren. Seminar on Aspects of Religion in South Asia. School of Oriental and African Studies, London (hektographiertes Vortragsmanuskript). Vorwort zu einem Nachdruck von H. Jacobi, Das Rämäyana. Darmstadt, S. VVIII. 1971 Die Entstehung der buddhistischen Systeme. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, /. Philosophisch-historische Klasse 1971, Nr. 6, S. 115-127. Abhidharma-Studien. III. Der Abhisamayavädah. IV. Der Abhidharma der anderen Schulen. WZKS 15, S. 69-121. 1972 Abhidharma-Studien. IV. Der Abhidharma der anderen Schulen (Fortsetzung). WZKS 16, S. 96-152. Zum Vrttikäragranthah. WZKS 16, S. 165-167. 1973 Abhidharma-Studien. V. Der Sarvästivädah. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie. WZKS 17, S. 97-121.
XL
Appendix II
History of Indian Philosophy. 2 Bände. Übers, von M. Bedekar. Delhi (Übersetzung der Geschichte der indischen Philosophie [1953, 1956]). 1982 Kleine Schriften. Hrsg. von Gerhard Oberhammer und Ernst Steinkellner. Glasenapp-Stiftung 22. Wiesbaden. 1984 Nachgelassene Werke I. Aufsätze, Beiträge, Skizzen. Hrsg. von Ernst Steinkellner. Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 438 = Veröffentlichungen der Kommission für Sprachen und Kulturen Südasiens 19. Wien.
1990 Historia filozofii indyjskiej. 2 Bände. Übers, von L. Zylicz. Warschau (Übersetzung der Geschichte der indischen Philosophie [1953, 1956]).
1992 Nachgelassene Werke II. Philosophische Texte des Hinduismus. Hrsg. von Gerhard Oberhammer und Chlodwig H. Werba. Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 588 = Veröffentlichungen der Kommission für Sprachen und Kulturen Südasiens 26. Wien. 1995 Studies in Abhidharma Literature and the Origins of Buddhist Philosophical Systems. Übers, von Sophie Francis Kidd, betreut von Ernst Steinkellner. SUNY Series in Indian Thought, Texts and Studies. New York (Übersetzung der Abhidharma-Studien I-V [1963, 1964, 1971-1973] sowie des Aufsatzes zur Entstehung der buddhistischen Systeme [1971]). 2003 Neuausgabe der Geschichte der indischen Philosophie (1953, 1956). Hrsg. von Andreas Pohlus. Geisteskultur Indiens. Klassiker der Indologie 4.1-2. Aachen.
Appendix III
XLI
Appendix III Weiterführende und ergänzende Literatur zum südasiatischen Buddhismus (Auswahl)1 Bibliographien und Geschichte der Buddhismuskunde Hajime Nakamura, Indian Buddhism. A Survey with Bibliographical Notes. Buddhist Tradition Series 1. Delhi: Motilal Banarsidass, 1989 (Nachdruck). Ein guter bibliographischer Überblick über die gesamte Literatur bis ca. 1980. Yasuhiro Sueki, Bibliographical Sources for Buddhist Studies from the Viewpoint of Buddhist Philology. 2. revidierte und erweiterte Auflage. Bibliographia Indica et Buddhica 3. Tokyo: The International Institute for Buddhist Studies, 2008. Umfasst die internationale, philologisch ausgerichtete wissenschaftliche Literatur, einschließlich Übersetzungen, zum Buddhismus und seinen Schriften (buddhistische Sanskrit-Texte, Päli-Texte, buddhistische Texte in Tibetisch, Mongolisch, Manchu, zentralasiatischen Sprachen, Chinesisch, Vietnamesisch, Koreanisch und Japanisch). Ergänzt durch Literatur zur Geschichte und Entwicklung der Buddhismuskunde und eine dazugehörige bio-bibliographische Übersicht, nach den verschiedenen Forschungsgebieten unterteilt. Umfangreiche Indizes. Peter Pfandt, Mahäyäna Texts Translated into Western Languages. A Bibliographical Guide. Revised Edition with Supplement. Köln u.a.: E.J. Brill, 1986. Spezialbibliographie zur in europäische Sprachen übersetzten MahäyänaLiteratur. J.W. de Jong, A Brief History of Buddhist Studies in Europe and America. Tokyo: Kosei Publishing, 1997. Narendra Nath Bhattacharya, History of Researches on Indian Buddhism. Delhi: Munshiram Manoharlal, 1981.
S.a. Frauwallners Literaturhinweise am Ende des vorliegenden Bandes.
XLII
Appendix III
Eli Franco, A Survey of Buddhist Studies in Germany and Austria 1972-1997. Journal of the International Association for Buddhist Studies 22/2, 1999, S. 401-456. Geschichte des Buddhismus Etienne Lamotte, Histoire du Bouddhisme Indien. Dès Origines à l'Ère Éaka. Bibliothèque du Muséon 43. Louvain-la-Neuve: Institut Orientaliste, Université de Louvain, 1967 (Nachdruck). Übersetzung ins Englische von Sara Webb-Boin, hrsg. von Jean Dantinne: History of Indian Buddhism. From the Origins to the Saka Era. Publications de l'Institut Orientaliste de Louvain 36. Louvain-la-Neuve: Institut Orientaliste, Université de Louvain, 1988. Die wohl ausführlichste Geschichte des südasiatischen Buddhismus, die jedoch nur bis zum Anfang des ersten Jahrtausends u. Z. reicht. Akira Hirakawa, A History of Indian Buddhism. From Sâkyamuni to Early Mahäyäna. Translated and edited by Paul Groner. Asian Studies at Hawaii 36. University of Hawaii Press, 1990. Sehr empfehlenswerte, aus dem Japanischen übersetzte Geschichte des südasiatischen Buddhismus bis etwa zum 3. Jh. u. Z. Allgemeine Einführungen Von den zahlreichen Einführungen in europäischen Sprachen können hier nur wenige stellvertretend genannt werden: Hermann Oldenberg, Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. Holzminden: Reprint-Verlag-Leipzig, 1998 (und zahlreiche weitere, frühere Nachdrucke). Ein immer noch lesenswerter Klassiker, mit Betonung des frühen Buddhismus. Dieter Schlingloff, Die Religion des Buddhismus. Bd. 1. Der Heilsweg des Mönchtums. Sammlung Göschen 174. Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1962; Bd. 2. Der Heilsweg für die Welt. Sammlung Göschen 770. Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1963. Ein weiterer interessanter Klassiker, der besonders auch die Handschriftenfunde buddhistischer Sanskrit-Texte in Zentralasien („Seidenstraße") als Quellen angemessen berücksichtigt. Edward Conze, Der Buddhismus. Wesen und Entwicklung. Urban-Taschenbücher 5. 10. Aufl. Stuttgart u.a.: Kohlhammer Verlag, 1995. Gut lesbarer Klassiker, der den gesamten südasiatischen Buddhismus bis hin zum Tantrismus aus einer religionsphilosophischen Perspektive behandelt. Heinz Bechert u.a., Der Buddhismus. Teil 1. Der indische Buddhismus und seine Verzweigungen. Religionen der Menschheit 24. Stuttgart: Kohlhammer, 2000.
Appendix III
XLIII
Paul Williams, Buddhist Thought. A Complete Introduction to the Indian Tradition. London and New York: Routledge, 2000. Vom religionsgeschichtlichen Hintergrund der Entstehung des Buddhismus bis hin zum tantrischen Buddhismus. Tilmann Vetter, The Ideas and Meditative Practices of Early Buddhism. Leiden u.a.: E.J. Brill, 1988. Richard Gombrich, Theraväda Buddhism. A Social History from Ancient Benares to Modern Colombo. London and New York: Routledge, 1988. Zu den gesellschaftlichen Aspekten der bedeutendsten Richtung des HTnayänaBuddhismus, beginnend mit der Phase der Entstehung des Buddhismus im nordwestlichen Indien bis hin zum „protestantischen Buddhismus" des modernen Sri Lanka. Paul Williams, Mahäyäna Buddhism. The Doctrinal Foundations. The Library of Religious Beliefs and Practices. London u.a.: Routledge, 1989. Rupert Gethin, The Foundations of Buddhism. Oxford / New York: Oxford University Press, 1998. Mit Schwerpunkt auf dem Hïnayâna-Buddhismus und einem Überblick über die Entwicklungen des Buddhismus in Asien außerhalb des indischen Subkontinents sowie im Westen. Heinz Bechert und Richard Gombrich (Hrsg.), Die Welt des Buddhismus. Geschichte und Gegenwart. München: Orbis-Verlag, 2002. Behandelt auch den Buddhismus außerhalb Südasiens. Mit zahlreichen Abbildungen. Donald S. Lopez (Hrsg.), Buddhism in Practice. Princeton Readings in Religions. Princeton: Princeton University Press, 1995. Anthologie mit Schwerpunkt auf Werken zur religiösen Praxis des Buddhismus in Südasien, Südostasien und Ostasien. Enzyklopädien Robert E. Buswell (Hrsg.), Encyclopedia of Buddhism. New York u.a.: Macmillan u.a., 2004. Sehr empfehlenswert. G.P. Malalasekera (Hrsg.), Encyclopaedia of Buddhism. Nachdruck Colombo: Government Press of Ceylon, 196 Iff. Schon etwas älter, aber immer noch sehr nützlich.
XLIV
Appendix III
Wörterbücher Nyanatiloka, Buddhistisches Wörterbuch. Kurzgefaßtes Handbuch der buddhistischen Lehren und Begriffe in alphabetischer Anordnung. Stammbach: Beyerlein und Steinschulte, 1999 (Nachdruck). Gute Darstellung der Dogmatik des Theraväda-Buddhismus. Die Informationen erfolgen zu den Päli-Begriffen, auf die jedoch auch von zahlreichen deutschen Begriffen her verwiesen wird. Mit vielen Übersetzungen und Verweisen auf Originalquellen des Päli-Kanons. Damien Keown, Lexikon des Buddhismus. Übersetzt und bearbeitet von KarlHeinz Golzio. Düsseldorf: Patmos, 2005. Klaus-Josef Notz (Hrsg.), Herders Lexikon des Buddhismus. Grundbegriffe, Traditionen, Praxis in 1200 Stichwörtern von A-Z. Erftstadt: Herder, 2007. Biographie des Buddha Über das Leben des Buddha sind eigentlich nur später entstandene und tradierte Legenden bekannt, so dass man eher von der Hagiographie Buddhas sprechen sollte. Eine klare Darstellung des gesamten Materials in den ältesten Quellen findet man in: André Bareau, Recherches sur la biographie du Buddha dans les Sûtrapitaka et les Vinayapitaka anciens. Paris: École Française d'Extrême-Orient, 1995. Auch über die Lebenszeit des Buddha ist nichts Sicheres bekannt. Die Datierung, die man in praktisch allen Einführungen findet (ca. 540-460 v. u. Z.), ist höchstwahrscheinlich zu früh. Vermutlich lebte der Buddha etwa zwischen 500 und 350 v. u. Z. Zu diesem Thema siehe ganz besonders: Heinz Bechert (Hrsg.), The Dating of the Historical Buddha. Die Datierung des historischen Buddha. Symposien zur Buddhismusforschung 4,1 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge, 189. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991. Heinz Bechert, Die Lebenszeit des Buddha - das älteste feststehende Datum der indischen Geschichte? Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse, Jahrgang 1986, 4. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986. Eine gute Zusammenfassung der Problematik. Der buddhistische Kanon Der einzige vollständig erhaltene buddhistische Kanon in einer indischen Sprache ist der in der Päli-Sprache überlieferte Kanon. Eine fast vollständige Übersetzung ins Englische ist in den zahlreichen Bänden der Pali Text Society (England) zugänglich. Von deutschen Übersetzungen sind vor allem die von Neumann zu nennen, die mehrfach nachgedruckt wurden:
Appendix III
XLV
Karl Eugen Neumann, Die Reden des Buddha. Längere Sammlung. Stammbach: Beyerlein und Steinschulte, 1996. Karl Eugen Neumann, Reden Gotama Buddhas aus der Mittleren Sammlung. München/Zürich: Piper, 1987. Neumann übersetzte auch weitere Teile dieses Kanons. Große Teile des Päli-Kanons in deutscher Übersetzung verschiedener Autoren sind online verfügbar: http://www.palikanon.com/ Philosophie des Buddhismus Eine neue allgemeine Einleitung: Mark Siderits, Buddhism as Philosophy. An Introduction. Ashgate World Philosophies Series. Indianapolis, Ind.: Aldershot u.a., 2007. Weitere Übersetzungen und Studien zur Hïnayâna-Dogmatik sowie zur Philosophie des Mahäyäna (Madhyamaka, Tathägatagarbha, Yogäcära) (gemäß Frauwallners Unterteilung im vorliegenden Band): 1. HTnayäna-Buddhismus Louis de La Vallée Poussin, UAbhidharmakosa de Vasubandhu. 6 Bände. Paris: Geuthner, 1973 (Nachdruck). Übersetzung ins Englische von Leo M. Prüden: Vasubandhu, Abhidharmakosabhäsya. Translated by Louis de La Vallée Poussin. Berkeley: Asian Humanities Press, 1990. Das bedeutendste Werk der Hinayäna-Scholastik, aus dem auch Frauwallner im vorliegenden Band übersetzt. Diese einzige vollständige Übersetzung in eine europäische Sprache basiert auf einer Übersetzung des Sanskrit-Originals ins Chinesische. Mit reichen Anmerkungen versehen. André Bareau, Les sectes bouddhiques du petit véhicule. Publications de l'École Française d'Extrême-Orient 38. Paris: École Française d'Extrême-Orient, 1955. Eine detaillierte Zusammenfassung der Hauptlehren der über dreißig HïnayânaSchulen. 2. Madhyamaka Zu den Werken Nägärjunas: Bernhard Weber-Brosamer und Dieter M. Back, Die Philosophie der Leere. Nägärjunas Mülamadhyamaka-Kärikäs. Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierenden Einführungen. Beiträge zur Indologie 28. Wiesbaden: Harrassowitz, 2005.
XLVI
Appendix III
Vollständige deutsche Übersetzung. Das grundlegende Werk dieser Schule, aus dem auch Frauwallner hier einige Kapitel übersetzt. Jefírey Hopkins, Nägärjunas Juwelenkette. Buddhistische Lebensführung und der Weg der Befreiung. Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Liebl. Diederichs Gelbe Reihe. Kreuzlingen/München: Hugendubel, 2006. Übersetzung gemäß der Interpretation des tibetischen Gelehrten rGyal tshab Dar ma rin chen. Christian Lindtner, Nagarjuniana. Studies in the Writings and Philosophy of Nägärjuna. Indiske Studier 4. Copenhagen: Akademisk Forlag, 1982. Diskutiert u.a. die Authentizität der zahlreichen dem Nägäijuna zugeschriebenen Werke und enthält knapp annotierte Übersetzungen (aus dem Sanskrit und Tibetischen) von insgesamt dreizehn dieser Werke, darunter auch diejenigen, die allgemein als nicht authentisch betrachtet werden. Etienne Lamotte, Le traité de la grande vertu de sagesse de Nägärjuna. Publications de l'Institut Orientaliste de Louvain. Bibliothèque du Muséon 81. Louvainla-Neuve: Institut Orientaliste, Université de Louvain, 1944-1980. Ein wahrscheinlich nicht von Nägäijuna stammendes umfangreiches Werk der Mahäyäna-Dogmatik, das nur in einer chinesischen Übersetzung erhalten ist, auf der die mit zahlreichen Erläuterungen versehene Übersetzung Lamottes basiert. Auf Nägäijuna folgende Madhyamaka-Philosophen: Karen Lang, Äryadeva' s Catuhsataka. On the Bodhisattva's Cultivation of Merit and Knowledge. Indiske Studier 7. Copenhagen: Akademisk Forlag, 1986. Tom J.F. Tillemans, Materials for the Study of Äryadeva, Dharmapäla and Candraklrti. The Catuhsataka of Äryadeva, Chapters XII and XIII, with the Commentaries of Dharmapäla and Candraklrti. Introduction, Translation, Sanskrit, Tibetan and Chinese Texts, Notes. Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde 24. Wien: Arbeitskreis für Tibetische und Buddhistische Studien, Universität Wien, 1990. C.W. Huntington, Jr., The Emptiness of Emptiness. An Introduction to Early Indian Mädhyamika. Honolulu: University of Hawaii Press, 1989. Enthält eine vollständige Übersetzung des Madhyamakävatära („Eintritt in die Lehre des Mittleren Weges") von Candraklrti. Studie und Übersetzung sind stark von der Interpretation gemäß der tibetischen Überlieferung des Madhyamaka geprägt. Cristina Anna Scherrer-Schaub, Yuktisastikävrtti. Commentaire à la soixante sur le raisonnement ou Du vrai enseignement de la causalité par le Maître indien Candraklrti. Mélanges chinois et bouddhiques 25. Bruxelles: Institut Belge des Hautes Études Chinoises, 1991.
Appendix III
XLVII
Annotierte Übersetzung des Kommentars Candrakïrtis zu einem der grundlegenden Werke Nägäijunas. Ernst Steinkellner, Der Weg des Lebens zur Erleuchtung. Der Bodhicaryävatära. Diederichs Gelbe Reihe. Kreuzlingen/München: Hugendubel, 2005 (Nachdruck). Berühmtes, auch literarisch-ästhetisch sehr ansprechendes Gedicht zu Praxis und Lehren des Mahäyäna aus Sicht des Madhyamaka-Philosophen Säntideva. Zur Literatur des Madhyamaka David Seyfort Ruegg, The Literature of the Madhyamaka School of Philosophy in India (= History of Indian Literature, ed. J. Gonda, 7,1). Wiesbaden: Harrassowitz, 1981. Grundlegend für das Verständnis des Madhyamaka in Indien und Tibet sind: David Seyfort Ruegg, Three Studies in the History of Indian and Tibetan Madhyamaka Philosophy. Studies in Indian and Tibetan Madhyamaka Thought 1. Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde 50. Wien: Arbeitskreis für Tibetische und Buddhistische Studien, Universität Wien, 2000. David Seyfort Ruegg, Two Prolegomena to Madhyamaka Philosophy. Studies in Indian and Tibetan Madhyamaka Thought 2. Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde 54. Wien: Arbeitskreis fur Tibetische und Buddhistische Studien, Universität Wien, 2002. Enthält annotierte Übersetzungen des Kommentars Candrakïrtis (Prasannapadä) zur ersten Strophe von Nägäijunas Mülamadhyamakakärikäs, der in der Folgezeit für die Philosophie des Madhyamaka grundlegend wird, sowie der Darstellung von acht zentralen Punkten der Madhyamaka-Philosophie durch den tibetischen Gelehrten Tsong kha pa bio bzang grags pa (14./15. Jh.), zusammen mit dem Kommentar seines Schülers rGyal tshab Dar ma rin chen. 3. Tathägatagarbha („Schule des Säramati") Michael Zimmermann, A Buddha Within: The Tathägatagarbhasütra. The Earliest Exposition of the Buddha-Nature Teaching in India. Bibliotheca Philologica et Philosophica Buddhica 6. Tokyo: International Research Institute for Advanced Buddhology, Soka University, 2002. Der früheste Text dieser philosophischen Schule; eine klare Übersetzung mit ausfuhrlichen Anmerkungen. Jikido Takasaki, A Study on the Ratnagotravibhäga, Being a Treatise on the Tathägatagarbha Theory of Mahäyäna Buddhism. Roma: Istituto Italiano per il Medio ed Estremo Oriente, 1966. Vollständige Übersetzung dieses grundlegenden Werkes, aus dem auch Frauwallner hier übersetzt.
XLVIII
Appendix III
Alex Wayman and Hideko Wayman, The Lion's Roar of Queen Srimälä. A Buddhist Scripture on the Tathägatagarbha Theory. New York, NY u.a.: Columbia University Press, 1974. Ein Mahäyänasütra, in dem der Buddha der Königin Srimälä die Lehren der Tathägatagarbha-Schule verkündigt. David Seyfort Ruegg, La théorie du Tathägatagarbha et du Gotra. Etudes sur la Sotériologie et la Gnoséologie du Bouddhisme. Publications de l'École Française d'Extrême-Orient 70. Paris: École Française d'Extrême-Orient, 1969. Grundlegende umfangreiche Studie, die mit den kanonischen Quellen beginnt und auch die Weiterentwicklung der Tathägatagarbha-Tradition in Tibet berücksichtigt. Setzt ihre Erlösungs- und Erkenntnislehre in Beziehung zu den Lehren des Madhyamaka und des Yogäcära. 4. Yogäcära Louis de La Vallée Poussin, La Siddhi de Hiuan-Tsang. Buddhica Série 1, Mémoires. Paris: Geuthner, 1928-1929. Eine wichtige Ergänzung zu Frauwallners Übersetzung der Trimsikä\ der umfangreiche Kommentar eines chinesischen buddhistischen Gelehrten des 7. Jahrhunderts, der mehrere verlorene Kommentare zusammenfasst und bespricht. Vollständige annotierte Übersetzung. Als älteste Schrift der Yogäcära-Schule gilt die Yogäcärabhümi, eine monumentale enzyklopädische Kompilation verschiedener Texte unterschiedlichen Alters, von der bis jetzt nur wenige Teile zusammenhängend übersetzt worden sind: Hidenori S. Sakuma, Die Äsrayaparivrtti-Theorie in der Yogäcärabhümi. Altund Neu-Indische Studien 40. Stuttgart: Steiner Verlag, 1990. Studie zur Yogäcära-Lehre der „Umwandlung der Grundlage", mit zahlreichen übersetzten Passagen aus der Yogäcärabhümi. Janice Dean Willis, On Knowing Reality. The Tattvärtha Chapter of Asahga's Bodhisattvabhümi. New York: Columbia University Press, 1979. Übersetzung des Kapitels über die Erkenntnis der Wirklichkeit/Wahrheit im Teil der Yogäcärabhümi, der die spirituelle Stufe des Bodhisattva behandelt. Florin Deleanu, The Chapter on the Mundane Path (Laukikamärga) in the Srävakabhümi. A Trilingual Edition (Sanskrit, Tibetan, Chinese), Annotated Translation and Introductory Study. 2 Bände. Studia Philologica Buddhica 20, Tokyo: The International Institute for Buddhist Studies, 2006. Etienne Lamotte, La somme du grand véhicule d'Asahga. (Mahäyänasamgraha). Publications de l'Institut Orientaliste de Louvain 8. Louvain-la-Neuve: Institut Orientaliste, Université de Louvain, 1973.
Appendix III
XLIX
Nachdruck der Erstausgabe von 1938. Theodore Stcherbatsky, Maitreyanätha, Madhyäntavibhanga. Discourse on the Discrimination between Middle and Extremes Ascribed to Bodhisattva Maitreya and Commented by Vasubandhu and Sthiramati. Calcutta: KLM Private, 1992. Nachdruck des Originals, das 1936 als Band 30 der Bibliotheca Buddhica in Leningrad erschien. Eine neuere Übersetzung aus der Sicht der tibetischen Tradition: Middle Beyond Extremes. Maitreya's Madhyäntavibhanga with Commentaries by Khenpo Shenga and Ju Mipham. Translated by the Dharmachakra Translation Committee. Ithaca, NY: Snow Lion Publications, 2007. Klaus-Dieter Mathes, Unterscheidung der Gegebenheiten von ihrem wahren Wesen (Dharmadharmatävibhäga). Eine Lehrschrift der Yogäcära-Schule in tibetischer Überlieferung. Indica et Tibetica 26. Swisttal-Odendorf: Indica et Tibetica-Verlag, 1996. Ein weiteres Werk des Maitreya(nätha). Lambert Schmithausen, Älayavijnäna. On the Origin and Early Development of a Central Concept ofYogäcära Philosophy. Studia Philologica Buddhica, Monograph Series 4. 2. Auflage. Tokyo: International Institute for Buddhist Studies, 2007. John Powers, The Yogäcära School of Buddhism: A Bibliography. ATLA Bibliography Series 27. Metuchen, NJ u.a.: Scarecrow Press u.a., 1991. Zur von Frauwallner im vorliegenden Band nicht berücksichtigten, philosophisch bedeutendsten Tradition, der logisch-erkenntnistheoretischen Schule des Buddhismus ramäna-Schule"): Literaturübersicht Ernst Steinkellner und Michael Torsten Much, Texte der erkenntnistheoretischen Schule des Buddhismus. Systematische Übersicht über die buddhistische Sanskrit-Literatur 2. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse, Folge 3, 214. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995. Als Übersicht über die Philosophie der Pramäna-Schule ist immer noch nicht ersetzt: Theodore Stcherbatsky, Buddhist Logic. 2 Bände. Kila, MT: Kessinger Publishing Company 2004 (und weitere frühere Nachdrucke). Auch dieses Werk des großen russischen Buddhismusforschers erschien zuerst in der Serie Bibliotheca Buddhica (Band 26; Leningrad 1930-1932).
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Appendix III
Die beiden zentralen Figuren dieser philosophischen Tradition sind Dignäga (ca. 480-540) und Dharmakïrti (ca. 600-660), deren Lehren und Werke in zahlreichen Aufsätzen Frauwallners behandelt werden (s. oben, Appendix II). Besonders empfehlenswert sind „Dignäga, sein Werk und seine Entwicklung" (1959) sowie „Die Reihenfolge und Entstehung der Werke Dharmakïrti's" (1954). Von Dignägas wichtigstem Werk, dem Pramänasamuccaya, ist bis jetzt nur das erste Kapitel vollständig übersetzt: Masaaki Hattori, Dignäga'. On Perception, Being the Pratyaksapariccheda of Dignäga's Pramänasamuccaya. Harvard Oriental Series 47. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1968. Übersetzt anhand von Sanskrit-Fragmenten und zweier tibetischer Übersetzungen des Sanskrit-Originals. Richard Hayes, Dignäga on the Interpretation of Signs. Studies of Classical India 9. Dordrecht u.a.: Kluwer Academic Publishers, 1988. Zur Schlussfolgerungslehre und Sprachphilosophie im Pramänasamuccaya. Als handbuchartige Einführung in die Philosophie Dharmakïrtis ist der Nyäyabindu am geeignetsten. Er wurde von Stcherbatsky als 2. Band der Buddhist Logic (s.o.) übersetzt und kommentiert. Die beiden Hauptwerke Dharmakïrtis sind das Pramänavärttika und der Pramänaviniscaya. Beide sind nur teilweise übersetzt. Aus dem umfangreichen Pramänavärttika, das als das erste Werk Dharmakïrtis gilt, sind Teile des ersten Kapitels zur Schlussfolgerung übersetzt: Satkari Mookeijee and Hojun Nagasaki, The Pramänavärttikam. An English Translation of the First Chapter with the Autocommentary and with Elaborate Comments (kärikäs I-LI). Nalanda, Patna: Nava Nalanda Mahavihara, 1964. Vincent Eltschinger, Penser l'autorité des écritures. La polémiqué de Dharmakïrti contre la notion brahmanique orthodoxe d'un Veda sans auteur. Autour de Pramänavärttika 1.213-268 et Svavrtti. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 760 = Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens 56. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2007. Teile des zweiten Kapitels zu Religionsphilosophie sind übersetzt in: Eli Franco, Dharmakïrti on Compassion and Rebirth. Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde 38. Wien: Arbeitskreis für Tibetische und Buddhistische Studien, 1997. Tilmann Vetter, Der Buddha und seine Lehre in Dharmakïrtis Pramänavärttika. Der Abschnitt über den Buddha und die vier edlen Wahrheiten im Pramänasiddhi-
Appendix III
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Kapitel. Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde 12. Wien: Arbeitskreis für Tibetische und Buddhistische Studien, 1984. Übersetzungen von einigen Strophen aus dem dritten Kapitel zur Wahrnehmung finden sich in: C.S. Vyas, Buddhist Theory of Perception. With Special Reference to Pramäna Värttika of Dharmakïrti. New Delhi: Navrang, 1991. Teile des vierten Kapitels zur „Schlussfolgerung für andere" sind übersetzt in: Tom J.F. Tillemans, DharmalärtVs Pramänavärttika. An Annotated Translation of the Fourth Chapter (parärthänumäna). Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 675 = Veröffentlichungen zu den Sprachen und Kulturen Südasiens 32. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2000. Der Pramänaviniscaya gilt als ein reifes systematisches Werk Dharmakïrtis. Von seinen drei Kapiteln (Wahrnehmung, Schlussfolgerung für sich selbst und Schlussfolgerung für andere) sind die ersten zwei aus dem Tibetischen übersetzt worden, da das Sanskrit-Original erst kürzlich zugänglich wurde: Tilmann Vetter, Dharmakïrti s Pramänaviniscayah. 1. Kapitel: Pratyaksam. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, 250,3 = Veröffentlichungen der Kommission für Sprachen und Kulturen Südasiens 3. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1966. Ernst Steinkellner, Dharmaklrti's Pramänaviniscayah. Ubersetzung und Anmerkungen. Sitzungsberichte der Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 358 = Veröffentlichungen der Kommission für Sprachen und Kulturen Südasiens 15. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1979. Einführend zu Dharmakïrtis Philosophie im allgemeinen, im Fall des zweiten Buches auch zu ihrer Rezeption in Tibet: John D. Dunne, Foundations of DharmalärtVs Philosophy. Studies in Indian and Tibetan Buddhism. Boston, Mass.: Wisdom Publications, 2004. Tom J.F. Tillemans, Scripture, Logic, Language. Essays on Dharmakïrti and his Tibetan Successors. Studies in Indian and Tibetan Buddhism 1. Boston, Mass.: Wisdom Publications, 1999. Aus der Zeit nach Dharmakïrti sind als weitere wichtige Philosophen Dharmottara, Prajñakaragupta, Sañkaranandana und Jñanasnmitra zu nennen.
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Appendix III
Dharmottaras Kommentar zum Nyäyabindu wurde ebenfalls von Stcherbatsky im zweiten Band seiner Buddhist Logic (s.o.) übersetzt. Die Übersetzung eines kurzen selbständigen Werkes von Dharmottara findet sich in: Helmut Krasser, Dharmottaras kurze Untersuchung der Gültigkeit einer Erkenntnis. Laghuprämänyapariksä. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 578 = Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens 7. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1991. Aus Prajfiäkaraguptas umfangreichem und philosophisch sehr interessantem Kommentar zu Dharmakïrtis Pramänavärttika ist nur wenig übersetzt (s. das oben zum Pramänavärttika angeführte Buch von Franco). áaiikaranandana ist ein bis jetzt noch wenig bekannter späterer Philosoph. Von seinen zahlreichen Werken ist nur eines übersetzt: Helmut Krasser, Éañkaranandanas Isvaräpäkaranasanksepa. Mit einem anonymen Kommentar und weiteren Materialien zur buddhistischen Gottespolemik. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 689 = Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens 39. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2002. Der letzte bedeutende buddhistische Philosoph Südasiens ist Jftänasnmitra. Zwei seiner zwölf im Sanskrit-Original erhaltenen Werke sind bereits (teilweise) übersetzt: Horst Lasic, Mänastimitras Vyäpticarcä. Sanskrittext, Übersetzung, Analyse. Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde 48. Wien: Arbeitskreis für Tibetische und Buddhistische Studien, 2000. Taiken Kyuma, Sein und Wirklichkeit in der Augenblicklichkeitslehre Jnänasrlmitras. Ksanabhangädhyäya I: Paksadharmatädhikära. Sanskrittext und Übersetzung. Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde 62. Wien: Arbeitskreis für Tibetische und Buddhistische Studien, 2005. Studien zu zentralen Themen der Philosophie des Buddhismus Claus Oetke, ,Jch" und das Ich. Analytische Untersuchungen zur buddhistischbrahmanischen Ätmankontroverse. Alt- und Neu-Indische Studien 33. Stuttgart: Steiner Verlag, 1988. Steven Collins, Selfless Persons. Imagery and Thought in Theraväda Buddhism. Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1982.
Appendix III
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Alexander von Rospatt, The Buddhist Doctrine of Momentariness. A Survey of the Origins and Early Phase of this Doctrine up to Vasubandhu. Alt- und NeuIndische Studien 47. Stuttgart: Steiner Verlag, 1995. Steven Collins, Nirväna and Other Buddhist Felicities. Utopias of the Pali Imaginaire. Cambridge Studies in Religious Traditions 12. Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1998. Paul J. Griffiths, On Being Buddha. The Classical Doctrine of Buddhahood. Albany, NY: State University of New York Press, 1994. Paul J. Griffiths, On Being Mindless. Buddhist Meditation and the Mind-Body Problem. La Salle, 111.: Open Court, 1987. Mudagamuwe Maithrimurthi, Wohlwollen, Mitleid, Freude und Gleichmut. Eine ideengeschichtliche Untersuchung der vier apramänas in der buddhistischen Ethik und Spiritualität von den Anfangen bis hin zum frühen Yogäcära. Alt- und Neu-Indische Studien 50. Stuttgart: Steiner Verlag, 1999.
Einleitung In der indischen Philosophie nehmen die Systeme der Buddhisten eine führende Stellung ein. Der Buddha selbst hatte zwar ausschließlich eine Erlösungslehre verkündet und zu den philosophischen Fragen seiner Zeit kaum Stellung genommen. Als aber im Laufe der letzten Jahrhunderte v. u. Z. die allgemeine Entwicklung der indischen Philosophie zur Bildung vollständiger philosophischer Systeme geführt hatte, begannen auch die Buddhisten, ihre alte Lehre zum System auszubauen. Und schon damals entwickelten sie eigentümliche beachtenswerte Anschauungen, wie die Lehre von der Augenblicklichkeit aller Dinge oder die Leugnung des Vorhandenseins einer Seele. Am wichtigsten war es aber, daß die Schulen des Mahäyäna die grundlegende Frage nach der Wirklichkeit der Erscheinungswelt aufwarfen, daß sie ihre Irrealität exakt nachzuweisen suchten, zur Begründung ihrer Auffassung einen wohldurchdachten erkenntnistheoretischen Idealismus schufen und gleichzeitig entscheidend zum Ausbau der Erkenntnistheorie und Logik beitrugen, welche am Ende der klassischen Periode der indischen Philosophie eine hohe Blüte erreichten und zu dem Bedeutendsten gehören, was die indische Philosophie überhaupt geschaffen hat. Darüber hinaus hat die Philosophie der Buddhisten auch auf die folgende Zeit stark gewirkt und vor allem der Vedänta hat aus ihr nachhaltige Anregungen geschöpft. Trotz dieser hohen Bedeutung der buddhistischen Philosophie ist sie in weiteren Kreisen noch immer wenig bekannt. Eine befriedigende Darstellung fehlt. Und die Quellen selbst sind dem, der mit den Ursprachen nicht vertraut ist, kaum zugänglich. Es ist zwar manches übersetzt, aber das ist nur ein kleiner Teil einer umfangreichen Literatur, so daß sich damit nur schwer ein allgemeiner Überblick gewinnen läßt. Außerdem ist auch das Studium dieser Übersetzungen so mühsam, daß sie über engere Fachkreise kaum hinausgedrungen sind. Eine Möglichkeit auch für weitere Kreise, sich ohne allzu große Mühe mit der Gedankenwelt der buddhistischen Philosophen vertraut zu machen, fehlt nach wie vor.1
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Vor kurzem sind zwei Werke erschienen, welche eine Auswahl buddhistischer Texte in Übersetzung enthalten, Buddhist Texts through the Ages, edited by E. Conze, in collaboration with I. B. Horner, D. Snellgrove, A. Waley, Philosophical Library, New York 1954, und Buddhistische Geisteswelt, vom historischen Buddha zum Lamaismus, Texte, ausgewählt und eingeleitet von G. Mensching, Darmstadt 1955. Beide geben gut ausgewählte Proben aus den verschiedensten Schichten des buddhistischen Schrifttums. Aber in beiden nehmen die rein philosophischen Texte nur einen bescheidenen Raum ein und die Entwicklung der philosophischen Gedanken ist nicht weiter verfolgt.
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Diese Möglichkeit soll nun das vorliegende Werk schaffen, und zwar soll es an Hand ausgewählter Texte eine erste Einführung geben, welche anschließend ein weiteres eingehenderes Studium ermöglicht. Ein solches Unternehmen ist allerdings mit großen Schwierigkeiten verbunden. In der indischen Philosophie der älteren Zeit, mit der wir es hier ausschließlich zu tun haben, gibt es kaum Texte, die bestimmt waren, Außenstehenden die Lehren der verschiedenen Systeme darzulegen. Das war Sache der mündlichen Belehrung, wie überhaupt das gesprochene Wort im philosophischen und religiösen Leben Indiens immer die beherrschende Rolle spielte. Was uns aus dieser Zeit erhalten ist, besteht, sofern es für den inneren Gebrauch der Schulen bestimmt war, im wesentlichen aus ursprünglich mündlich überlieferten Merksprüchen und Merkversen, sofern es der Auseinandersetzung mit fremden Schulen diente, aus polemischen Werken. Keines von beiden sind Darstellungen, wie wir sie uns wünschen würden. Die Merktexte geben in knappster Form Stichwörter für das Gedächtnis, die bestimmt waren, zusammen mit mündlichen Erläuterungen überliefert zu werden, und die daher ohne solche Erläuterungen kaum verständlich sind. Außerdem sollten sie nicht so sehr die grundlegenden Lehren, sondern die Systeme in ihrer Gesamtheit festhalten, besonders auch dem Gedächtnis leicht entschwindende Einzelheiten und schulgerechte Formulierungen umstrittener Punkte. Die polemischen Texte wiederum setzen gewöhnlich alte, schon Generationen lang dauernde Auseinandersetzungen fort, mit denen der Leser vertraut sein muß, wenn er die einzelnen Erörterungen richtig verstehen will. Dabei tritt auch hier das Grundsätzliche, die große Linie, gegenüber den Einzelheiten zurück, auf die sich der Streit zugespitzt hatte. Das, was uns das Wichtigste ist, muß hier wie dort meist erst in mühsamer Arbeit aus den Texten herausgeholt und nur zu oft aus einzelnen Bemerkungen und Andeutungen erschlossen werden. Bei den buddhistischen Werken kommt außerdem hinzu, daß große Teile derselben philosophisch ohne Interesse sind. Und zwar handelt es sich in solchen Fällen vor allem um Besprechungen des praktischen Erlösungsweges, wobei technische Einzelheiten mit ermüdender Breite vorgetragen und ausgesponnen werden, während das philosophisch Wertvolle dazwischen fast erdrückt wird. Schließlich wird für den Leser das Studium aller dieser Werke noch dadurch erschwert, daß es bisher keine ausreichende Darstellung der buddhistischen Philosophie gibt, welche ihm die nötigen Voraussetzungen liefern würde, um die Texte richtig einzuordnen und aufzufassen, sondern daß er sich das meiste erst selbst erarbeiten muß. Um allen diesen Schwierigkeiten zu begegnen, habe ich folgenden Weg gewählt. Ich gebe keine geschlossenen größeren Texteinheiten wieder, sondern ich habe philosophisch wertvolle Stücke herausgegriffen und nach sachlichen Gesichtspunkten zusammengestellt, so daß der Leser leicht die Entwicklung der einzelnen Gedanken zu verfolgen vermag. Besonderen Wert aber habe ich auf die Erklärung der Texte gelegt. Zunächst orientiert ein kurzer Abriß über den Verfasser und seine Lehre. Dann folgen die Texte mit ausfuhrlichen
Einleitung
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Erläuterungen.1 Zur Durchführung im einzelnen möchte ich bemerken, daß ich streng zwischen Übersetzung und Erklärung unterscheide. Eine Übersetzung hat dem der Sprache unkundigen Leser möglichst getreu zu vermitteln, was das Original enthält. Ist das Original feierlich und langatmig, so kann auch die Übersetzung nur feierlich und langatmig sein. Ist das Original hart und dunkel, so darf die Übersetzung nicht Glätte und Klarheit vortäuschen. Sonst ist sie keine Übersetzung mehr, sondern eine Bearbeitung. Selbst logische Fehler des Verfassers hat der Übersetzer unverändert wiederzugeben. Sie aufzuzeigen und zu erklären ist Sache der Erläuterungen. Die Erläuterungen selbst sind ziemlich umfangreich, besonders bei den knappen Merktexten. Dabei habe ich es vorgezogen, statt abgerissener einzelner Anmerkungen eine durchlaufende Erklärung zu geben und diese an die Spitze des Textes zu stellen. Es handelt sich dabei um keinen eingehenden wissenschaftlichen Kommentar. Aber ich hoffe, daß meine Erläuterungen alles enthalten, was für ein erstes Verständnis der Texte notwendig ist. In der schwierigen Frage der Wiedergabe der philosophischen Terminologie bin ich folgendermaßen verfahren. Da es sich hier, im Gegensatz zur antiken Philosophie, um eine Sprache handelt, die nur den wenigsten Lesern vertraut ist, war eine Beibehaltung der originalen Termini nicht möglich. Ich habe daher grundsätzlich übersetzt, zur Vermeidung von Irrtümern und Unklarheiten jedoch die indischen Ausdrücke in Klammern beigefügt. Dabei habe ich mich bemüht, durchgängig an der gleichen Übersetzung des gleichen Terminus festzuhalten. Ferner habe ich auch hier zwischen Übersetzung und Erklärung unterschieden. Schließlich muß auch der Inder, der sich mit einem philosophischen System vertraut macht, erst die terminologische Bedeutung der verschiedenen Ausdrücke kennenlernen. Ich habe daher soweit wie möglich Übersetzungen gewählt, die etwa dasselbe ausdrücken, was für den Inder das betreffende Wort zunächst besagt. Die genaue philosophische Bedeutung ergibt sich aus den Erläuterungen. Vor allem aber habe ich vermieden, Ausdrücke der europäischen philosophischen Terminologie zu verwenden. Denn so bestechend es oft auf den ersten Blick erscheint, in der Regel führt es irre und erweckt falsche Vorstellungen. Überhaupt habe ich mich durchwegs bemüht, die indische Prägung der Gedanken festzuhalten und möglichst genau wiederzugeben. Denn nur so ist ein richtiges Verstehen dieser fremden Gedankenwelt möglich. Um nur ein Beispiel zu geben, der Begriff des Grunderkennens (älayavijnänam) der buddhistischen Yogäcära-Schule lockt geradezu zur Übersetzung als „Unterbewußtsein." Aber die buddhistische Philosophie kennt auch den Begriff des Bewußtseins, und zwar bezeichnet sie es in der älteren Zeit als samjnä, in der jüngeren als samvit. Wenn sie nun das Grunderkennen als Erkennen (vijnänam) bezeichnet und nicht als Bewußtsein, so bestimmt sie es damit bewußt als ein psychisches Phänomen,
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An Stelle eigener Erklärungen indische Kommentare mitzuübersetzen, hat den Nachteil, daß diese oft selbst der Erklärung bedürfen und sehr häufig fremde Gedanken in die Texte hineininterpretieren.
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dem ganz bestimmte Eigenschaften zukommen und welches vom Bewußtsein wesentlich verschieden ist. Und das muß der Übersetzer meiner Ansicht nach festhalten und darf es nicht verwischen. Auf einem Gebiet, das noch so wenig bearbeitet ist, wie das der buddhistischen Philosophie, ist ferner vieles Sache der persönlichen Auffassung. Ich gebe natürlich meine eigenen Auffassungen wieder. Die Begründungen dafür bringt meine „Geschichte der indischen Philosophie"1 und die daneben veröffentlichten wissenschaftlichen Abhandlungen. Zur Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten ist in einem Werk wie dem vorliegenden kein Platz. Nur auf zwei Punkte möchte ich kurz eingehen. Den großen Madhyamaka-Lehrer Nägäijuna hat man bisher gewöhnlich für einen Südinder gehalten. Demgegenüber vertritt Et. Lamotte neuerdings die Ansicht, daß er im Nordwesten Indiens gewirkt hat, und zwar stützt er sich dabei auf den Mahäprajftäpäramitopadesah.2 Das ist insofern richtig, als dieses Werk tatsächlich im Nordwesten entstanden sein muß. Ich halte es aber für kein Werk des großen Nägäijuna und bin infolgedessen bei der alten Auffassung geblieben. Ein zweites ist die Unterscheidung zwischen Asañga und seinem Lehrer Maitreyanätha. Vor kurzem hat nämlich P. Demiéville ausführlich gezeigt, daß die Werke, welche von manchen Gelehrten einem Lehrer Asangas namens Maitreyanätha zugeschrieben werden, nach indischer Überlieferung Asañga von dem Bodhisattva Maitreya geoffenbart wurden, daß der Glaube an solche Offenbarungen in den buddhistischen Kreisen der damaligen Zeit gang und gäbe war und daß uns nichts berechtigt, aus dieser Überlieferung einen historischen Lehrer Asangas namens Maitreyanätha zu erschließen.3 Ich gehe aber in diesem Fall nicht von der Legende aus. Ich finde vielmehr, daß die wichtigsten Schriften, die unter dem Namen Asañgas überliefert sind, in zwei Gruppen zerfallen, welche sich in ihren philosophischen Anschauungen scharf voneinander unterscheiden4 und unvermittelt nebeneinander stehen. Nun ist es an und für sich möglich, daß ein Philosoph im Laufe seines Lebens seine Anschauungen ändert. Wenn aber der Gegensatz so schroff ist und nun die Überlieferung gerade die Werke der einen Gruppe auf fremde Inspiration zurückführt, so scheint es mir berechtigt, wirklich fremde Herkunft und einen anderen Verfasser anzunehmen. Maitreyanätha ist außerdem als Personenname ohne weiteres möglich und tatsächlich bezeugt. Ebenso leicht möglich und verständlich ist es
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E. Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie. Salzburg, Otto Müller Verlag, I. Band 1953, II. Band 1956. Vgl. Ét. Lamotte, Sur la formation du Mahäyäna, Asiatica, Festschrift Friedrich Weller, Leipzig 1954, S. 377-396. P. Demiéville, La Yogäcärabhümi de Sangharaksa, Bulletin de l'École Française d'Extrême-Orient, tome XLIV, Hanoi 1954, S. 381, Anm. 4. Vgl. auch meinen Aufsatz Amalavijñanam und Älayavijfiänam, ein Beitrag zur Erkenntnislehre des Buddhismus, Beiträge zur indischen Philologie und Altertumskunde, Walther Schubring zum 70. Geburtstag dargebracht, Hamburg 1951, S. 148-159.
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aber auch, daß die spätere Überlieferung in diesem Maitreyanätha oder kurz Maitreya den Bodhisattva sah und daß es so zur Entstehung der Legende kam. Zum Schlüsse möchte ich noch betonen, daß sich das vorliegende Werk ausschließlich auf die buddhistische Philosophie Indiens in der klassischen Zeit beschränkt. Und selbst in dieser Beschränkung ist es nur eine bescheidene Auswahl aus einem umfangreichen Schrifttum. Ich hoffe aber, daß es sich als erste Einführung bewährt und daß es dem Leser ermöglicht, einen ersten Überblick zu gewinnen, und ihm die Voraussetzungen gibt, wenn sein Interesse weiter fuhrt, in die Werke der buddhistischen Philosophen selbst einzudringen. E. Frauwallner
Α. DIE LEHRE DES BUDDHA Der Buddha (um 560-480 v. u. Z.) Nach den Lehren der Upanisaden ist das nächste, worüber die Überlieferung berichtet, die Lehre des Buddha. Der Buddha war zwar kein Philosoph im eigentlichen Sinn, sondern der Verkünder einer Erlösungslehre. Das Philosophische beschränkt sich bei ihm auf wenige Gedankengänge und Lehrsätze, welche die theoretische Grundlage für seinen Erlösungsweg abgeben. Aber der Impuls, der von ihm ausging, war so stark und an seine Verkündigung schließen später so bedeutende Denker ihre Systeme an, daß seine Lehre besondere Berücksichtigung verdient. Zeitlich und räumlich ist der Buddha von den jüngsten Lehren der Upanisaden-Zeit nicht weit getrennt. Das Land, wo er geboren war und wo er lebte und wirkte, war nicht weit vom Videha-Land entfernt, in dem Janaka, der sagenhafte Schutzherr Yäjnavalkyas geherrscht hatte. Und auch der zeitliche Abstand dürfte nicht sehr groß sein. Und doch hatte sich in der Zwischenzeit viel geändert. Der Schwung und die erste Begeisterung der Upanisaden-Zeit war verflogen. Zahlreiche Lehrer durchzogen das Land und predigten ihre verschiedenen Lehren. Und an die Stelle der begeisterten Verkündigung der Ätman-Lehre war das Gezänk der rivalisierenden Schulen getreten. Dabei war aber die Zeit von einem tiefen Erlösungsstreben erfüllt, das weiteste Kreise ergriffen hatte und sich besonders auch auf die vornehmen Kreise erstreckte. Beides hat entscheidend auf die Persönlichkeit des Buddha gewirkt. Vor allem ist er von einem leidenschaftlichen Drang erfüllt, die Erlösung aus dem Leid des Daseins zu finden. Der philosophische Lehrbetrieb seiner Zeit hat dagegen abstoßend auf ihn gewirkt. Er sah darin einen Irrweg, der vom eigentlichen Erlösungsziel abführt. Und das hat für die Dauer seines Lebens seine Stellung zur Philosophie bestimmt. Er verkündet daher den Erlösungsweg, den er selbst durch eigene Erfahrung gefunden hat. Theoretische Erörterungen lehnt er so weit wie möglich ab. Und nur die Begründung der Verstrickung in das Leid des Daseins und der Möglichkeit der Erlösung gibt er in wenigen formelartigen Sätzen. An der Spitze der Verkündigung des Buddha steht die Predigt von Benares, in der er, nach buddhistischer Ausdrucksweise, das Rad der Lehre in Bewegung setzte. Denn wie nach indischer Sage dem weltbeherrschenden König ein
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wunderbares Rad voranrollt und den Weg auf seinem Siegeszug zur Eroberung der Erde zeigt, so hat der Buddha durch diese Predigt das Rad der Lehre in Bewegung gesetzt, das von da an siegreich über die Erde rollte. Gerichtet ist die Predigt an fünf Jünger, welche sich dem Buddha während der Zeit seines Strebens angeschlossen, sich dann aber von ihm abgewendet hatten, als er die übermäßigen Kasteiungen als nutzlos aufgab, weil sie ihm vorwarfen, er habe sich dem Wohlleben zugewendet. Darauf spielen die einleitenden Worte der Predigt an. Dann folgt die Verkündigung der vier edlen Wahrheiten, welche nach alter Anschauung den Kern der erlösenden Erkenntnis ausmachen. Die Predigt hat folgenden Wortlaut.
Die Predigt von Benares (Dharmacakrapravartanasütram) Darauf sprach der Erhabene zur Gruppe der fünf Mönche: „Folgenden zwei Extremen, ihr Mönche, darf jemand, der der Welt entsagt hat, nicht anhangen. Welchen zwei? Hinsichtlich der Begierden der Hingabe an die Lust der Begierden, welche niedrig, gemein, weltlich, eines Edlen unwürdig ist und nicht zum Ziele führt, und der Hingabe an die Selbstpeinigung, welche leidvoll, eines Edlen unwürdig ist und nicht zum Ziele führt. Ohne diesen beiden Extremen zu folgen, ihr Mönche, hat der Vollendete den mittleren Weg erkannt, der Schauen bewirkt und Wissen bewirkt, und der zur Beruhigung, zur Einsicht, zur Erleuchtung, zum Erlöschen (nirvänam) führt. Welches ist, ihr Mönche, dieser mittlere Weg, den der Vollendete erkannt hat, der Schauen bewirkt und Wissen bewirkt, und der zur Beruhigung, zur Einsicht, zur Erleuchtung, zum Erlöschen führt? Es ist der edle achtgliedrige Weg, nämlich rechte Ansicht, rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechte Wachsamkeit und rechte Sammlung. Dies, ihr Mönche, ist der mittlere Weg, den der Vollendete erkannt hat, der Schauen bewirkt und Wissen bewirkt, und der zur Beruhigung, zur Einsicht, zur Erleuchtung, zum Erlöschen führt. Dies ist femer, ihr Mönche, die edle Wahrheit vom Leiden. Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, wenn man etwas wünscht und es nicht erlangt, auch das ist Leiden, kurz die fünf Gruppen des Ergreifens (;upädänaskandhäh)1 sind Leiden. Dies ist ferner, ihr Mönche, die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens. Es ist der Durst (trsnä), der zur Wiedergeburt führt, der von Wohlgefallen
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So werden die fünf Gruppen genannt, welche die irdische Persönlichkeit bilden (s. u. S. 17), da sich der Daseinsdurst auf sie richtet und an sie klammert.
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und Begierde begleitet da und dort Gefallen findet, nämlich der Begierdedurst, der Werdedurst, der Vernichtungsdurst. Dies ist ferner, ihr Mönche, die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens. Es ist die Aufhebung des Durstes durch völlige Begierdelosigkeit, das Aufgeben, Ablehnen, sich Freimachen und nicht daran Haften. Dies ist ferner, ihr Mönche, die edle Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens fuhrenden Weg. Es ist der edle achtgliedrige Weg, nämlich rechte Ansicht, rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechte Wachsamkeit und rechte Sammlung. ,Dies ist die edle Wahrheit vom Leiden, dies ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens, dies ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens, dies ist die edle Wahrheit von dem zur Aufhebung des Leidens führenden Weg': so ging mir, ihr Mönche, über diese früher nicht vernommenen Dinge der Blick auf, ging mir das Verständnis, die Einsicht, das Wissen, das Schauen auf. ,Das Leiden, diese edle Wahrheit, muß erkannt werden; die Entstehung des Leidens, diese edle Wahrheit, muß vermieden werden; die Aufhebung des Leidens, diese edle Wahrheit, muß verwirklicht werden; der zur Aufhebung des Leidens führende Weg, diese heilige Wahrheit, muß geübt werden': so ging mir, ihr Mönche, über diese früher nicht vernommenen Dinge der Blick auf, ging mir das Verständnis, die Einsicht, das Wissen, das Schauen auf. Solange ich, ihr Mönche, über diese vier edlen Wahrheiten dieses dreifache, zwölfgliedrige Wissen und Schauen nicht in voller Klarheit besaß, solange, ihr Mönche, behauptete ich nicht, daß ich in dieser Welt samt himmlischen Göttern, Todesgöttern und Brahma-Göttern, unter diesen Wesen samt Asketen und Brahmanen, samt Göttern und Menschen die höchste vollkommene Erleuchtung erlangt habe. Seit ich aber, ihr Mönche, über diese vier edlen Wahrheiten dieses dreifache, zwölfgliedrige wahrhafte Wissen und Schauen in voller Klarheit besaß, seitdem, ihr Mönche, behauptete ich, daß ich in dieser Welt samt himmlischen Göttern, Todesgöttern und Brahma-Göttern, unter diesen Wesen samt Asketen und Brahmanen, samt Göttern und Menschen die höchste vollkommene Erleuchtung erlangt habe. Und es ging mir das Wissen und Schauen auf: Unerschütterlich ist die Befreiung meines Geistes; dies ist meine letzte Geburt; nicht gibt es nunmehr eine Wiedergeburt." So sprach der Erhabene. Freudig begrüßte die Gruppe der fünf Mönche die Rede des Erhabenen. Angesichts der großen Bedeutung, welche die Überlieferung den vier edlen Wahrheiten beilegt, ist es auffallend, wie inhaltsleer diese Verkündigung ist. Es ist in ihr nicht mehr gesagt, als daß das Dasein leidvoll ist, daß die Ursache des Leidens die Begierde ist und daß die Aufhebung des Leidens durch Vernichtung der Begierde vermittels des edlen achtgliedrigen Weges erfolgt. Besonders die Erklärung des edlen achtgliedrigen Weges ist dürftig. Sie bietet nur
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unbestimmte allgemeine Begriffe, nichts klares Greifbares. Wir werden also in der Predigt von Benares am besten eine Art programmatischer Ankündigung sehen, einen Rahmen, der durch spätere eingehendere Belehrungen gefüllt und ergänzt werden sollte. Und tatsächlich hat der Buddha im Laufe seiner langen Lehrtätigkeit solche Ergänzungen in reichem Maße gegeben. Und vor allem für den Erlösungsweg gibt es eine ausführliche Darstellung, welche in zahlreichen Texten des buddhistischen Kanons wiederkehrt und welche genaue, ins einzelne gehende Vorschriften enthält. Danach stellt sich der Erlösungsweg etwa folgendermaßen dar. Der Jünger, der im Vertrauen auf das Wort des Buddha der Welt entsagt und aus dem Hause in die Hauslosigkeit zieht, hat zunächst eine Reihe sittlicher Gebote zu beobachten. Daran schließt sich als Zweites das Behüten der Sinne, d. h. er darf sich durch Sinneseindrücke nicht erregen und zur Leidenschaft fortreißen lassen. Als Drittes folgt das Üben der Wachsamkeit und Bewußtheit. Danach hat alles Tun und Lassen stets in klarem Bewußtsein seiner Bedeutung zu erfolgen. Alles das sind Vorbereitungen allgemeiner Art. Durch sie wird der Jünger erst fähig, den Erlösungsweg im engeren Sinn zu betreten. Dieser ist nach indischer Art ein Weg des Yoga, d. h. der Geist wird durch innere Sammlung allmählich in einen Zustand erhöhter Klarheit versetzt, in dem er jeden gewünschten Gegenstand durch unmittelbares Schauen mit vollkommener Deutlichkeit und Sicherheit zu erkennen vermag. Der Jünger läßt sich zu diesem Zweck im gebräuchlichen Yoga-Sitz mit verschränkten Beinen an einem einsamen Ort nieder und bemüht sich zuerst, die geistigen Hindernisse zu überwinden. Dann durchschreitet er vier Stufen der Versenkung, auf denen der Buddha selbst einst die erlösende Erkenntnis gefunden hat, bis er auf der vierten und letzten die erstrebte Klarsicht errungen hat. Diese richtet er nun zunächst auf sein eigenes Schicksal in früheren Geburten. Dann auf das Gesetz des Wesenskreislaufes im allgemeinen, wie es die ganze Welt beherrscht. Schließlich richtet er sie auf die vier edlen Wahrheiten selbst. Und nun ist er imstande, diese durch eigenes Schauen mit voller Sicherheit als wahr zu erkennen. Dadurch schwinden aber Leidenschaft und Nichtwissen, die ihn bisher im Wesenskreislauf festgehalten haben. Die Erlösung ist gewonnen und er wird sich bewußt, daß er erlöst ist. Dieser wichtigste Teil des Erlösungsweges hat folgenden Wortlaut.
Der buddhistische Erlösungsweg Ausgerüstet mit dieser edlen Gruppe sittlicher Gebote, mit dieser edlen Behütung der Sinne und mit dieser edlen Wachsamkeit und Bewußtheit sucht (der Jünger) eine abgelegene Wohnstätte auf, einen Wald, den Fuß eines Baumes, einen Berg, eine Schlucht, eine Berghöhle, eine Leichenstätte, eine Wildnis, einen Platz unter freiem Himmel oder einen Haufen Stroh. Dort setzt er sich nach der
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Mahlzeit, wenn er vom Almosengang zurückgekehrt ist, mit gekreuzten Beinen nieder, den Körper gerade aufgerichtet, indem er sich Wachsamkeit vergegenwärtigt. Nachdem er die Gier nach dieser Welt von sich getan hat, verharrt er gierfreien Sinnes; von Gier läutert er seinen Geist. Nachdem er Bosheit und Zorn von sich getan hat, verharrt er bosheitfreien Geistes; auf das Wohl aller Lebewesen bedacht läutert er seinen Geist von Bosheit und Zorn. Nachdem er Starrheit und Schlaffheit von sich getan hat, verharrt er frei von Starrheit und Schlaffheit; klaren Bewußtseins, wachsam und bewußt läutert er seinen Geist von Starrheit und Schlaffheit. Nachdem er Erregung und Reue von sich getan hat, verharrt er ohne Erregung; innerlich beruhigten Geistes läutert er seinen Geist von Erregung und Reue. Nachdem er den Zweifel von sich getan hat, verharrt er befreit von Zweifel; ohne Unklarheit über die heilsamen Dinge läutert er seinen Geist von Zweifel. Nachdem er diese Hindernisse von sich getan hat und die schwächenden Störungen des Geistes erkannt hat, erlangt er durch Loslösung von den Begierden und Loslösung von den unheilsamen Dingen, unter Nachdenken und Überlegen, durch diese Loslösung entstandene Befriedigung und Wohlbehagen und verharrt darin. Das ist die erste Versenkungsstufe. Nachdem Nachdenken und Überlegen zur Ruhe gekommen sind, erlangt er innere Beruhigung und Konzentration des Geistes und so, frei von Nachdenken und Überlegen, durch diese Sammlung entstandene Befriedigung und Wohlbehagen und verharrt darin. Das ist die zweite Versenkungsstufe. Nach Abkehr von der Befriedigung verharrt er gleichmütig, wachsam und bewußt und empfindet mit seinem Körper Wohlbehagen. Das ist es, wovon die Edlen sagen: „Er ist gleichmütig, wachsam und verharrt in Wohlbehagen." Das ist die dritte Versenkungsstufe. Nachdem er Wohlbehagen und Mißbehagen von sich getan hat, und früher noch Wohlgefallen und Mißfallen geschwunden sind, erlangt er, frei von Mißbehagen und Wohlbehagen, reinen Gleichmut und Wachsamkeit und verharrt darin. Das ist die vierte Versenkungsstufe. Wenn nun sein Geist so gesammelt, gereinigt, geläutert, fleckenlos, frei von Störungen, geschmeidig, wirkungsfähig, fest und unerschütterlich geworden ist, richtet er ihn auf die Erkenntnis der Erinnerung früherer Geburten. Er erinnert sich an mannigfache frühere Geburten, an eine Geburt, zwei Geburten, drei Geburten, vier Geburten, fünf Geburten, zehn Geburten, zwanzig Geburten, dreißig Geburten, vierzig Geburten, fünfzig Geburten, hundert Geburten, tausend Geburten, hunderttausend Geburten, an zahlreiche Weltvernichtungsperioden, an zahlreiche Weltschöpfungsperioden, an zahlreiche Weltvernichtungs- und Weltschöpfungsperioden. „Dort führte ich diesen Namen, gehörte diesem Geschlecht und dieser Kaste an, hatte diesen Lebensunterhalt, empfand solche Lust und solches Leid, lebte soundso lange; dort bin ich dahingeschieden und da wiedergeboren worden. Da führte ich diesen Namen, gehörte diesem Geschlecht und dieser Kaste an, hatte diesen Lebensunterhalt, empfand solche Lust und solches
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Leid, lebte soundso lange; da bin ich dahingeschieden und bin hier wiedergeboren worden." So erinnert er sich mit allen Umständen und Einzelheiten an mannigfache frühere Geburten. Wenn nun sein Geist so gesammelt, gereinigt, geläutert, fleckenlos, frei von Störungen, geschmeidig, wirkungsfahig, fest und unerschütterlich geworden ist, richtet er ihn auf die Erkenntnis des Dahinscheidens und Wiederentstehens der Wesen. Er sieht mit dem himmlischen, geläuterten, übermenschlichen Auge, wie die Wesen dahinscheiden und wiederentstehen, und er erkennt niedrige und hohe, schöne und häßliche, auf dem guten und auf dem bösen Weg befindliche, wie sie wiederkehren je nach ihren Werken: „Diese Wesen sind mit schlechtem Verhalten des Körpers behaftet, mit schlechtem Verhalten der Rede, mit schlechtem Verhalten des Denkens, sie tadeln die Edlen, hegen falsche Ansichten und vollbringen Werke, welche auf diesen falschen Ansichten beruhen. Sie gelangen nach dem Zerfall des Körpers, nach dem Tode auf den Abweg, den bösen Weg, zum Absturz, zur Hölle. Diese Wesen dagegen sind mit gutem Verhalten des Körpers behaftet, mit gutem Verhalten der Rede, mit gutem Verhalten des Denkens, sie tadeln die Edlen nicht, hegen rechte Ansichten und vollbringen Werke, welche auf diesen rechten Ansichten beruhen. Sie gelangen nach dem Zerfall des Körpers, nach dem Tode auf den guten Weg, zur Himmelswelt." So sieht er mit dem himmlischen, geläuterten, übermenschlichen Auge, wie die Wesen dahinscheiden und wiederentstehen, und er erkennt niedrige und hohe, schöne und häßliche, auf dem guten und auf dem bösen Weg befindliche, wie sie wiederkehren, je nach ihren Werken. Wenn nun sein Geist so gesammelt, gereinigt, geläutert, fleckenlos, frei von Störungen, geschmeidig, wirkungsfahig, fest und unerschütterlich geworden ist, richtet er ihn auf die Erkenntnis des Schwindens der Befleckungen (äsraväh). „Das ist das Leiden," erkennt er der Wahrheit gemäß. „Das ist die Entstehung des Leidens," erkennt er der Wahrheit gemäß. „Das ist die Aufhebung des Leidens," erkennt er der Wahrheit gemäß. „Das ist der zur Aufhebung des Leidens führende Weg," erkennt er der Wahrheit gemäß. „Das sind die Befleckungen," erkennt er der Wahrheit gemäß. „Das ist die Entstehung der Befleckungen," erkennt er der Wahrheit gemäß. „Das ist die Aufhebung der Befleckungen," erkennt er der Wahrheit gemäß. „Das ist der zur Aufhebung der Befleckungen fuhrende Weg," erkennt er der Wahrheit gemäß. Indem er solches erkennt, solches schaut, wird sein Geist von der Befleckung der Begierde erlöst, von der Befleckung des Werdens erlöst, von der Befleckung des Nichtwissens erlöst. Im Erlösten entsteht das Wissen von seiner Erlösung: „Vernichtet ist die Wiedergeburt, vollendet der heilige Wandel, erfüllt die Pflicht; keine Rückkehr gibt es mehr in diese Welt." Also erkennt er. Philosophische Fragen, soweit sie nicht unmittelbar den Erlösungsweg angehen, lehnte der Buddha, wie wir bereits gesagt haben, ab. Das gilt besonders für die Fragen nach dem Vorhandensein und dem Wesen der Seele und nach dem Schicksal nach dem Tode. Er verneint diese Fragen nicht. Er leugnet
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ζ. Β. nicht das Vorhandensein der Seele und er lehrt nicht, daß das Nirvana die Vernichtung sei. Es deutet vielmehr vieles darauf hin, daß er stillschweigend ähnliche Anschauungen voraussetzte, wie sie die Feuerlehre der Upanisaden auf ihrer letzten Stufe entwickelt hatte. Aber er geht auf diese Fragen nicht ein und schweigt dazu, weil sie „nicht zur Abkehr (vom Irdischen), zur Leidenschaftslosigkeit, zur Aufhebung (des Vergänglichen), zur Beruhigung, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Erlöschen fuhren." In den seltenen Fällen aber, wo er sich zum Sprechen bewegen läßt, äußert er sich in dem Sinne, daß das Wesen der Seele und der Zustand des Erlösten unfaßbar und unausdrückbar ist. Von diesem Verhalten des Buddha mögen folgende zwei Texte eine Vorstellung geben.
Änanda (Einmal weilte der Erhabene bei Räjagrha im Bambushain, dem Futterplatz der Eichhörnchen.) Da begab sich der Wandermönch Vatsagotra dorthin, wo sich der Erhabene befand. Nachdem er sich dorthin begeben hatte, begrüßte er sich mit dem Erhabenen. Und nachdem er begrüßende, freundliche Worte gewechselt hatte, setzte er sich zur Seite nieder. Zur Seite sitzend sprach der Wandermönch Vatsagotra zum Erhabenen folgendes: „Gibt es, o Gautama, ein Ich (ätmä)?" Als er so gesprochen hatte, schwieg der Erhabene. „Gibt es, o Gautama, etwa kein Ich?" Wiederum schwieg der Erhabene. Da stand der Wandermönch Vatsagotra von seinem Sitz auf und ging fort. Darauf sprach der ehrwürdige Änanda, als der Wandermönch Vatsagotra noch nicht lange fortgegangen war, zum Erhabenen folgendes: „Warum, o Herr, hat der Erhabene die Frage des Wandermönchs Vatsagotra, die an ihn gerichtet wurde, nicht beantwortet?" „Wenn ich, Änanda, dem Wandermönch Vatsagotra auf die Frage, ob es ein Ich gibt, geantwortet hätte: ,Es gibt ein Ich', so hätte ich, Änanda, mit den Asketen und Brahmanen übereingestimmt, welche die Ewigkeit lehren. Und wenn ich, Änanda, dem Wandermönch Vatsagotra auf die Frage, ob es kein Ich gibt, geantwortet hätte: ,Es gibt kein Ich', so hätte ich, Änanda, mit den Asketen und Brahmanen übereingestimmt, welche die Vernichtung lehren. Wenn ich nun, Änanda, dem Wandermönch Vatsagotra auf die Frage, ob es ein Ich gibt, geantwortet hätte: ,Es gibt ein Ich', hätte mir das geholfen, das Wissen hervorzurufen, daß alle Dinge nicht das Ich sind?" „Nein, o Herr." „Und wenn ich, Änanda, dem Wandermönch Vatsagotra auf die Frage, ob es kein Ich gibt, geantwortet hätte: ,Es gibt kein Ich', so hätte es, Änanda, (den Wandermönch) Vatsagotra, der ohnedies schon verwirrt ist, in noch größere Verwirrung gebracht: ,Mein Ich war doch früher und jetzt ist es nicht mehr?' "
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Das Sütra von Vatsagotra und dem Feuer (Aggivacchagottasuttantam) So habe ich gehört. Einmal weilte der Erhabene in Sravastï im Jetavana, dem Garten des Anäthapindada. Da begab sich der Wandermönch Vatsagotra dorthin, wo sich der Erhabene befand. Nachdem er sich dorthin begeben hatte, begrüßte er sich mit dem Erhabenen. Und nachdem er begrüßende, freundliche Worte gewechselt hatte, setzte er sich zur Seite nieder. Zur Seite sitzend sprach der Wandermönch Vatsagotra zum Erhabenen folgendes: „Wie steht es, o Gautama? Hegt der Herr Gautama die Ansicht, daß die Welt ewig ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig?" „Nein, Vatsa, ich hege nicht die Ansicht, daß die Welt ewig ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig." „Wie steht es denn, o Gautama? Hegt der Herr Gautama die Ansicht, daß die Welt vergänglich ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig?" „Nein, Vatsa, ich hege nicht die Ansicht, daß die Welt vergänglich ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig." „Wie steht es, o Gautama? Hegt der Herr Gautama die Ansicht, daß die Welt begrenzt ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig?" „Nein, Vatsa, ich hege nicht die Ansicht, daß die Welt begrenzt ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig." „Wie steht es denn, o Gautama? Hegt der Herr Gautama die Ansicht, daß die Welt unbegrenzt ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig?" „Nein, Vatsa, ich hege nicht die Ansicht, daß die Welt unbegrenzt ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig." Es folgen die Fragen, ob Seele und Körper dasselbe sind, ob sie verschieden sind, ob der Vollendete nach dem Tode besteht, ob er nicht besteht, ob er besteht und nicht besteht, ob er weder besteht, noch nicht besteht, und immer bleibt die Antwort des Buddha die gleiche. Da sagt Vatsagotra: „Auf die Frage: ,Wie steht es, o Gautama? Hegt der Herr Gautama die Ansicht, daß die Welt ewig ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig?' antwortest du: ,Nein, Vatsa, ich hege nicht die Ansicht, daß die Welt ewig ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig.' Auf die Frage: ,Wie steht es denn, o Gautama? Hegt der Herr Gautama die Ansicht, daß die Welt vergänglich ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig?' antwortest du: ,Nein, Vatsa, ich hege nicht die Ansicht, daß die Welt vergänglich ist, daß dies allein wahr ist und alles andere irrig.' " Das gleiche wird von allen übrigen Fragen gesagt, dann schließt Vatsagotra mit den Worten: „Welchen Mangel sieht der Herr Gautama in diesen Ansichten, daß er sie insgesamt nicht anerkennt?" „ ,Die Welt ist ewig', diese Ansicht, Vatsa, ist ein Dickicht von einer Ansicht, eine Wildnis von einer Ansicht, ein Krampf von einer Ansicht, ein Schüttelfrost von einer Ansicht, eine Fessel von einer Ansicht, sie ist leidvoll, voll Beschwer-
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nis, voll Verzweiflung, voll Qual, und führt nicht zur Abkehr, zur Leidenschaftslosigkeit, zur Aufhebung (alles Irdischen), zur Beruhigung, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Erlöschen." Wieder wird das gleiche von allen übrigen Ansichten gesagt, dann schließt der Buddha: „Diesen Mangel, Vatsa, sehe ich in diesen Ansichten, daß ich sie insgesamt nicht anerkenne." „Hegt also der Herr Gautama irgendeine Ansicht?" „Eine Ansicht, Vatsa, liegt dem Vollendeten fern. Denn der Vollendete, Vatsa, hat folgendes erkannt: Das ist die Körperlichkeit (rüpam), das ist die Entstehung der Körperlichkeit, das ist der Untergang der Körperlichkeit; das ist die Empfindung, das ist die Entstehung der Empfindung, das ist der Untergang der Empfindung; das ist das Bewußtsein, das ist die Entstehung des Bewußtseins, das ist der Untergang des Bewußtseins; das sind die Gestaltungen, das ist die Entstehung der Gestaltungen, das ist der Untergang der Gestaltungen; das ist das Erkennen, das ist die Entstehung des Erkennens, das ist der Untergang des Erkennens. Darum, sage ich, ist der Vollendete durch das Schwinden, die Ablehnung, die Aufhebung, das Aufgeben und das Zurückweisen aller Meinungen, aller Beunruhigungen und aller Belastungen durch die Vorstellungen von ,Ich' und ,Mein' vollkommen erlöst." „Wo aber, o Gautama, entsteht ein Mönch, dessen Geist so erlöst ist (wieder)?" „Entstehen, Vatsa, trifft nicht zu." „Dann also, o Gautama, entsteht er nicht (wieder)?" „Nichtentstehen, Vatsa, trifft nicht zu." „Dann aber, o Gautama, entsteht er und entsteht er nicht (wieder)?" „Entstehen und Nichtentstehen, Vatsa, trifft nicht zu." „Dann also, o Gautama, entsteht er weder, noch entsteht er nicht (wieder)?" „Weder-Entstehen-noch-Nichtentstehen, Vatsa, trifft nicht zu." „Auf die Frage: ,Wo aber, o Gautama, entsteht ein Mönch, dessen Geist so erlöst ist (wieder)?' antwortest du: ,Entstehen, Vatsa, trifft nicht zu.' Auf die Frage: ,Dann also, o Gautama, entsteht er nicht (wieder)?' antwortest du:,Nichtentstehen, Vatsa, trifft nicht zu.' Auf die Frage: ,Dann also, o Gautama, entsteht er und entsteht er nicht (wieder)?' antwortest du:,Entstehen und Nichtentstehen, Vatsa, trifft nicht zu.' Und auf die Frage: ,Dann also, o Gautama, entsteht er weder, noch entsteht er nicht (wieder)?' antwortest du: ,Weder-Entstehen-nochNichtentstehen, trifft nicht zu.' Da bin ich denn, o Gautama, in Unwissenheit geraten, da bin ich in Verwirrung geraten, und die Klarheit, die ich durch das frühere Gespräch mit dem Herrn Gautama gewonnen hatte, die ist mir jetzt verlorengegangen." „Genug der Unwissenheit, Vatsa, genug der Verwirrung! Tiefgründig, Vatsa, ist diese Lehre, schwer zu erschauen, schwer zu verstehen, ruhevoll, erhaben, dem Denken unerreichbar, feinsinnig, nur Weisen faßbar; schwer zu erkennen ist sie für dich, der du andere Ansichten hegst, an anderem Befriedigung, an anderem Wohlgefallen findest, einer anderen Regel und einer anderen Lehre folgst. Ich will daher, Vatsa, nun Gegenfragen an dich richten; beantworte sie, wie es dir gut dünkt. Was meinst du, Vatsa, wenn vor dir ein Feuer bren-
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nen würde, würdest du dann wissen: ,Hier vor mir brennt ein Feuer'?" „Wenn vor mir, o Gautama, ein Feuer brennen würde, würde ich wissen: 'Hier vor mir brennt ein Feuer.' " „Wenn man dich, Vatsa, nun fragen würde: .Wodurch brennt dieses Feuer, das da vor dir brennt?' Was würdest du, Vatsa, auf diese Frage antworten?" „Wenn man mich, o Gautama, fragen würde: ,Wodurch brennt dieses Feuer, das da vor dir brennt?' so würde ich, o Gautama, auf die Frage antworten:, Dieses Feuer, das da vor mir brennt, brennt durch den Brennstoff, Gras und Holz.' " „Wenn nun, Vatsa, das Feuer vor dir erlöschen würde, würdest du wissen: 'Dieses Feuer vor mir ist erloschen'?" „Wenn, o Gautama, das Feuer vor mir erlöschen würde, würde ich wissen:,Dieses Feuer vor mir ist erloschen.' " „Wenn man dich, Vatsa, nun fragen würde: ,In welche Richtung ist das Feuer, das hier vor dir erloschen ist, gegangen, in die östliche, westliche, nördliche oder südliche?' was würdest du, Vatsa, auf diese Frage antworten?" „Das trifft nicht zu, o Gautama. Denn das Feuer hat den Brennstoff, Gras und Holz, durch den es brannte, verzehrt, anderer wurde nicht zugeführt, und so gilt es ohne Nahrung als erloschen." „Ebenso, Vatsa, sind die Körperlichkeit, die Empfindung, das Bewußtsein, die Gestaltungen und das Erkennen, durch die man den Vollendeten, wenn man ihn bezeichnen wollte, bezeichnen könnte, aufgegeben, entwurzelt, gleich einem aus dem Boden gerissenen Palmbaum, zunichte gemacht und in Zukunft nicht mehr dem Entstehen unterworfen. Frei von jeder Auffassung als Körperlichkeit, Empfindung, Bewußtsein, Gestaltungen und Erkennen, Vatsa, ist der Vollendete tief, unermeßlich und schwer zu ergründen wie das Meer. Entstehen trifft nicht zu, Nichtentstehen trifft nicht zu, Entstehen und Nichtentstehen trifft nicht zu, Weder-Entstehen-noch-Nichtentstehen trifft nicht zu." Auf diese Rede hin sprach der Wandermönch Vatsagotra zum Erhabenen folgendes: „Wie wenn, o Gautama, in der Nähe eines Dorfes oder Marktfleckens ein großer Éâla-Baum stünde, und es fielen von ihm infolge der Vergänglichkeit die Zweige und die Blätter ab, es fiele die Rinde und Borke ab, und es fiele das morsche Holz ab, und er stünde darauf ohne Zweige und Blätter, ohne Rinde und Borke und ohne morsches Holz rein als Kernholz da, ebenso steht diese Verkündigung des Herrn Gautama ohne Zweige und Blätter, ohne Rinde und Borke und ohne morsches Holz rein als Kernholz da. Wundervoll, o Gautama, wundervoll, o Gautama! Wie wenn man, o Gautama, etwas Niedergebeugtes aufrichten würde, oder etwas Verdecktes enthüllen würde, oder einem Verirrten den Weg zeigen würde, oder im Dunkeln eine Öllampe tragen würde, damit alle, die Augen haben, die Formen (der Dinge) sehen, ebenso hat der Herr Gautama auf mannigfache Weise die Lehre verkündet. Ich nehme meine Zuflucht zum Herrn Gautama, zur Lehre und zur Mönchsgemeinde. Als Laienanhänger möge mich der Herr Gautama betrachten, der seine Zuflucht zu ihm genommen hat, von heute an, solange mein Leben währt." Anschließend soll noch kurz bemerkt werden, daß der Buddha zwar im großen streng an der besprochenen Einstellung festhielt und es vor allem vermied,
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von einem Ich oder einer Seele zu sprechen. Vereinzelt finden sich aber doch auch Texte, welche dagegen verstoßen, und daran knüpft dann der Streit der späteren Schulen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das folgende kurze Sütram, in dem der Buddha ganz gegen seine sonstige Gewohnheit von einer Persönlichkeit (pudgalah) spricht.
Das Sutra vom Lastträger (Bhärahärasütram) So habe ich gehört. Einmal weilte der Erhabene in Srâvastï, im Jetavana, dem Garten des Anäthapindada. Da sprach der Erhabene zu den Mönchen: „Ich will euch, ihr Mönche, die Last darlegen, das Aufnehmen der Last, das Ablegen der Last und den Träger der Last. Hört also und achtet wohl und gut darauf. Ich werde zu euch sprechen. Was ist die Last? Die fünf Gruppen des Ergreifens (upädänaskandhäh). Welche fünf? Die Körperlichkeit als Gruppe des Ergreifens, die Empfindung als Gruppe des Ergreifens, das Bewußtsein als Gruppe des Ergreifens, die Gestaltungen als Gruppe des Ergreifens und das Erkennen als Gruppe des Ergreifens. Was ist das Aufnehmen der Last? Es ist der Durst, der zur Wiedergeburt führt, der von Wohlgefallen und Begierde begleitet da und dort Gefallen findet. Was ist das Ablegen der Last? Es ist das restlose Aufgeben, das Zurückweisen, das Abschütteln, das Schwinden, die Ablehnung, die Aufhebung, das Versiegen, das Untergehen des Durstes, der zur Wiedergeburt führt, der von Wohlgefallen und Begierde begleitet da und dort Gefallen findet. Wer ist der Träger der Last? Darauf wäre zu antworten: die Person, d. h. jener Ehrwürdige, der diesen und diesen Namen trägt, der solcher Abkunft ist, aus diesem und diesem Geschlechte stammt, solche Nahrung zu sich nimmt, solche Lust und solches Leid empfindet, dessen Leben soundso lange dauert, der soundso lange besteht, und dessen Lebenszeit soundso begrenzt ist. Das nennt man die Last, das Aufnehmen der Last, das Ablegen der Last und den Träger der Last." Darauf sprach der Erhabene noch folgende Verse: „Wenn man die schwere Last abgelegt hat, darf man sie nicht wieder neuerlich aufnehmen. Die schwere Last bringt großes Leid, das Ablegen der Last bringt große Freude. Man muß allen Durst vernichten, dann schwinden alle Gestaltungen. Wenn man die restlichen Objekte klar erkennt, dann gibt es keine Wiedergeburt mehr." Dies sprach der Erhabene. Freudig begrüßten die Mönche die Rede des Erhabenen. Wir wenden uns nunmehr den eigentlichen philosophischen Sätzen des Buddhismus zu, nämlich der Begründung des Erlösungsweges. In der Predigt von
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Benares haben wir darüber nicht mehr gefunden, als daß der Durst die Ursache alles Leidens ist. Aber dieser Begriff wurde später weiter entwickelt. Man unterschied vor allem den Durst, der durch die Sinnesobjekte erregt wird, und den Durst, der sich auf das irdische Dasein richtet. Wenn nämlich die Sinne mit ihren Objekten in Berührung kommen, entstehen Empfindungen und diese wecken die Begierde. So entsteht der sogenannte Begierdedurst (kämatrsnä). Die zweite Form des Durstes kommt folgendermaßen zustande. Für die Verstrickung in das Dasein ist es besonders verhängnisvoll, daß man die irdische Persönlichkeit für das wahre Ich (ätmä) hält. Demgegenüber hat der Buddha gezeigt, daß die irdische Persönlichkeit in Wahrheit nur eine Verbindung verschiedener Arten von Gegebenheiten (dharmäh) teils materieller, teils geistiger Art ist, welche alle vergänglich sind und dem Diesseits angehören. Und zwar unterschied er fünf Gruppen (skandhäh) solcher Gegebenheiten, Körperlichkeit (rüpam), Empfindung {vedano), Bewußtsein (samjnä), Gestaltungen (sam-skäräh) und Erkennen (vijnänam). Einer der wichtigsten Gegenstände der Predigt des Buddha ist es daher, zu zeigen, daß diese fünf Gruppen nicht das wahre Ich sind. Wer aber, wie es unter gewöhnlichen Menschen die Regel ist, sie trotzdem für das Ich hält, kommt dazu, sich an sie zu klammern. Und dieses Hangen an der irdischen Persönlichkeit ist eine der wichtigsten Ursachen für das ständige Wiedergeborenwerden. Und das ist die zweite Form des Durstes, der sogenannte Werdedurst (bhavatrsnä). Daneben hat man als dritte Form des Durstes gelegentlich auch den Vernichtungsdurst (vibhavatrsnä) gestellt. Denn ebenso wie das Streben nach Fortdauer des Lebens, ist auch das Streben nach Vernichtung für den Erlösungsuchenden ein Irrweg. Aber diese dritte Form hat nie größere Bedeutung gewonnen und wurde bald fallen gelassen. Die Entwicklung des Durstbegriffes zeigt beachtenswerte Gedanken. Noch weit wichtiger aber war es, daß man einen zweiten Begriff heranzog, um die Verstrickung in den Wesenskreislauf zu erklären, und daß man ihn mit dem Durstbegriff verknüpfte, nämlich den Begriff des Nichtwissens. Seit den ältesten Lehren der Upanisaden war es gebräuchlich, das Mittel zur Erlösung vor allem im Wissen, d. h. in einer erlösenden Erkenntnis zu sehen. Die natürliche Folge war, die Ursache der Verstrickung in das Dasein im Fehlen dieser Erkenntnis, im Nichtwissen zu finden. Und da der Buddhismus die Erlösung ebenfalls von der Erlangung einer erlösenden Erkenntnis abhängig machte, konnte er sich dieser Folgerung nicht entziehen. So kam man dazu, das Nichtwissen neben dem Durst als Ursache der Verstrickung in den Wesenskreislauf aufzustellen. Und man vereinigte beide, indem man eine fortlaufende Kette von Ursachen und Wirkungen zusammenstellte, welche das Zustandekommen der Verstrickung und damit der immer neuen Wiedergeburt erklären sollte. So entstand der bedeutendste theoretische Lehrsatz, den der älteste Buddhismus geschaffen hat, der berühmte Lehrsatz vom abhängigen Entstehen (pratityasamutpädah). Die folgenden Beispiele sollen nun diesen Lehrsatz, seine Deutung und seine Entwicklung vorführen. Ich habe dabei die Beispiele etwas reichlicher gewählt, nicht nur wegen der Bedeutung, die diesem Lehrsatz selbst zukommt, sondern auch, weil er in Europa sehr
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oft behandelt und auf die verschiedenste Art erklärt worden ist. Demgegenüber sollen die folgenden Beispiele, wenigstens in bescheidenem Maße, ein Bild davon geben, wie er und seine Deutung sich in der buddhistischen Überlieferung selbst darstellt. Die Legende verlegt die Entdeckung des Lehrsatzes vom abhängigen Entstehen bereits in die Zeit, als der Buddha eben erst die Erleuchtung gefunden hatte, und schildert, wie er lange Zeit in Betrachtung verbrachte und diesen Lehrsatz immer wieder überdachte. Dabei heißt es:
Der Bericht von der Erleuchtung (Bodhikathä) Zu der Zeit weilte der erhabene Buddha bei Uruvilvä, am Ufer des Flusses Nairaftjanä, am Fuße des Baumes der Erleuchtung, nachdem er eben erst die Erleuchtung gefunden hatte. Da saß nun der Erhabene am Fuße des Baumes der Erleuchtung sieben Tage lang in ein und demselben Sitz mit gekreuzten Beinen, indem er das Wohlgefühl der Erlösung genoß. Da betrachtete der Erhabene in der ... Nacht das abhängige Entstehen in gerader und umgekehrter Reihenfolge: Abhängig vom Nichtwissen entstehen die Willensregungen (samskäräh), abhängig von den Willensregungen das Erkennen, abhängig vom Erkennen Name und Form, abhängig von Name und Form der sechsfache Bereich, abhängig vom sechsfachen Bereich die Berührung, abhängig von der Berührung die Empfindung, abhängig von der Empfindung der Durst, abhängig vom Durst das Ergreifen, abhängig vom Ergreifen das Werden, abhängig vom Werden die Geburt, abhängig von der Geburt Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Betrübnis und Verzweiflung. So kommt die Entstehung dieser ganzen Leidensmasse zustande. Durch Aufhebung des Nichtwissens infolge völliger Leidenschaftslosigkeit werden die Willensregungen aufgehoben, durch Aufhebung der Willensregungen wird das Erkennen aufgehoben, durch Aufhebung des Erkennens wird Name und Form aufgehoben, durch Aufhebung von Name und Form wird der sechsfache Bereich aufgehoben, durch Aufhebung des sechsfachen Bereiches wird die Berührung aufgehoben, durch Aufhebung der Berührung wird die Empfindung aufgehoben, durch Aufhebung der Empfindung wird der Durst aufgehoben, durch Aufhebung des Durstes wird das Ergreifen aufgehoben, durch Aufhebung des Ergreifens wird das Werden aufgehoben, durch Aufhebung des Werdens wird die Geburt aufgehoben, durch Aufhebung der Geburt wird Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Betrübnis und Verzweiflung aufgehoben. So kommt die Aufhebung dieser ganzen Leidensmasse zustande. Als der Erhabene diese Sache erkannt hatte, tat er zu dieser Zeit folgenden Ausspruch: „Wahrlich, wenn dem ringenden, sinnenden Brahmanen die Gege-
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benheiten (dharmäh ) sichtbar werden, dann vergehen ihm alle Zweifel, denn er erkennt die Gegebenheiten samt ihren Ursachen." Dieser Text bringt den Lehrsatz vom abhängigen Entstehen in seiner gebräuchlichen Form. Darin wird das Leid des Daseins in einer zwölfgliedrigen Kette von Ursachen und Wirkungen auf das Nichtwissen als letzte Ursache zurückgeführt. Im einzelnen sind die Glieder dieser Ursachenkette etwa folgendermaßen zu verstehen: Letzte Ursache der Verstrickung in den Wesenskreislauf ist, wie gesagt, das Nichtwissen, d. h. das Unbekanntsein mit der erlösenden Erkenntnis, nämlich den vier edlen Wahrheiten. In dem Menschen, der diese Erkenntnis nicht besitzt, entstehen Willensregungen, welche sich auf die Sinnesobjekte und die irdische Persönlichkeit richten. Von diesen Willensregungen getrieben geht nach dem Tod das Erkennen, das gleich einem feinen Körper Träger der Wiedergeburt ist, in einen neuen Mutterschoß ein. Im Anschluß an das Erkennen entwickeln sich Körper und psychische Faktoren - denn das ist mit Name und Form gemeint - und schließlich auch der sechsfache Bereich, d. h. die Sinnesorgane des neuen Wesens, das damit ins Dasein tritt. Wird nun dieses neue Wesen geboren, so erfolgt die verhängnisvolle Berührung der Sinnesorgane mit ihren Objekten. Es entstehen Empfindungen verschiedener Art und erwecken die Leidenschaften, vor allem den Durst, der sich an die Sinnesgenüsse und an das vermeintliche Ich klammert, oder wie die buddhistischen Texte sagen, sie ergreift, und dadurch zu neuerlicher Bindung und neuem Dasein führt. Wieder kommt es zur Geburt und zur Verstrickung in das Leid des Daseins, und so fort in endloser Kette, solange nicht die erlösende Erkenntnis und die Vernichtung des Durstes dem Kreislauf ein Ende macht. Es ist nicht zu leugnen, daß dieser Lehrsatz vom abhängigen Entstehen manche Dunkelheit aufweist. Vor allem ist es auffallend, daß zwei Ursachen der Wiedergeburt, Nichtwissen und Durst, ganz äußerlich aneinander gereiht sind, und daß dementsprechend zwei Schilderungen gegeben werden, wie das irdische Dasein zustande kommt. Tatsächlich hat auch dieser Lehrsatz immer als dunkel und schwierig gegolten. Und das, zusammen mit der wichtigen Stellung, die er in der Verkündigung des Buddha einnimmt, hat dazu geführt, daß man sich immer wieder mit ihm beschäftigte und ihn immer aufs neue zu deuten suchte. Das beginnt bereits in den ältesten Teilen des buddhistischen Kanons und setzt sich bis in die Dogmatik der späteren Schulen fort. Ja, es wurde ihm sogar im Laufe der Zeit ein wesentlich erweiterter Sinn zugeschrieben und grundsätzliche philosophische Bedeutung beigelegt. Es sollen daher im folgenden wenigstens einige kurze Beispiele dieser Entwicklung geboten werden. Das erste dieser Beispiele stammt aus dem alten Kanon und enthält ein Gespräch zwischen dem Buddha und seinem Lieblingsschüler Änanda, in dem der Buddha diesem die Ursachenkette erklärt. Bemerkenswert ist dabei, daß in diesem Gespräch die Ursachenkette mit dem Erkennen endigt.
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Das große Sütra von den Grundlagen des Entstehens (Mahanidanasuttantam) 1 So habe ich gehört. Einmal weilte der Erhabene im Lande der Kuru. Dort ist ein Marktflecken der Kuru namens Kalmäsadamyam. Da begab sich der ehrwürdige Änanda dorthin, wo sich der Erhabene befand. Nachdem er sich dorthin begeben hatte und den Erhabenen begrüßt hatte, setzte er sich zur Seite nieder. Zur Seite sitzend sprach der ehrwürdige Änanda zum Erhabenen folgendes: „Wunderbar ist es, o Herr, erstaunlich ist es, o Herr, wie tiefgründig dieses abhängige Entstehen ist und wie tiefgründig es erscheint. Und doch kommt es mir vor, wie wenn es klar vor Augen läge." „Sprich nicht so, Änanda! Sprich nicht so, Änanda! Tiefgründig, Änanda, ist dieses abhängige Entstehen und tiefgründig erscheint es. Und weil sie diese Lehre nicht verstehen und nicht erfassen, darum, Änanda, vermögen diese Wesen, wirr wie ein Faden, mit Pusteln bedeckt, und Grashalmen gleich, über den Abweg, den bösen Weg, den Absturz, den Wesenskreislauf nicht hinauszugelangen.
2 Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist Alter und Tod von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt: ,Wovon ist Alter und Tod abhängig?' so wäre zu antworten: ,Von der Geburt ist Alter und Tod abhängig.' Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist die Geburt von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt: ,Wovon ist die Geburt abhängig?' so wäre zu antworten: ,Vom Werden ist die Geburt abhängig.' Wenn man, Ananda, gefragt wird: ,Ist das Werden von irgend etwas abhängig'? so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt: ,Wovon ist das Werden abhängig?' so wäre zu antworten: ,Vom Ergreifen ist das Werden abhängig.' Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist das Ergreifen von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt: ,Wovon ist das Ergreifen abhängig?' so wäre zu antworten: ,Vom Durst ist das Ergreifen abhängig.' Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist der Durst von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt: ,Wovon ist der Durst abhängig?' so wäre zu antworten: ,Von der Empfindung ist der Durst abhängig.'
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Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist die Empfindung von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt:,Wovon ist die Empfindung abhängig?' so wäre zu antworten: ,Von der Berührung ist die Empfindung abhängig.' Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist die Berührung von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt:,Wovon ist die Berührung abhängig?' so wäre zu antworten: ,Von Name und Form ist die Berührung abhängig." Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist Name und Form von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt: ,Wovon ist Name und Form abhängig?' so wäre zu antworten: ,Vom Erkennen ist Name und Form abhängig.' Wenn man, Änanda, gefragt wird: ,Ist das Erkennen von irgend etwas abhängig?' so wäre zu antworten: ,Ja.' Und wenn der Betreffende sagt: ,Wovon ist das Erkennen abhängig?' so wäre zu antworten: ,Von Name und Form ist das Erkennen abhängig.' 3 So ist denn, Änanda, das Erkennen von Name und Form abhängig, und Name und Form vom Erkennen abhängig, abhängig von Name und Form entsteht die Berührung, abhängig von der Berührung entsteht die Empfindung, abhängig von der Empfindung der Durst, abhängig vom Durst das Ergreifen, abhängig vom Ergreifen das Werden, abhängig vom Werden die Geburt, abhängig von der Geburt Alter und Tod, abhängig von Alter und Tod Schmerz und Klagen, Leid, Betrübnis und Verzweiflung. So kommt die Entstehung dieser ganzen Leidensmasse zustande. 4 Es ist gesagt worden: .Abhängig von der Geburt entsteht Alter und Tod.' Wie nun Alter und Tod abhängig von der Geburt entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn es, Änanda, eine Geburt nicht gäbe, und zwar ganz und gar nicht und in keiner Weise, von irgendwem und irgendwo, d. h. von Göttern als Götter, von Gandharven als Gandharven, von Yaksas als Yaksas, von Gespenstern als Gespenster, von Menschen als Menschen, von Vierfüßern als Vierfüßer, von Vögeln als Vögel, von Kriechtieren als Kriechtiere, und wenn es eine Geburt von den und den Wesen als das und das nicht gäbe, wenn also eine Geburt überhaupt nicht bestünde, wäre dann nach Aufhebung der Geburt Alter und Tod wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache von Alter und Tod, nämlich die Geburt.
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Der sechsfache Bereich ist hier übersprungen.
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Es ist ferner gesagt worden: ,Abhängig vom Werden entsteht die Geburt.' Wie nun die Geburt abhängig vom Werden entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn es, Änanda, ein Werden nicht gäbe, und zwar ganz und gar nicht und in keiner Weise, von irgendwem und irgendwo, nämlich ein Werden in der Sphäre der Begierde, ein Werden in der Sphäre des Materiellen und ein Werden in der Sphäre des Nichtmateriellen, wenn also ein Werden überhaupt nicht bestünde, wäre dann nach Aufhebung des Werdens eine Geburt wahrzunehmen?" „Nein, O Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache der Geburt, nämlich das Werden.
6 Es ist femer gesagt worden: .Abhängig vom Ergreifen entsteht das Werden.' Wie nun das Werden abhängig vom Ergreifen entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn es, Änanda, ein Ergreifen nicht gäbe, und zwar ganz und gar nicht und in keiner Weise, von irgendwem und irgendwo, nämlich ein Ergreifen der Begierden, ein Ergreifen der Ansichten, ein Ergreifen des sittlichen Verhaltens und der Gelübde und ein Ergreifen der Lehre vom eigenen Ich, wenn also ein Ergreifen überhaupt nicht bestünde, wäre dann nach Aufhebung des Ergreifens ein Werden wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache des Werdens, nämlich das Ergreifen. 7 Es ist ferner gesagt worden: ,Abhängig vom Durst entsteht das Ergreifen.' Wie nun das Ergreifen abhängig vom Durst entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn es, Änanda, einen Durst nicht gäbe, und zwar ganz und gar nicht und in keiner Weise, von irgendwem und irgendwo, nämlich Durst nach Formen, Durst nach Tönen, Durst nach Gerüchen, Durst nach Geschmäkken, Durst nach Berührbarem und Durst nach Dingen (dharmäh), wenn also ein Durst überhaupt nicht bestünde, wäre dann nach Aufhebung des Durstes ein Ergreifen wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache des Ergreifens, nämlich der Durst.
8 Es ist ferner gesagt worden: .Abhängig von der Empfindung entsteht der Durst.' Wie nun der Durst abhängig von der Empfindung entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn es, Änanda, eine Empfindung nicht gäbe, und zwar ganz und gar nicht und in keiner Weise, von irgendwem und
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irgendwo, nämlich durch Berührung des Auges entstandene Empfindung, durch Berührung des Gehörs entstandene Empfindung, durch Berührung des Geruchs entstandene Empfindung, durch Berührung der Zunge entstandene Empfindung, durch Berührung des Körpers entstandene Empfindung und durch Berührung des Denkens entstandene Empfindung, wenn also eine Empfindung überhaupt nicht bestünde, wäre dann nach Aufhebung der Empfindung der Durst wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache des Durstes, nämlich die Empfindung. 9 So entsteht also, Änanda, abhängig von der Empfindung der Durst, abhängig vom Durst das Suchen, abhängig vom Suchen das Finden, abhängig vom Finden das Stellungnehmen, abhängig vom Stellungnehmen Verlangen und Wohlgefallen, abhängig von Verlangen und Wohlgefallen das Streben, abhängig vom Streben das Erwerben, abhängig vom Erwerben der Geiz, abhängig vom Geiz das Verteidigen, anläßlich des Verteidigens kommt es zu vielen bösen, unheilbringenden Dingen, zum Greifen nach Stöcken, zum Greifen nach Waffen, zu Hader und Streit, Zank und Zwist, zu Verleumdung und Lüge." Nun werden die aufgezählten Begriffe in der gleichen Weise erklärt wie die Glieder der Ursachenkette. Dann fährt der Text fort: 19 „Es ist femer gesagt worden: ,Abhängig von der Berührung entsteht die Empfindung.' Wie nun die Empfindung abhängig von der Berührung entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn es, Änanda, die Berührung nicht gäbe, und zwar ganz und gar nicht und in keiner Weise, von irgendwem und irgendwo, nämlich Berührung des Auges, Berührung des Gehörs, Berührung des Geruchs, Berührung der Zunge, Berührung des Körpers und Berührung des Denkens, wenn also eine Berührung überhaupt nicht bestünde, wäre dann nach Aufhebung der Berührung die Empfindung wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache der Empfindung, nämlich die Berührung.
20 Es ist femer gesagt worden: .Abhängig von Name und Form entsteht die Berührung.' Wie nun die Berührung abhängig von Name und Form entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn, Änanda, die Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen, durch welche das Konglomerat des Namens zum Ausdruck gebracht wird, wenn diese Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen nicht bestünden, wäre dann beim
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Konglomerat der Form eine Berührung durch Benennung1 wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Und wenn, Änanda, die Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen, durch welche das Konglomerat der Form zum Ausdruck gebracht wird, wenn diese Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen nicht bestünden, wäre dann beim Konglomerat des Namens eine Berührung durch Widerstand wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Und wenn, Änanda, die Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen, durch welche das Konglomerat des Namens und das Konglomerat der Form zum Ausdruck gebracht wird, wenn diese Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen nicht bestünden, wäre dann eine Berührung durch Benennung oder eine Berührung durch Widerstand wahrzunehmen?" „Nein, o Herr." „Und wenn, Änanda, die Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen, durch welche Name und Form zum Ausdruck gebracht werden, wenn diese Erscheinungsformen, Kennzeichen, Merkmale und Bestimmungen nicht bestünden, würde dann eine Berührung wahrzunehmen sein?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache der Berührung, nämlich Name und Form.
21 Es ist ferner gesagt worden:, Abhängig vom Erkennen entsteht Name und Form.' Wie nun Name und Form abhängig vom Erkennen entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn das Erkennen, Änanda, nicht in den Mutterschoß einginge, würde sich dann Name und Form im Mutterschoß zusammenballen?" „Nein, o Herr." „Und wenn sich das Erkennen, Änanda, nachdem es in den Mutterschoß eingegangen ist, wieder entfernen würde, würde sich dann Name und Form zu diesem Dasein entwickeln?" „Nein, o Herr." „Und wenn das Erkennen, Änanda, bei dem Knaben oder Mädchen, solange sie noch klein sind, vernichtet würde, würde dann Name und Form zu Wachstum, Gedeihen und zu voller Größe gelangen?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache von Name und Form, nämlich das Erkennen.
22 Es ist ferner gesagt worden: ,Abhängig von Name und Form entsteht das Erkennen.' Wie nun das Erkennen abhängig von Name und Form entsteht, das ist, Änanda, auf folgende Weise zu verstehen. Wenn das Erkennen, Änanda, an Name und Form keinen Halt finden würde, würde dann in Zukunft ein Zustande1
Für die alte buddhistische Dogmatik bedeutet nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch das Benennen und Denken eines Gegenstandes eine Berührung, die nur anderer Art ist als die Berührung von materiellen Gegenständen, die sich gegenseitig Widerstand entgegensetzen.
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kommen der Entstehung des Leides von Geburt, Alter und Tod wahrzunehmen sein?" „Nein, o Herr." „Daher, Änanda, ist dies hier der Grund, dies die Grundlage, dies der Ursprung und dies die Ursache des Erkennens, nämlich Name und Form. Das ist es also, Änanda, wodurch man geboren wird, altert und stirbt, dahinscheidet und wiederentsteht, wodurch es eine Möglichkeit der Benennung, eine Möglichkeit der Erklärung, eine Möglichkeit der Bezeichnung gibt, wodurch die Erkenntnis ein Bereich findet, wodurch der Weltlauf abläuft, um das Dasein zu bezeichnen, nämlich Name und Form zusammen mit dem Erkennen." Damit ist die Erklärung der Ursachenkette beendet und der Text geht auf andere Gegenstände über. Das nächste Beispiel, das wir bringen, zeigt die Behandlung des Lehrsatzes vom abhängigen Entstehen in der ältesten Dogmatik. Der Text ist in die Form einer Lehrrede des Buddha gekleidet, aber das ist hier bereits zur leeren Äußerlichkeit geworden. Die Darstellung selbst zerfallt in zwei Teile, den sogenannten Anfang (ädih), der den Lehrsatz selbst wiedergibt, und die Erklärung (vibhangah). Die Erklärung ist kurz und trocken in der Art der alten Scholastik. Doch erfreute sich der Text großen Ansehens und bildete die Grundlage für die Erläuterung des Lehrsatzes in der Dogmatik der klassischen Zeit.
Das Sütra vom abhängigen Entstehen (PratTtyasamutpädasütram) So habe ich gehört. Einmal weilte der Erhabene in Srâvastï, im Jetavana, dem Garten des Anäthapindada, mit einer großen Schar von Mönchen, mit zwölfeinhalbhundert Mönchen. Da sprach der Erhabene zu den Mönchen: „Ich will euch, ihr Mönche, den Anfang und die Erklärung des abhängigen Entstehens darlegen. Hört also und achtet wohl und gut darauf. Ich werde sprechen. Welches ist der Anfang des abhängigen Entstehens? Nämlich, wenn dieses ist, wird jenes; infolge der Entstehung von diesem entsteht jenes. Nämlich, abhängig vom Nichtwissen entstehen die Gestaltungen (samskäräh), abhängig von den Gestaltungen das Erkennen, abhängig vom Erkennen Name und Form, abhängig von Name und Form der sechsfache Bereich, abhängig vom sechsfachen Bereich die Berührung, abhängig von der Berührung die Empfindung, abhängig von der Empfindung der Durst, abhängig vom Durst das Ergreifen, abhängig vom Ergreifen das Werden, abhängig vom Werden die Geburt, abhängig von der Geburt Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Betrübnis und Verzweiflung. So kommt die Entstehung dieser ganzen großen Leidensmasse zustande. Das wird der Anfang des abhängigen Entstehens genannt.
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Welches ist die Erklärung? , Abhängig vom Nichtwissen entstehen die Gestaltungen.' Welcher Art ist das Nichtwissen? Unkenntnis der Vergangenheit, Unkenntnis der Zukunft, Unkenntnis der Vergangenheit und Zukunft, Unkenntnis nach innen, Unkenntnis nach außen, Unkenntnis nach innen und außen, Unkenntnis der Werke, Unkenntnis ihrer Reifung, Unkenntnis der Werke und ihrer Reifung, Unkenntnis des Buddha, Unkenntnis der Lehre, Unkenntnis der Gemeinde, Unkenntnis des Leidens, Unkenntnis der Entstehung, Unkenntnis der Aufhebung, Unkenntnis des Weges, Unkenntnis der Ursachen, Unkenntnis der aus Ursachen entstandenen Gegebenheiten, Unkenntnis der heilbringenden und unheilbringenden, tadelnswerten und tadellosen, zu pflegenden und nicht zu pflegenden, niedrigen und hohen, schwarzen und weißen abhängig entstandenen Gegebenheiten samt ihrer Gliederung, oder auch der sechs Bereiche der Berührung hinsichtlich ihres wahrheitsgemäßen Erfassens. Unkenntnis des Wahrheitsgemäßen bei Diesem und Jenem, Nicht-Sehen, Nicht-Schauen, Finsternis, Verblendung, Nichtwissen, Dunkelheit, das wird Nichtwissen genannt. ,Abhängig vom Nichtwissen entstehen die Gestaltungen.' Welcher Art sind die Gestaltungen? Es gibt drei Gestaltungen: Gestaltungen des Körpers, Gestaltungen der Rede und Gestaltungen des Denkens. ,Abhängig von den Gestaltungen entsteht das Erkennen.' Welcher Art ist das Erkennen? Es gibt sechs Gruppen (käyäh) des Erkennens; Erkennen durch das Auge, Erkennen durch das Gehör, durch den Geruch, durch die Zunge, durch den Körper und durch das Denken. ,Abhängig vom Erkennen entsteht Name und Form.' Was ist der Name? Die vier nichtmateriellen Gruppen (skandhäh). Welche vier? Die Gruppe der Empfindung, die Gruppe des Bewußtseins, die Gruppe der Gestaltungen und die Gruppe des Erkennens. Was ist die Form? Alles, was es an Materie gibt, die vier großen Elemente und was auf den vier großen Elementen beruht. Diese Form und der vorher genannte Name, zu einer Einheit verbunden, werden Name und Form genannt. .Abhängig von Name und Form entsteht der sechsfache Bereich.' Was ist der sechsfache Bereich? Die sechs inneren Bereiche, der innere Bereich des Auges, der innere Bereich des Gehörs, des Geruchs, der Zunge, des Körpers und des Denkens. , Abhängig vom sechsfachen Bereich entsteht die Berührung.' Welcher Art ist die Berührung? Es gibt sechs Gruppen {käyäh) der Berührung: Berührung des Auges, Berührung des Gehörs, des Geruchs, der Zunge, des Körpers und des Denkens. ,Abhängig von der Berührung entsteht die Empfindung.' Welcher Art ist die Empfindung? Es gibt drei Empfindungen: lustvolle Empfindung, leidvolle Empfindung und weder-leid-noch-lustvolle Empfindung. , Abhängig von der Empfindung entsteht der Durst. ' Welcher Art ist der Durst? Es gibt dreierlei Durst: Durst nach den Begierden, Durst nach dem Materiellen und Durst nach dem Nichtmateriellen.
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,Abhängig vom Durst entsteht das Ergreifen.' Welcher Art ist das Ergreifen? Es gibt viererlei Ergreifen: Ergreifen der Begierden, Ergreifen der Ansichten, Ergreifen des sittlichen Verhaltens und der Gelübde und Ergreifen der Lehre von einem Ich. .Abhängig vom Ergreifen entsteht das Werden.' Welcher Art ist das Werden? Es gibt dreierlei Werden: Werden in der Sphäre der Begierde, Werden in der Sphäre des Materiellen und Werden in der Sphäre des Nichtmateriellen. .Abhängig vom Werden entsteht die Geburt.' Was ist die Geburt? Es ist die Geburt dieser und jener Wesen in dieser und jener Wesensgruppe, ihr Geborenwerden, ihre Verkörperung, ihr In-Erscheinung-Treten, ihr Sichtbarwerden, das Annehmen der Gruppen (skandhäh), das Annehmen der Elemente (dhätavah), das Annehmen der Bereiche (äyatanäni), das In-Erscheinung-Treten der Gruppen, das Sichtbarwerden des Lebensorgans. , Abhängig von der Geburt entsteht Alter und Tod. ' Welcher Art ist das Alter? Kahlköpfigkeit, graue Haare, mit Runzeln bedeckt sein, Hinfälligkeit, gebeugt sein, bucklig sein wie ein Giebeldach, die Glieder mit schwarzen Flecken bedeckt haben, keuchendes Atmen des Körpers, auf einen Stock gestützt sein, Ungeschicklichkeit, Schwerfälligkeit, Dahinschwinden, Dahinsiechen, Abnützung und Verfall der Sinnesorgane, Altern und Hinfälligwerden der Gestaltungen, das wird Alter genannt. Welcher Art ist der Tod? Er ist das Dahinscheiden dieser und jener Wesen aus dieser und jener Wesensgruppe, ihr Dahinschwinden, ihr Zerfall, ihr Verschwinden, das Vergehen der Lebensdauer, das Vergehen der Lebenswärme, die Aufhebung des Lebensorgans, das Abwerfen der Gruppen {skandhäh), der Tod, das Sterben; das wird Tod genannt. Dieser Tod und das vorher genannte Alter, beide zu einer Einheit verbunden, werden Alter und Tod genannt. Das wird die Erklärung des abhängigen Entstehens genannt. Was ich euch gesagt habe: ,Ich will euch den Anfang und die Erklärung des abhängigen Entstehens darlegen,' das ist damit beantwortet." Dies sprach der Erhabene. Freudig begrüßten die Mönche den Erhabenen. Nun noch ein kurzes Beispiel dafür, wie dieser Text in der klassischen Zeit der buddhistischen Systeme erklärt wurde. Die Erklärung stammt aus einem Kommentar des berühmten Kirchenlehrers Vasubandhu des Jüngeren, auf den wir noch mehrfach zu sprechen kommen werden, und zwar gebe ich den Abschnitt wieder, der die Erklärung des Durstes enthält. Nach einer kurzen Erläuterung des Durstbegriffes geht Vasubandhu auf die Besprechung verschiedener Einzelfragen über, ob nur Lustempfindungen den Durst hervorrufen und ähnliches. Der Text gibt eine gute Vorstellung von der Erklärungsliteratur der klassischen Zeit im allgemeinen. Vor allem zeigt er auch, wie man die heiligen Texte in umfassendster Weise zur Erklärung heranzog und wie man ihre Widersprüche beobachtete und zu lösen versuchte.
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Aus Vasubandhus „Kommentar zum Sutra vom abhängigen Entstehen" (Pratityasamutpädavyäkhyä) „Abhängig von der Empfindung entsteht der Durst. Welcher Art ist der Durst? Es gibt dreierlei Durst usw." Auch hier hat der Erhabene auf Grund der Unterscheidung (der Sphäre) der Begierde, des Materiellen und des Nicht-materiellen die Gliederung des Durstes gelehrt, aber nicht sein Wesen, und zwar mit Rücksicht auf die besondere Veranlagung der zu Belehrenden; das gilt genauso wie früher ... (es folgt eine kurze sprachlich-grammatische Erklärung) ... Damit ist der auf die drei Sphären gerichtete Durst genannt. Dieser ist ein von den Lastern (klesäh) begleitetes Begehren, Hangen und Haften der Menschen, welche hinsichtlich der Sphäre der Begierde, beziehungsweise der Sphäre des Materiellen oder der Sphäre des Nichtmateriellen nicht frei von Begierde sind. Und zwar gehört der Durst der gleichen Sphäre an wie die Empfindung, von der er abhängt. (Einwand:) Wieso heißt es vom Durst hinsichtlich der leidvollen Empfindung nicht, daß er ausschließlich Durst nach dieser ist?1 Die lustvolle Empfindung ist die Ursache des Durstes, damit verbunden und nicht davon getrennt zu sein, die leidvolle ist die Ursache des Durstes, damit nicht verbunden und davon getrennt zu sein, die weder-leid-noch-lustvolle ist die Ursache des Durstes, der an diesem Zustand Gefallen findet, beziehungsweise bei einer bestimmten Versenkung die Ursache des Durstes, damit verbunden und nicht davon getrennt zu sein. Außerdem hat der Erhabene gesagt: „Von der leidvollen Empfindung berührt findet er Gefallen an der Lust der Begierden." Daher ist auch die leidvolle Empfindung Ursache des Durstes nach der Lust. Ferner beruht der Durst nach dem Vorhandensein des Ich, welcher vom angeborenen Ich-Wahn begleitet in dem von der dreifachen Empfindung erfüllten Strom der Gruppen (skandhäh) unterschiedslos herrscht, auf der Empfindung. Und zwar ist jener ganze Strom der Empfindungen seine bestimmende Ursache. Dementsprechend heißt es auch in der großen Lehrrede von den Grundlagen des Entstehens: „Kann man, Änanda, dort, wo es keine Empfindung gibt und wo ein Empfindender nicht wahrgenommen wird, sagen: ,Ich bin' ?" „Nein, o Herr." Abhängig von diesem unterschiedslos herrschenden Durst nach dem Vorhandensein des Ich entwickeln nun manche Menschen einen auf Vorstellungen beruhenden Ich-Wahn. Und im Hinblick auf diesen hat der Erhabene gesagt: „Abhängig von der Empfindung, ihr Mönche, welche aus dem Nichtwissen und
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Es handelt sich darum, zu zeigen, daß auch die leidvolle Empfindung den Durst nach Lust hervorruft.
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der Berührung entspringt, entsteht der Durst und aus diesem die Gestaltungen."1 Und dieser entspricht auch dem Ergreifen der Lehre von einem Ich. Denn wie könnte sonst das Ergreifen der Lehre von einem Ich abhängig vom Durst zustande kommen? (vgl. S. 26f.) (Einwand:) Wenn also der Durst von der dreifachen Empfindung abhängt, wieso heißt es dann: „Die Begierde heftet sich an die lustvolle Empfindung?" (Antwort:) Weil sie diese zum Anhaltspunkt hat und mit ihr verbunden auftritt, und zwar gilt dieses von der lustvollen Empfindung, welche dem eigenen Persönlichkeitsstrom angehört. (Einwand:) Wenn der Durst von der Empfindung abhängt, so folgt daraus, daß auch der Heilige mit Durst behaftet ist, weil jeder Mensch Empfindungen hat. Femer folgt daraus, daß es das Wohlgefallen, welches die Befreiung vom Irdischen begleitet, nicht geben kann. (Antwort:) Man sagt: „Der Regen hängt von den Wolken ab." Muß es aber deswegen, wenn eine Wolke da ist, unbedingt regnen? Ebenso muß sich, wenn Empfindung da ist, noch nicht unbedingt der Durst einstellen. (Frage:) Aus welchem Grunde stellt er sich nicht ein? (Antwort:) Weil gewisse Gegengründe da sind. Sein Same ist nämlich aus der Grundlage entfernt, beziehungsweise zerstört, so daß er sich trotz des Vorhandenseins der Ursache nicht einstellt, eben weil der Same fehlt oder zerstört ist. Ebenso kommt kein Sproß zum Vorschein, selbst wenn die Ursachen wie Feld, Wasser usw. vorhanden sind, wenn dafür der Same fehlt oder zerstört ist. Daher hat auch der Erhabene an einer anderen Stelle die genauere Bestimmung gegeben: „Abhängig von der Empfindung, welche aus dem Nichtwissen und der Berührung entsteht, entsteht der Durst." Ferner: „Wer Lust empfindet und die Empfindung nicht durchschaut, in dem setzt sich die Begierde fest, da er den Ausweg nicht sieht." Also nur die nichtverstandene Empfindung ist Ursache des Durstes aber nicht jede. (Frage:) Warum ist dann nicht auch im vorliegenden Falle eine solche genauere Bestimmung gegeben? (Antwort:) Weil hier bei der Behandlung des Gegenstandes vorausgesetzt wird, daß das Nichtwissen gemeinsame Ursache der Gestaltungen ist. (Einwand:) An manchen Stellen hat der Erhabene ausschließlich das Nichtwissen als Ursache des Durstes bezeichnet: „Das Nichtwissen, ihr Mönche, ist der Grund des Durstes, das Nichtwissen die Ursache, das Nichtwissen die Grundlage." Ferner: „Was, ihr Mönche, ist die Nahrung des Werdedurstes? Darauf wäre zu antworten: ,Das Nichtwissen.'" An manchen Stellen wieder ausschließlich die Berührung: „Es gibt sechs Gruppen (käyäh) des Durstes, durch Berührung des Auges entstandenen Durst usw." Ferner: „Jede Gruppe (skandhah) der Empfindung, jede Gruppe des Bewußtseins, jede Gruppe der Körperlichkeit ist von der Berührung abhängig." Hier wird dagegen ausschließlich die Empfindung als 1
Hier bezeichnet der Ausdruck Gestaltungen den auf Vorstellungen beruhenden IchWahn, der gleich nachher mit dem Ergreifen der Lehre von einem Ich gleichgesetzt wird.
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Ursache bezeichnet. Wieso ergibt sich also kein Widerspruch mit den heiligen Texten? (Antwort:) Wegen der Verschiedenheit der Meinung. Wenn nämlich das Nichtwissen genannt wird, so ist die allgemeine Ursache des Durstes gemeint. Das gleiche gilt von der Berührung. Bei der Empfindung dagegen ist die besondere Ursache gemeint. Denn in allen drei Daseinssphären tritt bei einem der Verblendung unterworfenen Menschen der Durst deijenigen Stufe auf, welcher die Empfindung angehört. Ferner tritt auf ein und derselben Stufe bei gleichem Nichtwissen, infolge der Verschiedenheit der Empfindung, ihrer Stärke und ihrer Schwäche, eine Verschiedenheit des Durstes auf. Schließlich sind hinsichtlich des Auftretens des Durstes die als lustvoll usw. zu empfindenden Berührungen von der Verschiedenheit der Empfindung abhängig. Daher besteht kein Widerspruch. (Einwand:) Wenn mit den Worten: „Abhängig von der Empfindung entsteht der Durst," Ausschließlichkeit der Ursache gelehrt werden soll,1 so ergeben sich die erwähnten Fehler. Außerdem wären andere Ursachen des Durstes, nämlich Grund und gleichartig vorgehende Ursache, nicht möglich. Soll dagegen Ausschließlichkeit des Verursachten gelehrt werden, so kann die Empfindung weder Grund, noch gleichartig vorgehende Ursache, noch Anhaltspunkt anderer Gegebenheiten sein. Außerdem würde sich ein Widerspruch zu folgenden heiligen Texten ergeben: „Der Widerwille heftet sich an die leidvolle Empfindung" usw., und: „Bei dem von Wohlgefühl Erfüllten sammelt sich der Geist, bei dem von Wohlgefühl Erfüllten beruhigen sich die Gegebenheiten" usw. Soll Ausschließlichkeit beider gelehrt werden, so ergeben sich die beiderseitigen Fehler. Nimmt man endlich keinerlei Ausschließlichkeit an, so ist die Belehrung zwecklos. (Antwort:) Es liegt hier keinerlei Ausschließlichkeit vor. Trotzdem ist die Belehrung nicht zwecklos, da die Belehrung unseren früheren Ausführungen entsprechend in dieser Form gegeben wird, um die besondere Ursache des Durstes mitzuteilen; ferner, weil die Empfindung die Hauptursache ist, da der Durst infolge der Verbindung usw. mit der lustvollen Empfindung usw. auftritt. Damit ist die Erklärung des Durstes abgeschlossen. Die bisherigen Beispiele haben gezeigt, wie man den Lehrsatz vom abhängigen Entstehen im einzelnen deutete und scholastisch erklärte. Philosophisch weit wichtiger ist aber der neue Sinn, der ihm im Laufe der Zeit allmählich beigelegt wurde. Dazu kam es folgendermaßen: Dadurch, daß der Lehrsatz vom abhängigen Entstehen eine Reihe von Ursachen und Wirkungen über mehrere Geburten hin verfolgt, gewann es den Anschein, daß er die irdische Persönlichkeit selbst auf den verschiedenen Stufen ihres Daseins schildere. Als man daher im Zuge der Entwicklung der Lehre von der Vergänglichkeit aller Dinge die ganze irdische Persönlichkeit in einen Strom ständig wechselnder Erscheinungen auflöste, sah man im Lehrsatz vom abhängigen Entstehen nicht mehr 1
D. h. wenn damit gesagt sein soll, daß ausschließlich die Empfindung den Durst verursacht, beziehungsweise, daß ausschließlich der Durst durch die Empfindung verursacht wird.
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das Gesetz, nach dem sich Verstrickung und Erlösung aus dem Wesenskreislauf vollzieht. Man betrachtete ihn vielmehr als das Gesetz, welches die gesamte Entwicklung dieses Persönlichkeitsstromes selbst beherrscht und seine Daseinsform zum Ausdruck bringt. Aber dabei blieb man nicht stehen. Die Vergänglichkeit und der ständige Wechsel der Dinge gilt nicht nur für die irdische Persönlichkeit, sondern auch fur die Außenwelt. Und man übertrug daher das Gesetz vom abhängigen Entstehen auch auf diese. Man stellte neben die bisherige Ursachenkette, welche man nunmehr als innere Ursachenkette bezeichnete, eine zweite, äußere Ursachenkette. Und so wurde der Lehrsatz vom abhängigen Entstehen das beherrschende Gesetz der gesamten Erscheinungswelt und der philosophische Ausdruck ihres Wesens. Und als daher die Schule der Mädhyamika in kühner Schlußfolgerung als erste die Irrealität der Außenwelt nachzuweisen suchte, ging sie von diesem Lehrsatz aus und leitete aus ihm nicht nur die Vergänglichkeit, sondern auch die Leerheit alles Irdischen ab. Im folgenden sollen nun auch für diese Entwicklung Beispiele geboten werden. Der Lehrsatz vom abhängigen Entstehen als Ausdruck der irdischen Persönlichkeit wird im Abschnitt über die Leugnung des Ich (S. 54ff.) zur Sprache kommen, als Ausdruck der Vergänglichkeit und Leerheit der gesamten Erscheinungswelt wird er im Abschnitt über die Madhyamaka-Schule (S. 107ff.) behandelt werden. Hier soll zunächst nur ein Text vorgeführt werden, der zeigt, wie die alte Ursachenkette zum allgemeinen Kausalitätsgesetz erweitert wurde. Der Text, um den es sich dabei handelt, ist das sogenannte áalistambasütram. Die Überlieferung bezeichnet es als Mahäyäna-Text und tatsächlich ist es dem künftigen Buddha Maitreya in den Mund gelegt. Aber inhaltlich beschränkt sich der mahäyänistische Charakter des Werkes auf Einzelheiten. Vor allem die Lehre vom abhängigen Entstehen trägt keine wesentlichen Mahäyäna-Züge. Ich gebe, um nicht zu ausführlich zu werden, den Text nicht vollständig wieder, sondern nur den Abschnitt, in dem inneres und äußeres abhängiges Entstehen geschildert und einander gegenübergestellt wird. Ausgelassen wurde ein einleitender allgemeiner Abschnitt und bei der Darstellung des inneren abhängigen Entstehens eine Erklärung der alten Ursachenkette. Doch enthalten auch diese Abschnitte manches Interessante.
Das Sütra von der jungen Reispflanze (Sälistambasütram) Dieses abhängige Entstehen ergibt sich ferner aus zweierlei Anlässen. Aus welchen zweien? Aus der Verknüpfung der Gründe und aus der Verknüpfimg der Ursachen. Und zwar ist es als zweifach zu betrachten, als äußeres und inneres.
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Welches ist nun die Verknüpfung der Gründe beim äußeren abhängigen Entstehen? Aus dem Samen entsteht der Keim, aus dem Keim das Blatt, aus dem Blatt der Halm, aus dem Halm der Stengel, aus dem Stengel der Knoten, aus dem Knoten die Knospe, aus der Knospe die Granne, aus der Granne die Blüte, aus der Blüte die Frucht. Wenn der Same nicht vorhanden ist, kann der Keim nicht entstehen ... usw. bis1 ... wenn die Blüte nicht vorhanden ist, kann die Frucht nicht entstehen. Wenn dagegen der Same vorhanden ist, kommt es zur Entwicklung des Keimes ... usw. bis ... wenn die Blüte vorhanden ist, kommt es zur Entwicklung der Frucht. Dabei denkt der Same nicht2: „Ich bringe den Keim hervor"; und der Keim denkt nicht: „Ich bin vom Samen hervorgebracht worden" ... usw. bis ... die Blüte denkt nicht: „Ich bringe die Frucht hervor"; und die Frucht denkt nicht: „Ich bin von der Blüte hervorgebracht worden." Und doch entwickelt sich, wenn der Same vorhanden ist, der Keim und kommt zum Vorschein ... usw. bis ... wenn die Blüte vorhanden ist, entwickelt sich die Frucht und kommt zum Vorschein. So ist die Verknüpfung der Gründe beim äußeren abhängigen Entstehen zu betrachten. Wie ist die Verknüpfung der Ursachen beim äußeren abhängigen Entstehen zu betrachten? Durch das Zusammentreten von sechs Elementen. Durch das Zusammentreten welcher sechs Elemente? Durch das Zusammentreten der Elemente der Erde, des Wassers, des Feuers, des Windes, des Äthers und der Jahreszeit ist die Verknüpfung der Ursachen beim äußeren abhängigen Entstehen zu betrachten. Dabei bringt das Element der Erde beim Samen die Wirkung des Zusammenhaltens hervor; das Element des Wassers bringt beim Samen die Wirkung des Durchfeuchtens hervor; das Element des Feuers bringt beim Samen die Wirkung des Reifens hervor; das Element des Windes bringt beim Samen die Wirkung des Treibens hervor; das Element des Äthers bringt beim Samen die Wirkung des Nicht-Hemmens hervor und das Element der Jahreszeit bringt beim Samen die Wirkung der Umwandlung hervor. Wenn diese Ursachen nicht vorhanden sind, findet das Hervorkommen des Keimes aus dem Samen nicht statt; so wenn das äußere Element der Erde mangelt und ebenso wenn die Elemente des Wassers, des Feuers, des Windes, des Äthers und der Jahreszeit mangeln. Daher findet durch das Zusammentreten aller, während der Same vergeht, das Hervorkommen des Keimes aus ihm statt. Dabei denkt das Element der Erde nicht: „Ich bringe beim Samen die Wirkung des Zusammenhaltens hervor";... usw. bis ... und das Element der Jahreszeit denkt nicht: „Ich bringe beim Samen die Wirkung der Umwandlung hervor." Auch der Same denkt nicht: „Ich bringe den Keim hervor"; und der Keim denkt nicht: „Ich bin durch diese Ursachen erzeugt." Und doch findet beim Vorhandensein dieser Ursachen, während der Same vergeht, das Hervorkommen des Kei1
So kürzen bereits die alten buddhistischen Texte die ständigen Wiederholungen ab.
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Damit soll hervorgehoben werden, daß das ganze irdische Geschehen ohne denkendes Subjekt vor sich geht.
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mes statt, ... usw. bis ... während die Blüte vergeht, findet das Hervorkommen der Frucht statt. Auch ist dieser Keim nicht durch sich geschaffen, nicht durch anderes geschaffen, nicht durch beides geschaffen, nicht durch Gott geschaffen, nicht durch die Zeit umgestaltet, nicht aus einer Urmaterie hervorgegangen, nicht von einem einzelnen Anlaß abhängig, und auch nicht ohne Grund entstanden. Und doch findet durch das Zusammentreten der Elemente der Erde, des Wassers, des Feuers, des Windes, des Äthers und der Jahreszeit, während der Same vergeht, das Hervorkommen des Keimes statt. So ist die Verknüpfimg der Ursachen beim äußeren abhängigen Entstehen zu betrachten. Dabei ist das äußere abhängige Entstehen auf fünf Arten zu betrachten. Auf welche fünf? Nicht als ewig, nicht als Vernichtung, nicht als Übergang (samkräntih), als Hervorgehen einer großen Wirkung aus einer kleinen Ursache und als Folge von Gleichartigem. Wieso nicht als ewig? Weil der Keim etwas anderes ist als der Same. Denn der Keim ist nicht dasselbe wie der Same. Der Keim geht nämlich weder aus dem vernichteten Samen hervor, noch aus dem nichtvernichteten. Und doch vergeht der Same, und zur gleichen Zeit entsteht der Keim. Daher nicht als ewig. Wieso nicht als Vernichtung? Weil der Keim weder aus dem vorher vernichteten Samen entsteht, noch aus dem nichtvernichteten. Vielmehr vergeht der Same, und zur gleichen Zeit entsteht der Keim, so wie die Balken einer Waage sich zugleich heben und senken. Daher nicht als Vernichtung. Wieso nicht als Übergang? Weil der Keim etwas anderes ist als der Same. Denn der Keim ist nicht das, was der Same ist. Daher nicht als Übergang. Wieso als Hervorgehen einer großen Wirkung aus einer kleinen Ursache? Weil ein kleiner Same gesät wird und eine große Frucht hervorbringt. Daher als Hervorgehen einer großen Wirkung aus einer kleinen Ursache. Wieso als Folge von Gleichartigem? Wie der Same ist, den man sät, so ist die Frucht, die er hervorbringt. Daher als Folge von Gleichartigem. So ist das äußere abhängige Entstehen auf fünf Arten zu betrachten. Ebenso ergibt sich das innere abhängige Entstehen aus zweierlei Anlässen. Aus welchen zweien? Aus der Verknüpfung der Gründe und aus der Verknüpfung der Ursachen. Welches ist nun beim inneren abhängigen Entstehen die Verknüpfung der Gründe? Abhängig vom Nichtwissen entstehen die Willensregungen ... usw. bis ... abhängig von der Geburt entsteht Alter und Tod. Wenn das Nichtwissen nicht wäre, wären die Willensregungen nicht wahrzunehmen ... usw. bis ... wenn die Geburt nicht wäre, wären Alter und Tod nicht wahrzunehmen. Da jedoch das Nichtwissen vorhanden ist, entwickeln sich die Willensregungen ... usw. bis ... da die Geburt vorhanden ist, entwickeln sich Alter und Tod. Dabei denkt das Nichtwissen nicht: „Ich bringe die Willensregungen hervor"; und die Willensregungen denken nicht: „Wir sind vom Nichtwissen hervorgebracht worden" ... usw. bis ... und die Geburt denkt nicht: „Ich bringe Alter und Tod hervor"; und Alter und Tod denken nicht: „Wir sind von der Geburt hervorge-
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bracht worden." Und doch entwickeln sich, wenn das Nichtwissen vorhanden ist, die Willensregungen und kommen zum Vorschein ... usw. bis ... wenn die Geburt vorhanden ist, entwickeln sich Alter und Tod und kommen zum Vorschein. So ist die Verknüpfung der Gründe beim inneren abhängigen Entstehen zu betrachten. Wie ist die Verknüpfung der Ursachen beim inneren abhängigen Entstehen zu betrachten? Durch das Zusammentreten von sechs Elementen. Durch das Zusammentreten von welchen sechs Elementen? Durch das Zusammentreten der Elemente der Erde, des Wassers, des Feuers, des Windes, des Äthers und des Erkennens ist die Verknüpfung der Ursachen beim inneren abhängigen Entstehen zu betrachten. Welches ist beim inneren abhängigen Entstehen das Element der Erde? Was durch den Zusammenhalt des Körpers seine Festigkeit bewirkt, das wird das Element der Erde genannt. Was beim Körper die Wirkung des engeren Zusammenschlusses hervorbringt, das wird das Element des Wassers genannt. Was im Körper das Gegessene, Getrunkene, Gekaute und Verzehrte verdaut, das wird das Element des Feuers genannt. Was im Körper die Wirkung des Aus- und Einatmens hervorbringt, das wird das Element des Windes genannt. Was im Körper das innere Hohlsein bewirkt, das wird das Element des Äthers genannt. Was beim Körper gleich (zwei aneinandergelehnten) Rohrbündeln1 den Keim von Name und Form hervorbringt, das mit den fünf Gruppen (käyäh) des Erkennens verbundene und mit den Befleckungen (äsraväh) behaftete Denkerkennen, das wird das Element des Erkennens genannt. Wenn diese Ursachen nicht vorhanden sind, findet das Entstehen des Körpers nicht statt; so wenn das innere Element der Erde mangelt, und ebenso, wenn die Elemente des Wassers, des Feuers, des Windes, des Äthers und des Erkennens mangeln. Daher findet durch das Zusammentreten aller die Entstehung des Körpers statt. Dabei denkt das Element der Erde nicht: „Ich bringe durch den Zusammenhalt des Körpers seine Festigkeit hervor"; das Element des Wassers denkt nicht: „Ich bringe beim Körper die Wirkung des engeren Zusammenschlusses hervor"; das Element des Feuers denkt nicht: „Ich verdaue im Körper das Gegessene, Getrunkene, Gekaute und Verzehrte"; das Element des Windes denkt nicht: „Ich bringe im Körper die Wirkung des Aus- und Einatmens hervor"; das Element des Äthers denkt nicht: „Ich bewirke im Körper das innere Hohlsein"; das Element des Erkennens denkt nicht: „Ich bringe beim Körper Name und Form hervor"; und auch der Körper denkt nicht: „Ich bin durch diese Ursachen erzeugt." Und doch findet, wenn diese Ursachen vorhanden sind, das Entstehen des Körpers statt. Dabei ist das Element der Erde nicht das Ich, nicht das Wesen, nicht die Seele, nicht das Lebewesen, nicht der Mensch, nicht das Menschenkind, nicht das 1
Name und Form werden mit zwei Rohrbündeln verglichen, die sich gegenseitig stützen.
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Weib, nicht der Mann, nicht der Eunuch, nicht ich, nicht mein, noch irgendeines andern; ebenso ist das Element des Wassers, das Element des Feuers, das Element des Windes, das Element des Äthers, das Element des Erkennens nicht das Ich, nicht das Wesen, nicht die Seele, nicht das Lebewesen, nicht der Mensch, nicht das Menschenkind, nicht das Weib, nicht der Mann, nicht der Eunuch, nicht ich, nicht mein, noch irgendeines anderen. Nun folgt eine Erklärung der zwölf Glieder der Ursachenkette. Dann fährt der Text fort: Dieses zwölfgliedrige abhängige Entstehen also, gegenseitig begründet und gegenseitig verursacht, weder vergänglich noch ewig, weder geschaffen noch ungeschaffen, weder grundlos noch ursachelos, nicht wahrnehmend, nicht dem Vergehen unterworfen, nicht der Vernichtung unterworfen, nicht der Aufhebung unterworfen, setzt sich seit anfangloser Zeit ununterbrochen fort gleich einem Strome. Und wenn sich dieses zwölfgliedrige abhängige Entstehen auch, gegenseitig begründet und gegenseitig verursacht, weder vergänglich noch ewig, weder geschaffen noch ungeschaffen, weder grundlos noch ursachelos, nicht wahrnehmend, nicht dem Vergehen unterworfen, nicht der Vernichtung unterworfen, nicht der Aufhebung unterworfen, seit anfangloser Zeit ununterbrochen gleich einem Strome fortsetzt, so sind doch diese vier Glieder dieses zwölfgliedrigen abhängigen Entstehens als Grund zur vereinten Wirkung tätig. Welche vier? Das Nichtwissen, der Durst, das Werk und das Erkennen. Dabei ist das Erkennen in der Art eines Samens Grund, das Werk ist in der Art eines Feldes Grund, Nichtwissen und Durst sind in der Art der Laster (klesäh) Grund. Dabei erzeugen Werk und Laster den Samen des Erkennens. Dabei bringt das Werk beim Samen des Erkennens die Wirkung des Feldes hervor, der Durst befeuchtet den Samen des Erkennens und das Nichtwissen streut den Samen des Erkennens aus. Wenn diese Ursachen nicht vorhanden sind, kommt die Entwicklung des Samens des Erkennens nicht zustande. Dabei denkt das Werk nicht: „Ich bringe beim Samen des Erkennens die Wirkung des Feldes hervor"; auch der Durst denkt nicht: „Ich befeuchte den Samen des Erkennens"; auch das Nichtwissen denkt nicht: „Ich streue den Samen des Erkennens aus"; und auch der Same des Erkennens denkt nicht": „Ich bin durch diese Ursachen erzeugt." Und doch wächst der Same des Erkennens im Felde der Werke ruhend, von der Feuchtigkeit des Durstes benetzt und vom Nichtwissen ausgestreut, und indem er da und dort in den Bereich des Entstehens eingeht, bringt er im Mutterschoß den Keim von Name und Form hervor. Auch ist dieser Keim von Name und Form nicht durch sich geschaffen, nicht durch anderes geschaffen, nicht durch beides geschaffen, nicht durch Gott geschaffen, nicht durch die Zeit umgestaltet, nicht aus einer Urmaterie hervorgegangen, nicht von einem einzelnen Anlaß abhängig, und auch nicht ohne Grund entstanden. Und doch bringt der Same des Erkennens infolge der Vereinigung von Vater und Mutter, durch das Hinzutreten der Empfängnisbereitschaft und durch das Zusammenkommen der übrigen Ursachen, indem er von Lust begleitet da und dort in
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das Bereich des Entstehens eingeht, im Mutterschoß den Keim von Name und Form hervor, obwohl die Gegebenheiten ohne Herrn und nicht mein sind, ohne Haften, gleich dem Äther und in ihrem Wesen wie ein Trugbild beschaffen, und zwar weil die Gründe und Ursachen nicht mangeln. Es folgt, wie durch die Verbindung verschiedener Ursachen die verschiedenen Arten des Erkennens entstehen. Dann heißt es weiter: Dabei geht keine Gegebenheit aus dieser Welt in jene Welt hinüber. Und doch werden Werk und Frucht wahrgenommen, weil die Gründe und Ursachen nicht mangeln. So wie man im klaren Rund eines Spiegels das Abbild des Gesichtes sieht; dabei geht das Gesicht nicht auf das Rund des Spiegels über; und doch wird das Gesicht wahrgenommen, weil die Gründe und Ursachen nicht mangeln. So scheidet niemand aus dieser Welt dahin, noch entsteht er anderswo; und doch werden Werk und Frucht wahrgenommen, weil die Gründe und Ursachen nicht mangeln. So wie die Mondscheibe viertausend Meilen hoch dahinzieht, und doch sieht man das Abbild des Mondes in einem kleinen Gefäß mit Wasser; dabei ist die Mondscheibe nicht von jener Stelle herabgesunken, noch ist sie auf das kleine Gefäß mit Wasser übergegangen; und doch wird die Mondscheibe wahrgenommen, weil die Gründe und Ursachen nicht mangeln. So wie ein Feuer wegen des Mangeins der Gründe und Ursachen nicht brennt, jedoch durch die Gesamtheit der Gründe und Ursachen brennt, ebenso bringt der durch Werke und Laster erzeugte Same des Erkennens, indem er da und dort in den Bereich des Entstehens eingeht, im Mutterschoß den Keim von Name und Form hervor, obwohl die Gegebenheiten ohne Herrn und nicht mein sind, ohne Haften, gleich dem Äther und in ihrem Wesen wie ein Trugbild beschaffen, und zwar weil die Gründe und Ursachen nicht mangeln. So ist die Verknüpfung der Ursachen beim inneren abhängigen Entstehen zu betrachten. Dabei ist das innere abhängige Entstehen auf fünf Arten zu betrachten. Auf welche fünf? Nicht als ewig, nicht als Vernichtung, nicht als Übergang, als Hervorgehen einer großen Wirkung aus einer kleinen Ursache und als Folge von Gleichartigem. Wieso nicht als ewig? Weil die mit dem Sterben endigenden Gruppen (skandhäh) andere sind als die am Entstehen beteiligten Gruppen. Denn die mit dem Sterben endigenden Gruppen sind nicht dieselben, wie die am Entstehen beteiligten Gruppen. Vielmehr vergehen die mit dem Sterben endigenden Gruppen und die am Entstehen beteiligten Gruppen treten in Erscheinung. Daher nicht als ewig. Wieso nicht als Vernichtung? Weil die am Entstehen beteiligten Gruppen weder nach vorheriger Vernichtung der mit dem Sterben endigenden Gruppen in Erscheinung treten, noch ohne deren Vernichtung. Vielmehr vergehen die mit dem Sterben endigenden Gruppen, und zur gleichen Zeit treten die am Entste-
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hen beteiligten Gruppen in Erscheinung, so wie die Balken einer Waage sich zugleich heben und senken. Daher nicht als Vernichtung. Wieso nicht als Übergang? Aus einer unähnlichen Klasse von Wesen gehen nämlich in einer anderen Geburt gleichartige Gruppen hervor. Daher nicht als Übergang. Wieso als Hervorgehen einer großen Wirkung aus einer kleinen Ursache? Weil ein kleines Werk vollbracht und die Reifung einer großen Vergeltung genossen wird. Daher als Hervorgehen einer großen Wirkung aus einer kleinen Ursache. Wieso als Folge von Gleichartigem? Wie das Werk zu empfinden ist, das vollbracht wird, so ist die Reifung zu empfinden, die genossen wird. Daher als Folge von Gleichartigem. So ist das innere abhängige Entstehen auf fünf Arten zu betrachten. Wer auch immer, ehrwürdiger Säriputra, dieses vom Erhabenen richtig verkündete abhängige Entstehen so, der Wirklichkeit entsprechend, mit rechter Einsicht, unablässig als ohne Seele und frei von Seele, wahrheitsgemäß und ohne Irrtum als ungeboren, unentstanden, unbewirkt, ungeschaffen, ohne Hindernis, ohne Hemmnis, freundlich, furchtlos, unentreißbar, unvergänglich und von Natur aus nicht zur Ruhe kommend ansieht, und es als unwahr, hohl, als Trug, ohne Kern, als Krankheit, als Eiterbeule, als Geschwulst, als Übel, als vergänglich, leidvoll, leer und wesenlos betrachtet, der sinnt nicht der Vergangenheit nach: „War ich in der vergangenen Zeit, oder war ich nicht in der vergangenen Zeit? Wer war ich in der vergangenen Zeit? Wie war ich in der vergangenen Zeit?" Er sinnt nicht der Zukunft nach: „Werde ich in der zukünftigen Zeit sein, oder werde ich in der zukünftigen Zeit nicht sein? Wer werde ich in der zukünftigen Zeit sein? Wie werde ich in der zukünftigen Zeit sein?" Und er sinnt nicht der Gegenwart nach: „Was ist dies? Wie ist dies? Wer sind wir? Wer werden wir sein? Woher ist dieses Wesen gekommen? Wohin wird es, wenn es von hier dahinscheidet, gelangen?" Die Ansichten, welche manche Asketen und Brahmanen gesondert in der Welt hegen werden, die mit der Lehre von einem Ich verknüpft sind, mit der Lehre von einem Wesen verknüpft sind, mit der Lehre von einer Seele verknüpft sind, mit der Lehre von einer Persönlichkeit verknüpft sind, mit glückbringenden Zeichen und Sprüchen verknüpft sind, alles Tun und Lassen, das ist von ihm zu dieser Zeit aufgegeben, vollkommen erkannt, von Grund auf beseitigt gleich dem Wipfel einer Palme, seinem Wesen nach nicht mehr erscheinend und in Zukunft nicht mehr dem Entstehen und Vergehen unterworfen. Es folgen noch einige abschließende Sätze. Gleichzeitig schließen wir hiermit die Reihe der Texte, welche der Erläuterung des Lehrsatzes vom abhängigen Entstehen dienen soll. Denn wir sind damit bereits weit über die Lehre des Buddha selbst hinausgegangen und mitten in die Zeit der späteren Systeme geraten. Es ist daher Zeit abzubrechen und zur Darstellung dieser Systeme überzugehen.
Β. DIE DOGMATIK DES HÏNAYÂNA
Bei der Darstellung der Lehre des Buddha haben wir gesehen, daß der Buddha selbst sich rein philosophischen Fragen gegenüber ablehnend verhielt. Er beschäftigte sich mit theoretischen Fragen nur, soweit es nötig war, um seine Erlösungslehre zu begründen und zu untermauern. Was darüber hinausging, lehnte er als überflüssig und irreführend ab. An dieser Einstellung hielt er Zeit seines Lebens fest und sicher wirkte seine Haltung in diesen Dingen auch nach seinem Tode noch geraume Zeit weiter. Dann aber führte das natürliche Bedürfnis, die überkommene Lehre möglichst gründlich zu durchdringen und weiter auszubauen, dazu, die überlieferten Lehrsätze zu erweitern und umzugestalten. Zunächst scheint sich vor allem eine Art Erlösungsscholastik entwickelt zu haben, welche sich mit dem Erlösungsvorgang eingehender beschäftigte und nach indischer Art die damit zusammenhängenden Begriffe umfassend aufzählte und rubrizierte. Sobald aber einmal die Entwicklung in Fluß gekommen war, ließ man auch die eigentlichen philosophischen Fragen nicht ruhen. Besonders die Fragen, welche der Buddha selbst beiseite geschoben hatte, die Frage nach dem wahren Ich und nach dem Wesen der Erlösung, reizten das Interesse und führten zu ernsten philosophischen Erörterungen. Und schließlich kam man unter mannigfachen Einflüssen der gleichzeitigen philosophischen Systeme dazu, über diese Ansätze hinaus die eigene Lehre zu einem vollständigen System auszubauen. Diese Entwicklung war ungeheuer reich und mannigfaltig. Denn die buddhistische Gemeinde hatte sich inzwischen in zahlreiche Schulen geteilt, die alle in größerem oder geringerem Maße an der Entwicklung teilnahmen. Schon früh hatte sich im Heimatland des Buddhismus, in Magadha, eine Gruppe unter dem Namen der großen Gemeinde (Mahäsämghika) von den übrigen, der sogenannten Gruppe der Ältesten (Sthavira), getrennt. Die Mahäsämghika hatten ihr Zentrum im Osten und breiteten sich allmählich längs der Küste bis weit nach Süden aus, wobei sie sich in mehrere, wohl meist örtliche Schulen spalteten. Ungleich wichtiger war die Schulbildung bei der großen westlichen Gruppe der Sthavira. Am Rande, im äußersten Norden und Süden, bildeten sich Schulen mehr konservativen Gepräges. Eine besondere Stellung nimmt dabei die Schule der Tämraparnlya auf Ceylon ein, nicht zuletzt, weil ihre Literatur in großem Umfang in der Ursprache erhalten ist. Geistig führend waren jedoch die Schulen des Zentrums. Hier saß im westlichen Mittelindien die wichtige Schule der VâtsîputrïyaSämmatlya. Weitaus am bedeutendsten aber war die Schule der Sarvästivädin,
Die philosophischen Hauptlehren des Sarvästivada
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auch oft Vaibhäsika genannt, welche von Mathurä aus sich über den ganzen Nordwesten ausbreitete und besonders in Kasmïr einen starken Rückhalt fand. Und diese Schule war es auch, welche das umfassendste und inhaltlich bedeutendste System schuf. Charakteristisch ist dabei gerade für diese Schule ein nüchterner, realistischer Geist, welcher alles Mystische in den Hintergrund drängt. Das zeigt sich, wie wir noch sehen werden, ζ. B. in der Einschätzung der vom Buddha gelehrten vier Versenkungsstufen, die hier für die Erlösung fast überflüssig geworden sind. Neben dieser Nüchternheit steht aber andererseits eine unglaubliche Kühnheit des Denkens, welche vor den gewagtesten Annahmen nicht zurückscheut, um die aufgeworfenen Fragen befriedigend zu beantworten. Schließlich ist noch die Schule der Sauträntika zu erwähnen, deren Entwicklung und Geschichte allerdings größtenteils noch unklar ist. Der Lehre nach schließt diese Schule an das System der Sarvästivädin an, das sie in fortschrittlichem Sinne weiterbildet. Vor allem sind die Sauträntika die Nominalisten gegenüber dem Realismus der Sarvästivädin und auch des Vaisesika. Es ist nun vollkommen unmöglich, von dieser reichen Entwicklung, welche sich fast über ein Jahrtausend erstreckte, hier auch nur annähernd ein Bild zu geben. Und auf weite Strecken hat auch die Forschung dafür noch nicht die Voraussetzungen geschaffen. Außerdem handelt es sich um ungewöhnlich sprödes Material. Das philosophisch Bedeutsame ist in eine Flut dürrer Scholastik eingebettet, die für weitere Kreise schwerlich Interesse hat. Ich beschränke mich daher im folgenden darauf, das Wesentliche herauszugreifen. Dabei lege ich das System des Sarvästiväda als das bedeutendste zugrunde und gebe nur gelegentlich einen Ausblick auf die Lehren der übrigen Schulen. Ich beginne mit der Besprechung der philosophischen Hauptgedanken. Daran schließe ich eine Darstellung der Grundbegriffe, auf denen sich das System der Schule aufbaut. Den Abschluß bildet eine kurze Schilderung der Erlösungslehre. Der eigenartigste und folgenschwerste Gedanke im System der Sarvästivädin ist die Leugnung einer Seele, eines Ich. Den Anstoß dazu hat letzten Endes der Buddha selbst gegeben. Gerade die Lehre von der Seele war ein Punkt, über den er beharrlich schwieg. Außerdem bildete es einen Hauptgegenstand seiner Predigt, zu zeigen, daß die irdische Persönlichkeit nicht das Ich ist. Er wird nicht müde, immer wieder zu betonen, daß keine der fünf Gruppen (skandhäh), aus denen sich die irdische Persönlichkeit zusammensetzt, für das Ich gehalten werden darf. Ihm selbst lag es zwar fern, damit das Vorhandensein einer Seele überhaupt zu leugnen. Als man aber nach seinem Tode nicht mehr dem Meister selbst, sondern nur den von ihm überlieferten Worten gegenüberstand, begann die einseitige negative Formulierung seiner Aussagen sich auszuwirken, und man kam schließlich dazu, eine Leugnung der Seele aus ihnen herauszulesen. Dabei handelte es sich aber nicht um ein einfaches Mißverstehen der Worte des Meisters. Diese Entwicklung hatte vielmehr einen tieferen Grund. Das Grundphänomen, von dem die Verkündigung des Buddha ausgeht, ist die Tatsache des Leidens. Alles Irdische ist leidvoll und daher gilt es, den Ausweg aus diesem Leiden, die Erlösung zu suchen. Aber hier mischt sich ein ganz eigener Zug ein, der aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Buddha selbst zurückgeht.
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Die Dogmatik des Hinayäna
Das Irdische ist leidvoll, weil es vergänglich ist. Und die Vergänglichkeit ist es vor allem, aus der der Buddha die Tatsache des Leidens ableitet. Bezeichnend ist besonders, wie er es begründet, daß die fünf Gruppen (skandhäh) nicht das Ich sind. Er fragt: „Was meint ihr, Mönche, ist die Form ewig oder vergänglich?" „Vergänglich, o Herr." „Was aber vergänglich ist, ist das Leid oder Lust?" „Leid, o Herr." „Was also vergänglich, leidvoll und der Veränderung unterworfen ist, kann man von dem die Ansicht hegen: ,Das ist mein, das bin ich, das ist mein Ich' ?" „Nein, o Herr." Und die gleichen Fragen und Antworten werden hinsichtlich der übrigen vier Gruppen gestellt und gegeben. Die Erkenntnis der Vergänglichkeit alles Irdischen ist also die grundlegende Anschauung, von der der Buddha ausgeht, und die letzten Endes den Anstoß zur Verkündigung seiner Lehre gegeben hat. Diese Erkenntnis der Vergänglichkeit, die ursprünglich einem Gefühl und einer unmittelbaren Anschauung entsprang, ist nun, wie es der Verlauf der Entwicklung mit sich zu bringen pflegt, allmählich zu einer systematischen, streng formulierten Lehre ausgestaltet worden. Auf die Einzelheiten dieser Lehre werden wir später noch zurückkommen müssen. Das Wesentliche ist, daß kein Ding ewigen Bestand hat, sondern früher oder später vergeht, während ein anderes an seine Stelle tritt. Ja, die extremen Schulen der Sarvästivädin und Sauträntika gehen so weit, zu behaupten, daß alles nur einen Augenblick besteht und dann sofort wieder vergeht, so daß alle Dinge, welche länger zu bestehen scheinen, in Wirklichkeit nur eine Reihenfolge solcher Augenblicke sind, die wie im Film aufeinanderfolgen und durch ihre Ähnlichkeit den Schein hervorrufen, daß es sich um dasselbe Ding handelt. Dabei ist entscheidend, daß es sich um ein wirkliches Entstehen und Vergehen handelt, nicht um eine bloße Veränderung. Der Sarvästiväda kennt keine Dauer im Wechsel. Es gibt keinen dauernden Träger, an dem sich alle Veränderungen vollziehen, sondern es gibt nur einen ständigen Wechsel vergänglicher Erscheinungen. Schon der Buddha hatte scharf betont, daß es beim psychischen Geschehen keinen ruhenden Mittelpunkt gibt, sondern nur ständig wechselnde Vorgänge. Diese Anschauung wird nun systematisch allgemein durchgeführt. Nach den buddhistischen Systemen der Blütezeit gibt es keine Substanz, sondern nur selbständige, vergängliche Eigenschaften. Alle Dinge, welche uns die Erfahrung zeigt, haben keinen festen Kern, sondern sind nur eine lose Zusammenballung solcher veränderlicher Erscheinungen. Somit ergeben sich nach der klassischen Dogmatik des Hinayäna für alle Dinge der Erscheinungswelt zwei wesentliche Bestimmungen, ihre Vergänglichkeit und damit eng verbunden, das Fehlen eines festen Kerns, einer Substanz. Das gilt ganz allgemein, besonders aber auch für alle jene Faktoren, aus denen als letzten Ursachen sich die Erscheinungswelt aufbaut. Wie alle philosophischen Systeme der klassischen Zeit hatte nämlich auch die Dogmatik des Hinayäna, als sie die alte Lehre zum System ausgestaltete, alle diese letzten Bestandteile der Erscheinungswelt zusammengefaßt, gruppenweise geordnet und ihre Liste an die Spitze des Systems gestellt. Und zwar nannte man alle diese Faktoren mit dem allgemeinen Ausdruck, der von alters her im Buddhismus alle Gegenstände des Erkennens bezeichnete, dharmäh, was gewöhnlich
Die philosophischen Hauptlehren des Sarvästiväda
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mit „Gegebenheiten" oder „Daseinselemente" übersetzt wird. Nach dem bisher Gesagten bildet nun die Vergänglichkeit dieser Gegebenheiten und, daß sie leere Erscheinungen ohne festen Kern sind, eines ihrer wesentlichen Merkmale. Und in dieser Auffassung aller Gegebenheiten besteht die sogenannte Dharma-Lehre, in der wir zwar nicht den Mittelpunkt, wohl aber einen der charakteristischen Züge der klassischen Dogmatik des Hînayâna-Buddhismus sehen dürfen. In diesem großen Rahmen steht nun die Lehre der Sarvästivädin, daß es keine Seele, kein Ich gibt. Hier ist somit die Lehre des Buddha, daß die Gruppen (skandhäh) der irdischen Persönlichkeit nicht das Ich sind, aufs strengste durchgeführt. Sie ist im Rahmen allgemeiner Anschauungen philosophisch begründet. Und da der nüchterne Realismus der Schule das überirdische Sein, über das der Buddha und seine ersten Jünger ein ehrfürchtiges Schweigen gebreitet hatten, nicht kennt, ist daraus zuletzt die konsequente Leugnung jeder Seele geworden. Das älteste Werk, das die Seelenleugnung ausführlich und in voller Klarheit ausspricht, sind die sogenannten Fragen des Menandros (Milindapafthä). Den Inhalt dieses Werkes bildet ein Gespräch zwischen dem griechischen König Menandros, der gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. u. Z. von Säkala, dem heutigen Siälköt im Pafijäb aus vorübergehend ein mächtiges Reich schuf, und einem buddhistischen Mönch namens Nägasena. Das Werk stammt offenkundig aus der Zeit, wo das Andenken an Menandros noch lebendig war, also vermutlich aus dem 1. Jahrhundert v. u. Z. Es war in einem nordwestindischen Dialekt geschrieben, wie ursprünglich auch die Schriften des Kanons der Sarvästivädin. Erhalten sind aber nur Übersetzungen ins Pâli, die Kirchensprache der ceylonesischen Schule, und ins Chinesische. Mit seiner lebendigen Rahmenerzählung und der geschickten und interessanten Behandlung der aufgeworfenen Fragen gehört das Werk zu den besten Schöpfungen der alten buddhistischen Literatur. Die Erzählung beginnt nach einer vielleicht später angefügten Vorgeschichte mit einer Schilderung der Stadt Säkala und geht dann auf den König Menandros (Milinda) über. Menandros ist in philosophischen Fragen sehr erfahren, und geschickt und gewandt in Disputationen. Eines Tages, als er sein Heer gemustert hat und sieht, daß der Tag noch nicht weit vorgeschritten ist, äußert er den Wunsch, sich mit irgendeinem Mönch oder Asketen über philosophische Fragen zu unterreden. Seine Minister bringen ihn zu einem buddhistischen Mönch namens Yuvala (Äyupäla). Aber Yuvala weiß auf die Fragen des Königs nichts zu antworten und Menandros bricht enttäuscht in die Worte aus: „Nichtig fürwahr ist Indien! Leeres Geschwätz fürwahr ist Indien! Es gibt keinen Asketen oder Brahmanen, der imstande wäre, sich mit mir zu unterreden und meine Zweifel zu beseitigen." Da macht der Minister Demetrios (Devamantiya) den König darauf aufmerksam, daß vor kurzem ein angesehener buddhistischer Lehrer namens Nägasena in Säkala eingetroffen sei, und Menandros begibt sich zu ihm. Und Nägasena weiß den Fragen des Königs zu begegnen und macht sofort tiefen Eindruck auf ihn.
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Aus den „Fragen des Menandros" (Milindapaühä) II, 1,1; § 3 6 Darauf begab sich der König Menandros dorthin, wo sich der ehrwürdige Nägasena befand. Nachdem er sich dorthin begeben hatte, begrüßte er sich mit dem ehrwürdigen Nägasena. Und nachdem er begrüßende, freundliche Worte gewechselt hatte, setzte er sich zur Seite nieder und auch der ehrwürdige Nägasena erwiderte den Gruß in einer Weise, daß er den Sinn des Königs Menandros freundlich stimmte. Darauf sprach der König Menandros zum ehrwürdigen Nägasena folgendes: „Unter welchem Namen sind Euer Ehrwürden bekannt? Welchen Namen trägt der Herr?" „Ich bin unter dem Namen Nägasena bekannt, o Großkönig; als Nägasena, o Großkönig, reden mich meine Mitbrüder an. Aber, wenn auch Vater und Mutter Namen geben wie Nägasena, Sürasena, Vîrasena oder Simhasena, so ist doch, o Großkönig, wenn man von Nägasena spricht, dies nur ein Ausdruck, eine Benennung, eine Bezeichnung, eine Redeweise, ein bloßer Name. Denn eine Persönlichkeit ist hier nicht wahrzunehmen." Darauf sprach der König Menandros folgendermaßen: „Hört mich, ihr fünfhundert Griechen und ihr achtzigtausend Mönche! Dieser Nägasena hier spricht folgendermaßen: ,Eine Persönlichkeit ist hier nicht wahrzunehmen.' Ist es recht, das gut zu heißen?" Darauf sprach der König Menandros zum ehrwürdigen Nägasena folgendes: „Wenn, o Nägasena, eine Persönlichkeit nicht wahrzunehmen ist, wer gibt euch dann die nötige Ausrüstung, Mönchsgewand, Almosenspeise, Sitz und Bett und Heilmittel zur Pflege der Kranken? Wer benützt sie? Wer hält die sittlichen Gebote? Wer übt die Betrachtung? Wer verwirklicht den Weg, die Frucht und das Erlöschen (nirvänam)? Wer tötet? Wer stiehlt? Wer treibt Unkeuschheit? Wer lügt? Wer trinkt berauschende Getränke? Wer begeht die fünf Sünden, die unmittelbar die Vergeltung nach sich ziehen? Es gibt also kein Gutes, es gibt kein Böses, es gibt keinen Täter oder Veranlasser der guten und bösen Werke, es gibt keine Frucht oder Reifung der guten und bösen Werke und wenn dich, o Nägasena, jemand tötet, so begeht er damit keinen Mord. Es gibt bei euch, o Nägasena, keinen Meister, keinen Lehrer und keine Aufnahme in den Mönchsorden. Und wenn du sagst: , Als Nägasena, o Großkönig, reden mich meine Mitbrüder an,' wer ist in diesem Fall Nägasena? ... Du sprichst also falsch, eine Lüge, wenn du sagst: ,Es gibt keinen Nägasena.' " Darauf sprach der ehrwürdige Nägasena zum König Menandros folgendes: „Du bist, o Großkönig, an fürstlichen Luxus gewöhnt, an überaus großen Luxus gewöhnt. Wenn du daher, o Großkönig, zur Mittagszeit auf dem erhitzten Boden, auf dem heißen Sand einhergehst, indem du auf den rauhen Schotter, Kies und Sand trittst, schmerzen dich die Füße, dein Körper ermüdet, dein Geist wird verdrossen und es regt sich eine von Schmerz begleitete körperliche Empfindung.
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Bist du also zu Fuß gekommen oder mit einem Fahrzeug?" „Ich gehe nicht zu Fuß, Herr; ich bin in einem Wagen gekommen." „Wenn du also, o Großkönig, in einem Wagen gekommen bist, dann erkläre mir den Wagen. Ist, o Großkönig, die Deichsel der Wagen?" „Nein, Herr." „Ist die Achse der Wagen?" „Nein, Herr." „Sind die Räder der Wagen?" „Nein, Herr." „Ist der Wagenkasten der Wagen?" „Nein, Herr." „Ist die Fahnenstange der Wagen?" „Nein, Herr." „Ist das Joch der Wagen?" „Nein, Herr." „Sind die Zügel der Wagen?" „Nein, Herr." „Ist der Treibstock der Wagen?" „Nein, Herr." „Sind also, o Großkönig, Deichsel, Achse, Räder, Wagenkasten, Fahnenstange, Joch, Zügel und Treibstock der Wagen?" „Nein, Herr." „Es ist also, o Großkönig, der Wagen außerhalb von Deichsel, Achse, Rädern, Wagenkasten, Fahnenstange, Joch, Zügeln und Treibstock?" „Nein, Herr." „Wie ich dich also, o Großkönig, auch frage und frage, ich sehe keinen Wagen. Was ist also hier der Wagen? Du sprichst also falsch, o Großkönig, eine Lüge. Du bist doch, o Großkönig, der erste König in ganz Indien, vor wem fürchtest du dich, daß du eine Lüge sagst? Hört mich denn, ihr fünfhundert Griechen und ihr achtzigtausend Mönche! Dieser König Menandros hier spricht folgendermaßen: ,Ich bin in einem Wagen gekommen.' Und auf meine Aufforderung: ,Wenn du, o Großkönig, in einem Wagen gekommen bist, dann erkläre mir den Wagen,' bringt er keinen Wagen zustande. Ist es wohl recht, das gut zu heißen?" Auf diese Worte riefen die fünfhundert Griechen dem ehrwürdigen Nägasena Beifall und sprachen zum König Menandros folgendes: „Nun rede, o Großkönig, wenn du kannst!" Darauf sprach der König Menandros zum ehrwürdigen Nägasena folgendes: „Ich spreche keine Lüge, o Nägasena. Gestützt auf Deichsel, Achse, Räder, Wagenkasten und Fahnenstange wird der Ausdruck, die Benennung, die Bezeichnung, die Redeweise, der Name ,Wagen' gebraucht." „Trefflich, o Großkönig, verstehst du den Wagen. Ebenso, o Großkönig, wird nun auch bei mir gestützt auf Haupthaar, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, Mark, Nieren, Herz, Leber, Brustfell, Milz, Lungen, Eingeweide, Gedärme, Magen, Kot, Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiß, Fett, Tränen, Lymphe, Speichel, Nasenschleim, Gelenköl, Harn, das Gehirn im Kopf, auf Körperlichkeit, Empfindung, Bewußtsein, Gestaltungen {samskäräh) und Erkennen der Ausdruck, die Benennung, die Bezeichnung, die Redeweise, der bloße Name ,Nägasena' gebraucht. In Wirklichkeit aber ist hier eine Persönlichkeit nicht wahrzunehmen. Dies hat auch, o Großkönig, die Nonne Vajrä in Gegenwart des Erhabenen ausgesprochen mit den Worten: ,So wie man, wenn die Bestandteile (eines Wagens) zusammengefugt sind, das Wort Wagen verwendet, so spricht man im gewöhnlichen Leben, wenn die Gruppen (skandhäh) vorhanden sind, von einem Wesen." „Wunderbar ist es, o Nägasena! Erstaunlich ist es, o Nägasena! Glänzende Antworten hast Du auf meine Fragen gegeben. Wenn der Buddha hier wäre, würde er dir Beifall spenden. Trefflich, trefflich, Nägasena. Glänzende Antworten hast du auf meine Fragen gegeben." Darauf fragt der König Nägasena, ob er zu einer ausführlichen Unterredung bereit wäre, und als Nägasena zustimmt, lädt er ihn zu sich in seinen Palast
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ein. Nägasena kommt und es entwickelt sich ein langes Gespräch, in dessen Verlauf die verschiedensten Punkte der buddhistischen Lehre zur Sprache kommen, darunter auch wieder die Frage der Seelenleugnung. Diese Lehre zeigt hier bereits ihre vollentwickelte Gestalt. Es gibt keine ewige Seele. Was als irdische Persönlichkeit erscheint, das ist nur Name und Form, d. h. die fünf Gruppen (,skandhäh), welche beständig vergehen und neu entstehen. Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, vor allem, wieso man die ständig wechselnden Gruppen für die gleiche Persönlichkeit ansehen kann und wie unter diesen Umständen die Verantwortlichkeit für gute und böse Werke und ihre Vergeltung möglich ist. Nägasena beantwortet diese Fragen durch eine Anzahl geistvoller Gleichnisse. Schließlich wird der Strom der ständig wechselnden Gruppen auch mit dem Lehrsatz vom Abhängigen Entstehen in Verbindung gebracht, der das Gesetz ist, welches diesen ewigen Wechsel beherrscht. II, 2, 1; § 55 Der König sprach: „Nägasena, ist der, welcher (wieder) geboren wird, derselbe oder ein anderer?" Der Älteste sprach: „Es ist weder derselbe noch ein anderer." „Gib ein Beispiel." „Was meinst du, o Großkönig, bist du jetzt, wo du groß bist, derselbe wie damals, als du ein kleiner zarter Knabe warst, töricht und auf dem Rücken liegend?" „Nein, Herr, ein anderer war der kleine zarte Knabe, töricht und auf dem Rücken liegend, und ein anderer bin ich jetzt, wo ich erwachsen bin." „Wenn das so ist, o Großkönig, dann gibt es keine Mutter, keinen Vater, keinen Lehrer, keinen Handwerkskundigen, keinen Tugendhaften und keinen Weisen. Oder ist nicht die Mutter des Flöckchens1 eine andere als die Mutter des Bläschens1, diese eine andere als die Mutter des Kügelchens1, diese eine andere als die Mutter des Klümpchens1, diese eine andere als die Mutter des kleinen Kindes und diese eine andere als die Mutter des Erwachsenen? Ist nicht der, welcher ein Handwerk lernt, ein anderer als der, welcher es erlernt hat? Und ist nicht der, welcher eine Übeltat vollbringt, ein anderer als der, dem Hand und Fuß abgehauen werden?" „Nein, Herr. Aber was würdest du sagen, o Herr, wenn man dich so fragt?" Der Älteste sprach: „Ich, o Großkönig, war der kleine, zarte Knabe, töricht und auf dem Rücken liegend, und ich bin jetzt der Erwachsene. Auf diesen selben Körper gestützt sind alle diese (Entwicklungsstufen) zur Einheit zusammengefaßt." „Gib ein Beispiel." „Wenn ζ. Β., o Großkönig, irgendein Mann ein Licht anzünden würde, würde dieses die ganze Nacht brennen?" „Gewiß, Herr, es würde die ganze Nacht brennen." „Ist nun, o Großkönig, die Flamme während der ersten Nachtwache dieselbe wie während der mittleren Nachtwache?" „Nein, Herr." „Und ist die Flamme während der mittleren Nachtwache dieselbe wie während der letzten Nachtwache?" „Nein, Herr." „War also, o Großkönig, das Licht während der ersten Nachtwache ein anderes als während der mittleren Nachtwache und dieses ein anderes als während der letzten Nachtwache?" „Nein, Herr; denn es hat Verschiedene Entwicklungsstufen des Embryo.
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auf dasselbe gestützt die ganze Nacht gebrannt." „Ebenso, o Großkönig, setzt sich der Strom der Gegebenheiten fort. Ein anderer ist es, der entsteht als der, welcher vergeht. Ohne Früher oder Später gleichsam setzt er sich fort. Daher ist er weder derselbe noch ein anderer, der zur letzten Zusammenfassung des Erkennens gelangt." „Gib noch ein Beispiel." „Wenn sich ζ. Β., o Großkönig, frisch gemolkene Milch im Lauf der Zeit in Setzmilch verwandeln würde, aus Setzmilch in frische Butter und aus frischer Butter in Schmelzbutter, wenn nun, o Großkönig, jemand so sprechen würde: ,Die frische Milch ist dasselbe wie die Setzmilch, dasselbe wie die frische Butter und dasselbe wie die Schmelzbutter,' würde der, o Großkönig, wenn er so spricht, richtig sprechen?" „Nein, Herr. Auf dasselbe gestützt ist sie dazu geworden." „Ebenso, o Großkönig, setzt sich der Strom der Gegebenheiten fort. Ein anderer ist es, der entsteht, als der, welcher vergeht. Ohne Früher oder Später gleichsam setzt er sich fort. Daher ist er weder derselbe noch ein anderer, der zur letzten Zusammenfassung des Erkennens gelangt." „Du hast recht, Nägasena" ...
II, 2, 6; § 60 Der König sprach: „Nägasena, wer wird wiedergeboren?" Der Älteste sprach: „Name und Form, o Großkönig, wird wiedergeboren." „Ist es derselbe Name und dieselbe Form, die wiedergeboren werden?" „Nein, o Großkönig, es ist nicht derselbe Name und dieselbe Form, die wiedergeboren werden. Doch vollbringt man, o Großkönig, mit diesem Namen und dieser Form gute oder böse Werke und durch diese Werke wird ein anderer Name und eine andere Form wiedergeboren." „Wenn es, o Herr, nicht derselbe Name und dieselbe Form sind, welche wiedergeboren werden, ist man dann nicht von den bösen Werken befreit?" Der Älteste sprach: „Wenn man nicht wiedergeboren würde, dann wäre man von den bösen Werken befreit. Da man aber, o Großkönig, wiedergeboren wird, darum ist man von den bösen Werken nicht befreit." „Gib ein Beispiel." „Wenn ζ. Β., o Großkönig, irgendein Mann einem andern Mann Mangofrüchte stehlen würde, und der Eigentümer der Mangofrüchte würde ihn ergreifen und dem König vorführen: ,Majestät, dieser Mann hat mir Mangofrüchte gestohlen,' und er würde folgendermaßen sprechen: ,Majestät, ich habe die Mangofrüchte dieses Mannes nicht gestohlen; denn die Mangofrüchte, die er gepflanzt hat, sind andere als die Mangofrüchte, die ich genommen habe; ich verdiene also keine Strafe,' würde dieser Mann, o Großkönig, wohl Strafe verdienen?" „Gewiß, Herr, er würde Strafe verdienen." „Aus welchem Grund?" „Mag er auch so sprechen, der Mann würde, o Herr, unbeschadet der ersten Mangofrucht, wegen der letzten Mangofrucht Strafe verdienen." „Ebenso, o Großkönig, vollbringt man mit diesem Namen und dieser Form gute oder böse Werke, und durch diese Werke wird ein anderer Name und eine andere Form wiedergeboren. Und darum ist man von den bösen Werken nicht befreit." ... „Gib noch ein Beispiel." „Wenn z. B., o Großkönig, irgendein Mann mit einem Licht zur Dachkammer hinaufsteigen und dort essen würde, und das brennende Licht würde das Stroh in Brand set-
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zen, das brennende Stroh würde das Haus in Brand setzen, und das brennende Haus würde das Dorf in Brand setzen, und die Dorfleute würden diesen Mann ergreifen und folgendermaßen sprechen: , Warum steckst du, Mensch, das Dorf in Brand?' und er würde folgendermaßen sprechen: ,Ich habe das Dorf nicht in Brand gesteckt. Das Feuer des Lichtes, bei dessen Schein ich gegessen habe, war ein anderes als das Feuer, von dem das Dorf in Brand gesteckt wurde,' und die streitenden Parteien würden zu dir kommen, wem, o Großkönig würdest du Recht geben?" „Den Dorfleuten, Herr." „Warum?" „Mag jener auch so sprechen, so ist doch dieses Feuer aus jenem hervorgegangen." „Ebenso, o Großkönig, mögen zwar Name und Form, welche beim Tod ihr Ende finden, andere sein als Name und Form bei der Geburt, doch sind diese aus jenen hervorgegangen. Und darum ist man von den bösen Werken nicht befreit." ... „Du hast recht, Nägasena." ...
II, 2, 8; § 6 2
Der König sprach: „Nägasena, du hast von Name und Form gesprochen. Was ist dabei der Name und was ist die Form?" „Das Grobstoffliche, o Großkönig, ist dabei die Form, das Feine, Geist und geistige Gegebenheiten, ist dabei der Name." „Aus welchem Grund, Nägasena, wird nicht der Name oder die Form allein wiedergeboren?" „Diese Gegebenheiten, o Großkönig, sind aufeinander gestützt, daher entstehen sie nur als Einheit." „Gib ein Beispiel." „Wenn z. B., o Großkönig, aus einer Henne nicht das Eidotter entstehen würde, dann würde auch die Eischale nicht entstehen, denn Eidotter und Eischale sind beide aufeinander gestützt und daher findet ihr Entstehen nur als Einheit statt. Ebenso, o Großkönig, würde, wenn der Name nicht entsteht, auch die Form nicht entstehen, denn Name und Form sind beide aufeinander gestützt und daher findet ihr Entstehen nur als Einheit statt. So ist dies seit langer Zeit zustande gebracht." „Du hast recht, Nägasena." II, 2, 9; § 6 3
Der König sprach: „Nägasena, du hast von langer Zeit gesprochen. Was ist es, was man Zeit nennt?" „Die vergangene Zeit, o Großkönig, die zukünftige Zeit und die gegenwärtige Zeit." ... II, 3 , 1 ; § 6 4
Der König sprach: „Nägasena, was ist die Wurzel der vergangenen Zeit, was ist die Wurzel der zukünftigen Zeit und was ist die Wurzel der gegenwärtigen Zeit?" „Die Wurzel der vergangenen Zeit, o Großkönig, der zukünftigen Zeit und der gegenwärtigen Zeit ist das Nichtwissen, abhängig vom Nichtwissen entstehen die Willensregungen, abhängig von den Willensregungen das Erkennen, abhängig vom Erkennen Name und Form, abhängig von Name und Form der sechsfache Bereich, abhängig vom sechsfachen Bereich die Berührung, abhängig von
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der Berührung die Empfindung, abhängig von der Empfindung der Durst, abhängig vom Durst das Ergreifen, abhängig vom Ergreifen das Werden, abhängig vom Werden die Geburt, abhängig von der Geburt Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Betrübnis und Verzweiflung. So ist ein früherer Endpunkt dieser ganzen Zeit nicht wahrzunehmen." „Du hast recht, Nägasena." II, 3, 2; § 65 Der König sprach: „Nägasena, du hast gesagt: ,Ein früherer Endpunkt ist nicht wahrzunehmen.' Gib dafür ein Beispiel." „Wenn ζ. Β., o Großkönig, ein Mann einen kleinen Samen in die Erde streut, und es kommt daraus ein Keim hervor, gelangt der Reihe nach zu Wachstum, Gedeihen und Größe und trägt Frucht, und er nimmt darauf wieder den Samen und sät ihn, und es kommt daraus ein Keim hervor, gelangt der Reihe nach zu Wachstum, Gedeihen und Größe und trägt Frucht, gibt es da ein Ende dieser Reihe?" „Nein, Herr." „Ebenso, o Großkönig, ist auch bei der Zeit ein früherer Endpunkt nicht wahrzunehmen." „Gib noch ein Beispiel." „Wenn ζ. Β, o Großkönig, aus der Henne das Ei, aus dem Ei die Henne und wieder aus der Henne das Ei entsteht, gibt es da ein Ende dieser Reihe?" „Nein, Herr." „Ebenso, o Großkönig, ist auch bei der Zeit ein früherer Endpunkt nicht wahrzunehmen." Wir kommen nunmehr zur Darstellung der Form, welche die Lehre vom Nichtvorhandensein einer Seele im vollentwickelten System der Sarvästivädin erhalten hat. Wir übergehen dabei die älteren Vertreter der Schule und wenden uns sofort dem Manne zu, der dem System die endgültige und abschließende Form gegeben hat. Es ist dies Vasubandhu, den ich zum Unterschied von dem Mahäyänalehrer Vasubandhu, dem Bruder Asañgas, Vasubandhu den Jüngeren nenne.
Vasubandhu der Jüngere (um 4 0 0 - 4 8 0 n. u. Z.) Vasubandhu der Jüngere wurde um das Jahr 400 n. u. Z. geboren. Über seine Herkunft sind wir nicht unterrichtet. Sein Lehrer war ein gewisser ziemlich unbedeutender Buddhamitra. Vasubandhu selbst errang früh großes Ansehen. Er erfreute sich der Gunst der Gupta-Herrscher Skandagupta Vikramäditya (um 455-467) und Narasimhagupta Bäläditya (um 467-473), welche ihn an ihren Hof nach Ayodhyä beriefen, und starb schließlich hochbetagt in Ayodhyä im Alter von achtzig Jahren. Vasubandhu wurde zuerst durch die erfolgreiche Bekämpfung Vindhyaväsins bekannt, des berühmtesten Sämkhya-Lehrers seiner Zeit. Seine größte Leistung ist aber die Abfassung des Abhidharmakosah („Schatzkammer der Dogmatik"), in dem er der Dogmatik des Sarvästiväda die endgültige Form gab. In diesem Werk ist das gesamte System der Schule mit unübertrefflicher Genauigkeit und
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Übersichtlichkeit in knapp sechshundert Strophen zusammengefaßt. Trotzdem jedoch Vasubandhu der Schule der Sarvästivädin die klassische Darstellung ihrer Dogmatik gab, ist er selbst kein strenger Anhänger der Schule. Er neigt vielmehr stark zur Richtung der Sauträntika, was in seinem eigenen Kommentar zum Abhidharmakosah deutlich zum Ausdruck kommt. Vasubandhu ist der große Systematiker des Buddhismus. Über seine Bedeutung als Philosoph läßt sich vorläufig schwer urteilen, da die Umgebung, in der er steht, noch zu wenig bekannt ist. Eines darf man außerdem nicht vergessen, wenn man ihn richtig beurteilen will; er gehört der Spätzeit der Schule an. Die Grundlagen der Lehre, die er darstellt, sind altertümlich. Die Ausgestaltung, die er ihr gibt, ist dagegen jung, und zwar jünger als die großen Meister des Mahäyäna Nägärjuna und Asariga. Wer das aus den Augen läßt, wird leicht zu schiefen Urteilen kommen. Der folgende Abschnitt, der vom Nichtvorhandensein der Seele handelt, stammt aus dem dritten Buch des Abhidharmakosah. In diesem wird der Weltbau und das Schicksal der Wesen im Wesenskreislauf dargestellt. Dabei wird die Frage aufgeworfen, was es ist, was im Wesenskreislauf wandert. Die Antwort lautet: Keine Seele, sondern bloß die fünf Gruppen (skandhäh). Wie diese Gruppen in ununterbrochenem Strom bis zur Erlösung von einem Dasein ins andere übergehen, ist im Lehrsatz vom abhängigen Entstehen niedergelegt, der im Anschluß daran ausführlich besprochen und erklärt wird. Im einzelnen ist der wiedergegebene Abschnitt nach dem bisher Gesagten verständlich und bedarf keiner weiteren Erläuterungen.
Es gibt keine Seele {Abhidharmakosah III, v. 18-24) Dazu sagen die Nichtbuddhisten, welche an ein Selbst (ätmä) glauben: „Wenn ihr ein Wesen (sattvam) gelten laßt, das in die andere Welt wandert, dann ist das Selbst, welches wir annehmen, erwiesen." Um das zurückzuweisen, sagt der Verfasser:
v. 18 Es gibt kein Selbst. Wie ist das Selbst, welches ihr annehmt, beschaffen? Eine im Innern wirkende Person, welche diese Gruppen ablegt und andere Gruppen annimmt, gibt es nämlich sicher nicht, weil sie nicht wie Form, Auge usw. wahrgenommen werden kann. Außerdem hat der Erhabene gesagt: „Es gibt die Werke und es gibt ihre Reifung, aber ein Täter ist nicht wahrzunehmen, der diese Gruppen ablegt und andere Gruppen annimmt, außer dem Gesetz der Gegebenheiten (dharmasamketah). Dieses Gesetz der Gegebenheiten aber lautet: Wenn dieses ist, wird jenes; infolge
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der Entstehung von diesem, entsteht jenes (es folgt die vollständige Ursachenkette)." (Gegner:) Welcher Art ist das Selbst, das ihr nicht ablehnt? (Antwort:) Die bloßen Gruppen ... Wenn man mit dem Namen Selbst die bloßen Gruppen bezeichnet, so lehnen wir das nicht ab. (Gegner:) Soll man annehmen, daß die Gruppen aus dieser Welt in die andere Welt wandern? (Antwort:) Die Gruppen vergehen jeden Augenblick. Sie sind daher nicht imstande, sich fortzubewegen. (Jedoch) ... gehen (sie), durch die Werke und Laster beeinflußt, durch den Strom des Zwischendaseins (antaräbhavasamtatih) in den Mutterschoß ein; wie ein Licht.1 Wie bei einem Licht, obwohl es jeden Augenblick vergeht, der Strom (der Augenblicke) imstande ist, sich an einen andern Ort zu begeben, ebenso verhält es sich mit den Gruppen. Daher ist es kein Fehler, wenn man von Wandern spricht. Es ist also erwiesen, daß, obwohl es kein Selbst gibt, der Strom der Gruppen unter dem Einfluß der Laster und Werke in den Mutterschoß eingeht. v. 19 Dem Anstoß entsprechend wächst der Strom (der Gruppen) der Reihe nach und geht unter dem Einfluß der Laster und Werke wieder in die andere Welt (d. h. in das nächste Dasein) ein. Die (durch die Werke) veranlaßten Ströme von Gruppen sind nicht alle der langen oder kurzen Dauer nach gleich, weil die Werke, welche die Lebensdauer veranlassen, verschieden sind. Entsprechend der großen oder geringen Kraft der veranlassenden Werke wachsen sie dann in der Folgezeit der Reihe nach heran. Was heißt der Reihe nach? So wie es in der heiligen Schrift heißt: „Zuerst entsteht das Flöckchen, dann das Bläschen, aus diesem entwickelt sich das Kügelchen und aus dem Kügelchen das Klümpchen. Dann entwickeln sich die Gliedmaßen und darauf nacheinander Haupt- und Körperhaare, Nägel, die materiellen Sinnesorgane und ihre Träger." Im Mutterleib gibt es nämlich fünf verschiedene Entwicklungsstufen, erstens das Flöckchen, zweitens das Bläschen, drittens das Kügelchen, viertens das Klümpchen, fünftens den Körper mit den Gliedmaßen. Dann wächst der Embryo im Mutterschoß allmählich heran bis zu der Entwicklungsstufe, auf der die materiellen Sinnesorgane und ihre Träger vollständig entwickelt sind. Nun dreht sich der Embryo im Mutterleib durch den Druck der Winde, welche durch die Reifung der Werke entstehen, und gelangt zum Tor der Geburt.2 Manchmal stirbt er entweder durch ungeeignete Nahrungsweise seiner Mutter oder durch seine eigenen früheren bösen Werke im Mutterleib. Dann fuhren erfahrene Frauen ihre mit kleinen scharfen Messern versehenen Hände in den Mutterleib ein, schneiden Glied für Glied ab und ziehen sie heraus. Oder die
Die Schule der Sarvästivadin nimmt zwischen zwei Geburten ein Zwischendasein an. 2
Die folgenden Sätze, in denen nach buddhistischer Art die Unreinheit des Mutterschoßes und die Qual der Geburt in grellen Farben geschildert wird, sind gekürzt.
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Geburt ist ohne Schwierigkeit. Dann nehmen ihn die Mutter und andere Frauen, waschen und trocknen ihn. Sie geben ihm Butter in den Mund, tränken ihn mit Muttermilch, und allmählich gewöhnt er sich, feine und grobe, flüssige und feste Nahrung zu sich zu nehmen. Dann wächst er heran bis zum Zustand der Reife seiner Sinne. Wieder entstehen die Laster und häufen sich die Werke. Darauf verfällt der Körper. Wieder entsteht wie früher der Strom (der Gruppen) des Zwischendaseins und neuerlich geht er in die andere Welt ein. Auf diese Weise sind die Laster und Werke die Ursache der Geburt. Die Geburt ist wieder die Ursache des Zustandekommens der Laster und Werke. Und aus diesen Lastern und Werken entsteht neuerlich die Geburt. Daher ist der Kreis des Werdens ohne Anfang. Wenn man annimmt, daß es einen Anfang gibt, dann muß der Anfang ohne Ursache sein. Wenn aber der Anfang ohne Ursache ist, dann muß auch alles andere von selbst entstehen. Nun sieht man aber aus der Bindung an Ort und Zeit1, daß Keime usw. aus Samen usw. als Ursache entstehen. Ebenso entsteht durch Feuer usw. die Veränderung durch Hitze (päkajam) usw. Daher ist es gewiß nicht der Fall, daß die Gegebenheiten ohne Ursache Zustandekommen. Die Lehre von einer ewigen Ursache (Gott usw.) ist überdies bereits früher zurückgewiesen worden. Infolgedessen ist Geburt und Tod sicherlich ohne Anfang. Dagegen gibt es wohl ein Ende infolge des Schwindens der Ursachen, da die Geburt auf Ursachen beruht. Wenn also die Ursachen wegfallen, muß notwendigerweise auch die Geburt als Wirkung ein Ende nehmen. Der Satz besteht unbedingt zu Recht. So wie, wenn der Same zugrunde geht, notwendigerweise auch der Keim nicht entsteht. Der Strom der Gruppen, von dem wir sprechen, verteilt sich auf drei Geburten. v. 20 Dies ist das abhängige Entstehen, das aus zwölf Gliedern und drei Teilen besteht, je zwei am Anfang und am Ende und acht in der Mitte, und zwar bei der vollständigen (Person). Die zwölf Glieder sind: 1. das Nichtwissen, 2. die Willensregungen, 3. das Erkennen, 4. Name und Form, 5. der sechsfache Bereich, 6. die Berührung, 7. die Empfindung, 8. der Durst, 9. das Ergreifen, 10. das Werden, 11. die Geburt, 12. Alterund Tod. Die genannten drei Teile sind: 1. der Anfang, 2. das Ende, und 3. die Mitte; und das sind drei Geburten, nämlich die vergangene, die zukünftige und die gegenwärtige. Wie ist es gemeint, daß die zwölf Glieder sich auf die drei Teile verteilen? Auf den Anfang und das Ende entfallen je zwei Glieder und auf die Mitte acht; somit ergeben sich zwölf. Nichtwissen und Willensregungen
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Wenn sie ohne Ursachen wären, würden sie überall und zu jeder Zeit entstehen.
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gehören dem Anfang an, Geburt, Alter und Tod dem Ende, und die übrigen acht der Mitte. (Frage:) Sind die acht Glieder der Mitte bei jedem Wesen in einer einzigen Geburt alle vollzählig vorhanden oder nicht? (Antwort:) Sie sind nicht alle vorhanden. Warum wurde dann gesagt, daß es acht Glieder sind? Im Hinblick auf die vollständige (Person). Damit ist gemeint: Wenn eine Person (pudgalah) alle Entwicklungsstufen durchläuft, dann heißt sie vollständig, nicht wenn sie dazwischen vorzeitig stirbt, oder in der Sphäre des Materiellen oder Nichtmateriellen. Denn das große Sütram von den Grundlagen des Entstehens (oben S. 20) lehrt nur im Hinblick auf die Person in der Sphäre der Begierde, daß alle (Glieder) vorhanden sind. Es heißt dort (S. 24): „Der Buddha sprach zu Änanda: ,Wenn das Erkennen nicht in den Mutterschoß einginge, ... usw. bis ... würde dann (Name und Form) zu Wachstum, Gedeihen und zur vollen Größe gelangen oder nicht?' ,Nein, o Herr.'" Gelegentlich sagt man auch, daß das abhängige Entstehen nur aus zwei Teilen besteht. Der erste umfaßt den Anfang, der zweite das Ende. Der Anfang umfaßt die ersten sieben Glieder, nämlich Nichtwissen bis Empfindung. Das Ende umfaßt die letzten fünf Glieder, vom Durst bis Alter und Tod. Dabei umfassen nämlich beide Teile Anfang und Ende mit ihrer Wirkung bzw. ihrer Ursache.1 Welcher Art ist das Wesen dieser Glieder des Nichtwissens usw.? v. 21 2
Das Nichtwissen ist der Zustand der früheren Laster. Nichtwissen nennt man zusammenfassend den Zustand sämtlicher Laster in der früheren Geburt bis zum Reifen der gegenwärtigen Frucht, weil sie beständig mit dem Nichtwissen zusammen auftreten, da sie unter dem Einfluß des Nichtwissens in Erscheinung treten. So wie, wenn man vom Kommen des Königs spricht, damit keineswegs gesagt ist, daß das Gefolge nicht kommt. Man sagt nur, weil der König den Vorrang hat, zusammenfassend: Der König kommt. Die Willensregungen sind der Zustand der früheren Werke. Willensregungen nennt man zusammenfassend den Zustand der guten usw. Werke in der früheren Geburt bis zum Reifen der gegenwärtigen Frucht... Die Gruppen zur Zeit der Wiedergeburt (pratisamdhih) sind das Erkennen. Erkennen nennt man die fünf Gruppen im Zustand des einen Augenblicks der Wiedergeburt im Mutterleib. (Sie sind) Name und Form anschließend daran (v. 22) vor dem Entstehen des sechsfachen Bereiches. 1
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D. h. zum Anfang sind die Glieder gezogen, welche seine Wirkung in der nächsten Geburt darstellen, und zum Ende diejenigen, welche seine Ursache in der vorhergehenden Geburt bilden. Das Wort „Zustand" wird hinzugefügt, weil immer gedacht ist, daß die fünf Gruppen in diesem oder jenem Zustand das jeweilige Glied des abhängigen Entstehens ausmachen.
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Name und Form nennt man zusammenfassend die Zustände in der Zeit nach der Wiedergeburt des Erkennens und vor der Entstehung der sechs Bereiche. Dabei sollte es eigentlich heißen „vor der Entstehung der vier Bereiche."1 Man spricht aber von sechsen im Hinblick darauf, daß sie sich nunmehr in vollständigem Zustand darstellen. Dieses vor dem Zusammentreffen der Dreiheit. Der Zustand, in dem das Auge usw. entstanden ist, Sinnesorgan, Objekt und Erkennen aber noch nicht zusammengetroffen sind, erhält den Namen sechsfacher Bereich. Die Berührung, bevor sich die Fähigkeit einstellt, die Ursachen von Lust, Leid usw. zu erkennen. Berührung nennt man zusammenfassend den Zustand, in dem das Zusammentreffen der Dreiheit eingetreten ist, in dem aber die verschiedenen Ursachen der dreifachen Empfindung noch nicht erkannt werden. v. 23 Die Empfindung vor der Paarung. Der Zustand, in dem man die verschiedenen Ursachen der dreifachen Empfindung erkannt hat, in dem aber die Begierde nach der geschlechtlichen Vereinigung noch nicht auftritt, diesen Zustand nennt man Empfindung. Der Durst bei dem, der nach den Sinnesgenüssen und der Paarung begehrt. Der Zustand, in dem die Begierde nach den Sinnesgenüssen zusammen mit dem Durst nach der Paarung auftritt, in dem man aber noch nicht danach strebt, diesen Zustand nennt man Durst. Das Ergreifen bei dem, der sich um die Erlangung der Sinnesgenüsse bemüht. Wenn man sich bemüht und überall herumläuft, um die verschiedenen Objekte der Sinnesgenüsse zu erlangen, so nennt man diesen Zustand Ergreifen. v. 24 Wenn man Werke vollbringt, die in der zukünftigen Geburt ihre Frucht tragen, so ist dies das Werden. Wenn man infolge dieses Bemühens Werke anhäuft, die in der zukünftigen Geburt eine Frucht herbeifuhren, so nennt man diesen Zustand Werden. Die neuerliche Wiedergeburt (pratisamdhih) ist die Geburt. Wenn man durch die Kraft dieser Werke nach dem Dahinscheiden aus diesem Leben zu einem neuen Dasein wiedergeboren wird, so nennt man diesen Zustand Geburt. Das zukünftige Glied der Geburt entspricht also dem gegenwärtigen Erkennen. 1
Weil das Denken und der Körper, und damit auch das Tastorgan, schon vom Augenblick der Wiedergeburt an bestehen.
Vasubandhu der Jüngere
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Alter und Tod reichen bis zur Empfindung. Alter und Tod nennt man zusammenfassend den Zustand des allmählichen Heranwachsens nach dem Augenblick der Geburt bis zur zukünftigen Empfindung. Alter und Tod entsprechen also im gegenwärtigen Dasein den vier Gliedern, Name und Form, dem sechsfachen Bereich, der Berührung und der Empfindung. Das ist die Erläuterung des Wesens der z w ö l f Glieder. Es folgen weitere ausführliche Erläuterungen des abhängigen Entstehens. Dann geht der Text auf andere Gegenstände über. In der Schule des Sarvästiväda hat die Seelenleugnung ihre schroffste Ausprägung erhalten. Daneben haben sich natürlich auch alle übrigen buddhistischen Schulen mit der Frage beschäftigt und sind zu den verschiedensten Lösungen gelangt. Im schärfsten Gegensatz zu den Sarvästivädin steht dabei die südliche Nachbarschule der VatsTputnya-Sämmatlya, welche sogar so weit ging, das Vorhandensein einer Person (pudgalah) zu behaupten, wobei sie sich auf Texte wie das oben (S. 16) wiedergegebene Sütram vom Lastträger stützte. Nach der Lehre der Sämmatiya gibt es nämlich neben den drei Arten von verursachten (samskrtah) und den nichtverursachten (asamskrtah) Dingen als fünftes das Unausdrückbare (avaktavyam), nämlich die Person. Diese Person ist weder dasselbe wie die Gruppen, noch ist sie von ihnen verschieden, sie ist weder ewig noch nichtewig, also unausdrückbar. Über die Lehren der Sämmatiya sind wir durch ein eigenes Werk unterrichtet, das sich in chinesischer Übersetzung erhalten hat, das Sämmafiyanikäyasästram („Lehrbuch der Sämmafiya-Schule"), in dem hauptsächlich die Lehre von der Person behandelt wird. Ferner verfügen wir über die Polemik Vasubandhus. Vasubandhu hat nämlich anschließend an den Abhidharmakosah ein kleines Werk verfaßt, die „Widerlegung der Person" (Pudgalapratisedhaprakaranam), welches der Widerlegung der verschiedenen Lehren dienen soll, die eine Seele annehmen. Es richtet sich also gegen die Seelenlehre des Sämkhya, des Vaisesika, vor allem aber und in erster Linie gegen die Sämmatlya-Lehre vom Vorhandensein einer Person. Aus diesem Werk sollen nun im folgenden einige kurze Abschnitte übersetzt werden, welche eine Vorstellung von der Lehre der Sämmatiya geben und gleichzeitig zeigen, wie sich der Sarvästiväda damit auseinandersetzte. Der erste Abschnitt, der zugleich auch den Anfang des Werkes bildet; richtet sich gegen die Bestimmung der Person als unausdrückbar. Diese Unausdrückbarkeit entspricht natürlich nicht der Unausdrückbarkeit eines höchsten Seins, das allem menschlichen Denken unfaßbar bleibt, sondern es war zur damaligen Zeit gebräuchlich, Verhältnisse, die man nicht klar zu bestimmen vermochte, als weder so noch so und damit als unausdrückbar zu bezeichnen. So sagte man im Sämkhya und in der Mimämsä des Kumärila, daß die Gemeinsamkeit (sämänyam) von den Einzeldingen weder verschieden noch nichtverschieden sei. Und ähnlich erklärten die Sämmatiya die Person als weder verschieden noch nichtverschieden von den Gruppen. Vasubandhu sucht nun in seiner Widerlegung den Gegner zu zwingen, dieses Verhältnis schärfer zu bestimmen, und
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zeigt, daß jeder Versuch, den Worten einen klaren Inhalt zu geben, zum Scheitern führt.
Aus der „Widerlegung der Person" (Pudgalapratisedhaprakaran
am)
Kann es auf einem andern Weg als diesem keine Erlösung geben? Sicherlich nicht. Aus welchem Grunde? Weil der Blick durch die irrige Annahme eines Selbstes getrübt ist. Alle, welche außerhalb dieser Lehre (des Buddhismus) ein Selbst annehmen, betrachten es nämlich nicht als eine Bezeichnung für den Strom der Gruppen (skandhasamtänah), sondern nehmen an, daß es ein wirkliches von den Gruppen verschiedenes Selbst gibt. Durch die Annahme eines Selbstes aber entstehen alle Laster, der Kreislauf des dreifachen Werdens rollt weiter, und eine Erlösung ist nicht möglich. (Frage:) Wieso läßt sich mit Sicherheit erkennen, daß die Benennung „Selbst" nur den Strom der Gruppen bezeichnet und nicht ein Selbst als eigene Wesenheit? (Antwort:) Weil es hinsichtlich dieses angenommenen von den Gruppen verschiedenen Selbstes keine wahrhafte Wahrnehmung oder Schlußfolgerung gibt. Wenn nämlich das Selbst wie die übrigen Gegebenheiten seinem Wesen nach ein eigenes wirkliches Ding wäre, dann müßte es, falls sich kein Hindernis einstellt, entweder durch Wahrnehmung erfaßt werden wie die sechs Sinnesobjekte1 und das Denkorgan, oder es müßte durch Schlußfolgerung erfaßt werden wie die fünf materiellen Sinnesorgane. Was die Behauptung betrifft, daß die fünf materiellen Sinnesorgane durch Schlußfolgerung erfaßt werden, so herrscht allgemein die Anschauung, daß eine Wirkung trotz dem Vorhandensein der allgemeinen Ursachen nicht eintritt, wenn ihre besondere Ursache fehlt, daß sie hingegen eintritt, wenn diese nicht fehlt, so ζ. B. wenn ein Keim aus einem Samen entsteht2. Ebenso läßt sich beobachten, daß trotz dem Vorhandensein der Ursachen Licht, Objekt, Aufmerksamkeit usw. bei Blinden, Tauben usw. das Erkennen nicht eintritt, daß es hingegen bei Nichtblinden, Nichttauben usw. eintritt. Daraus läßt sich mit Bestimmtheit erkennen, daß es eine besondere Ursache gibt, die fehlt oder nicht fehlt. Und diese besondere Ursache ist das Sinnesorgan des Auges usw. In diesem Sinne also spricht man von einem Erschließen der materiellen Sinnesorgane. Hinsichtlich eines von den Gruppen verschiedenen Selbstes fehlen nun die beiden Erkenntnismittel vollständig. Daraus läßt sich mit Sicherheit erkennen, daß es kein Selbst als wirkliche Wesenheit gibt.
1
2
Da der Buddhismus das Denken den Sinnesorganen gleichstellt, zählt er sechs Sinnesorgane und sechs Sinnesobjekte. Auch wenn Feld, Wasser usw. da sind, entsteht der Keim nur, wenn auch seine besondere Ursache, nämlich der Same, vorhanden ist.
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Die Schule der Vâtsïputnya nimmt nun an, daß es eine Person gibt, welche ihrem Wesen nach weder mit den Gruppen eins ist, noch von ihnen verschieden ist. Dabei ist zu überlegen, ob (diese Person) ein Ding (dravyam) ist oder eine bloße Benennung (prajñaptih). Wie unterscheidet sich das Merkmal des dinghaft Seienden (dravyasat) von dem als Benennung Seienden (prajñaptisat)? Wenn selbständige Dinge vorliegen, so ist dies das Merkmal des dinghaft Seienden, wie bei Form, Ton usw. Liegt dagegen nur eine Anhäufung (samudäyah) vor, so ist dies das Merkmal des als Benennung Seienden, wie bei Milch usw. (Gegner:) Welche Fehler ergeben sich, wenn man (die Person) als Ding oder als Benennung betrachtet? (Antwort:) Wenn sie ihrem Wesen nach ein Ding ist, so muß sie von den Gruppen verschieden sein, weil sie ihr eigenes Wesen hat, wie die verschiedenen Gruppen selbst. Außerdem muß sie, wenn sie ein wirkliches Wesen hat, notwendig eine Ursache haben. Oder sie muß etwas Nichtverursachtes {asamskrtah) sein, und das deckt sich wieder mit der Ansicht der Nichtbuddhisten. Überdies wäre sie zwecklos. 1 Die Annahme, daß sie dinghaft ist, ist also sinnlos. Wenn sie dagegen ihrem Wesen nach (bloß) eine Benennung ist, so deckt sich das wieder mit unserer Behauptung. (Gegner:) Die Person, von der ich rede, ist nicht, wie ihr erklärt, dinghaft vorhanden, beziehungsweise der Benennung nach vorhanden. Man kann vielmehr nur gestützt auf die inneren, der Gegenwart angehörigen und angeeigneten (upättahY Gruppen von einer Person sprechen. (Antwort:) Das ist die Rede eines Blinden, dem der Gegenstand noch nicht klar geworden ist. Ich verstehe nämlich noch immer nicht, was ihr mit dem Wort „gestützt" (upädäya) meint. Bedeutet gestützt soviel wie in Anlehnung (älambya) an die Gruppen, ergibt sich also die Person in Anlehnung an die Gruppen, so ist erwiesen, daß die Person nur als Benennung vorhanden ist, so wie sich Milch usw. in Anlehnung an die Form usw. ergibt. Bedeutet dagegen gestützt soviel wie abhängig (pratïtya) von den Gruppen, spricht man also abhängig von den Gruppen von einer Person, so ergibt sich fur die Person derselbe Fehler.3 (Gegner:) Wir sprechen nicht so davon. Wie denn? So wie man im gewöhnlichen Leben, gestützt auf den Brennstoff, von Feuer spricht. Wieso kann man, wenn man von Feuer spricht, sagen, daß es sich auf den Brennstoff stützt? Weil man, wenn kein Brennstoff da ist, nicht vom Vorhandensein eines Feuers sprechen kann. Dabei ist der Brennstoff weder vom Feuer verschieden noch eins mit ihm. Denn wenn das Feuer vom Brennstoff verschieden wäre, könnte der Brennstoff nicht heiß sein. Und wenn das Feuer mit dem Brennstoff eins wäre, dann wäre das Verbrannte auch das Verbrennende. Ebenso kann man, wenn keine Gruppen da sind, von keiner Person sprechen. Auch ist die Person weder von den Gruppen verschieden noch eins mit ihnen. Denn wenn sie von den Gruppen 1
Da sie als ewig unabänderlich am Weltlauf vollkommen unbeteiligt wäre.
2
Angeeignet nennt der Buddhist die Organe samt der dazugehörigen Materie, die einem Persönlichkeitsstrom angehören.
3
Sie existiert auch in diesem Fall nur als Benennung.
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Die Dogmatik des Hïnayana
verschieden wäre, dann müßte sie ihrem Wesen nach ewig sein. Und wenn sie mit den Gruppen eins wäre, dann würde sich daraus ergeben, daß sie ihrem Wesen nach der Vernichtung unterworfen ist. (Antwort:) Dazu müßt ihr zunächst eindeutig sagen, was Feuer ist und was Brennstoff ist, damit ich verstehe, was es bedeutet, daß sich das Feuer auf den Brennstoff stützt. (Gegner:) Was ist da zu sagen? Aber wenn ich etwas sagen soll, so ist das Verbrannte der Brennstoff und das Verbrennende das Feuer. (Antwort:) Dabei wäre wiederum zu erklären, was das Verbrannte und was das Verbrennende ist, das Brennstoff und Feuer heißt. (Gegner:) Im gewöhnlichen Leben weiß man doch allgemein, daß der nichtflammende Gegenstand, der verzehrt wird, das Verbrannte, also der Brennstoff heißt, und daß der leuchtende, überaus heiße, flammende Gegenstand, der verzehrt, das Verbrennende, also das Feuer heißt. Und zwar verbrennt oder verzehrt dieses jenen Gegenstand, weil es in seinem Strom die späteren Augenblicke den früheren gegenüber verändert.1 Und obwohl beide ihrem Wesen nach aus acht Dingen bestehen,2 so entsteht das Feuer abhängig vom Brennstoff, so wie saure Milch und Essig abhängig von der süßen Milch und vom Wein entstehen. Und deswegen sagt man im gewöhnlichen Leben, daß sich das Feuer auf den Brennstoff stützt. (Antwort:) Wenn sich das Feuer tatsächlich darauf stützt, dann ist es vom Brennstoff verschieden, weil das spätere Feuer und der frühere Brennstoff beide verschiedenen Zeiten angehören. Wenn sich also die von euch angenommene Person auf die Gruppen stützt wie das Feuer auf den Brennstoff, dann ist unbedingt zu sagen, daß sie abhängig von den Gruppen entsteht und daher von den Gruppen verschieden ist. Und außerdem ergibt sich, daß sie nicht ewig ist. (Gegner:) Beim flammenden Holz usw. heißt das Hitze (genannte) Berührbare Feuer, die übrigen Dinge heißen Brennstoff.3 (Antwort:) Dann sind zwar Feuer und Brennstoff gleichzeitig, aber es muß als erwiesen gelten, daß sie ihrem Wesen nach verschieden sind, und zwar wegen der Verschiedenheit ihrer Merkmale. Es wäre also wieder zu erklären, was „gestützt (auf den Brennstoff)" bedeutet. Denn wie könnt ihr behaupten, daß man gestützt auf den Brennstoff von Feuer spricht, da doch beide gleichzeitig entstehen. Der Brennstoff kann nämlich dem Feuer nicht als Ursache dienen, da beide aus ihren eigenen Ursachen zur gleichen Zeit entstehen. Und man kann den Brennstoff auch nicht als Ursache des Namens „Feuer" bezeichnen, da man doch das Hitze (genannte) Berührbare als Ursache des Namens „Feuer" bezeichnet.
1
Unter dem Einfluß des Feuers wird der Augenblicksstrom des Holzes allmählich zu Asche.
2
Vgl. S. 60f. das über die Elementenlehre Gesagte.
3
D. h. von den acht Atomen, welche das Holzmolekül bilden, stellt das Hitzeatom das Feuer dar, die übrigen sieben den Brennstoff.
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(Gegner:) Der Satz, daß sich das Feuer auf den Brennstoff stützt, besagt, daß beide zugleich entstehen oder, daß (der Brennstoff) der Träger (des Feuers) ist. (Antwort:) Dann müßt ihr annehmen, daß die Person zugleich mit den Gruppen entsteht, oder daß die Gruppen der Träger (der Person) sind. Außerdem setzt ihr offenkundig voraus, daß sie ihrem Wesen nach von den Gruppen verschieden ist. Ferner müßt ihr folgerichtig annehmen, daß, wenn die Gruppen fehlen, auch die Person ihrem Wesen nach nicht vorhanden ist, ebenso wie, wenn der Brennstoff nicht vorhanden ist, auch das Feuer seinem Wesen nach fehlt. Ihr laßt aber diese Annahmen nicht gelten. Daher ist auch eure Erklärung nicht richtig. Ihr habt ferner hinsichtlich dieser eigenen Annahme den Einwand vorgebracht, daß der Brennstoff, wenn er vom Feuer verschieden wäre, nicht heiß sein könnte. Dabei muß eindeutig gesagt werden, was das Heiße seinem Wesen nach ist. Wenn ihr die Erklärung gebt, daß das Heiße das Hitze (genannte) Berührbare ist, dann ist der Brennstoff nicht heiß, weil sein Wesen anderer Art ist.1 Gebt ihr dagegen die Erklärung, daß das Heiße das mit der Hitze Verbundene ist, dann muß auch seinem Wesen nach Verschiedenes die Bezeichnung Heiß erhalten. Als eigentliches Feuer bezeichnet man dann nur das Hitze (genannte) Berührbare. Alles übrige mit der Hitze Verbundene erhält die Bezeichnung Heiß. Damit ist aber offenkundig zugegeben, daß der Brennstoff heiß genannt wird, obwohl er vom Feuer verschieden ist, und ohne daß sich dadurch ein Fehler ergibt. Wieso kann also dagegen vorgebracht werden, daß eine Schwierigkeit vorliegt. (Gegner:) Das Holz usw., wenn es hell flammt, nennt man Brennstoff und zugleich Feuer. (Antwort:) Dann ist wieder zu erklären, was „gestützt (auf den Brennstoff)" bedeutet. Ferner muß die Person unbedingt mit den Gruppen der Körperlichkeit usw. eins sein; das läßt sich durch keine Logik widerlegen. Die Behauptung, daß man gestützt auf die Gruppen von der Person spricht, ebenso wie man gestützt auf den Brennstoff vom Feuer spricht, läßt sich daher durch Beweise und Gegenbeweise nicht erhärten. Der nächste Abschnitt, den wir wiedergeben, richtet sich gegen die Lehre von der Wahrnehmbarkeit der Person. Die SämmatTya behaupten nämlich, daß im Anschluß an die Wahrnehmung der Sinnesobjekte auch die Person wahrgenommen wird. Vasubandhu folgert dagegen gerade daraus, daß der Person kein reales, sondern nur ein nominales Sein zukommt, daß sie also, wie der Inder sagt, nicht dinghaft (dravyatah), sondern nur als Benennung (prajñaptitah) existiert. Ferner zeigt er, daß sich aus der Annahme des Gegners unmögliche Folgerungen ergeben. Ferner müßte gesagt werden, welche von den sechs Arten des Erkennens2 die Person erkennt. (Gegner:) Alle sechs Arten erkennen sie. Wieso? Wenn das 1
2
Denn er besteht, der obigen Annahme entsprechend, aus den übrigen sieben Atomen des Holzmoleküls. Die fünf Arten des Erkennens durch die Sinne und das Denk-Erkennen; vgl. unten S. 73.
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Augen-Erkennen zu irgendeiner Zeit die Form erkennt, so erfaßt es anschließend daran das Vorhandensein der Person. Daher sagt man, daß (die Person) vom Augen-Erkennen erkannt wird. Man kann aber nicht sagen, daß sie mit der Form eins oder von ihr verschieden ist... usw. (von den übrigen Arten des Erkennens) bis ... Wenn das Denk-Erkennen 201 irgendeiner Zeit die Gegebenheiten erkennt, so erfaßt es anschließend daran das Vorhandensein der Person. Daher sagt man, daß (die Person) vom Denk-Erkennen erkannt wird. Man kann aber nicht sagen, daß sie mit den Gegebenheiten eins oder von ihnen verschieden ist. (Antwort:) Wenn es sich so verhält, dann kann von der (von euch) angenommenen Person ebenso wie von Milch usw. nur als Benennung gesprochen werden. Wenn nämlich das Augen-Erkennen zur Zeit, wo es die Form erkennt, anschließend daran das Vorhandensein der Milch usw. erfaßt, dann sagt man, daß die Milch usw. vom Augen-Erkennen erkannt wird, aber man kann nicht sagen, daß sie mit der Form eins oder von ihr verschieden ist... usw. bis ... Und wenn das Körper-Erkennen zur Zeit, wo es das Berührbare erkennt, anschließend daran das Vorhandensein der Milch usw. erfaßt, dann sagt man, daß die Milch usw. vom Körper-Erkennen erkannt wird, aber man kann nicht sagen, daß sie mit dem Berührbaren eins oder von ihm verschieden ist. Denn sonst würde sich ergeben, daß die Milch nichts ist als die vier (Sinnesobjekte), oder daß sie nicht aus ihnen gebildet ist. Daher ist es erwiesen, daß man gestützt auf die Gesamtheit der Gruppen vom Vorhandensein der Person als Benennung spricht, ebenso wie man im gewöhnlichen Leben gestützt auf die Gesamtheit der Form usw. von Milch usw. spricht, und zwar als Benennung, nicht als wirklich. Ferner habt ihr gesagt: „Wenn das Augen-Erkennen zu irgendeiner Zeit die Form erkennt, so erfaßt es anschließend daran das Vorhandensein der Person." Was bedeutet dieser Satz? Besagt er, daß die Form die Ursache der Wahrnehmung der Person ist, oder daß zur Zeit, wo man die Form wahrnimmt, auch die Person wahrgenommen werden kann? Besagt er, daß die Form die Ursache der Wahrnehmung der (Person) ist, und kann man dabei nicht sagen, daß diese von der Form verschieden ist, so kann man auch nicht sagen, daß die Form vom Auge usw. verschieden ist, da das Auge, und ebenso das Licht, die Aufmerksamkeit usw., Ursache der Wahrnehmung der Form ist. Besagt er dagegen, daß zur Zeit, wo man die Form wahrnimmt, auch die Person wahrgenomen werden kann, ist dann die Wahrnehmung der Form auch die Wahrnehmung der (Person), oder handelt es sich dabei um eine verschiedene Wahrnehmung? Wenn die Wahrnehmung der Form auch die Wahrnehmung der (Person) ist, dann ist man genötigt, anzunehmen, daß deren Wesen eben die Form ist, oder daß sich die Benennung für sie nur auf die Form bezieht. Dann kann es aber keine Vorstellungen geben wie: „Derart ist die Form" und „derart ist die (Person)." Wie läßt sich aber ohne diese zweierlei Vorstellungen das Vorhandensein der Form und der Person feststellen, da doch die Feststellung ihres Vorhandenseins notwendigerweise von den Vorstellungen abhängt? Wenn es sich dagegen dabei um eine verschiedene Wahrnehmung handelt, dann muß, weil die Wahrnehmung zeitlich getrennt ist, (die Person) von der Form verschieden sein, ebenso wie das Gelbe
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vom Blauen verschieden ist oder das Frühere vom Späteren usw. Die gleichen Einwände sind (hinsichtlich der übrigen Sinnesobjekte) vorzubringen bis zu den Gegebenheiten. (Der Gegner) sagt, um dies abzuwehren: Wie man nicht eindeutig sagen kann, daß die (Person) mit der Form eins oder von ihr verschieden ist, so gilt dies auch bei der Betrachtung der beiderlei Wahrnehmungen. (Antwort:) Dann dürft ihr die Wahrnehmung nicht unter das Verursachte (samskrtah) einreihen.1 Wenn ihr es aber tut, dann verstoßt ihr gegen das eigene System. Der dritte und letzte Abschnitt, den wir bringen, gibt schließlich eine Probe, wie beide Gegner die Texte der heiligen Schrift zur Stütze ihrer Behauptungen benützen. Der Sâmmatïya führt das oben (S. 16) übersetzte Sütram vom Lastträger an. Die Entgegnung Vasubandhus zeigt, wie die Sarvästivädin dieses Zeugnis wegzudeuten suchten, da sie die Aussage des allgemein anerkannten Textes selbst nicht ableugnen konnten. (Gegner:) Wenn nur die fünf Gruppen des Ergreifens Person genannt werden, warum hat dann der Erhabene folgendermaßen gesprochen: „Ich will euch, (ihr Mönche,) die Last darlegen, das Aufnehmen der Last, das Ablegen der Last und den Träger der Last?" (Antwort:) Aus welchem Grunde hätte der Buddha nicht so sprechen sollen? (Gegner:) Weil man die Last nicht Lastträger nennen kann.2 (Antwort:) Warum nicht? (Gegner:) Weil man dergleichen bisher noch nicht gesehen hat. (Antwort:) Dann dürft ihr auch von keinem unausdrückbaren Ding sprechen. (Gegner:) Warum nicht? (Antwort:) Weil man dergleichen ebenfalls noch nicht gesehen hat. Außerdem könnte dann auch das Aufnehmen der Last nicht in den Gruppen enthalten sein, weil man bisher noch nicht gesehen hat, daß eine Last sich selber aufnimmt. Nun ist aber im Sütram gesagt, daß der Durst Aufnehmen der Last genannt wird. Daher ist es in den Gruppen enthalten. Und das gleiche gilt vom Lastträger. Es ist also zuzugeben, daß er in den Gruppen zu sehen ist. Außerdem hat der Buddha, weil er fürchtete, daß man die Person als unausdrückbar, ewig und wirklich auffassen könnte, selbst im Sütram etwas später die Erklärung gegeben, daß damit nur dem gewöhnlichen Gebrauch zufolge , jener Ehrwürdige, der diesen und diesen Namen trägt" usw. bezeichnet sei ..., eben damit man erkennen möge, daß die Person ihrem Wesen nach ausdrückbar, nicht ewig und nicht wirklich ist. Außerdem erhalten die fünf Gruppen des Ergreifens, weil sie sich selbst gegenseitig bedrücken, den Namen „Last." Und die früheren Augenblicke werden, weil sie die späteren nach sich ziehen, „Lastträger" genannt. Es gibt daher keine wirkliche Person.
1
Wenn die Wahrnehmungen weder verschieden noch nichtverschieden voneinander sind, dann sind sie unausdrückbar und gehören in die gleiche Gruppe wie die Person, aber nicht unter die verursachten Gegebenheiten.
2
Im Sütram selbst wird die Last als die fünf Gruppen des Ergreifens erklärt. Diese können daher nicht gleichzeitig auch Lastträger sein.
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Die Dogmatik des Hînayâna
Wir wenden uns nun zu den Anschauungen allgemeiner Art, welche mit der Lehre von der Seelenleugnung verknüpft erscheinen und ihren weiteren Rahmen abgeben. Die erste von ihnen ist die Anschauung, daß allen Dingen ein fester beständiger Kern fehlt. Eine Neigung dazu zeigt sich schon in der ältesten Zeit und dürfte auf den Buddha selbst zurückgehen. Sie äußert sich in dem Streben, die flüchtigen Einzelerscheinungen in den Vordergrund zu stellen, und fußt offensichtlich auf dem Bemühen, die Vergänglichkeit aller Dinge zu betonen. Begünstigt wurde das Bestreben, die Einzelerscheinungen zu verselbständigen, durch die damals noch herrschende altertümliche Art, alles, selbst Eigenschaften, wenn man sich ihr Wesen deutlich zu machen suchte, dinghaft zu denken. Zur klar umrissenen philosophischen Lehre entwickelten sich diese Ansätze aber erst spät, und zwar im Gegensatz zum Vaisesika-System, als dieses seine Kategorienlehre schuf. Als nämlich das Vaisesika in klarer philosophischer Erkenntnis Dinge und ihre Eigenschaften, Substanz und Attribut, als zwei verschiedene Formen des Seins voneinander unterschied, galt es, zu dieser neuen Lehre Stellung zu nehmen. Und nun schieden sich die Geister. Und mit verschwindenden Ausnahmen entschieden sich die buddhistischen Schulen dafür, der Vaisesika-Lehre von den Substanzen und ihren Attributen die Lehre von den Gegebenheiten (dharmäh) gegenüberzustellen, die gewissermaßen als verselbständigte Eigenschaften ohne einen Träger ein eigenständiges Dasein führen. Diese Lehre ergab im einzelnen etwa folgendes Bild. Im Bereich der Elemente hatte man es vor allem mit den fünf Eigenschaften zu tun, die seit alter Zeit als die Objekte der Sinneswahrnehmungen galten, nämlich mit der Form 1 , dem Ton, dem Geruch, dem Geschmack und der Berührbarkeit. Diese Eigenschaften werden in den Lehrreden des Buddha meist allein genannt, ohne Erwähnung der Elemente, da für den Buddha die Außenwelt nur so weit von Interesse war, als sie auf den Menschen wirkt und Empfindungen und Leidenschaften hervorruft. Nun lehrte man ausdrücklich, daß sie keine Eigenschaften seien, die an den Elementen haften, sondern selbständige Wesenheiten. Und als man die inzwischen geschaffene und zur Verbreitung gelangte Atomlehre übernahm, lehrte man, daß diese Wesenheiten aus Atomen bestehen. Die Dinge der Außenwelt setzen sich also nicht aus Elementen zusammen, sondern sie sind aus Atomen von Farbe, Ton, Geruch, Geschmack und Berührbarkeit gebildet. Allerdings mußte man sich auch mit der alten Elementenvorstellung auseinandersetzen. Denn schließlich war auch in den Lehrreden des Buddha öfter von Elementen die Rede, und zwar von den weitverbreiteten vier Elementen, Erde, Wasser, Feuer und Wind. Was sind also diese Elemente? Um dies zu erklären, griff man auf folgende Vorstellung zurück. Schon seit alter Zeit wurde den Elementen neben den fünf Eigenschaften, welche als Gegenstand der Sinneswahrnehmungen den fünf Sinnesorganen entsprechen, eine zweite Reihe charakteristischer Eigenschaften zugeschrieben, und zwar der Erde die Festigkeit, dem Wasser die Feuchtigkeit, dem Feuer die Hitze und dem Wind die Bewegung. Man sagte nun, daß die sogenannten vier Elemente nichts anderes seien, als 1
Die Form (rupam) umfaßt Farbe und Gestalt.
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eben diese Eigenschaften. Dabei ordnete man diese vier Eigenschaften unter das Berührbare ein und übertrug natürlich auch auf sie die Atomvorstellung. Die vier Elemente sind demnach Härte-, Feuchtigkeits-, Hitze- und Bewegungsatome.1 Nun treten aber nach allgemein verbreiteter Anschauung die Eigenschaften der Elemente nie einzeln auf. So lehrte ζ. B. das Vaisesika, daß jedes Element mehrere Eigenschaften in sich vereinigt, und alle andern Systeme folgten ihm darin. Nur über die Zahl und Verteilung dieser Eigenschaften herrschten Meinungsverschiedenheiten. Dementsprechend lehrte daher auch der Buddhismus, daß die atomhaften Elementeigenschaften nie allein als einzelne Atome vorkommen, sondern immer nur zu Molekülen vereinigt. Und zwar enthält jedes Molekül je ein Eigenschaftsatom von jeder Art, zu denen gewissermaßen als Stütze je ein Atom der vier Elemente tritt. Das Molekül besteht also, da der Ton nur gelegentlich auftritt, aus einer Mindestzahl von acht Atomen, zu denen fallweise noch weitere Atome hinzutreten können. Aus diesen Molekülen ist die gesamte stoffliche Welt aufgebaut. Die Verschiedenheit der einzelnen Stoffe ergibt sich durch das Überwiegen dieser oder jener Eigenschaftsatome. Damit hatte also der Buddhismus der Elementenlehre des Vaisesika eine eigene Lehre gegenübergestellt, in der der Substanzbegriff ausgeschaltet war, und wo an Stelle der Substanzatome mit ihren zahlreichen Eigenschaften ein lockerer Verband selbständiger Eigenschaftsatome getreten war. Nicht anders war die Lehrentwicklung auf psychologischem Gebiet. Hier lehrte das Vaisesika, daß alle psychischen Vorgänge Eigenschaften der Seele sind. Andere Schulen wie das Sämkhya, welche alle psychischen Vorgänge in den Bereich der Materie verlegten, sahen darin Eigenschaften eines oder mehrerer psychischer Organe. Der Buddhismus stand anfanglich diesen Schulen nahe und wir haben noch deutliche Spuren, daß das Erkennen (vijnänam) ursprünglich als ein solches Organ gedacht war. Aber auch hier zeigen schon die Lehrreden des Buddha das deutliche Streben, die einzelnen psychischen Vorgänge zu verselbständigen. Und auch hier lehrte die spätere Dogmatik scharf und eindeutig, daß alle psychischen Vorgänge keine Eigenschaften irgendeines psychischen Organs, sondern eigene selbständige Gegebenheiten sind, die in größerer Zahl zu einem psychischen Gesamtvorgang zusammentreten. Dem Erkennen ist von seinem ursprünglichen Wesen nichts geblieben, als daß es gewissermaßen den Mittelpunkt dieses Komplexes darstellt, insofern es in jedem psychischen Vorgang enthalten sein muß und die übrigen Gegebenheiten sich an das Erkennen anschließen. Also auch hier ist an die Stelle der psychischen Substanz mit ihren zahlreichen Eigenschaften ein loser Verband selbständiger Gegebenheiten getreten, wobei der Substanzbegriff bewußt ausgeschaltet ist. Diese Leugnung der Substanz ist die wichtigste grundsätzliche Entscheidung der buddhistischen Dogmatik auf diesem Gebiet. Die gleiche Stellungnahme wurde aber auch auf alle ähnlichen Fälle ausgedehnt, wo immer sich ein fester 1
Das sind aber, wie man sagte, nur die Elemente im philosophischen Sinn. Was man im gewöhnlichen Leben so nennt, ist eine Mischung verschiedener Atome, wobei der Name an den Färb- und Gestaltatomen haftet.
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Kern oder ein beständiges Wesen in den Einzeldingen zu zeigen schien. Das galt besonders von der Vaisesika-Lehre vom Ganzen (avayavT). Das Vaisesika behauptete nämlich, daß bei allen Dingen, welche aus den letzten Bestandteilen der Materie, den Atomen gebildet sind, nicht bloß eine Anhäufimg von Atomen vorliegt, sondern daß aus ihrer Verbindung etwas Neues, nämlich ein einheitliches Ganzes entsteht. Auch diese Anschauung verwirft der Buddhismus. Für ihn ist jedes Ganze ein lockerer Verband verschiedener Gegebenheiten und nicht mehr. Auch in der Lehre von der Gemeinsamkeit (sämänyam), jenem allgemeinen Wesen, das nach Vaisesika-Lehre den Einzeldingen innewohnt und ihnen den gleichartigen Charakter verleiht, wirkt bei den Buddhisten die gleiche Einstellung nach. Die alten Schulen kennen eine Art Gemeinsamkeit nur in sehr beschränktem Maß. In späterer Zeit wurde sie grundsätzlich geleugnet. Von allen diesen Lehren und ihrer Entwicklung können wir hier keine ausführlichen Textproben bringen. Außerdem ist diese Entwicklung zur Zeit Vasubandhus schon längst abgeschlossen und dogmatisch erstarrt. Die Auseinandersetzung beschränkt sich, wie es in Indien auf einer solchen Entwicklungsstufe immer zu ergehen pflegt, auf eine Polemik, in der jeder Teil an seinem einmal eingenommenen Standpunkt starr festhält und ihn auf jede Weise zu verteidigen sucht. Solche Polemik hat zwar oft dazu beigetragen, die Dinge klarer zu sehen und die Lehren schärfer zu fassen, aber sie ist schwierig und mühevoll zu lesen und hat für weitere Kreise kaum Interesse. Ich beschränke mich daher auf die Wiedergabe eines kurzen Abschnitts aus dem Abhidharmakosah, in dem sich Vasubandhu in knapper Form mit der Lehre von der Substanz auseinandersetzt, und gehe dann sofort zum nächsten Punkt, zur Lehre von der Augenblicklichkeit der Dinge über. Der wiedergegebene Abschnitt stammt aus dem 3. Buch des Abhidharmakosah, und zwar aus dem letzten Teil, wo von der periodischen Weltvernichtung die Rede ist. Diese bedeutet für den Buddhisten eine völlige Vernichtung der Erscheinungswelt, während sich nach der Vaisesika-Lehre die Welt dabei nur in ihre letzten Bestandteile, die Atome, auflöst, die als ewige Substanzen weiter bestehen. Das gibt Vasubandhu Anlaß, sich kurz mit dem Substanzbegriff auseinanderzusetzen. Die Argumente, die er dabei vorbringt, sind im wesentlichen folgende: Es gibt keine Substanz, weil wir wohl die Elementeigenschaften sehen, aber keine Substanz daneben wahrnehmen, obwohl nach Vaisesika-Lehre die Substanz sowohl durch das Auge wie auch durch das Tastgefuhl wahrgenommen werden kann. Ferner verschwindet beim Verbrennen eines Gegenstandes mit den Eigenschaften der Gegenstand selbst, was nicht möglich wäre, wenn die Substanz unverändert weiterbestünde. Schließlich scheint zwar ein solcher Fall beim Brennen von Tongefäßen vorzuliegen, wo sich nach Vaisesika-Lehre die sonst unveränderlichen Atomeigenschaften ändern, während die Gefäße offensichtlich in ihrer Substanz erhalten bleiben. In Wirklichkeit beruht dieser Eindruck aber darauf, daß das Aussehen, d. h. die Anordnung der Teile der Gefäße, im Strom der Augenblicke die gleiche bleibt. Ähnlich glaubt man ζ. B. bei einer Ameisenstraße dauernd eine Reihe von Ameisen zu sehen, obwohl nichts Beharrendes da ist, dem man den Namen Reihe geben könnte. Damit bricht Vasubandhu die Erörterung ab und kehrt wieder zu seinem Hauptgegenstand zurück.
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Es gibt keine Substanz (Abhidharmakosah III, zu v. 100) Ferner bezieht sich der Name „Atom" auf die Form usw. Daher gehen, wenn die Form zugrunde geht, auch die Atome zugrunde. (Gegner:) Die Atome gehören zum Stoff (dravyam) und sind von den Eigenschaften (gunah) Form usw. ihrem Wesen nach verschieden. Sie müssen daher nicht unbedingt zur gleichen Zeit vergehen. (Antwort:) Die Verschiedenheit des Wesens der beiden braucht keineswegs als erwiesen zu gelten. Denn wenn man sie betrachtet, gibt es neben der Form usw. keine gesonderte Erde usw. Daher sind sie ihrem Wesen nach nicht verschieden. Ferner nimmt man in jenem System selbst an, daß die Erde usw. durch Auge und Körper erfaßt wird. Wieso sind also Form und Berührbarkeit davon verschieden? Da ferner, wenn man Wolle, Baumwolle, Opium usw. verbrennt, die betreffende Erkenntnis nicht mehr besteht, entsteht die Erkenntnis „Wolle" usw. nur auf Grund der besonderen Form usw. Zur Zeit, wo die durch Hitze veränderten Eigenschaften (päkajah) entstehen, stellt sich die Erkenntnis Topf oder Schale wegen der Gleichartigkeit der Gestalt ein, ebenso wie bei einer Reihe. Denn wenn man die Gestalt nicht sieht, stellt sich auch die Erkenntnis nicht ein. Aber wer wollte diese Reden sammeln, die sinnlos sind, wie die eines Toren. Darum Schluß mit der ausfuhrlichen Polemik gegen dieses System! Die zweite wichtige Anschauung allgemeiner Art, die mit der vorhergehenden eng verknüpft ist, ist die Vorstellung von der Augenblicklichkeit aller Dinge. Den Ausgangspunkt dafür bildete, wie wir bereits bemerkt haben, die schon vom Buddha betonte Vergänglichkeit alles Irdischen; maßgebend für die Entwicklung und Ausgestaltung aber war, wie so häufig, die Grundanschauung, an die man anknüpfte. Das Sämkhya hatte bei seiner Lehre vom beständigen Wechsel aller Dinge das Bild des Tonklumpens vor Augen, der zum Topf wird und schließlich in Scherben bricht. So ergab sich der Eindruck eines während aller Veränderungen beharrenden Stoffes und die Veränderungen selbst erschienen bloß als ein Wechsel des Zustandes. Anders der Buddhismus. Für ihn war die Grundanschauung das Bild des Holzes, das vom Feuer verzehrt wird. Damit drängte sich aber die Vorstellung einer vollständigen Vernichtung auf. Denn die Asche schien etwas ganz anderes zu sein als das Holz. Die Asche entsteht, während das Holz vergeht. Hier empfand man also die Vergänglichkeit aller Dinge nicht als eine bloße Veränderung, sondern als eine restlose Vernichtung, wobei an die Stelle des Vernichteten etwas vollkommen Neues tritt. Und dementsprechend wurde auch die Lehre formuliert. Und zwar unterschied man dabei zunächst zwischen Dingen, die längere Zeit bestehen, bis sie der Vernichtung anheimfallen, wie ζ. B. das Holz, und zwischen solchen, die jeden Augenblick vergehen und neu entstehen, wie ζ. B. die Flamme einer Lampe, der Ton einer Glocke und auch alle geistigen Gegebenheiten, deren Vergänglichkeit ja bereits der Buddha besonders hervorgehoben hatte.
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Auf diesem Stand der Lehre blieben viele Schulen stehen, vor allem auch die Vätslputnya-Sämmatiya. Andere dagegen gingen allmählich so weit, die Augenblicklichkeit aller Dinge zu behaupten, und zwar waren es die Sarvästivädin und Sauträntika, welche bei dieser Entwicklung führten. Bezeichnenderweise sind dies die extremen Schulen, die auch die Leugnung der Seele aufs schroffste formuliert hatten. Und der Zusammenhang ist unverkennbar. Denn je klarer man sich das Fehlen jedes festen Kerns in den Dingen zu Bewußtsein brachte, um so zwingender mußte man auch zur Annahme der Augenblicklichkeit aller Dinge gedrängt werden. Wer eine Substanz anerkennt, dem mag leicht jeder Wechsel nur als eine Veränderung des Zustandes dieser Substanz erscheinen. Das war daher auch die Auffassung des Sämkhya, das trotz der Betonung des ewigen Flusses aller Dinge, doch eine Dauer im Wechsel lehrte. Denn bei allen Veränderungen sind es nach Sämkhya-Lehre nur die Eigenschaften (dharmäh) der Dinge, die vergehen, während der Träger der Eigenschaften (dharmï), die ewige Urmaterie, beharrt. Wer dagegen, wie die buddhistischen Schulen, nur Eigenschaften ohne Träger als selbständige Gegebenheiten kennt, für den bedeutet notgedrungen jede Veränderung dieser Eigenschaften ein völliges Vergehen und Neuentstehen. Und zwar mußte dies für jede Art von Veränderung gelten. Ja selbst Wachstum, Altern und allmählicher Verfall mußte als eine solche Kette von Vernichtung und Werden erscheinen. Und die ausdrückliche Formulierung der Lehre von der Augenblicklichkeit aller Dinge bedeutete daher nur einen letzten folgerichtigen Schritt. Dabei verschob sich auch die Auffassung der Vernichtung der Dinge. Denn das Holz vergeht und entsteht nach dieser Lehre bereits in ununterbrochener Folge, bevor es noch vom Feuer verzehrt wird. Das Feuer veranlaßt nur, daß sich der Augenblicksstrom des Holzes nicht weiter fortsetzt. Das beständige Entstehen und Vergehen ist also nicht durch äußere Ursachen herbeigeführt, sondern liegt in der Natur der Dinge. Das Wesen der Dinge selbst ist die Vergänglichkeit. Und so wurde die Lehre auch formuliert. Dies ist nun die Entwicklungsstufe, welche die Lehre zur Zeit Vasubandhus erreicht hatte. Die Entwicklung selbst war im wesentlichen abgeschlossen. Nur Einzelheiten blieben zwischen den Sarvästivädin und Sauträntika umstritten. Im übrigen drehte sich die Erörterung im wesentlichen um die Begründung der Augenblicklichkeit der Dinge gegenüber den Vätslputiiya und gegenüber den nichtbuddhistischen Schulen, vor allem dem Vaisesika. Diesen Stand spiegelt daher auch die Textprobe, die wir im folgenden wiedergeben. Sie ist dem 4. Buch des Abhidharmakosah entnommen. Den Anlaß zur Auseinandersetzung gibt die Frage der Bewegung. Wenn die Dinge nämlich augenblicklich sind, dann können sie sich nicht bewegen, da jede Bewegung Zeit erfordert. Und daher nimmt der Sarvästiväda auch an, daß es in Wirklichkeit keine Bewegung gibt. Was uns als Bewegung erscheint, ist vielmehr nur der Augenblicksstrom, der ähnlich einem Film in immer anderer Form entsteht. Damit ist der Anstoß gegeben, dem Gegner gegenüber, der das Vorhandensein einer Bewegung behauptet, die Augenblicklichkeit der Dinge zu beweisen. Vasubandhu stellt zu diesem Zweck drei Schlußfolgerungen auf, an deren jede
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er die Widerlegung gegnerischer Einwände schließt. Die erste lautet: Die Vernichtung der Dinge kann durch keine äußere Ursache veranlaßt sein, da sie als ein bloßes Nichtsein unmöglich die Wirkung einer Ursache ist. Wenn aber die Vergänglichkeit in der Natur der Dinge selbst liegt, dann müssen sie sofort vergehen, da diese Natur von Anfang an gegeben ist. Dem Gegner, der sich auf die augenscheinliche Tatsache beruft, daß das Feuer das Holz vernichtet, antwortet er, daß es sich dabei um keine Wahrnehmung, sondern um eine Schlußfolgerung handelt, die keineswegs zwingend ist. Die zweite Schlußfolgerung besagt: Wenn die Vernichtung der Dinge tatsächlich auf irgendwelchen Ursachen beruht, dann müßten solche Ursachen überall wirksam sein, auch bei den geistigen Gegebenheiten usw., wo der Gegner selbst die Augenblicklichkeit annimmt. Anschließend weist er die von gegnerischer Seite in diesen Fällen angenommenen Ursachen zurück. Die dritte Schlußfolgerung endlich beruht auf der Anschauung, daß das Feuer die allmähliche Veränderung der Gegenstände herbeifuhrt, die ihm ausgesetzt sind. Das geschieht nach buddhistischer Vorstellung in der Weise, daß es im Augenblicksstrom dieser Gegenstände immer neue geänderte Augenblicke hervorruft. Auf diese Weise ist aber das Feuer Ursache des Entstehens dieser Augenblicke und kann nicht gleichzeitig Ursache ihres Vergehens sein. Das gibt den Anlaß die Rolle des Feuers in solchen Fällen klarzustellen. Dann schließt Vasubandhu mit einer kurzen Zusammenfassung des Ergebnisses seiner Beweisführung.
Die Augenblicklichkeit der Dinge (Abhidharmakosah IV, v. 2-5) Was ist ein Augenblick? Was unmittelbar nach der Erlangung seines Selbstes (ätmaläbhah)' vergeht. Eine Gegebenheit, der ein solcher Augenblick zukommt, heißt augenblicklich ... Alle verursachten Gegebenheiten müssen unmittelbar, nachdem sie ihr Selbst erlangt haben, vergehen und zunichte werden. Wenn sie an einem Ort entstehen, dann vergehen sie auch an diesem Ort. Sie vermögen daher nicht von dort an eine andere Stelle zu gelangen ... (Gegner:) Wenn die verursachten Gegebenheiten augenblicklich sind, dann läßt sich die Ansicht, daß sie an keine andere Stelle gelangen, rechtfertigen. (Antwort:) Die Behauptung, daß die verursachten Gegebenheiten augenblicklich sind, ist erwiesen, v. 2d weil sie später unbedingt vergehen. Das Vergehen der verursachten Gegebenheiten hat nämlich keine Ursache. Warum? Was eine Ursache hat, ist eine Wirkung. Das Vergehen als Nichtsein ist aber 1
So drückt die buddhistische Philosophie der damaligen Zeit den Begriff des Entstehens aus.
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keine Wirkung und hat daher auch keine Ursache. Weil nun das Vergehen keine Ursache hat, vergehen (die verursachten Gegebenheiten), kaum, daß sie entstanden sind. Denn, wenn sie nicht gleich anfangs vergehen, dann kann es auch später nicht der Fall sein, weil sie später die gleiche Beschaffenheit haben wie früher. Wenn sie daher später ein Ende finden so läßt sich daraus erkennen, daß sie bereits früher vergehen. (Gegner:) Sie verändern sich später und können daraufhin vergehen. (Antwort:) Sie können nicht dieselben sein und verändert genannt werden. Es kann daher unmöglich richtig sein, daß sich ihre Beschaffenheit verändert. (Gegner:) Läßt sich nicht im gewöhnlichen Leben beobachten, daß das Brennholz usw. durch die Verbindung mit dem Feuer der Vernichtung anheimfällt? Und es gibt bestimmt kein anderes Mittel richtiger Erkenntnis, welches der sinnlichen Wahrnehmung überlegen wäre. Daher trifft es nicht zu, daß das Vergehen der Gegebenheiten durchweg keine Ursache hat. (Antwort:) Wie läßt sich erkennen, daß das Brennholz usw. durch die Verbindung mit dem Feuer vergeht? (Gegner:) Weil man das Brennholz usw. nach der Verbindung mit dem Feuer nicht mehr sieht. (Antwort:) Dann ist folgendes zu überlegen: Wird also das Brennholz usw. nicht gesehen, weil es durch die Verbindung mit dem Feuer vergeht, oder wird es nicht gesehen, weil das früher entstandene Brennholz usw. von selbst vergeht und später nicht wieder entsteht, also nicht mehr vorhanden ist, wie es bei der Flamme einer Lampe oder dem Ton einer Glocke infolge der Verbindung mit dem Wind oder mit der Hand der Fall ist?1 Diese Sache muß daher durch eine Schlußfolgerung nachgewiesen werden. (Gegner:) Welche Schlußfolgerung gibt es dafür? (Antwort:) Wie wir früher gesagt haben: Das Vergehen hat keine Ursache, weil es als Nichtsein keine Wirkung ist. Wenn ferner das Brennholz eine Ursache hat, daß es vergeht, v. 3a dann kann kein Vergehen ohne Ursache sein, wie das Entstehen, das eine Ursache hat und nicht ohne Ursache ist. Nun beobachtet man im gewöhnlichen Leben beim Erkennen, der Flamme und dem Ton, daß sie ohne eine andere Ursache jeden Augenblick von selbst vergehen. Daher hat auch das Vergehen des Brennholzes keine Ursache. Einige (die Vaisesika) nehmen an, daß das frühere Erkennen und der frühere Ton durch das spätere Erkennen und den späteren Ton vergehen. Das ist aber nicht richtig, weil die beiden nicht zugleich sind. Denn man kann sich Zweifel und Sicherheit, Leid und Lust, Liebe und Haß usw., die einander ihrem Merkmal nach entgegengesetzt sind, nicht als gleichzeitig vorstellen. Oder angenommen nach einem Erkennen oder einem Ton in deutlichem Zustand entsteht unmittelbar ein undeutliches Erkennen oder ein undeutlicher Ton. Wie kann eine gleichartige undeutliche Gegebenheit eine deutliche gleichartige Gegebenheit vernich1
Der Gegner nimmt selbst an, daß das Licht einer Lampe oder der Ton einer Glocke augenblicklich sind und von selbst vergehen. Der Wind oder die Berührung der Hand vernichten sie also nicht, sondern es kommt bloß zu keinem neuen Entstehen.
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ten? Und wodurch vergeht wieder ein starkes späteres Erkennen oder ein starker späterer Ton? ... Wenn ferner die Verbindung mit dem Feuer die Ursache für das Vergehen des Brennholzes usw. ist, dann müßte bei den durch die Hitze hervorgerufenen Veränderungen (päkajah) die gering, mittelmäßig oder stark sind, v. 3b die Ursache des Entstehens auch die Ursache des Vergehens sein.1 Warum? Bei den durch die Verbindung mit dem Feuer verursachten durch die Hitze hervorgerufenen Veränderungen des Brennholzes usw. vernichtet nämlich das, was die mittelmäßigen und starken Veränderungen hervorruft, die geringen und mittelmäßigen Veränderungen. Dasselbe oder etwas Ähnliches wie das, was die Ursache des Entstehens der mittelmäßigen und starken Veränderungen ist, vermag also auch die Ursache des Vergehens der geringen und mittelmäßigen Veränderungen zu sein. Daher müßte die Ursache des Entstehens auch die Ursache des Vergehens sein, oder die Ursachen des Vergehens und Entstehens könnten nicht verschiedenartig sein. Es ist aber nicht möglich, daß sowohl das Sein als auch das Nichtsein von irgend etwas auf derselben oder auf einer ähnlichen Ursache beruht. Außerdem kann man sich beim Entstehen der verschiedenen Feuerflammen eine Verschiedenheit der erzeugenden und der vernichtenden Ursachen vorstellen. Wie will man sich aber bei den durch die Verbindung mit der Asche, dem Schnee, den Ätzmitteln, der Sonne, der Erde und dem Wasser veranlaßten, durch die Hitze hervorgerufenen Veränderungen des Brennholzes usw. eine Verschiedenheit der Ursachen des Entstehens und Vergehens vorstellen?2 (Gegner:) Man beobachtet doch, daß siedendes Wasser weniger wird und verschwindet. Was ist dabei die Wirkung der Verbindung mit dem Feuer? (Antwort:) Durch die Verbindung mit dem Feuerstoff wächst die Kraft des (im Wasser enthaltenen) Feuerelements. Durch das Wachsen des Feuerelements wird veranlaßt, daß die Wassermasse im jeweils folgenden Zustand in immer geringerem Ausmaß entsteht, bis sie, ganz gering geworden, sich nicht mehr weiter fortsetzt. Das nennt man dabei die Wirkung der Verbindung mit dem Feuer. Daher hat das Vergehen der Gegebenheiten keine Ursache. Die Gegebenheiten vergehen vielmehr von selbst, weil sie vergänglich sind. Da sie aber von selbst vergehen, vergehen sie, sowie sie entstanden sind. Und durch ihr Vergehen, sowie sie entstanden sind, ist die Ansicht von ihrem augenblicklichen 1
Die durch die Hitze hervorgerufenen Veränderungen werden allmählich immer stärker. Dasselbe Feuer, oder wenn wir die Augenblicklichkeit berücksichtigen, ein ähnliches Feuer wie das, welches die einen Veränderungen hervorgerufen hat, vernichtet sie auch wieder, um die nächsten hervorzurufen.
2
Beim Feuer, das auch der Gegner für augenblicklich hält, kann er die Ursachen des Entstehens und Vergehens in verschiedenen Augenblicken des Feuers sehen. Aber bei den anderen Ursachen der durch die Hitze hervorgerufenen Veränderungen, welche seiner Ansicht nach nicht augenblicklich sind, ist das nicht möglich.
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Vergehen erwiesen. Da sie nun augenblicklich sind, gibt es notwendigerweise keine Bewegung. Die falsche Vorstellung von einer Bewegung entsteht vielmehr bei ihrem Entstehen an verschiedenen unmittelbar aufeinanderfolgenden Orten, gleich der Bewegung der Flamme bei einem Steppenbrand. Auf Grund dieser Beweisführung gibt es also bestimmt keine Bewegung. Wir haben uns im vorhergehenden damit beschäftigt, die philosophischen Grundgedanken darzustellen, welche das System des Sarvästiväda beherrschen. Nun gehen wir dazu über, einen Überblick über die Begriffe zu geben, aus denen sich das Weltbild der Schule aufbaut. Diese Begriffe sind in der Liste der Gegebenheiten (dharmäh) zusammengefaßt. Und da diese Liste in ihrem Kern für alle Schulen typisch ist, gibt sie ein gutes Bild davon, mit welchen Vorstellungen das philosophische Denken der damaligen Zeit arbeitete. Außerdem werden die in ihr zusammengefaßten Gegebenheiten immer wieder bald hier bald dort erwähnt, und so wird eine kurze Wiedergabe gewiß von Nutzen sein. Dabei ist zur Entstehung und Gliederung dieser Liste folgendes zu bemerken. Das bei den Indern so stark ausgeprägte Streben nach Systematik hat schon früh dazu geführt, daß verschiedene philosophische Schulen versuchten, die Grundelemente, aus denen sich nach ihrer Ansicht die Welt zusammensetzt, listenmäßig zusammenzufassen. Dieser Brauch wurde von den späteren Systemen übernommen, und so stellte das Sämkhya seine Reihe der fünfundzwanzig Wesenheiten (tattväni) auf, ebenso wie das Vaisesika die Liste seiner Kategorien {padärthäh). Als daher die buddhistischen Schulen darangingen, ihre Lehre zu vollkommenen Systemen auszugestalten, empfanden auch sie die Notwendigkeit, solche Listen zusammenzustellen, und sie taten es. Dabei wählten die Sarvästivädin folgende Einteilung. Nach ihnen zerfallen sämtliche Gegebenheiten in Vergängliches und Ewiges, wofür man im Anschluß an die althergebrachten Ausdrucksformen des Buddhismus die Bezeichnungen samskrtam (Gestaltetes) und asamskrtam (Nichtgestaltetes) verwendete, die wir als „Verursachtes" und „Nichtverursachtes" übersetzen. Ferner teilte man das Vergängliche oder Verursachte in vier Gruppen, die Materie (rüpam), das Erkennen, oder wie man in diesem Zusammenhang lieber sagte, den Geist (cittarn), die mit dem Geist verbundenen oder geistigen Gegebenheiten (cittasamprayuktä dharmäh oder caittäh) und die vom Geist getrennten Gegebenheiten (cittaviprayuktä dharmäh). Diese Einteilung verwendete man jedoch nicht frei und unbedenklich. Denn man fühlte das Bedürfnis, sich dabei irgendwie an die Worte des Buddha anzulehnen. Im Kanon aber war keine umfassende Einteilung zu finden, die sich verwenden ließ, da der Buddha an dergleichen kein Interesse gehabt hatte. Das einzige, was man an Einteilungen zur Not verwenden konnte, waren zunächst die fünf Gruppen (skandhäh), in welche der Buddha die irdische Persönlichkeit geteilt hatte. Daneben hatte der Buddha, wo er von der Berührung der Sinnesorgane mit ihren Objekten sprach, die sechs Sinnesorgane und ihre sechs Objekte als die zwölf Bereiche (äyatanäni) zusammengefaßt. Schließlich hatte er gelegentlich neben diese zwölf Bereiche die sechs Formen des Erkennens gestellt,
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die aus ihnen entspringen, und hatte sie mit ihnen zur Gruppe der sogenannten achtzehn Elemente (dhätavah) vereinigt. Das war alles, was sich finden ließ, und so zwängte man denn in Ermangelung eines Besseren die Liste der Gegebenheiten in das Prokrustesbett dieser alten Einteilungen, wobei man, soweit es nötig war, ihren ursprünglichen Sinn weiter faßte. Und wir treffen daher in den Werken, welche die Liste der Gegebenheiten enthalten, regelmäßig Versuche, eine Übereinstimmung mit diesen alten Einteilungen herzustellen. Unsere folgende Darstellung lehnt sich wieder an ein Werk Vasubandhus an, das sogenannte Pañcaskandhakam, und zwar wegen der mustergültigen Klarheit und Knappheit, welche dieses Werk auszeichnen. Allerdings handelt es sich dabei um ein Mahäyäna-Werk. Vasubandhu folgt darin der Liste der Gegebenheiten, die der berühmte Yogäcära-Lehrer Asañga aufgestellt hatte. Asanga seinerseits schließt sich in seiner Liste wieder an das System der Hlnayäna-Schule der MahTsäsaka an. Denn er hatte ursprünglich vor seinem Übertritt zum Mahäyäna dieser Schule angehört, und als er später die Dogmatik der Yogäcära-Schule gestaltete, diente ihm ihr System als Vorbild. Letzten Endes geht also die Darstellung in Vasubandhus Pañcaskandhakam auf die Dogmatik der MahTsäsaka zurück. Die Ähnlichkeit mit der Dogmatik des Sarvästiväda ist aber so groß, daß dies weiter nicht stört. Und es genügt daher, wenn wir auf die wichtigsten Abweichungen hinweisen. Vasubandhu bespricht in seinem Werk, wie schon der Name sagt, vor allem die fünf Gruppen (skandhäh). Dann erwähnt er kurz die zwölf Bereiche und die achtzehn Elemente und klärt ihr Verhältnis zu den fünf Gruppen. Den Abschluß bildet die Aufzählung einer Reihe von Bestimmungen, ähnlich wie im ersten Buch des Abhidharmakosah, und die Nennung der Gegebenheiten, denen sie zukommen. Die Besprechung der einzelnen Gegebenheiten verteilt sich auf diese Einteilung folgendermaßen. Die materiellen Gegebenheiten werden bei der Gruppe der Körperlichkeit besprochen, der Geist bei der Gruppe des Erkennens, die geistigen und vom Geist getrennten Gegebenheiten mit Ausnahme der Empfindung und des Bewußtseins, die eigene Gruppen sind, bei der Gruppe der Gestaltungen. Die nichtverursachten Gegebenheiten schließlich finden unter den zwölf Bereichen ihren Platz, und zwar unter dem Bereich der Gegebenheiten. Ich übersetze im folgenden einzelne Stücke des Werkes und gebe anschließend die notwendigen Erklärungen.
Aus dem „Werk über die fünf Gruppen" (.Pañcaskandhakam) Wie der Erhabene zusammenfassend gesagt hat, gibt es fünf Gruppen: 1. die Gruppe der Materie (rüpam), 2. die Gruppe der Empfindung {vedano), 3. die Gruppe des Bewußtseins (samjnä), 4. die Gruppe der Gestaltungen (samskäräh) und 5. die Gruppe des Erkennens (vijnänam).
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Was ist die Gruppe der Materie? Die vier großen Elemente und die von den vier großen Elementen abhängige Materie. Was sind die vier großen Elemente? Das Erdelement, das Wasserelement, das Feuerelement und das Windelement. Was ist das Erdelement? Die Festigkeit. Was ist das Wasserelement? Die Flüssigkeit. Was ist das Feuerelement? Die Hitze. Was ist das Windelement? Die Leichtbeweglichkeit. Was ist die von den vier großen Elementen abhängige Materie? Das Augenorgan, das Gehörorgan, das Geruchsorgan, das Zungenorgan und das Körperorgan, Form, Ton, Geruch, Geschmack, ein Teil des Berührbaren 1 und die Materie der NichtVerständigung (avijñaptih). Was ist das Augenorgan? Die feine Materie, welche die Form zum Gegenstand hat. Was ist das Gehörorgan? Die feine Materie, welche den Ton zum Gegenstand hat. Was ist das Geruchsorgan? Die feine Materie, welche den Geruch zum Gegenstand hat. Was ist das Zungenorgan? Die feine Materie, welche den Geschmack zum Gegenstand hat. Was ist das Körperorgan? Die feine Materie, welche das Berührbare zum Gegenstand hat. Was ist die Form? Das Objekt des Auges; sie zerfällt in Form, welche Farbe, in Form, welche Gestalt, und in Form, welche Verständigung (vijñaptih) ist. Was ist der Ton? Das Objekt des Gehörs; er zerfällt in Ton, der durch die angeeigneten2 großen Elemente verursacht ist, Ton der durch die nichtangeeigneten großen Elemente verursacht ist, und Ton, der durch beide (Arten der) großen Elemente verursacht ist. Was ist der Geruch? Das Objekt des Geruchorgans; er zerfällt in angenehmen Geruch, üblen Geruch und gleichförmigen (= indifferenten) Geruch. Was ist der Geschmack? Das Objekt der Zunge; er zerfällt in süßen, sauren, salzigen, scharfen, bittern und herben Geschmack. Was ist der Teil des Berührbaren? Das Objekt des Körpers; er besteht aus dem übrigen abhängigen Berührbaren außer den vier großen Elementen und zerfällt in Weiches, Hartes, Schweres, Leichtes, Kaltes, Hunger und Durst. Was ist die Materie der NichtVerständigung (avijñaptih)? Eine Materie, die durch Verständigung (vijñaptih) oder Sammlung (samädhih) entsteht und weder sichtbar noch undurchdringlich ist. Diese Darstellung der materiellen Gegebenheiten unterscheidet sich nur unwesentlich von der Lehre der Sarvästivädin und bedarf nach dem, was wir bereits oben (S. 62ff.) über die Lehre von den Elementen gesagt haben, im allgemeinen keiner weiteren Erklärung. Beachtenswert ist die Altertümlichkeit der Liste, deren Zusammenstellung in sehr frühe Zeit zurückgeht und die daher noch die verschiedensten Dinge, wie z. B. Hunger und Durst, als eigene materielle Wesenheiten betrachtet. Die Begriffe der Verständigung und Nichtverständigung gehören der Lehre von den Werken {karma) an. Verständigung ist jede Willensäußerung durch Worte oder Taten, welche Verdienst oder Schuld nach sich zieht. NichtVerständigung liegt vor, wenn jemandem gute oder böse 1 2
Das übrige Berührbare sind die vier großen Elemente. Vgl. S. 55,Anm. 2
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Werke zur Last fallen, ohne daß er zur selben Zeit entsprechende Reden äußert oder Taten vollbringt. Im übrigen fallen diese spitzfindig ausgearbeiteten Vorstellungen aus dem Rahmen der vorliegenden Darstellung und können daher unberücksichtigt bleiben. Es folgt die Reihe der nichtmateriellen Gegebenheiten. Was ist die Gruppe der Empfindung? Die drei Gefühle (anubhavah): 1. Leid, 2. Lust und 3. Weder-Leid-noch-Lust. Lust ist das, bei dessen Vergehen der Wunsch besteht, damit verbunden zu bleiben. Leid ist das, bei dessen Entstehen der Wunsch besteht, davon getrennt zu werden. Weder-Leid-noch-Lust ist das, bei dem beide Wünsche fehlen. Was ist die Gruppe des Bewußtseins? Das Erfassen der verschiedenen Merkmale der Objekte. Was ist die Gruppe der Gestaltungen? Die übrigen geistigen Gegebenheiten, außer der Empfindung und dem Bewußtsein, und die vom Geist getrennten Gestaltungen. Was sind die übrigen geistigen Gegebenheiten? Die Gegebenheiten, welche mit dem Geist verbunden sind. Und welche sind dies? 1. Berührung, 2. Aufmerksamkeit, 3. Empfindung, 4. Bewußtsein und 5. Wille; 1. Begehren 2. Überzeugung, 3. Erinnerung, 4. Sammlung und 5. Einsicht; 1. Glaube, 2. Scheu, 3. Scham, 4. die Wurzel des Guten, Begierdelosigkeit, 5. die Wurzel des Guten, Haßlosigkeit, 6. die Wurzel des Guten, Verblendungslosigkeit, 7. Strebsamkeit, 8. Ausgeglichenheit, 9. Achtsamkeit, 10. Gleichmut und 11. Harmlosigkeit; 1. Begierde, 2. Haß, 3. Hochmut, 4. Nichtwissen, 5. (falsche) Ansicht und 6. Zweifel; 1. Zorn, 2. Groll, 3. Verstellung, 4. Gehässigkeit, 5. Neid, 6. Geiz, 7. Falschheit, 8. Heuchelei, 9. Übermut, 10. Bosheit, 11. Hemmungslosigkeit, 12. Schamlosigkeit, 13. Schlaffheit, 14. Erregtheit, 15. Ungläubigkeit, 16. Trägheit, 17. Nachlässigkeit, 18. Vergeßlichkeit, 19. Zerstreutheit und 20. Unbesonnenheit; 1. Reue, 2. Starrheit, 3. Nachdenken und 4. Überlegen. Von diesen geistigen Gegebenheiten sind fünf allgemein verbreitet, fünf sind an bestimmte Objekte gebunden, elf sind gut, sechs sind Laster, die folgenden sind Nebenlaster und vier sind ungebunden. Es folgen Definitionen der einzelnen geistigen Gegebenheiten, die ohne besonderes Interesse sind und daher wegbleiben können. Im übersetzten Abschnitt sucht Vasubandhu eine möglichst vollständige Zusammenstellung aller geistigen Erscheinungen zu geben. Seine Liste deckt sich dabei fast vollständig mit der Liste der Sarvästivädin, nur die Einteilung ist verschieden. Vasubandhu führt zuerst fünf Gegebenheiten an, die jeden geistigen Vorgang begleiten, dann fünf weitere Gegebenheiten, deren Auftreten durch die Objekte der Erkenntnisvorgänge bedingt ist, und am Schlüsse noch vier, die an keinen bestimmten, moralischen Charakter der geistigen Vorgänge gebunden sind, sondern sowohl neben guten als auch neben bösen oder moralisch unbestimmten geistigen Gegebenheiten auftreten können. Dazwischen stehen drei Gruppen von Gegebenheiten, welche den moralischen Charakter der geistigen Vorgänge bestimmen, und zwar elf gute Gegebenheiten, sechs Laster und zwanzig Nebenlaster. Demgegenüber
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unterscheidet das System der Sarvästivädin nach dem Abhidharmakósah zehn geistige Gegebenheiten von weitem Bereich (mahäbhümikah), welche jeden geistigen Vorgang begleiten und den ersten beiden Gruppen des Paficaskandhakam entsprechen, ferner zehn gute Gegebenheiten von weitem Bereich, sechs Laster von weitem Bereich, zwei schlechte Gegebenheiten von weitem Bereich, eine größere Zahl von Gegebenheiten aus dem Bereich der beschränkten Laster und schließlich wieder wie das Paficaskandhakam vier ungebundene Gegebenheiten. Die Einteilung des Paficaskandhakam ist deutlich klarer und fortgeschrittener. Beiden Einteilungen gemeinsam ist das starke Hervortreten der guten Gegebenheiten und der Laster, was ohne weiteres verständlich ist, da ja die ganze Psychologie dieser Schulen auf das Erlösungsziel gerichtet ist, und der Erklärung des Erlösungsvorganges dienen soll. An die Definitionen der einzelnen geistigen Gegebenheiten schließt sich die Besprechung der vom Geist getrennten Gegebenheiten. Sie beginnt folgendermaßen. Was sind die vom Geist getrennten Gestaltungen? Sie sind bloße Benennungen (prajñaptih), die sich auf verschiedene Zustände der Materie, des Geistes und der geistigen Gegebenheiten gründen, und lassen sich weder eindeutig als verschieden noch als nichtverschieden von diesen betrachten. Und welche sind sie? Die Erlangung (präptih), die Versenkung der Unbewußtheit (asamjnäsamäpattih), die Versenkung der Unterdrückung (nirodhasamäpattih), der Zustand der Unbewußtheit (äsamjnikam), das Lebensorgan (Jïvitendriyam), die Wesensgemeinschaft (nikäyasabhägah), die Geburt, das Alter, die Dauer, die Vergänglichkeit, die Menge der Worte, die Menge der Sätze, die Menge der Laute, die Weltlichkeit (prthagjanatvam) und dergleichen mehr. Nun folgen wieder die Definitionen der einzelnen Gegebenheiten. Die Aufzählung selbst stimmt mit der des Abhidharmakósah überein mit alleiniger Ausnahme der Weltlichkeit, welche die Sarvästivädin nicht anerkennen, sondern als eine Art der Nichterlangung betrachten. Diese Gruppe von Gegebenheiten ist für die Denkweise der Sarvästivädin und für die Altertümlichkeit ihres Systems besonders kennzeichnend. Einerseits zeigt sich das ernste Bestreben, alle Begriffe, mit denen man arbeitete, auf ihre sachliche Grundlage zurückzuführen. Anderseits kommt man über einen primitiven Realismus nicht hinaus, der zu allen diesen Begriffen eine dinghafte Entsprechung in der Außenwelt annimmt. Entstehen und Vergehen der Dinge, ihr Andauern und allmähliches Altern sind durch eigene Gegebenheiten verursacht, die mit ihnen in Verbindung treten und diese Vorgänge veranlassen. Bei der Versenkung der Unbewußtheit und der Versenkung der Unterdrückung handelt es sich um zwei Versenkungsstufen, beim Zustand des Unbewußten um das Dasein in einer Göttersphäre, in denen die geistigen Vorgänge aussetzen. Das wird wieder durch drei besondere Gegebenheiten begründet, die das Auftreten der geistigen Gegebenheiten verhindern. Worte, Sätze und Laute werden ebenfalls für besondere Gegebenheiten angesehen, welche in Verbindung mit einem bestimmten Schall die entsprechenden Erkenntnisvorgänge auslösen. Erlan-
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gung und Wesensgemeinschaft erinnern an Begriffe des Vaisesika, und zwar die Erlangung an die Eigenschaft der Verbindung und die Wesensgemeinschaft an die Kategorie der Gemeinsamkeit. Aber im Gegensatz zum Vaisesika sind sie nicht Seinsformen verschiedener Art, sondern selbständige Gegebenheiten, wie die materiellen oder geistigen Gegebenheiten auch. Außerdem sind sie auf die Lebewesen beschränkt, wo sich ihre Annahme als besonders nötig erwies. Und zwar dient die Erlangung dazu, die Bindung bestimmter Gegebenheiten an irgendeine Person zu erklären. Die Wesensgemeinschaft sollte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Lebewesen begründen. Was die Weltlichkeit betrifft, so unterscheidet der Buddhismus zwischen den Heiligen (äryäh), welche den Erlösungsweg betreten haben, und den weltlichen Menschen, bei denen dies nicht der Fall ist. Den weltlichen Menschen fehlen gewisse Gegebenheiten, deren Besitz den Heiligen ausmacht, und eben dieses Fehlen ist wieder durch eine eigene Gegebenheit verursacht, nämlich die Weltlichkeit. Vasubandhu teilt übrigens diese Anschauungen des Sarvästivada nicht. Und das spricht er auch im ersten Satz dieses Abschnittes aus. Für ihn sind, der Anschauung der Sauträntika und Yogäcära entsprechend, die vom Geist getrennten Gestaltungen keine wirklichen, selbständigen Gegebenheiten, sondern sie existieren bloß der Benennung nach (prajñaptitah). Doch davon werden wir im folgenden noch eingehender sprechen müssen. Der nächste Abschnitt, der nun folgt, behandelt die Gruppe des Erkennens. Sie umfaßt zunächst die sechs Arten des Erkennens, welche den verschiedenen Sinnesorganen entsprechen und welche daher als Augenerkennen, Gehörerkennen, Gerucherkennen, Zungenerkennen, Körpererkennen und Denkerkennen bezeichnet werden. Außerdem fügt Vasubandhu, der Yogäcära-Lehre gemäß, noch das von Lastern begleitete Denken (klistam manah) und das Grunderkennen (älayavijnänam) hinzu, und zwar sind diese beiden Arten des Erkennens die einzigen, auf die er näher eingeht. Da aber gerade diese beiden bei der Darstellung der Yogäcära-Lehre noch zur Sprache kommen werden, können wir hier von einer Behandlung absehen. Damit ist die Darstellung der fünf Gruppen beendet. Aus der nun folgenden Besprechung der zwölf Bereiche und der sechzehn Elemente wollen wir nur noch den Abschnitt über die nichtverursachten Gegebenheiten herausgreifen, der allein von größerem Interesse ist. Er lautet: Was ist das Nichtverursachte? Der Raum (äkäsam), die Unterdrückung ohne Erkenntnis (apratisamkhyänirodhah), die Unterdrückung durch Erkenntnis (pratisamkhyänirodhah) und die Soheit (tathatä). Was ist der Raum? Was der Materie Raum gewährt. Was ist die Unterdrückung ohne Erkenntnis? Eine Unterdrückung, welche keine Trennung (visamyogah) ist. Was bedeutet das? Daß die Gruppen ganz und gar nicht entstehen, ohne daß ein Gegensatz (pratipaksah) zu den Lastern vorhanden ist. Was ist die Unterdrückung durch Erkenntnis? Eine Unterdrückung, welche Trennung ist. Was bedeutet das? Daß die Gruppen ganz und gar nicht entstehen, weil ein Gegensatz zu den Lastern vorhanden ist.
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Was ist die Soheit? Die Natur (dharmatä) der Gegebenheiten, d. h. die Wesenlosigkeit der Gegebenheiten. Von diesen vier nichtverursachten Gegebenheiten kennt der Sarvästiväda nur die ersten drei. Beim Raum ist zu beachten, daß ihn die Sarvästivädin für eine wirklich vorhandene Gegebenheit halten. Erst die Sauträntika und Yogäcära betrachten ihn als bloße Leere. Bei den beiden Unterdrückungen handelt es sich um folgendes. Es kann vorkommen, daß irgendwelche Gegebenheiten im Persönlichkeitsstrom nicht entstehen, weil die Ursachen dafür nicht gegeben sind. Ferner bringt es die Erkenntnis der heiligen Wahrheiten als Gegensatz zum Nichtwissen und den übrigen Lastern mit sich, daß diese im Persönlichkeitsstrom nicht mehr auftreten und daß dieser schließlich vollständig unterbrochen wird. Beides wird nach der Lehre der Sarvästivädin durch eigene Gegebenheiten verursacht, welche durch ihre Verbindung mit dem Persönlichkeitsstrom das Entstehen jener Gegebenheiten verhindern, und welche Unterdrückung ohne Erkenntnis, bzw. Unterdrückung durch Erkenntnis genannt werden. Die letztere ist besonders wichtig und wir werden über sie noch sprechen müssen, denn sie bedingt die Erlösung und wird daher auch als Erlöschen, als Nirväna bezeichnet. Was schließlich die Soheit betrifft, so bedeutet sie das wahre Wesen der Dinge und stellt, wie wir noch sehen werden, im Mahäyäna das höchste Sein dar. Sie ist dem Sarvästiväda fremd. Asañga unterscheidet noch in seinen Listen nach Art der Mahlsäsaka die Soheit der guten, die Soheit der bösen und die Soheit der unbestimmten Gegebenheiten. Erst Vasubandhu hat an deren Stelle die Soheit im allgemeinen gesetzt. Wir haben nun schon mehrfach Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß Vasubandhu von der orthodoxen Lehre der Sarvästivädin abweicht und der Lehre der Sauträntika folgt, und angesichts der großen Bedeutung dieser Lehre besonders für die logisch-erkenntnistheoretische Schule des Buddhismus scheint es am Platz, hier einiges über diese Schule zu sagen. Es liegen verschiedene Nachrichten über Vorläufer der Sauträntika-Schule vor und die ersten Anfänge scheinen in ziemlich frühe Zeit zurückzureichen. Im einzelnen jedoch bleibt diese Entwicklung bisher unklar. Die eigentliche Schule wurde von Kumäraläta begründet, der in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts n. u. Z. im Nordwesten Indiens tätig war. Sein Schüler àrîlâta gab der Schule die grundlegende umfassende Dogmatik. Außerdem ist noch ein zweiter Schüler, Harivarman, erwähnenswert, weil er der einzige Vertreter der Schule ist, von dem sich ein Werk, die Tattvasiddhih („Nachweis der Wahrheit"), erhalten hat. In späterer Zeit neigt vor allem Vasubandhu der Jüngere stark zur Richtung der Sauträntika. Und wenn er auch im einzelnen große Selbständigkeit zeigt, so kommt diese Neigung, vor allem in seinem Kommentar zum Abhidharmakosah, doch so stark zum Ausdruck, daß er von seinen Gegnern im Lager der orthodoxen Sarvästivädin kurz als „der Sauträntika" bezeichnet wurde. Über ein Weiterleben der Schule ist vorläufig nichts bekannt, doch hat sie stark auf die logisch-erkenntnistheoretische Schule eingewirkt, und manches von ihrem Gedankengut hat hier weitergelebt.
Die Schule der Sautrantika
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Die Sautrantika werden gern im Gegensatz zum Realismus des Sarvästiväda als Nominalisten bezeichnet. Und das ist berechtigt, da sie von vielen Gegebenheiten der Sarvästivädin erklären, daß sie nur der Benennung nach (prajñaptitah) existieren. Natürlich leugnen sie damit keineswegs jede reale Grundlage dieser Benennungen. Sie gehen nur systematisch über den primitiven Realismus des Sarvästiväda hinaus. Den Raum z. B. betrachten sie als bloße Leere und die Unterdrückungen als reine Vernichtung. Oft finden sie aber auch die Benennungen im Wesen der Dinge begründet, und vor allem die Kräfte (saktayah) der Dinge spielen dabei eine Rolle, was die logische Schule dann weiter ausgebaut hat. Als Probe für diese Gedankengänge lege ich zunächst einen Text vor, der zeigt wie es zu verstehen ist, daß etwas bloß der Benennung nach existiert. Dann folgt die Erörterung der Erlangung (präptih) als Beispiel für die Behandlung der von den Dogmatikern des Sarvästiväda gelehrten Begriffe. Schließlich werden wir noch bei der Darstellung der Erlösungslehre auf die Auffassung des Nirväna bei den Sautrantika zu sprechen kommen. Der erste Text ist aus dem 6. Buch des Abhidharmakosah genommen und behandelt die Frage des scheinbar oder beschränkt Wirklichen (samvrtisat) und des wahrhaft Wirklichen (paramärthasat). Diese beiden Begriffe haben im Mahäyäna, wie wir noch sehen werden, große Bedeutung und dienen dazu, die Erscheinungswelt und das wahre Sein zu kennzeichnen. Der vorliegende Text zeigt demgegenüber einen Versuch des Hinayäna, sich mit diesen Begriffen auseinanderzusetzen, wobei sie natürlich der eigenen Lehre entsprechend ganz anders aufgefaßt werden. Sie werden nämlich hier dazu verwendet, innerhalb der Erscheinungswelt selbst eine Unterscheidung zu treffen, und zwar zwischen Dingen, welche nur der gewöhnlichen Auffassung nach existieren, und zwischen Dingen, die als solche wirklich sind. Bei den ersteren handelt es sich um Dinge, welche aus einer Zusammensetzung bestehen, und wo daher die Worte und Vorstellungen keine genaue dinghafte Entsprechung haben. Es handelt sich also um einen ähnlichen Fall, wie im Vaisesika und den verwandten Systemen, wo man sich gescheut hatte, bei rein äußerlichen Vereinigungen von Dingen, wie bei einem Wald oder bei einem Heer, ein Ganzes oder eine Gemeinsamkeit als Grundlage der betreffenden Worte und Vorstellungen anzunehmen. Nur ging man hier viel weiter. Man dehnte die gleiche Anschauung auf alle Fälle aus, wo es sich um eine Verbindung von Teilen handelt, bei der die Worte und Vorstellungen an eben dieser Verbindung und ihrer Form haften und bei der Auflösung der Verbindung und dem Verschwinden der Form nicht mehr darauf bezogen werden. So wie man z. B. nach der Zertrümmerung eines Topfes nur mehr von Scherben, aber nicht mehr von einem Topf spricht. Ja, man ging sogar so weit, alle Fälle mit einzubeziehen, wo man eine Verbindung verschiedener Dinge voraussetzte, auch wenn man sie nicht praktisch, sondern nur in Gedanken zu zerlegen vermochte. Einen solchen Fall sah man z. B. in dem, was man im gewöhnlichen Leben fur Elemente ansieht, Wasser, Feuer usw., was die buddhistischen Schulen aber als eine Mischung verschiedenartiger Atome betrachteten. In allen diesen Fällen nahm man also
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an, daß keine wirklichen Dinge vorhanden sind, welche den Worten und Vorstellungen entsprechen. Diese Dinge bestehen vielmehr nur scheinbar, nur nach der Auffassung des gewöhnlichen Lebens. Wirklich sind nur ihre Bestandteile. Damit hatte man aber mit dem grundsätzlichen Realismus gebrochen, der für alle Worte und Vorstellungen ein wirkliches Korrelat verlangt. Und auf dieser Anschauung fußt die Lehre von Dingen, welche nur der Benennung nach existieren (prajñaptisat).
Das scheinbar und das wahrhaft Wirkliche (Abhidharmakosah VI, v. 4) Der Erhabene hat also gesagt, daß es vier Wahrheiten gibt. In einem andern Sütra wieder hat er gesagt, daß es zweierlei Wahrheit gibt, die beschränkte Wahrheit (samvrtisatyam) und die höchste Wahrheit (paramärthasatyam). Welches ist das Merkmal dieser beiden Wahrheiten? Der Verstext sagt: (v. 4) wenn sich die Erkenntnis eines Gegenstandes nicht mehr einstellt, sobald er zertrümmert ist oder sobald man durch das Denken das Andersartige aussondert, dann ist er scheinbar wirklich (samvrtisat), wie ein Topf oder Wasser. Das Gegenteil davon ist wahrhaft wirklich (paramärthasat). Wenn sich die Erkenntnis eines Gegenstandes nicht mehr einstellt, sobald er zertrümmert ist, dann ist dieser Gegenstand als scheinbar wirklich zu betrachten, so wie ein Topf, bei dem sich, wenn er zertrümmert ist und nur die Scherben vorhanden sind, die Erkenntnis des Topfes nicht mehr einstellt. Das gleiche gilt bei einem Tuch usw. Wenn sich ferner bei einem Gegenstand, sobald man durch das Denken das Andersartige aussondert, seine Erkenntnis nicht mehr einstellt, dann ist er ebenfalls scheinbar wirklich, so wie Wasser, bei dem sich, wenn man durch das Denken die Form usw. aussondert, die Erkenntnis des Wassers nicht mehr einstellt. Das gleiche gilt beim Feuer usw. Solange nun bei dem betreffenden Gegenstand die Zertrümmerung oder Aussonderung noch nicht stattgefunden hat, bezeichnet man ihn der gewöhnlichen Denk- und-Sprechweise zufolge als solchen, und weil man ihn so bezeichnet, heißt er scheinbar wirklich. Wenn man ferner dem gewöhnlichen Gebrauch gemäß vom Vorhandensein eines Topfes usw. spricht, so ist das wahr und nicht falsch; und daher spricht man von scheinbarer Wahrheit. Wenn ein Gegenstand das Gegenteil davon ist, dann nennt man ihn wahrhaft wirklich. Die Erkenntnis dieses Gegenstandes schwindet nämlich nicht, wenn man ihn zertrümmert, und wenn man durch das Denken das Andersartige aussondert, besteht seine Erkenntnis weiter. Daher ist dieser Gegenstand als wahrhaft wirklich zu betrachten. So wie die Form (rüpam) usw., bei der, wenn man sie bis auf die Atome zerteilt, oder wenn man durch das Denken das Andersarti-
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ge, wie den Geruch usw., aussondert, ihre Erkenntnis dauernd weiterbesteht. Das gleiche gilt von der Empfindung usw. Weil nun der (betreffende Gegenstand) vollkommen wirklich ist, heißt er wahrhaft wirklich. Wenn man ferner auf das wahrhaft Wirkliche gestützt vom Vorhandensein der Form usw. spricht, so ist das wahr und nicht falsch. Und daher spricht man von höchster Wahrheit. Die alten Meister geben folgende Erklärung: Wie die Gegebenheiten durch das überirdische Wissen und das anschließend daran erworbene richtige irdische Wissen erfaßt werden, heißen sie wahrhaft wahr. Und wie sie durch jedes andere Wissen erfaßt werden, heißen sie scheinbar wahr. Damit ist die Erörterung der Wahrheiten beendet. Der nächste Abschnitt zeigt, wie die Begriffe der Sarvästivädin von den Sautrantika in ihrem Sinn umgedeutet wurden. Er stammt aus dem 2. Buch des Abhidharmakosah und handelt von der Erlangung (präptih). Diese ist nach der Lehre der Sarvästivädin eine eigene Wesenheit, welche bestimmte Gegebenheiten, vor allem Laster und gute Gegebenheiten, an einen Persönlichkeitsstrom bindet. Sie verursacht dadurch, daß diese Gegebenheiten zur gegebenen Zeit in diesem Persönlichkeitsstrom auftreten, und bestimmt auch außerhalb dieser Zeit, während diese Gegebenheiten nicht in Tätigkeit sind, den Charakter des Menschen, so daß er demzufolge als lasterhaft oder tugendhaft gilt. Im Gegensatz zu dieser Lehre bemüht sich Vasubandhu im Sinne der Sautrantika zu zeigen, daß es eine solche Erlangung genannte Wesenheit nicht gibt. Die erwähnten Tatsachen beruhen seiner Ansicht nach vielmehr auf einer bestimmten Beschaffenheit des Persönlichkeitsstromes, welche gleichsam den Samen der betreffenden Gegebenheit darstellt und ihn befähigt, sie zur gegebenen Zeit hervorzubringen. Auf diese Beschaffenheit bezieht es sich also auch, wenn man von einer Erlangung spricht. Und daher besteht diese nur der Benennung nach, aber nicht wirklich als eigene Wesenheit.
Das Wesen der Erlangung (Abhidharmakosah II, v. 36) Wieso kann man behaupten, daß es ein eigenes Ding (dravyam) namens Erlangung (präptih) gibt? ... Denn da weder ihr eigenes Wesen wahrgenommen wird, wie bei der Form, dem Ton usw. oder bei der Begierde, dem Haß usw., noch ihre Wirkung, wie beim Auge, beim Gehör usw., sind die Eigenschaften eines Dinges nicht gegeben und sie ist daher nicht möglich. 1
1
Die Mittel richtiger Erkenntnis sind Wahrnehmung und Schlußfolgerung. Die Erlangung wird aber weder wahrgenommen wie die Form usw. noch erschlossen, wie das Auge usw.
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Die Dogmatik des Hïnayâna
(Gegner:) Erlangung nennt man die Ursache des Entstehens der Gegebenheiten. (Antwort:) Dann könnte es sie bei Nichtverursachtem nicht geben. 1 Und wie könnten außerdem Gegebenheiten entstehen, welche man noch nicht erlangt hat, oder welche man durch Wechsel der Sphäre oder durch Leidenschaftslosigkeit abgetan hat?2 (Gegner:) Die zugleich entstehende Erlangung ist ihre Ursache. (Antwort:) Was bewirkt dann die Geburt (jätih) oder die Geburt der Geburt (jätijätih)?3 Ferner wäre bei Menschen, welche sämtliche Fesseln tragen, eine Verschiedenheit der entstehenden Laster, die gering, mittelmäßig oder stark sind, nicht möglich, da doch (ihre Ursache) die Erlangung nicht verschieden ist. Oder sie entstehen aus dem, woraus diese Verschiedenheit hervorgeht. Daher ist die Erlangung nicht die Ursache des Entstehens. (Gegner:) Wer sagt, daß die Erlangung die Ursache des Entstehens ist? (Antwort:) Was ist sie denn? (Gegner:) Sie ist die Ursache der Unterscheidung. Wenn es nämlich keine Erlangung gäbe, dann wäre bei Heiligen, welche weltliche Gedanken hegen, und bei Weltmenschen die Unterscheidung: „Das sind Heilige und das sind Weltmenschen" nicht möglich. (Antwort:) Diese (Unterscheidung) kann auch auf der Verschiedenheit beruhen, daß man die Laster abgelegt hat oder nicht abgelegt hat. (Gegner:) Und wie ist es möglich zu sagen, daß die einen die Laster abgelegt haben und daß die andern die Laster nicht abgelegt haben? Wenn dagegen eine Erlangung vorhanden ist, dann ergibt sich dies daraus, daß diese verschwunden ist oder nicht verschwunden ist. (Antwort:) Es ergibt sich aus der Verschiedenheit des Trägers (d. h. des Persönlichkeitsstromes). Bei den Heiligen ist nämlich der Träger durch den Weg des Schauens und der Betrachtung 4 so umgestaltet, daß die dadurch abzulegenden Laster nicht mehr wiedererstehen können. Wenn nun ein Träger gleich einem vom Feuer verbrannten Reiskorn auf diese Weise so geworden ist, daß er nicht mehr Same der Laster sein kann, oder wenn durch den weltlichen Weg seine Fähigkeit, Same zu sein, beeinträchtigt ist, dann sagt man, daß er die Laster abgelegt hat; im gegenteiligen Falle sagt man, daß er sie nicht abgelegt hat. Wer sie abgelegt hat, von dem sagt man, daß er sie nicht besitzt, wer sie nicht abgelegt hat, von dem sagt man, daß er sie besitzt. Was ferner die guten Gegebenheiten betrifft, so sind sie zweifach, ohne Bemühung entstanden und durch Bemühung entstanden, d. h. solche, die man von Geburt an besitzt, und solche, die durch Anstrengung erworben werden. Dabei sagt man, daß jemand die ohne Bemühung entstandenen besitzt, wenn die 1
Nach der Lehre der Sarvästivädin treten die nichtverursachten Gegebenheiten, Unterdrückung durch Erkenntnis und Unterdrückung ohne Erkenntnis, durch die Erlangung in Verbindung mit dem Persönlichkeitsstrom. Das wäre aber im angenommenen Falle nicht möglich, da Nichtverursachtes nicht entstehen kann.
2
Da vor ihrer Entstehung auch keine Erlangung da ist, die sie verursachen könnte.
3
Nach der Lehre der Sarvästivädin ist die Gegebenheit Geburt (jätih) die Ursache des Entstehens der Dinge (s. S. 71 f.), und deren Ursache ist wieder die Geburt der Geburt.
4
Vgl. die unten folgende Darstellung der Erlösungslehre.
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Fähigkeit des Trägers, ihr Same zu sein, nicht beeinträchtigt ist; wenn sie beeinträchtigt ist, sagt man, daß er sie nicht besitzt. Dann sind die Wurzeln des Guten durchschnitten. Und zwar soll man wissen, daß dies durch falsche Ansicht geschieht. Übrigens wird die Fähigkeit, Same der guten Gegebenheiten zu sein, im Persönlichkeitsstrom nie vollständig vernichtet. Bei den durch Bemühung entstandenen (Gegebenheiten) wiederum sagt man, daß sie jemand besitzt, wenn sie einmal entstanden sind und die Fähigkeit des Persönlichkeitsstromes, sie beliebig hervorzurufen, keiner Hemmung unterliegt. Der Same also, der nicht vollständig beseitigt ist, nicht beeinträchtigt ist und zur Zeit, wo sich die Fähigkeit auswirkt, kräftig ist, der ist es, der die Bezeichnung Besitz (= Erlangung) erhält, und kein eigenes Ding. (Gegner:) Was ist dieser sogenannte Same? (Antwort:) Name und Form, insofern sie infolge einer besonderen Umgestaltung des Augenblicksstromes fähig sind, unmittelbar oder mittelbar eine bestimmte Wirkung hervorzubringen. (Gegner:) Was ist diese sogenannte Umgestaltung? (Antwort:) Das Anderswerden des Augenblicksstromes. (Gegner:) Und was ist dieser sogenannte Augenblicksstrom? (Antwort:) Die den drei Zeitstufen angehörigen Gestaltungen, insofern sie im Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen ... Daher ist die Erlangung und ihre Verneinung, die Nichterlangung, auf jeden Fall nur eine Gegebenheit der Benennung nach, aber keine dinghafte Gegebenheit. Es bleibt uns zum Schluß noch die Aufgabe, wenigstens kurz zu besprechen, welche Ausgestaltung die Erlösungslehre im HInayäna erhalten hat. Denn bei der zentralen Stellung der Erlösungslehre im Buddhismus wird immer wieder auf sie Bezug genommen. Und überdies rührt die Frage nach dem Wesen der Erlösung an die entscheidendsten philosophischen Probleme. Bei den Sarvästivädin hat nun die Erlösungslehre im Laufe der Zeit im Wege einer Entwicklung, die wir hier nicht eingehender verfolgen können, folgende Form angenommen. Die Wesen sind seit anfangsloser Zeit in den qualvollen Wesenskreislauf verstrickt und wandern durch die Kraft der Werke (karma) getrieben ruhelos von Geburt zu Geburt. Die Werke üben jedoch ihre Kraft nur aus, wenn sie moralisch bestimmt sind. Sonst sind sie unwirksam. Die moralische Bestimmtheit ergibt sich aus ihrer Verbindung mit den guten und bösen geistigen Gegebenheiten, vor allem mit den Lastern. Wer also die Erlösung aus dem Leid des Wesenskreislaufes anstrebt, muß zuerst die Laster beseitigen. Dann verlieren die Werke ihre Kraft und der Wesenskreislauf findet ein Ende. Zur Aufhebung der Laster fuhrt der Erlösungsweg, der im intuitiven Erschauen der vier heiligen Wahrheiten gipfelt. Nach verschiedenen vorbereitenden Übungen, zu denen z. B. auch das bedachtsame Ein- und Ausatmen zählt, beginnt man mit den vier Erweckungen der Wachsamkeit (smrtyupasthänäni), die schon im ältesten Buddhismus eine große Rolle spielen. Es folgen die der Durchdringung förderlichen Gegebenheiten (nirvedhabhägiyäni), bei denen man in vier Stufen die geoffenbarten vier heiligen Wahrheiten immer eindringlicher betrachtet. Sie münden schließlich in das eigene unmittelbare Erschauen
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Die Dogmatik des Hînayâna
(abhisamayah) dieser Wahrheiten. Damit beginnt der Erlösungsweg im engeren Sinn, der die Beseitigung der Laster herbeifuhrt, und zwar zunächst der Weg des Schauens (darsanamärgah). Nach der Dogmatik gliedert sich dieser Vorgang des Erschauens der heiligen Wahrheiten in sechzehn Augenblicke. Bei jeder Wahrheit werden nämlich zunächst in einem Augenblick die ihrer Erkenntnis entgegenstehenden Laster beseitigt, dann erwirbt man in einem zweiten Augenblick die Erlangung {präptih), also den festen Besitz dieser Erkenntnis. Und da außerdem bei jeder Wahrheit die Erkenntnis hinsichtlich der untersten Weltensphäre, der Sphäre der Begierde, von der Erkenntnis hinsichtlich der beiden höheren Sphären, der Sphäre des Materiellen und der Sphäre des Nichtmateriellen, unterschieden wird, ergibt sich insgesamt für alle vier Wahrheiten die Zahl von sechzehn Augenblicken. Bemerkenswert und für den nüchternen Geist der Schule kennzeichnend ist dabei, daß der Weg des Schauens nicht unbedingt die Übung der vom Buddha gelehrten Versenkungsstufen voraussetzt und daß das Erschauen der heiligen Wahrheiten selbst trotz seinem übernatürlichen hellsichtigen Charakter auf einer Vorstufe dieser Versenkungsstufen erfolgen kann. Mit dem Erschauen der heiligen Wahrheiten ist der wichtigste Teil des Erlösungsweges zurückgelegt. Der Jünger ist nunmehr ein Heiliger (äryah) geworden, während er früher ein Weltmensch (prthagjanah) war. Die Erlösung ist aber damit noch nicht gewonnen. Es gibt nämlich zweierlei Laster. Die einen bestehen in mangelhafter Erkenntnis, die andern sind Leidenschaften, eine Unterscheidung, die bereits in der Lehre des Buddha eine Entsprechung hat, wo in der zwölfgliedrigen Ursachenkette das Leiden auf zwei Wurzeln zurückgeführt wird, auf das Nichtwissen und den Durst. Von diesen beiden Gruppen kann nun die mangelhafte Erkenntnis durch das Erschauen der heiligen Wahrheiten beseitigt werden, die Leidenschaften dagegen nicht. Man hatte nämlich erkannt, daß gegen die Leidenschaften die bloße Erkenntnis unwirksam ist. Sie müssen vielmehr durch gewohnheitsmäßige dauernde Beeinflussung bekämpft werden. Demgemäß unterschied man beim Erlösungsweg neben dem Weg des Schauens, welcher das Nichtwissen beseitigt, einen Weg der Betrachtung (bhävanämärgah), welcher der Bekämpfung der Leidenschaften dienen soll. Dieser Weg der Betrachtung ist selbst wieder zweifach. Für den Heiligen, der die heiligen Wahrheiten bereits geschaut hat, besteht er in einer wiederholten Betrachtung der heiligen Wahrheiten, welche allmählich auch auf die Leidenschaften wirkt und sie vernichtet. Die Bekämpfung der Leidenschaften ist aber nicht nur dem Heiligen möglich. Wohl kann die Beseitigung des Nichtwissens nur durch die Erkenntnis der heiligen Wahrheiten erfolgen. Aber die Leidenschaften kann und soll auch der Weltmensch bekämpfen. Es gibt daher neben dem überweltlichen (lokottarah) Weg, den der Buddha gelehrt hat, auch einen weltlichen (laukikah) Weg der Betrachtung, indem man ζ. B. unabhängig von der Verkündigung des Buddha das Leid des Daseins betrachtet und sich so von der Welt abwendet. Dieser weltliche Weg der Betrachtung kann aber auch vor dem Weg des Schauens betreten werden. Ja der Buddha selbst ist das hervorragendste Beispiel dafür. Denn er hatte vor der Erleuchtung auf dem weltlichen
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Weg der Betrachtung bereits alle Leidenschaften vollständig ausgerottet, so daß ihm im Augenblick der Erleuchtung die Erkenntnis der heiligen Wahrheiten zugleich auch die Erlösung brachte. Auf diesem doppelten Weg, dem Weg des Schauens und dem Weg der Betrachtung, mag dieser nun der weltliche oder der überweltliche sein, ist es also möglich, sämtliche Laster zu vernichten. Mit der Vernichtung der Laster verlieren dann die Werke ihre Wirksamkeit und die Erlösung stellt sich ein. Nun erhebt sich aber die Frage: Was ist die Erlösung, oder wie sie der Buddha nennt, das Erlöschen, das Nirvana? Gerade in der Beantwortung dieser Frage zeigt sich nun deutlicher als irgendwo der nüchterne realistische Geist, der die Scholastik des Sarvästiväda kennzeichnet, gleichzeitig aber auch die bedenkenlose Folgerichtigkeit, mit der man am einmal eingeschlagenen Weg festhielt und ihn zu Ende ging. Ein unfaßbares höchstes Sein kennt der aller Mystik abgekehrte Geist der Schule nicht. Das Nirväna muß also wie jeder andere Gegenstand des Erkennens eine dinghafte Gegebenheit sein. So fordert es die Logik des Systems. Wie aber ist diese Gegebenheit genauer zu bestimmen? Dafür waren wieder die zahlreichen Schriftstellen maßgebend, welche das Nirväna als Aufhebung des Leidens und Schwinden der Begierde kennzeichnen. Das Nirväna muß also etwas sein, das die Begierde aus dem Persönlichkeitsstrom ausmerzt und das Entstehen weiterer leidvoller Gegebenheiten verhindert. Damit konnte aber das Denken schon wieder in gewohnte Bahnen einlenken. Man kannte eine Gegebenheit Erlangung (präptih), welche die Zugehörigkeit bestimmter Gegebenheiten zum Persönlichkeitsstrom verursacht. Als Ursache der Nichtzugehörigkeit galt eine zweite Gegebenheit, die Nichterlangung (apräptih). Nichts lag daher näher als anzunehmen, daß das Nirväna eine ähnlich geartete Gegebenheit ist, deren Verbindung mit dem Persönlichkeitsstrom dazu führt, daß die Laster und alle lasterhaften Gegebenheiten daraus ausgeschieden werden und später nicht mehr darin auftreten können. Und so wurde denn das Nirväna auch tatsächlich bestimmt. Ein Unterschied ergab sich nur insofern, als man es zu den nichtverursachten Gegebenheiten rechnete, und nicht zu den verursachten. Aber dazu nötigten die zahlreichen Schriftstellen, welche das Nirväna als ewig und unvergänglich bezeichnen. So ergibt sich also die uns merkwürdig anmutende Tatsache, daß nach der Dogmatik des Sarvästiväda die Erlösung, das Nirväna, nichts anderes ist als eine Gegebenheit wie die übrigen auch, die mit dem Persönlichkeitsstrom in Verbindung tritt und so ihre Wirkung ausübt. Dieser Auffassung des Nirväna sind wir bereits im Pañcaskandhakam Vasubandhus begegnet, wo es unter den nichtverursachten Gegebenheiten unter dem Namen der Unterdrückung durch Erkenntnis (pratisamkhyänirodhah) erscheint. Und die gleiche Lehre findet sich auch im Abhidharmakosah. Danach ist das Nirväna eine nichtverursachte Gegebenheit, welche den Namen Unterdrückung durch Erkenntnis führt, weil sie auf Grund der Erkenntnis der heiligen Wahrheiten das Verschwinden der Laster verursacht. Sie wird als Trennung (visamyogah) bestimmt, weil sie die Laster und die lasterhaften Gegebenheiten aus dem Persönlichkeitsstrom ausscheidet. Schließlich ist noch zu bemerken, daß
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es nicht bloß eine solche Unterdrückung durch Erkenntnis gibt, sondern so viele, als Laster aus dem Persönlichkeitsstrom auszuscheiden sind, weil sonst mit dem Ausscheiden eines Lasters alle ausgeschieden werden müßten und damit bereits die Erlösung gewonnen wäre. Die Stelle des Abhidharmakosah, welche diese Lehre von der Unterdrückung durch Erkenntnis enthält, hat folgenden Wortlaut.
Die Unterdrückung durch Erkenntnis (.Abhidharmakosah I, v. 6) Die Unterdrückung durch Erkenntnis ist Trennung (visamyogah). Die Unterdrückung durch Erkenntnis ist die Trennung von den befleckten (säsravah) Gegebenheiten. Die Erkenntnis ist das Erkennen der heiligen Wahrheiten vom Leiden usw., also eine Form der Einsicht (prajña). Die dadurch erlangte Unterdrückung ist die Unterdrückung durch Erkenntnis ... (Frage:) Ist die Unterdrückung durch Erkenntnis bei allen befleckten Gegebenheiten eine und dieselbe? (Antwort:) Nein. Was ist sie denn? (Sie ist) in jedem Fall verschieden. Es gibt ebensoviel trennende Dinge, als es verbundene Dinge gibt, denn sonst würde aus der Verwirklichung der Unterdrückung der durch das Schauen des Leidens zu beseitigenden Laster die Verwirklichung der Unterdrückung sämtlicher Laster folgen. In diesem Falle wäre aber das Üben der übrigen Gegensätze (pratipaksäh)' zwecklos. (Einwand:) Es heißt doch: Die Unterdrückung ist ohnegleichen (asabhägah). Was bedeutet das? (Antwort:) Dieser Ausspruch bedeutet, daß sie keine gleichartige Ursache (sabhägahetuh) hat, und daß sie selbst nicht die gleichartige Ursache von etwas anderem ist, (er bedeutet) aber nicht, daß es überhaupt nichts gibt, was ihr gleichartig wäre. Damit ist die Unterdrükkung durch Erkenntnis besprochen. Diese eigentümliche Auffassung der Sarvästivädin vom Wesen des Nirväna wurde allerdings von den anderen Schulen nicht geteilt. Sie hat zwar, wie das System der Sarvästivädin durchweg, auch außerhalb der Schule ihre Wirkung geltend gemacht, aber die Abweichungen in der Auffassung der anderen Schulen waren mannigfaltig und teilweise beträchtlich. Auch die Sauträntika wichen, wie in so vielen anderen Fällen, in diesem Punkt von der Lehre der Sarvästivädin ab. Und auf ihre Ansicht wollen wir etwas näher eingehen. Die Ansicht der Sauträntika vom Wesen des Nirvana ergibt sich folgerichtig aus ihrer allgemeinen Einstellung. Sie gehen, wie meist, von der Anschauung der Sarvästivädin aus und formen diese dann in ihrem Sinne um. Das Nirvana ist also auch für sie Unterdrückung durch Erkenntnis. Aber sie geben 1
D. h. der übrigen den Lastern entgegenwirkenden Gegebenheiten.
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sich mit dem primitiven Realismus des Sarvästiväda nicht zufrieden, der in dieser Unterdrückung eine eigene Wesenheit sieht, sondern bestimmen sie selbständig nach ihrer Art. Nun besteht die Unterdrückung durch Erkenntnis darin, daß die Laster und lasterhaften Gegebenheiten in Zukunft nicht mehr entstehen. Ein Nichtentstehen ist aber ein bloßes Nichtsein. So folgerten sie, daß das Nirvana ein Nichtsein, ein bloßes Nichts ist, und sie scheuten sich auch nicht, dies klipp und klar auszusprechen. Diese Lehre der Sauträntika ist in einer langen Auseinandersetzung im zweiten Buch des Abhidharmakosah behandelt, in der Vasubandhu zuerst die Lehre der Sauträntika kurz wiedergibt und sie dann gegen die Einwände der Sarvästivädin verteidigt, und von dieser Auseinandersetzung wollen wir einige Proben wiedergeben. Die Gegner arbeiten dabei zum Teil in der gewohnten Weise mit Stellen aus den heiligen Schriften. Schwierigkeiten bereitet ihnen vor allem das Problem, wieso ein Nichtsein Gegenstand der Erkenntnis sein kann und wieso Aussagen darüber möglich sind.
Das Nirväna als ein Nichtsein (Abhidharmakosah //, v. 55) Die Sauträntika-Lehrer sagen: Alles Nichtverursachte (asamskrtam) ist nicht wirklich vorhanden, weil es nicht wie Form, Empfindung usw. ein gesondertes wirkliches Ding ist... Wenn die bereits entstandene Belastung (anusayah) und Geburt vernichtet ist und durch die Kraft der Erkenntnis eine neue nicht mehr entsteht, so nennt man dies Unterdrückung durch Erkenntnis ... (Einwand:) Wenn das Nirväna ein bloßes Nichtentstehen ist, wie läßt sich dann der Wortlaut des Sütram damit vereinbaren? Das Sütram sagt nämlich: „Wenn man die fünf Vermögen (indriyäni) übt, pflegt und fordert, führen sie zum Abstoßen des vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen Leidens." Dieses Abstoßen ist das Nirväna. Nun läßt sich ein Nichtentstehen nur bei etwas Zukünftigem denken, aber nicht bei etwas Vergangenem und Gegenwärtigem. Wieso besteht also kein Widerspruch? (Antwort:) Wenn auch dieser Wortlaut vorliegt, so besteht doch dem Sinn nach kein Widerspruch. Das Sütram besagt nämlich sinngemäß, daß man die Laster abstößt, welche auf dem vergangenen und gegenwärtigen Leiden beruhen, und deshalb heißt es Abstoßen des Leidens. Dementsprechend hat auch der Erhabene gesagt: „Ihr sollt die Begierde nach der Form abstoßen. Wenn ihr die Begierde abstoßt, so heißt dies Abstoßen der Form und Verstehen der Form" usw. in der gleichen Weise bis zum Erkennen.1 Ebenso ist also das Abstoßen des vergangenen und gegenwärtigen Leidens zu verstehen ... 1
D. h. dasselbe wird im gleichen Wortlaut von den übrigen Gruppen gesagt.
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(Einwand:) Wenn die nichtverursachten Gegebenheiten ihrem Wesen nach überhaupt nicht sind, warum sagt dann das Sütram: „Von allen Gegebenheiten, die es gibt, seien sie verursacht oder nichtverursacht, ist die Begierdelosigkeit1 weitaus die erste?" Wieso kann eine nichtseiende Gegebenheit unter nichtseienden als die erste hingestellt werden? (Antwort:) Wir sagen auch nicht, daß die nichtverursachten Gegebenheiten ihrem Wesen nach überhaupt nicht sind. Sie müssen vielmehr sein, wie wir etwas (von ihnen) aussagen. So sagt man ζ. B., daß es ein früheres Nichtsein und ein späteres Nichtsein eines Tones gibt. Dagegen kann man aber nicht sagen, daß das Nichtsein existiert und daß daher die Ansicht von seinem Vorhandensein erwiesen ist. Wenn man also vom Sein des Nichtverursachten spricht, so ist dies ebenso aufzufassen. Man kann daher auch ein Nichtsein loben. Begierdelosigkeit nennt man nämlich das vollkommene Nichtsein alles Schädlichen. Und dieses ist unter allem Nichtsein, das es gibt, das vorzüglichste. Man soll es daher als das Erste loben, um bei den Jüngern Freude und Wohlgefallen daran hervorzurufen. (Einwand:) Wenn die nichtverursachten Gegebenheiten ein bloßes Nichtsein darstellen, dann kann man (das Nirväna) nicht als die heilige Wahrheit von der Aufhebung (des Leidens) bezeichnen, weil es nicht ist. (Antwort:) Was bedeutet zunächst der Ausdruck heilige Wahrheit?2 Bedeutet dieser Ausdruck nicht etwas Nichtirriges? Die Heiligen sehen Sein und Nichtsein nicht irrig. Die Heiligen sehen nämlich im Leiden nur Leiden und sie sehen im Nichtsein des Leidens nur das Nichtsein. Was ist also bei dieser Auffassung der heiligen Wahrheiten anstößig? (Frage:) Wieso kann man dieses Nichtsein als dritte Heilige Wahrheit hinstellen? (Antwort:) Weil es die Heiligen unmittelbar nach der zweiten sehen und lehren, ergibt es sich, daß es die dritte ist. (Einwand:) Wenn die nichtverursachten Gegebenheiten ihrem Wesen nach ausschließlich nicht sind, dann müßte die Erkenntnis des Äthers oder des Nirvanas sich auf ein Nichtsein als Objekt stützen. (Antwort:) Darin, daß sie sich auf ein Nichtsein als Objekt stützt, liegt kein Fehler. Das soll bei der Erörterung der Vergangenheit und Zukunft noch untersucht werden.3 (Gegner:) Welchen Nachteil hat es, wenn wir annehmen, daß das Nichtverursachte ein eigenes wirkliches Sein hat? (Antwort:) Welchen Vorteil hat es denn? (Gegner:) Wenn wir es annehmen, dann ist die Lehre der Vaibhäsika gerettet. Das ist der Vorteil. (Antwort:) Mögen die Götter wissen, ob sie (diese Lehre) retten wollen, wenn sie überhaupt zu retten ist. Wenn ihr aber annehmt, daß (das Nichtverursachte) wirklich ist, so ist das eine leere Einbildung, und das ist der Nachteil. Wieso? Es hat nämlich weder ein eigenes Wesen, welches wahrgenom-
1
D. h. das Nirvana.
2
Die Dogmatik des Sarvästiväda pflegt die heiligen Wahrheiten mit ihrem konkreten Inhalt gleichzusetzen. Die Sauträntika betrachten im Gegensatz zu den Sarvästivädin das Vergangene und Zukünftige nicht als wirklich, sondern als bloßes Nichtsein.
3
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men werden kann, wie die Form, die Empfindung usw., noch übt es eine Wirkung aus, welche wahrgenommen werden kann, wie das Auge, das Gehör usw.1 ... (Einwand:) Wie das Sutram sagt, erlangt der Mönch das Nirväna in diesem Leben. Wieso kann man bei einem Nichtsein von einem Erlangen reden? (Antwort:) Man spricht von einem Erlangen des Nirväna, weil man den Gegensatz (pratipaksah)2 erlangt und dadurch einen Träger (= Persönlichkeitsstrom) erwirbt, der den Lastern und der Wiedergeburt entgegengesetzt ist. Außerdem gibt es eine Stelle der heiligen Schrift, welche zeigt, daß das Wesen des Nirväna nur in einem Nichtsein besteht. Ein Sutram sagt nämlich: „Das restlose Abstoßen des vorhandenen Leidens, das Vonsichtun, das Vergehen, die Begierdelosigkeit, die Vernichtung, das Zurruhekommen, das Untergehen, ferner das Nichtwiederentstehen eines neuen Leidens, das Nichtergreifen, das Nichtaufitreten, das ist das Friedvolle, das ist das Erhabene, das Aufgeben aller Behaftungen (upadhih) und gänzliche Vergehen des Durstes, die Begierdelosigkeit, die Vernichtung, das Nirväna ..." Daraus erklärt sich gut der Vergleich des Sütram: „Wie das Erlöschen (nirvänam) einer Lampe so war die Erlösung des Geistes."3 Der Sinn dieses Sütram besagt: Wie das Erlöschen einer Lampe bloß das Dahinschwinden der Flamme der Lampe ist, aber keine eigene Wesenheit, so erlangte der Geist des Erhabenen die Erlösung, d. h. es wurden bloß die Gruppen vernichtet, ein Sein war weiter nicht vorhanden. Nun soll zum Abschluß noch ein Sauträntika zu Wort kommen, nämlich Harivarman, der bereits genannte Schüler Kumäralätas. Er ist in seinen Aussagen womöglich noch klarer und deutlicher als Vasubandhu.
Aus dem „Nachweis der Wahrheit" {Tattvasiddhih, c. 196) (Frage:) Ist nicht das Nirväna wirklich vorhanden? (Antwort:) Man spricht von Nirväna auf Grund der restlosen Vernichtung der Gruppen. Was ist es, was dabei vorhanden sein sollte? (Frage:) (Ihr fragt) woraus man erkennt, daß das Nirväna wirklich ist. 1. Nirväna nennt man die (heilige) Wahrheit von der Aufhebung (des Leidens). Die Wahrheit vom Leiden usw. ist wirklich. Daher muß auch das Nirväna wirklich sein. 2. Ferner nennt man das Wissen vom Nirväna Wissen von der Vernichtung. 1
D. h. es kann weder sinnlich wahrgenommen, noch durch Schlußfolgerung erschlossen werden.
2
D. h. die Gegebenheiten, welche den heiligen Weg bilden und welche die Laster vernichten.
3
Der Vers bezieht sich auf den Tod des Buddha.
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Die Dogmatik des HInayäna
Wieso kann das (Nirvana), wenn es keine (wirkliche) Gegebenheit ist, ein Wissen hervorrufen? 3. Ferner sagt der Buddha im Sütram zu den Mönchen: „Es gibt gewordene, entstandene, bewirkte, verursachte Gegebenheiten, und es gibt nichtgewordene, nichtentstandene, nichtbewirkte, nichtverursachte Gegebenheiten." 4. Femer heißt es im Sütram: „Es gibt nur zweierlei Gegebenheiten, verursachte Gegebenheiten und nichtverursachte Gegebenheiten. Die verursachten Gegebenheiten kennen Werden, Vergehen und Veränderung während des Bestehens. Die nichtverursachten Gegebenheiten kennen kein Werden, kein Vergehen und keine Veränderung während des Bestehens." 5. Ferner heißt es im Sütram: „Von allen Gegebenheiten, die es gibt, seien sie verursacht oder nichtverursacht, ist die Vernichtung, das Vergehen, das Nirvana allein die vorzüglichste." 6. Ferner heißt es: „Die Form ist nicht ewig, weil die Form vernichtet wird. Das Nirvana ist ewig" usw. in der gleichen Weise bis zum Erkennen. 7. Ferner heißt es im Sütram: „Man soll sich die Vernichtung vergegenwärtigen." Wenn sie also keine (wirkliche) Gegebenheit ist, was soll man sich dann vergegenwärtigen? 8. Ferner sagt der Buddha im Bahudhätuka-Sütram: „Der Weise erkennt wahrheitsgemäß das Verursachte und das Nichtverursachte." Das Nichtverursachte ist das Nirväna. Wieso kann man etwas, das durch richtiges Wissen erkannt wird, als nichtvorhanden bezeichnen? 9. Ferner gibt es in den Sütren keine Stelle, die ausdrücklich besagt, daß das Nirväna keine (wirkliche) Gegebenheit ist. Daraus läßt sich ersehen, daß es bloß eine Schöpfung eurer eigenen Gedanken ist, (wenn ihr sagt,) daß es das Nirväna nicht gibt. (Antwort:) 1. Wenn es neben den Gruppen noch eine besondere Gegebenheit mit dem Namen Nirväna gibt, dann darf man nicht das Vergehen und die Vernichtung der Gruppen als das Nirväna bezeichnen. 2. Ferner müßte man, wenn es ein Nirväna gibt, sein Wesen angeben, was es ist. 3. Ferner heißt die Versenkung, welche sich auf das Nirväna richtet, die merkmallose (änimittasamädhih). Wenn nun die Merkmale einer Gegebenheit vorhanden sind, warum heißt sie dann die merkmallose? Wie es im Sütram heißt: „Der Asket beobachtet das Aufgeben der Merkmale der Form" usw. bis „er beobachtet das Aufgeben der Merkmale der Gegebenheiten." 4. Ferner heißt es in den Sütren immer wieder: „Alle Gestaltungen sind vergänglich, alle Gegebenheiten sind ohne Selbst; friedvoll ist die Vernichtung, das Nirväna." Hier bezeichnet „Selbst" das Wesen der Gegebenheiten. Wenn man kein Wesen der Gegebenheiten sieht, dann sagt man, man sieht, daß sie kein Selbst haben. Wenn nun das Nirväna eine (wirkliche) Gegebenheit ist, dann kann man nicht sehen, daß es ohne Wesen ist, weil diese Gegebenheit nicht der Vernichtung verfallt.1 Solange ζ. B. ein Topf besteht, gibt es keine Gegebenheit, welche das Vergehen des Topfes verkörpert.2 Erst wenn der Topf vergeht, kann man von einem Vergehen des Topfes sprechen. Das glei1 2
Das Nirvana gilt ja allgemein als ewig und unvergänglich. Das Nirväna ist seinem Wesen nach Vernichtung der Gegebenheiten, besteht aber der Lehre des Gegners zufolge von Ewigkeit her, also bevor die Gegebenheiten noch vernichtet sind.
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che gilt beim Fällen eines Baumes usw. Ebenso kann man nicht vom Nirvana sprechen, solange die Gestaltungen noch bestehen. Denn weil die Gestaltungen (in ihm) vernichtet sind, nennt man es Nirväna. 5. Ferner wird die Vernichtung des Leidens nicht als eine weitere gesonderte Gegebenheit bezeichnet. Es heißt nämlich im Sütram: „Ihr Mönche, wenn dieses Leiden der Vernichtung verfällt und neues Leiden nicht entsteht, wenn eine Wiedergeburt nicht mehr stattfindet, dann ist dies die höchste Stätte, die ruhige, friedvolle, das Abstoßen aller Behaftungen (upadhih), das Schwinden des Durstes, die Begierdelosigkeit, die Vernichtung, das Nirväna." Hier ist die Rede von der Vernichtung dieses Leidens und dem Nichtentstehen eines neuen Leidens. Welche Gegebenheit gibt es darüber hinaus, die Nirväna hieße? 6. Ferner gibt es auch keine gesonderte Gegebenheit des Vergehens. Nur wenn der bereits entstandene Durst vernichtet wird und der noch nicht entstandene nicht entsteht, dann spricht man von Vergehen. Welche Gegebenheit gibt es also darüber hinaus, die Vergehen hieße? Sie kann nicht wirklich genannt werden. 7. Außerdem ist „Sein" nur ein anderer Name für „Gegebenheit." Das Nichtsein der Gegebenheiten der fünf Gruppen nennt man Nirväna. Das Nichtsein also hier als Sein zu bezeichnen, das ist unmöglich. Man spricht nämlich auf Grund der Vernichtung von Nirväna. Wenn ζ. B. ein Kleid vernichtet wird, gibt es weiterhin keine gesonderte Gegebenheit. Denn andernfalls müßte es auch gesonderte Gegebenheiten der Vernichtung des Kleides usw. geben. 8. Das Wissen von der Vernichtung, von dem ihr sprecht, bedeutet keine Schwierigkeit. Beim Umhauen eines Baumes usw. entsteht ζ. B. ein (darauf bezügliches) Wissen, aber deswegen gibt es keine gesonderte Gegebenheit des Umhauens. Übrigens entsteht das Wissen dabei auf Grund der Gestaltungen. Sobald also die Gestaltungen nicht mehr vorhanden sind, spricht man von Nirväna. So wie man, wenn ein bestimmter Gegenstand nicht mehr vorhanden ist, das Fehlen dieses Gegenstandes erkennt. (Frage:) Gibt es also kein Nirväna? (Antwort:) Das ist nicht der Fall, daß es kein Nirväna gibt. Es ist nur keine wirkliche Gegebenheit. Denn wenn es kein Nirväna gäbe, dann würde Geburt und Tod ewig dauern und es gäbe überhaupt keine Erlösung. Ebenso gibt es das Zerbrechen eines Topfes und das Umhauen eines Baumes. Es sind nur keine wirklichen gesonderten Gegebenheiten. Was ihr wegen der übrigen (heiligen) Wahrheiten usw. gesagt habt, ist bereits beantwortet. Wieso? Weil es nämlich eine Vernichtung des Leidens gibt, darum sagt man, daß es eine nicht gewordene, nicht entstandene, nicht bewirkte, nicht verursachte Gegebenheit gibt usw. Es besteht also keinerlei Schwierigkeit. Wir haben also gesehen, daß die Erlösung, das Nirväna, nach der Lehre der Sarvästivädin Unterdrückung durch Erkenntnis ist, d. h. eine eigene dinghafte Gegebenheit, welche mit dem Persönlichkeitsstrom in Verbindung tritt und das Entstehen der Laster und damit eine neue Wiedergeburt verhindert. Nach der Lehre der Sauträntika ist sie nichts anderes als dieses Nichtentstehen der Laster und der Wiedergeburt, somit ein bloßes Nichtsein. Beide Anschauungen sind vollkommen klar und aus den betreffenden Systemen heraus verständlich. Aber die Frage nach dem Wesen der Erlösung und vor allem nach dem Zustand
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Die Dogmatik des Hinayäna
des Erlösten ist damit eigentlich noch nicht beantwortet. Denn die Unterdrükkung durch Erkenntnis ist nur ein Faktor, der zur Erlösung führt, aber nicht die Erlösung selbst. Auf diese Frage nach dem Zustand des Erlösten schweigen nun die Texte, sei es, daß in diesem Punkt das Verhalten des Buddha selbst weiterwirkte, sei es, daß es überhaupt nicht in der Richtung der gewohnten Gedankengänge lag, die Dinge von dieser Seite zu betrachten. Trotzdem gibt uns die allgemeine Kenntnis der Lehren die Möglichkeit, auch diese Frage zu beantworten, und zwar in folgender Weise. Nach der Lehre der Sarvästivädin besteht, wie wir gesehen haben, die irdische Persönlichkeit aus einem Strom von Gegebenheiten, die beständig vergehen und neu entstehen, solange die Werke {karma) unter dem Einfluß der Laster wirksam sind und die Verstrickung in den Wesenskreislauf andauert. Mit dem Erlangen der erlösenden Erkenntnis erwirbt man die Unterdrückung durch Erkenntnis, eine eigene Gegebenheit, welche mit dem Persönlichkeitsstrom in Verbindung tritt und das weitere Entstehen der Laster verhindert. Sobald aber die Laster nicht mehr entstehen, verlieren die Werke die Kraft, neue Gegebenheiten hervorzubringen. Wenn daher das gegenwärtige Leben abgelaufen ist, setzt sich der Persönlichkeitsstrom nicht mehr fort. Es kommt keine Wiedergeburt mehr zustande und die Erlösung ist erreicht. Bedeutet dies nun, daß die Erlösung die Vernichtung bringt, da ja der Persönlichkeitsstrom unterbrochen ist? Um dies zu beantworten, müssen wir eine Lehre heranziehen, die zu den eigentümlichsten Lehren der Schule zählt und die ihr sogar den Namen gegeben hat, die Lehre ( vädah), daß alles ist (sarvam asti). Nach dieser Lehre existieren nämlich nicht nur die gegenwärtigen Gegebenheiten, sondern alle, auch die vergangenen und zukünftigen. Sie befinden sich nur auf verschiedenen Zeitstufen. Das Werden und Entstehen der Dinge ist daher kein wirkliches Entstehen und Vergehen, sondern nur ein Wandern der bereits vorhandenen Gegebenheiten von einer Zeitstufe in die andere. Die scheinbar neu entstehenden Gegebenheiten wandern von der Zeitstufe der Zukunft in die Zeitstufe der Gegenwart und gehen bei ihrem Vergehen in die Zeitstufe der Vergangenheit über, so wie man einen Rechenstein aus dem Fach für Einer in das Fach für Zehner und Hunderter gibt, wobei zwar seine Geltung wechselt, er aber immer derselbe bleibt. Auch im Persönlichkeitsstrom entstehen und vergehen also die Gegebenheiten nicht, sondern es ist ein tatsächlicher Strom, der von der Zukunft in die Vergangenheit fließt. Die Erlösung bedeutet nun nach dem bisher Gesagten, daß der Persönlichkeitsstrom unterbrochen wird und sich nicht weiter fortsetzt. Das heißt unter diesen Voraussetzungen, daß er endgültig in die Vergangenheit übergeht. Er gelangt somit in einen totenähnlichen Zustand. Er ist nicht vernichtet, aber er ist zur Ruhe gekommen. Anders lauten allerdings die Folgerungen für die Lehre der Sauträntika. Ihre Auffassung vom Wesen der Unterdrückung durch Erkenntnis bedeutet noch keinen grundlegenden Unterschied. Für sie ist zwar die Unterdrückung durch Erkenntnis keine eigene Gegebenheit. Vielmehr wird durch die erlösende Erkenntnis der Persönlichkeitsstrom so umgestaltet, daß die Laster in ihm nicht
Die Erlösungslehre des HInayana
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mehr entstehen können, und als Unterdrückung durch Erkenntnis betrachtet man nur dieses Nichtentstehen. Aber das Ergebnis, die Unterbrechung des Persönlichkeitsstromes, ist das gleiche. Entscheidend ist jedoch etwas anderes. Die Sauträntika leugnen, im Gegensatz zu den Sarvästivädin, daß das Vergangene und Zukünftige besteht. Für sie ist nur das Gegenwärtige wirklich. Daher ist für sie das Werden und Vergehen der Gegebenheiten kein Wandern von Zeitstufe zu Zeitstufe, sondern ein wirkliches Entstehen und wirkliche Vernichtung. Daraus folgt aber, daß der Persönlichkeitsstrom mit seiner Unterbrechung überhaupt zu bestehen aufhört. Die Erlösung nach der Lehre der Sauträntika ist also die vollkommene Vernichtung. Wir stehen somit vor der seltsamen Tatsache, daß eine Erlösungslehre als ihr Ziel einen totenähnlichen Zustand, ja die völlige Vernichtung hinstellt. Und was noch seltsamer ist, diese Lehre vermochte eine gewaltige Anhängerschaft zu gewinnen und unvergleichliche Erfolge zu erzielen. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß wir es bei den Schulen der Sarvästivädin und Sauträntika nur mit einzelnen Richtungen des Buddhismus zu tun haben, und zwar mit extremen Richtungen, von denen gerade die Sauträntika trotz ihrer bedeutenden denkerischen Leistungen keine große Verbreitung fanden und früh mit anderen Schulen verschmolzen. Daneben standen andere Richtungen, welche sich von den genannten teilweise stark, ja bis zum Gegensatz schroff unterschieden. Und aus diesen Richtungen ist auch die Bewegung hervorgegangen, die den Buddhismus zur höchsten Blüte führte und der wir uns nunmehr zuwenden wollen, das Mahäyäna.
C. DIE SCHULEN DES MAHÄYÄNA 1. Die Madhyamaka-Schule Die Richtungen des Hïnayâna, welche wir im letzten Abschnitt besprochen haben, sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen der nüchtern klare, aber auch kalte Verstand herrscht. Das kommt besonders im Zurückdrängen der Versenkungsübungen und im Leugnen eines höchsten Seins zum Ausdruck. Aber das starke mystische Element, das von jeher im Buddhismus mächtig war und das letzten Endes auf den Buddha selbst zurückgeht, ließ sich nicht einfach ausschalten. Es gab immer zahlreiche Gemeindemitglieder, für welche das Versenkungserlebnis das Wesentliche war und welche der dogmatischen Scholastik mehr oder weniger gleichgültig gegenüberstanden. Und diese Kreise waren es, aus denen das Mahäyäna hervorging. Dabei waren es mehrere Strömungen, die sich zur großen Bewegung des Mahäyäna vereinigten. Die erste davon, die wir nur kurz erwähnen brauchen, weil sie philosophisch unwichtig ist, die aber religiös um so bedeutender war und die auch der ganzen Bewegung den Namen gab, betrifft die Erlösungslehre. Der Buddha hatte mit seiner Lehre den Weg gezeigt, auf dem man selbst die Erlösung aus dem Wesenskreislauf findet. Das genügte aber auf die Dauer begeisterten Anhängern nicht. Sie wollten auch andern das Heil bringen und stellten es als höchstes Ziel auf, selbst Buddha zu werden, ja selbst zunächst auf die eigene Erlösung zu verzichten und weiter im Wesenskreislauf zu bleiben, um dafür andere retten zu können. Nun war es alter Brauch, die Lehre mit einem Floß zu vergleichen, das den Jünger über den gefahrvollen Strom des Daseins ans rettende Ufer des Nirväna bringt. Und so bezeichnete man die neue Lehre, die vielen diese Rettung bringen sollte, als das große Fahrzeug (Mahäyäna), und nannte ihr gegenüber den bisherigen Erlösungsweg das kleine Fahrzeug (Hïnayâna). Dieses neue Erlösungsziel erforderte natürlich große Begeisterungsfähigkeit und Opferbereitschaft und diese waren begreiflicherweise eher in den Kreisen der Mystiker zu finden als unter den nüchternen Scholastikern. Und so wurden vor allem jene die Träger der neuen Richtung. Dieselben Kreise boten aber auch den Boden für die Entwicklung neuer philosophischer Gedanken. Und vor allem war es zweierlei, was dazu den Anstoß gab. Die Mystiker, welche die Versenkung übten und schon in diesem Körper das Nirväna erlebten, ließen sich den Glauben an ein höchstes Sein nicht nehmen, das sie selbst im Zustand der Versenkung erfahren hatten. Ja, es zeigte sich bei ihnen, wie bei Mystikern so leicht, darüber hinaus die Neigung, dieses Sein als das einzig Wahre zu betrachten, und die Alltagswelt daneben für nichtig und für einen bloßen Schein zu erklären. Und so kam es zur Bildung philosophischer Lehren, in deren Mittelpunkt die Fragen nach dem höchsten Sein und nach der
Die Anfange des Mahayäna
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Realität der Außenwelt standen, während man sich um die Beschaffenheit der Erscheinungswelt selbst wenig kümmerte und dafür größtenteils die Anschauungen der Hinayäna-Scholastik unverändert gelten ließ und, wenn nötig, übernahm. Dazu kam schließlich noch ein Drittes. Das neue Erlösungsziel brachte es mit sich, daß sich auch die Einstellung zur Person des Buddha verschob. Die historische Persönlichkeit trat zurück hinter dem dogmatischen Begriff. Der Buddha erschien nun als ein übernatürliches Wesen, dessen Wirken weit über die Grenzen eines einzelnen irdischen Daseins hinausreicht, als eine Verkörperung des höchsten Seins. Die Vielheit der Buddhas gewann eine besondere Bedeutung. Und so kam es zur Ausbildung einer eigenen Buddhologie, die in den neuen philosophischen Lehren verankert wurde. Diese drei Faktoren sind es also, welche die Entwicklung des Mahayäna entscheidend bestimmten und beherrschten, das neue Erlösungsziel, die philosophische Lehre vom höchsten Sein und von der Irrealität der Erscheinungswelt und schließlich die neue Buddhologie. Davon hat das neue Erlösungsziel zur Aufstellung eines neuen Erlösungsweges geführt, der in einer üppig wuchernden Erlösungsscholastik ausführlich behandelt und bis ins einzelnste ausgebaut wurde, und dessen Darstellung den Gegenstand einer ganzen Literatur bildet. Philosophisch ist diese Literatur zum größten Teil bedeutungslos und braucht nur vereinzelt gestreift werden. Um so wichtiger sind die philosophischen Lehren, die zu dem Bedeutendsten zählen, was die indische Philosophie hervorgebracht hat und auf die wir daher vor allem eingehen müssen. Die Buddhologie wird nur soweit zur Sprache kommen, als sie mit den philosophischen Lehren eng verknüpft ist und geeignet ist, ihr Bild zu ergänzen. Die ersten Anfänge des Mahayäna entwickelten sich noch im Rahmen der alten Schulen des HTnayäna. Denn das neue Erlösungsziel bedeutete keinen grundsätzlichen Gegensatz. Es konnte jeder Anhänger einer alten Schule den Vorsatz fassen, selbst Buddha zu werden, ohne im übrigen von der Lehre seiner Schule abzuweichen. Erst als das Mahäyäna vollständige Lehrsysteme entwikkelte, die sich teilweise in scharfen Widerspruch zu den Systemen des HTnayäna stellten, kam es zur Bildung selbständiger Schulen des Mahäyäna. Natürlich boten nicht alle HTnayäna-Schulen gleich günstige Entstehungsmöglichkeiten für das Mahäyäna. Am ungünstigsten waren ihm wohl die Schulen, welche die Hauptträger der Hinayäna-Scholastik waren, also vor allem die Schulen des Nordwestens. Weitaus besser waren die Bedingungen im Osten in den Kreisen der Mahäsämghika. Und tatsächlich finden wir hier auch die verschiedensten Ansätze zur neuen Entwicklung. Besonders die südlichen Schulen auf dem Boden des Ändhra-Reiches und in der Nähe der alten Hauptstadt Dhänyakataka am Unterlauf der Krsnä erwiesen sich den neuen Strömungen zugeneigt. Und dieses Land ist es, das am ehesten den Anspruch erheben kann, als Heimat des Mahäyäna zu gelten. Die ältesten literarischen Zeugnisse des Mahäyäna sind Sütren, also Lehrreden, welche dem Buddha in den Mund gelegt sind, denn man versuchte natür-
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lieh, auch die neue Lehre unter die Autorität des Buddha zu stellen. Aber diese Sütren unterscheiden sich äußerlich und innerlich stark von den Sütren des alten Kanons. An die Stelle der oft so lebendigen Rahmenerzählungen sind formelhafte Einkleidungen getreten. Den Hörerkreis bilden zum großen Teil übernatürliche Wesen und Tausende und Millionen von zukünftigen Buddhas, von Bodhisattvas. Statt der auf bestimmte Hörer und Umstände berechneten Predigten, finden wir einen farblosen, gleichförmigen Lehrvortrag. Und inhaltlich sind es ganz neue Lehren, die verkündet werden. Dabei herrscht überall das Wunderbare und Maßlose. Die Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben, daß dem Buddha ganz verschiedene Lehren in den Mund gelegt wurden, suchte man dabei folgendermaßen zu beseitigen. Seit altersher war der Buddha wegen seiner Fähigkeit berühmt, seine Predigt der Fassungskraft der Hörer anzupassen. Darauf berief man sich nun und sagte, daß nur ein Teil der überlieferten Sütren, vor allem natürlich die neuen Sütren, die volle Wahrheit verkündeten. Die übrigen seien auf Hörer berechnet, die noch nicht fähig sind, die ganze Wahrheit zu fassen, und seien bestimmt, diese auf den rechten Weg zu führen. Man dürfe sie daher nicht wörtlich nehmen, sondern müsse sie dementsprechend deuten. Von dieser Deutungsmöglichkeit wurde also reichlich Gebrauch gemacht und man kam schließlich so weit, eine ganze Stufenreihe verschiedener Lehrverkündigungen zu unterscheiden. Die Sütrenliteratur des Mahäyäna ist überaus reich. Es wurden von den Anfangen an immer wieder neue Werke geschaffen und die alten erweitert und umgearbeitet. Und so sammelte sich allmählich eine fast unübersehbare Menge solcher Werke. Es ist daher nicht möglich, hier auch nur annähernd eine Vorstellung von dieser Literatur zu geben und überdies soll die vorliegende Darstellung vor allem die persönlich faßbaren Philosophen vorfuhren. Ich gebe infolgedessen nur einzelne Proben aus der ältesten Zeit, welche für das Verständnis der Entstehung der Mahäyäna-Lehren wichtig sind, und wende mich dann sofort zu den historisch faßbaren Vertretern der verschiedenen Lehren. Ich beginne mit einer Gruppe von Werken, welche den gemeinsamen Namen Prajfiäpäramitä (Vollkommenheit der Einsicht) führen. Gelegentlich erscheinen auch Einzeltitel, aber gerade die ältesten und bedeutendsten Werke dieser Gruppe fuhren bloß den allgemeinen Namen und werden nur nach ihrem Umfang unterschieden. Und zwar gibt es vor allem eine Prajfiäpäramitä in achttausend Verszeilen (Astasähasrikä), eine solche in fünfundzwanzigtausend Zeilen (Paficavimsatisähasrikä) und eine in hunderttausend Zeilen (Satasähasrikä). Wer diese Werke unvorbereitet in die Hand nimmt, wird zuerst befremdet und vielleicht enttäuscht sein. Denn die darin ausgesprochenen Lehren klingen zunächst wunderlich und fast unverständlich. Aber ihre historische Bedeutung ist überaus groß. In ihnen ist zum ersten Male die Lehre von der Unwirklichkeit der Außenwelt ausgesprochen. Sie waren von entscheidendem Einfluß auf die Entstehung der ersten bedeutenden Mahäyäna-Schule, der Schule der Mädhyamika. Und sie haben immer zu den heiligsten und angesehensten Texten des Mahäyäna gezählt. So sollen wenigstens einige kurze Proben aus einem der ältesten Texte, aus der Astasähasrikä Prajfiäpäramitä geboten werden.
Die Prajñaparamita-Literatur
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Die Heimat der Prajfiäpäramitä-Literatur dürfte das Ändhra-Land sein. Wenigstens berichtet die Überlieferung, daß eine der südlichen Schulen der Mahäsämghika eine Prajfiäpäramitä in der Volkssprache besaß. Für ihre weitere Entwicklung und Verbreitung scheint besonders der Begründer der Madhyamaka-Schule, Nägäijuna, von Bedeutung gewesen zu sein. Und auch später wurde noch viel an den alten Texten gearbeitet und geändert und neue wurden geschaffen. Inhaltlich beschäftigten sich die Texte, wie die Mahäyäna-Sütren zumeist, vor allem mit der Laufbahn eines zukünftigen Buddha, eines Bodhisattva. Aber die philosophischen Abschnitte nehmen einen verhältnismäßig breiten Raum ein und bilden ihren eigentlichen Kern. Und zwar sind es vor allem folgende Gedanken, die in den ältesten Texten vorliegen. Im Mittelpunkt steht die Vorstellung von einem höchsten Sein. Es ist dies die uralte in Indien seit der Upanisadenzeit lebendige Vorstellung. Aber sie ist hier nicht einfach übernommen. Man hat sie vielmehr aus eigenem Erleben heraus eigenartig gestaltet und in eigene Ausdrucksformen gekleidet. Aufs schärfste ist, gemäß der allgemeinen Entwicklung, in der der Buddhismus steht, die Unfaßbarkeit und Unbestimmbarkeit des höchsten Seins betont. Nur selten wird es im Anschluß an eine alte vereinzelt im Kanon auftauchende Anschauung, die später von den Mahäsämghika übernommen worden war, als fleckenloser und leuchtender Geist (prabhäsvaram cittam) bezeichnet. Im allgemeinen wird immer wieder hervorgehoben, daß keinerlei Bestimmungen darauf zutreffen. Es ist ohne Entstehen und ohne Vergehen, ungeschaffen (akrtah) und unveränderlich (avikärah) und überhaupt nicht ins Dasein getreten (anabhinirvrttah). Es ist undenkbar, unwägbar, unmeßbar, unzählbar und ohnegleichen. Es ist grenzenlos, d. h. ohne Anfang, ohne Mitte und ohne Ende, also räumlich unbegrenzt. Es ist aber auch ohne Beginn, ohne Gegenwart und ohne Aufhören, liegt also außerhalb der drei Zeitstufen. Kurz, es ist von Natur aus rein (visuddhah) und losgelöst (viviktah) von allen Bestimmungen. Es ist daher auch unvorstellbar (avikalpah) und auch in ihm finden keine Erkenntnisvorgänge statt. Wegen seiner Grenzenlosigkeit und Unfaßbarkeit wird es daher gern mit dem leeren Raum verglichen. Die weitere Folge davon ist, daß es auch von allem Geschehen der Erscheinungswelt unberührt ist. Es wird nicht gebunden und nicht erlöst, nicht befleckt und nicht geläutert und übt auch seinerseits keine Wirkung aus. Ob es erkannt wird oder nicht, das berührt es nicht. Es gedeiht nicht, wenn es gelehrt wird, und schwindet nicht, wenn es nicht gelehrt wird. Als Bezeichnung für das höchste Sein erscheint oft der Ausdruck Wesen der Gegebenheiten (dharmänäm dharmatä) und Element der Gegebenheiten (dharmadhätuh), ferner Höhepunkt des Wirklichen (bhütakotih). Charakteristischer und ebenfalls sehr beliebt ist die schon in kanonischen Schriften auftauchende Bezeichnung Soheit (tathatä), die hier das unfaßbare und nur sich selbst gleiche Wesen des höchstens Seins auszudrücken scheint und später als Ausdruck für seine Unveränderlichkeit angesehen wurde. Noch kennzeichnender, wenn auch seltener, sind schließlich die in anderem Sinn ebenfalls bereits im
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Hînayâna verwendeten Bezeichnungen als Leerheit (sünyatä), als Merkmalloses (änimittam) und als Unbegehrtes (apranihitam). Denn in diesen Begriffen kommt die Unbestimmbarkeit des höchsten Seins am stärksten zur Geltung und ihre Wichtigkeit wird dadurch hervorgehoben, daß sie und ihre Betrachtung Tore zur Erlösung (vimoksamukhäni) genannt werden. Als Wesen aller Dinge ist dieses höchste Sein auch das Wesen des Buddha (tathägatatvam), es ist die Allwissenheit (sarvajnatä) und die Vollkommenheit der Einsicht (prajnäpäramitä). Ihm gegenüber steht die Erscheinungswelt. Diese ist nicht wirklich. Das wird nicht weiter begründet. Denn offenkundig beruht diese Anschauung auf dem bei Mystikern so lebhaften Gefühl der Nichtigkeit alles Irdischen gegenüber dem wahren Sein, das sie im Zustand der Versenkung erlebt haben. Diese Nichtwirklichkeit der Erscheinungswelt wird aufs schärfste und schroffste ausgesprochen. Die Dinge sind nicht vorhanden und nicht festzustellen, und zwar ganz und gar nicht und in keiner Weise. Sie sind nämlich frei (virahitah) und losgelöst (viviktah) von jedem eigenen Wesen (svabhävah), vom Wesen des Kennzeichnenden (laksanam) und des Gekennzeichneten (laksyam). Sie sind also nichts, und ihre Natur (prakrtih) ist eine Nichtnatur (aprakrtih). Das, was wir zu erkennen glauben, sind bloße Worte (nämadheyamätram) und gleicht einem Zaubertrug (mäyä), einem Traum und einem bloßen Widerhall. Da die Dinge aber unwirklich und von allen Merkmalen losgelöst sind, treffen auch keinerlei Bestimmungen auf sie zu. Sie sind ungeboren und ungeschaffen, ohne Entstehen und Vergehen. Sie sind undenkbar, unwägbar, unmeßbar, unzählbar und ohnegleichen. Und sie sind unbegrenzt und ohne Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Damit fallen aber die Aussagen über die Erscheinungswelt mit denen über das höchste Sein zusammen, und die Dinge erscheinen gewissermaßen selbst als das höchste Sein. So gilt es also, das Verhältnis der beiden zueinander zu bestimmen. Aber das bereitet Schwierigkeiten. Wo man es versucht, vermag man nur zu sagen, daß sie verschieden und doch nichtverschieden sind. Die Bestimmungen, welche dem höchsten Sein zukommen, wie ζ. B. das Nichtentstehen und Nichtvergehen, sind nicht die fünf Gruppen. Und doch sind sie und die fünf Gruppen keine Zweiheit. Ebenso ist das höchste Sein selbst nicht den fünf Gruppen gleich. Es ist aber auch nicht außerhalb der fünf Gruppen zu suchen. Da nun, wie gesagt, die Erscheinungswelt nicht wirklich ist und alle auf sie bezogenen Bestimmungen hinfällig sind, gibt es aber auch keine Bindung und Erlösung und alle Vorstellungen, die mit der Erlösung zusammenhängen, sind nichtig. Es gibt daher auch kein Erlangen und Erschauen der Wahrheit. Selbst das Rollen des Rades der Lehre durch den Buddha trifft nicht zu. Wie kommt aber unter diesen Umständen die Erscheinungswelt überhaupt zustande, und wie haben wir uns zu ihr zu verhalten? Die Antwort lautet: Sie beruht auf einer Täuschung, auf den falschen Vorstellungen der Weltmenschen. Sie gleicht, wie bereits gesagt, einem Zaubertrug, und wenn ζ. B. ein Bodhisattva Wesen erlöst, so ist dies nicht anders, als wenn ein Zauberer die selbstge-
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schaffenen Truggestalten verschwinden läßt. Um sich nun von dieser Täuschung zu befreien, darf man sich ihr nicht hingeben. Man darf nicht an ihr haften, sich nicht auf sie stützen und nicht in ihr verharren. Jedes sich Klammem an Worte (näma) und Merkmale (nimittam), ja ihre bloße Verwendung ist aber schon ein Haften. Schon der Gedanke, daß die Dinge wesenlos und leer sind, jeder Versuch, das höchste Sein in Vorstellungen und Worte zu fassen, bedeutet eine Vertrickung und muß abgelehnt werden. Das einzig richtige Verhalten ist das Verharren in völliger Losgelöstheit (viviktatä) und Nichtwahrnehmung (anupalambhah), wie sie sich im Zustand der Versenkung einstellt. Und die ungeheuer schwere Aufgabe eines Bodhisattva besteht darin, in der Erscheinungswelt zu verharren, um seine Aufgabe zu erfüllen, und doch diese Losgelöstheit zu bewahren. Das sind in den Grundzügen die philosophischen Lehren der älteren Prajftäpäramitä-Texte. Diese Lehren werden nun aber nicht zusammenhängend vorgetragen, sondern es erscheinen abgerissene einzelne Gedanken und Gesichtspunkte, wie sie für das Verhalten eines Bodhisattva von Bedeutung sind. Denn dieses ist und bleibt der Hauptgegenstand der Texte. Das erschwert natürlich das Erfassen der Gedanken. Dazu kommt eine gewisse Altertümlichkeit. Man ringt noch mit den Gedanken und dem Ausdruck. Schließlich liebt Mystik stets das Geheimnisvolle. Und hier äußert es sich darin, daß man sich in den schroffsten Formulierungen gefallt, die den Hörer überraschen und ihm zunächst unverständlich bleiben. Und so erklärt sich die Absonderlichkeit und Schwierigkeit dieser Texte. Ein gutes Beispiel fur diese Art gibt gleich der Anfang der Astasähasrikä Prajfiäpäramitä. Er lautet:
Aus der „Vollkommenheit der Einsicht in achttausend Verszeilen" (Astasähasrikä Prajüäpäramitä) Aus dem 1. Kapitel So habe ich gehört. Einmal weilte der Erhabene bei Räjagrha auf dem Berge Grdhraküta mit einer großen Schar von Mönchen, mit zwölfeinhalbhundert Mönchen, lauter Heiligen (arhan), deren Befleckungen geschwunden waren, die frei von Lastern waren, Herr ihrer selbst, befreiten Geistes, befreiter Einsicht, gleich wohlgeschulten Rossen, gleich großen Schlangenwesen, die getan hatten, was zu tun war, die vollbracht hatten, was zu vollbringen war, welche die Last abgeschüttelt hatten, welche ihr Ziel erreicht hatten, bei denen die Fesseln an das Dasein geschwunden waren, deren Geist durch richtige Erkenntnis befreit war, welche in der Beherrschung des gesamten Geistes die höchste Vollkommenheit erreicht hatten, mit Ausnahme einer einzigen Person, nämlich des ehrwürdigen Änanda.
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Da sprach der Erhabene zu dem ehrwürdigen Ältesten Subhüti: „Besinne Dich, Subhüti, hinsichtlich der Vollkommenheit der Einsicht der Bodhisattva, der großen Wesen, wie die Bodhisattva, die großen Wesen, zur Vollkommenheit der Einsicht gelangen." Darauf sprach der ehrwürdige Subhüti durch die Macht des Buddha zum Erhabenen folgendes: „Der Erhabene hat folgendermaßen gesprochen: ,Besinne dich, Subhüti, hinsichtlich der Vollkommenheit der Einsicht der Bodhisattva, der großen Wesen, wie die Bodhisattva, die großen Wesen, zur Vollkommenheit der Einsicht gelangen. ' Hierbei wird, o Erhabener, der Ausdruck Bodhisattva gebraucht. Für welche Gegebenheit, o Erhabener, dient der Ausdruck Bodhisattva als Benennung? Ich sehe, o Erhabener, keine Gegebenheit, welche Bodhisattva heißt. Auch sehe ich, o Erhabener, keine Gegebenheit namens Vollkommenheit der Einsicht. Da ich also, o Erhabener, weder einen Bodhisattva oder eine Bodhisattva genannte Gegebenheit finde, wahrnehme oder sehe, noch eine Vollkommenheit der Einsicht finde, wahrnehme oder sehe, was fiir einen Bodhisattva soll ich da belehren oder unterrichten und in was für einer Vollkommenheit der Einsicht? Wenn ferner, o Erhabener, bei einer solchen Rede, Lehre und Belehrung der Geist eines Bodhisattva nicht niedersinkt, nicht zusammensinkt, nicht bestürzt wird, nicht in Bestürzung gerät, wenn seinem Denken nicht das Rückgrat genommen, nicht das Rückgrat gebrochen wird, wenn er nicht erbebt, erzittert und in Zittern gerät, dann ist dieser Bodhisattva, dieses große Wesen, in der Vollkommenheit der Einsicht zu unterrichten. Das ist als die Vollkommenheit der Einsicht dieses Bodhisattva, dieses großen Wesens, zu betrachten. Das ist die Belehrung über die Vollkommenheit der Einsicht. Wenn er so beharrt, so ist das seine Belehrung und sein Unterricht. Wenn ferner, o Erhabener, ein Bodhisattva, ein großes Wesen, in der Vollkommenheit der Einsicht wandelt und in der Vollkommenheit der Einsicht Betrachtung übt, so soll er sich so schulen, daß er sich bei dieser Schulung auch hinsichtlich des Gedankens an die Erleuchtung (bodhicittam) keiner Meinung hingibt. Aus welchem Grund? Weil dieser Gedanke kein Gedanke ist.1 Denn die Natur des Geistes (cittam) ist leuchtend rein (prabhäsvarah)." Da sprach der ehrwürdige Säriputra zum ehrwürdigen Subhüti folgendes: „Ist, Ehrwürdiger Subhüti, dieser Gedanke, von dem (du sagst), daß er kein Gedanke ist, überhaupt vorhanden?" Auf diese Worte hin sprach der ehrwürdige Subhüti zum ehrwürdigen Säriputra folgendes: „Läßt sich, ehrwürdiger Säriputra, bei dem Nicht-Gedanke-Sein (acittatä), von dem (wir sprechen), ein Sein oder Nicht-Sein finden oder wahrnehmen?" Säriputra sprach: „Nein, Ehrwürdiger Subhüti." Subhüti sprach: „Wenn sich also, ehrwürdiger Säriputra, bei 1
Der Gedanke an die Erleuchtung (bodhicittam) ist ein Augenblick des Erkennens (cittam = vijüänam). Da aber das Erkennen in seiner scheinbaren Gestalt nicht wirklich ist, ist es kein wirkliches Erkennen, also ein Nicht-Erkennen.
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diesem Nicht-Gedanke-Sein ein Sein oder Nicht-Sein weder finden noch wahrnehmen läßt, ist dann deine Frage berechtigt, wenn du sagst: ,Ist dieser Gedanke, von dem (du sagst), daß er kein Gedanke ist, überhaupt vorhanden?' " Auf diese Worte hin sprach der ehrwürdige Säriputra zum ehrwürdigen Subhüti folgendes: „Welcher Art ist, ehrwürdiger Subhüti, dieses Nicht-Gedanke-Sein?" Subhüti sprach: „Unveränderlich, ehrwürdiger Säriputra, und unvorstellbar (avikalpah) ist das Nicht-Gedanke-Sein." Da spendete der ehrwürdige Säriputra dem ehrwürdigen Subhüti Beifall: „Trefflich, ehrwürdiger Subhüti, trefflich ist es, wie du dies darlegst, der du vom Erhabenen als der Vorzüglichste unter den in der Streitlosigkeit Verweilenden bezeichnet worden bist." Ich gebe nun noch einige Proben, welche zeigen, wie die oben wiedergegebenen Gedanken in dem gleichen Text behandelt werden. Der erste Abschnitt bespricht die Vollkommenheit der Einsicht, und zwar ihre Unendlichkeit, in denselben Ausdrücken wie das höchste Sein, da die Vollkommenheit der Einsicht ja mit dem höchsten Sein wesensgleich ist. Außerdem wird im Anschluß daran der Begriff der Wesen (sattvah) besprochen und gezeigt, daß er leer und nichtig ist.
Aus dem 2. Kapitel Auf diese Worte hin sprach Sakra, der Fürst der Götter, zum ehrwürdigen Subhüti folgendes: „Eine große Vollkommenheit, edler Subhüti, ist diese Vollkommenheit der Einsicht. Eine grenzenlose Vollkommenheit, edler Subhüti, ist diese Vollkommenheit der Einsicht. Eine unendliche Vollkommenheit, edler Subhüti, ist diese Vollkommenheit der Einsicht." Der Älteste, Subhüti, sprach: „So ist es, Kausika, so ist es. Eine große Vollkommenheit, Kausika, ist diese Vollkommenheit der Einsicht. Eine unermeßliche Vollkommenheit, Kausika, ist diese Vollkommenheit der Einsicht. Eine grenzenlose Vollkommenheit, Kausika, ist diese Vollkommenheit der Einsicht. Eine unendliche Vollkommenheit, Kausika, ist diese Vollkommenheit der Einsicht. Aus welchem Grund? Durch die Größe der Form, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine große Vollkommenheit. Ebenso, durch die Größe der Empfindung, des Bewußtseins, der Gestaltungen und des Erkennens, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine große Vollkommenheit. Durch die Unermeßlichkeit der Form, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unermeßliche Vollkommenheit. Ebenso, durch die Unermeßlichkeit der Empfindung, des Bewußtseins, der Gestaltungen und des Erkennens, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unermeßliche Vollkommenheit. Durch die Grenzenlosigkeit der Form, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine grenzenlose Vollkommenheit. Ebenso, durch die Grenzenlosigkeit der Empfindung, des Bewußtseins, der Gestaltungen und des Erkennens, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine grenzenlose Vollkommenheit. Durch die Unendlichkeit der
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Form, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unendliche Vollkommenheit. Ebenso, durch die Unendlichkeit der Empfindung, des Bewußtseins, der Gestaltungen und des Erkennens, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unendliche Vollkommenheit. Dabei gibt man sich, Kausika, nicht dem Gedanken hin: ,Sie ist eine große Vollkommenheit.' Man gibt sich nicht dem Gedanken hin: ,Sie ist eine unermeßliche Vollkommenheit', ,Sie ist eine grenzenlose Vollkommenheit' und ,Sie ist eine unendliche Vollkommenheit.' Daher, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine große Vollkommenheit, eine unermeßliche Vollkommenheit, eine grenzenlose Vollkommenheit und eine unendliche Vollkommenheit. Durch die Unendlichkeit des Anhaltspunktes (ärambanam), Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unendliche Vollkommenheit. Durch die Unendlichkeit der Wesen (sattvah), Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unendliche Vollkommenheit. Wieso, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit des Anhaltspunktes eine unendliche Vollkommenheit? Weil bei allen Gegebenheiten, Kausika, kein Anfang, keine Mitte und kein Ende wahrzunehmen ist, darum, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unendliche Vollkommenheit. Auf diese Weise, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit des Anhaltspunktes eine unendliche Vollkommenheit. Weil ferner, Kausika, alle Gegebenheiten unendlich und unbegrenzt sind, und ein Anfang, eine Mitte und ein Ende bei ihnen nicht wahrzunehmen ist, darum, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht eine unendliche Vollkommenheit. Aus welchem Grund? Bei der Form, Kausika, ist kein Anfang, keine Mitte und kein Ende wahrzunehmen. Ebenso, Kausika, ist bei der Empfindung, dem Bewußtsein, den Gestaltungen und dem Erkennen kein Anfang, keine Mitte und kein Ende wahrzunehmen. Auf diese Weise, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit des Anhaltspunktes eine unendliche Vollkommenheit. Ferner, Kausika, sind die Wesen unendlich und unbegrenzt. Aus welchem Grund? Bei den Wesen ist nämlich kein Anfang, keine Mitte und kein Ende wahrzunehmen. Daher, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit der Wesen eine unendliche Vollkommenheit." Darauf sprach Sakra, der Fürst der Götter, zum ehrwürdigen Subhüti folgendes: „Inwiefern, ehrwürdiger Subhüti, ist die Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit der Wesen eine unendliche Vollkommenheit?" Der Älteste, Subhüti, sprach: „Nicht wegen der Unmöglichkeit des Zählens, Kausika, noch wegen der Vielheit des Zählens ist die Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit der Wesen eine unendliche Vollkommenheit." áakra sprach: „Inwiefern, edler Subhüti, ist die Vollkommenheit der Einsicht denn durch die Unendlichkeit der Wesen eine unendliche Vollkommenheit?" Der Älteste, Subhüti, sprach: „Was meinst du, Kausika, für welche Gegebenheit dient der Ausdruck , Wesen' als Benennung?" Sakra sprach: „Für keine Gegebenheit, edler Subhüti, und für keine Nichtgegebenheit dient der Ausdruck ,Wesen' als Benennung. Als äußerliche Bezeichnung wird der Ausdruck , Wesen' verwendet, als gegen-
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standslose Bezeichnung wird er verwendet, als wesenlose Bezeichnung wird er verwendet, als Bezeichnung ohne Anhaltspunkt wird er verwendet." Der Älteste, Subhüti, sprach: „Was meinst du, Kausika, hat hier irgendeine Verkündigung der Wesen stattgefunden?" Sakra sprach: „Nein, edler Subhüti." Subhüti sprach: „Wo keine Verkündigung der Wesen stattgefunden hat, Kausika, was fur eine Unendlichkeit der Wesen gibt es da? Wenn, Kausika, der Vollendete, der Heilige, der vollkommen Erleuchtete mit dem Schall unendlicher Rede, mit tieftönender Stimme so viel Weltalter hindurch, als der Gangesstrom Sandkörner enthält, das Wort ,Wesen' spräche, ist deswegen irgendein Wesen entstanden, wird es entstehen oder entsteht es, ist es vernichtet, wird es vernichtet werden oder wird es vernichtet?" Sakra sprach: „Nein, edler Subhüti. Aus welchem Grund? Weil die Wesen von Anfang an rein und von Anfang an geläutert sind." Subhüti sprach: „Auf diese Weise also, Kausika, ist die Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit der Wesen eine unendliche Vollkommenheit. Und so ist, Kausika, die Unendlichkeit der Vollkommenheit der Einsicht durch die Unendlichkeit der Wesen zu verstehen." Der nächste Abschnitt (Kap. 22) behandelt die Frage nach dem Zustandekommen der Erscheinungswelt und sucht zu zeigen, daß sie nur auf Irrtum beruht.
Aus dem 22. Kapitel Subhüti sprach: „Wenn alle Gegebenheiten, o Erhabener, losgelöst und alle Gegebenheiten leer sind, wieso kommt es dann, o Erhabener, zur Vorstellung von einer Besudelung der Wesen, wieso kommt es, o Erhabener, zur Vorstellung von einer Läuterung der Wesen? Denn etwas Losgelöstes, o Erhabener, wird nicht besudelt, etwas Losgelöstes, o Erhabener, wird nicht geläutert. Etwas Leeres, o Erhabener, wird nicht besudelt, etwas Leeres, o Erhabener, wird nicht geläutert. Etwas Losgelöstes, o Erhabener, oder etwas Leeres gelangt nicht zur höchsten vollkommenen Erleuchtung. Außerhalb der Leerheit, o Erhabener, ist aber keine Gegebenheit wahrzunehmen, welche zur höchsten vollkommenen Erleuchtung gelangt ist, gelangen wird oder gelangt. Oder wie sollen wir, o Erhabener, den Sinn dieser Rede verstehen? Erkläre es, o Erhabener, erkläre es, o Vollkommener!" Auf diese Worte hin sprach der Erhabene zum ehrwürdigen Subhüti folgendes: „Was meinst du, Subhüti, wandeln die Wesen lange Zeit im Glauben an ein Ich und im Glauben an ein Mein?" Subhüti sprach: „So ist es, o Erhabener, so ist es, o Vollkommener. Lange Zeit wandeln die Wesen im Glauben an ein Ich und im Glauben an ein Mein." Der Erhabene sprach: „Was meinst du, Subhüti, sind der Glaube an ein Ich und der Glaube an ein Mein leer?" Subhüti sprach: „Leer sind sie, o Erhabener, leer sind sie, o Vollkommener." Der Erhabene sprach: „Was meinst du, Subhüti, wandern die Wesen durch den Glauben an ein Ich und durch den Glauben an ein Mein im Wesenskreislauf?" Subhüti sprach: „So
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ist es, o Erhabener, so ist es, o Vollkommener. Durch den Glauben an ein Ich und durch den Glauben an ein Mein wandern die Wesen im Wesenskreislauf." Der Erhabene sprach: „Auf diese Weise also, Subhüti, kommt es zur Vorstellung von der Besudelung der Wesen. Wenn man Wesen annimmt und an ihnen hängt, dann ergibt sich Besudelung, und doch wird dabei niemand besudelt. Wenn man dagegen, Subhüti, nichts annimmt und an nichts hängt, dann kommt es nicht zur Vorstellung vom Glauben an ein Ich und vom Glauben an ein Mein. Auf diese Weise, Subhüti, kommt es zur Vorstellung von der Läuterung der Wesen. Wenn man keine Wesen annimmt und nicht an ihnen hängt, dann ergibt sich die Läuterung, und doch wird dabei niemand geläutert. Ein Bodhisattva, Subhüti, ein großes Wesen, der so wandelt, wandelt in der Vollkommenheit der Einsicht. Auf diese Weise, Subhüti, kommt es, trotzdem alle Gegebenheiten losgelöst und alle Gegebenheiten leer sind, zur Vorstellung von der Besudelung und von der Läuterung der Wesen." Der folgende Abschnitt (Kap. 1) bringt den Vergleich der Erscheinungswelt und vor allem auch des Erlöslingsvorganges mit einem Zaubertrug.
Aus dem 1. Kapitel Darauf sprach der ehrwürdige Subhüti zum Erhabenen folgendes: „Man sagt, o Erhabener, ,mit einer großen Ausrüstung ausgerüstet, mit dem großen Fahrzeug ausgerüstet.' Wodurch, o Erhabener, ist ein Bodhisattva, ein großes Wesen, mit einer großen Ausrüstung ausgerüstet?" Der Erhabene sprach: „Da kommt, Subhüti, einem Bodhisattva, einem großen Wesen, der Gedanke: ,Unermeßliche Wesen sind von mir zur Erlösung zu führen, unzählige Wesen sind von mir zur Erlösung zu führen. ' Und doch gibt es niemand, durch den sie zur Erlösung zu führen sind, und niemand, der zur Erlösung zu führen ist. Trotzdem führt er diese vielen Wesen zur Erlösung. Und doch gibt es kein Wesen, das erlöst wird, und keines, durch das es zur Erlösung gefuhrt wird. Aus welchem Grund? Dieses Wesen der Dinge (dharmatä dharmänäm), Subhüti, beruht auf dem Wesen eines Zaubertruges. Da schafft z. B., Subhüti, ein geschickter Zauberer oder Zauberlehrling an einer großen Straßenkreuzung eine große Menschenmenge, und nachdem er sie geschaffen hat, läßt er diese große Menschenmenge wieder verschwinden. Was meinst du nun, Subhüti? Ist dabei irgendjemand durch irgend jemanden getötet, gestorben, vernichtet oder verschwunden?" Subhüti sprach : „Nein, o Erhabener." Der Erhabene sprach: „Ebenso, Subhüti, fuhrt ein Bodhisattva, ein großes Wesen, unermeßliche und unzählige Wesen zur Erlösung. Und doch gibt es kein Wesen, das erlöst wird, und keines, durch das es zur Erlösung geführt wird. Wenn nun ein Bodhisattva, ein großes Wesen, wenn er die Darlegung dieser Lehre hört, nicht erbebt, nicht erzittert und nicht in Zittern gerät, dann ist, Subhüti, dieser Bodhisattva, dieses große Wesen, als mit einer großen Ausrüstung ausgerüstet zu betrachten."
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Zum Abschluß gebe ich endlich einen Abschnitt wieder, der vom Haften an den Gegenständen der Erscheinungswelt handelt und anschließend daran wertvolle Bemerkungen über das Wesen der Dinge und das höchste Sein enthält.
Aus dem 8. Kapitel Darauf sprach der ehrwürdige Säriputra zum ehrwürdigen Subhüti folgendes: „Welcher Art, ehrwürdiger Subhüti, ist das Haften?" Subhüti sprach: „Der Gedanke, ehrwürdiger Säriputra, daß die Form leer ist, ist Haften. Ebenso, ehrwürdiger Säriputra, ist der Gedanke, daß die Empfindung, das Bewußtsein, die Gestaltungen und das Erkennen leer sind, Haften. Wenn man von den vergangenen Gegebenheiten denkt, daß sie vergangene Gegebenheiten sind, so ist dies Haften. Wenn man von den zukünftigen Gegebenheiten denkt, daß sie zukünftige Gegebenheiten sind, so ist dies Haften. Wenn man von den gegenwärtigen Gegebenheiten denkt, daß sie gegenwärtige Gegebenheiten sind, so ist dies Haften. Und wenn man denkt, daß ein im Fahrzeug der Bodhisattva befindlicher Mensch durch die erste Erweckung des Gedankens (an die Erleuchtung) eine so und so große Menge von Verdienst erwirbt, so ist dies Haften." Darauf sprach Sakra, der Fürst der Götter, zum ehrwürdigen Subhüti folgendes: „Wieso, edler Subhüti, ist es Haften?" Subhüti sprach: „Wenn man, Kausika, vom Gedanken an die Erleuchtung denkt: ,Dies ist der erste Gedanke an die Erleuchtung', dann richtet man ihn (auf die höchste vollkommene Erleuchtung) mit dem Gedanken: ,Ich richte ihn auf die höchste vollkommene Erleuchtung.' Die Natur des Geistes läßt sich aber nicht richten, sei es von dem edlen Sohn, sei es von der edlen Tochter, die sich im großen Fahrzeug befinden. Wenn man daher, Kausika, einen andern über die höchste vollkommene Erleuchtung belehrt, ihn hinzuführen sucht, entflammt und begeistert, dann soll man ihn der Wahrheit entsprechend belehren, hinfuhren, entflammen und begeistern. Denn so schadet der edle Sohn oder die edle Tochter nicht sich selbst und führt den andern auf die vom Buddha gebilligte Art (zur höchsten vollkommenen Erleuchtung). Und er vermeidet dabei alle diese Millionen Arten des Haftens." Da spendete der Erhabene dem ehrwürdigen Subhüti Beifall: „Trefflich, trefflich, Subhüti, der du die Bodhisattva, die großen Wesen, über diese Millionen Arten des Haftens belehrst! Ich will dir daher noch andere, feinere Arten des Haftens verkünden. Höre also und achte wohl und gut darauf! Ich werde zu dir sprechen." „Gut, Erhabener", antwortete der ehrwürdige Subhüti dem Erhabenen. Der Erhabene sprach folgendes: „Da betrachtet, Subhüti, ein gläubiger edler Sohn oder eine edle Tochter den Vollendeten, Heiligen, vollkommen Erleuchteten auf Grund eines Merkmals (nimittam). So viele Merkmale es aber gibt, Subhüti, so viele Arten des Haftens gibt es. Aus welchem Grund? Aus dem Merkmal, Subhüti, ergibt sich nämlich das Haften. Indem er nun denkt: ,Ich freue mich an
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den unbefleckten Eigenschaften der vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen erhabenen Buddha', richtet er mit dem Gedanken: ,Ich will diese Wurzel des Guten auf die höchste, vollkommene Erleuchtung richten', diese von Freude und vom Gegenstand der Freude begleitete (Wurzel des Guten auf die höchste vollkommene Erleuchtung). Das Wesen der Gegebenheiten, Subhüti, ist jedoch weder vergangen, noch zukünftig, noch gegenwärtig. Was aber weder vergangen, noch zukünftig, noch gegenwärtig ist, das ist losgelöst von den drei Zeitstufen. Und was von den drei Zeitstufen losgelöst ist, das kann nicht gerichtet werden, das kann nicht als Merkmal dienen und nicht als Anhaltspunkt dienen. Und es wird weder gesehen noch gehört, noch gedacht, noch erkannt." Subhüti sprach: „Tiefgründig, o Erhabener, ist die Natur der Gegebenheiten." Der Erhabene sprach: „Wegen ihrer Losgelöstheit, Subhüti." Subhüti sprach: „Von Natur aus tiefgründig, o Erhabener, ist die Vollkommenheit der Einsicht." Der Erhabene sprach: „Weil sie von Natur aus rein ist, Subhüti, weil sie von Natur aus losgelöst ist, ist die Vollkommenheit der Einsicht von Natur aus tiefgründig." Subhüti sprach: „Von Natur aus losgelöst, o Erhabener, ist die Vollkommenheit der Einsicht. Ich bezeige, o Erhabener, der Vollkommenheit der Einsicht meine Verehrung." Der Erhabene sprach: „Auch alle Gegebenheiten, Subhüti, sind von Natur aus losgelöst. Und dieses von Natur aus Losgelöstsein aller Gegebenheiten ist die Vollkommenheit der Einsicht. Aus welchem Grund? Weil alle Gegebenheiten, Subhüti, vom Vollendeten, Heiligen, vollkommen Erleuchteten als ungeschaffen erschaut worden sind." Subhüti sprach: „Daher, o Erhabener, sind alle Gegebenheiten vom Vollendeten, Heiligen, vollkommen Erleuchteten nicht erschaut worden." Der Erhabene sprach: „Weil, Subhüti, die Gegebenheiten von Natur aus Nichts sind. Denn ihre Natur ist eine Nichtnatur und die Nichtnatur ist ihre Natur, weil alle Gegebenheiten nur ein Merkmal (laksanam) haben, nämlich die Merkmallosigkeit. Daher, Subhüti, sind alle Gegebenheiten vom Vollendeten, Heiligen, vollkommen Erleuchteten nicht erschaut worden. Aus welchem Grund? Es gibt nämlich, Subhüti, nicht zwei Naturen der Gegebenheiten. Denn die Natur aller Gegebenheiten, Subhüti, ist nur Eine. Und diese Natur aller Gegebenheiten, Subhüti, ist eine Nichtnatur und diese Nichtnatur ist ihre Natur. So sind, Subhüti, alle diese Millionen Arten des Haftens vermieden." Diese Beispiele werden genügen, um von der reichen Literatur der Prajftäpäramitä-Texte wenigstens eine flüchtige Vorstellung zu geben. Aus der Fülle der übrigen alten Mahäyäna-Sütren greife ich als Probe nur ein einzelnes Werk heraus, den „Juwelenhaufen" (Ratnakütah)1. Diesem Werk kommt deswegen besondere Bedeutung zu, weil in ihm zuerst ein Gedanke ausführlich entwikkelt wird, der für die Entstehung des Madhyamaka-Systems von entscheidender Wichtigkeit war, nämlich der Gedanke des mittleren Weges. Schon der Buddha hatte seine Lehre den mittleren Weg genannt, weil sie zwischen den Extremen 1
Das ist der Name des alten Sütras. In späterer Zeit wurde unter diesem Namen eine ganze Gruppe von Sütren zusammengefaßt und der alte Text erhielt innerhalb dieser Gruppe den Titel „Käsyapa-Abschnitt" (Käsyapaparivartah).
Die Prajñapáramita-Literatur
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des Wohllebens und der übertriebenen Askese die richtige Mitte hält. Bald wurden diesem Begriff auch philosophische Gedanken unterlegt. Bereits im Kanon finden wir eine Lehrrede, die Belehrung des Kätyäyana (Kätyäyanävavädah), in der der Buddha die Ansichten, daß Alles und daß Nichts existiert, als Extreme ablehnt und ihnen seine Lehre als mittlere Lehre gegenüberstellt. Und auch in den Prajfiäpäramitä-Werken treten ähnliche Gedanken auf. Das ist an sich nichts Neues. Die Ablehnung der Gegensätze ist in der philosophischen Gedankenwelt Indiens weit verbreitet und vor allem ist es seit der Zeit der Upanisaden gebräuchlich, bei den Versuchen, das höchste Sein zu bestimmen, alle Bestimmungen durch gegensätzliche Begriffe abzulehnen. Im Ratnakütah ist aber dieser Gedanke zur vollen Geltung gebracht und bewußt in den Mittelpunkt gestellt. Die richtige Betrachtung des höchsten Seins besteht eben in der grundsätzlichen Verneinung aller gegensätzlichen Bestimmungen, und dies allein ist die richtige Lehre, der mittlere Weg. Der Gedanke des mittleren Weges bestimmt also hier entscheidend die ganze Formung der Lehre. Neben diesem Grundgedanken wird ferner vor allem noch die Unbeteiligtheit des höchsten Seins an allen Vorgängen der Erscheinungswelt aufs schärfste betont und die strenge Mahnung ausgesprochen, nicht den gewöhnlichen Vorstellungen anzuhängen, da gerade die Wesenlosigkeit der Dinge als Lehre im gewöhnlichen Sinn aufgefaßt die verhängnisvollste Bindung herbeiführt. Der Ratnakütah gehört zu den ältesten Mahäyäna-Sütren. Er wurde schon im 2. Jahrhundert n. u. Z. ins Chinesische übersetzt, fallt also noch in die Zeit vor der Schöpfung des Madhyamaka-Systems durch Nägäijuna. Im Vergleich zu den Werken der Prajñaparamitä-Literatur stellt er jedoch einen wesentlichen Fortschritt dar. Gegenüber den abgerissen und geheimnisvoll schroff vorgetragenen Lehren der Prajfiäpäramitä finden wir hier einen systematisch durchgeführten Gedankengang, und die Gedanken selbst sind tiefer durchdacht und besser ausgeführt. Beiläufig sei noch bemerkt, daß ein Großteil des Werkes sich mit Fragen der Erlösungslehre beschäftigt, die aber für uns hier ohne Bedeutung sind.
Aus dem „Juwelenhaufen" (Ratnakütah) §52 „Ein Bodhisattva, Käsyapa, der sich in dieser Lehrverkündigung, dem großen ,Juwelenhaufen', zu schulen wünscht, muß um die Lehre richtig bemüht sein. Welches ist, Käsyapa, die richtige Bemühung um die Lehre? Die wahrheitsgemäße Betrachtung aller Gegebenheiten. Welches ist, Käsyapa, die wahrheitsgemäße Betrachtung aller Gegebenheiten? Wenn man sie, Käsyapa, nicht als Selbst betrachtet, wenn man sie nicht als Wesen, nicht als Seele, nicht als Menschen, nicht als Person, nicht als Menschenkind und nicht als Menschenwesen
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Die Schulen des Mahayäna
betrachtet, das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §53 Dies ist ferner, Käsyapa, der mittlere Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. Wenn man die Form nicht als ewig betrachtet und nicht als nichtewig betrachtet, wenn man die Empfindung, das Bewußtsein, die Gestaltungen und das Erkennen nicht als ewig betrachtet und nicht als nichtewig betrachtet, das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §54 Wenn man das Element der Erde nicht als ewig betrachtet und nicht als nichtewig betrachtet, wenn man das Element des Wassers, das Element des Feuers und das Element des Windes nicht als ewig betrachtet und nicht als nichtewig betrachtet, wenn man das Element des Raumes und das Element des Erkennens nicht als ewig betrachtet und nicht als nichtewig betrachtet, das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §56 ,Ewig', Käsyapa, das ist ein Extrem. ,Nichtewig', Käsyapa, das ist ein zweites Extrem. Was zwischen diesen beiden, dem Ewigen und dem Nichtewigen in der Mitte liegt, das ist formlos, unzeigbar, ohne Erscheinungsbild, ohne Erkennen, ohne Halt und ohne Kennzeichen. Das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §57 ,Selbst (ätmäy, Käsyapa, das ist ein Extrem. ,Nichtselbst (nairätmyam)\ Käsyapa, das ist ein zweites Extrem. Was zwischen diesen beiden, dem Selbst und Nichtselbst in der Mitte liegt, das ist formlos, unzeigbar, ohne Erscheinungsbild, ohne Erkennen, ohne Halt und ohne Kennzeichen. Das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §58 ,Richtiges Erkennen (bhütacittamf, Käsyapa, das ist ein Extrem. ,Unrichtiges Erkennen', Käsyapa, das ist ein zweites Extrem. Wo es, Käsyapa, keinen Geist, kein Denken und kein Erkennen gibt, das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten.
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§59 Ebenso, Käsyapa, ist bei allen Gegebenheiten, heilbringenden und unheilbringenden, weltlichen und überweltlichen, tadelnswerten und tadellosen, befleckten und unbefleckten, verursachten und nichtverursachten ,Besudelung' ein Extrem, ,Läuterung' ein zweites Extrem. Das Nichtannehmen, das Nichtmitteilen und Nichtaussprechen dieser beiden Extreme, das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §60 ,Sein', Käsyapa, das ist ein Extrem. ,Nichtsein', Käsyapa, das ist ein zweites Extrem. Was zwischen diesen beiden Extremen in der Mitte liegt, das nennt man, Käsyapa, den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §61-62 Was ich euch ferner gesagt habe, Käsyapa, daß abhängig vom Nichtwissen die Willensregungen (= Gestaltungen) entstehen, abhängig von den Willensregungen das Erkennen, abhängig vom Erkennen Name und Form, abhängig von Name und Form der sechsfache Bereich, abhängig vom sechsfachen Bereich die Berührung, abhängig von der Berührung die Empfindung, abhängig von der Empfindung der Durst, abhängig vom Durst das Ergreifen, abhängig vom Ergreifen das Werden, abhängig vom Werden die Geburt, abhängig von der Geburt Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Betrübnis und Verzweiflung, und daß so die Entstehung dieser ganzen großen Leidensmasse zustande kommt, daß ferner durch Aufhebung des Nichtwissens die Willensregungen aufgehoben werden, durch Aufhebung der Willensregungen das Erkennen, durch Aufhebung des Erkennens Name und Form, durch Aufhebung von Name und Form der sechsfache Bereich, durch Aufhebung des sechsfachen Bereiches die Berührung, durch Aufhebung der Berührung die Empfindung, durch Aufhebung der Empfindung der Durst, durch Aufhebung des Durstes das Ergreifen, durch Aufhebung des Ergreifens das Werden, durch Aufhebung des Werdens die Geburt, durch Aufhebung der Geburt Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Betrübnis und Verzweiflung, und daß so die Aufhebung dieser ganzen großen Leidensmasse zustande kommt, dabei, Käsyapa, ist Wissen und Nichtwissen nicht zweierlei und bildet keine Zweiheit. Und diese Erkenntnis, Käsyapa, nennt man den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. Ebenso sind die Gestaltungen und das Nichtgestaltete (asamskrtam), das Erkennen und die Aufhebung des Erkennens, Name und Form und die Aufhebung von Name und Form, der sechsfache Bereich und die Aufhebung des sechsfachen Bereiches, die Berührung und die Aufhebung der Berührung, die Empfindung und die Aufhebung der Empfindung, der Durst und die Aufhebung des Durstes, das Ergreifen und die Aufhebung des Ergreifens, das Werden und die Aufhebung des Werdens,
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die Geburt und die Aufhebung der Geburt, das Alter und die Aufhebung des Alters nicht zweierlei und bilden keine Zweiheit. Und diese Erkenntnis, Käsyapa, nennt man den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §63 Dies ist ferner, Käsyapa, der mittlere Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten, daß man die Gegebenheiten nicht durch die Leerheit leer macht, die Gegebenheiten vielmehr selbst leer sind, daß man die Gegebenheiten nicht durch das Merkmallose merkmallos macht, die Gegebenheiten vielmehr selbst merkmallos sind, daß man die Gegebenheiten nicht durch das Unbegehrte unbegehrt macht, die Gegebenheiten vielmehr selbst unbegehrt sind, daß man die Gegebenheiten nicht durch das Nichtgestalten nichtgestaltet macht, die Gegebenheiten vielmehr selbst nichtgestaltet sind, daß man die Gegebenheiten nicht durch das Nichtentstehen entstehungslos macht, die Gegebenheiten vielmehr selbst unentstanden sind, daß man die Gegebenheiten nicht durch das Nichtgeborenwerden ungeboren macht, die Gegebenheiten vielmehr selbst ungeboren sind, und daß man die Gegebenheiten nicht durch die Wesenlosigkeit (asvabhävatä) wesenlos macht, die Gegebenheiten vielmehr selbst wesenlos sind. Diese Betrachtung, Käsyapa, nennt man den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten. §64 Nicht führt ferner, Käsyapa, die Leerheit zur Vernichtung der Person. Die Leerheit ist vielmehr selbst leer. Sie ist am Anfang leer, am Ende leer und in der Gegenwart leer. Der Leerheit, Käsyapa, wendet euch zu, nicht der Person! Diejenigen jedoch, Käsyapa, welche sich der Leerheit zuwenden, indem sie sich die Leerheit vorstellen, die nenne ich, Käsyapa, verloren und völlig verloren für diese Lehre. Besser, Käsyapa, ist das Bekenntnis zum Glauben (drstih) an die Person, mag er auch groß sein wie der Götterberg Sumeru, als der Glaube an die Leerheit bei jemandem, der sich dem Wahne hingibt. Aus welchem Grund? Für alle Arten von Glauben, Käsyapa, ist nämlich die Leerheit der Ausweg, wer jedoch an die Leerheit glaubt, Käsyapa, wie will der einen Ausweg finden? §65 Wenn ζ. B., Käsyapa, ein Mann krank wäre und der Arzt gäbe ihm ein Heilmittel und dieses Heilmittel triebe alle Krankheitsstoffe heraus, bliebe aber selbst im Magen liegen und käme nicht heraus - was meinst du wohl, Käsyapa, wäre dieser kranke Mann von der Krankheit befreit?" Er sprach: „Nein Erhabener. Die Krankheit dieses Mannes wäre nur noch schwerer, bei dem das Heilmittel alle Krankheitsstoffe herausgetrieben hat, selbst aber im Magen liegengeblieben ist
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und nicht herauskommt." Der Erhabene sprach: „Ebenso, Käsyapa, ist die Leerheit der Ausweg für alle Arten von Glauben, wer jedoch an die Leerheit glaubt, Käsyapa, den nenne ich unheilbar." Diese Beispiele aus der alten Sütren-Literatur zeigen, wie weit die philosophische Gedankenbildung zu Beginn unserer Zeitrechnung im Mahäyäna bereits fortgeschritten war. Die Anschauungen über die Unwirklichkeit der Außenwelt und über das Wesen der höchsten Wirklichkeit hatten bereits feste Gestalt angenommen und verschiedene grundlegende Gedankengänge waren klar und systematisch durchgeführt. Damit war aber noch kein philosophisches System geschaffen. Das war erst das Werk eines Mannes, der zu den bedeutendsten Gestalten des Buddhismus und der indischen Philosophiegeschichte überhaupt zählt, des Nägäijuna.
Nägarjuna (um 200 n. u. Z.) Das Leben Nägäijunas, des Begründers der ersten philosophischen Schule des Mahäyäna, der Schule der Mädhyamika, ist so von Legenden überwuchert, daß es schwer fällt, einen historischen Kern herauszuschälen. Nicht nur, daß ihn die Legende zum Zauberer und Alchimisten gemacht hat, auch Nachrichten über andere Personen des gleichen Namens sind mit der Überlieferung über ihn verschmolzen, so daß wir nur vermutungsweise das wenige Echte herauslösen können. Wenn wir also der Überlieferung trauen dürfen, so war seine Heimat Vaidarbha, das heutige Berär in Mittelindien. Den größten Teil seines Lebens scheint er aber in Südindien, im Ändhra-Reich, verbracht zu haben, wo er sich der Gunst und Freundschaft eines der letzten Könige aus dem Hause der äätavähana erfreute. Die letzten Tage seines Lebens verweilte er auf dem àrïparvata am Ufer der Krsnä (Kistna). Ebenso unsicher wie über sein Leben sind auch die Nachrichten über seine schriftstellerische Tätigkeit. Die spätere Zeit hat eine ganze Literatur auf seinen Namen gestellt, worunter nicht nur Werke enthalten sind, welche seinen Namen zu Unrecht tragen, sondern auch die Werke anderer Verfasser des gleichen Namens. Allgemein gilt als sein Werk das Grundwerk der MadhyamakaSchule, die Madhyamakakärikä („Merkverse der Mittleren Lehre"). Daneben steht eine Anzahl von Werken, deren Echtheit höchst wahrscheinlich ist. Noch weit größer aber ist die Zahl der Werke, deren Verfasserschaft fraglich bleibt und erst geklärt werden muß. Ich bringe daher in der folgenden Auswahl vor allem Abschnitte aus der Madhyamakakärikä. Daneben gebe ich nur noch Proben aus zwei Werken, deren Echtheit mir sicher scheint. Und auch die folgende kurze Darstellung der Lehre Nägäijunas gründet sich ausschließlich auf die Madhyamakakärikä.
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Wie wir bereits gesagt haben, hat Nägäijuna als erster ein philosophisches System des Mahäyäna geschaffen. Damit ist allerdings kein System im späteren Sinn gemeint. Es handelt sich um kein geschlossenes Lehrgebäude in systematischer Darstellung. Dazu war seine Zeit noch nicht fortgeschritten. Aber er hat die Unwirklichkeit der Außenwelt, welche in der Prajfläpäramitä bloß behauptet worden war, exakt zu beweisen versucht. Und er hat die entscheidenden Grundbegriffe der Madhyamaka-Schule herausgearbeitet und festgelegt. Systematisch zusammengestellt ergeben die von ihm vertretenen Anschauungen etwa folgendes Bild. Sein Hauptziel ist der Nachweis der Unwirklichkeit der Außenwelt. Und zwar setzt er an Stelle der bloßen Behauptungen der Prajfläpäramitä regelrechte Schlußfolgerungen, indem er mit kühner Logik zeigt, daß die gewöhnlichsten Begriffe des täglichen Lebens unmöglich sind, und daß die Erscheinungs welt, wie sie sich uns darstellt, eben weil sie auf diesen Begriffen beruht, unmöglich ist. In seinem Hauptwerk, der Madhyamakakärikä, schüttet er eine ganze Fülle solcher Schlußfolgerungen vor dem Leser aus, so daß sie zunächst verwirrend wirken. Aber trotzdem fehlt es nicht an einem Kern fester Anschauungen, der dieser verwirrenden Fülle zugrunde liegt. Vor allem hat Nägäijuna für das Wesen der Erscheinungswelt eine bestimmte Grundanschauung festgelegt. Die Prajfläpäramitä hatte, wenn die Rede auf die Außenwelt kam, gewöhnlich von den fünf Gruppen gesprochen. Nägäijuna setzt dafür das abhängige Entstehen {pratïtyasamutpâdah). Schon seit der Zeit des Buddha hatte bei der Betrachtung der Außenwelt ihre Vergänglichkeit im Vordergrund gestanden. Man sah das Wesen der Welt vor allem im ständigen Werden und Vergehen, das durch das Gesetz des abhängigen Entstehens beherrscht wird. Und so erschien fur Nägärjuna eben dieses Gesetz des abhängigen Entstehens als die geeignete Formel, um das Wesen der Erscheinungswelt auszudrücken. Und daher bezog er auch seine Schlußfolgerungen auf dieses abhängige Entstehen. Was die Begriffe betrifft, auf denen unsere Auffassung der Erscheinungswelt beruht und deren Unmöglichkeit Nägäijuna nachzuweisen sucht, so hatte die Prajfläpäramitä solche Begriffe ziemlich willkürlich herausgegriffen. Nägäijuna wählt nach dem Vorbild des Ratnakütah mit Vorliebe gegensätzliche Begriffspaare. Das abhängige Entstehen ist für ihn unwirklich, weil die entgegengesetzten Möglichkeiten des Werdens und Vergehens, der Ewigkeit und der Vergänglichkeit usw. beide nicht zutreffen. Die wahre Lehre besteht vielmehr in der Ablehnung beider Gegensätze, im mittleren Weg. Damit knüpft Nägäijuna an die Verkündigung des Buddha an, der seine Lehre selbst als mittleren Weg bezeichnet hatte, und erhebt den Anspruch, die echte Lehre des Buddha zu verkünden. Und deshalb heißt sein System auch die mittlere Lehre, Madhyamakadarsanam. Die grundlegende Schlußfolgerung, von der er ausgeht, soll zeigen, daß weder ein Entstehen, noch ein Vergehen möglich ist. Dann folgt eine lange Reihe ähnlicher Schlußfolgerungen, die zunächst verwirren und fast betäuben. Bei näherer Betrachtung zeigen sich aber auch hier feste Grundanschauungen, die immer wiederkehren. Eine dieser Anschauungen, mit der Nägäijuna mit Vorliebe arbei-
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tet, ist die Relativität der gegensätzlichen Begriffe. Solche Begriffe sind nämlich gegenseitig voneinander abhängig, weil das eine nur möglich ist, wenn auch das andere gegeben ist. Daraus folgert Nägäijuna aber, daß es die entsprechenden Dinge nicht wirklich geben kann, weil das Vorhandensein eines jeden immer bereits das Vorhandensein des anderen voraussetzt. Eine Ursache ist ζ. B. erst im Hinblick auf eine Wirkung Ursache. Es kann daher keine Ursache geben, solange die Wirkung nicht vorhanden ist. Ohne Ursache gibt es aber auch wieder keine Wirkung. Den Fehler, der dieser Folgerung zugrunde liegt, vermochte weder er noch seine Zeit zu erkennen. Noch wichtiger ist der von Nägäijuna eigenartig entwickelte Begriff des eigenen Wesens (svabhävah). Eigenes Wesen bedeutet nach Nägäijuna, der indischen Wortbedeutung entsprechend, ein Sein aus sich selbst und nur durch sich selbst bedingt, unabhängig von allem andern. Daraus folgt aber, daß ein solches eigenes Wesen nicht entstanden ist, weil es nicht verursacht sein kann, und daß es nicht dem Vergehen unterworfen ist, weil sein Bestehen von nichts anderem abhängt. Es ist daher ewig und unvergänglich. Und so folgert denn Nägäijuna, daß die Dinge der Erscheinungswelt, weil sie dem ständigen Werden und Vergehen unterliegen, kein eigenes Wesen besitzen können. Sie sind also wesenlos, d. h. unwirklich. Diese Begründung der Unwirklichkeit der Dinge ermöglicht ihm gleichzeitig, das Wesen der Erscheinungswelt, wie er sie sieht, schärfer zu erfassen. Die Unwirklichkeit der Erscheinungswelt bedeutet nicht, daß sie nicht ist. Sie ist nur nicht wesenhaft. Damit rückt eine Bestimmung in den Vordergrund, welche in der Prajüäpäramitä noch eine unter vielen war, die aber für Nägäijuna zum entscheidenden Ausdruck für das Wesen der Erscheinungswelt wurde, die Leerheit (sünyatä). Die Dinge der Erscheinungswelt sind leer, wesenlos. Wir können daher weder sagen, daß die Dinge sind, noch, daß sie nicht sind. Beides ist fehlerhaft. Beides sind Gegensätze. Die Wahrheit liegt in der Mitte, im mittleren Weg, in der Leerheit. Diese Beschaffenheit macht aber die Erscheinungswelt, wie wir sie sehen, überhaupt erst möglich. Wenn die Dinge ein eigenes Wesen besäßen, könnten sie, wie gesagt, weder entstehen noch vergehen. Erst durch ihre Unwirklichkeit kann der ganze Weltlauf nach dem Gesetz des abhängigen Entstehens abrollen. Die Erscheinungswelt besteht also, und sie besteht nach ihren eigenen festen Gesetzen. Es kommt ihr somit auch eine gewisse Wahrheit zu, allerdings keine Wahrheit im Sinne der höchsten Wirklichkeit, sondern eine beschränkte Wahrheit (samvrtisatyam). Und im Sinne der beschränkten Wahrheit hat das Weltgeschehen und vor allem auch der buddhistische Erlösungsweg und die Verkündigung des Buddha seine Gültigkeit. Denn vom Standpunkt der höchsten Wahrheit (paramärthasatyam), welche ausschließlich fur die höchste Wirklichkeit zutrifft, gibt es weder einen Buddha, noch eine Lehre, noch eine Gemeinde, da diese alle der Erscheinungswelt angehören. Noch eine zweite Anschauung über das Wesen der Erscheinungswelt ist zu erwähnen, welche bei Nägärjuna zwar noch nicht zur vollen Geltung kommt,
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aber zum erstenmal bedeutungsvoll auftritt. Das Wesen der Erscheinungswelt ist die Vielfalt {prapañcah), ein Begriff, der von Nägäquna noch nicht weiter zergliedert wird. Die Welt der Abhängigkeit baut auf der Mannigfaltigkeit auf, welche durch die Vielfalt gegeben ist. Vor allem aber beruhen auf der Vielfalt alle unsere Vorstellungen, welche uns die Erscheinungswelt vortäuschen, auf die höchste Wirklichkeit aber nicht zutreffen, weil diese von jeder Vielfalt frei ist. Und hier liegt einer der Keime zu der späteren Lehre, welche in der Erscheinungswelt eine Schöpfung des Erkennens sieht. Was die höchste Wirklichkeit betrifft, so hat Nägäijuna über sie weniger Neues und Eigenes zu sagen als über die Erscheinungswelt. Vor allem vermeidet er die in der Prajfiäpäramitä vorkommenden positiven Ausdrücke und Benennungen. Er spricht von keinem Element der Gegebenheiten (dharmadhätuh), von keiner Soheit (tathatä), sondern nur vom Erlöschen, dem Nirväna. Dieses ist ohne Entstehen und Vergehen, ohne Aufhören und auch nicht ewig. Und vor allem ist es weder seiend noch nicht seiend, da Sein und Nichtsein als gegensätzliche Begriffe der Welt der Abhängigkeit angehören. Ferner ist das Nirväna frei von jeder Vielfalt, bietet also unseren Vorstellungen keine Grundlage und ist daher unvorstellbar und unausdrückbar. In ihm ist somit die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und das Gesetz des abhängigen Entstehens aufgehoben. Es ist von Natur aus friedvoll (säntam). Auf diese Weise ergeben sich aber über das Nirväna die gleichen Aussagen wie über das Wesen der Erscheinungswelt. Und so kommt Nägäijuna, ebenso wie die Prajfiäpäramitä, dazu, die Einheit der Erscheinungswelt und des Nirvänas zu behaupten. Dieselben Bestimmungen, welche fur das Wesen der Dinge (dharmatä) gelten, gelten auch für das Nirväna. Nirväna und Erscheinungswelt sind gewissermaßen nur zwei Erscheinungsformen desselben Wesens. Was in der Bedingtheit und Abhängigkeit die Erscheinungswelt darstellt, das ist frei von der Bedingtheit und Abhängigkeit das Nirväna. Und Nägäijuna scheut sich nicht, diese Wesensgleichheit aufs nachdrücklichste und schärfste zu betonen. Die Erscheinungswelt und das Nirväna sind ein und dasselbe. Es besteht zwischen ihnen nicht der geringste Unterschied. Daraus folgt aber auch, daß das Nirväna nichts Getrenntes für sich ist, das man erlangt, indem man sich von der Erscheinungswelt befreit. Es besteht vielmehr nur darin, daß man den Trug der Erscheinungswelt nicht mehr wahrnimmt, indem die Vielfalt, auf die sie sich gründet, zur Ruhe kommt. Damit ist gleichzeitig auch gesagt, worin nach der Lehre Nägäqunas die Erlösung besteht. Es bleibt nur noch kurz hinzuzufügen, wie sich der Erlösungsvorgang innerhalb der Erscheinungswelt darstellt. Diese Frage hat Nägäijuna recht einfach gelöst. Nach alter Hînayâna-Lehre beruht die Wiedergeburt auf den Werken und die Wirksamkeit der Werke auf den Lastern, vor allem auf dem falschen Glauben an ein Ich, an eine Seele. Nägäijuna sagt nun, daß mit der Aufhebung der Vielfalt, wie sie sich aus der Leerheit aller Dinge ergibt, allen Vorstellungen, welche sich mit den Dingen der Erscheinungswelt beschäftigen, die Grundlage entzogen ist. Damit wird aber auch der Glaube an ein Ich hinfällig, und mit ihm schwindet die Wirksamkeit der Werke und die Wiedergeburt
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findet ein Ende. Somit ist letzten Endes die Erkenntnis der Leerheit aller Dinge die Ursache der Erlösung und sie gibt den Anstoß zum Abrollen des Erlösungsvorganges, wie man ihn sich bisher vorgestellt hatte. Das sind in den Grundzügen die Anschauungen Nägäijunas, wie sie sich aus der Darstellung der Madhyamakakärikä ergeben. Wir wenden uns nunmehr den Werken Nägäijunas selber zu, und zwar zunächst seinem Hauptwerk, eben der Madhyamakakärikä. Wir beginnen dabei mit dem ersten Kapitel, das den grundlegenden Nachweis der Unmöglichkeit jedes Entstehens enthält. Das Kapitel ist gleichzeitig ein gutes Beispiel für die Logik Nägäijunas, die zwar großenteils auf Trugschlüssen beruht, aber, ähnlich den Trugschlüssen des Eleaten Zenon, durch ihre überraschende Kühnheit grossen Eindruck machte. Vorausgeschickt ist, wie in buddhistischen Werken zumeist, eine Strophe zu Ehren des Buddha, die aber gleichzeitig kurz angibt, was den wesentlichen Inhalt des Werkes ausmacht: nämlich die wahre Lehre des Buddha, d. h. das abhängige Entstehen {pratityasamutpädah) als Wesen der Erscheinungswelt, so wie es in Wahrheit ist, frei von allen gegensätzlichen Bestimmungen, und damit das Aufhören der Vielheit der Erscheinungen und die Erlösung. Die eigentliche Darstellung beginnt mit der grundsätzlichen Behauptung, daß es kein Entstehen geben kann, weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beiden noch aus keinem von beiden. Eine kurze Begründung gibt der folgende Vers. Die Dinge können nicht aus sich selbst entstehen, weil ihr eigenes Wesen, wie zunächst vorausgesetzt wird, in den Ursachen nicht vorhanden ist. Solange aber ihr eigenes Wesen nicht gegeben ist, kann es auch kein anderes Wesen geben, da jedes andere Wesen nur als Gegensatz zum eigenen Wesen möglich ist. Infolgedessen können die Dinge auch nicht aus etwas anderem entstehen. Nägärjuna stützt sich hier also auf die Relativität der gegensätzlichen Begriffe, die das Vorkommen des einen vom Vorhandensein des anderen abhängig macht. Dann geht er dazu über, um die Unmöglichkeit eines Entstehens zu beweisen, die gegnerische Ursachenlehre zu widerlegen, und zwar zunächst die Lehre der Hinayäna-Dogmatik. Nach dieser gibt es viererlei Ursachen: Den Grund (hetuh) oder die hervorbringende Ursache. Den Anhaltspunkt (älambanatn) oder das Objekt der Erkenntnis. Die unmittelbar vorhergehende Ursache (samanantarapratyayah). Darunter ist gemäß der buddhistischen Lehre von der Augenblicklichkeit aller Dinge der Augenblick im Augenblicksstrom eines Dinges zu verstehen, der dem als Wirkung betrachteten Augenblick unmittelbar vorangeht und daher als seine Ursache anzusehen ist. Schließlich die bestimmende Ursache (adhipatipratyayah). Dazu zählen alle Dinge, welche durch ihr bloßes Vorhandensein das Entstehen einer Wirkung ermöglichen. Gegen diese Lehre bringt Nägäijuna zuerst allgemeine Einwände vor. Eine Wirkung kann, wie er sagt, weder Ursachen haben, noch ohne Ursache sein, und umgekehrt können die Ursachen weder eine Wirkung haben noch ohne Wirkung sein. Zur Begründung dieser Behauptung benützt er wieder die Relativität der Begriffe. Ursache nennt man das, wovon eine Wirkung abhängt. Solange aber die Wirkung nicht vorhanden ist, kann sie auch von nichts abhängen. Und somit kann es vor dem Entstehen der Wirkung auch keine Ursache geben.
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Andrerseits kann die Ursache weder etwas Vorhandenes noch etwas Nichtvorhandenes zur Wirkung haben. Denn als Ursache von etwas Nichtvorhandenem wäre sie, wie gesagt, nicht Ursache. Und als Ursache einer bereits vorhandenen Wirkung wäre sie zwecklos. Dann wendet sich Nägäijuna kurz in je einem Vers gegen die verschiedenen Arten von Ursachen, welche die Hînayâna-Dogmatik annimmt. Gegen den Grund oder die hervorbringende Ursache bemerkt er im Anschluß an das zuletzt Gesagte, daß, wenn die Wirkung, also das Hervorgebrachte, weder vorhanden, noch nichtvorhanden, noch vorhanden-und-nichtvorhanden sein kann, natürlich auch eine hervorbringende Ursache unmöglich ist. Hinsichtlich des Anhaltspunktes beruft er sich auf ein Buddhawort in den Prajfiäpäramitä-Texten, nach dem die Gegebenheiten ohne Anhaltspunkt sind. Zur Widerlegung der unmittelbar vorhergehenden Ursache stützt er sich auf die Definition des Gegners, der das Vergehen des vorhergehenden Augenblicks als Ursache des folgenden bezeichnet hatte. Das Vergehen kann aber nicht eintreten, bevor der folgende Augenblick entstanden ist. Ist es aber eingetreten, dann ist nichts mehr vorhanden, was Ursache sein könnte. Was schließlich die bestimmende Ursache betrifft, so verweist er auf die später noch ausführlicher begründete Wesenlosigkeit aller Dinge, welche es nicht erlaubt, von ihrem Sein zu sprechen, so daß es also unmöglich ist, zu behaupten, daß das Vorhandensein eines Dinges vom Vorhandensein eines anderen abhängt. Die folgenden Verse (v. 1-4) scheinen gegen die Kausalitätslehre des Sämkhya und des Vaisesika gerichtet zu sein, welche vor allem die materielle Ursache im Auge hatten, und von denen das Sämkhya lehrte, daß die Wirkung bereits in der Ursache vorhanden sei, während das Vaisesika das Gegenteil behauptete. Nägäijuna nimmt nun zunächst den Standpunkt ein, daß die Wirkung weder in den gesamten noch in den einzelnen Ursachen vorhanden ist, und stellt die Frage, wie etwas aus Ursachen hervorgehen kann, in denen es nicht enthalten ist. Und selbst wenn dies geschehen sollte, warum entsteht es dann, so fragt er weiter, nur aus bestimmten Dingen als Ursache und nicht auch aus anderen. Wenn man dagegen annimmt, daß die Wirkung in den Ursachen enthalten ist, also ihr Wesen hat, dann gilt das gleiche auch bereits für diese Ursachen. Sie haben also selbst kein eigenes Wesen und wie kann man daher behaupten, daß die Wirkung ihr Wesen hat. Und nun schließt Nägäijuna: Wenn also die Wirkung in den Ursachen weder enthalten noch nichtenthalten ist, so gibt es überhaupt keine Wirkung. Und wenn es keine Wirkung gibt, so gibt es auch keine Ursache.
Aus den „Merkversen der mittleren Lehre" (Madhyamakakärikä) Kapitel I Den Buddha, der das abhängige Entstehen verkündet hat als ohne Vernichtung und ohne Entstehen, ohne Aufhören und nicht ewig, ohne Einheit und ohne Man-
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nigfaltigkeit, ohne Kommen und ohne Gehen, als das friedvolle Zurruhekommen der Vielfalt (prapañcah), ihn, den Trefflichsten der Lehrer, verehre ich. 1 Weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beiden, noch ohne Grund sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge entstanden.
2 Denn das eigene Wesen der Dinge ist in den Ursachen usw. nicht vorhanden. Wenn aber kein eigenes Wesen vorhanden ist, dann ist auch kein fremdes Wesen vorhanden. 3 Es gibt vier Ursachen, den Grund, den Anhaltspunkt die unmittelbar vorhergehende und die bestimmende Ursache. Eine fünfte Ursache gibt es nicht. 4 Die Wirkung hat keine Ursache. Die Wirkung ist aber auch nicht ohne Ursache. Ebenso sind die Ursachen nicht ohne Wirkung, sie haben aber auch keine Wirkung. 5 Wovon das Entstehen eines (Dinges) abhängt, das gilt als seine Ursachen. Solange es aber nicht entsteht, wieso sollten sie solange nicht NichtUrsachen sein?
6 Weder bei einem nichtseienden noch bei einem seienden Gegenstand ist eine Ursache am Platz. Denn wessen Ursache ist sie, wenn er nicht ist? Wenn er aber ist, wozu dient dann die Ursache? 7 Wenn weder eine seiende, noch eine nichtseiende, noch eine seiende und nichtseiende Gegebenheit entsteht, wieso ist dann ein hervorbringender Grund möglich?
8 Von der seienden Gegebenheit wird gelehrt, daß sie ohne Anhaltspunkt ist. Wenn sie aber ohne Anhaltspunkt ist, woher sollte dann ein Anhaltspunkt kommen?
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Solange die Gegebenheiten nicht entstanden sind, kommt die Vernichtung nicht zustande. Daher ist die unmittelbar vorhergehende Ursache nicht möglich. Ist dagegen die Vernichtung eingetreten, was soll dann Ursache sein?
10 Da es bei wesenlosen Dingen kein Sein gibt, ist es unzulässig, zu sagen: Wenn dieses ist, wird jenes. 11 Weder in den einzelnen noch in den gesamten Ursachen ist die Wirkung enthalten. Wie soll aber das aus den Ursachen hervorgehen, was nicht in den Ursachen enthalten ist?
12 Geht aber die Wirkung, auch ohne vorhanden zu sein, aus den Ursachen hervor, wieso geht sie dann nicht auch aus NichtUrsachen hervor? 13 Besteht die Wirkung aus den Ursachen, dann bestehen die Ursachen nicht aus sich selbst. Wieso kann also die Wirkung, die aus den nicht aus sich selbst bestehenden Ursachen stammt, aus den Ursachen bestehen? 14 Es gibt daher keine Wirkung, die aus den Ursachen besteht, und keine, die nicht aus den Ursachen besteht. Wenn es aber keine Wirkung gibt, wieso soll es dann Ursachen und NichtUrsachen geben? Aus den zahlreichen folgenden Kapiteln, in denen Nägärjuna die verschiedensten Begriffe des gewöhnlichen Lebens als widerspruchsvoll und unmöglich nachzuweisen sucht, greife ich nur eines heraus, das fünfzehnte, weil in ihm ein besonders wichtiger Begriff zur Sprache kommt, der Begriff des eigenen Wesens (svabhävah ). In dem Begriff des eigenen Wesens oder Eigen-Seins liegt, wie wir bereits gesagt haben, für den Inder, daß etwas nur in sich und durch sich besteht. Das bedeutet, daß es durch nichts anderes bedingt und verursacht ist. Und daraus folgt für Nägäijuna weiter, daß es weder entstehen noch vergehen kann. Daraus ergibt sich aber mit Notwendigkeit, daß in der Erscheinungswelt, deren Grundgesetz das abhängige Entstehen darstellt, ein eigenes Wesen unmöglich ist. Im vorliegenden Kapitel geht nun Nägäquna von diesem Begriff des eigenen Wesens aus und behauptet zunächst, daß ein eigenes Wesen nicht entstehen und
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damit in der Erscheinungswelt nicht vorhanden sein kann. Nun folgert er weiter aus der Gegensätzlichkeit der Begriffe, daß es ohne ein eigenes Wesen auch kein fremdes Wesen (parabhävah) geben kann. Ohne eigenes und fremdes Wesen ist aber überhaupt jedes Sein (bhävah) unmöglich. Und ohne Sein gibt es auch kein Nichtsein. Die Ablehnung sowohl des Seins als auch des Nichtseins ist aber der Kern der Verkündigung des Buddha hinsichtlich der Erscheinungswelt. Und zur Bestätigung dafür führt er ein berühmtes Sütra aus dem alten Kanon an, die sogenannte Belehrung des Kätyäyana (Kätyäyanävavädah). Dieses Sütra nennt die beiden gegensätzlichen Aussagen: „Es ist" und „Es ist nicht", und das gibt den Anlaß zu einigen weiteren Bemerkungen. Diese beiden Aussagen sind nämlich im Kanon die Stichwörter für die beiden Anschauungen, welche der Buddha als die ärgsten Irrlehren brandmarkte, die Lehre von der Ewigkeit (säsvatadrstih) und die Lehre von der Vernichtung (ucchedadrstih) vor allem des Ich. Und daher geht Nägäquna noch kurz auf diese beiden Lehren ein. Zunächst bemerkt er, daß aus dem Sein eines eigenen Wesens seine Ewigkeit folgt, weil sich das eigene Wesen nicht ändern kann. Ja, eine Veränderung ist überhaupt unmöglich beim Vorhandensein eines eigenen Wesens, weil dieses unveränderlich ist, und ohne ein eigenes Wesen, weil nichts da ist, was sich ändern könnte. Und nun schließt er: Beides, Sein und Nichtsein, muß man ablehnen, weil sich daraus die Irrlehren der Ewigkeit und der Vernichtung ergeben. Denn wenn man animmt, daß etwas seinem Wesen nach ist, so folgt daraus die Ewigkeit. Sagt man dagegen, daß etwas war und nicht mehr ist, so ergibt sich die Irrlehre der Vernichtung. Kapitel X V 1 Eine Entstehung des eigenen Wesens durch Gründe und Ursachen ist nicht möglich. Denn, wenn das eigene Wesen aus Gründen und Ursachen entstanden wäre, dann wäre es geschaffen.
2 Wie aber sollte es ein geschaffenes eigenes Wesen geben? Denn das eigene Wesen ist nichts Gemachtes und ist nicht von anderem abhängig. 3 Wieso sollte es, wenn es kein eigenes Wesen gibt, ein fremdes Wesen geben? Denn das eigene Wesen eines fremden Wesens wird fremdes Wesen genannt. 4 Wie sollte es ferner ohne eigenes Wesen und fremdes Wesen ein Sein geben? Denn nur wenn ein eigenes oder fremdes Wesen da ist, kommt ein Sein zustande.
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5 Wenn es aber kein Sein gibt, dann kann es auch kein Nichtsein geben. Denn das Anderssein eines Seins nennen die Leute Nichtsein.
6 Diejenigen, welche ein eigenes Wesen und ein fremdes Wesen, ein Sein und ein Nichtsein sehen, sehen nicht die Wahrheit nach der Lehre des Buddha.
7 In der Belehrung des Kätyäyana hat der Erhabene, der Sein und Nichtsein kennt, beide Aussagen: „Es ist" und „Es ist nicht", zurückgewiesen.
8 Wenn das Sein von Natur aus besteht, dann gibt es kein Nichtsein des (betreffenden Dinges). Denn ein Anderssein der Natur (prakrtih = svabhävah) kann niemals zustande kommen.
9 Wenn es keine Natur gibt, wessen Anderssein soll sich dann einstellen? Und wenn es eine Natur gibt, wie ist dann ein Anderssein möglich?
10 „Es ist", daraus ergibt sich der Glaube an die Ewigkeit. „Es ist nicht", daraus ergibt sich die Ansicht von der Vernichtung. Daher soll ein Verständiger weder das Sein noch das Nichtsein bejahen. 11 Was nämlich dem eigenen Wesen nach ist, das kann nicht nicht sein; infolgedessen ist es ewig. Sagt man dagegen: „Es ist jetzt nicht, war aber früher", so folgt daraus die Vernichtung. Ich bringe nun noch einige Kapitel, in denen neben der Widerlegung verschiedener Begriffe wichtige andere Gegenstände zur Sprache konmen. Das erste davon ist das 18. Kapitel, das der Widerlegung des Ätman-Begriffes dient und gleichzeitig wertvolle Aussagen über die Verkündigung des Buddha und über die wahre Lehre enthält. Die Beweisführung beginnt in Nägäijunas gewohnter Art. Es kann keinen Ätman, kein Selbst, geben, weil er weder mit den Gruppen (skandhäh) identisch, noch von ihnen verschieden sein kann. Wenn es aber kein
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Selbst gibt, dann gibt es auch kein Mein, und damit wird der verhängnisvolle Glaube an ein Ich und an ein Mein hinfällig, der die Hauptursache fur die Verstrickung in den Wesenskreislauf ist. Schnell bemerkt Nägärjuna dazwischen, daß man natürlich auch an keine Person glauben darf, welche vom Glauben an ein Ich und an ein Mein befreit ist. Dann fährt er fort: Mit dem Schwinden des Glaubens werden die Laster und Werke aufgehoben, es kommt zu keiner Geburt mehr und die Erlösung stellt sich ein. Das entspricht, soweit es die Begründung der Erlösung angeht, der alten HTnayäna-Lehre. Nun verknüpft er damit seine eigene Anschauung. Der Glaube an ein Ich und an ein Mein beruht auf Vorstellungen. Die Vorstellungen ihrerseits beruhen auf der trügerischen Vielfalt der Erscheinungswelt (prapañcah). Und diese wird durch die Erkenntnis ihrer Leerheit aufgehoben. Daher ist die Lehre von der Leerheit aller Dinge die letzte Ursache der Erlösung. Die gleichen Gedankengänge, die hier angedeutet sind, werden wir ausführlicher in dem später wiedergegebenen ersten Kapitel der RatnävalT („Juwelenkette") wiederfinden. Damit ist die eigentliche Beweisfuhrung dieses Kapitels abgeschlossen. Nun bringt Nägäijuna noch einige Bemerkungen über die Verkündigung des Buddha. Der Buddha spricht verschieden, bald von einem Selbst, bald, daß es kein Selbst gibt, bald, daß es ein Selbst weder gibt noch nicht gibt. Diese Aussagen sind auf verschiedene Hörer berechnet, die entsprechend ihrer Auffassungskraft und der Stufe, die sie erreicht haben, allmählich zur wahren Erkenntnis vom Wesen des Ich geführt werden sollen. Dieses wahre Wesen selber ist aber nicht ausdrückbar, da das eigentliche Wesen der Dinge nicht anders wie das Nirvana außerhalb des Bereichs der menschlichen Erkenntnis liegt und sich daher auch nicht in Worte fassen läßt. Die gleichen Gedanken wiederholt Nägärjuna dann noch in allgemeiner Form. Die Verkündigung des Buddha umfaßt hinsichtlich der Dinge der Erscheinungswelt alle vier Aussagen, Bejahung, Verneinung, Bejahung und Verneinung und weder Bejahung noch Verneinung, und zwar sind diese auf die Fassungskraft der Hörer abgestimmt. Das wahre Wesen der Dinge ist jedoch frei von jener Vielfalt, welche die Erscheinungswelt kennzeichnet, und daher unvorstellbar und kann nicht mitgeteilt werden. Und nun faßt er die Erkenntnis vom Wesen der Erscheinungswelt nochmals kurz in die Form, in der sie sich allein zum Ausdruck bringen läßt und in der sie bereits im Einleitungsvers des ganzen Werkes ausgesprochen war, also in die Form, welche die wahre Lehre des Buddha darstellt. Dann schließt er mit der Bemerkung, daß diese ewige Lehre auch zu Zeiten, wo kein Buddha auftritt und die Überlieferung unter den Jüngern erloschen ist, in den Pratyekabuddha weiterlebt, die fur sich allein die Erleuchtung gefunden haben.
Kapitel XVIII 1 Wenn das Selbst gleich den Gruppen ist, dann ist es dem Entstehen und Vergehen unterworfen. Wenn es von den Gruppen verschieden ist, dann hat es nicht die Merkmale der Gruppen.
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2 Wenn es kein Selbst gibt, woher soll es dann ein Mein geben? Infolge des Hinfálligwerdens von Selbst und Mein wird man frei vom Glauben an ein Mein und vom Glauben an ein Ich. 3 Es ist aber niemand vorhanden, der vom Glauben an ein Mein und vom Glauben an ein Ich frei ist. Wer jemand zu sehen glaubt, der vom Glauben an ein Mein und an ein Ich frei ist, der sieht falsch. 4 Wenn die Vorstellungen „Mein" und „Ich" nach außen und nach innen geschwunden sind, dann wird das Ergreifen aufgehoben, und mit dessen Schwinden schwindet die Geburt. 5 Durch das Schwinden der Werke und der Laster erfolgt die Erlösung. Die Werke und Laster entspringen aus den Vorstellungen. Diese aus der Vielfalt. Die Vielfalt aber wird durch die Leerheit aufgehoben.
6 Daß es ein Ich gibt, ist verkündet worden. Daß es kein Ich gibt, ist gelehrt worden. Und daß es weder ein Ich noch kein Ich gibt, ist von dem Buddha gelehrt worden. 7 Wo das Bereich des Erkennens aufhört, hört auch das Benennbare auf. Denn das Wesen der Gegebenheiten (dharmatä) ist wie das Nirväna ohne Entstehen und ohne Vernichtung.
8 Daß alles wahr, nicht wahr, sowohl wahr als auch nicht wahr und weder wahr noch nicht wahr ist, das ist die Lehre der Buddha. 9 Nicht durch fremde Hilfe zu erkennen, friedvoll, durch Vielfalt nicht vielfaltig, unvorstellbar und ohne Mannigfaltigkeit, das ist das Merkmal der Wirklichkeit (tattvam).
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10 Was abhängig von einem andern entsteht, das ist nicht dasselbe wie dieses und ist auch nicht verschieden davon. Daher wird es nicht vernichtet, ist aber auch nicht ewig. 11 Keine Einheit und keine Vielheit, ohne Vernichtung und auch nicht ewig, das ist der Nektar der Lehre der Schirmherren der Welt, der Buddha.
12 Wenn keine Buddha auftreten und die Jünger verschwunden sind, dann stellt sich getrennt für sich die Erkenntnis der Pratyekabuddha ein. Das folgende Kapitel enthält Nägäijunas Lehre von der zweifachen Wahrheit. Es beginnt mit einem Angriff des Gegners, der den Vorwurf erhebt, daß die Behauptung der Leerheit aller Dinge die Grundlagen der buddhistischen Lehre untergräbt. Er sagt: Wenn es kein Entstehen und Vergehen gibt, dann kann es auch die vier heiligen Wahrheiten, nämlich das Leiden, die Entstehung des Leidens, die Aufhebung des Leidens und den zur Aufhebung des Leidens führenden Weg nicht geben. Von diesen vier Wahrheiten soll das Leiden verstanden, seine Entstehung vermieden, seine Aufhebung verwirklicht und der Weg dazu geübt werden. Alles das ist nicht möglich, wenn es die vier heiligen Wahrheiten nicht gibt. Damit bleibt auch der vierfache Lohn aus, der dem Jünger verheißen ist, daß er nämlich in den Strom gelangt, der zur Erlösung fuhrt (srota-äpannah), daß er im Wesenskreislauf nur mehr einmal wiederkehrt (sakrdägämi), daß er nicht mehr wiederkehrt (anägämi), und daß er zum vollkommenen Heiligen (arhan) wird. Infolgedessen gibt es aber auch keine Jünger, welche nach diesem Lohn streben oder ihn bereits erlangt haben. Und wenn es keine solchen Jünger gibt, gibt es keine Gemeinde. Außerdem gibt es ohne die vier heiligen Wahrheiten keine Lehre. Und ohne Gemeinde und Lehre gibt es keinen Buddha. Damit ist die dreifache Grundlage, auf der der Buddhismus beruht, zerstört. Darauf antwortet Nägäijuna, daß alles das nur auf einem Mißverständnis des Gegners beruht, der die Lehre von der Leerheit falsch auffaßt. Man muß zweierlei Wahrheiten unterscheiden, die beschränkte und die wahrhafte Wahrheit. Der Erlösungsweg gehört dem Bereich der beschränkten Wahrheit an und hat in diesem seine Gültigkeit. Das gibt den Anlaß, auf die Gefahren hinzuweisen, welche eine falsche Auffassung der Lehre mit sich bringt, und welche daher auch den Buddha zuerst mit der Verkündigung seiner Lehre zögern ließen. Und nun geht Nägäijuna selbst zum Angriff über. Alle Vorwürfe des Gegners treffen in Wirklichkeit ihn selbst. Nur wenn die Dinge leer, also ohne eigenes Wesen sind, ist ein Entstehen und Vergehen und damit alles andere möglich. Ein eigenes Wesen kann dagegen weder entstehen noch vergehen. Leerheit und abhängiges Entstehen sind also ein und dasselbe und bedingen sich gegenseitig. Dann zeigt er im einzelnen, daß alles, was der Gegner ausgeführt hat, von den vier heiligen
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Wahrheiten angefangen, nur auf Grund der Leerheit möglich ist. Diese Erörterungen sind nach dem bisher bereits Gesagten ohne weiteres verständlich und bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Endlich schließt er mit der Feststellung, daß nur ein richtiges Verstehen des abhängigen Entstehens das Verstehen der heiligen Wahrheiten möglich macht. Kapitel XXIV 1 (Gegner:) Wenn dies alles leer ist und es kein Entstehen und Vergehen gibt, dann ergibt sich für Dich das Nichtvorhandensein der vier heiligen Wahrheiten.
2 Infolge des Nichtvorhandenseins der vier heiligen Wahrheiten ist das Verstehen, Vermeiden, Üben und Verwirklichen nicht möglich. 3 Da es dies nicht gibt, ist der vierfache Lohn der Heiligen nicht vorhanden. Und wenn der Lohn fehlt, gibt es keine des Lohnes Teilhaftigen und keine danach Strebenden. 4 Wenn es diese acht Arten von Personen nicht gibt, gibt es keine Gemeinde. Und infolge des Fehlens der heiligen Wahrheiten ist auch die edle Lehre nicht vorhanden. 5 Gibt es aber die Lehre und die Gemeinde nicht, wie soll es dann einen Buddha geben? Du leugnest also, wenn du die Leerheit behauptest, die drei Edelsteine (den Buddha, die Lehre und die Gemeinde).
6 Und du machst das Vorhandensein des Lohnes, Recht und Unrecht und überhaupt das ganze Tun und Lassen der Menschen unmöglich. 7 (Antwort:) Dazu sagen wir. Du kennst den Zweck der Leerheit, die Leerheit und den Sinn der Leerheit nicht. Daher nimmst du Anstoß.
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8 Die Lehrverkündigung der Buddha stützt sich auf zwei Wahrheiten, auf die beschränkte Wahrheit des gewöhnlichen Lebens und auf die wahrhafte Wahrheit. 9 Wer den Unterschied dieser beiden Wahrheiten nicht erkennt, der erkennt nicht die tiefe Wahrheit (tattvam) in der Lehre der Buddha.
10 Wenn man sich nicht auf die gewöhnliche Auffassung (vyavahärah) stützt, kann man das Wahrhafte nicht lehren. Und wenn man das Wahrhafte nicht erfaßt, kann man das Nirvana nicht erlangen. 11 Falsch aufgefaßt stürzt die Leerheit den Toren ins Verderben, wie eine ungeschickt angefaßte Schlange oder ein falsch ausgeführter Zauber. 12 Daher scheute sich auch der Weise (der Buddha) in seinem Sinn, die Lehre zu verkünden, weil er daran dachte, wie schwer diese Lehre für die Toren zu verstehen ist. 13 Was ferner die Vorwürfe betrifft, welche du gegen die Leerheit erhebst, so treffen uns die Fehler, welche sich ergeben, nicht und sie stellen sich auch beim Leeren nicht ein. 14 Wer die Leerheit gelten läßt, für den erweist sich alles als möglich. Wer die Leerheit nicht gelten läßt, für den erweist sich nichts als möglich. 15 Indem du deine eigenen Fehler uns zuschiebst, gleichst du einem, der auf einem Pferde sitzend das Pferd vergessen hat. 16 Wenn du der Ansicht bist, daß die Dinge dem eigenen Wesen nach bestehen, dann siehst du die Dinge an als ohne Gründe und ohne Ursachen;
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Die Schulen des Mahayäna
17 du leugnest Wirkung und Ursache, Täter, Tun und Tat, Entstehen, Vergehen und Lohn.
18 Das abhängige Entstehen ist es, das wir als Leerheit bezeichnen. Sie ist bloße Benennung auf irgendwelcher Grundlage (upädäya prajñaptih) und sie ist der mittlere Weg.
19 Weil es keine Gegebenheit gibt, die nicht abhängig entstanden ist, gibt es auch keine Gegebenheit, die nicht leer ist.
20 Wenn dies alles nicht leer ist und es kein Entstehen und Vergehen gibt, dann ergibt sich fur dich das Nichtvorhandensein der vier heiligen Wahrheiten.
21 Wieso soll es ein Leiden geben, das nicht abhängig entstanden ist? Denn Leiden nennt man das Vergängliche. Das gibt es aber nicht beim Vorhandensein eines eigenen Wesens.
22 Wie soll ferner etwas entstehen, das seinem eigenen Wesen nach vorhanden ist? Daher gibt es für den, der die Leerheit leugnet, auch keine Entstehung (des Leidens).
23 Es gibt keine Aufhebung des Leidens, wenn es seinem eigenen Wesen nach besteht. Wenn du daher das eigene Wesen behauptest, machst du die Aufhebung (des Leidens) unmöglich.
24 Wenn es ein eigenes Wesen des Weges gibt, ist es nicht möglich, ihn zu üben. Wird der Weg aber geübt, dann gibt es für dich kein eigenes Wesen.
25 Wenn es kein Leiden, keine Entstehung und keine Aufhebung gibt, zu welcher Aufhebung des Leidens soll der Weg dann führen?
Nagäijuna
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26 Wenn (das Leiden) seinem eigenen Wesen nach nicht verstanden ist, wie kann es dann später verstanden werden? Oder beharrt etwa das eigene Wesen nicht? 27 In der gleichen Weise wie das Verstehen ist aber auch das Vermeiden, Verwirklichen und Üben nicht möglich, und ebenso der vierfache Lohn der Heiligen. 28 Wie ist es nämlich für den, der ein eigenes Wesen annimmt, möglich, einen Lohn, der seinem eigenen Wesen nach nicht erlangt ist, später zu erlangen? 29 Wenn es aber keinen Lohn gibt, dann gibt es keine des Lohnes Teilhaftigen und keine danach Strebenden. Wenn es diese acht Arten von Personen nicht gibt, gibt es keine Gemeinde. 30 Und infolge des Fehlens der heiligen Wahrheiten ist auch die edle Lehre nicht vorhanden. Gibt es aber die Lehre und die Gemeinde nicht, wie soll es dann einen Buddha geben? 31 Ferner ergibt sich für dich, daß der Buddha von der Erleuchtung unabhängig ist, und es ergibt sich für dich, daß die Erleuchtung vom Buddha unabhängig ist. 32 Für dich wird niemand, der seinem Wesen nach nicht erleuchtet ist, auch wenn er sich um die Erleuchtung bemüht, die Erleuchtung auf dem Wege der Bodhisattva erlangen. 33 Niemand wird ferner jemals Recht oder Unrecht tun. Denn was soll man an etwas Nicht-Leerem tun? Ein eigenes Wesen läßt sich nämlich nicht machen. 34 Außerdem gibt es für dich einen Lohn auch ohne Recht und Unrecht, und es gibt für dich keinen Lohn, der durch Recht und Unrecht veranlaßt ist.
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Die Schulen des Mahayäna
35 Oder, wenn es für dich einen Lohn gibt, der durch Recht und Unrecht veranlaßt ist, wieso ist dann der aus Recht und Unrecht hervorgegangene Lohn für dich nicht leer.
36 Ferner machst du das ganze Tun und Lassen der Menschen unmöglich, wenn du die Leerheit des abhängigen Entstehens leugnest.
37 Für den, der die Leerheit leugnet, gibt es nichts zu tun, es gibt ein Tun, auch ohne daß es begonnen wurde, und es gibt einen Täter, auch ohne daß er etwas tut.
38 Beim Vorhandensein eines eigenen Wesens müßte die Welt nicht entstanden und nicht vergangen, unberührt (kütasthah) und von allen wechselnden Zuständen frei sein.
39 Wenn (alles) nicht leer ist, gibt es kein Erlangen des Nichterlangten, kein Beendigen des Leidens und kein Ablegen aller Laster.
40 Wer das abhängige Entstehen (richtig) sieht, sieht das Leiden, die Entstehung, die Aufhebung und den Weg. Als letztes gebe ich das 25. Kapitel wieder, das vom Nirvana, also von der höchsten Wirklichkeit handelt. Es beginnt ähnlich dem vorhergehenden Kapitel mit dem Einwand, daß es, wenn alle Dinge leer sind, nichts gibt, durch dessen Aufhebung man das Nirvana erlangt. Nägäijuna antwortet wieder, daß diese Schwierigkeit gerade dann eintritt, wenn die Dinge nicht leer sind, da ja gerade dann ein Werden und Vergehen nicht möglich ist. Dann geht er dazu über, das Wesen des Nirvana zu bestimmen. Nachdem er vorläufig festgestellt hat, was die Überlieferung über das Nirväna aussagt, daß es nämlich weder aufgegeben noch erlangt werden kann, weder vergänglich noch ewig ist und weder entsteht noch vergeht, beginnt er zu untersuchen, ob das Nirväna als Sein, als Nichtsein, zugleich als Sein und Nichtsein, oder weder als Sein noch Nichtsein zu betrachten ist. Die Untersuchung führt zu dem Ergebnis, daß keine der vier Möglichkeiten zutrifft. Als Sein wäre das Nirväna dem Alter und Tod unterworfen, es wäre aus Ursachen entstanden und es wäre nicht unabhängig, was der
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Überlieferung widerspricht. Als Nichtsein kann das Nirvana nicht gelten, weil ein Nichtsein ein Sein voraussetzt, und weil es dann ebenfalls nicht unabhängig wäre. Hier schiebt Nägäijuna die wichtige Bemerkung ein, daß das Nirvana nur der andere Aspekt der Erscheinungswelt ist, in dem die Bedingtheit und Abhängigkeit aufgehoben ist. Dann fugt er hinzu, daß das Nirvana weder Sein noch Nichtsein sein kann, weil der Buddha gelehrt hat, daß es im Nirvana kein Werden und Vergehen gibt. Es folgt in ähnlicher Weise die Widerlegung der Ansichten, daß das Nirvana zugleich Sein und Nichtsein und Weder-Sein-nochNichtsein ist. Im ersten Fall wäre die Erlösung zugleich ein Sein und Nichtsein, das Nirvana wäre nicht unabhängig, wäre aus Ursachen entstanden, und schließlich können sich zwei Gegensätze wie Sein und Nichtsein nicht zu einer Einheit verbinden. Weder als Sein noch als Nichtsein aber läßt sich das Nirvana nicht betrachten, wenn weder ein Sein noch ein Nichtsein erwiesen ist, das verneint werden kann. Und wodurch soll ein Nirvana, das weder Sein noch Nichtsein ist, festgestellt werden? Nun verweist Nägäijuna zur Bestätigung seiner Behauptung auf die Verkündigung des Buddha. Schon in den Texten des alten Kanons heißt es (vgl. oben S. 13ff.), daß man vom Erlösten nicht sagen kann, daß er ist, daß er nicht ist, daß er zugleich ist und nicht ist, und daß er weder-ist-nochnicht ist, ja daß selbst bei seinen Lebzeiten diese Aussagen nicht zutreffen. Das ist somit erwiesen. Es folgt nun die entscheidende Aussage über das Verhältnis des Nirväna zur Erscheinungswelt: Beide sind ein und dasselbe. Es besteht nicht der geringste Unterschied zwischen ihnen. Dann weist Nägäijuna noch kurz die übrigen ketzerischen Lehren zurück, die im Kanon zugleich mit den Ansichten über das Sein und Nichtsein des Erlösten verworfen werden. Daß die Welt begrenzt oder unbegrenzt, ewig oder vergänglich ist, alle diese Ansichten sind verkehrt und sinnlos, wo doch alle Dinge leer, also unwirklich sind. Und nun noch eine letzte Frage: Worin besteht die Erlösung, wenn es kein Nirvana gibt, das erlangt werden kann, sondern Nirväna und Wesenskreislauf eins sind? Nägäijuna antwortet: Bloß im Schwinden aller Wahrnehmungen und im Aufhören der trügerischen Vielfalt der Erscheinungswelt. Denn auch der Erlösungsweg des Buddha ist nicht wirklich. In Wirklichkeit ist niemals eine Lehre vom Buddha verkündet worden.
Kapitel XXV 1 (Gegner:) Wenn dies alles leer ist und es kein Entstehen und Vergehen gibt, durch wessen Aufgeben oder Vernichtung ergibt sich dann nach eurer Meinung das Nirväna?
2 (Antwort:) Wenn dies alles nicht leer ist und es kein Entstehen und Vergehen gibt, durch wessen Aufgeben oder Vernichtung ergibt sich dann nach eurer Meinung das Nirväna?
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Die Schulen des Mahayäna 3
Nicht aufgegeben und nicht erlangt, nicht unterbrochen und nicht ewig, nicht vernichtet und nicht entstanden - das nennt man das Nirväna. 4 Das Nirväna ist zunächst kein Sein, weil daraus folgen würde, daß es die Merkmale des Alters und Todes trägt. Denn es gibt kein Sein ohne Alter und Tod. 5 Wenn das Nirväna ein Sein wäre, dann wäre das Nirväna etwas Verursachtes {samskrtah). Denn es gibt nirgends ein Sein, das nicht verursacht ist.
6 Wenn das Nirväna ein Sein wäre, wieso wäre dann das Nirväna unabhängig? Denn es gibt kein Sein, das unabhängig ist. 7 Wenn das Nirväna kein Sein ist, wieso soll es dann ein Nichtsein sein? Denn wo kein Sein ist, da gibt es auch kein Nichtsein.
8 Wenn das Nirväna ein Nichtsein wäre, wieso wäre dann das Nirväna unabhängig? Denn es gibt kein Nichtsein, das unabhängig besteht. 9 Das bedingte und abhängige Kommen und Gehen (im Wesenskreislauf) wird, sofern es unbedingt und unabhängig ist, als Nirväna bezeichnet.
10 Denn der Meister (der Buddha) hat es das Aufgeben des Werdens und Vergehens genannt. Daher ergibt es sich, daß das Nirväna weder ein Sein noch ein Nichtsein ist. 11 Wenn das Nirväna beides, Sein und Nichtsein wäre, dann wäre die Erlösung Sein und Nichtsein. Und das ist nicht möglich.
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12 Wenn das Nirvana beides, Sein und Nichtsein wäre, dann wäre das Nirväna nicht unabhängig. Denn jenes ist beides abhängig. 13 Wieso sollte das Nirväna beides, Sein und Nichtsein sein? Denn das Nirvana ist nicht verursacht, und Sein und Nichtsein sind verursacht. 14 Wieso sollte das Nirväna beides, Sein und Nichtsein sein? Denn beides kann nicht an einem Ort vereinigt sein, wie Licht und Finsternis. 15 Die Annahme, daß das Nirväna weder Sein noch Nichtsein ist, ist möglich, wenn ein Sein und Nichtsein erwiesen ist.
16 Wenn es ein Nirväna, das weder Sein noch Nichtsein ist, gibt, wodurch wird dann erkannt, daß es weder Sein noch Nichtsein ist? 17 Man kann nicht erkennen, daß der Erhabene nach dem Tode ist, man kann nicht erkennen, daß er nicht ist, daß beides der Fall ist, und daß keines von beiden der Fall ist.
18 Auch bei seinen Lebzeiten kann man nicht erkennen, daß der Erhabene ist, und man kann nicht erkennen, daß er nicht ist, daß beides der Fall ist, und daß keines von beiden der Fall ist. 19 Es gibt keinen Unterschied des Wesenskreislaufs vom Nirväna und es gibt keinen Unterschied des Nirväna vom Wesenskreislauf.
20 Die Grenze des Nirväna ist auch die Grenze des Wesenskreislaufs. Es gibt nicht das geringste, was die beiden voneinander trennt.
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21 Die Ansichten über (den Zustand) nach dem Tode, über die Begrenzung (der Welt) usw., und über ihre Ewigkeit usw. gründen sich auf ein Nirväna, einen Anfang und ein Ende.
22 Wenn aber alle Gegebenheiten leer sind, was ist dann begrenzt, was unbegrenzt, was zugleich begrenzt und unbegrenzt, und was weder begrenzt noch unbegrenzt?
23 Was ist dasselbe und was ist etwas anderes, was ist ewig und was ist nicht ewig, was ist zugleich ewig und nicht ewig und was ist keines von beiden?
24 Alle Wahrnehmung hört auf, die Vielfalt kommt zur Ruhe und es herrscht Friede. Nirgends ist irgendwem irgendeine Lehre von Buddha verkündet worden. Ich lasse nun noch kurze Proben aus zwei andern Werken Nägärjunas folgen. Seine unerbittliche Logik, welche vor nichts haltmacht und alles als wesenlos nachweist, hat ihm den Vorwurf eingetragen, daß er damit sich selbst den Boden abgrabe, auf dem er steht. Denn wenn alles leer und wesenlos ist, dann seien auch die Beweise, die er vorbringt, leer und beweisen daher nichts. Gegen diese Vorwürfe wendet sich Nägäijuna in einem eigenen Werk, der Vigrahavyävartani („Die Streitabwehrerin"). Es ist eines seiner besten Werke und zeigt ihn in seiner ganzen Eigenart, vor allem in seiner unbeirrbaren Folgerichtigkeit. Es besteht aus einem Verstext mit Nägäijunas eigenem Kommentar und zerfällt in zwei Teile, von denen der erste die Angriffe des Gegners, der zweite ihre Widerlegung enthält. Die folgenden Proben sind nur aus dem zweiten Teil genommen. Von der Wiedergabe der entsprechenden Abschnitte des ersten Teils konnte abgesehen werden, da Nägäijuna bei jedem neuen Punkt, zu dem er übergeht, nochmals kurz den Einwand des Gegners auffuhrt. Aus diesen Proben ergibt sich seine grundsätzliche Einstellung zu den angeschnittenen Fragen. Alle seine Beweisführungen, so sagt er, passen sich nur der Welt des Scheins an und dienen ausschließlich zu ihrer Widerlegung. Eigene positive Behauptungen enthalten sie nicht. Daher werden alle Angriffe des Gegners hinfällig, da sie nur solche Behauptungen treffen würden. Der erste Einwand des Gegners besagt, daß bei der Wesenlosigkeit aller Dinge auch Nägäijunas Beweisführung wesenlos sei, und daher nichts beweise. Nägäijuna antwortet, daß die Wesenlosigkeit seiner Rede nur die Wesenlosigkeit aller Dinge bestätige. Dann wirft er seinem Gegner vor, daß er die Lehre von der Leerheit der Dinge nicht richtig verstehe. Die Leerheit sei wesensgleich mit dem abhängigen Entstehen. Nur durch die Leerheit aller Dinge sei ein abhängiges Entstehen, alles Tun und Lassen, und damit überhaupt auch eine Beweisführung
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möglich. Und wie die Dinge der Erscheinungswelt trotz ihrer Leerheit innerhalb der Erscheinungswelt ihre verschiedenen Wirkungen hervorzubringen vermögen, so sei auch seine Beweisführung trotz ihrer Leerheit wirksam. Dies erläutert er durch den Vergleich mit einem durch Zaubertrug geschaffenen Menschen, der dem Tun eines zweiten, ebenfalls durch Zaubertrug geschaffenen Menschen Einhalt gebietet. Der nächste Einwand des Gegners nimmt eine Entgegnung Nägäijunas vorweg. Auf den Einwand, daß seine Widerlegung des eigenen Wesens aller Dinge leer und daher nicht beweiskräftig sei, könnte Nägäijuna antworten, daß das gleiche für die Widerlegung dieser Widerlegung durch den Gegner gelte. Das ist aber, meint der Gegner, nicht richtig. Denn die Feststellung, daß alle Dinge leer seien, sei ausschließlich Behauptung Nägäqunas, hebe daher nur seine Widerlegung auf, aber nicht die Widerlegung des Gegners, welcher diese Behauptung nicht anerkennt. Darauf antwortet Nägäijuna, daß er überhaupt keine positive Behauptung aufstelle, auch nicht die Behauptung, daß alle Dinge leer seien. Daher könne auch keine Aussage als seine Behauptung gelten. Und ebensowenig könnten ihn die daraus entspringenden Fehler treffen.
Aus der „Streitabwehrerin" ( Vigrahavyävartani) Du hast zunächst gesagt: v. 1 Wenn es überall bei allen Dingen kein eigenes Wesen gibt, dann ist deine eigene Rede wesenlos und nicht imstande, ein eigenes Wesen zu widerlegen. Dazu sagen wir:
v. 21 Wenn meine Rede weder in den Gründen, Ursachen und ihrer Gesamtheit, noch in getrenntem Zustande vorhanden ist, dann ist doch die Leerheit der Dinge erwiesen, eben wegen ihrer Wesenlosigkeit. Wenn meine Rede in den Gründen nicht vorhanden ist, nämlich in den großen Elementen, mögen sie verbunden oder getrennt sein, wenn sie in den Ursachen nicht vorhanden ist, nämlich in Brust, Hals, Lippen, Zunge, Zähnen, Gaumen, Nase, Schädel usw. und in den Bemühungen (prayatnah), wenn sie in der Gesamtheit dieser beiden nicht vorhanden ist, und wenn sie auch getrennt, nämlich gesondert von den Gründen, Ursachen und ihrer Gesamtheit nicht vorhanden ist, dann ist sie wesenlos und wegen ihrer Wesenlosigkeit leer. So ist denn die Leerheit meiner Rede wegen ihrer Wesenlosigkeit erwiesen. Wie aber meine Rede wegen ihrer Wesenlosigkeit leer ist, so sind alle Dinge wegen ihrer Wesenlosig-
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keit leer. Wenn du daher gesagt hast: Wegen der Leerheit deiner Rede trifft die Leerheit aller Dinge nicht zu, so ist das nicht richtig. Ferner: v. 22 Das abhängige Entstehen der Dinge wird nämlich Leerheit genannt. Denn ein Ding, das abhängig entsteht, ist wesenlos. Ohne die Leerheit der Dinge zu verstehen und ohne den Sinn der Leerheit zu kennen, hast du es unternommen, einen Tadel vorzubringen, (indem du sagst): „Wegen der Leerheit deiner Rede ist deine Rede wesenlos. Mit deiner wesenlosen Rede ist aber eine Widerlegung des Wesens der Dinge nicht möglich." Das abhängige Entstehen der Dinge ist nämlich ihre Leerheit. Wieso? Wegen ihrer Wesenlosigkeit. Dinge, welche abhängig entstanden sind, sind ohne eigenes Wesen, weil ihnen ein eigenes Wesen fehlt. Wieso? Weil sie von Gründen und Ursachen abhängig sind. Wenn die Dinge einem eigenen Wesen nach bestünden, dann würden sie auch ohne Rücksicht auf Gründe und Ursachen bestehen. Das ist aber nicht der Fall. Daher sind sie wesenlos. Und weil sie wesenlos sind, werden sie leer genannt. Somit ist erwiesen, daß auch meine Rede, weil sie abhängig entstanden ist, wesenlos ist, und weil sie wesenlos ist, leer ist. Wie aber Wagen, Kleider, Töpfe usw., obwohl sie abhängig entstanden und daher von eigenem Wesen leer sind, trotzdem ihre verschiedenen Wirkungen ausüben, nämlich das Holen von Holz, das Holen von Erde, das Enthalten von Honig, Wasser und Milch, das Schützen gegen Kälte, Wind und Hitze usw., ebenso führt diese meine Rede, obwohl sie abhängig entstanden und daher wesenlos ist, trotzdem den Nachweis der Wesenlosigkeit der Dinge. Wenn du daher gesagt hast: Deine Rede ist wegen ihrer Wesenlosigkeit leer und wegen ihrer Leerheit ist es nicht möglich, durch sie das eigene Wesen aller Dinge zu widerlegen, so ist das nicht richtig. Ferner: v. 23 Wie ein durch Wunderkraft Geschaffener (nirmitakah) einen durch Wunderkraft Geschaffenen oder ein Zaubermensch einen durch die eigene Zauberkunst Hervorgebrachten aufhält, so verhält es sich mit dieser Widerlegung. Wie ein durch Wunderkraft geschaffener Mensch einen andern durch Wunderkraft geschaffenen Menschen, der zu irgendeinem Zweck herbeikommt, aufhält, oder wie ein von einem Zauberer hervorgebrachter Zaubermensch einen andern Zaubermenschen, der zu irgendeinem Zweck herbeikommt, aufhält - dabei ist der durch Wunderkraft geschaffene Mensch, der aufgehalten wird, leer, und der, der ihn aufhält, ist ebenfalls leer; der Zaubermensch, der aufgehalten wird, ist leer, und der, der ihn aufhält, ist ebenfalls leer - ebenso ist es möglich, durch meine leere Rede das eigene Wesen aller Dinge zu widerlegen. Wenn du daher gesagt hast: Wegen der Leerheit deiner Rede ist die Widerlegung des eigenen Wesens aller Dinge nicht möglich, so ist das nicht richtig.
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Du hast ferner gesagt: v. 4 Man könnte denken, mit der Widerlegung der Widerlegung verhält es sich ebenso. Das ist nicht richtig. Es trifft auf diese Weise auf Grund des Merkmals der Behauptung 1 der Vorwurf dich, aber nicht mich. Dazu sagen wir: v. 2 9 Wenn ich irgendeine Behauptung vertreten würde, dann würde sich daraus dieser Fehler fur mich ergeben. Ich vertrete aber keine Behauptung. Daher trifft mich auch kein Fehler. Wenn ich irgendeine Behauptung vertreten würde, dann könnte für mich das Merkmal der Behauptung zutreffen, und es würde sich daher für mich, so wie du es gesagt hast, der daraus entspringende Fehler ergeben. Ich vertrete aber keinerlei Behauptung. Wieso soll also, wenn alle Dinge leer, vollkommen beruhigt und von Natur aus losgelöst sind, eine Behauptung vorliegen? Wieso soll darauf das Merkmal der Behauptung zutreffen? Und wieso soll sich der Fehler ergeben, der durch das Zutreffen des Merkmals der Behauptung herbeigeführt wird? Wenn du daher gesagt hast: Der Fehler trifft nur dich, weil (für dich) das Merkmal der Behauptung zutrifft, so ist das nicht richtig. Als letztes bringe ich eine Probe aus einem leichter verständlichen Werk Nägäijunas. Wie wir bereits erwähnt haben, berichtet die Überlieferung, daß Nägäijuna mit einem König aus dem südindischen Herrscherhaus der Sätavähana befreundet war. Tatsächlich finden sich unter den ihm zugeschriebenen Werken zwei, welche in Versen abgefaßte Mahnschreiben an einen König darstellen, der Suhrllekhah („Brief an einen Freund") und die RatnävalT („Juwelenkette"). Und aus dem weitaus umfangreicheren und bedeutenderen der beiden Werke, aus der RatnävalT, ist die folgende Textprobe genommen. Die RatnävalT ist keine systematische Darstellung der Lehren Nägärjunas. Ohne strenge Gliederung des Stoffes geht sie von einem Gegenstand zum andern über. Dabei nehmen vor allem sittliche Mahnungen einen breiten Raum ein. Dazwischen sind aber auch rein philosophische Abschnitte eingestreut, die inhaltlich höchst bedeutend sind und eine wertvolle Ergänzung zu der Darstellung seiner übrigen Werke bilden. Und ein solcher Abschnitt aus dem ersten Kapitel des Werkes ist es, den ich im folgenden wiedergebe. Vorausgeschickt sind einige einleitende Worte. Dann wird ein doppeltes Ziel der Lehre aufgestellt, Wohlergehen durch Frömmigkeit und die Erlösung. Die
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Da die Aussage, daß alle Dinge leer sind, definitionsgemäß als deine Behauptung zu betrachten ist.
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Mittel dazu sind Glaube und Einsicht. Nun wird zunächst das sittliche Leben des Gläubigen geschildert, das ihm Glück und Wohlergehen einträgt. Dann geht die Darstellung auf die Lehre über, welche zur Erlösung führt. Und damit beginnt der philosophische Teil des Kapitels. Den Anfang bildet die Feststellung (v. 25), daß der Tor Schrecken empfindet, wenn er hört, daß es ein Ich und ein Mein weder gibt noch geben wird. Und doch ist der Glaube an ein Ich und an ein Mein die Hauptursache der Verstrickung in den Wesenskreislauf. Das wird eingehender ausgeführt. Dieser Glaube ist es nämlich, der zum Vollbringen der Werke und zur Wiedergeburt führt. Andererseits beruht der Glaube selbst wieder auf der Außenwelt, die man wahrzunehmen meint, nämlich auf den fünf Gruppen. Denn wie man auf Grund eines Spiegels sein Spiegelbild zu sehen glaubt, das jedoch nichts Wirkliches ist, so glaubt man auf Grund der Gruppen an ein Ich. So ist der Kreislauf geschlossen, in dem sich in gegenseitiger Abhängigkeit die ständige Wiedergeburt abspielt. Die Erlösung erfolgt, indem man die Unwirklichkeit des abhängigen Entstehens erkennt. Denn damit schwindet der Glaube an ein Ich, und Werke und Geburt finden ein Ende. Die Unwirklichkeit des abhängigen Entstehens und damit der Außenwelt ergibt sich aber daraus, daß ein Entstehen der Dinge weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beidem möglich ist. Damit ist die grundlegende Schlußfolgerung angedeutet, mit der Nägäijuna sein Hauptwerk einleitet (s. oben S. 111 ff.). Gleichzeitig weist er bei dieser Gelegenheit darauf hin, daß die Unwirklichkeit kein Nichtsein, sondern ein Weder-Sein-noch-Nichtsein bedeutet. Und nun greift er auf seine anfängliche Bemerkung zurück, daß der Tor beim Hören der wahren Lehre Schrecken empfindet. Daß es für den Erlösten kein Ich und keine Gruppen gibt, wird ohnedies anerkannt. Warum also, fragt er, soll man darüber Schrecken empfinden, daß sie auch in dieser Welt nicht wirklich vorhanden sind. Nun folgt ein neuer Gedankengang (v. 42), und zwar wird der eigenartigste Zug dieser Erlösungslehre besprochen, daß sie nämlich weder ein Sein noch ein Nichtsein lehrt. Schon in den letzten Versen war darauf hingedeutet worden, daß die Unwirklichkeit der Außenwelt kein Nichtsein bedeutet. Ebenso ist das Nirväna weder als Sein noch als Nichtsein anzusehen. Die wahre Lehre hält sich von diesen Gegensätzen frei. Nun weist Nägäijuna kurz auf die moralische Bedeutung der verschiedenen Auffassungen hin. Die Lehre vom Nichtsein leugnet die Wirksamkeit der guten und bösen Werke und führt zur Bestrafung in einer schlechten Wiedergeburt. Die Lehre vom Sein anerkennt die Wirksamkeit der Werke und führt zur Belohnung in einer guten Wiedergeburt. Die Lehre vom Weder-Sein-noch-Nichtsein dagegen hält sich von beiden fern und führt zur Erlösung. Es folgt eine genauere Besprechung der Frage, wieso die Erscheinungswelt weder als seiend noch als nichtseiend anzusehen ist. Da sie aus Ursachen entsteht, kann man nicht ihr Nichtsein behaupten. Und da sie samt den Ursachen vergeht, kann man nicht ihr Sein behaupten. Dabei ist das ursächliche Entstehen nicht wirklich, weil die Ursache nicht Ursache sein kann, mag sie nun früher als die Wirkung oder gleichzeitig mit ihr sein. Das erste widerspricht der Relativität der gegensätzlichen Begriffe, das zweite macht ein Hervorbringen unmöglich. Die alten Sütren hatten das abhängige Entstehen in die Worte gefaßt: „Wenn dieses ist, ist jenes; infolge der Entstehung von diesem entsteht jenes"
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(vgl. oben S. 26). Das erste bezieht Nägäijuna auf die Relativität der gegensätzlichen Begriffe: Etwas Kurzes kann es nur im Hinblick auf etwas Langes geben. Das zweite bezieht er auf das Entstehen eines Dinges aus einem andern, so wie durch eine Lampe Licht entsteht. Im ersten Fall ist aber auch das Lange ohne etwas Kurzes nicht möglich, weil beides sich gegenseitig bedingt. Und daher kann die Ursache nicht früher sein als die Wirkung, weil auch der Begriff der Ursache die Wirkung voraussetzt (vgl. oben S. Ulf.). Andererseits kann kein Licht entstehen, solange nicht die Lampe da ist. Und daher ist auch die Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung ausgeschlossen. Schließlich liegt aber in der Erscheinungswelt, wie sie uns gegeben ist, tatsächlich ein Entstehen vor, und wenn man das in Betracht zieht, wird man an kein Nichtsein glauben. Und da die entstandenen Dinge innerhalb dieser Erscheinungswelt wieder vergehen, wird man auch an kein Sein glauben. Anschließend (v. 52) erläutert Nägäijuna an einem Beispiel, wieso bei der Erscheinungswelt weder Sein noch Nichtsein zutrifft. Die Erscheinungswelt gleicht einer Luftspiegelung, die als Wasser erscheint. Während etwas Wirkliches bei näherer Betrachtung genauer gesehen wird, ist das Wasser der Luftspiegelung in der Nähe nicht wahrzunehmen. Und ebenso erweist sich die Erscheinungswelt bei genauerer Betrachtung anders, als sie auf den ersten Blick erscheint. Beide sind also ein Schein und unwirklich. Aber wie man bei der Luftspiegelung deswegen, weil kein Wasser da ist, noch nicht von einem Nichtsein sprechen kann, weil ja der Trug der Luftspiegelung als solcher vorhanden ist, ebenso darf man bei der Erscheinungswelt von einem Nichtsein ebensowenig sprechen, wie von einem Sein. Beiläufig wird noch bemerkt (v. 58), daß man aus der Ablehnung von Sein und Nichtsein keinen Negativismus folgern darf. Denn, wenn man aus der Leugnung des Seins den Glauben an ein Nichtsein ableiten wollte, müßte man ebenso aus der Leugnung des Nichtseins auf den Glauben an ein Sein schließen. Dann schließt Nägäijuna diesen Abschnitt mit der Bemerkung, daß diese Lehre, welche über Sein und Nichtsein hinausgeht und allein zur Erlösung fuhrt, ausschließlich der Verkündigung des Buddha eigentümlich ist. Nun kommt wieder ein neuer Gedankengang (v. 63), und zwar bringt Nägäijuna neue Beweise für die Unwirklichkeit der Erscheinungswelt. Der alte Buddhismus unterscheidet bei den Dingen drei Merkmale (laksanäni) oder Zeitstufen, Entstehen, Beharren und Vergehen. Diese entsprechen der Geburt, dem Alter und dem Tode. Und daher wird auch das Beharren genauer als Anderswerden während des Beharrens bestimmt. Nägäijuna behauptet nun, daß diese drei Zeitstufen nicht wirklich sind, und daß auch die Erscheinungswelt, weil sie außerhalb der drei Zeitstufen liegt, nicht wirklich sein kann und infolgedessen mit dem Nirväna wesensgleich ist. Er beweist dies folgendermaßen. Entstehen und Vergehen kann nicht wirklich sein, weil es kein Beharren gibt. Ein Beharren ist aber ausgeschlossen wegen der Augenblicklichkeit der Dinge (vgl. oben S. 64ff.), da alle Dinge einem beständigen Wechsel unterworfen sind, weil nur so das vorausgesetzte Anderswerden während des Beharrens möglich ist. Andererseits können jedoch auch die augenblicklichen Dinge nicht wirklich sein. Denn entweder vergehen sie jeden Augenblick vollständig oder teilwei-
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se. Bei einem teilweisen Vergehen ergibt sich der Widerspruch, daß dasselbe Ding zugleich vergeht und nicht vergeht. Ein vollständiges Vergehen dagegen läßt sich nicht beobachten. Außerdem gibt es bei einem vollständigen Vergehen kein Altem, ebensowenig wie bei einem unveränderlichen Beharren. Schließlich bereitet aber auch der Begriff des Augenblicks selbst Schwierigkeiten. Denn das Vergehen eines Augenblicks setzt ein vorhergehendes Entstehen und Beharren voraus. Damit würde er aber in drei Teile zerfallen und wäre kein Augenblick mehr. Und überdies ließe sich auf jeden seiner Teile die gleiche Folgerung anwenden. Außerdem sind Anfang, Mitte und Ende relative Begriffe und als solche unmöglich. Ferner wäre er wegen der Vielheit seiner Teile keine Einheit. Andererseits gibt es nichts Teilloses. Und Einheit und Vielheit sind selbst wieder relative Begriffe, ebenso wie Sein und Nichtsein. Diese letzte Bemerkung gibt Nägäijuna den Anlaß zur Feststellung, daß ein Nichtsein nur durch die Vernichtung eines Seins oder als Gegensatz dazu möglich ist. Sein und Nichtsein sind also relative Begriffe und daher nicht wirklich. Infolgedessen findet auch bei der Erlösung keine wirkliche Vernichtung des irdischen Daseins statt, und es hat daher seinen guten Grund und seine volle Berechtigung, daß der Buddha auf die Frage, ob die Welt ein Ende hat, nur mit Schweigen antwortete, da diese Frage von vollkommen falschen Voraussetzungen ausgeht. Damit ist diese Erörterung beendet und mit einigen allgemeinen Bemerkungen über die Bedeutung dieser Lehre und über die Gefahr einer falschen Auffassung durch die Toren schließt dieses Kapitel.
Aus der „Juwelenkette" (RainävalT) Kapitel I 1 Nachdem ich dem von allen Fehlern freien, mit allen Tugenden geschmückten, allwissenden einzigen Freund aller Wesen (= dem Buddha) meine Verehrung bezeigt habe,
2 will ich dir, o König, damit dein Verdienst wachse, die ausschließlich gute Lehre darlegen. Denn die Lehre trägt Frucht in einem würdigen Empfänger der guten Lehre. 3 Wo erst das Verdienst gedeiht, stellt sich später das höchste Gut ein. Denn wenn man das Gedeihen erlangt hat, gelangt man später zum höchsten Gut.
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4 Als Gedeihen gilt das Wohlergehen, als das höchste Gut die Erlösung. Die Mittel dazu sind, kurz zusammengefaßt, Glaube und Einsicht. 5 Durch Gläubigkeit erwirbt man Verdienst, durch Einsicht erkennt man wahrheitsgemäß. Die Einsicht ist jedoch das Wichtigere von beiden, doch geht der Glaube ihr voran. Nun folgt eine kurze Schilderung des tugendhaften Lebens, das man auf Grund des Glaubens führen soll. Dann fahrt der Text fort: 25 Von der Lehre, die zum höchsten Gut führt und die fein und tiefgründig zu schauen ist, haben die Sieger (= die Buddha) gesagt, daß sie bei den Toren, welche unfähig sind, sie zu hören, Zittern erregt.
26 Der Gedanke: „Ich bin nicht und ich werde nicht sein, nichts ist mein und nichts wird mein sein", bedeutet fur den Toren Schrecken, für den Weisen Schwinden der Furcht. 27 Er, der ausschließlich das für die Geschöpfe Heilsame verkündet, hat gesagt, daß die Geschöpfe durch den Glauben an ein Ich hervorgerufen und vom Glauben an ein Mein begleitet sind. 28 „Es gibt ein Ich, es gibt ein Mein"; das ist vom Standpunkt der höchsten Wahrheit irrig, da es nach wahrheitsgemäßer Erkenntnis beides nicht gibt. 29 Aus dem Glauben an ein Ich entstehen die Gruppen. Dieser Glaube an ein Ich ist in Wahrheit falsch. Wieso kann aber etwas, dessen Same falsch ist, wahrhaft emporwachsen? 30 Wenn man gesehen hat, daß die Gruppen unwahr sind, schwindet der Glaube an ein Ich. Wenn aber der Glaube an ein Ich schwindet, dann kommen keine Gruppen mehr zustande.
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31 Ebenso wie man auf Grand eines Spiegels ein Abbild des eigenen Gesichtes sieht, und wie dieses in Wirklichkeit nichts ist,
32 ebenso wird auf Grand der Gruppen der Glaube an ein Ich wahrgenommen, er ist aber in Wirklichkeit nichts, genau so wie das Abbild des eigenen Gesichts.
33 Und wie ohne Hilfe des Spiegels das Abbild des eigenen Gesichts, so wird ohne die Hilfe der Gruppen (die Vorstellung) „Ich" nicht wahrgenommen.
34 Nachdem der heilige Änanda durch das Hören dieses Sachverhalts das Auge der Lehre erlangt hatte, hat er ihn selbst wiederholt den Mönchen verkündet.
35 Solange der Glaube an die Gruppen besteht, solange besteht auch (die Vorstellung) „Ich." Wenn aber der Glaube an ein Ich besteht, entstehen daraus wieder Werke und Geburt.
36 Dieses aus drei Abschnitten bestehende Rad des Wesenskreislaufs, das keinen Anfang, kein Ende und keine Mitte hat, kreist, indem es sich gegenseitig verursacht, gleich einem im Kreis geschwungenen Feuerbrand.
37 Da es (= das abhängige Werden des Wesenskreislaufs) aus sich, aus anderem und aus beidem auch auf allen drei Zeitstufen, nicht Zustandekommen kann, wird der Glaube an ein Ich hinfallig und dadurch Werke und Geburt.
38 Indem man so das Entstehen der Ursachen und Wirkungen schaut und ebenso ihr Vergehen, erkennt man, daß die Welt in Wirklichkeit weder ist noch nicht ist.
39 Wenn jemand Unüberlegter diese Lehre hört, die zum Schwinden alles Leidens führt, dann erbebt er in seinem Unverstand, indem er sich vor der Stätte der Furchtlosigkeit ängstigt.
Nagarjuna
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40 Daß dies alles im Nirvana nicht sein wird, das bedeutet für dich keinen Schrecken. Warum verursacht es dir also Schrecken, wenn man sagt, daß es hier nicht ist? 41 Bei der Erlösung gibt es kein Ich und keine Gruppen. Wenn dir eine solche Erlösung willkommen ist, warum ist dir dann eine Beseitigung des Ich oder der Gruppen unerwünscht? 42 Das Nirväna ist aber auch kein Nichtsein, wieviel weniger ein Sein. Das Schwinden der Vorstellungen von Sein und Nichtsein wird Nirväna genannt. 43 Die Ansicht vom Nichtsein besagt kurz gefaßt, daß es keinen Lohn der Werke gibt. Sie ist sündhaft und führt auf den bösen Weg (zu einer schlechten Wiedergeburt), und wird als falsche Ansicht bezeichnet. 44 Die Ansicht vom Sein besagt kurz gefaßt, daß es einen Lohn der Werke gibt. Sie ist verdienstvoll und hat den guten Weg (d. h. eine günstige Wiedergeburt) zur Folge, und wird als richtige Ansicht bezeichnet. 45 Beim Wissen gelangt man, da Sein und Nichtsein zur Ruhe kommen, über Sünde und Verdienst hinaus. Und daher wird dies von den Guten die Erlösung vom bösen und vom guten Weg genannt. 46 Wenn man das ursächlich bedingte Entstehen sieht, gelangt man über das Nichtsein hinaus, Und wenn man das Vergehen samt der Ursache sieht, erkennt man das Sein nicht an. 47 Die Ursache ist in Wirklichkeit keine Ursache, mag sie nun früher entstanden oder gleichzeitig entstanden sein, weil weder die Bezeichnung wahrgenommen wird noch ein wirkliches Entstehen.
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Die Schulen des Mahayana
48 Wenn dieses ist, ist jenes, wie das Kurze, wenn das Lange ist. Infolge der Entstehung von diesem entsteht jenes, wie das Licht infolge der Entstehung der Lampe.
49 Solange aber das Kurze nicht ist, ist das Lange seinem Wesen nach nicht vorhanden. Und wenn die Lampe nicht entstanden ist, entsteht auch das Licht nicht.
50 Wenn man so das Entstehen von Ursache und Wirkung sieht, erkennt man das Nichtsein nicht an, indem man die aus der Vielfalt entsprungene Tatsächlichkeit (yäthäbhütyam) dieser Welt gelten läßt.
51 Und indem man das aus der Vielfalt sich ergebende Vergehen der Tatsächlichkeit nach gelten läßt, erkennt man das Sein nicht an. Daher wird man erlöst, da man sich an beides nicht mehr klammert.
52 Eine aus der Ferne erblickte Form wird in der Nähe deutlich gesehen. Wenn die Luftspiegelung Wasser wäre, warum wird es in der Nähe nicht gesehen?
53 Wie diese Welt aus der Ferne gesehen wird, so wird sie in der Nähe nicht gesehen, da sie merkmallos (animittah) ist, wie die Luftspiegelung.
54 Wie die Luftspiegelung dem Wasser gleicht, aber kein Wasser ist und nicht wirklich ist, so gleichen die Gruppen dem Ich, sind aber kein Ich und sind nicht wirklich.
55 Wenn jemand von der Luftspiegelung denkt: „Das ist Wasser", darauf zugeht und dann, wenn er dort ist, meint, daß das Wasser nicht ist, so ist er ein Tor.
56 Ebenso ist es eine Verblendung, wenn man von der Welt, die einer Luftspiegelung gleicht, meint, daß sie ist, oder daß sie nicht ist. Solange aber die Verblendung besteht, wird man nicht erlöst.
Nagäijuna
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57 Wer an das Nichtsein glaubt, geht den schlechten Weg. Wer an das Sein glaubt, geht den guten Weg. Wer sich an beides nicht klammert, weil er erkennt, wie es sich wirklich verhält, gelangt zur Erlösung. 58 Wenn deijenige, welcher Sein und Nichtsein ablehnt, weil er erkennt, wie es sich wirklich verhält, aus Verblendung dem (Glauben an das) Nichtsein verfallt, warum verfallt er nicht dem (Glauben an das) Sein? 59 Man könnte denken, aus seiner Verwerfung des Seins ergibt sich sinngemäß das Nichtsein. Warum ergibt sich aber nicht aus der Verwerfung des Nichtseins das Sein?
60 Wenn sich für diejenigen, welche keine Behauptung, keinen Wandel und keinen Gedanken in Anlehnung an die Erleuchtung kennen, sinngemäß der Glaube an das Nichtsein ergibt, warum werden sie dann nicht (ebensogut) als Anhänger des Glaubens an ein Sein bezeichnet? 61 Frag die Leute samt den Sämkhya, Vaisesika, Jaina, den Anhängern der Lehre von einer Person und von den Gruppen, ob sie ein solches Hinausgehen über Sein und Nichtsein lehren.
62 Daher wisse, daß dieser Unsterblichkeitstrank der Lehre der Buddha, der über Sein und Nichtsein hinausgeht, als Gabe der Lehre und als tiefgründig bezeichnet wird. 63 Die Welt vergeht nicht, kommt nicht und verharrt auch nicht einen Augenblick. Wieso sollte sie also wirklich sein, da sie ihrem Wesen nach außerhalb der drei Zeitstufen liegt? 64 Welcher Unterschied besteht daher in Wahrheit, zwischen der Welt und dem Nirvana, da es bei beiden in Wirklichkeit kein Kommen, kein Gehen und kein Beharren gibt?
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Die Schulen des Mahäyäna 65
Da es kein Beharren gibt, gibt es in Wirklichkeit auch kein Entstehen und keine Vernichtung. Woher sollte es in Wahrheit etwas Entstandenes, Beharrendes und Vernichtetes geben?
66 Wie sollte es ein nichtaugenblickliches Ding geben, wenn beständig eine Veränderung vor sich geht? Wenn aber keine Veränderung erfolgt, woher sollte es dann in Wahrheit ein Anderssein geben? 67 Etwas kann augenblicklich sein, weil es teilweise oder weil es vollständig vergeht. Es ist aber in beiden Fällen unmöglich, weil es einen Widerspruch enthält und nicht wahrzunehmen ist (?). 68 Ist ein Ding ganz und gar augenblicklich, woher gibt es dann ein Altern? Ist es aber wegen seiner Beständigkeit nicht augenblicklich, woher gibt es dann ein Altern? 69 Wie es ein Ende des Augenblicks gibt, so ist auch ein Anfang und eine Mitte anzunehmen. Da also der Augenblick aus drei Teilen besteht, kann die Welt nicht bloß einen Augenblick dauern. 70 Ferner sind Anfang, Mitte und Ende ebenso wie der Augenblick zu betrachten. Auch ist das Anfang-, Mitte- oder Ende-Sein weder aus sich selbst noch durch etwas anderes möglich. 71 Nichts kann Eins sein, wenn es mehrere Teile enthält. Etwas Teilloses gibt es aber nicht. Auch gibt es ohne Einheit keine Vielheit, ebenso wie kein Nichtsein ohne Sein. 72 Ein Nichtsein kann es nur durch die Vernichtung oder im Gegensatz zu einem Sein geben. Wie ist aber die Vernichtung oder der Gegensatz möglich, wenn es kein Sein gibt?
Äryadeva
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73 Infolgedessen trifft beim Erlöschen ein Vergehen der Welt in Wahrheit nicht zu. Daher pflegte der Sieger (= der Buddha) auf die Frage, ob die Welt ein Ende habe, zu schweigen. 74 Daran wird der Allwissende von den Verständigen als wahrhaft allwissend erkannt, daß er diese tiefgründige Lehre ungeeigneten Leuten nicht mitgeteilt hat. 75 Von dieser Lehre, die zum höchsten Gut führt, tiefgründig ist und an nichts festhält, haben die Erleuchteten, welche die Wahrheit geschaut haben, gesagt, daß sie frei ist von allem, woran man sich klammern könnte (anälayah). 76 Vor dieser Lehre, die frei ist von allem, woran man sich klammern könnte, fürchten sich nun die törichten Menschen, die sich gern an etwas klammem und die über Sein und Nichtsein nicht hinausgekommen sind, und gehen daher zugrunde. 77 Und indem sie zugrunde gehen, weil sie sich vor der Stätte der Furchtlosigkeit furchten, richten sie auch andere zugrunde. Daher handle so, o König, daß du von den Verlorenen nicht zugrunde gerichtet wirst.
Äryadeva (Anfang des 3. Jahrhunderts n. u. Z.) Neben Nägäijuna steht sein großer Schüler Äryadeva, auch kurz Deva genannt. Äryadeva stammte der Überlieferung nach aus Ceylon. Was über sein Leben berichtet wird, ist vollkommen legendenhaft. Bei ihm liegt der seltene Fall vor, daß ein bedeutender Schüler in vollständiger Übereinstimmung mit seinem Lehrer wirkt und ihn aufs glücklichste ergänzt. Er stimmt in allen wesentlichen Anschauungen mit Nägäijuna überein, geht aber in der Art der Darstellung über ihn hinaus. Während nämlich Nägäijuna, besonders in seinem Grundwerk mit allgemein gehaltenen abstrakten Schlußfolgerungen arbeitet, geht Äryadeva genau auf die bekämpften Anschauungen ein und setzt sich mit ihnen in allen Einzelheiten auseinander. Und er ist dadurch eine wichtige Quelle für die gegnerischen Schulen seiner Zeit. Da er aber philosophisch nichts grundsätzlich
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Die Schulen des Mahayäna
Neues bringt, mag hier mit Rücksicht auf den Raum eine kurze Probe seiner Art genügen. Ich wähle dafür einige Verse aus seinem umfangreichsten Werk, dem Catuhsatakam („Das Werk in vierhundert Strophen"), und zwar die Widerlegung der Atomlehre. Äryadeva wendet sich darin gegen die Atomlehre der Vaisesika, nach der alle materiellen Dinge aus Atomen zusammengesetzt sind. Dabei sind diese Dinge nach Auffassung der Vaisesika nicht einfach eine Anhäufung von Atomen, sondern die Atome bilden ein neues von ihnen verschiedenes Ganzes. Und zwar werden aus der Substanz und den Eigenschaften der Atome die Substanz und die Eigenschaften des Ganzen gebildet. Äryadeva stellt nun fest, daß die Atome nicht mit ihrem ganzen Wesen in dem Ganzen, das ihre Wirkung darstellt, aufgehen. Vor allem kommt die winzige Kugelrundheit (pärimändalyam), welche die Atome auszeichnet, dem Ganzen nicht zu. Was aber mit einem Teil seines Wesens Ursache ist, mit einem andern dagegen nicht, ist seinem Wesen nach zusammengesetzt. Und was zusammengesetzt ist, so folgert er, kann nicht ewig sein. Damit ist die vom Gegner angenommene Ewigkeit der Atome widerlegt. Daß die Atome als Ursache und das Ganze als Wirkung nicht die gleiche Ausdehnung haben können, ergibt sich übrigens daraus, daß ein Atom nicht denselben Ort einnehmen kann, wie ein anderes Atom. Ein weiterer Grund dafür, daß die Atome aus Teilchen bestehen müssen, ist ferner der, daß wir bei jedem Versuch, uns ein Atom vorzustellen, notwendig verschiedene Seiten dieses Atoms nach den verschiedenen Richtungen annehmen müssen. Was aber mehrere Seiten hat, hat auch mehrere Teile. Ein weiterer Grund ergibt sich aus der Vaisesika-Lehre von der Bewegung. Danach besteht nämlich die Bewegung eines Dinges darin, daß es mit seinen vorderen Teilen neue örtliche Verbindungen eingeht, mit seinen rückwärtigen Teilen dagegen die früheren Verbindungen löst. Das setzt aber wieder das Vorhandensein von Teilen voraus. Eine vollkommene Teillosigkeit würde außerdem das Atom vollkommen unsichtbar machen, während es nach Vaisesika-Lehre wenigstens für die übernatürliche Wahrnehmung eines Yogin sichtbar ist. Endlich beruft sich Äryadeva gegen die Vaisesika· Vorstellung von den Atomen und dem aus ihnen gebildeten Ganzen noch auf die buddhistische Kausalitätslehre, wonach das Entstehen einer Wirkung die Vernichtung ihrer Ursache bedingt (vgl. oben S. 63ff.), was ebenfalls der vorausgesetzten Ewigkeit der Atome widerspricht. Und überdies könnten Ursache und Wirkung, Atome und Ganzes, nicht denselben Platz einnehmen, wie es die Vaisesika-Lehre voraussetzt. Er schließt daher mit der Feststellung, daß sich ewige, als Materie undurchdringliche Atome, wie sie der Gegner annimmt, nicht nachweisen lassen und daß infolgedessen auch die Lehre der Buddha von keinen derartigen Atomen spricht.
Aryadeva
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Aus dem „Werk in vierhundert Strophen" (iCatuhsatakam) Kapitel IX
12 Wovon ein Teil Ursache ist, ein anderer Teil dagegen nicht Ursache ist, das ist daher mannigfaltig und etwas Mannigfaltiges kann nicht ewig sein. 13 Die Kreisrundheit der Ursache ist in der Wirkung nicht vorhanden. Daher können sich die Atome nicht mit ihrem ganzen Wesen (zum Ganzen) vereinigen. 14 Man nimmt nicht an, daß der Ort eines Atoms auch der Ort eines andern ist. Daher nimmt man auch nicht an, daß beide, Ursache und Wirkung, die gleiche Ausdehnung haben. 15 Was eine östliche Seite hat, das hat auch einen östlichen Teil. Weil also das Atom Teile hat, darum wird das Atom als Nichtatom bezeichnet. 16 Ergreifen nach vorne zu und Verlassen nach rückwärts zu - bei wem dies beides nicht stattfindet, der kann nicht gehend (= bewegt) sein. 17 Was keinen Anfang, was keine Mitte und was kein Ende hat, ist unsichtbar. Wer kann es sehen? 18 Die Ursache wird durch die Wirkung vernichtet, daher ist die Ursache nicht ewig. Ferner befindet sich die Wirkung nicht dort, wo sich die Ursache befindet. 19 Ein undurchdringliches ewiges Ding ist nirgends wahrzunehmen. Daher haben die Buddha die Atome nie als ewig bezeichnet.
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Die Schulen des Mahayana
Was die weitere Entwicklung der Madhyamaka-Lehre nach Nägäijuna und Äryadeva betrifft, so finden wir hier keine Entwicklung von der gleichen Art wie bei anderen Schulen. Denn das Madhyamaka-System gab nicht wie andere Schulen ein vollständiges Weltbild, das ergänzt und berichtigt werden konnte, sondern es beschränkte sich in seinem Kern auf wenige metaphysische Grundanschauungen, welche seit Nägäijuna unverändert feststanden. Wenn es trotzdem zu einer Art Entwicklung innerhalb der Schule kam, so war diese durch äußere Umstände bestimmt. Und zwar war es zweierlei, was dazu den Anstoß gab: Die Fortschritte, die inzwischen auf dem Gebiet der Logik erreicht worden waren, und das Aufblühen der zweiten großen Mahäyäna-Schule, der Schule der Yogäcära. Die Fortschritte auf dem Gebiet der Logik nötigten, an die Stelle der Schlüsse Nägäijunas, die sich doch zum größten Teil als anfechtbare Trugschlüsse erwiesen, haltbarere Beweise zu setzen. Die Yogäcära-Schule war vor allem dadurch über das Madhyamaka hinausgegangen, daß sie durch eine Art von erkenntnistheoretischem Idealismus das Zustandekommen der Erscheinungswelt erklärte und dadurch die wichtigste Frage beantwortete, welche das Madhyamaka offengelassen hatte, und ihre großen Erfolge zwangen die ältere Schule dazu, zu dieser neuen Lehre Stellung zu nehmen. Unter diesen Umständen läßt sich die spätere Entwicklung der Madhyamaka-Schule am besten in der Weise schildern, daß wir zeigen, wie sich ihre bedeutendsten Vertreter in diesen beiden Punkten verhielten, wie sie die Fortschritte der Logik berücksichtigten und wie sie sich mit der Yogäcära-Lehre auseinandersetzten.
Buddhapälita (etwa 5. Jahrhundert n. u. Z.) Die erste bedeutende Persönlichkeit der Madhyamaka-Schule nach Äryadeva, welche neue Wege einschlug, war Buddhapälita, der etwa dem 5. Jahrhundert n. u. Z. angehören dürfte. Buddhapälita war es, der als erster dem Fortschritt der Logik Rechnung trug, und zwar verfaßte er einen Kommentar zu Nägäijunas Madhyamakakärikä, in dem er die Behauptungen Nägäijunas durch eingehendere und haltbarere Begründungen zu stützen suchte. Dabei hielt er grundsätzlich an der Einstellung Nägäijunas fest, keine eigenen Behauptungen aufzustellen, sondern beschränkte sich darauf, die gegnerischen Annahmen als unmöglich nachzuweisen. Er tat dies in der Weise, daß er zeigte, daß sich aus den Behauptungen des Gegners unerwünschte Folgerungen ergeben (prasahgah), also auf dem Weg der deductio ad absurdum. Ein kurzes Beispiel aus seinem Kommentar wird genügen, um ein Bild von seinem Verfahren zu geben, und zwar wähle ich zu diesem Zweck den Kommentar zum ersten Vers der Kärikä (s. oben S. 113), weil sich der Nachweis der Unmöglichkeit jedes Entstehens immer mehr zum grundlegenden Beweis entwickelte, auf den sich die Widerlegung der Außenwelt durch die Madhyamaka-Schule vor allem stützte.
Buddhapalita
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Im einzelnen ist seine Darstellung klar und bedarf keiner ausführlichen Erläuterungen. Er bespricht der Reihe nach die vier von Nägärjuna zurückgewiesenen Möglichkeiten eines Entstehens aus sich, aus anderem, aus beidem und ohne Ursache. Die Dinge entstehen nicht aus sich selbst, weil es zwecklos wäre, daß etwas bereits Vorhandenes nochmal entsteht, und weil sie dann jederzeit entstehen müßten, da die Ursache, nämlich ihr eigenes Selbst, ja immer vorhanden wäre. Sie entstehen nicht aus anderem, weil dann alles aus allem entstehen könnte, da das eine fremde Ding genauso etwas anderes ist, wie das andere. Sie entstehen nicht aus beidem, weil dann die Einwände, welche gegen die einzelnen Annahmen vorgebracht wurden, beide zutreffen würden. Und sie entstehen nicht ohne Ursache, weil dann alles jederzeit aus allem entstehen könnte, da ja keine Ursache notwendig ist, deren Eintreten abgewartet werden müßte, und weil dann jede Bemühung zwecklos wäre, da alles sowieso auch ohne Ursache zustande käme.
Aus dem „Kommentar zu den Merkversen der mittleren Lehre" (Mülamadhyamakavrttih) Kapitel I (Gegner:) Zunächst wäre zu zeigen, wieso es eine bloße Ausdrucksweise (vyavahäramätram) ist, wenn man von einem Entstehen spricht. (Antwort:) Dazu ist als Erstes zu sagen: v. 1 Weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beiden, noch ohne Grund sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge entstanden. Wenn nämlich irgendein Ding entsteht, dann findet das Entstehen dieses Dinges aus sich, aus anderem, aus sich und anderem zugleich, oder ohne Grund statt. Prüft man nun (diese vier Möglichkeiten), so erweist es sich auf jede Weise als unmöglich. Wieso? Aus sich heißt soviel wie aus dem eigenen Selbst. Die Dinge entstehen nun zunächst nicht aus ihrem eigenen Selbst, weil ihr Entstehen zwecklos wäre, und weil sich ein endloses Entstehen ergeben würde. Es besteht nämlich kein Anlaß, daß Dinge, die ihrem eigenen Selbst nach bereits vorhanden sind, neuerlich entstehen. Wenn aber etwas bereits Vorhandenes trotzdem entstünde, dann würde es niemals nicht entstehen. Und das ist nicht erwünscht. Daher entstehen die Dinge zunächst nicht aus sich. Sie entstehen aber auch nicht aus anderem. Wieso? Weil daraus folgen würde, daß alles aus allem entstehen könnte. Sie entstehen ferner nicht aus sich und anderem zugleich, weil sich beide Fehler ergeben würden. Und sie entstehen schließlich auch nicht ohne Grund, weil daraus folgen würde, daß alles immer aus allem entstehen könnte, und weil
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sich der Fehler ergeben würde, daß alle Bemühungen zwecklos wären. Weil also das Entstehen der Dinge auf keine Weise möglich ist, entstehen sie nicht. Und wenn man daher von ihrem Entstehen spricht, so ist das eine bloße Ausdrucksweise.
Bhavaviveka (Mitte des 6. Jahrhunderts n. u. Z.) Der nächste namhafte Madhyamaka-Lehrer ist Bhavaviveka oder Bhäviveka, der größte Neuerer in der Geschichte der Schule. Er lebte in der Mitte des 6. Jahrhunderts n. u. Z. und war Zeitgenosse und Gegner Dharmapälas, des berühmtesten damaligen Vertreters der Yogäcära-Schule in Nälandä. Bhavaviveka neuerte, sowohl durch die Berücksichtigung der logischen Fortschritte seiner Zeit, als auch durch die Verwertung von Yogäcära-Gedanken. Was seine logischen Neuerungen betrifft, so war für ihn der entscheidende Anstoß dadurch gegeben, daß kurz vorher Dignäga die buddhistische Logik zur vollen Höhe geführt und genau festgelegt hatte, aus welchen Teilen ein Schluß zu bestehen hat und welche Bedingungen die einzelnen Teile erfüllen müssen. Bhavaviveka machte sich das zu Nutzen, und zwar verfuhr er folgendermaßen. Er suchte aus den Worten Nägäijunas die Glieder eines solchen Schlusses herauszulesen und stellte daraus eine formelle Schlußfolgerung zusammen, die allen geforderten Bedingungen entsprach und die er gegen allfällige Einwände rechtfertigte. Er stellte also im Gegensatz zu Buddhapälita, der sich begnügt hatte, die Gegner ad absurdum zu führen, selbständige (svatantrah) Schlußfolgerungen auf, und das gab seiner Schule den Namen der Svätantrika Mädhyamika, während man die Anhänger Buddhapälitas als Präsangika bezeichnete. Auch setzte er sich mit Lehren und Einwänden fremder, und zwar keineswegs nur buddhistischer Schulen, eingehend und ausführlich auseinander. Als Beispiel für sein Verfahren bringe ich eine Probe aus seinem Hauptwerk, seinem großen Kommentar zu Nägäijunas Madhyamakakärikä, Prajfiäpradlpah („Leuchte der Einsicht") genannt, und zwar ebenso wie bei Buddhapälita die Erklärung des ersten Verses der Kärikä. Ich gebe aber nur den ersten Teil dieser Erklärung wieder, die Widerlegung der Entstehung der Dinge aus sich selbst, da Bhävaviveka unvergleichlich ausfuhrlicher ist als Buddhapälita und da schon dieser Teil seine Art genügend kennzeichnet. Bhävaviveka führt ebenso wie Buddhapälita zuerst den Vers Nägäijunas an, den er besprechen will, und knüpft daran einige Einzelerklärungen. Während aber Buddhapälita danach in voller Selbständigkeit seine Folgerungen aufstellt, beginnt Bhävaviveka bereits hier seine Schlußfolgerung vorzubereiten und sie aus den Worten Nägäijunas abzuleiten. In dem Satz, daß die Dinge nicht aus sich entstehen, liest er aus den Worten „aus sich" heraus, daß sie vorher bereits vorhanden sind, was er als Begründung auffaßt. Als Beispiel kann, wie er bemerkt, jedes Ding dienen, in welchem beweisende und zu beweisende Eigenschaft, also Grund und Folge, verbunden erscheinen. Nun geht er dazu über, die
Bhävaviveka
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formelle Schlußfolgerung aufzustellen, und zwar gliedert er sie regelrecht in Behauptung, Grund und Beispiel. Die Dinge - er nennt beispielshalber die inneren Bereiche - entstehen in Wahrheit nicht aus sich, weil sie bereits vorhanden sind, wie die Geistigkeit. Es folgt, wie es der Brauch der Logiker verlangt, eine Rechtfertigung der einzelnen Glieder des Schlusses gegen allfallige Einwände. Die wichtigste Bedingung, welche der Grund erfüllen muß, ist, daß er im Ungleichartigen (vipaksah) fehlt. Das ist im vorliegenden Fall selbstverständlich, da es etwas Ungleichartiges, nämlich etwas in Wahrheit Entstandenes, nicht gibt. Dann weist Bhävaviveka einen Einwand der Sämkhya zurück. Nach Sämkhya-Lehre entsteht Seiendes aus Seiendem, d. h. die Wirkung ist in der Ursache bereits vorhanden. Nun sagt der Sämkhya: Daß die Dinge aus sich, sofern sie Wirkung sind, entstehen, behauptet kein Mensch. Wenn euer Beweis also das besagt, so heißt das offene Türen einrennen. Wollt ihr dagegen beweisen, daß sie aus sich, sofern sie Ursache sind, nicht entstehen, so verwickelt ihr euch in einen Widerspruch. Denn das ist tatsächlich der Fall und ist auch das, was unsere Lehre besagt. Bhävaviveka weist diesen Einwand mit der Bemerkung zurück, daß seine Schlußfolgerung allgemein gedacht ist und ohne die vom Gegner vorgebrachte Alternative, und daß überdies ein Entstehen aus dem Wesen der Ursache, mag sie nun eigenes oder fremdes Wesen haben, noch zurückgewiesen werden wird (vgl. v. 2 und 3 bei Nägäijuna). Schließlich rechtfertigt er noch die Verwendung der Geistigkeit als Beispiel. Im Erkenntnisstrom ist nämlich der von ihm übernommenen Yogäcära-Lehre entsprechend jede Erkenntnis bereits vor ihrem Entstehen als Same, d. h. als latenter Eindruck vorhanden. Sofern man das berücksichtigt, ist also das Erkennen tatsächlich bereits vor seinem Entstehen vorhanden. Und da somit der Grund, nämlich das bereits Vorhandensein, bei ihm gegeben ist, kann es als Beispiel dienen. Damit ist Bhävavivekas eigene Beweisführung abgeschlossen und er geht dazu über, die Beweisführung Buddhapälitas als unzulänglich abzulehnen. Seine Gründe sind, daß Buddhapälita keine formelle dreigliedrige Schlußfolgerung bringt, daß er sich mit den Einwänden der Gegner nicht auseinandersetzt und daß schließlich jede deductio ad absurdum beinhaltet, daß das Gegenteil des als unmöglich Nachgewiesenen zutrifft. Wie sich zu diesen Vorwürfen die Anhänger Buddhapälitas stellten, werden wir bei der Besprechung Candraklrtis sehen (s. unten S. 156 f.). Dies ist also die Art, wie Bhävaviveka Nägäijuna erklärt, und in der gleichen Weise behandelt er auch alle übrigen in den Versen Nägäijunas aufgestellten Behauptungen.
Aus der „Leuchte der Einsicht" (Prajüäpradipah) Kapitel I Von denen, welche ein Entstehen behaupten, sagen einige, daß die Dinge aus sich entstehen, andere, aus anderem, einige, aus beiden, andere, ohne Grund.
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Wenn man (diese Ansichten) aber der Logik und der Überlieferung gemäß prüft, so erweist sich ein Entstehen in jeder Weise als unmöglich. In diesem Sinn sagt (Nägäijuna):
v. 1 Weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beiden, noch ohne Grund sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge entstanden. Damit ist die allgemeine Behauptung aufgestellt. (Gegner:) Was heißt hier zunächst „weder aus sich?" (Antwort:) Die Worte „sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge entstanden" sind mit den einzelnen (Gliedern der Behauptung) zu verbinden. „Aus sich" bedeutet so viel wie „aus dem eigenen Selbst." Da durch eine bloße Behauptung der gewünschte Gegenstand nicht bewiesen wird, ist hier das Vorhandensein als Grund zu betrachten. Denn mit den Worten „aus sich" ist gesagt, daß das eigene Selbst bereits vorhanden ist. Das Beispiel beruht auf der zu beweisenden und der beweisenden Eigenschaft. Denn ein Eigenschaftsträger, der erwiesenermaßen die zu beweisende und die beweisende Eigenschaft besitzt, ist ein Beispiel. Die Verneinung „nicht aus sich" ist im Sinn einer einfachen Verneinung {prasajyapratisedhah) aufzufassen, weil dabei die Verneinung das wesentliche ist und die Absicht darin besteht, durch die Beseitigung des Netzes sämtlicher Vorstellungen das alle Objekte umfassende, vorstellungsfreie Wissen (nirvikalpakam jnänam) hervorzurufen. Würde sie dagegen auch eine Ausschließung (paryudäsah) beinhalten, so würden, da bei dieser die Bejahung die Hauptsache ist, die Worte „die Dinge sind nicht entstanden" in positiver Form das Nichtentstehen lehren, und dadurch würde sich eine Abweichung vom eigenen System ergeben. Denn aus der Überlieferung geht hervor, daß deijenige, welcher im Nichtentstehen der Form (rüpam) wandelt, nicht in der Vollkommenheit der Einsicht wandelt... Dazu lautet die formelle Schlußfolgerung: Diese inneren Bereiche (äyatanäni) entstehen in Wahrheit nicht aus sich, weil sie bereits vorhanden sind, wie die Geistigkeit. (Gegner:) Der Grund, nämlich das Vorhandensein, ist kein Grund, weil nicht nachgewiesen ist, daß er im Ungleichartigen (vipaksah) nicht vorkommt. (Antwort:) Das Nichtvorkommen kommt nicht in Betracht, weil es (etwas Ungleichartiges) nicht gibt. Daher liegt hier und in allen (ähnlichen Fällen) kein Fehler vor. Dagegen wenden einige Sämkhya ein: Was ist der Sinn dieser Behauptung? Heißt es (die Dinge entstehen nicht) aus sich, sofern sie das Wesen der Wirkung haben, oder sofern sie das Wesen der Ursache haben? Was folgt daraus? Wenn es heißt, sofern sie das Wesen der Wirkung haben, so wird nur etwas bereits Bewiesenes bewiesen. Wenn es dagegen heißt, sofern sie das Wesen der Ursache haben, so ist das inhaltlich ein Widerspruch, denn alles Entstehende entsteht, nachdem es in der Form der Ursache bereits vorhanden war. Das ist nicht stichhaltig, weil wir das bloße Entstehen aus sich bekämpfen, und weil wir, auch sofern es sich um das Wesen der Ursache handelt, ein Entstehen ablehnen, mag diese (Ursache) nun eigenes oder fremdes Wesen haben. Das Vorhanden-
Bhâvaviveka
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sein der Geistigkeit ist unanfechtbar, da sie auch mit inbegriffen ist, sofern sie das Merkmal der Kraft trägt (d. h. im potentiellen Zustand). Dazu geben andere (= Buddhapälita) folgende Erklärung: Die Dinge entstehen nicht aus ihrem eigenen Selbst, weil ihr Entstehen zwecklos wäre, und weil sich ein endloses Entstehen ergeben würde. Das ist verfehlt, weil kein Grund und kein Beispiel angeführt wird, und weil die vom Gegner vorgebrachten Einwände nicht zurückgewiesen werden. Da es sich ferner um eine unerwünschte Folgerung (prasahgah) handelt, ergibt sich im Gegensatz zur vorliegenden Aussage eine Behauptung und Begründung entgegengesetzten Inhalts, nämlich: Die Dinge entstehen aus anderem, weil ihr Entstehen einen Zweck hat, und weil ihr Entstehen ein Ende findet. Und das würde einen Widerspruch gegen das eigene System bedeuten. Philosophisch weitaus bedeutender als die logischen Neuerungen Bhävavivekas ist seine Auseinandersetzung mit den Lehren der Yogäcära. Zum Verständnis dieser Auseinandersetzung ist folgendes zu berücksichtigen. Von Natur aus stehen die Mädhyamika und Yogäcära in ihren Grundanschauungen in keinem notwendigen Gegensatz. Schon bei Nägäijuna findet sich der Gedanke, die Erscheinungen der Außenwelt als Vorstellungen zu betrachten. Und als dieser Gedanke von der Yogäcära-Schule systematisch ausgeführt und zum Grundgedanken ihres Lehrgebäudes gemacht wurde, war damit kein Trennungsstrich gegenüber den Mädhyamika gezogen. Das gleiche gilt für die reich entwickelte Psychologie und die darauf gegründete Erlösungslehre, welche die Yogäcära in Anlehnung an jenen Grundgedanken schufen. Sie waren auch für den Mädhyamika denkbar und boten bei ihrer größeren Fortschrittlichkeit manche Vorteile, so daß der Gedanke nahelag, sich diese Vorteile nutzbar zu machen. Und das ist es, was Bhävaviveka tat. Er übernahm die Psychologie und die darauf gegründete Erlösungslehre der Yogäcära-Schule, wenn auch mit gewissen Änderungen. Er erreichte dadurch eine wesentliche Bereicherung der eigenen Lehre um wertvolle Begriffe. Und er konnte es dabei tun, ohne gegen die Grundsätze der eigenen Lehre zu verstoßen. Ganz ohne Schwierigkeiten ging es aber nicht ab, und vor allem war es ein Punkt, bei dem diese Schwierigkeiten einsetzten. Für jede Lehre, welche die Welt als Vorstellung betrachtet, liegt es nahe, der höchsten Wirklichkeit den Charakter des Erkennens zuzuschreiben, und das haben auch die Yogäcära getan. Allerdings war es nicht leicht, dies mit dem scharf betonten, unfaßbaren Wesen der höchsten Wirklichkeit, die über allen irdischen Bestimmungen steht, in Einklang zu bringen. Und wie wir noch sehen werden, gab es darüber innerhalb der Yogäcära-Schule mancherlei Meinungsverschiedenheiten. Aber grundsätzlich entschied man sich dafür. Anders lagen die Dinge für Bhâvaviveka. Im Madhyamaka-System war die Unfaßbarkeit und Bestimmungslosigkeit der höchsten Wirklichkeit bereits seit Nägäijuna so schroff und kompromißlos herausgearbeitet und betont worden, daß es unmöglich war, damit den Charakter des Erkennens zu vereinbaren. Und dementsprechend fiel daher auch die Entscheidung Bhävavivekas. Für ihn gehört das Erkennen in das Bereich der Erscheinungswelt. Um es in der Terminologie der Schulen auszudrücken,
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nach Yogäcära-Lehre gehört das Erkennen zum abhängigen Merkmal (paratantralaksanam) und es kommt ihm daher ein gewisser Grad von Wirklichkeit zu. Für Bhävaviveka dagegen gehört das Erkennen ins Bereich der beschränkten Wahrheit (samvrtisatyam) und hat mit der höchsten Wirklichkeit nichts zu tun. In diesem Punkt also wich Bhävaviveka von den Yogäcära ab. Darüber kam es zum Streit und darum wurde er von den Vertretern dieser Schule aufs heftigste angegriffen. Er hat sich aber in dieser Frage im Sinne seiner eigenen Lehre entschieden und ist dabei ein treuer Anhänger Nägärjunas geblieben. Als Beispiel für diese Anschauungen gebe ich im folgenden ein Stück aus einem selbständigen Werk Bhävavivekas wieder, aus dem „Juwel in der Hand" (Tchang tchen). Dieses Werk faßt in kurzer Form die Lehren der Madhyamaka-Schule zusammen, so wie sie Bhävaviveka auffaßte. Den Hauptteil bildet eine Widerlegung der Wirklichkeit der Außenwelt in zwei breit behandelten formellen Schlußfolgerungen, von denen eine die Unwirklichkeit der verursachten (samskrtäh), die andere die Unwirklichkeit der nichtverursachten Gegebenheiten (asamskrtä dharmäh) nachweist. Den Abschluß bildet eine Schilderung des Erlösungsweges und der höchsten Erkenntnis. Diesen Abschnitt gebe ich größtenteils wieder, denn er bietet eine ungewöhnlich gute Darstellung der philosophischen Grundgedanken des mahäyänistischen Erlösungsweges vom Standpunkt der Madhyamaka-Lehre und zeigt gleichzeitig klar den Unterschied zwischen den Anschauungen Bhävavivekas und der Yogäcära. Zu seinem Verständnis ist folgendes zu bemerken. Den Ausgangspunkt bildet für Bhävaviveka die durch Belehrung, vor allem aber durch die beiden vorhergehenden Schlußfolgerungen gewonnene Erkenntnis der Unwirklichkeit der Außenwelt. Nach alter Anschauung genügt aber eine solche Erkenntnis allein noch nicht zur Erlösung. Es muß noch die Betrachtung (bhävanä) hinzutreten (vgl. oben S. 80 f.). Dieser Weg der Betrachtung hat nach Yogäcära-Lehre den Zweck, allmählich alle Vorstellungen, welche den Inhalt der irdischen Erkenntnis ausmachen, zu beseitigen. Das gleiche gilt für Bhävaviveka, nur ist bei ihm der Weg der Betrachtung hinsichtlich der Vorstellungen, die es zu beseitigen gilt, der Madhyamaka-Lehre angepaßt, und ebenso sind die Sütren, auf die er sich beruft, solche, wie sie vor allem von der Madhyamaka-Schule hochgehalten wurden. Die erste Stufe dieses Weges der Betrachtung besteht darin, daß der Übende sämtliche Erscheinungen der Erscheinungswelt als unwirklich, also als leer betrachtet. Im einzelnen hat er sich dabei an die Bestimmungen der Leerheit zu halten, welche die Prajfiäpäramitä-Texte geben. Der Erfolg dieser Betrachtung ist, daß schließlich alle groben äußeren Erscheinungsformen und die mit ihnen verknüpften Vorstellungen verschwinden. Auf der zweiten Stufe der Betrachtung kommt der Übende zur Erkenntnis, daß auch die Erkenntnis der Leerheit aller Dinge eine Vorstellung ist, welche als solche der höchsten erlösenden Erkenntnis im Wege steht und daher beseitigt werden muß. Er betrachtet infolgedessen, wieder im Anschluß an die Prajfiäpäramitä-Texte, die Dinge auch nicht mehr als leer, und setzt diese Betrachtung so lange fort, bis auch die Vorstellung der
Bhâvaviveka
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Leerheit schwindet. Indem er so die Dinge weder als leer noch als nicht leer betrachtet, betritt er den mittleren Weg (madhyamäpratipat), wie ihn das Ratnaküta-Sütram schildert. Aber auch diese Erkenntnis, welche beide Gegensätze, Leerheit und Nichtleerheit, Sein und Nichtsein ablehnt, auch sie ist als Erkenntnis eine Vorstellung und muß überwunden werden. Und so gelangt der Übende zur dritten Stufe der Betrachtung, auf der jeder Erkenntnisinhalt ausgeschaltet wird. Und damit erreicht er die letzte und höchste Stufe, das vorstellungsfreie Wissen (nirvikalpakam jnänam). Von diesem vorstellungsfreien Wissen sprechen auch die Yogäcära. Aber hier scheiden sich die Geister. Nach YogäcäraLehre trägt auch das vorstellungsfreie Wissen den Charakter der Erkenntnis. Das ist aber nach Bhävaviveka unzutreffend. Nach ihm hat das vorstellungsfreie Wissen auch den Charakter der Erkenntnis abgestreift und wird, wie er an einer anderen Stelle sagt, nur im übertragenen Sinn als Wissen bezeichnet. Das vorstellungsfreie Wissen ist also kein Wissen, wenn man auch von Wissen spricht. Ebenso wie es beim Heiligen auf dieser Stufe keinen Wandel gibt, obwohl man von Wandel spricht. Wie es schon in den heiligen Texten heißt, besteht diese letzte Erkenntnis vielmehr im Fehlen jeder Erkenntnis, ebenso wie der Wandel des Heiligen im Fehlen jedes Wandels besteht. Und das ist das Höchste, die Befreiung von jedem Irrtum, das Schweigen der Heiligen.
Aus dem „Juwel in der Hand" (Tchang tchen) (T 1578, p. 2 7 6 a 3 - 2 7 7 b l l ) Nachdem der Übende auf diese Weise alle Einwände beseitigt hat, erfaßt er durch richtige Schlußfolgerung die Leerheit der von eigener und von fremder Seite angenommenen nichtverursachten (Gegebenheiten). Wenn er aber auch auf der Stufenleiter des durch Hören gewonnenen Wissens die Leerheit erfaßt hat, ist er doch, solange die Kraft der Betrachtung (bhävanä) fehlt, nicht imstande, die Hemmnisse (ävaranäni), die beseitigt werden müssen, zu entfernen. Daher bemüht er sich nunmehr, die Kraft der Betrachtung zu üben. 1 Solange nun dabei ein verursachtes oder nichtverursachtes Erscheinungsbild (nimittam) irgendwelcher Art vorhanden ist, das mit Unterbrechung oder ohne Unterbrechung auftritt, hat er dieses Erscheinungsbild durch wahrheitsgemäße Betrachtung seiner Leerheit zu beseitigen, so daß es sich nicht mehr zeigt. Er erfaßt (dabei) alle Gegebenheiten (folgendermaßen): Da sie ohne eigenes Wesen sind, sind sie von Natur aus leer. Da sie leer sind, besitzen sie kein wirkliches Merkmal {nimittam). Sie sind daher merkmallos. Da sie merkmallos sind, sind sie nichts, wonach man verlangt. Sie sind daher unbegehrt. Da sie frei von der
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Die Schulen des Mahayana
Befleckung durch ein Merkmal sind, sind sie losgelöst. Da sie losgelöst sind, entstehen die Laster, welche sich an sie heften, überhaupt nicht. Sie sind daher friedvoll. Da ihr eigenes Wesen nicht entsteht, sind sie nicht entstanden. Da sie nicht entstanden sind, sind sie nicht vergänglich. Sie sind nicht leidvoll. Sie sind nicht ohne Selbst. Da sie nicht entstanden sind, sind sie ferner ohne Merkmal. Da sie ohne Merkmal sind, kann man durch die Betrachtung, deren einziges Merkmal die Merkmallosigkeit ist, die Zweiheitlosigkeit sämtlicher Gegebenheiten erfassen. In dieser Form bestrebt er sich, die Betrachtung zu üben. Indem so die Kraft der Betrachtung wächst, beseitigt er die groben Erscheinungsbilder, so daß sie sich nicht mehr zeigen. Es besteht daher keine Erscheinungsform mehr, in der er sich bewegt. Er erfaßt nämlich die verursachten und nichtverursachten Erscheinungsformen so, wie ein Augenkranker (taimirikah), dessen Augen von der groben Trübung durch die Augenkrankheit befreit und klar geworden sind. Er sieht nämlich die Erscheinungsbilder, die er früher erfaßte, nicht mehr.
2 Obwohl er nun dazu gelangt ist, bei diesen (Erscheinungsbildern) nicht zu verharren, so bleibt, weil die Vorstellungen der Leerheit usw. noch immer auftreten, der Strom seines Geistes dennoch mit einem gewissen Streben (äbhogah) verbunden und gelangt daher noch nicht zur Unbeweglichkeit. Da er also erkennt, daß das Auftreten der Vorstellungen der Leerheit usw. die überweltliche, vorstellungsfreie Einsicht verhindert, wünscht er sie zu beseitigen. Er bemüht sich daher ernstlich, folgende Überlegung anzustellen: „Vom Standpunkt der höchsten Wahrheit sind die Vorstellungen der Leerheit usw. hinsichtlich der Objekte, welche ihrem Wesen nach leer sind, ebenfalls nicht wirklich, da sie aus Ursachen entstehen, wie ein Zaubertrug usw." Indem er so die Betrachtung übt, vermag er nunmehr die Vorstellungen der Leerheit usw. zu beseitigen. Und indem er diese beseitigt, vermeidet er die beiden Extreme der Leerheit und Nichtleerheit usw. Er betrachtet daher die Gegebenheiten nicht mehr unter der Erscheinungsform ihrer Leerheit. Dementsprechend heißt es in der „Vollkommenheit der Einsicht" (Prajnäpäramitä): „Wenn er richtig wandelt, sieht er die Körperlichkeit weder als ewig noch als nichtewig an, er sieht sie weder als freudvoll noch als leidvoll an, er sieht sie weder als Selbst noch als Nichtselbst an, er sieht sie weder als friedvoll noch als nichtfriedvoll an, er sieht sie weder als leer noch als nichtleer an, er sieht sie weder als Merkmal noch als Nichtmerkmai an, er sieht sie weder als begehrt noch als nichtbegehrt an, und er sieht sie weder als losgelöst noch als nichtlosgelöst an. Ebenso sieht er die Empfindung, das Bewußtsein, die Gestaltungen, das Erkennen, alle Formen, Töne, Gerüche, Geschmäcke, alles Berührbare und alle Gegebenheiten, das Auge, das Gehör, den Geruch, die Zunge, den Körper und das Denken, die Vollkommenheiten der Freigebigkeit, des sittlichen Verhaltens, der Geduld, der Tatkraft, der Versenkung und der Einsicht,
Bhavaviveka
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die Erweckungen der Wachsamkeit, die rechten Bemühungen, die Bestandteile der Wunderkraft, die Vermögen, die Kräfte, die Glieder der Erleuchtung, die Glieder des Weges, die Versenkungen, die Versenkungen der Sphäre des Nichtmateriellen, die übernatürlichen Kenntnisse, die zehn Kräfte, die Gewißheiten, die unbeschränkten Erkenntnisse, die dem Buddha eigentümlichen Eigenschaften, die Sammlungen, die Tore des Erinnerungsvermögens und die Allwissenheit weder als ewig noch als nichtewig an usw., usw." Da der (Übende) auf diese Weise imstande ist, die beiden Extreme zu beseitigen, vermag er den mittleren Weg herbeizuführen und zu fordern. Dieser von den beiden Extremen freie, mittlere Weg wird, weil auf Grund der oben wiedergegebenen beiden Schlußfolgerungen die Formen des Verursachten und Nichtverursachten nicht mehr erscheinen, „formlos" genannt. Weil er formlos ist und weil die Vorstellungen des Seins usw. in ihm fehlen, gibt es keinerlei Gegebenheit, deren Merkmal aufgezeigt werden könnte, indem man sagt: „Dieses ist so, daher ist jenes ebenso." Daher wird er „unzeigbar" genannt. Weil er wesenlos ist, gibt es nichts, worauf man sich stützen könnte, und nichts, was sich darauf stützt. Weil er also kein Verharren kennt, wird er „ohne Halt" genannt. Mag es das Erscheinungsbild des Verursachten oder das Erscheinungsbild des Nichtverursachten sein, mag es Vorgestelltes oder Nichtvorgestelltes, Vorstellung oder Nichtvorstellung sein - eine Erkenntnis, welche ein derartiges Erscheinungsbild zeigt, tritt in ihm nicht auf. Daher wird er „ohne Erscheinungsbild" genannt. Da er frei ist von jedem Erscheinungsbild des Seins oder Nichtseins, entsteht keine Erkenntnis, welche dieses zum Objekt hat, daher wird er „ohne Erkennen" genannt. Weil er formlos ist, gestaltlos ist und es keinerlei Bestimmung oder Kennzeichen in ihm gibt, wird er „ohne Kennzeichen" genannt. Dementsprechend hat der Erhabene zu Käsyapa gesagt (vgl. oben S. 104.): „ ,Ewig', das ist ein Extrem.,Nichtewig', das ist ein zweites. Was zwischen diesen beiden in der Mitte liegt, das ist formlos, unzeigbar, ohne Halt, ohne Erscheinungsbild, ohne Erkennen und ohne Kennzeichen. Das nennt man den mittleren Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung des Wesens aller Gegebenheiten", usw. bis ,,,Sein', das ist ein Extrem. ,Nichtsein' das ist ein zweites", usw. Ferner hat der Buddha zu Käsyapa gesagt (oben S. 105f.): „Wissen und Nichtwissen ist nicht zweierlei und bildet keine Zweiheit. Die richtige Erkenntnis davon, das nennt man den mittleren Weg."
3 Während der (Übende) also auf diese Weise die beiden Extreme zu beseitigen vermag, verharrt er in der Vorstellung, welche hinsichtlich der Ansicht von der Zweiheitlosigkeit entsteht. Nunmehr erkennt er, daß auch diese Ansicht von der Zweiheitlosigkeit ein Hindernis ist für das friedvolle Verharren in der überweltlichen, vorstellungsfreien Einsicht. Er beseitigt daher rasch die genannten Ursachen. Weil er sie beseitigt, zeigt sich nicht mehr eine solche oder solche Vorstellung, das zweifache Sprechen der Stimme und des Denkens kommt zugleich
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Die Schulen des Mahayäna
zum Stillstand, und er wird sich des wahren Wesens der Gegebenheiten bewußt, unbeweglich, ohne Erscheinungsbild, ohne Merkmal und frei von jeder Vielfalt. Er kommt somit zu dem darauf beruhenden unbeweglichen Bewußtsein und verharrt im Strom des Wissens vom eigenen Merkmal (svalaksanam). Obwohl er sich also bemüht, die irrtumslose Auffassung der Leerheit zu üben, bringt er sich doch das Wesen der Leerheit ganz und gar nicht zum Bewußtsein. Es folgt wieder ein längeres Zitat aus einem Sütra, dann fährt der Text fort: Die Yogäcära vertreten folgende Auffassung: „Wenn sämtliche Vorstellungen von etwas Ergriffenem und einem Ergreifer beseitigt sind, dann ist das das überweltliche, vorstellungsfreie Wissen. Bei ihm entsteht eine feste Ansicht von der Wirklichkeit und man bemüht sich, die Betrachtung zu üben." Andere, welche dies richtig prüfen, sagen: Wenn dieses Wissen entsteht, so sind zwar die obengenannten Vorstellungen nicht vorhanden. Es entsteht aber in Verbindung mit dem Erscheinungsbild eines merkmallosen Objektes, ist begleitet von der Vorstellung dem eigenen Wesen nach (svabhävavikalpah)', ist verursacht, und kann daher, ebenso wie die übrigen Erkenntnisse, welche zur sinnlichen Wahrnehmung zählen und von Vorstellungen begleitet sind, nicht als überweltliches, vorstellungsfreies Wissen gelten. Ebenso ist die von jenen angenommene höchste Wirklichkeit, die merkmallose und benennungslose Soheit (,tathatä), Anhaltspunkt (der Erkenntnis) und kann als solche ebenso wie die übrigen Anhaltspunkte nicht als höchste Wirklichkeit gelten. Aus diesen Gründen sind beide (Annahmen) nicht unanfechtbar. Dementsprechend heißt es im Sütra: „Was ist dabei die Wahrheit im höchsten Sinn? - Zu ihr hat das Wissen keinen Zugang." Ferner heißt es in der „Frage des Mañjusn" (Mañjusnpariprccha): „Was ist es, was das Auge der Einsicht (prajnäcaksuh) betrachtet?" Die Antwort lautet: „Wenn irgend etwas vorhanden wäre, was es betrachtet, dann wäre es nicht mehr das A u g e der Einsicht. Da dieses Auge der Einsicht frei von Vorstellungen ist, betrachtet es nicht das Verursachte und es betrachtet auch nicht das Nichtverursachte, da alles Nichtverursachte nicht in das Bereich dieses Auges der Einsicht fällt." Diesen Gründen und diesen heiligen Texten zufolge hat man jene Auffassungen zu verwerfen. Ferner sagen die, die richtig prüfen: Nach der Wahrheit im höchsten Sinn ist ein solches überweltliches, vorstellungsfreies Wissen nicht wirklich, weil es aus Ursachen entstanden ist, wie ein durch Zauberkraft geschaffener Mensch. Alle Schwierigkeiten und Fehler, seien sie wie sie seien, sind auf Grund richtiger Betrachtung zu beseitigen. Wenn es aber ein Wissen ist, welches derartige Auffassungen beseitigt, so ist es ebenso wie diese fehlerhaft. Man bemüht sich daher nicht weiter, zu prüfen und darzulegen. Somit sind alle derartigen Auffassungen aus dem Wege geschafft. 1
Die buddhistische Scholastik unterscheidet mehrere Arten von Vorstellungen. Davon ist die „Vorstellung dem eigenen Wesen nach" {svabhävavikalpah) die grundlegende Form, welche auch bei Erkenntnisvorgängen vorkommt, die im übrigen als vorstellungsfrei gelten.
Bhävaviveka
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Was das merkmallose Wesen der Objekte als Gegenstand des Erkennens betrifft, so gibt es kein unmittelbares Erfassen. Und da die Gründe und Ursachen fehlen, entstehen auch keine anderen Arten des Erkennens. Weil es aber kein unmittelbares Erfassen gibt, spricht man von wahrhaftem Erfassen. Dementsprechend hat der Erhabene gesagt: „Was nennt man wahrhaftes Erfassen? - Das vollkommene Nichterfassen aller Gegebenheiten, das nennt man das wahrhafte Erfassen." Ferner sagt ein Sütra: „Der Vollendete erschaut die Erleuchtung ganz und gar nicht." Außerdem heißt es in der „Frage des Mañjusn" (Mañjusnpariprcchä): „Was schaut derjenige, der die (heiligen) Wahrheiten schaut?" - Die Antwort lautet: „Es gibt keinerlei Gegebenheit, die geschaut werden kann. Warum? Alles, was geschaut wird, ist falsch. Wenn nichts ist, was geschaut wird, dann spricht man von Schauen der Wahrheiten." Ferner wird gefragt: „Wie bemüht man sich, das Erschauen zu üben?" - Die Antwort lautet: „Wenn man weiß, daß es keinerlei Gegebenheit gibt, und so denkt und überlegt, dann bemüht man sich, das Erschauen zu üben." Ferner wird gefragt: „Wann hat man das Erschauen verwirklicht?" - Die Antwort lautet: „Wenn man die Gleichheit sämtlicher Gegebenheiten betrachtet." - Ferner wird gefragt: „Gibt es jemanden, der die Gleichheit sämtlicher Gegebenheiten schaut?" - Die Antwort lautet: „Es gibt niemanden, der die Gleichheit schaut. Wenn nämlich etwas ist, das geschaut wird, dann ergibt sich, daß man die Gleichheit nicht schaut." Die Ausdrücke „wahrhaft erfassen", „Schauen der Wahrheiten" und „Erschauen" haben alle ein und dieselbe Bedeutung. Bei dem, der die Betrachtung übt, bewegt sich nunmehr weder Geist, noch Denken, noch Erkennen, noch Wissen. Das nennt man den richtigen Wandel in der vorstellungsfreien Einsicht. Wenn er so ohne Wandel zu wandeln vermag, dann erlangt er die wahrhafte Verkündigung der Vollendeten, vollkommen Erleuchteten. Dementsprechend sagt ein Sütra: „Erhabener, wie muß sich ein Bodhisattva üben, damit er über die höchste, vollkommene Erleuchtung, die Verkündigung der Vollendeten, vollkommen Erleuchteten erlangt? - O Brahmane, wenn der Bodhisattva zu dieser Zeit weder im Entstehen wandelt, noch im Vergehen wandelt, wenn er weder im Guten noch im Bösen wandelt, wenn er weder im Irdischen noch im Überirdischen wandelt, wenn er weder im Befleckten noch im Unbefleckten wandelt, wenn er weder im Tadelnswerten noch im Tadellosen wandelt, wenn er weder im Verursachten noch im Nichtverursachten wandelt, wenn er weder in der Verbindung noch in der NichtVerbindung wandelt, wenn er weder in der Loslösung noch in der Nichtloslösung wandelt, wenn er weder in Geburt und Tod noch im Erlöschen wandelt, wenn er weder im Geschauten, noch im Gehörten, Gedachten und Erkannten wandelt, wenn er weder in der Freigebigkeit und Entsagung noch im sittlichen Verhalten und der Zucht wandelt, wenn er weder in der Geduld noch in der Tatkraft wandelt, wenn er weder in der Versenkung noch in der Sammlung wandelt, wenn er weder in der Einsicht noch im Verständnis wandelt, und wenn er weder im Wissen noch in der Vergegenwärtigung wandelt, wenn der Bodhisattva so ohne Wandel wandelt, dann erlangt er die wahrhafte Verkündigung der Vollendeten, vollkommen Erleuchteten über die höchste vollkommene Erleuchtung."
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Die Schulen des Mahäyäna
Ein solcher Wandel in der Einsicht heißt das Schweigen der Heiligen. Dementsprechend sagt ein Sütra: „Die wahrheitsgemäße Verkündigung der siebenunddreißig der Erleuchtung forderlichen Gegebenheiten, so wie sie der Buddha gelehrt hat, das nennt man das Predigen der Lehre. Wenn sich ferner (der Übende) auch diese Gegebenheiten mit dem Körper vergegenwärtigt, so betrachtet er doch die Gegebenheiten nicht als getrennt vom Körper, und er betrachtet den Körper nicht als getrennt von den Gegebenheiten. Er betrachtet sie vielmehr in der Weise, daß er sie weder als Zweiheit noch als Nichtzweiheit ansieht. Und während er sie so betrachtet, betrachtet er auch nicht, im Anschluß daran, das Wissen und Schauen durch sinnliche Wahrnehmung. Und weil er sie nicht betrachtet, nennt man dies das Schweigen der Heiligen." Aus diesen Schlußfolgerungen und heiligen Texten ergibt sich, wenn man sie genau prüft, daß es unmöglich ist, das eigene Wesen von allem Verursachten und Nichtverursachten zum eigenen Wesen der Objekte des Geistes oder der Einsicht zu machen, mögen diese von Vorstellungen begleitet oder von Vorstellungen frei sein. Wenn man dies erkannt hat, dann verscheucht der Sonnenschein der klaren Einsicht jegliches Dunkel der Verblendung. Mit den besprochenen Neuerungen war Bhävaviveka weit über alles Bisherige hinausgegangen und das führte zum Rückschlag. Er wurde von den YogäcäraLehrern heftiger angegriffen als irgendein anderer Vertreter seiner Schule. Und auch innerhalb der Schule selbst kam es zu einer Gegenströmung, deren Hauptvertreter Candraklrti war.
Candraklrti (7. Jahrhundert n. u. Z.) Candraklrti ist die bedeutendste Persönlichkeit der Madhyamaka-Schule im 7. Jahrhundert. Sein Hauptstreben war darauf gerichtet, Nägärjunas Lehre in ihrer Reinheit wiederherzustellen, frei von allen neueren Erweiterungen und Entstellungen. Er lehnte sich daher an Buddhapälita an, in dem er sein Vorbild sah, während er Bhävaviveka aufs heftigste bekämpfte. Diese grundsätzliche Einstellung bringt es allerdings auch mit sich, daß wir nicht erwarten dürfen, bei ihm etwas Bedeutendes, Neues und Eigenes zu finden. Und es ist bezeichnend, daß sich im Gegensatz zu den meisten großen Madhyamaka-Lehrern seine Tätigkeit fast ausschließlich auf die Abfassung von Kommentaren beschränkte. Aber er hat die Schule mit dem ganzen Rüstzeug seiner Zeit und mit großem Erfolg vertreten. Und da er zu den bekanntesten und meist genannten Vertretern der Schule zählt, kann er hier einen Platz beanspruchen. Von CandrakTrtis Kommentaren ist der wichtigste sein großer Kommentar zu Nägärjunas Madhyamakakärikä, Prasannapadä („Die Wortklare") genannt. Daneben ist vor allem ein selbständiges Werk zu nennen, der Madhyamakävatärah („Einführung in die Madhyamaka-Lehre"). Aus beiden soll je eine Probe ge-
Candrakirti
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bracht werden, die gleichzeitig Candrakirtis Einstellung zur Logik und sein Verhältnis zur Yogäcära-Schule beleuchten. Was zunächst seine Einstellung zu den Fragen der Logik betrifft, so sah er in der Aufstellung formeller Schlußfolgerungen durch Bhävaviveka eine Verirrung und einen Verstoß gegen den Grundsatz Nägäijunas, daß der Mädhyamika keine eigene Behauptung aufstellen dürfe. Seiner Meinung nach ist das richtige Verfahren das Buddhapälitas, der auf dem Weg der deductio ad absurdum wohl den Gegner widerlegt, dabei aber jede eigene Behauptung vermeidet. Er behandelt diese Frage ausführlich in seinem Kommentar zum ersten Vers der Madhyamakakärikä, in dem er Buddhapälita gegen die Angriffe Bhävavivekas verteidigt, und aus dieser breiten Erörterung ist die kurze Probe genommen, die ich als Beispiel folgen lasse. Der Text bietet keine Schwierigkeiten. Candrakirti gibt zuerst einige erläuternde Bemerkungen zum Vers Nägäijunas und verweist für die ausführliche Begründung der darin aufgestellten Behauptungen auf seinen Madhyamakävatärah. Dann führt er sofort die Erklärung Buddhapälitas an und verteidigt sie gegen die Angriffe Bhävavivekas. Diese Angriffe umfassen drei Punkte. Zunächst wirft Bhävaviveka Buddhapälita vor, daß er keinen Grund und kein Beispiel anführt, wie es eine regelrechte Schlußfolgerung erfordert. Candrakirti antwortet, daß die deductio ad absurdum vollkommen zur Widerlegung des Gegners ausreicht, eine regelrechte Schlußfolgerung also überflüssig ist. Außerdem habe ein Mädhyamika nach dem Zeugnis Äryadevas und Nägäijunas keine eigene Behauptung aufzustellen. Damit wird zugleich der zweite Vorwurf Bhävavivekas hinfallig, daß nämlich Buddhapälita die Einwände des Gegners nicht widerlegt. Da Buddhapälita keine eigene Behauptung aufstellt, kann auch der Gegner keine Einwände vorbringen, die widerlegt werden müßten. Der dritte Vorwurf Bhävavivekas lautet, daß aus einer deductio ad absurdum folgt, daß das Gegenteil der widerlegten Behauptung richtig ist. Candrakirti entgegnet, daß der Mädhyamika in solchen Fällen von den Voraussetzungen des Gegners ausgeht und nicht von eigenen Anschauungen, und daß daher auch die sich ergebenden Folgerungen nur den Gegner treffen und nicht ihn. Die Antworten zeigen deutlich die grundsätzliche Einstellung Candrakirtis. Die weiteren umfangreichen Erörterungen, die er daran knüpft, sind ohne allgemeineres Interesse und daher nicht wiedergegeben.
Aus der „Wortklaren" (Prasannapadä) Kapitel I Das Entstehen, welches die Gegner annehmen, könnte man sich vorstellen aus sich, man könnte es sich vorstellen aus anderem, aus beiden oder ohne Grund. Es ist aber auf keine Weise möglich. In diesem Sinne sagt (Nägäijuna):
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Die Schulen des Mahayana v. 1
Weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beiden, noch ohne Grund sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge entstanden. ... (Gegner): Wenn man feststellt, daß sie nicht aus sich entstehen, dann ergibt sich die unerwünschte Folgerung, daß sie aus anderem entstehen. (Antwort:) Sie ergibt sich nicht, da eine einfache Verneinung (prasajyapratisedhah) ausgesprochen werden soll, und da außerdem die Entstehung aus anderem noch widerlegt werden wird. Die Beweisführung, derzufolge ein Entstehen aus sich nicht möglich ist, ist in der „Einführung in die Madhyamaka-Lehre" (Madhyamakävatärah) usw. zu finden, wo es heißt (Kapitel VI, v. 8): Beim Entstehen desselben aus demselben ergibt sich kein Vorteil. Außerdem ist ein neuerliches Entstehen von etwas bereits Entstandenem widersinnig, usw. Der Meister Buddhapälita dagegen sagt (s. oben S. 145): Die Dinge entstehen nicht aus sich, weil ihr Entstehen zwecklos wäre, und weil sich der Fehler zu weitgehender Folgerungen ergeben würde. Es besteht nämlich kein Anlaß, daß Dinge, die ihrem eigenen Selbst nach bereits vorhanden sind, neuerlich entstehen. Wenn aber etwas bereits Vorhandenes trotzdem entstünde, dann würde es niemals nicht entstehen. Dagegen richten einige (= Bhävaviveka) folgende Einwände (s. oben S. 149). Das ist verfehlt, weil kein Grund und kein Beispiel angeführt wird, und weil die vom Gegner vorgebrachten Einwände nicht zurückgewiesen werden. Da es sich ferner um eine unerwünschte Folgerung (prasahgah) handelt, ergibt sich im Gegensatz zur vorliegenden Aussage eine Behauptung und Begründung entgegengesetzten Inhalts, nämlich: Die Dinge entstehen aus anderem, weil ihr Entstehen einen Zweck hat, und weil ihr Entstehen ein Ende nimmt. Und das würde einen Widerspruch zur eigenen Lehre bedeuten. Diese ganzen Einwände betrachten wir als unberechtigt. Wieso? Wenn ihr zunächst sagt: „Weil kein Grund und kein Beispiel angeführt wird", so ist das nicht am Platz. Warum? Weil wir den Gegner, der ein Entstehen aus sich annimmt, fragen, welchen Zweck es hat, wenn etwas bereits Vorhandenes wieder entsteht. Da nämlich „aus sich" als Ursache angegeben wird, heißt dies, daß dasselbe entsteht. Wir sehen nun keinen Zweck im neuerlichen Entstehen von etwas bereits Vorhandenem, sondern sehen vielmehr, (daß sich) eine endlose Reihe (anavasthä) (ergibt). Das neuerliche Entstehen von etwas bereits Entstandenem erscheint aber auch dir nicht erwünscht, und ebenso ist eine endlose Reihe unerwünscht. Daher ist deine Behauptung unmöglich und widerspricht deinen eigenen Annahmen. Stimmt nun etwa der Gegner, wenn man es ihm vorhält, nicht zu, so daß es noch einen Sinn hat, einen Grund und ein Beispiel anzuführen? Wenn sich aber der Gegner nicht geschlagen gibt, selbst wenn man ihm vorhält, daß er mit seinen eigenen Annahmen in Widerspruch gerät, dann wird er sich in seiner Unverschämtheit auch auf Grund und Beispiel hin nicht geschlagen geben. Mit einem Verrückten aber streiten wir nicht.
Candrakirti
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Der Herr Meister zeigt also nur seine Vorliebe für Schlußfolgerungen, wenn er auch dort, wo es nicht am Platz ist, eine Schlußfolgerung anbringt. Für einen Mädhyamika paßt es sich aber nicht, selbst eine selbständige Schlußfolgerung aufzustellen, da er keinerlei Behauptung anerkennt. Dementsprechend sagt auch Äryadeva (Catuhsatakam Kapitel XVI, v. 25): Wer keinerlei Behauptung vertritt, sei es Sein, Nichtsein, oder Sein und Nichtsein zugleich, den zu widerlegen ist auch in nochsolanger Zeit nicht möglich. Auch in der „Streitabwehrerin" (Vigrahavyävartani) heißt es (s. oben S. 131f.): v. 29 Wenn ich irgendeine Behauptung vertreten würde, dann würde sich daraus dieser Fehler für mich ergeben. Ich vertrete aber keine Behauptung. Daher trifft mich auch kein Fehler. v. 30 Wenn ich irgend etwas erfassen würde, dann würde ich auf Grund der durch sinnliche Wahrnehmung usw. festgestellten Gegenstände Behauptungen aufstellen und widerlegen. Da dies nicht der Fall ist, trifft mich kein Vorwurf. Wenn aber der Mädhyamika keine selbständige Schlußfolgerung aufstellt, was hat er dann mit der selbständigen Behauptung zu tun: „Die inneren Bereiche entstehen nicht aus sich", gegen welche die Sämkhya ihre Einwände vorbringen, indem sie sagen (s. oben S. 149): „Was ist der Sinn dieser Behauptung? Heißt es, (die Dinge entstehen nicht) aus sich, sofern sie das Wesen der Wirkung haben, oder sofern sie das Wesen der Ursache haben? Was folgt daraus? Wenn es heißt, sofern sie das Wesen der Wirkung haben, so wird nur etwas bereits Bewiesenes bewiesen. Wenn es dagegen heißt, sofern sie das Wesen der Ursache haben, so ist das inhaltlich ein Widerspruch, denn alles Entstehende entsteht, nachdem es in der Form der Ursache bereits vorhanden war." Was haben wir mit dem Grund zu tun?: „Weil sie bereits vorhanden sind", der nur bereits Bewiesenes beweist, oder inhaltlich einen Widerspruch enthält, so daß wir dann die Mühe haben, dieses Beweisen vom Bewiesenen oder den inhaltlichen Widerspruch zu entkräften. Weil sich also für den Meister Buddhapälita keine vom Gegner vorgebrachten Einwände ergeben, braucht er sie auch nicht zu entkräften. Die der unerwünschten Folgerung entgegengesetzte Ansicht geht ausschließlich den Gegner an, aber nicht uns, da wir keine eigene Behauptung aufstellen. Und daher ergibt sich auch kein Widerspruch zu unserer eigenen Lehre. Wenn dagegen den Gegner die verschiedensten Vorwürfe treffen, weil das Gegenteil der unerwünschten Folgerung zutrifft, so kann uns das nur recht sein. Wieso sollte auch der Meister Buddhapälita, welcher der irrtumslosen Lehre des Meisters Nägäijuna folgt, anfechtbare Aussagen machen, so daß der Gegner Gelegenheit
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Die Schulen des Mahayana
zu einem Angriff findet? Und wieso sollte sich für den Vertreter der Lehre von der Wesenlosigkeit (der Dinge), wenn er dem Anhänger der Lehre vom eigenen Wesen (der Dinge) eine unerwünschte Folgerung vorhält, die der unerwünschten Folgerung entgegengesetzte Ansicht als Folgerung ergeben? Denn schließlich sind die Worte keine Häscher, welche den Sprecher der Freiheit berauben. Sie richten sich vielmehr, sofern ihnen die betreffende Ausdrucksfähigkeit zukommt, nach dem, was der Sprecher ausdrücken will. Weil also das Vorbringen der unerwünschten Folgerung ausschließlich den Zweck hat, die Behauptung des Gegners zu widerlegen, ergibt sich aus ihr keineswegs mit Notwendigkeit die dieser Folgerung entgegengesetzte Ansicht. Was Candrakïrtis Verhältnis zur Yogäcära-Schule betrifft, so steht er seiner grundsätzlichen Einstellung entsprechendjeder Übernahme von Yogäcära-Gedanken grundsätzlich ablehnend gegenüber. Er geht also darin über Bhävaviveka hinaus. In der Hauptfrage allerdings, ob das Erkennen als wirklich zu betrachten ist, oder ob es der unwirklichen Erscheinungswelt angehört, stimmt er mit ihm überein. Und da diese Frage im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Yogäcära-Schule steht, findet er keinen Anlaß, gegen Bhävaviveka Stellung zu nehmen. Und tatsächlich fehlt auch in den Abschnitten, die sich mit der Yogäcära-Lehre auseinandersetzen, die Polemik gegen Bhävaviveka. Der Abschnitt, den ich im folgenden wiedergebe, stammt aus Candrakïrtis großem selbständigen Werk, der „Einführung in die Madhyamaka-Lehre" (Madhyamakävatärah). Dieses Werk behandelt die Laufbahn eines Bodhisattva im Anschluß an die alte Lehre von den zehn Stufen (bhümayah), die ein Bodhisattva zu durchlaufen hat. Philosophisch am wichtigsten ist das 6. Kapitel, das die sechste dieser Stufen behandelt, auf der der Bodhisattva die Vollkommenheit der Einsicht gewinnt, und das seiner Wichtigkeit entsprechend auch weit mehr als die Hälfte des ganzen Werkes ausmacht. Es zerfällt in drei Teile. Der erste enthält den Nachweis der Unwirklichkeit der Außenwelt. Der zweite bekämpft den falschen Glauben an ein Ich. Der dritte schließlich bespricht die sechzehn Arten der Leerheit, welche schon in den Prajftäpäramitä-Texten aufgezählt sind und auch sonst oft behandelt werden. Der Nachweis der Unwirklichkeit der Außenwelt zeigt die gleiche Entwicklung, wie wir sie in Bhävavivekas „Juwel in der Hand" beobachten konnten. Die verwirrende Fülle vielfach bedenklicher Schlußfolgerungen, wie sie Nägäijuna vorgebracht hatte, ist aufgegeben, und an ihre Stelle ist eine einzige, aber gründlich durchgearbeitete Beweisführung getreten. Und zwar ist es bei CandrakTrti der Beweis, der auch bei Nägäijuna an der Spitze seines Hauptwerkes steht, daß nämlich jegliches Entstehen in Wirklichkeit unmöglich ist. In diese Beweisführung sind auch verschiedene Exkurse eingeflochten, darunter eine breite Widerlegung der Yogäcära-Lehre. Und aus ihr ist die folgende kurze Probe genommen. Vorausgeschickt ist nach allgemeinem Brauch eine kurze Wiedergabe der gegnerischen Lehrsätze, welche widerlegt werden sollen. Von diesem Teil habe ich nur die Verse übersetzt, ohne die Erklärung Candrakïrtis, da sie auf Grund der späteren Darstellung der Yogäcära-Lehre ohne weiteres verständ-
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lieh sind. Dann beginnt Candrakïrtis Polemik. Die Yogäcära konnten, um die Unwirklichkeit der Außenwelt zu beweisen, die Beweisführung Nägätjunas nicht verwenden, denn diese dient dem Nachweis, daß die gesamte Erscheinungswelt unwirklich ist, während die Yogäcära-Schule nur die Unwirklichkeit der Außenwelt behauptet, die Erkenntnisvorgänge aber als wirklich gelten läßt. Sie mußten also andere Wege einschlagen. Dabei bedienten sie sich vor allem verschiedener Beispiele, welche zeigen sollten, daß ein Erkennen auch ohne wirklich vorhandene äußere Objekte möglich ist, und unter diesen Beispielen war wieder das beliebteste der Traum. Sie sagten: Ebenso wie das Erkennen im Traum die verschiedensten Gegenstände zeigt, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind, so sind auch die Gegenstände, die wir im Wachen zu sehen glauben, nicht wirklich. Hier setzt nun die Polemik Candrakïrtis ein, und zwar sucht er, der erwähnten Grundanschauung der Mädhyamika entsprechend, zu zeigen, daß nicht nur die Außenwelt, sondern die gesamte Erscheinungswelt unwirklich ist. Er sagt daher: Euer Beispiel beweist nichts, weil im Traum nicht nur die gesehenen Gegenstände, sondern auch das Erkennen unwirklich ist. Der Yogäcära entgegnet: Das Erkennen im Traum ist wirklich, weil wir uns daran erinnern. Candrakirti antwortet: Wir erinnern uns auch an die im Traum gesehenen Gegenstände. Nun formuliert der Yogäcära seine Lehre genauer: Es handelt sich im Traum um keine Wahrnehmung, sondern um ein Denkerkennen (manovijnänam), wobei wir das Erscheinungsbild dieses Erkennens irrtümlich nach außen verlegen und das gleiche gilt für die Erkenntnis während des Wachens. Demgegenüber hält Candrakirti daran fest, daß auch in diesem Fall das Erkennen ebenso unwirklich ist wie sein Gegenstand. Das fuhrt er folgendermaßen weiter aus: Nach der Lehre des Buddha, wie sie für alle buddhistischen Schulen gilt, entsteht eine Wahrnehmung nicht dadurch, daß jemand sieht, sondern indem die wahrgenommene Form und das Auge zusammen ein Augenerkennen hervorrufen. Wenn nun Form und Auge nicht wirklich sind, kann natürlich auch das Erkennen nicht wirklich sein. Das gilt für alle sechs Arten des Erkennens, auch für das Denkerkennen. Und daran ändert sich auch nichts, wenn man darauf hinweist, daß die Form nur als Bestandteil des Bereichs der Gegebenheiten (dharmäyatanam) Objekt des Denkerkennens ist. Denn wenn man daraus folgern wollte, daß daher ebenso wie Form und Denken auch das Denkerkennen des Traumes wirklich ist, dann verliert das ganze Beispiel seinen Sinn. Denn dann läßt sich daraus nicht mehr die Unwirklichkeit der Objekte des Wachbewußtseins beweisen, da ja sein eigenes Objekt als wirklich vorausgesetzt ist. Nun fuhrt Candrakirti noch einige Belege aus der heiligen Schrift an, dann schließt er, indem er das Beispiel des Gegners im eigenen Sinn deutet und verwendet: Ebenso wie im Traum alle drei Faktoren, auf denen die Erkenntnisvorgänge beruhen, als wirklich erscheinen, während man sie nach dem Erwachen als unwirklich erkennt, ebenso erscheinen die gleichen Faktoren bei der Erkenntnis während des Wachens zunächst als wirklich. Wer aber aus dem Traum des Nichtwissens erwacht, erkennt, daß auch sie unwirklich sind. Damit ist dieser Gedankengang zu Ende und Candrakirti geht auf die nächsten Argumente seines Gegners über, die nun in langer Reihe folgen, auf deren Wiedergabe wir aber verzichten müssen.
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Die Schulen des Mahâyâna
Aus der „Einführung in die Madhyamaka-Lehre" (Madhyamakävatärah) Kapitel VI v. 45 Der in der Einsicht verweilende Bodhisattva, der zur Erkenntnis gekommen ist, daß die Wirklichkeit nur Erkennen ist, versteht, da er ohne Ergriffenes keinen Ergreifer sieht, daß das dreifache Sein (= die Dreiwelt) nur Erkennen ist. v. 46 So wie die Wellen aus dem großen Meer unter dem Antrieb des Windes entstehen, so entsteht aus dem sogenannten Grunderkennen, das alle Samen enthält, durch seine eigene Kraft (saktih) das bloße Erkennen. V. 47 Daher besteht das abhängige Wesen (paratantrarüpam), welches die Grundlage aller nur der Benennung nach vorhandenen Dinge bildet. Es entsteht ohne ein äußeres Ergriffenes, es ist, und es liegt seinem Wesen nach außerhalb des Bereichs aller Vielfalt (prapañcah). Dazu ist zu sagen: v. 48 Der Geist besteht ohne etwas Äußeres - wie wo? Das ist genau zu untersuchen. (Der Gegner) sagt: Wie im Traum. Wenn man in einer kleinen Kammer schläft, träumt man, vom Schlaf getäuscht, innerhalb des Hauses von einer Herde wütender Elefanten. Sie sind aber in keiner Weise vorhanden. Da also kein äußeres Objekt vorhanden ist, muß man notgedrungen diese Erkenntnis annehmen. Um zu zeigen, daß auch das nicht stichhaltig ist, sagt der (Verfasser): Das ist zu überlegen. Wieso? (Darauf) sagt er: Da nach unserer Ansicht auch der Geist im Traum nicht besteht, so besteht dein Beispiel nicht zu Recht. Nach unserer Ansicht besteht das Erkennen, welches die Form der wütenden Elefantenherde trägt, ebensowenig wie das Objekt, weil es nicht entstanden ist. Wenn dieses Erkennen aber nicht besteht, dann liegt kein von beiden Parteien
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anerkanntes Beispiel vor, und es trifft daher nicht zu, daß das Erkennen ohne ein äußeres (Objekt) besteht. Nun könnte man denken, wenn es im Traum kein irriges Erkennen gäbe, dann könnte man sich nach dem Erwachen nicht an das im Traum Wahrgenommene erinnern. Aber auch das ist nicht richtig, denn: v. 49 Wenn das Denken besteht, weil man sich im Wachen an den Traum erinnert, so steht es mit dem äußeren Objekt genauso. Wieso? Ebenso wie du dich erinnerst: „Ich habe gesehen", ebenso besteht auch die Erinnerung an das äußere Objekt. Wie das Denken wegen der Erinnerung an die Wahrnehmung im Traum besteht, ebenso muß notgedrungen wegen des Vorhandenseins der Erinnerung an die Wahrnehmung des Objektes auch das Objekt bestehen, oder das Erkennen besteht ebenso wenig. (Gegner): Wenn im Traum die Form (rüpam) der Elefanten usw. vorhanden wäre, so müßte, um sie zu erfassen, auch ein Augenerkennen vorhanden sein. Das ist aber nicht der Fall, weil in der Verwirrung des Schlafes die Gruppe der fünf (Sinnes-) Erkenntnisse nicht zustande kommen kann. Nämlich v. 50 wenn du meinst: Weil im Schlaf kein Augenerkennen möglich ist, ist kein (Objekt) vorhanden. Es besteht aber das Denkerkennen. Und wie dessen Erscheinungsform im Traum als außen aufgefaßt wird, so ist es auch hier (im Wachen) der Fall. Im Traum ist ein Augenerkennen in keiner Weise vorhanden, und weil es nicht besteht, ist auch die Form der Elefanten usw., welche als Augenbereich (äyatanam) erfaßt werden könnte, nicht vorhanden. Das Denkerkennen ist aber da. Wenn daher auch eine äußere Form (rüpam) nicht vorhanden ist, so ist doch nichts dagegen einzuwenden, daß die Erscheinungsform des Erkennens als außen aufgefaßt wird. Wie daher im Traum bloß das Erkennen entsteht, ohne daß irgend etwas Äußeres vorhanden wäre, so ist es auch hier der Fall. (Antwort): So ist es nicht, weil im Traum ein Denkerkennen nicht entstehen kann. Denn v. 51 wie für dich im Traum kein äußeres Objekt entsteht, so entsteht auch kein Denken. Daher sind alle drei, das Auge, das Objekt des Auges und das daraus entstandene Erkennen unwahr. Wie bei der Wahrnehmung einer Form Auge, Form und Denken, diese drei, vereint auftreten, so werden diese drei auch beim Erfassen eines Objektes im Traum
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vereint wahrgenommen. Und wie hier Auge und Form nicht vorhanden sind, so ist auch das Augenerkennen nicht vorhanden. Und wie diese drei, so v. 52 entstehen auch die andern Dreier-Gruppen, das Gehör usw. nicht. Mit den Worten „Das Gehör usw." ist der Ton, das Gehörerkennen usw. bis zum Denken, dem Bereich der Gegebenheiten und dem Denkerkennen mit einbezogen. Im Traum sind also alle diese Dreiergruppen unwahr. Daher ist es auch unmöglich, daß im Traum das Denkerkennen besteht. (Gegner:) Vom Denkerkennen wird die dem Bereich der Gegebenheiten angehörige Form erkannt, und diese ist im Traum vorhanden. Daher trifft es in keiner Weise zu, daß das Erkennen ohne Objekt ist. (Antwort:) Auch das ist nicht richtig, denn im Schlaf bestehen die drei auf jeden Fall nicht. Wenn wir es jedoch gelten lassen wollen, nur um die Lehre des Gegners zu widerlegen, so verliert das Beispiel vom Traum seinen Sinn. Denn mit einem Beispiel, dessen Gegenstand nicht unwahr ist, läßt sich ein wirklicher Gegenstand nicht als unwahr erweisen. Weil also im Traum jene drei durchwegs unwahr sind, so ergibt sich daraus, da durch Erwiesenes das Nichterwiesene bewiesen wird, daß auch im Zustand des Wachens alle Gegebenheiten wesenlos sind. Daher sagt (der Verfasser): Wie im Traum so sind auch hier im Wachen die Dinge unwahr und der Geist besteht nicht und auch die Sinnesorgane sind, da sie kein Objekt haben, nicht vorhanden. Wie im Traum Objekt, Sinnesorgane und Erkennen unwahr sind, ebenso sind sie es auch im Wachen. So ist dies aufzufassen. Daher heißt es auch mit Recht: Wie durch Zaubertrug geschaffene Lebewesen wahrgenommen zu werden scheinen, in Wahrheit aber nicht wirklich sind, so sind, wie der Vollendete gelehrt hat, die Gegebenheiten beschaffen, gleich einem Zaubertrug und gleich einem Traum. Ferner: Der ganze Verlauf des Daseins gleicht einem Traum. Niemand wird geboren und niemand stirbt. Kein Wesen, keine Seele und kein Mensch ist zu erfassen. Alle diese Gegebenheiten gleichen Schaum oder einem (hohlen) Bambusrohr. Und dergleichen mehr. Wir haben also gesagt, daß hinsichtlich der Erkenntnis im Wachen die gesamte Dreiheit nicht entstanden ist. Im Traum nun, hinsichtlich der Erkenntnis dessen, der den Traum träumt, v. 53 ist ebenso wie hier im Wachen, solange er nicht erwacht, die Dreiheit vorhanden.
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Wie für jemanden, der als wach gilt, obwohl er in den Schlaf des Nichtwissens versunken ist, weil er von dem davon verschiedenen Schlaf frei ist, diese Dreiheit, wiewohl sie dem eigenen Wesen nach nicht entstanden ist, besteht, da er sie wahrnimmt, weil er infolge des Schlafes des Nichtwissens einen Traum träumt, so ist für diejenigen, welche vom Schlaf nicht frei sind, und sich aus dem Zustand des Traumes nicht erhoben haben, die entsprechende Dreiheit vorhanden. Ebenso wie diese Dreiheit nach dem Erwachen nicht vorhanden ist, ebenso verhält es sich, wenn man aus dem Schlaf der Verblendung erwacht. Wie für den aus dem Schlaf Erwachten die gesehene Dreiheit nicht vorhanden ist, ebenso ist für diejenigen, welche den Schlaf des Nichtwissens vollkommen abgeschüttelt haben und sich das Element der Gegebenheiten (dharmadhätuh) in unmittelbarer Anschauung vergegenwärtigt haben, die Dreiheit nicht vorhanden. Daher ist es nicht richtig, daß das Erkennen (allein) ohne äußere (Objekte) besteht. Damit schließen wir unseren Überblick über die Entwicklung der Madhyamaka-Schule. Von ihren bekannteren Vertretern aus späterer Zeit ist áantideva (um 700 n. u. Z.) mehr als Dichter bedeutend als als Philosoph. Besondere Erwähnung verdient der große Apostel Tibets Säntiraksita (Mitte des 8. Jahrhunderts) mit seinem Schüler KamalasTla, der in der Art Bhävavivekas eine Verbindung der Madhyamaka- mit der Yogäcära-Lehre versuchte. Nach ihm hat die Schule keine bedeutenden Persönlichkeiten mehr hervorgebracht und ist auf indischem Boden allmählich erloschen. Doch ist noch zu erwähnen, daß die tantrischen Schulen des Buddhismus mit ihren mystischen Kulten und Zauberriten weitgehend auf den Gedanken der Madhyamaka-Schule aufbauen.
2. Die Schule Saramatis Bevor wir zur Betrachtung der 2. großen Mahäyäna-Schule, der Schule der Yogäcära übergehen, müssen wir wenigstens kurz noch eine kleinere Schule erwähnen, die ich nach ihrem wichtigsten Vertreter die Schule Saramatis nenne. Sie verdient diese Erwähnung, nicht nur weil sie selbst beachtenswert ist und die Mannigfaltigkeit der Strömungen im Mahäyäna zeigt, sondern vor allem auch, weil sie auf den eigentlichen Begründer der Yogäcära-Schule, Maitreyanätha stark eingewirkt hat. Von den Werken dieser Schule ist in Europa das Mahäyänasraddhotpädasästram („Das Lehrbuch über die Entstehung des Mahäyäna-Glaubens") am bekanntesten, das einem Asvaghosa zugeschrieben wird. Aber historisch ist Säramati bedeutender. Er hat noch lange nachgewirkt, während das Mahäyänasraddhotpädasästram, wenigstens in Indien, bald verschollen war. Ja, es ist nicht ausgeschlossen, daß dieses Werk überhaupt in China entstanden ist. Daher soll hier nur Säramati kurz Berücksichtigung finden.
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Saramati ( u m 250 n. u. Z.) Säramati stammte, der Überlieferung nach, aus dem zentralen Indien und lebte nicht lange nach Nägäquna. Wir besitzen von ihm zwei Werke. Das wichtigere ist der Ratnagotravibhägah („Erläuterung des Keimes der (drei) Juwelen"), meist Uttaratantram („Die vorzüglichere Lehre") genannt. Der Titel des zweiten, das nur in chinesischer Übersetzung erhalten ist, wird gewöhnlich als Dharmadhätvavisesatäsästram („Lehrbuch über die NichtVerschiedenheit des Elementes der Gegebenheiten") wiedergegeben. Die Lehre, die in diesen Werken niedergelegt ist, steht in schroffem Gegensatz zur Prajfiäpäramitä und zu Nägäijuna. Während dort die Unwirklichkeit der Außenwelt im Mittelpunkt des Interesses steht und die Unfaßbarkeit des höchsten Seins aufs schärfste betont wird, so daß es schließlich ganz in den Hintergrund tritt und sich fast zu einem Nichts verflüchtigt, beschäftigt sich Säramati in erster Linie mit dem höchsten Sein, das bei ihm ausgesprochen positiven Charakter hat und starke Ähnlichkeit mit der Weltseele des Vedänta zeigt. Dieses höchste Sein ist fleckenloser (amalam) oder leuchtender Geist (prabhäsvaramcittam). Auch als Soheit (tathatä) wird es bezeichnet. Meist aber heißt es Element (dhätuh) oder genauer wahrhaftes Element (paramärthadhätuh), Element der Gegebenheiten (dharmadhätuh) und Element der Buddhas (buddhadhätuh). Es ist keineswegs unfaßbar, sondern durch deutlich ausgeprägte Eigenschaften gekennzeichnet, und zwar sowohl durch Mängel ([maläh) als auch durch Vorzüge (gunäh). Vor allem die vier Vollkommenheiten, Reinheit, Selbst, Wonne und Ewigkeit werden ihm beigelegt. Aber während die Mängel äußerlich (ägantukah) sind und sein Wesen nicht berühren, sind die Vorzüge untrennbar mit seinem Wesen verbunden, wie die Strahlen mit der Sonne. Das höchste Sein ist die Grundlage der gesamten Erscheinungswelt. Durch falsche Auffassung (ayonisomanaskärah) entstehen Werke und Laster (karmaklesäh) und durch diese die Gruppen (skandhäh), Bereiche (äyatanäni) und Elemente (dhätavah), aus denen sich die Erscheinungswelt aufbaut. Da das höchste Sein allgegenwärtig ist, wohnt es auch allen Lebewesen inne, alle besitzen daher den Keim (gotram) des Buddhatums. Nur ist es bei den gewöhnlichen Menschen unrein, bei den Heiligen teils rein, teils unrein und nur bei den Buddha vollkommen rein. In seiner vollkommen reinen Form ist es somit das Buddhatum (buddhatvam), die heilige Wahrheit (äryasatyam) und das Erlöschen (nirvänam). Das wahre Wesen des Buddha ist also das höchste Sein. Dieses ist sein Körper der Lehre (dharmakäyah), der allein wahrhaft (paramärthakäyah) ist. Sein irdischer Körper (rüpakäyah), der in doppelter Form erscheint, ist dagegen nur scheinbar (samvrtikäyah) und verhält sich zum Körper der Lehre wie zum Mond sein Spiegelbild im Wasser. Die Körper des Buddha besitzen die verschiedenen Eigenschaften und Vorzüge, welche ihnen die Dogmatik zuschreibt. Durch sie
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bewirkt er die Erlösung der Wesen, aber ohne Streben (äbhogah) und ohne daß das höchste Sein, welches seinen Körper der Lehre ausmacht, sich bewegt oder irgendeine Veränderung erleidet. Alles das wird breit ausgeführt, doch muß hier diese kurze Andeutung genügen. Die folgenden Übersetzungsproben sind aus verschiedenen Teilen des Ratnagotravibhägah genommen und sollen die oben skizzierten Lehren illustrieren. Eine zusammenhängende Übersetzung längerer Abschnitte ist wegen der gekünstelten und unübersichtlichen Gliederung des Textes nicht angezeigt. Im einzelnen sind wenig Erläuterungen notwendig. Die erste Versreihe (I, v. 49-63) behandelt das Entstehen der Erscheinungswelt aus dem höchsten Sein. Zum Vergleich dient die Weltschöpfung, bei der nach buddhistischer Lehre im Raum zuerst der Wind, dann das Wasser und schließlich die Erde entsteht. Die zweite Versreihe (I, v. 40-47) handelt vom höchsten Sein als dem Keim des Buddhatums, der allen Lebewesen innewohnt, und zwar bei den Weltmenschen in unreiner, bei den Heiligen in teilweise reiner und bei den Buddha in vollkommen reiner Form. Das höchste Sein stellt dabei in seiner reinen Form sowohl das Buddhatum als auch die Erlösung dar, die daher beide wesensgleich sind (I, v. 84 und 87). Die nächste Versreihe (II, v. 3-7) schildert das Buddhatum als höchstes Sein. Die hier erwähnten beiden Hemmnisse, das der Laster und das des zu Wissenden, und die beiden Formen des erlösenden Wissens kehren in der Lehre der Yogäcära-Schule wieder und finden dort (S. 174 und 195f. usw.) ihre Erklärung. Es folgt eine Schilderung der beiden Körper des Buddha (III, v. 1-4). Der Körper der Lehre wird durch die Befreiung des den Wesen innewohnenden höchsten Seins von allen äußerlichen Befleckungen erlangt. Ihm schreibt die Dogmatik als Eigenschaften zehn Kräfte, vier Furchtlosigkeiten und achtzehn nur den Buddha eigentümliche Eigenschaften zu. Der irdische Körper entsteht im Wesenskreislauf durch die Reifung der Werke. Er besitzt die zweiunddreißig Merkmale, welche nach indischer Mythologie die großen Männer auszeichnen. Die letzte Versreihe endlich (IV, v. 53-64) handelt vom Wirken des Buddha, dessen Eigenart durch den Vergleich mit dem Wirken des Gottes Brahman und der Sonne erläutert wird.
Aus der „Erläuterung des Keimes der (drei) Juwelen" (.Ratnagotravibhägah) Kapitel I 49 Wie der seinem Wesen nach von Vorstellungen freie Raum sich überallhin erstreckt, so erstreckt sich das aus der natürlichen Fleckenlosigkeit des Geistes bestehende Element überallhin.
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Da es mit Mängeln in äußerlicher Weise verbunden ist und mit Vorzügen von Natur aus verbunden ist, kommt ihm nach wie vor die Beschaffenheit der Unveränderlichkeit zu. 52 Wie der allgegenwärtige Raum wegen seiner Feinheit nicht beschmutzt wird, so wird dieses überall in den Wesen vorhandene (Element) nicht beschmutzt. 53 Wie die Welten überall im Raum entstehen und vergehen, so vergehen und entstehen die Sinnesorgane im nichtverursachten Element. 54 Wie der Raum noch niemals von Feuern verbrannt wurde, so verbrennen die Feuer des Todes, der Krankheit und des Alters dieses nicht. 55 Die Erde beruht auf dem Wasser, das Wasser auf dem Wind, der Wind auf dem Raum. Der Raum dagegen beruht nicht auf den Elementen des Windes, des Wassers und der Erde. 56 Ebenso beruhen Gruppen, Elemente und Sinnesorgane auf Werken und Lastern. Werke und Laster beruhen stets auf der falschen Auffassung. 57 Die falsche Auffassung beruht auf der Reinheit des Geistes. Die Natur des Geistes dagegen beruht nicht auf allen Gegebenheiten. 58 Gruppen, Bereiche und Elemente sind gleich dem Element der Erde anzusehen. Werke und Laster der Verkörperten sind gleich dem Element des Wassers anzusehen. 59 Die falsche Auffassung ist gleich dem Element des Windes anzusehen; die Natur (des Geistes), welche ohne Wurzel und ohne Grundlage ist, gleicht dem Element des Raumes.
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60 Die falsche Auffassung haftet an der Natur des Geistes. Laster und Werke entspringen aus der falschen Auffassung.
61 Aus dem Wasser der Werke und Laster gehen die Gruppen, Bereiche und Elemente hervor. Sie entstehen und vergehen, so wie dieses geschaffen und vernichtet wird.
62 Die Natur des Geistes kennt, ebenso wie das Element des Raumes, keinen Grund, keine Ursache und keine Gesamtheit (von Gründen und Ursachen), kein Entstehen, kein Vergehen und kein Beharren.
63 Diese leuchtende Natur des Geistes erleidet wie der Himmelsraum niemals eine Veränderung. Durch den äußerlichen Schmutz der Begierde usw., der durch unrichtige Vorstellungen entsteht, erfahrt sie jedoch eine Besudelung.
40 Wenn es das Element der Buddha nicht gäbe, dann gäbe es auch keinen Überdruß am Leiden und es gäbe kein Wünschen, Begehren und Streben nach dem Erlöschen.
41 Wenn der Keim (gotram) vorhanden ist, schaut man die Mängel und das Leid des Daseins, sowie die Vorzüge und die Wonne des Erlöschens. Bei (Wesen), denen der Keim fehlt, ist dies nicht der Fall.
45 Da die Soheit bei Weltmenschen, Heiligen und Erleuchteten nicht verschieden ist, haben die Erschauer der Wahrheit verkündet, daß dieser Keim der Buddha (jinagarbhah) in (allen) Lebewesen vorhanden ist.
46 Die Weltmenschen sind im Irrtum befangen. Mit denen, welche die Wahrheit geschaut haben (den Heiligen), verhält es sich umgekehrt. Wahrhaft frei vom Irrtum und frei von der Vielfalt sind die Vollendeten.
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Als unrein, unrein und rein und als vollkommen rein wird der Reihe nach das Element der Wesen bezeichnet, der Bodhisattva und der Vollendete.
84 Da dies der Körper der Lehre, der Vollendete, die heilige Wahrheit und das wahrhafte Erlöschen ist, gibt es kein Erlöschen außer dem Buddhatum, weil die Eigenschaften von ihm untrennbar sind, wie die Strahlen von der Sonne.
87 Die Erleuchtung in allen Formen und die Beseitigung der Flecken samt der Durchtränkung, das Buddhatum und das Erlöschen, ist daher in Wahrheit ein und dasselbe.
Kapitel II 3 Das Buddhatum, das, wie gelehrt wird, von Natur aus leuchtend ist, das, gleich der Sonne und dem Räume, von den äußerlichen Hemmnissen der Laster und des zu Wissenden wie von der Hülle eines dichten Wolkenschleiers bedeckt ist, das mit allen fleckenlosen Eigenschaften eines Buddha versehen, ewig, beständig und unvergänglich ist, wird auf Grund des Wissens erlangt, das in der vorstellungsfreien Unterscheidung der Gegebenheiten besteht. 4 Das Buddhatum ist bedingt durch untrennbare helle Eigenschaften und ist, gleich der Sonne und dem Raum, durch doppeltes Wissen und Loslösung gekennzeichnet. 5 Es ist mit allen leuchtenden Eigenschaften eines Buddha versehen, welche (an Zahl) den Sand am Ufer des Ganges übertreffen, ungeschaffen sind und untrennbar an ihm haften.
6 Die Hemmnisse der Laster und des zu Wissenden werden daher, weil sie von Natur aus unwirklich, alldurchdringend und äußerlich sind, den Wolken gleich bezeichnet.
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7 Als Ursache der Beseitigung der beiden Hemmnisse wird das zweifache Wissen angenommen, das vorstellungsfreie und das anschließend daran erlangte Wissen.
Kapitel III 1 Zum eigenen Nutzen und zum Nutzen anderer dient der wahrhafte Körper und der darauf beruhende scheinbare Körper. Diese Frucht gliedert sich in vierundsechzig Eigenschaften, je nachdem sie auf Loslösung oder auf Reifung (der Werke) beruht.
2 Der wahrhafte Körper des Weisen (= des Buddha) ist die Grundlage des eigenen Glückes. Die Grundlage des Glücks der andern ist der Körper der irdischen Wahrheit (sämketikah). 3 Der erste Körper ist mit den auf Loslösung beruhenden Eigenschaften verbunden, den Kräften usw., der zweite mit den auf Reifung beruhenden Merkmalen des großen Mannes. 4 Durch den Besitz der Kräfte gleicht der Weise den Hindernissen des Nichtwissens gegenüber einem Donnerkeil. Durch den Besitz der Furchtlosigkeiten gleicht er in den Versammlungen einem Löwen. Durch die dem Vollendeten eigentümlichen Eigenschaften gleicht er dem Luftraum, durch sein zweifaches Erscheinen dem Mond im Wasser.
Kapitel IV 53 Wie Brahman, ohne die Brahma-Stätte zu verlassen, ohne Bemühung in allen Götterwelten seine Erscheinung zeigt, 54 so wird der Weise (= der Buddha), ohne den Körper der Lehre zu verlassen, durch seine geschaffenen (Gestalten) ohne Streben in allen Sphären den Belehrbaren sichtbar.
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So wie Brahman seinen Palast nicht verläßt, die Götter ihn aber doch beständig in der Sphäre der Begierden schauen, und sein Anblick ihnen die Lust an den Sinnesobjekten nimmt, ebenso verläßt der Vollendete den Körper der trefflichen Lehre nicht, und doch sehen ihn beständig die Belehrbaren in allen Welten und sein Anblick beseitigt alle ihre Flecken.
59 Wie die Sonne frei von Vorstellungen durch ihre gleichzeitig entsendeten Strahlen die Lotose weckt und andere zur Reife bringt,
60 so wirkt die Sonne des Vollendeten frei von Vorstellungen durch die Strahlen der trefflichen Lehre auf die Lotose der Belehrbaren.
63 Indem sich die Sonne des Buddha beständig über das ganze Himmelsgewölbe des Elementes der Gegebenheiten ausbreitet, fallen ihre (Strahlen) auf die Berge der Belehrbaren, so wie sie es verdienen. 64 So wie hier die Sonne, wenn sie aufgeht, mit ihren ausgebreiteten tausend Strahlen ringsum die Welt erleuchtet und der Reihe nach die höchsten, mittleren und niedrigsten Berge bescheint, so bescheint die Sonne des Buddha der Reihe nach die Scharen der Wesen.
3. Die Schule der Yogäcära Wir wenden uns nunmehr der bedeutendsten Mahäyäna-Schule zu, der Schule der Yogäcära. Sie führt ihren Namen daher, daß in den Kreisen, aus denen sie hervorging, die Übung des Yoga eine besondere Rolle spielte. Dabei ist unter Yoga hier in allgemeinem Sinn das gesamte Streben, die Übung und Betätigung aller der Tugenden zu verstehen, welche von einem zukünftigen Buddha, einem Bodhisattva, verlangt werden. Die Schilderung des Weges, den ein Bodhisattva zu durchlaufen hat, stand naturgemäß von jeher bei allen Mahäyäna-Schulen im Mittelpunkt des Interesses. Hier wurde sie jedoch mit einer üppig wuchernden Phantasie in einer Weise ausgeführt und ausgemalt, welche alles Ähnliche noch übertrifft. Daneben tauchen aber früh, wenn auch zunächst noch in beschei-
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denem Maße, philosophische Gedankengänge verschiedener Art auf. Später wurden diese von bedeutenden Lehrern mit den verschiedensten anderen Anregungen verschmolzen und erweitert. Und schließlich entstand auf diese Weise ein großes, allumfassendes System. Das charakteristischste Werk, welches die alte Yogäcära-Schule hervorgebracht hat, ist das Yogäcärabhümisästram („Lehrbuch von den Stufen der Betätigung des Yoga"). Es ist eines der typischen Riesenwerke, wie sie die indische Maßlosigkeit so gern geschaffen hat. Als Verfasser nennt die Überlieferung die Schulhäupter Maitreya und Asañga. Aber wahrscheinlich ist es ein Werk der Schule, dessen Entstehung sich über mehrere Generationen erstreckte. Der älteste Teil dürfte die Bodhisattvabhümih („Die Stufe des Bodhisattva") sein. In ihr wird die Laufbahn des Bodhisattva mit unermüdlicher Phantasie in allen Einzelheiten mit einer verwirrenden und fast betäubenden Ausführlichkeit geschildert. Das Philosophische tritt dabei hinter der tropisch wuchernden Erlösungsscholastik ganz zurück. Einzelne wenige Abschnitte sind allerdings eingeschoben, die auch philosophisch von Bedeutung sind. Und da sie eine gute Vorstellung von den Gedankengängen geben, von denen die Entwicklung des Yogäcära-Systems ihren Ausgang nahm, gebe ich eine Probe daraus wieder. Ich kürze dabei und gebe nur die philosophisch wichtigsten Stücke wieder. Denn das Werk ist an und für sich in einem eigenartigen, umständlichen und weitschweifigen Stil geschrieben. Und da überdies immer noch breit ausgeführt wird, welche Bedeutung die betreffenden philosophischen Erkenntnisse für die Laufbahn des Bodhisattva haben, erscheinen solche Kürzungen geboten. Gegenstand des wiedergegebenen Abschnittes ist die Wirklichkeit (tattvärthah oder tattvam). Den Anfang machen nach der äußerlichen scholastischen Art, welche das ganze Werk kennzeichnet, verschiedene Einteilungen der Wirklichkeit. Die erste ist oberflächlich und unbedeutend. Sie unterscheidet das Sein (bhütata) der Gegebenheiten und ihre Gesamtheit (sarvatä), wobei offenbar an den Umfang des Bereichs der Wirklichkeit gedacht ist. Wichtiger, wenn auch noch immer äußerlich, ist die zweite Einteilung. Danach gibt es eine vierfache Wirklichkeit oder Wahrheit je nach der Art der Erkenntnis, deren Gegenstand sie ist. Und zwar ist die erste Gegenstand der Ansicht aller gewöhnlichen Menschen, also der opinio communis, die zweite Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis. Das ist einfach und nichts Besonderes. Bemerkenswert ist jedoch die Unterscheidung der dritten und vierten Wirklichkeit. Die dritte ist nämlich Gegenstand des Wissens, durch welches das Hemmnis der Laster beseitigt wird, die vierte Gegenstand des Wissens, durch welches das Hemmnis des zu Wissenden beseitigt wird. Dieser Unterscheidung liegt eine wichtige Weiterbildung der Erlösungslehre zugrunde. Im HTnayäna (vgl. oben S. 79ff.) hatte man sich den Erlösungsvorgang so gedacht, daß durch die Erkenntnis der vier heiligen Wahrheiten die Laster beseitigt werden, und daß dadurch die Werke ihre Kraft verlieren und die Kette der Wiedergeburten ein Ende nimmt. Und zwar neigte man stark dazu, den Kern der erlösenden Erkenntnis im Nichtvorhandensein einer irdischen Persönlichkeit zu sehen. Nun war man aber zu einer neuen grundlegenden Erkenntnis gelangt, der man ganz besondere Bedeutung
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beimaß, zur Erkenntnis von der Wesenlosigkeit der Erscheinungswelt. Es war daher nur natürlich, daß man auch dieser Erkenntnis einen Anteil an der Erlösung zuschrieb. Nägäijuna hatte das, wie wir oben gesehen haben (S. 11 Of.) in der Weise getan, daß er die Erkenntnis vom Nichtvorhandensein einer irdischen Persönlichkeit vom Wissen um die Wesenlosigkeit der Erscheinungswelt abhängig machte. Das genügte aber auf die Dauer nicht. Man wollte beide Erkenntnisse, welche beide so wichtig schienen, in gleicher Weise als Ursachen der Erlösung zur Geltung bringen, und das tat man folgendermaßen. Man unterschied zwei Ursachen der Verstrickung in den Wesenskreislauf. Die eine sind den bisherigen Anschauungen entsprechend die Laster, und man sprach daher von einem Hemmnis der Laster (klesävaranam). Daneben nahm man nun aber noch ein zweites Hemmnis an, welches die richtige Erkenntnis des Erkennbaren verhindert, und nannte es das Hemmnis des zu Wissenden (ßeyävaranam). Dieses doppelte Hindernis erfordert aber naturgemäß zu seiner Beseitigung eine doppelte erlösende Erkenntnis, und so lehrte man, daß das Hemmnis der Laster beseitigt wird, indem man die Wesenlosigkeit der irdischen Persönlichkeit (pudgalanairätmyam) erkennt, das Hemmnis des zu Wissenden dagegen, indem man sich der Wesenlosigkeit der Gegebenheiten (dharmanairätmyam) bewußt wird. Diese doppelte Begründung der Bindung und Erlösung dringt allmählich allgemein durch. Und sie ist es, die der vorliegenden Unterscheidung der dritten und vierten Wirklichkeit zugrunde liegt und uns somit hier zum ersten Male begegnet. Nun folgt die eigentliche Bestimmung des Wesens der Wirklichkeit und damit der philosophisch bedeutendste Teil des Abschnittes. Es wird erklärt, daß das Wesen der Wirklichkeit auf der Zweiheitlosigkeit beruht. Damit ist ein alter Gedanke, den wir bereits im Ratnakütah und bei Nägäijuna kennen gelernt haben, aufgegriffen. Aber es wird ihm hier ein neuer Inhalt gegeben. Die Zweiheit, von der die Wirklichkeit frei ist, ist das Sein und Nichtsein, was auch bei Nägäijuna in erster Linie steht. Nägäijuna hatte nun gesagt, daß das Sein nicht zutrifft, weil die vom Gesetz des abhängigen Entstehens beherrschte Vielfalt nicht wirklich ist, daß aber auch das Nichtsein nicht zutrifft, weil sie nicht vollkommen nicht vorhanden ist. Hier wird derselbe Grundgedanke anders gestaltet. Das Sein trifft nicht zu weil unsere Vorstellungen von den Dingen, die wir in sie hineintragen, unwirklich sind. Das Nichtsein trifft aber ebenfalls nicht zu, weil das unfaßbare Ding an sich (vastumätram), das den Vorstellungen zugrunde liegt, wirklich ist. Nach Nägäijuna sind die Gegenstände der Erscheinungswelt unwirklich, weil sie den Forderungen der Logik nicht entsprechen. Daneben taucht der Gedanke auf, daß diese Gegenstände Objekt unserer Vorstellungen sind, während das höchste Sein allen Vorstellungen unzugänglich bleibt. Nun heißt es, daß die Erscheinungen selbst Vorstellungen und als solche unwirklich sind. Das höchste Sein dagegen ist das, was hinter diesen Vorstellungen steht und ihnen zugrunde liegt, selbst aber von allen Vorstellungen frei ist. Damit hat sich eine wichtige Verschiebung vollzogen. An die Stelle des Truges der Erscheinungswelt, wie ihn Nägäijuna gelehrt hatte, ist die Welt als Vorstellung getreten. In diesem Sinn wird nun die Lehre von der Zweiheitlosigkeit der Wirklichkeit ausgeführt. Wir dürfen die Wirklichkeit nicht als seiend betrachten, weil
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unsere Vorstellungen unwirklich sind. Wir dürfen sie aber auch nicht für nicht seiend erklären, weil das Ding an sich, auf welches sich die Vorstellungen stützen, wirklich ist und nicht geleugnet werden darf. Diese Auffassung, welche die beiden Extreme des Seins und Nichtseins vermeidet, ist der mittlere Weg und die richtige Lehre, die den Bodhisattvas zur höchsten Erleuchtung verhilft. Nun folgt ein Versuch, das behauptete Wesen der Wirklichkeit zu beweisen, und zwar durch den Nachweis der Unwirklichkeit der Erscheinungswelt. Dieser Nachweis ist den neuen Anschauungen angepaßt und schlägt ganz andere Wege ein als Nägäijuna. Zu seinem Verständnis ist folgendes zu beachten. Wir haben bei der Besprechung der Lehren des Hlnayäna gesehen (S. 75f.), daß man um diese Zeit zur Erkenntnis gekommen war, daß nicht alle Gegenstände unserer Erkenntnis wirklich sind. Vor allem lehrten die Sauträntika, daß wir auch von Dingen sprechen, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben, und nannten solche Dinge nur der Benennung nach vorhanden (prajñaptisat). Diese Gedankengänge müssen wir also damals als bekannt voraussetzen. Dazu kam aber auch noch folgendes: Man war zur damaligen Zeit trotz manchen bemerkenswerten Ansätzen noch nicht imstande, Wahrnehmungen und begriffliches Denken als zwei verschiedene Erkenntnisformen zu unterscheiden, sondern betrachtete sie als zusammengehörige, gleichartige Erkenntnisvorgänge. Nun glaubte man zu beobachten, daß jeder Erkenntnisvorgang von Worten begleitet ist, sei es von wirklichem Sprechen oder von Denksprechen (manojalpah). Daraus schloß man, daß alles Erkennen nicht nur notwendig mit Worten verbunden, sondern auch durch sie bedingt ist. Und da wir es sind, welche die mit den Worten gegebenen Benennungen den Dingen beilegen, kam man zur Folgerung, daß auch die durch die Benennungen ausgedrückten Erscheinungsformen nur von uns den Dingen beigelegt werden, in Wirklichkeit aber unsere Vorstellungen sind. Dementsprechend stellt sich das besprochene Wesen der Wirklichkeit, genauer ausgedrückt, folgendermaßen dar. Zugrunde liegt allen Erscheinungen ein Ding an sich (vastumätram), das aber vollkommen unfaßbar und unausdrückbar ist. Ihm schreiben wir die verschiedensten Benennungen (prajnaptivädah) und dadurch die damit verknüpften Erscheinungsformen zu. Das Zuschreiben (samäropah) der Benennungen ist also falsch. Ebenso falsch aber wäre es, alles zu leugnen (iapavädah), da das Ding an sich, welches den Benennungen zugrunde liegt und das Zuschreiben erst ermöglicht, wirklich ist. Daß die Benennungen tatsächlich nicht wirklich sind und nicht wirklich sein können, wird auf zweierlei Art begründet. Erstens schreiben wir jedem Ding die verschiedensten Benennungen und damit die verschiedensten Erscheinungsformen zu. Sie alle können aber nicht zum Wesen des Dinges gehören, denn das eine Ding kann nicht vielerlei Wesen haben. Nur in einer dieser Erscheinungsformen das Wesen des Dinges zu sehen, dazu haben wir aber keinen Grund und damit keine Berechtigung. Wir müssen sie also alle als unwirklich betrachten. Die zweite Begründung ist folgende. Wenn die Benennungen und Erscheinungsformen, welche wir den Dingen zuschreiben, ihr Wesen ausmachen würden, dann wären die Dinge, bevor dieses Zuschreiben erfolgt, wesenlos, also nicht vorhanden, und damit wäre auch das Zuschreiben unmöglich, da ihm jede
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Grundlage fehlt. Wollten wir dagegen annehmen, daß die Dinge das betreffende Wesen auch schon besitzen, bevor wir es ihnen zuschreiben, dann müßten die mit den betreffenden Benennungen verbundenen Vorstellungen bereits auftreten, bevor wir noch diese Benennungen den Dingen beigelegt und sie so mit ihnen verbunden haben, und das ist nicht der Fall. Infolgedessen können die Benennungen und die mit ihnen verknüpften Erscheinungsformen nicht zum Wesen der Dinge gehören und sind daher nicht wirklich. Es folgt nun noch ein längerer Abschnitt, der aber nach dem bisher Gesagten ohne weiteres verständlich ist und keiner weiteren Erläuterungen bedarf. Auch er knüpft an Gedanken an, die bereits im Ratnakütah und bei Nägätjuna zu finden sind (vgl. oben S. 106f. und 114ff.) und gestaltet sie nur den neuen Anschauungen entsprechend um. Es handelt sich dabei um die zwei Irrtümer, in die man bei der Auffassung der Wirklichkeit verfallen kann, wenn man den richtigen mittleren Weg verfehlt, den Irrtum der einseitigen Bejahung und den Irrtum der einseitigen Verneinung. Der erste Irrtum, bei dem man ausschließlich an das Sein glaubt, besteht der neuen Auffassung nach darin, daß man die dem Ding an sich zugeschriebenen unwirklichen Erscheinungsformen für wirklich hält. Der zweite, bei dem man ausschließlich an das Nichtsein glaubt, besteht darin, daß man auch das Ding an sich fur unwirklich ansieht. Und ebenso wie im Ratnakütah und bei Nägäijuna wird auch hier erklärt, daß der zweite Irrtum weitaus der verhängnisvollere ist, weil er einer Berichtigung unzugänglich ist. Schließlich wird die falsche und richtige Auffassung der Wirklichkeit noch als falsche und richtige Auffassung der Leerheit besprochen. Wieder ist der Gedanke im neuen Sinn ausgeführt, aber schon die Ausdrucksweise mit der Verwendung des Wortes Leerheit zeigt den Anschluß an das Alte. Den Abschluß bildet ein hier nicht wiedergegebener Versuch, die vorgetragene Lehre durch Stellen aus der heiligen Schrift zu belegen. Dann geht die Darstellung auf andere Gegenstände über.
Aus der „Stufe des Bodhisattva" (Bodhisattvabhümih) Abschnitt 1, Kapitel IV Welches ist die Wirklichkeit? Sie ist kurz zusammengefaßt zweifach. Mit Hinblick auf das Wie-Vorhandensein der Gegebenheiten ihr Sein (bhütatä). Mit Hinblick auf ihr Wieweit-Vorhandensein die Gesamtheit (sarvatä) der Gegebenheiten. So ist das Sein und die Gesamtheit der Gegebenheiten zusammengefaßt als Wirklichkeit zu betrachten. Die Wirklichkeit ist ferner nach ihren Abarten eingeteilt vierfach: in der Welt anerkannt, aus Vernunftgründen anerkannt, Bereich des vom Hemmnis der Laster gereinigten Wissens und Bereich des vom Hemmnis des zu Wissenden gereinigten Wissens.
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Wenn alle gewöhnlichen Menschen über irgendein Ding auf Grund einer Erkenntnis, die sich an Vereinbarung, Brauch, Gewohnheit, oder Herkommen anschließt, die gleiche Anschauung haben, ζ. B. über die Erde: „Das ist Erde und kein Feuer", ebenso wie über die Erde, so über das Feuer, das Wasser, den Wind, über die Formen, die Töne, die Gerüche, die Geschmäcke, das Berührbare, über Speise und Trank, Fahrzeuge, Schmuck ... über Lust und Leid: „Das ist Leid und keine Lust" und „Das ist Lust und kein Leid", kurz gesagt: „Das ist das und nichts anderes; das ist so und nicht anders", dieses Ding also, welches Gegenstand einer ganz bestimmten Auffassung ist, welches von allen gewöhnlichen Menschen auf Grund einer durch zusammenhängende Überlieferung überkommenen Anschauung durch eigene Vorstellung anerkannt ist, und welches, ohne zu denken, zu wägen und zu prüfen, hingenommen wird, das wird in der Welt anerkannte Wirklichkeit genannt. Welches ist die aus Vernunftgründen anerkannte Wirklichkeit? Ein erkennbares Ding, welches von verständigen Menschen, die sich auf das, was vernunftgemäß ist, verstehen, die klug sind, die Logik kennen, mit methodischer Untersuchung vertraut sind und sich auf einer Stufe befinden, auf welcher die Logik herrscht, eigene Einfälle gelten, welche mit dem Bereich der Weltmenschen und mit methodischen Untersuchungen verknüpft ist, (ein Ding also, welches von solchen Menschen) mit Hilfe der Mittel richtiger Erkenntnis, nämlich der sinnlichen Wahrnehmung, Schlußfolgerung und glaubwürdigen Überlieferung als Gegenstand klar bestimmten Wissens durch Darlegungen, Beweise und Vernunftgründe bewiesen und festgestellt ist, das wird aus Vernunftgründen anerkannte Wirklichkeit genannt. Welches ist die Wirklichkeit, welche Bereich des vom Hemmnis der Laster gereinigten Wissens ist? (Diejenige Wirklichkeit), welche Bereich und Objekt des unbefleckten Wissens1, des das unbefleckte Wissen herbeiführenden Wissens und des anschließend an das unbefleckte Wissen erlangten irdischen Wissens aller Hörer (srävakäh) und Einzelbuddha (pratyekabuddhäh) ist, diese wird die Wirklichkeit genannt, welche Bereich des vom Hemmnis der Laster gereinigten Wissens ist. Durch diesen Anhaltspunkt wird das Wissen vom Hemmnis der Laster gereinigt und verbleibt in Zukunft in dieser Hemmnislosigkeit. Daher spricht man von einer Wirklichkeit, welche Bereich des vom Hemmnis der Laster gereinigten Wissens ist. Welches ist nun diese Wirklichkeit? Die vier heiligen Wahrheiten, das Leiden, die Entstehung, die Aufhebung und der Weg. Wer nämlich diese vier heiligen Wahrheiten klar unterscheidet und erschaut, bei dem entsteht, sobald er sie erschaut hat, dieses Wissen. Dieses Erschauen der Wahrheiten wiederum entsteht bei Hörern und Einzelbuddha, wenn sie bloß die Gruppen wahrnehmen und kein Selbst als anderen von den Gruppen verschiedenen Gegenstand wahrnehmen, durch eine Einsicht, welche mit dem Entstehen und Vergehen der abhängig ent-
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Als unbeflecktes Wissen wird das Schauen der heiligen Wahrheiten bezeichnet.
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standenen Gestaltungen verknüpft ist, auf Grund der ständigen Betrachtung des Nichtvorhandenseins einer von den Gruppen gesonderten Persönlichkeit. Welches ist die Wirklichkeit, welche Bereich des vom Hemmnis des zu Wissenden gereinigten Wissens ist? Ein Hindernis des Wissens hinsichtlich des zu Wissenden nennt man Hemmnis. (Diejenige Wirklichkeit nun), welche Bereich und Objekt des von diesem Hemmnis des zu Wissenden befreiten Wissens ist, ist als die Wirklichkeit zu betrachten, welche Bereich des vom Hemmnis des zu Wissenden gereinigten Wissens ist. Welches ist nun diese (Wirklichkeit)? (Diejenige Wirklichkeit), welche Bereich und Objekt des Wissens der Bodhisattva und erhabenen Buddha ist, (jenes Wissens,) das auf das Eindringen in die Wesenlosigkeit der Gegebenheiten gerichtet ist, vollkommen rein ist, und hinsichtlich des unausdrückbaren Wesens aller Gegebenheiten das Wesen der Benennungen frei von Vorstellungen als vollkommen gleich erfaßt (?). Das ist jene höchste Soheit (tathatä), die unübertreffliche, welche die Grenze des Erkennbaren bildet, vor der die richtige Unterscheidung aller Gegebenheiten zurückweicht und sich nicht darauf erstreckt. Was ferner das Merkmal der Wirklichkeit betrifft, so ist es hinsichtlich seiner Bestimmung als durch die Zweiheitlosigkeit hervorgerufen zu betrachten. Als Zweiheit bezeichnet man das Sein und das Nichtsein. Dabei ist das Sein das, was als Wesen der Benennungen (prajnaptivädasvabhävah) bestimmt wird, was die Menschen seit langer Zeit so auffassen, und was für die Menschen die Wurzel der Vielfalt aller Vorstellungen ist, ζ. B. die Körperlichkeit oder die Empfindung, das Bewußtsein, die Gestaltungen und das Erkennen, das Auge oder das Gehör, der Geruch, die Zunge, der Körper und das Denken, die Erde oder das Wasser, das Feuer und der Wind, die Form oder der Ton, der Geruch, der Geschmack und das Berührbare, das Gute, das Böse oder das Unbestimmte, das Entstehen oder das Vergehen, das abhängig Entstandene, das Vergangene, Zukünftige oder das Gegenwärtige, das Verursachte oder das Nichtverursachte, diese Welt oder jene Welt, beide Sonne und Mond, das Gesehene, Gehörte, Gedachte und Erkannte, das Erlangte und Erforschte, oder das im Geist Überdachte und Überlegte, bis schließlich zum Nirväna. Das so beschaffene, für die Menschen an den Benennungen haftende Wesen der Gegebenheiten wird Sein genannt. Dabei ist das Nichtsein die Dinglosigkeit und Merkmallosigkeit der Benennung „Form" usw. bis schließlich Benennung „Nirväna"; das gänzliche und völlige Nichtsein und Nichtvorhandensein einer Grundlage der Benennungen, auf Grund derer die Benennungen in Verwendung treten können. Das wird Nichtsein genannt. Das in dem Merkmal der Gegebenheiten miteingeschlossene Ding, welches von dem oben genannten Sein und von diesem Nichtsein, von diesen beiden, von Sein und Nichtsein frei ist, das ist das Zweiheitlose. Dieses Zweiheitlose ist der mittlere Weg, ist frei von beiden Extremen und wird als das Unübertreffliche bezeichnet. Als auf diese Wirklichkeit gerichtet ist das vollkommen reine Wissen der erhabenen Buddha zu betrachten. Und als auf diese (Wirklichkeit) gerichtet
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ist das auf dem Wege der Schulung hervorgerufene Wissen der Bodhisattva zu betrachten. Diese Einsicht ist für den Bodhisattva ein wertvolles Hilfsmittel zur Erlangung der höchsten vollkommenen Erleuchtung ... Durch welche Vernunftgründe läßt sich nun das Wesen aller Gegebenheiten als unausdrückbar erkennen? Jede Benennung des eigenen Merkmals (svalaksanam) der Gegebenheiten, ζ. B. „Körperlichkeit" oder „Empfindung" usw. wie oben bis schließlich oder „Nirvana", ist als bloße Benennung zu betrachten, nicht als eigenes Wesen und nicht als ein davon getrennter oder verschiedener Bereich oder Objekt der Rede. Da es sich so verhält, ist das Wesen der Dinge nicht so vorhanden, wie es ausgedrückt wird. Es ist aber auch nicht ganz und gar nicht vorhanden. Wie ist es aber vorhanden, wenn es nicht so vorhanden ist und dennoch nicht ganz und gar nicht vorhanden ist? Frei von der falschen Auffassung, die im Zuschreiben von etwas Unwirklichem besteht, und frei von der falschen Auffassung, die im Ableugnen von etwas Wirklichem besteht, ist es vorhanden. Dieses wahrhafte Wesen aller Gegebenheiten ist ferner ausschließlich als Bereich des vorstellungsfreien Wissens zu betrachten. Wenn ferner alle Gegebenheiten und jedes Ding so beschaffen wäre, wie der Ausdruck, der fur diese Gegebenheiten und dieses Ding zur Verwendung kommt, in diesem Falle kämen einer einzigen Gegebenheit und einem einzigen Ding viele und vielerlei Wesenheiten zu. Aus welchem Grund? Einer einzigen Gegebenheit und einem einzigen Ding werden nämlich durch viele Ausdrücke viele und vielerlei Benennungen beigelegt (upäcärah). Es läßt sich aber bei diesen vielen und vielerlei Benennungen keine feste Regel finden, nach der irgendeine einzige Benennung zur Natur, zur Beschaffenheit und zum Wesen dieser Gegebenheit und dieses Dinges gehört, nicht aber die anderen übrigen Benennungen. Daher gehören alle Benennungen, sei es insgesamt oder teilweise nicht zur Natur, zur Beschaffenheit und zum Wesen aller Gegebenheiten und aller Dinge. Wenn ferner die oben genannten Gegebenheiten, die Körperlichkeit usw., die Benennung zum Wesen hätten, in diesem Falle wäre zuerst das Ding vorhanden, und dann würde ihm nach Belieben die Benennung beigelegt. Vor dem Beilegen der Benennung, solange das Beilegen der Benennung noch nicht stattgefunden hat, wäre also dieses Ding und diese Gegebenheit ohne eigenes Wesen. Fehlt aber das eigene Wesen, dann ist die Benennung, der (in diesem Fall) das Ding fehlt, nicht möglich. Und wenn kein Beilegen der Benennung stattfindet, dann ist es auch nicht möglich, daß die Gegebenheit oder das Ding die Benennung zum Wesen hat. Wenn hingegen die Körperlichkeit bereits vor dem Beilegen der Benennung das Wesen der Körperlichkeit hätte und nachträglich diesem Wesen der Körperlichkeit durch die Benennung zusätzlich die Körperlichkeit beigelegt würde, in diesem Falle würde auch ohne diese Beilegung der Benennung „Körperlichkeit" im Hinblick auf die als Körperlichkeit bezeichnete Gegebenheit und das als Körperlichkeit bezeichnete Ding die Erkenntnis der Körperlichkeit auftreten. Sie tritt aber nicht auf. Aus dieser Ursache also und aus diesen Vernunftgründen ist das Wesen aller Gegebenheiten als unausdrückbar zu erkennen.
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Und wie für die Körperlichkeit so gilt dies auch für die übrigen angeführten Gegebenheiten, die Empfindung usw. bis schließlich zum Nirvana. Von folgenden Zweien soll man wissen, daß sie von der Regel dieser Lehre abgefallen sind, wer sich bei Gegebenheiten, wie der Form usw., und bei einem Ding, wie der Körperlichkeit usw., an das eigene Merkmal, das seinem Wesen nach nur eine Benennung ist, klammert, indem er ihnen etwas Unwirkliches zuschreibt, und wer das Ding, welches als Grundlage Anlaß der Benennung ist, welches als Stütze Anlaß der Benennung ist, und welches seinem unausdrückbaren Selbst nach wahrhaft wirklich ist, hinfällig macht, indem er es leugnet und sagt: „Es ist ganz und gar nicht vorhanden." Die Fehler nun, welche sich zunächst beim Zuschreiben von etwas Unwirklichem ergeben, diese sind bereits früher geschildert, kundgetan, erläutert und erklärt worden, die Fehler nämlich, auf Grund derer man als abgefallen von der Regel dieser Lehre zu betrachten ist, weil man einem Ding wie der Körperlichkeit usw. etwas Unwirkliches zuschreibt. Wieso dagegen derjenige von der Regel dieser Lehre abgefallen ist, der alles umstürzt, indem er in Gegebenheiten wie der Form usw. das Ding an sich leugnet, das will ich nunmehr sagen. Für den, der bei Gegebenheiten wie der Form usw. das Ding an sich leugnet, ist beides nicht möglich, weder die Wirklichkeit, noch die Benennung. Wie nämlich die Benennung als Persönlichkeit möglich ist, wenn die Gruppen, Körperlichkeit usw. vorhanden sind, nicht aber, wenn sie nicht vorhanden sind, da dann die Benennung als Persönlichkeit ohne Ding wäre, ebenso ist die Beilegung der Benennung als Gegebenheit wie Form usw. möglich, wenn bei den Gegebenheiten Form usw. das Ding an sich vorhanden ist, nicht aber, wenn es nicht vorhanden ist, da dann das Beilegen der Benennung ohne Ding wäre. Wenn nämlich kein Ding für die Benennung vorhanden ist, dann ist auch die Benennung nicht vorhanden, da sie keine Grundlage hat. Wenn daher manche Menschen, nachdem sie die schwer verständlichen, zum Mahayäna gehörigen, tiefsinnigen, mit der Leerheit verknüpften und in bestimmtem Sinne gemeinten Sütren gehört haben, weil sie den Sinn des Gesagten nicht richtig verstehen und nicht richtig zutreffend auffassen, auf eine bloße ungeschickt angestellte Erwägung hin folgende Ansicht und folgende Lehre vertreten: „Dieses alles ist bloße Benennung das ist die Wahrheit, und wer so sieht, sieht richtig", so ist für diese (Menschen) auch diese Benennung ganz und gar nicht vorhanden, weil das Ding an sich als Grundlage der Benennung fehlt. Wieso sollte also die Wirklichkeit bloße Benennung sein. Auf diese Weise leugnen sie also sowohl die Wirklichkeit, als auch die Benennung, als auch beides zusammen. Weil daher (ein solcher Mensch) Benennung und Wirklichkeit leugnet, ist er als Erz-Leugner zu betrachten. Und weil er ein solcher Leugner ist, sollen verständige Mitjünger nicht mit ihm reden und nicht mit ihm zusammenweilen. Denn er stürzt sich selbst ins Verderben, und auch die Leute, welche seine Ansichten gutheißen, werden ins Verderben gestürzt. In diesem Sinn hat der Erhabene gesagt: „Besser, daß hier jemand an eine Persönlichkeit glaubt, als daß jemand die Leerheit falsch auffaßt." Aus welchem Grund? Wenn ein Mensch an eine Persönlichkeit glaubt, dann täuscht er sich bloß über das zu
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Wissende, aber er wird nicht alles zu Wissende leugnen. Er wird daher nicht aus diesem Grund in schlechten Daseinsformen wiedergeboren werden. Er wird nicht einem andern, der nach der Lehre begehrt und nach der Erlösung vom Leiden begehrt, widersprechen und ihn täuschen, sondern er wird ihm zur Lehre und zur Wahrheit verhelfen. Und er wird nicht nachlässig sein in der Befolgung der Gebote. Durch falsche Auffassung der Leerheit dagegen täuscht man sich über das zu wissende Ding. Ja man leugnet sogar alles zu Wissende. Aus diesem Grund wird man auch in schlechten Daseinsformen wiedergeboren. Man stürzt einen andern, der sich an die Lehre hält und nach der Erlösung vom Leiden begehrt, ins Verderben. Und man ist nachlässig in der Befolgung der Gebote. Auf diese Weise also ist der, welcher das wirkliche Ding leugnet, von der Regel der Lehre abgefallen. Auf welche Weise aber wird die Leerheit falsch aufgefaßt? Wenn irgendein Asket oder Brahmane das nicht gelten läßt, wovon etwas leer ist, und auch das nicht gelten läßt, was leer ist, dann nennt man diese derartige Leerheit falsch aufgefaßt. Aus welchem Grund? Wenn das nicht vorhanden ist, wovon etwas leer ist, das dagegen vorhanden ist, was leer ist, dann ist die Leerheit möglich. Wenn dagegen alles fehlt, was soll dann leer sein, wo und wovon? Auch ist die Leerheit desselben von demselben nicht möglich. Daher wird die Leerheit auf diese Weise falsch aufgefaßt. Auf welche Weise aber wird die Leerheit richtig aufgefaßt? Wenn man etwas von dem, was darin nicht vorhanden ist, als leer betrachtet, das jedoch, was dabei übrig bleibt, wahrheitsgemäß als hier vorhanden erkennt, dann nennt man dies wahrheitsgemäßes, nicht irriges Eindringen in die Leerheit. In einem als Form usw. bezeichneten Ding, wie wir es oben genannt haben, ist ζ. B. eine Gegebenheit, welche die Benennung als Form usw. zum Wesen hat, nicht vorhanden. Daher ist dieses als Form usw. bezeichnete Ding vom Wesen der Benennung als Form usw. leer. Was bleibt jedoch in diesem als Form usw. bezeichneten Ding übrig? Das, was die Grundlage der Benennung als Form usw. bildet. Wenn man nun dies beides wahrheitsgemäß erkennt, das vorhandene Ding an sich und die bloße Benennung am Ding an sich, wenn man das Unwirkliche nicht zuschreibt und das Wirkliche nicht leugnet, wenn man nichts hinzufugt und nichts wegnimmt, nichts einschiebt und nichts ausscheidet, dann erkennt man wahrheitsgemäß die wahrhafte Soheit, die unausdrückbare Wesenheit. Das nennt man richtig aufgefaßte Leerheit, durch rechte Einsicht wohl erfaßt. Wie bei der Madhyamaka-Schule so spielt auch bei der Yogäcära-Schule besonders in der älteren Zeit die Sütren-Literatur eine große Rolle und manche wichtigen Gedanken finden wir zuerst in Sütren ausgesprochen. Es soll also auch davon eine Probe gegeben werden, und zwar wähle ich dafür ein Werk, das in besonderem Ansehen stand und die Entwicklung der Schule aufs stärkste beeinflußte, das Samdhinirmocanasütram („Erläuterung des geheimen Sinnes")· Bei diesem Werk ist außerdem interessant, daß es noch deutlich Spuren seiner allmählichen Entstehung zeigt und so gewissermaßen den Gang der
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allgemeinen Entwicklung der Schule widerspiegelt. Seine ältesten Teile folgen ganz der Art der Prajfiäpäramitä-Texte, während in den jüngeren die neuen philosophischen Gedanken und die Erlösungsscholastik der Yogäcära-Schule zu Wort kommen. Der im folgenden wiedergegebene Abschnitt enthält eine Lehre, die für die Yogäcära-Schule während der ganzen Dauer ihres Bestehens kennzeichnend war, nämlich die Lehre vom dreifachen Wesen oder der dreifachen Beschaffenheit der Dinge, und damit verknüpft die Lehre von ihrer dreifachen Wesenlosigkeit. Mit der Lehre vom Wesen der Wirklichkeit, wie wir sie in der Bodhisattvabhümih kennengelernt haben, war eine der grundlegenden Lehren des Systems geschaffen. Sie hatte aber noch nicht die Form gefunden, in der sie dauernd in Geltung bleiben sollte. Das geschah erst mit der Lehre von der dreifachen Beschaffenheit. Die Bodhisattvabhümih hatte gelehrt, daß die Erscheinungswelt bloße Vorstellung ist, daß ihr aber ein unfaßbares und unausdrückbares Ding an sich zugrunde liegt, und sie hatte diese Anschauung in die Form der alten Lehre vom mittleren Weg gekleidet. Das Samdhinirmocanasütram wählte dafür eine andere Form. Es unterschied vor allem zwischen den Dingen, wie sie uns erscheinen, und den Dingen, wie sie wirklich sind. Das war vom Standpunkt der Erlösungslehre wichtig. Denn auf der Auffassung der Dinge, wie sie erscheinen, beruht die Verstrickung in den Wesenskreislauf, auf der Erkenntnis, wie sie wirklich sind, die Erlösung. Dieses zweifache Wesen der Dinge ist nun dadurch verursacht, daß ihnen im ersten Fall die Erscheinungsformen, welche in Wirklichkeit der Vorstellung angehören, zugeschrieben werden, während sie im zweiten Fall davon frei sind. Die der Vorstellung angehörigen Erscheinungsformen sind also der Faktor, dessen Vorhandensein oder Fehlen das doppelte Wesen der Dinge bedingt. Man stellte sie daher als drittes neben jenes und unterschied somit ein dreifaches Wesen (svabhävah) oder eine dreifache Beschaffenheit (laksanam) der Dinge, erstens die Erscheinungsformen, welche wir den Dingen zuschreiben, zweitens die Dinge, sofern sie sich uns in diesen Erscheinungsformen darstellen, und drittens die Dinge, sofern sie von diesen Erscheinungsformen frei sind. Das erste Wesen nannte man das vorgestellte Wesen (parikalpitah svabhävah), weil jene Erscheinungsformen bloße Vorstellungen sind, das zweite das abhängige Wesen (paratantrah svabhävah), weil sich uns die Erscheinungswelt in dieser Form darstellt und ihr wesentlichstes Merkmal das abhängige Entstehen ist, das dritte schließlich das vollkommene Wesen (parinispannah svabhävah), da es das höchste Sein in seiner Reinheit darstellt. Das ist die Lehre vom dreifachen Wesen der Dinge, wie sie das Samdhinirmocanasütram bringt. Sie hat die Lehre der Bodhisattvabhümih vom Wesen der Wirklichkeit verdrängt und ist zum festen Lehrsatz des Yogäcära-Systems geworden. Die darin gegebene dreifache Aufspaltung der Wirklichkeit ist allerdings schief und hat immer wieder Schwierigkeiten bereitet. Im Samdhinirmocanasütram selbst ist es nicht vollkommen gelungen, den Gedanken klar durchzuführen, aber die darin liegende Systematik entsprach der zur zahlenmäßigen Aufgliederung neigenden, in der Yogäcära-Schule besonders stark
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ausgeprägten, indischen Art. Und so hat sich diese Lehre rasch endgültig durchgesetzt. Im ersten Teil des unten übersetzten Abschnittes des Samdhinirmocanasütram (= Kapitel VI) wird also diese Lehre vom dreifachen Wesen der Dinge vorgetragen. Zuerst wird sie selbst knapp formuliert. Dann wird sie durch Beispiele erläutert. Zum Abschluß wird das dreifache Wesen schließlich noch von einem weiteren Standpunkt aus betrachtet, und zwar im Hinblick auf die Erlösungslehre. Es heißt, daß man durch richtige Einsicht in das vorgestellte Wesen die Gegebenheiten als beschaffenheitslos oder merkmallos erkennt, da die der Vorstellung angehörigen Erscheinungsformen wesenlos sind; daß man durch richtige Einsicht in das abhängige Wesen die Gegebenheiten im Zustand der Besudelung (samklesah) erkennt, da das abhängige Wesen die Erscheinungswelt und damit den Wesenskreislauf darstellt; und daß man durch richtige Einsicht in das vollkommene Wesen die Gegebenheiten im Zustand der Läuterung (vyavadänam) erkennt, da das vollkommene Wesen dem höchsten Sein und damit der Erlösung entspricht. Diese dreifache Auffassung hat keinen Bestand gehabt. Nur die Auffassung der Erscheinungswelt als Zustand der Besudelung und des höchsten Seins als Zustand der Läuterung ist unter die festen Anschauungen des Systems aufgenommen worden. Der daran anschließende zweite Teil der Übersetzung (= Kapitel VII) beschäftigt sich mit dem Gegenstück zur Lehre vom dreifachen Wesen der Dinge, mit der Lehre von der dreifachen Wesenlosigkeit, wobei das dreifache Wesen der Dinge vom Gesichtspunkt einer dreifachen Wesenlosigkeit betrachtet wird. Auch diese Lehre hat ihre besondere Bedeutung und ihren tieferen Hintergrund. Trotz allen äußeren Beziehungen und aller Anlehnung der älteren Yogäcära-Schule an die Lehre der Prajüäpäramitä und der Mädhyamika besteht doch innerlich ein tiefgreifender Gegensatz. Wir haben bisher nur auf die Verschiedenheit hingewiesen, die darin liegt, daß die Yogäcära Nägärjunas Lehre vom Trug der Erscheinungswelt durch die Auffassung der Welt als Vorstellung ersetzten. Noch weitaus wesentlicher ist jedoch der Unterschied in der Auffassung der höchsten Wirklichkeit. Während diese bei Nägäijuna vollkommen allen Vorstellungen und Bestimmungen entzogen ist, ja nicht einmal als seiend oder nichtseiend bezeichnet werden kann, wobei diese Stellungnahme von Nägäijuna mit nie wieder erreichter Folgerichtigkeit durchgeführt und festgehalten wird, so daß die höchste Wirklichkeit von Schweigen bedeckt fast in ein Nichts entschwindet, behält sie in der Schule der Yogäcära trotz aller Betonung ihrer Unausdrückbarkeit einen ausgesprochen positiven Charakter. Nichts ist bezeichnender, als daß der bei Nägäijuna alles beherrschende Begriff der Leerheit (sünyatä) hier vollkommen in den Hintergrund gedrängt ist und die höchste Wirklichkeit mit anderen Namen, wie vor allem als Soheit (tathatä), bezeichnet wird. Auch heißt es ausdrücklich, daß die höchste Wirklichkeit nur in der Form, wie sie uns erscheint, nicht vorhanden ist, daß sie dagegen als Ding an sich existiert. Damit ergeben sich auch wichtige Folgen fur das Verhältnis der höchsten Wirklichkeit zur Erscheinungswelt. Es besteht keine unüberbrückbare Kluft, und an die Stelle der mystischen Einheit vom Wesenskreislauf und Nirväna, wie sie Nägäijuna
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gelehrt hatte, tritt eine feste, klar faßbare Verbindung. Und das trennt die Schulen der Mädhyamika und Yogäcära stärker als alles andere und bedingt auch ihre ganz verschiedene Entwicklung. Aus dieser Verschiedenheit ergab sich aber für die Yogäcära eine große Schwierigkeit. Die zahlreichen Sütren, welche der Madhyamaka-Schule nahestanden, wie vor allem die Prajfiäpäramitä-Werke, und welche auch sie als Buddha-Wort anerkannten, sprachen ausdrücklich von der Leerheit und Wesenlosigkeit aller Dinge. Wie war dies mit ihrer eigenen positiven Einstellung zur Erscheinungswelt und der ihr zugrunde liegenden Wirklichkeit zu vereinbaren? Um diese Schwierigkeit zu umgehen, griff man zu der beliebten Annahme (vgl. oben S. 92), daß es sich bei diesen Werken um Texte handle, welche nicht die volle Wahrheit verkünden, sondern welche vom Buddha in einem bestimmten Sinn für bestimmte Hörer geoffenbart worden seien. Man sagte, daß der Buddha dabei an keine vollständige Wesenlosigkeit, sondern nur an eine Wesenlosigkeit in bestimmter Hinsicht gedacht habe, und zwar dem dreifachen Wesen der Dinge entsprechend, an eine dreifache Wesenlosigkeit. Die erste Wesenlosigkeit ist die Wesenlosigkeit der Beschaffenheit oder dem Merkmal nach (laksananihsvabhävata). Sie entspricht dem vorgestellten Wesen, da dieses keine eigene Beschaffenheit (svalaksanam) und damit kein eigenes Wesen besitzt. Die zweite ist die Wesenlosigkeit dem Entstehen nach (utpattinihsvabhävatä). Sie bezieht sich auf das abhängige Wesen und wird, offenbar in Anlehnung an Madhyamaka-Gedanken, damit begründet, daß die Dinge nicht aus sich, sondern aus anderen Ursachen entstehen. Die dritte Wesenlosigkeit schließlich ist die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach (paramärthanihsvabhävatä). Sie steht, wie schon der Name sagt, in Beziehung zum höchsten Sein. Und da das höchste Sein sowohl mit dem abhängigen, wie auch mit dem vollkommenen Wesen verknüpft ist, da beide das höchste Sein im Zustand der Besudelung und der Läuterung darstellen, steht auch die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach mit beiden im Zusammenhang. Und zwar kann man beim abhängigen Wesen von einer Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach sprechen, da als höchste Wahrheit nur das höchste Sein im Zustand der Läuterung zu betrachten ist. Das vollkommene Wesen wiederum kann als Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach gelten, weil die höchste Wahrheit eben in der Ichlosigkeit oder Wesenlosigkeit der Gegebenheiten (dharmanairätmyam) besteht. Mit dieser Lehre von der dreifachen Wesenlosigkeit war die Wesenlosigkeit aller Dinge, wie sie in der Prajüäpäramitä vorgetragen war, vom Standpunkt der Yogäcära erklärt. Zwar hat sich diese Lehre für die Gedankenentwicklung des Systems nicht als fruchtbar erwiesen, aber sie wurde mit geringen Änderungen dauernd beibehalten und blieb mit der Lehre vom dreifachen Wesen fest verbunden. In der folgenden Übersetzung wird zunächst die Frage gestellt, warum der Buddha die Wesenlosigkeit aller Dinge gelehrt hat. Dann wird die Lehre von der dreifachen Wesenlosigkeit vorgetragen und kurz erläutert, und anschließend daran breit ausgeführt, wie der Buddha durch diese Lehre die Wesen zur Erlösung führt.
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Aus der „Erläuterung des geheimen Sinnes" (Samdhinirmocanasütram) Kapitel V I 1 Darauf fragte der Bodhisattva Gunäkara den Erhabenen: „Erhabener, man spricht von Bodhisattva, welche in der Beschaffenheit (laksanam) der Gegebenheiten erfahren sind. Wodurch, o Erhabener, sind Bodhisattva in der Beschaffenheit der Gegebenheiten erfahren? Und woraufhin bezeichnet der Vollendete die Bodhisattva als erfahren in der Beschaffenheit der Gegebenheiten?"
2 Als er das gesagt hatte, sprach der Erhabene zum Bodhisattva Gunäkara folgendes: „Gunäkara, zum Heile vieler Menschen, zum Wohle vieler Menschen, aus Mitleid mit der Welt, zum Nutzen, zum Heile und zum Wohle der Geschöpfe samt den Göttern und Menschen fragst du den Vollendeten nach dieser Sache. Vortrefflich, vortrefflich! Höre also, Gunäkara, ich will dir die Erfahrenheit in der Beschaffenheit der Gegebenheiten darlegen. 3 Gunäkara, es gibt drei Beschaffenheiten der Gegebenheiten. Welche drei? Die vorgestellte Beschaffenheit (parikalpitalaksanam), die abhängige Beschaffenheit (paratantralaksanam) und die vollkommene Beschaffenheit {parinispannalaksanam). 4 Welches ist dabei, Gunäkara, die vorgestellte Beschaffenheit der Gegebenheiten? Es ist jede Festsetzung eines Namens und einer Vereinbarung 1 für die Gegebenheiten nach Wesen oder Besonderheit, um sie im täglichen Sprachgebrauch zu bezeichnen. 5 Welches ist, Gunäkara, die abhängige Beschaffenheit der Gegebenheiten? Es ist das abhängige Entstehen der Gegebenheiten, nämlich, wenn dieses ist, wird jenes, infolge der Entstehung von diesem entsteht jenes, nämlich, abhängig vom
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Die Verbindung zwischen Wort und Gegenstand beruht nach buddhistischer Auffassung auf menschlicher Vereinbarung (samketah).
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Nichtwissen entstehen die Gestaltungen - usw. bis - so kommt die Entstehung dieser ganzen großen Leidensmasse zustande.
6 Welches ist, Gunäkara, die vollkommene Beschaffenheit der Gegebenheiten? Es ist die Soheit der Gegebenheiten, ihr Erschauen durch die Bodhisattva auf Grund ihrer Energie und richtigen Beobachtung (yonisomanasikärah), und durch das Zustandekommen der Übung dieses Erschauens schließlich das Zustandekommen der höchsten vollkommenen Erleuchtung.
7 Wie eine Augenkrankheit, Gunäkara, am Auge eines Menschen, der an einer Augenkrankheit leidet, so ist die vorgestellte Beschaffenheit anzusehen. Wie sich einem solchen (Menschen) durch die Augenkrankheit bedingt Haarbüschel, Bienen, Sesamkömer, blaue, gelbe, rote oder weiße Erscheinungsbilder zeigen, so ist die abhängige Beschaffenheit anzusehen. Und wie der eigentliche Bereich, das irrtumslose Objekt des gleichen Auges, wenn das Auge des gleichen Menschen gereinigt und von der Augenkrankheit befreit ist, so ist die vollkommene Beschaffenheit anzusehen. 8 Es verhält sich damit, Gunäkara, wie mit einem klaren Kristall. Wenn dieser mit etwas Blauem in Verbindung gebracht wird, erscheint er wie ein Saphir, und indem er irrtümlich für einen Saphir gehalten wird, täuscht er die Wesen. Wenn er mit etwas Rotem in Verbindung gebracht wird, erscheint er wie ein Rubin, und indem er irrtümlich für einen Rubin gehalten wird, täuscht er die Wesen. Wenn er mit etwas Grünem in Verbindung gebracht wird, erscheint er wie ein Smaragd, und indem er irrtümlich für einen Smaragd gehalten wird, täuscht er die Wesen. Und wenn er mit etwas Gelbem in Verbindung gebracht wird, erscheint er wie Gold, und indem er irrtümlich für Gold gehalten wird, täuscht er die Wesen.
9 Wie beim klaren Kristall, Gunäkara, die Verbindung mit der Farbe, so ist bei der abhängigen Beschaffenheit die zur vorgestellten Beschaffenheit gehörige Durchtränkung 1 durch den Sprachgebrauch anzusehen. Wie beim klaren Kristall die irrtümliche Auffassung als Saphir, Rubin, Smaragd oder Gold, so ist bei der abhängigen Beschaffenheit die Auffassung als vorgestellte Beschaffenheit 1
Es liegt die Anschauung zugrunde, daß alle Vorstellungen und Wörter Eindrücke im Erkennen hinterlassen, aus denen später wieder entsprechende Vorstellungen entstehen. Diese Eindrücke, Durchtränkung (väsanä) genannt, vertreten hier die Wörter und Vorstellungen. Vgl. dazu unten S. 215f.
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anzusehen. Wie der klare Kristall selbst, so ist die abhängige Beschaffenheit anzusehen. Wie der klare Kristall der Beschaffenheit als Saphir, Rubin, Smaragd oder Gold nach beständig und dauernd nicht gegeben und wesenlos ist, so ist die vollkommene Beschaffenheit anzusehen, insofern als die abhängige Beschaffenheit der vorgestellten Beschaffenheit nach beständig und dauernd nicht gegeben und wesenlos ist.
10 Dabei wird, Gunäkara, die vorgestellte Beschaffenheit erkannt, indem man sich auf die mit den Erscheinungsbildern verknüpften Namen stützt. Die abhängige Beschaffenheit wird erkannt, indem man sich auf die Auffassung der abhängigen Beschaffenheit als vorgestellte Beschaffenheit stützt. Und die vollkommene Beschaffenheit wird erkannt, indem man sich auf die Nichtauffassung der abhängigen Beschaffenheit als vorgestellte Beschaffenheit stützt. 11 Indem nun, Gunäkara, die Bodhisattva in der abhängigen Beschaffenheit der Gegebenheiten die vorgestellte Beschaffenheit wahrheitsgemäß erkennen, erkennen sie wahrheitsgemäß die Gegebenheiten ohne Beschaffenheit. Indem die Bodhisattva die abhängige Beschaffenheit wahrheitsgemäß erkennen, erkennen sie wahrheitsgemäß die Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Besudelung (samklesah). Und indem die Bodhisattva die vollkommene Beschaffenheit wahrheitsgemäß erkennen, erkennen sie wahrheitsgemäß die Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Läuterung (vyavadänam). Indem die Bodhisattva in der abhängigen Beschaffenheit wahrheitsgemäß die Gegebenheiten ohne Beschaffenheit erkennen, wenden sie sich von den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Besudelung ab. Und indem sie sich von den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Besudelung abwenden, gelangen sie zu den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Läuterung. Weil also, Gunäkara, die Bodhisattva, indem sie die vorgestellte Beschaffenheit, die abhängige Beschaffenheit und die vollkommene Beschaffenheit wahrheitsgemäß erkennen, das Fehlen der Beschaffenheit, die Beschaffenheit der Besudelung und die Beschaffenheit der Läuterung wahrheitsgemäß erkennen, indem sie die Gegebenheiten ohne Beschaffenheit wahrheitsgemäß erkennen, sich von den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Besudelung abwenden, und indem sie sich von den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Besudelung abwenden, zu den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Läuterung gelangen, darum sind die Bodhisattva in der Beschaffenheit der Gegebenheiten erfahren, und wenn der Vollendete die Bodhisattva als erfahren in der Beschaffenheit der Gegebenheiten bezeichnet, so tut er dies deswegen." 12 Darauf sprach der Erhabene in dieser Zeit folgende Strophen:
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„Wenn man die Gegebenheiten ohne Beschaffenheit erkennt, dann wendet man sich von den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Besudelung ab. Wenn man sich von den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der Besudelung abwendet, gelangt man zu den Gegebenheiten in der Beschaffenheit der vollen Reinheit. Die von Leichtsinn betörten trägen Menschen, welche die Mängel der Gestaltungen nicht einsehen und in die unbeständigen, von Natur aus wechselnden Gegebenheiten versunken sind, sind bemitleidenswert." Kapitel VII Darauf sprach der Bodhisattva Paramärthasamudgata zum Erhabenen folgendes: „Erhabener, als ich einst allein in der Einsamkeit weilte, kam mir folgende Überlegung des Geistes: Der Erhabene hat auf mehrfache Weise die eigene Beschaffenheit (svalaksanam) der Gruppen verkündet. Er hat die Beschaffenheit des Entstehens, die Beschaffenheit des Vergehens, das Aufgeben und das Verstehen verkündet. Ebenso wie die Gruppen hat er die Bereiche, das abhängige Entstehen und die Nahrungen (ähäräh) verkündet. Der Erhabene hat auf mehrfache Weise die eigene Beschaffenheit der Wahrheiten verkündet. Er hat das Verstehen, das Vermeiden, das Verwirklichen und das Üben verkündet. Der Erhabene hat auf mehrfache Weise die eigene Beschaffenheit der Elemente verkündet. Er hat die Mannigfaltigkeit der Elemente, die Vielfältigkeit der Elemente, das Aufgeben und das Verstehen verkündet ... Und doch hat der Erhabene verkündet, daß alle Gegebenheiten wesenlos sind, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind. In welcher geheimen Absicht hat der Erhabene verkündet, daß alle Gegebenheiten wesenlos sind, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind? Nach dieser Sache frage ich den Erhabenen, in welcher geheimen Absicht der Erhabene verkündet hat, daß alle Gegebenheiten wesenlos sind, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind."
2 Als er das gesagt hatte, sprach der Erhabene zum Bodhisattva Paramärthasamudgata folgendes: „Paramärthasamudgata, deine Überlegung ist gut und ist richtig zustande gekommen. Vortrefflich, vortrefflich! Paramärthasamudgata, zum Heile vieler Menschen, zum Wohle vieler Menschen, aus Mitleid mit der Welt, zum Nutzen, zum Heile und zum Wohle der Geschöpfe samt den Göttern und Menschen fragst du den Vollendeten nach dieser Sache. Auch das ist vortrefflich. Höre also, Paramärthasamudgata, ich will dir darlegen, in welcher geheimen Absicht ich verkündet habe, daß alle Gegebenheiten wesenlos sind, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind.
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3 Paramärthasamudgata, im Hinblick auf die dreifache Wesenlosigkeit (nihsvabhävatä) der Gegebenheiten habe ich verkündet, daß alle Gegebenheiten wesenlos sind, nämlich im Hinblick auf die Wesenlosigkeit der Beschaffenheit nach (laksananihsvabhävatä), auf die Wesenlosigkeit dem Entstehen nach (;utpattinihsvabhävatä) und auf die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach iparamärthanihsvabhävata). 4 Welches ist dabei, Paramärthasamudgata, die Wesenlosigkeit der Gegebenheiten der Beschaffenheit nach? Es ist die vorgestellte Beschaffenheit. Aus welchem Grunde? Weil diese ihrer Beschaffenheit nach auf Namen und Vereinbarung beruht und nicht auf einer eigenen Beschaffenheit (svalaksanam) beruht, darum heißt sie Wesenlosigkeit der Beschaffenheit nach. 5 Welches ist, Paramärthasamudgata, die Wesenlosigkeit der Gegebenheiten dem Entstehen nach? Es ist die abhängige Beschaffenheit der Gegebenheiten. Aus welchem Grund? Weil diese durch die Kraft fremder Ursachen entsteht, und nicht aus sich selbst, darum heißt sie Wesenlosigkeit dem Entstehen nach. 6 Welches ist, Paramärthasamudgata, die Wesenlosigkeit der Gegebenheiten der höchsten Wahrheit nach? Die abhängig entstandenen Gegebenheiten, welche durch die Wesenlosigkeit dem Entstehen nach wesenlos sind, sind auch durch die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach wesenlos. Aus welchem Grund? Was bei den Gegebenheiten Anhaltspunkt (älambanam) der Reinigung ist1, das habe ich als die höchste Wahrheit verkündet. Die abhängige Beschaffenheit ist nicht Anhaltspunkt der Reinigung, daher heißt sie Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach. Ferner heißt die vollkommene Beschaffenheit der Gegebenheiten ebenfalls Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach. Aus welchem Grund? Bei den Gegebenheiten wird die Ichlosigkeit der Gegebenheiten (dharmanairätmyam) als ihre Wesenlosigkeit bezeichnet. Und sie ist die höchste Wahrheit. Weil also die höchste Wahrheit aus der Wesenlosigkeit aller Gegebenheiten entspringt, heißt sie Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach.
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D. h. worauf sich der Läuterungsprozeß der Erlösung erstreckt.
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Wie eine Ätherblume , Paramärthasamudgata, so ist die Wesenlosigkeit der Beschaffenheit nach anzusehen. Wie ein Zaubertrug, so ist die Wesenlosigkeit dem Entstehen nach anzusehen und ein Teil der Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach anzusehen. Und wie der Raum, der aus der bloßen Wesenlosigkeit (= dem Nichtvorhandensein) der Materie hervorgeht und sich überallhin erstreckt, so ist ein Teil der Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach anzusehen, insofern sie aus der Ichlosigkeit der Gegebenheiten hervorgeht und sich überallhin erstreckt. 8 Im Hinblick auf diese dreifache Wesenlosigkeit, Paramärthasamudgata, habe ich verkündet, daß alle Gegebenheiten wesenlos sind. Dabei habe ich im Hinblick auf die Wesenlosigkeit der Beschaffenheit nach verkündet, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind. Aus welchem Grund? Weil das, was der eigenen Beschaffenheit nach nicht ist, auch nicht entstanden ist. Was aber nicht entstanden ist, das ist nicht vergangen. Was nicht entstanden und nicht vergangen ist, das ist von Anfang an friedvoll. Was von Anfang an friedvoll ist, das ist von Natur aus vollkommen erloschen. Was von Natur aus vollkommen erloschen ist, bei dem gibt es nichts, was noch zum vollkommenen Erlöschen zu bringen wäre. Daher habe ich im Hinblick auf die Wesenlosigkeit der Beschaffenheit nach verkündet, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind.
9 Ferner habe ich, Paramärthasamudgata, im Hinblick auf die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach, welche aus der Ichlosigkeit der Gegebenheiten entspringt, verkündet, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind. Aus welchem Grund? Weil die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach, welche aus der Ichlosigkeit der Gegebenheiten entspringt, beständig und dauernd gegeben ist. Als Wesen der Gegebenheiten (dharmadharmatä) ist sie außerdem nicht verursacht und von den Lastern vollkommen frei. Was aber beständig und dauernd als Wesen der Gegebenheiten gegeben und nicht verursacht ist, das ist, weil es nicht verursacht ist, auch nicht entstanden und nicht vergangen. Und weil es von allen Lastern frei ist, ist es auch von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen. Daher habe ich im Hinblick auf die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach, welche aus der Ichlosigkeit der Gegebenheiten ent-
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Das beliebteste indische Beispiel für etwas vollkommen Unwirkliches ist eine Ätherblume, d. h. eine Blume, die im leeren Raum aus dem Nichts hervorwächst.
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springt, verkündet, daß alle Gegebenheiten nicht entstanden, nicht vergangen, von Anfang an friedvoll und von Natur aus vollkommen erloschen sind.
10 Ich habe, Paramärthasamudgata, die dreifache Wesenlosigkeit nicht verkündet, weil die Lebewesen in der Sphäre der Lebewesen das vorgestellte Wesen seinem Wesen nach als etwas Verschiedenes ansehen, und weil sie das abhängige Wesen und das vollkommene Wesen seinem Wesen nach als etwas Verschiedenes ansehen. Die Lebewesen schreiben vielmehr dem abhängigen und dem vollkommenen Wesen das vorgestellte Wesen zu und benennen daher nach dem Sprachgebrauch (vyavahärah) das abhängige und vollkommene Wesen nach der Beschaffenheit des vorgestellten Wesens. Wie sie nun diese nach dem Sprachgebrauch benennen, so wird der Geist von diesen Benennungen nach dem Sprachgebrauch durchtränkt. Und durch die Verbindung mit den Benennungen nach dem Sprachgebrauch und durch die Eindrücke (anusayäh) der Benennungen nach dem Sprachgebrauch klammern sie sich beim abhängigen und vollkommenen Wesen an die Beschaffenheit des vorgestellten Wesens. Wie sie sich nun daran klammern, so wird aus diesem Grund und dieser Ursache, daß sie sich nämlich beim abhängigen und vollkommenen Wesen an das vorgestellte Wesen klammern, in der Zukunft (wieder) ein abhängiges Wesen hervorgerufen. Und dieses bildet die Grundlage, daß sie von der Besudelung der Laster besudelt werden, daß sie von der Besudelung der Werke und von der Besudelung der Geburt besudelt werden, und daß sie lange Zeit entweder unter den Höllenwesen, unter den Tieren, unter den Gespenstern, unter den Göttern, unter den Dämonen oder unter den Menschen wandernd im Wesenskreislauf umherirren, weil sie aus dem Wesenskreislauf nicht herausgelangen." Es folgt eine lange Schilderung, wie die Lebewesen durch die Lehre von der dreifachen Wesenlosigkeit der Gegebenheiten zur Erlösung gelangen. Sie schließt mit den Worten: 24 Darauf sprach der Erhabene zu dieser Zeit folgende Strophen: „Die Gegebenheiten sind wesenlos, die Gegebenheiten sind nicht entstanden, die Gegebenheiten sind nicht vergangen, die Gegebenheiten sind von Anfang an friedvoll, alle Gegebenheiten sind von Natur aus erloschen: Welcher Verständige möchte ohne geheime Absicht so sprechen? Die Wesenlosigkeit der Beschaffenheit nach, die Wesenlosigkeit dem Entstehen nach und die Wesenlosigkeit der höchsten Wahrheit nach, das habe ich verkündet. Der Verständige, der dabei die geheime Absicht erkennt, der geht nicht den Weg des Verderbens. Dies ist der eine Weg der Läuterung. Es gibt nur eine Läuterung, eine zweite gibt es nicht. Daher verkünde ich dieses eine Fahrzeug. Doch ist damit nicht gesagt, daß es nicht Lebewesen von verschiedenem Stamm (gotram) gibt.
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Die Lebewesen, welche in dieser Sphäre der Lebewesen für sich allein das Nirväna erlangen, sind unzählig. Diejenigen jedoch, welche, trotzdem sie erloschen sind, fest und mitleidsvoll die Lebewesen nicht verlassen, sind schwer zu finden. Die unbefleckte Sphäre der Erlösten ist fein, dem Denken nicht faßbar, gleich und unterschiedslos. Sie ist das Zuteilwerden aller Wünsche, das Abtun des Leides und der Laster. Sie ist ohne Zweiheit, unausdrückbar, der dauernde Schatz." Zum Abschluß ergreift der Bodhisattva Paramärthasamudgata das Wort und faßt die Lehre, so wie er sie verstanden hat, nochmals zusammen.
Maitreyanatha ( u m 300 n. u. Z.) Wir haben bisher die Anfange der Yogäcära-Schule besprochen. Dabei haben wir auf die überreich entwickelte Erlösungsscholastik hingewiesen. Wir haben daneben aber auch wertvolle philosophische Gedankengänge kennengelernt. Und zwar zeigten diese manche Berührungen mit den Anfängen der Madhyamaka-Schule, enthielten aber darüber hinaus vieles bedeutende Neue. Trotzdem handelt es sich dabei nur um Ansätze philosophischer Gedankenbildung, die hinter der Erlösungstheorie und Praxis vollkommen zurücktreten. Von einem philosophischen System läßt sich dabei auf keinen Fall sprechen. Das wurde, ähnlich wie bei der Madhyamaka-Schule, erst durch das Wirken einer bedeutenden Persönlichkeit geschaffen, und zwar scheint diese Persönlichkeit hier Maitreyanatha gewesen zu sein. Die Überlieferung berichtet, daß das Schulhaupt der Yogäcära-Schule, Asanga, Belehrungen vom Bodhisattva Maitreya im Tusita-Himmel empfangen habe und daß ihm dieser auch verschiedene Werke geoffenbart habe. Ahnliche Überlieferungen finden sich öfter. Im vorliegenden Falle ist es aber auffallend, daß die auf Maitreya zurückgeführten Werke keine Sütren sind, wie man erwarten würde, sondern philosophische Werke wie andere auch. Asanga kann aber nicht der Verfasser dieser Werke sein, denn die darin vorgetragenen Lehren zeigen eine klar ausgeprägte Eigenart und unterscheiden sie deutlich von den eigenen Werken Asañgas. Wir sind daher berechtigt, in ihrem Verfasser eine historische, von Asanga verschiedene Persönlichkeit zu sehen, die wahrscheinlich mit einer mehrfach überlieferten Namensform Maitreyanätha hieß, und in der erst eine spätere Zeit den bekannten Bodhisattva sah. Die meistgenannten Werke Maitreyanäthas sind der Abhisamayälamkärah („Der Schmuck des Erschauens"), der Mahäyänasüträlamkärah („Der Schmuck der Sütren des Mahäyäna") und der Madhyäntavibhägah („Erläuterung der Mitte und der Extreme"). Als Alamkärah („Schmuck") bezeichneten die Buddhisten Werke, die, größtenteils in Versen geschrieben, in losem Anschluß
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an maßgebende Texte Erklärungen und Ergänzungen dazu brachten. Solche Alamkäras sind die ersten beiden der obengenannten Werke, und zwar sucht der Abhisamayälamkärah den Erlösungsweg, wie ihn die Paficavimsatisähasrikä Prajfiäpäramitä („Die Vollkommenheit der Einsicht in fiinfundzwanzigtausend Verszeilen"; s. oben S. 92f.) schildert, systematisch und übersichtlich zusammenzufassen, während der Mahäyänasüträlamkärah im engen Anschluß an die Gliederung der Bodhisattvabhümih („Die Stufe des Bodhisattva"; s. oben S. 173) im übrigen aber mit großer Freiheit die darin behandelten Gegenstände bespricht. Beide Werke stellen also Versuche dar, in den Wust der älteren Erlösungsscholastik Ordnung zu bringen. Allerdings ist dieser Versuch nur in beschränktem Maße gelungen. Maitreyanätha hat die unübersehbaren und vielfach widerstrebenden Stoffmassen nur teilweise zu einer Einheit verschmolzen. Größtenteils hat er sie nur nach einer äußeren Einteilung eingeordnet und dabei die Gedanken klarer geformt. Von ähnlicher Art ist auch das dritte Werk, der Madhyäntavibhägah, wenn es sich auch nicht wie die beiden Alamkäras äußerlich an einen älteren Text anlehnt. Auch in ihm werden wichtige Gegenstände der Lehre in der Weise behandelt, daß die überlieferten Anschauungen in das Schema einer äußeren Einteilung eingeordnet werden, ohne daß eine wirkliche Einheit erreicht wird. Neben diesen unvollkommenen Versuchen, die überlieferten Massen der Erlösungsscholastik zu bewältigen, hat aber Maitreyanätha auch klare philosophische Anschauungen, ja ein wirkliches philosophisches System entwickelt. Denn wenn philosophische Anschauungen in seinen Werken, die sich ja im wesentlichen mit der Erlösungsscholastik beschäftigen, auch nur gelegentlich und in einzelnen zusammenhanglosen Abschnitten zur Sprache kommen, so zeigt sich doch, daß immer dieselben Vorstellungen zugrunde liegen, die sich ungezwungen miteinander verbinden und zu einem großen Ganzen zusammenschließen. Und dieses Ganze dürfen wir als Lehre Maitreyanäthas und als das erste philosophische System der Yogäcära-Schule betrachten. Im großen gesehen ist die Lehre Maitreyanäthas ein kunstvolles Gebäude, in dem die verschiedensten älteren Lehren mit wertvollen eigenen Gedanken zu einer Einheit verschmolzen sind. Einen wesentlichen Bestandteil bildet Säramatis Lehre vom höchsten Sein, zusammen mit seiner Buddhologie. Dazu kommen die philosophischen Anschauungen der älteren Yogäcära-Schule, vor allem die Lehre von den drei Beschaffenheiten, ergänzt und bereichert durch eigene Gedanken Maitreyanäthas. Schließlich ist auch allerlei der Madhyamaka-Schule entnommen. Insbesondere bemüht sich Maitreyanätha immer wieder, seinen Sätzen die Form der mittleren Lehre zu geben und so seine Lehre als den wahren mittleren Weg an die Stelle der Madhyamaka-Lehre zu setzen. Im Mittelpunkt seines Systems steht das höchste Sein, das er meist Element der Gegebenheiten (dharmadhätuh), seltener Soheit (tathatä) nennt. Von Leerheit (sünyatä) spricht er nur im Anschluß an die Madhyamaka-Lehre. Dieses höchste Sein ist das einzige in der Welt, was wirklich existiert, und bildet auch die Grundlage des Truges der Erscheinungswelt. Selbst ist es unausdrückbar (anabhiläpyah) und ohne Vielfalt (aprapancätmakah). Zu diesen Anschauungen, welche auch der Madhyamaka-Schule gemeinsam sind, kommen nun
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die grundlegenden Lehren Säramatis hinzu, in erster Linie die Lehre vom reinen Geist. Wie fur Säramati ist auch für Maitreyanätha das höchste Sein Geist (cittam) und hell leuchtend (prabhäsvarah). Vor allem aber ist es von Natur aus rein (prakrtivisuddhah) wie Wasser, Gold oder der Raum. Alle Besudelung, welche der Trug der Erscheinungswelt mit sich bringt, ist nur äußerlich (ägantukah) und kann sein Wesen nicht berühren. Und daher wird es auch durch die Läuterung von der Besudelung in seinem Wesen nicht verändert. Trotzdem sind seine Besudelung und Läuterung von grundlegender Wichtigkeit. Denn auf ihnen beruhen Bindung und Erlösung und überhaupt der ganze Trug der Erscheinungswelt. Die Erscheinungswelt umfaßt sämtliche Gegebenheiten (dharmäh). Diese beruhen nach Maitreyanätha auf dem höchsten Sein und können getrennt nicht bestehen. Das höchste Sein bildet vielmehr das Wesen der Gegebenheiten (dharmatä). Und zwar ist ihr Verhältnis so, daß sie weder verschieden noch nichtverschieden sind. Der Charakter der Erscheinungswelt selbst läßt sich am besten nach Madhyamaka-Art durch den Vergleich mit einem Zaubertrug (mäyä) erläutern. Wie ein solcher auf irgendeiner Grundlage etwas vortäuscht, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, so steht es auch mit der Erscheinungswelt. Diese ist daher unwirklich im Hinblick auf das, was sie vortäuscht, aber wirklich als Schein. Man kann sie infolgedessen weder als seiend noch als nichtseiend bezeichnen, sondern sie ist ein Sein und Nichtsein zugleich. Andere Vergleiche, die ihr Wesen erläutern, sind die Täuschung, welche ein gutes Gemälde hervorbringt, oder der Traum. Zur Erklärung des Truges der Erscheinungswelt sagt Maitreyanätha, wie schon die ältere Yogäcära-Schule, daß sie Vorstellung ist, d. h. eine Schöpfung unseres Erkennens. Damit begnügt er sich aber nicht, sondern geht bedeutend weiter, und hier entwickelt er seine wertvollsten eigenen Gedanken. Bisher hatte man nicht gefragt, wer der Träger der Vorstellung ist und wie sie zustande kommt. Maitreyanätha tat es. In den Mittelpunkt stellte er dabei den Begriff der unwirklichen Vorstellung (abhütaparikalpah), d. h. eines Erkennens, das etwas Unwirkliches vorstellt. Diese unwirkliche Vorstellung ist für ihn die Grundlage der gesamten Erscheinungswelt. Sie kommt folgendermaßen zustande. Das höchste Sein ist, wie bereits gesagt, selbst Geist und wohnt als Same oder Element (dhätuh) allen Lebewesen inne. Aus diesem Element geht die unwirkliche Vorstellung hervor. Sie zeigt dabei das Bild der verschiedenen Dinge der Erscheinungswelt. Es ist nämlich eine bei den buddhistischen Schulen sehr verbreitete Anschauung, daß die Erkenntnis eines Dinges dadurch zustande kommt, daß der Geist seine Form annimmt. So spiegelt also auch die unwirkliche Vorstellung die verschiedenen Dinge der Erscheinungswelt. Nur entsprechen diesen Spiegelbildern der Vorstellung keine wirklichen Dinge. Vielmehr sind alle Gegebenheiten nur solche Spiegelbilder. Wirkliche Dinge außerhalb des Erkennens gibt es überhaupt nicht. Die unwirkliche Vorstellung spiegelt aber nicht nur die Objekte der scheinbaren Außenwelt, sie spiegelt auch das Subjekt. Sie zeigt, wie Maitreyanätha es ausdrückt, sowohl das Erfaßte, wie auch den Erfassenden (grähakah). Es ist also eines ihrer charakteristischsten Merkmale, daß sie beständig eine Zwei-
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heit (dvayam) vortäuscht. Gelegentlich macht Maitreyanätha den Versuch, diese Zweiheit weiter zu gliedern. So sagt er, daß die Vorstellung einerseits Gegenstände und Lebewesen, andererseits Ich und Erkennen spiegelt. An anderen Stellen heißt es jedoch, daß sie einerseits als Worte, Gegenstände und Körper erscheint, andererseits als Denken (manah), Auffassung (udgrahah) und Vorstellung (vikalpah). Feste Anschauungen scheint er sich also in dieser Hinsicht nicht gebildet zu haben. Lückenhaft sind seine Anschauungen auch hinsichtlich der Beschaffenheit des psychischen Organismus. Während er nämlich meist nur von der unwirklichen Vorstellung spricht, unterscheidet er gelegentlich, wie die meisten buddhistischen Schulen, zwischen Geist (cittam) und geistigen Gegebenheiten (caittäh). Er führt dies aber nicht weiter aus. Bemerkenswert ist jedoch, daß er gelegentlich ausdrücklich sagt, daß die Laster (klesäh), welche gewöhnlich als geistige Gegebenheiten gelten, bloße Erscheinungsformen des Geistes sind. Alle diese Anschauungen über die Erscheinungswelt und das höchste Sein kleidet Maitreyanätha auch in die Form der Lehre von den drei Beschaffenheiten, wie wir sie im Samdhinirmocanasütram kennengelernt haben. Danach sind die Erscheinungsbilder, welche sich als Zweiheit in der Vorstellung spiegeln, das vorgestellte Merkmal. Die unwirkliche Vorstellung selbst, welche diese Bilder zeigt, ist das abhängige Merkmal. Das Fehlen der Zweiheit schließlich, also das der unwirklichen Vorstellung zugrunde liegende höchste Sein in seiner reinen Form, ist das vollkommene Merkmal. Dabei ist aber deutlich spürbar, daß die Übernahme dieser Lehre von den drei Beschaffenheiten für Maitreyanätha nur ein Zugeständnis an die Überlieferung der Schule ist, ohne daß sie seine eigenen Gedankengänge in irgendeiner Weise befruchtend beeinflußt. Was die Erlösungslehre betrifft, so hat sich Maitreyanätha ausführlich mit der überlieferten Erlösungsscholastik der Yogäcära-Schule auseinandergesetzt. Er hat daneben aber auch klare eigene Anschauungen über die entscheidenden geistigen Vorgänge bei der Erlösung entwickelt, und diese Anschauungen haben auch philosophische Bedeutung. Danach erfolgt die Erlösung, nachdem der Bodhisattva sich das nötige Verdienst und Wissen erworben und vor allem die Mahäyäna-Lehre gehört und richtig aufgefaßt hat, im Zustand der Versenkung durch das vorstellungsfreie Wissen (nirvikalpakam jüänam). Dabei erkennt er zunächst, daß alle Gegenstände des Erkennens von Worten begleitet und durch Worte bedingt sind, und daher nicht wirklich sein können. Daraus ergibt sich als nächstes die Erkenntnis, daß auch das Erkennen nicht wirklich sein kann, weil es ohne Gegenstand kein Erkennen gibt. Und nachdem er so die Unwirklichkeit von Objekt und Subjekt erkannt hat, sammelt sich der Geist in dem ihm zugrundeliegenden Element des höchsten Seins (cittasya svadhätau sthänam), alle Zweiheit der Vorstellung schwindet und das Element der Gegebenheiten selbst wird geschaut. Das ist das sogenannte vorstellungsfreie Wissen. Wichtig ist dabei noch besonders, daß dadurch auch die Gleichheit (samatä) des Elements der Gegebenheiten in allen Lebewesen erkannt wird. An dieses vorstellungsfreie Wissen, das im Zustand der Versenkung gewonnen wird, schließt sich ferner als Ergebnis ein weiteres Wissen an (prsthalabdhajnänam), welches
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auch im gewöhnlichen Bewußtseinszustand bleibt. Und während jenes die eigene Erlösung bringt, ermöglicht dieses die Belehrung und dadurch die Erlösung anderer Wesen. Die Erlösung selbst besteht darin, daß durch das vorstellungsfreie Wissen die Besudelung, welche die Verstrickung in den Wesenskreislauf bedingt, beseitigt wird, so daß das Element der Gegebenheiten, welches allen Lebewesen innewohnt, zu seiner natürlichen Reinheit gelangt. Dieser Vorgang wird Umgestaltung der Grundlage (äsrayaparävrttih) genannt. Er ist kein einmaliger Vorgang, sondern vollzieht sich stufenweise in langen Zeiträumen. Maitreyanätha verknüpft ihn, wie überhaupt die ganzen Vorgänge, die zur Erlösung führen, mit den zahlreichen Stufen des Erlösungsweges, den die alte Erlösungsscholastik ausgearbeitet hatte. Aber dieses komplizierte Schema ist philosophisch bedeutungslos und kann hier unberücksichtigt bleiben. Mit der letzten und endgültigen Umgestaltung der Grundlage ist die Erlösung gewonnen und gleichzeitig, dem Ziel des Mahäyäna entsprechend, die Allwissenheit und das Buddhatum. Die Lehre vom Zustand des Erlösten verbindet sich daher für Maitreyanätha mit der Buddhologie. Da die Erlösung in der Läuterung des Elementes der Gegebenheiten, das allen Lebewesen innewohnt, von der äußerlichen Besudelung des irdischen Daseins besteht, gehört der Erlöste dem reinen höchsten Sein an. Damit kehrt unsere Darstellung zu dem Punkt zurück, von dem sie ausgegangen ist. Aber vom Standpunkt der Buddhologie treten beim höchsten Sein andere Züge hervor, als wir sie zuerst besprochen haben. Als Buddhatum erscheint es nicht als helleuchtender Geist, sondern ähnlich einer Weltseele, die wirkend alles durchdringt. Es ist ewig und allgegenwärtig, und sein Wirken ist ununterbrochen und allumfassend. Wenn es mit seinem Wirken nicht überall in Erscheinung tritt, so beruht dies auf der Verderbtheit der Wesen. Ferner ist sein Wirken mannigfaltig und unerschöpflich, gleich einem Licht, das strahlt, ohne sich zu erschöpfen. Bemerkenswert ist dabei, daß sein Wirken ohne Bemühung (yatnah), ohne Streben (äbhogah) und ohne Ichsucht stattfindet, also ohne alles, was eine Bindung bedeuten könnte. Eine besondere Frage stellt es dar, wie mit dem Buddhatum, das sich nur auf das höchste Sein gründet, die Persönlichkeit und die Vielzahl der Buddha zu vereinbaren ist. Hierbei bekennt sich Maitreyanätha einerseits zur folgerichtigen Auffassung, daß im Hinblick auf die Einheit des fleckenlosen Elementes der Gegebenheiten keine Vielheit möglich ist, und daß nur mit Rücksicht auf die frühere Verkörperung von einer Vielheit gesprochen werden kann. Andererseits rechnet er doch praktisch mit der Vielheit der Buddha und erläutert ihr Zusammenwirken durch den Vergleich mit dem Zusammenwirken der Sonnenstrahlen. Ebenso erläutert er die Wichtigkeit dieses Zusammenwirkens durch den Vergleich mit Flüssen, die als Wohnstätte für Lebewesen erst dann voll zur Geltung kommen, wenn sie ihr Wasser im Meer vereinigen. Maitreyanätha erwähnt auch mehrfach die guten oder weißen Eigenschaften, welche nach alter Lehre den Buddha kennzeichnen und ihm eigentümlich sind. Schließlich ist noch zu bemerken, daß er auch die im Mahäyäna so verbreitete Lehre von den drei Körpern des Buddha kennt, die
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aber mehr theologisches als philosophisches Interesse hat und daher hier unberücksichtigt bleiben kann. Das ist in den Grundzügen die Lehre Maitreyanäthas. Als wesentlicher Zug kommt endlich noch hinzu, daß er damit die Anschauungen der MadhyamakaSchule soweit wie möglich zu verschmelzen und dadurch die MadhyamakaLehre zu ersetzen und zu verdrängen sucht. Er tut dies, indem er, wo sich Gelegenheit bietet, Begriffe des Madhyamaka-Systems übernimmt und einarbeitet, indem er ζ. B. trotz allen Unterschieden der Auffassung sein höchstes Sein mit der Leerheit (sünyatä) gleichsetzt, vor allem aber, indem er seiner Lehre die Form des mittleren Weges zu geben sucht. Dabei lehnt er die jeweiligen Extreme nicht, wie es die Madhyamaka-Schule ursprünglich tut, grundsätzlich ab, weil beide in keiner Weise zutreffen, sondern er lehnt ihre einseitige Bejahung ab, weil immer in gewissem Sinn auch das Gegenteil zutrifft, also auf Grund einer relativen Auffassung. Eine solche mittlere Auffassung durch Verneinung zweier Extreme bringt er in seiner Lehre bei jeder sich bietenden Gelegenheit bei den verschiedensten Begriffen an. Den systematischsten Versuch dieser Durchfuhrung des mittleren Weges enthält jedoch das unten übersetzte 1. Kapitel des Madhyäntavibhägah, das als gutes Beispiel dieser ganzen Betrachtungsweise dienen kann und auf das daher verwiesen sein mag. Von den folgenden Übersetzungsproben ist die erste aus dem Mahäyänasüträlamkärah genommen. Ich habe dabei Verse aus verschiedenen Kapiteln des Werkes ausgehoben und sinngemäß angeordnet, um die wichtigsten Lehrsätze zu erläutern. Eine Übersetzung zusammenhängender Abschnitte kam nicht in Betracht, da Maitreyanätha selbst keine zusammenhängende Darstellung gibt und zu viel philosophisch Unbedeutendes eingeflochten ist. Von einer durchlaufenden eingehenderen Erklärung konnte ich absehen und nur einzelne Punkte, bei denen es mir notwendig schien, erläutern, da das meiste nach der vorhergehenden Darstellung wohl ohne Schwierigkeit verständlich ist. Die erste Versreihe (XIII, v. 16-19) handelt vom Wesen der Erscheinungswelt und der höchsten Wirklichkeit. Die Erscheinungswelt wird wahrgenommen, obwohl sie in Wirklichkeit nicht ist. Das wird am Beispiel eines Zaubertruges und an der Täuschung, welche ein gutes Gemälde hervorruft, erläutert. Die höchste Wirklichkeit wird geläutert, obwohl sie in Wirklichkeit nicht besudelt ist. Als Beispiel dient der Raum und klares, nur äußerlich getrübtes Wasser. Die zweite Versreihe (XI, v. 13-23) beginnt mit einer knappen Schilderung des Wesens der höchsten Wirklichkeit. Dabei bezieht sich die Aussage, daß sie erkannt, aufgegeben und geläutert werden muß, auf die Lehre von der dreifachen Beschaffenheit und ist auf Grund des übersetzten Abschnittes aus dem Samdhinirmocanasütram (VI, 11, oben S. 187) ohne weiteres verständlich. Dann wird das Zustandekommen der Täuschung der Erscheinungswelt durch das Beispiel eines Zaubertruges erläutert. Hierbei spielen die letzten beiden Verse (v. 17-18) auf die übernatürliche Macht an, die der Asket im Anschluß an die erlösende Erkenntnis über die Erscheinungswelt gewinnt, sobald mit der Läuterung des Elementes der Gegebenheiten die sogenannte Umgestaltung der Grundlage
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(äsrayaparävrttih) eintritt. Zur Erläuterung wird darauf verwiesen, daß auch die Menschen, welche von einem Zaubertrug getäuscht waren, nach dem Schwinden der Täuschung mit deren Anlaß nach Belieben zu verfahren vermögen. Der Zauberer ruft nämlich die Täuschung nicht aus dem Nichts hervor, sondern nimmt irgendeinen wirklichen Gegenstand, ζ. B. ein Stück Holz zum Anlaß und läßt es nur in anderer Gestalt, etwa als Elefant erscheinen. Anschließend wendet Maitreyanätha noch die Betrachtungsweise der mittleren Lehre auf diese Auffassung der Erscheinungswelt an. Ein Zaubertrug ist wohl als Schein vorhanden, aber nicht als wirkliches Ding. Man darf daher weder einseitig behaupten, daß er ist, noch, daß er nicht ist. Und das gleiche gilt für die Erscheinungswelt. Die nächste Versreihe (XI, v. 31-35) beschäftigt sich mit der Vorstellung und ihrem Zustandekommen. Zunächst wird der gesamte Bereich der Erscheinungswelt, die ja nichts als Vorstellung ist, folgendermaßen eingeteilt: in unwirkliche Vorstellung, womit die gewöhnlichen Erkenntnisvorgänge gemeint sind, in weder wirkliche noch unwirkliche Vorstellung, worunter die Erkenntnisvorgänge zu verstehen sind, welche die erlösende Erkenntnis vorbereiten, in die Nichtvorstellung, d. h. in das vorstellungsfreie Wissen (nirvikalpakam jnänam), welches die Erlösung bringt, und schließlich in das sich daraus ergebende, dem gewöhnlichen Bewußtseinszustand angehörige Wissen, das weder als Vorstellung noch als Nichtvorstellung anzusehen ist. Die gewöhnlichen Vorstellungen gehen aus ihrem Element hervor, d. h. aus dem Element der Gegebenheiten, das als Keim allen Lebewesen innewohnt. Sie zeigen das Bild der Zweiheit ohne eine wirkliche Zweiheit zu enthalten. Werden sie dem höchsten ihnen zugänglichen Objekt zugewendet, indem man sie auf ihr Element richtet, so schwindet das Bild der Zweiheit, sie verlieren also den Charakter der Vorstellung. Erläutert wird dies durch das Beispiel von Leder, das bei entsprechender Behandlung die Härte verliert und weich wird, oder durch das Beispiel eines gekrümmten Stabes, der unter dem Einfluß von Hitze gerade wird. Außerdem werden die guten und schlechten geistigen Gegebenheiten erwähnt, vor allem die Laster, von denen gesagt wird, daß sie keine eigenen Gegebenheiten, sondern nur Erscheinungsformen des Geistes sind. Den Gegenstand der nächsten drei Verse (XI, v. 39-41) bildet die Lehre vom dreifachen Wesen der Dinge, und zwar geben sie eine kurze Bestimmung dieses dreifachen Wesens im Sinne Maitreyanäthas. Die vorgestellte Beschaffenheit ist demnach das Vorstellungsbild, in dem sich Gegenstand und Name gegenseitig bedingen. Die abhängige Beschaffenheit ist die unwirkliche Vorstellung, welche das doppelte Bild des Objekts und Subjekts zeigt, wobei jedes dieser beiden dreifach gegliedert erscheint, das Objekt in Namen, Gegenstand und Körper, das Subjekt in Denken, Auffassen und Vorstellung. Die vollkommene Beschaffenheit schließlich, deren Wesen im Fehlen der Zweiheit von Objekt und Subjekt besteht, wird hier im Sinne der mittleren Lehre bestimmt (vgl. dazu den unten übersetzten Abschnitt aus dem Madhyäntavibhägah). Sie ist Nichtsein, da jene Zweiheit nicht vorhanden ist, und sie ist Sein, da dieses Nichtsein ist. Sie vereinigt also in sich Sein und Nichtsein. Sie ist ferner nicht friedvoll, da sie durch äußerliche Befleckung besudelt ist, und sie ist friedvoll, da sie von Natur aus rein ist. Schließlich fehlt ihr, trotz ihrer Geistigkeit, das Wesen der Vorstellung.
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Die nächste Versreihe bildet das 6. Kapitel des Mahäyänasüträlamkärah. Ich gebe dieses kurze Kapitel vollständig, weil es dem oben auszugsweise übersetzten Abschnitt der Bodhisattvabhümih entspricht und zeigt, wie Maitreyanätha sich nur äußerlich an dieses Werk anschließt und in den darangeknüpften Bemerkungen ganz frei seine eigenen Gedanken ausspricht. Außerdem gibt das Kapitel in knappen Worten eine gute Zusammenfassung der wesentlichen Züge des Erlösungsvorganges nach der Auffassung Maitreyanäthas. Die ersten fünf Verse lehnen sich stark an Madhyamaka-Gedankengänge an. Zunächst wird eine Definition der höchsten Wirklichkeit gegeben, welche ganz in der Art der Prajfiäpäramitä-Texte gehalten ist. Nur die Aussage, daß die höchste Wirklichkeit nicht geläutert wird und doch geläutert wird, bezieht sich wieder darauf, daß sie von Natur aus rein und nur äußerlich befleckt ist. Dann wird der Glaube an ein Ich als Ursache der Verstrickung in den Wesenskreislauf fast so breit behandelt, wie bei Nägäijuna. Er ist ein bloßer Irrtum, da weder er selbst, noch die fünf Gruppen das Ich sind, und es etwas anderes, was das Ich sein könnte, nicht gibt. Trotzdem vermögen die Menschen unter seinem Einfluß nicht zu erkennen, daß die Dinge leidvoll sind und daher nicht das Ich sein können, und daß alle Dinge, auch die psychischen Gegebenheiten, nur nach dem Gesetz des abhängigen Entstehens voneinander hervorgerufen werden, ohne daß ein wirkendes Ich dahintersteht. Das sind alte Gedankengänge, welche bis in die Texte des Kanon zurückreichen. Dazwischen sind Bemerkungen im Sinn der mittleren Lehre eingestreut. Die Menschen empfinden das Leid, weil sie es fühlen und sie empfinden es nicht, weil sie es nicht verstehen. Sie werden davon gequält, aber auch nicht gequält, weil es ja kein Ich gibt. Denn sie bestehen nur aus Gegebenheiten, aber nicht einmal das trifft zu, weil auch die Gegebenheiten nicht wirklich sind. An den Gedanken, daß der Glaube an ein Ich bloßer Irrtum ist, und daß die Erlösung daher bloß im Schwinden dieses Irrtums besteht, wird dann noch die Lehre angeschlossen, daß Erlösung und Wesenskreislauf in Wirklichkeit ein und dasselbe sind, wenn auch die Erlangung der Erlösung auf dem vom Buddha gewiesenen Weg gelehrt wird. Auch das entspricht der Lehre der Prajfläpäramitä und der Madhyamaka-Schule. Nun folgt (v. 6) die Darstellung des Erlösungsvorganges selbst und damit beginnt Maitreyanätha wieder eigene Anschauungen vorzutragen. Zunächst erwähnt er die vorbereitenden Stufen, die darin bestehen, daß der Bodhisattva den nötigen Vorrat an guten Werken und Wissen erwirbt, und daß er die Mahäyäna-Lehre hört und richtig auffaßt. Der entscheidende Erkenntnisvorgang beginnt damit, daß er sich bewußt wird, daß alle Vorstellungsbilder, somit alle Gegenstände der Erkenntnis, von Worten begleitet und durch Worte bedingt, und daher unwirklich sind. Er kommt dadurch zur Einsicht, daß nichts besteht als die Erkenntnis, welche das Bild der Objekte zeigt, und gelangt anschließend daran, indem er sich von der Zweiheit von Subjekt und Objekt freimacht, zum unmittelbaren Anschauen der höchsten Wirklichkeit. Im einzelnen erfolgt dieser letzte Schritt in der Weise, daß mit dem Wegfall der Objekte auch das Subjekt hinfallig wird. Damit ist die Einsicht in die Unwirklichkeit der Zweiheit gewonnen und die höchste Erkenntnis, welche im unmittelbaren Erschauen der zweiheitslosen höchsten Wirklichkeit besteht, stellt sich ein. Diese
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höchste Erkenntnis bringt es mit sich, daß man die Gleichheit des Elementes der Gegebenheiten erkennt, das in allen Wesen ein und dasselbe ist. Und indem sie alle Befleckungen beseitigt, welche die Verstrickung in den Wesenskreislauf bedingen, fuhrt sie die Erlösung herbei. Der letzte Vers erwähnt als eine Art Zusatz, daß der Bodhisattva auf dieser Stufe auch die Lehre des Buddha als bloße Vorstellung erkennt, der das Element der Gegebenheiten zugrunde liegt, und daß er nunmehr rasch die zahllosen Tugenden erwirbt, die ihn zum Buddha machen. Als letzte Probe aus dem Mahäyänasüträlamkärah folgen mehrere Versgruppen aus dem 9. Kapitel, welches vom Buddhatum handelt. Zunächst (v. 11-12) wird das Buddhatum als die Zuflucht aller Wesen gepriesen und kurz seine Erlangung geschildert. Dabei werden folgende Punkte hervorgehoben: Voraussetzung ist die Beseitigung der beiden Hemmnisse, des Hemmnisses der Laster und des Hemmnisses des zu Wissenden, welche stufenweise in zahlreichen Ausscheidungsvorgängen erfolgt. Das Buddhatum selbst beruht auf der Umgestaltung der Grundlage, welche die Läuterung des Elementes der Gegebenheiten herbeiführt, und ist durch die den Buddhas eigentümlichen Eigenschaften ausgezeichnet, die nach ihrer moralischen Beschaffenheit weiße Gegebenheiten genannt werden. Der Weg dazu ist schließlich das mit Befleckungen nicht behaftete vorstellungsfreie Wissen, das die Allwissenheit mit sich bringt. Die weiteren Versgruppen sind leicht verständlich und bedürfen keiner eingehenden Erläuterung. Sie handeln (v. 15-17) von der Allgegenwärtigkeit des Buddhatums, wobei durch Beispiele erklärt wird, warum es nicht überall in Erscheinung tritt. Dann wird davon gesprochen, daß die Tätigkeiten der Buddha ohne Streben (äbhogah), also ohne innere Bindung (v. 18-19), und daß sie ununterbrochen (v. 20-21) stattfinden. Darauf wird begründet (v. 26), wieso man weder ausschließlich von einer Einheit noch von einer Vielheit der Buddha sprechen kann, wieso also in gewissem Sinne beides zutrifft. Ferner wird durch den Vergleich mit den Sonnenstrahlen die Einheitlichkeit ihres Wirkens erklärt (v. 29-31), das ohne jede Eigensucht ist (v. 32) und das sich auf alles erstreckt, soweit ihm nicht die Verderbtheit der Wesen im Wege steht (v. 33-34). Ein Vers (v. 37) zeigt, daß das Buddhatum als lautere Form des Elementes der Gegebenheiten allen Wesen als Keim innewohnt. Eine weitere Versreihe behandelt wieder das Wirken des Buddha. Sie schildert (v. 51), wie der eine Buddha in den zahllosen Weltensphären eine tausendfache Tätigkeit entfaltet und doch seinem eigentlichen Wesen nach unbewegt verharrt. Sie betont neuerlich (v. 52-53), wie sich das Wirken des Buddha ohne innere Beteiligung und Bemühung vollzieht. Sie erläutert (v. 54) am Beispiel einer Lampe, wie sich das Wesen des Buddha trotz allen Ausstrahlungen nicht erschöpft. Schließlich erklärt sie (v. 55) durch Vergleich mit dem Meer, wie das Element der Gegebenheiten als Sphäre der Buddha trotz dem Zustrom, der sich durch die ständige Läuterung und Erlösung so vieler Wesen ergibt, nicht voll wird und nicht zunimmt. Die letzte Versreihe endlich (v. 82-85) zeigt, und zwar abermals an der Hand eines Beispiels, wie die Tätigkeit der Buddha nur durch ihre Einheit im Buddhatum zur vollen Auswirkung kommt.
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Aus dem „Schmuck der Sütren des Mahäyäna" (Mahäyänasüträlamkärah) Kapitel XIII
16 Die Wahrnehmung, ohne daß Gegebenheiten vorhanden sind, und die Läuterung, ohne daß eine Befleckung besteht, ist gleich einem Zaubertrug usw. und gleich dem Raum aufzufassen. 17 Wie es bei einem regelrecht gemalten Gemälde keine Höhe und Tiefe gibt und sie doch gesehen wird, so gibt es bei der unwirklichen Vorstellung nie und in keiner Weise eine Zweiheit, und sie wird doch gesehen. 18 Wie bei aufgewühltem und dann wieder beruhigtem Wasser die Klarheit nicht anderswoher entsteht, sondern nur eine Entfernung des Schmutzes stattfindet diese gleiche Regel gilt auch bei der Läuterung des eigenen Geistes. 19 Es gilt die Meinung, daß der Geist von Natur aus beständig klar ist und nur durch äußerliche Mängel getrübt wird. Außer dem auf dem Wesen der Gegebenheiten beruhenden Geist (dharmatäcittam) gibt es keinen anderen Geist, dessen Klarheit von Natur aus gelehrt wird. Kapitel XI 13 Die Wirklichkeit ist beständig von der Zweiheit frei, sie ist jedoch Grundlage des Irrtums. Sie kann auf keine Weise ausgedrückt werden und ist ihrem Wesen nach ohne Vielfalt. Sie muß erkannt, aufgegeben und geläutert werden, gilt von Natur aus als fleckenlos, und ihre Läuterung vom Laster gilt als dem Raum, dem Gold und dem Wasser ähnlich. 14 Es gibt nichts in der Welt, was davon verschieden wäre, und doch ist die gesamte Welt darüber im Irrtum befangen. Wieso kommt diese eigentümliche Art von Verblendung der Menschen zustande, die sich an das Nichtseiende klammert und das Seiende vollkommen unberücksichtigt läßt?
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Wie ein Zaubertrug, so wird die unwirkliche Vorstellung (abhütaparikalpah) erklärt. Wie die Wirkung des Zaubertruges, so wird die Täuschung der Zweiheit erklärt. 16 Wie das Nichtvorhandensein des einen im andern, so wird die höchste Wahrheit angenommen. Wie dessen Wahrnehmung jedoch, so (verhält sich) die beschränkte Wahrheit. 17 Wie beim Schwinden des (Zaubertruges) die (wahre) Beschaffenheit seines Anlasses (nimittam) erfaßt wird, so wird bei der Umgestaltung der Grundlage (äsrayaparävrttih) (die wahre Beschaffenheit) der unwirklichen Vorstellung erfaßt.
18 Und wie die Menschen, wenn sie vom Irrtum befreit sind, mit diesem Anlaß nach Belieben verfahren, so steht es in der Macht des Asketen, wenn infolge der Umgestaltung der Irrtum geschwunden ist, nach Belieben zu verfahren. 19 Die betreffende Gestalt ist da, das Sein jedoch ist nicht vorhanden. Daher spricht man bei einem Zaubertrug usw. von Sein und Nichtsein.
20 Dabei ist das Sein kein Nichtsein und das Nichtsein kein Sein. Man behauptet jedoch bei einem Zaubertrug usw. die NichtVerschiedenheit des Seins und Nichtseins.
21 Ebenso ist der Schein der Zweiheit da, das Sein jedoch ist nicht vorhanden. Daher spricht man bei der Form usw. von Sein und Nichtsein.
22 Dabei ist das Sein kein Nichtsein und das Nichtsein kein Sein. Man behauptet jedoch bei der Form usw. die NichtVerschiedenheit des Seins und Nichtseins.
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23 Dies wird angenommen, um die beiden Extreme der Bejahung und Verneinung zurückzuweisen und um den Weg des kleinen Fahrzeugs (Hïnayâna) zurückzuweisen, 31 Als unwirkliche Vorstellung, als weder-wirkliche-noch-unwirkliche, als Nichtvorstellung und als Weder-Vorstellung-noch-Nichtvorstellung wird das gesamte Erkennbare erklärt. 32 Aus ihrem Element (dhätuh) gehen die Vorstellungen hervor, welche das Bild der Zweiheit zeigen, bei ihrem Wirken vom Nichtwissen und den Lastern begleitet sind und von einer wirklichen Zweiheit (dvayadravyam) frei sind. 33 Sie gelangen zu ihrem vorzüglichsten Anhaltspunkt, wenn man sich übt, sie auf ihr Element zu richten. Denn dann erscheinen sie ohne das Bild der Zweiheit, gleich einem Leder oder einem Stab. 34 Es wird angenommen, daß der Geist, welcher das Bild der Zweiheit zeigt, auch das Bild der Begierde usw. und das Bild des Glaubens usw. zeigt. Eine davon verschiedene lasterhafte oder gute Gegebenheit gibt es nicht. 35 Der Geist tritt also in Erscheinung, indem er mannigfaltige Bilder und mannigfaltige Erscheinungsformen zeigt. Das Sein und Nichtsein geht daher das Erscheinungsbild an, und nicht die Gegebenheiten.
39 Das dem Namen und dem Gegenstand entsprechende Erscheinen des Gegenstandes und des Namens, welches das Objekt (nimittam) der unwirklichen Vorstellung ist, das ist die vorgestellte Beschaffenheit. 40 Die unwirkliche Vorstellung, welche durch Erfaßtes und Erfassendes gekennzeichnet ist und ein je dreifaches Bild zeigt, das ist die abhängige Beschaffenheit.
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Nichtsein und Sein, die Gleichheit des Seins und Nichtseins, nichtfriedvoll und friedvoll und NichtVorstellung, das ist die vollkommene Beschaffenheit. Kapitel VI 1 Sie ist nicht seiend und nicht nichtseiend, sie ist nicht so und nicht anders, sie entsteht nicht und vergeht nicht, sie schwindet nicht und wächst nicht, sie wird nicht geläutert und ist doch geläutert - das ist das Merkmal der höchsten Wahrheit.
2 Der Glaube an ein Ich hat selbst nicht das Merkmal des Ichs, ebensowenig die Welt des Leides (duhsamsthitatä), da sie anderer Art ist. Etwas anderes als diese beiden gibt es aber nicht. Daher ist er ein Irrtum. Infolgedessen ist auch die Erlösung das bloße Schwinden dieses Irrtums. 3 Wieso erkennen die Menschen, in einem bloßen Irrtum befangen, nicht die ewige leidvolle Natur (der Dinge)? Sie empfinden sie und sie empfinden sie nicht. Sie werden vom Leid gequält und nicht gequält. Sie bestehen aus den Gegebenheiten und sie bestehen nicht daraus. 4 Wieso glauben die Menschen, wo sie doch das abhängig Entstandene vor Augen haben, daß es durch etwas anderes bewirkt ist? Welche eigentümliche Art von Verblendung ist dies, daß sie das Seiende nicht sehen und das Nichtseiende erblicken. 5 Es gibt hier in Wirklichkeit auch keinerlei Unterschied zwischen der Ruhe (dem Nirväna) und der Geburt. Und doch wird für die Vollbringer guter Werke die Erlangung der Ruhe durch das Schwinden der Geburt gelehrt.
6 Nachdem der Bodhisattva einen unbegrenzten Vorrat an Wissen und Verdienst gesammelt hat, erkennt er, nachdem er über die Lehrtexte durch Nachdenken zu voller Klarheit gelangt ist, daß das Erfassen der Gegenstände vom Sprechen abhängig ist.
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7 Nachdem er die Gegenstände als bloßes Sprechen erkannt hat, verharrt er im bloßen Geist, der ihr Bild zeigt, und das Element der Gegebenheiten wird ihm sichtbar. Dadurch ist er von der Beschaffenheit der Zweiheit befreit.
8 Indem er nämlich durch seinen Verstand erkennt, daß es etwas anderes als den Geist nicht gibt, erkennt er dadurch auch das Nichtvorhandensein des Geistes. Und nachdem er das Nichtvorhandensein der Zweiheit erkannt hat, verharrt der Verständige im Element der Gegebenheiten, welches von ihr nicht berührt wird.
9 Durch die Kraft des vorstellungsfreien Wissens, welches der Gleichheit (samam) überall und immer folgt, wird bei dem Verständigen der dichte Haufen von Fehlern, der sich in ihm gesammelt hat, beseitigt, wie Gift durch ein kräftiges Gegenmittel. 10 Nachdem er über die vom Weisen (dem Buddha) verkündete gute Lehre volle Klarheit gewonnen hat, richtet der Standhafte seinen Geist auf das zugrunde liegende Element der Gegebenheiten. Er erkennt dann, daß die (gesamte) Überlieferung (smrtigatih) bloße Vorstellung ist, und gelangt so rasch ans andere Ufer des Meeres der Tugenden. Kapitel IX 11 Solange die Welt besteht, gilt das Buddhatum als die große Zuflucht aller Wesen, damit sie alles Mißgeschick vermeiden und damit ihnen alles Glück zuteil werde. 12 Dieses Buddhatum, in dem der Same der Hemmnisse der Laster und des zu Wissenden, der (den Wesen) seit unbegrenzter Zeit beständig anhaftet, durch überaus ausgiebige Abstoßungen aller Art verschwunden ist, besteht in einem Anderswerden der Grundlage, welches mit den vorzüglichsten Tugenden, bestehend in weißen Gegebenheiten, verbunden ist. Und zwar wird es erlangt auf dem Wege des Wissens, der frei von Vorstellungen ist, ein überaus großes Bereich hat und vollkommen rein ist.
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In ihm weilend überblickt der Vollendete die Welt, wie wenn er auf einem hohen Berg stünde. Er bemitleidet die Menschen, die an der Ruhe (dem Nirvana) Gefallen finden, wieviel mehr die andern Menschen, die am Werden Gefallen finden.
15 Wie man vom Raum meint, daß er beständig sich überallhin erstreckt, so meint man vom (Buddhatum), daß es sich beständig überallhin erstreckt. Und wie der Raum in den Scharen der Formen (rüpam) überall vorhanden ist, so ist dieses in den Scharen der Wesen überall vorhanden. 16 Wie das Bild des Mondes nicht zu sehen ist, wenn das Gefäß mit Wasser zerbrochen ist, so ist das Bild des Buddha in verderbten Wesen nicht zu sehen. 17 Wie das Feuer an der einen Stelle aufflammt, an der andern dagegen verlischt, so ist es auch bei den Buddha aufzufassen, daß sie bald zu sehen, bald nicht zu sehen sind.
18 Wie von (himmlischen) Musikinstrumenten der Ton ausgeht, ohne daß sie geschlagen werden, so geht vom Buddha die Lehre aus, ohne ein Streben seinerseits. 19 Und wie ein Edelstein seinen Glanz zeigt, ohne daß er sich bemüht, so zeigen die Buddha ihre Tätigkeiten ohne ein Streben ihrerseits.
20 Wie im Raum ununterbrochen die Tätigkeiten der Menschen zu sehen sind, so im unbefleckten Element ununterbrochen die Tätigkeiten der Sieger (der Buddha).
21 Und wie im Raum beständig ein Schwinden und Entstehen der Tätigkeiten (der Menschen) stattfindet, so findet im unbefleckten Element ein Entstehen und Vergehen der Tätigkeiten der Buddha statt.
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26 Im fleckenlosen Element der Buddha gibt es keine Einheit und keine Vielheit, wegen der Körperlosigkeit, gleich dem Raum, und im Anschluß an den früheren Körper.
29 Wie unzählige in der Sonnenscheibe vereinigte Strahlen beständig ein und dieselbe Wirkung hervorbringen und die Welt erleuchten, 30 so wird im unbefleckten Element eine Unzahl von Buddha angenommen, welche bei ihren Tätigkeiten vereint ein und dieselbe Wirkung hervorbringen und das Licht des Wissens hervorrufen. 31 Wie mit der Ausbreitung eines einzigen Sonnenstrahls sich alle Strahlen ausbreiten, so ist die Ausbreitung des Wissens der Buddha aufzufassen. 32 Wie es beim Wirken der Sonnenstrahlen keine Eigensucht gibt, so gibt es beim Wirken des Wissens der Buddha keine Eigensucht. 33 Wie von den Strahlen, deren Glanz die Sonne auf einmal aussendet, die Welt beleuchtet wird, so wird vom Wissen der Buddha auf einmal alles Erkennbare beleuchtet. 34 Und wie man meint, daß die Sonnenstrahlen durch Wolken usw. gehemmt werden, so bildet für das Wissen der Buddha die Verderbnis der Wesen ein Hemmnis.
37 Die Soheit, welche in allen (Wesen) nicht verschieden ist, stellt, wenn sie zur Reinheit gelangt ist, das Buddhatum dar. Daher tragen alle verkörperten (Wesen) den Keim dazu in sich (tadgarbhah = tathägatagarbhah).
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51 Hier zeigt (der Buddha) auf vielen hundert Wegen das Rad der Lehre, dort das Schwinden der Geburt, dort mannigfaltigen Mangel durch die Geburten, hier die völlige Erleuchtung, dort das Nirvana, und zwar immer wieder. Dabei bewegt er sich nicht von der Stelle und doch vollbringt er alles.
52 Dabei denken die Buddha sich: „Dieser ist reif für mich. Dieses Lebewesen muß ich zur Reife bringen. Und dieses wird jetzt zur Reife gebracht." Ohne Willensbetätigung (samskärah = abhisamskärah) gelangt die Menschheit vermöge der weißen Gegebenheiten (d. h. der Tugenden des Buddha) überall in allen Weltgegenden durch die drei Tore (die drei Fahrzeuge) zur Reifung.
53 Wie die Sonne ohne Bemühung durch die Aussendung ihrer ausgedehnten hellen Strahlen überall in allen Weltgegenden bei der Reifung der Saaten tätig ist, so ist die Sonne der Lehre (der Buddha) durch die Aussendung der Strahlen der Lehre, welche die Beruhigung (das Nirväna) predigt, überall in allen Weltgegenden bei der Reifung der Wesen tätig.
54 Wie von einem Licht eine überaus große, unermeßliche und unzählbare Fülle von Licht ausgeht, ohne daß es sich deswegen erschöpft, so geht von einem Buddha eine überaus große, unermeßliche und unzählbare Fülle von Reifung aus, ohne daß er sich deswegen erschöpft.
55 Und wie das große Meer durch die Gewässer nicht gesättigt wird und durch den Zustrom der ausgedehnten hellen Wasser nicht wächst, so wird das Element der Buddha durch den beständig eintreffenden Zustrom von Reinheit nicht gesättigt und wächst nicht. Das ist hier das größte Wunder.
82 Die Flüsse, welche ein getrenntes Bett und getrenntes Wasser haben, wenig Wasser führen und gesondert ihre Wirkung vollbringen, gewähren nur wenigen im Wasser wohnenden Lebewesen Nutzen, solange sie nicht unter die Erdoberfläche gelangt sind.
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83 Wenn sie aber ins Meer gelangt sind und alle ein Bett und ein großes Gewässer haben und zusammen eine Wirkung vollbringen, dann gewähren sie der Schar der im Wasser wohnenden Lebewesen beständig großen Nutzen. 84 Auch die Weisen, welche eine getrennte Stätte und getrennte Meinung haben, wenig Einsicht besitzen und gesondert ihrer eigenen Tätigkeit nachgehen, gewähren beständig nur für eine beschränkte Zahl von Wesen Nutzen, solange sie nicht zum Buddhatum gelangt sind. 85 Wenn sie aber zum Buddhatum gelangt sind und alle dieselbe Stätte haben, dieselbe große Einsicht besitzen und gemeinsam dieselbe Tätigkeit ausüben, dann gewähren sie beständig einer großen Schar von Wesen großen Nutzen. Die zweite Übersetzungsprobe bringt die philosophisch wichtigsten Stücke aus dem 1. Kapitel des Madhyäntavibhägah. Dieses Kapitel enthält die Auseinandersetzung Maitreyanäthas mit der Madhyamaka-Lehre. Er verfährt dabei in der Weise, daß er seiner Lehre die Form des mittleren Weges, wie er ihn auffaßt, gibt und so die Madhyamaka-Lehre zu berichtigen und zu ergänzen sucht. Dementsprechend wählt er auch einen neuen Namen für seine Lehre und spricht nicht von mittlerer Lehre, sondern nennt sie Lehre von der Mitte und den Extremen. Wesentlich ist dabei, worin er den mittleren Weg zwischen den Extremen zu finden glaubt und seine Einarbeitung des Begriffes der Leerheit (sünyatä). Seine Auffassung des mittleren Weges bringen bereits die ersten beiden Verse. Nägäijuna hatte den mittleren Weg darin gesehen, daß beide Extreme, Sein und Nichtsein, auf die Erscheinungswelt nicht zutreffen, weil beide an und für sich nicht möglich sind (vgl. ζ. B. die Übersetzung des 15. Kapitels der Madhyamakakärikä, oben S. 114ff.). Daneben zeigte sich aber auch schon bei ihm die Neigung, die Ablehnung der beiden Extreme damit zu begründen, daß keines von ihnen ausschließlich zutrifft, weil daneben in gewissem Sinn auch das andere gilt (vgl. ζ. B. Ratnävall I, v. 42ff., oben S. 137). Für diese Auffassung hat sich nun die Yogäcära-Schule entschieden. Wir haben daher in dem oben übersetzten Abschnitt der Bodhisattvabhümih (S. 183f.) den mittleren Weg in der Weise erklärt gefunden, daß man von einem Sein der Erscheinungswelt nicht sprechen darf, weil sie bloße Vorstellung und damit unwirklich ist, daß man aber ebensowenig von einem Nichtsein sprechen darf, da das höchste Sein, das ihr zugrunde liegt, wirklich ist. Und die gleiche Auffassung gilt auch für Maitreyanätha. Bei ihm erscheint sie nur in etwas komplizierterer Form, da er nicht wie die Bodhisattvabhümih nur Erscheinungswelt und höchstes Sein im Auge hat, sondern mit den drei Beschaffenheiten rechnet, welche das Samdhinirmocanasütram gelehrt hatte. Von diesen drei Beschaffenheiten ist die vorgestellte Beschaffenheit reine Vorstellung, die abhängige und die vollkommene
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Beschaffenheit sind das höchste Sein in seiner besudelten und seiner geläuterten Form. Dementsprechend nimmt die Lehre des mittleren Weges bei ihm folgende Gestalt an. Er sieht die vorgestellte Beschaffenheit in der Zweiheit von Subjekt und Objekt, welche uns die Vorstellung zeigt. Die abhängige Beschaffenheit ist für ihn die unwirkliche Vorstellung, welche ja mit dem Trug der Zweiheit behaftet ist. Die vollkommene Beschaffenheit schließlich ist das höchste Sein, sofern es von diesem Trug frei ist. Er spricht daher von Nichtsein oder Leerheit, setzt diese aber später (v. 13-14) ausdrücklich dem höchsten Sein, also dem Element der Gegebenheiten gleich. Davon existiert nun die Zweiheit von Subjekt und Objekt nicht, da sie bloße Vorstellung ist. Dagegen existiert ihr Nichtsein, also die höchste Wirklichkeit, und die unwirkliche Vorstellung, die sich darauf gründet. Man darf daher bei der Erscheinungswelt von keinem Sein sprechen, da die Zweiheit nicht ist, und man darf von keinem Nichtsein sprechen, da die Leerheit und die unwirkliche Vorstellung ist. Und das ist der wahre mittlere Weg. Nun erläutert Maitreyanätha (v. 3-4) den zentralen Begriff der unwirklichen Vorstellung (abhütaparikalpah), von dem aus er die ganze Erscheinungswelt erklärt, und stellt anschließend (v. 5) kurz die Beziehung zur Lehre von den drei Beschaffenheiten her. Die unwirkliche Vorstellung besteht darin, daß das Erkennen entsteht, indem es das Bild von Objekt und Subjekt zeigt. Ein wirkliches Objekt gibt es aber nicht. Und ohne Objekt kann es auch kein Subjekt geben. Es ist das der gleiche Schluß, der bei der Schilderung der erlösenden Erkenntnis wiederkehrt, und dem wir daher oben bereits begegnet sind. Daraus folgt aber, daß alles Erkennen nur eine Vorstellung von etwas Unwirklichem ist. Diese Unwirklichkeit wird nun noch knapp im Sinne des mittleren Weges bestimmt. Das Vorgestellte ist nicht so vorhanden, wie es erscheint, weil es in Wirklichkeit nicht besteht. Es ist aber auch nicht vollkommen nicht vorhanden, weil es als Vorstellung gegeben ist. Auf diesem Trug der Vorstellung beruht aber, ebenso wie Nägäijuna es lehrt, Bindung und Erlösung und damit der gesamte Weltlauf. Denn die Erlösung besteht nur im Schwinden dieses Truges. Diese unwirkliche Vorstellung ist nun im Sinne der Lehre von den drei Beschaffenheiten die abhängige Beschaffenheit. Ihr Gegenstand, nämlich die Zweiheit von Subjekt und Objekt, ist die vorgestellte Beschaffenheit. Und das Nichtvorhandensein dieser Zweiheit, wie es sich bei der Erlösung ergibt, ist die vollkommene Beschaffenheit. Die nächsten beiden Verse (v. 6-7) führen die kurz angedeutete Begründung der Unwirklichkeit der Vorstellung näher aus. Aus der Einsicht, daß nur das Erkennen wahrgenommen wird, welches die Form der Objekte hat, ergibt sich die Erkenntnis, daß man keine Objekte wahrnimmt. Daraus, daß man keine Objekte wahrnimmt, ergibt sich aber die weitere Folgerung, daß man auch kein Erkennen wahrnehmen kann, da es ohne Objekte kein Erkennen gibt. Die scheinbare Wahrnehmung ist also in Wirklichkeit eine NichtWahrnehmung. Da aber beide bestehen, die Nichtwahrnehmung dem tatsächlichen Sachverhalt nach und die Wahrnehmung, weil ja doch das unwirkliche Vorstellungsbild wahrgenommen wird, sind Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung einander gleich. Und damit ist wieder die relative Auffassung im Sinne der mittleren Lehre eingeflochten.
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Es folgen wieder in zwei Versen (v. 8-9) einige Bemerkungen über die psychologische Grundlage der unwirklichen Vorstellung. Diese psychologische Grundlage besteht, der allgemeinen buddhistischen Auffassung entsprechend, aus dem Geist oder dem Erkennen und den dazugehörigen geistigen Gegebenheiten, die beide nach den drei Weltsphären gegliedert sind. Davon erkennt der Geist den jeweiligen Gegenstand im allgemeinen, während die geistigen Gegebenheiten seine Besonderheiten erfassen. Schwierig ist die Deutung des zweiten Verses, da Maitreyanätha seine Anschauungen mehr andeutet als ausspricht und die späteren Erklärer die Psychologie Asañgas in seine Worte hineinlesen. Manches spricht dafür, daß er zwei Formen des Erkennens unterscheidet, von denen eine bloß das Bild des Objektes vermittelt, während die zweite seine Wahrnehmung bewußt werden läßt. Die erste würde also dem Objektsteil, die zweite dem Subjektsteil der unwirklichen Vorstellung entsprechen. Im Original folgen nun noch zwei Verse, welche mit der bei Maitreyanätha häufigen äußerlichen Systematik die Formen der Besudelung aufzählen, welche die Verstrickung in den Wesenskreislauf bedingt. Dann ist die erste Hälfte des Kapitels zu Ende. Die zweite Hälfte, die nun folgt, behandelt die Leerheit {sünyatä) oder das höchste Sein. Nach einer kurzen Angabe der Disposition dieses Teiles gibt Maitreyanätha (v. 13) zunächst eine Definition der Leerheit. Er wiederholt dabei die am Anfang des Kapitels gegebene Bestimmung der vollkommenen Beschaffenheit, die ja dem höchsten Sein entspricht, und formt sie nur etwas schärfer im Sinne des mittleren Weges. Danach ist die Leerheit das Nichtsein der Zweiheit und das Sein dieses Nichtseins, d. h. sie hat positiven Charakter. Sie ist nicht ein bloßes Nichtvorhandensein, sondern eine Wesenheit, welche durch das Nichtvorhandensein der Zweiheit gekennzeichnet ist. Infolgedessen kann sie auch im Sinne einer relativen Betrachtungsweise weder als seiend noch als nichtseiend bezeichnet werden. Und damit ist wieder der mittlere Weg gewahrt. Wichtig aber nicht weiter ausgeführt ist die im letzten Teil dieses Verses enthaltene Bestimmung. Sie bezieht sich auf das Verhältnis des höchsten Seins zur Erscheinungswelt, also des Wesens der Gegebenheiten {dharmatä) zu den Gegebenheiten (