Der Markt und seine moralischen Grundlagen: Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Jeff R. Clark und Dwight R. Lee 9783495487013, 9783495808252


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German Pages [241] Year 2016

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Table of contents :
Ingo Pies: Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Textquelle
J. R. Clark und Dwight R. Lee: Markt und Moral
J. R. Clark and Dwight R. Lee: Markets and Morality
II. Hinweise zur Textbearbeitung
Ingo Pies: Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik: Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Clark und Lee
Schritt I
Schritt II
Schritt III
Schritt IV
Fazit
Literatur
III. Kommentare
Gerhard Engel: Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«? Anmerkungen zu Hayeks Begriff der »Hordenmoral«
Einleitung
Der kognitive Mesokosmos
Der soziale Mesokosmos
Der moralische Mesokosmos
Die Evolution des Gewissens
Die Ambivalenz des Gewissens
Literatur
Ingo Pies: Solidarität unter Fremden – Zur moralischen Leistungsfähigkeit des Marktes
Literatur
Reinhard Zintl: Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen und ihren Wechselbeziehungen
1. Ausgangspunkt
2. Diskussion
3. Die Bandbreite der individuellen Moral
4. Positionen, Typologie
5. Welche Verfassung, warum?
6. Über die Prinzipien und die Wirkungen in der Gesellschaft
7. Über die Motivationen der Individuen
(a) Zum Inhalt der Urteile:
(b) Wie steht es mit der Motivation der Befolgung solcher Regeln?
8. Fazit
Literatur:
Michaela Haase: »Beliefs in action« – Eine in Bezug auf den Umgang mit Ideologie kritische Analyse des Aufsatzes von Clark und Lee
Einführung
1. Wissen und Ideologie
1.1 Idole und Ideologie: Bacon
1.2 Die Methodologie der Forschungsprogramme: Lakatos
1.3 Drei Forschungskontexte: Geuss
2. Marktsystem, Helfermoral und Marktmoral
2.1 Die Invisible Hand Conception
2.2 Zwei Formen der Pflichtmoral
2.3 The good, the bad, and the ugly
The good
The bad
The ugly
3 Schlussfolgerungen
Literatur
Johannes Fioole: Interesse und Tugend am Markt
A. Die Überlastung der Marktmoral
B. Wie viel Moral lässt die Semantik des Interesses zu?
C. Refugium Tugendethik?
D. Literaturverzeichnis
Birger P. Priddat: Moralproduktion durch Märkte: Moral ohne Ethik
Personalized markets?
Moral ohne Ethik
Literatur
Johannes Fioole: Moral als Marktversagen
A. Einleitung
B. Wann versagt der Markt?
C. Blockierte Tauschgeschäfte
D. Der Nutzen der Moral
E. Moralkritik: Das Störungspotential der Moral
F. Literaturverzeichnis
Stefan Hielscher: Unternehmen als Governance-Entrepreneure: Die politische Rolle moderner Unternehmen im Kontext der kommerziellen und der industriellen Revolution
Literatur
Alexandra von Winning: Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft
I. Anforderungen an ein Marktsystem, das im Dienste der Menschen steht
ßeinrßßrandlßi)[tab]Der systematische Ort der Moral von Marktprozessen liegt in der Rahmenordnung.
ßeinrßßrandlßii)[tab]Es ist gesellschaftlich unklug, von Unternehmen selbstlose Moral zu verlangen.
II. Die Verantwortung von Unternehmen für die Gestaltung und Befolgung von Regeln
ßeinrßßrandlßi)[tab]Regelfindungsdiskurs: Stakeholder Engagement und Diskurs
ßeinrßßrandlßii)[tab]Regelsetzungsprozess: Responsible Lobbying und Governance
ßeinrßßrandlßiii)[tab]Regelbefolgungsspiel: Compliance und Wertemanagement
III. Ausblick: Voraussetzungen für professionelles CSR-Management
Literatur
Christian Rennert: Unternehmensstrategie und Moral
1. Einleitung
2. Wertschaffung und Wertaneignung
3. Unternehmensstrategien im Wettbewerbsprozess
3.1 Wettbewerb als Verhandlungs- und Rivalitätsprozess
3.2 Funktionale Unternehmensstrategien
3.2.1 Operative Effizienzsteigerung durch Prozessinnovationen
3.2.2 Präferenzorientierte Strategien (Absatzdifferenzierung und Absatzinnovation)
3.2.3 Funktionale Strategien im nachahmenden und schöpferischen Wettbewerb
3.3 Dysfunktionale Unternehmensstrategien
4. Statt einer Zusammenfassung: Drei Vorschläge zum Weiterdenken
Literatur
Matthias Georg Will: Märkte, Moral und Organisationen
1. Optimierungsfunktion
2. Gestaltungsfunktion
3. Aufklärungsfunktion
Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
IV. Ausblick
Ingo Pies: Weiterführende Hinweise
I.
II.
III.
Literatur
Kurzangaben zu den Autoren
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Der Markt und seine moralischen Grundlagen: Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Jeff R. Clark und Dwight R. Lee
 9783495487013, 9783495808252

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ANGEWANDTE ETHIK Marktwirtschaft und Moral

1 Ingo Pies (Hg.)

Der Markt und seine moralischen Grundlagen Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Jeff R. Clark und Dwight R. Lee

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808252

.

B

Ingo Pies (Hg.) Der Markt und seine moralischen Grundlagen

MARKTWIRTSCHAFT UND MORAL

A

https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

In einem grundlegenden Aufsatz, der hier in deutscher Übersetzung zusammen mit dem englischen Original abgedruckt wird, vertreten Clark und Lee die These, dass die Marktwirtschaft häufig zu Unrecht auf moralische Vorbehalte stößt. Sie identifizieren eine Verzerrung ethischer Diskurse: Man werde einer Marktwirtschaft nicht gerecht, wenn man an sie nur den Beurteilungsmaßstab der »Helfermoral« anlegt, die unser tägliches Zusammenleben in kleinen Gruppen bestimmt und großen Wert auf wohlwollende Handlungsmotive legt. Clark und Lee machen geltend, dass man Moral nicht einfach mit »Helfermoral« gleichsetzen dürfe. Sonst mache man sich blind dafür, dass es eine eigenständige »Marktmoral« gebe. Deren Kennzeichen sehen sie darin, vertragstreu zu sein und Mitmenschen ohne Ansehen der Person nach allgemeinen Regeln gleich zu behandeln. Eine solche »Marktmoral« mache Systemleistungen möglich, die wirtschaftlichen Wohlstand erzeugen und zudem sozialen Frieden und individuelle Freiheit fördern. Clark und Lee warnen davor, dass die gesellschaftliche Bedeutung der »Helfermoral« überschätzt und die der »Marktmoral« unterschätzt wird. Dieser Band leitet dazu an, sich mit den Thesen von Clark und Lee intensiv und kritisch auseinanderzusetzen. Methodische Handreichungen erleichtern die Textanalyse. Besonders anregend für die Diskussion sind elf Kurzkommentare, die den Aufsatz von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchten. Das Diskussionsmaterial hilft, die Stärken und Schwächen der vorgelegten Argumentation fundiert beurteilen zu können.

Der Herausgeber: Prof. Dr. Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Ingo Pies (Hg.)

Der Markt und seine moralischen Grundlagen Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Jeff R. Clark und Dwight R. Lee

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

ANGEWANDTE ETHIK Herausgegeben von Nikolaus Knoepffler, Peter Kunzmann, Reinhard Merkel, Ingo Pies und Anne Siegetsleitner Wissenschaftlicher Beirat: Reiner Anselm, Carlos Maria Romeo Casabona, Klaus Dicke, Matthias Kaufmann, Jürgen Simon, Wilhelm Vossenkuhl, LeRoy Walters Marktwirtschaft und Moral Band 1

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48701-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80825-2

https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Vorwort von Ingo Pies

Jeff R. Clark und Dwight R. Lee haben im Jahr 2011 in der US-amerikanischen Zeitschrift »Cato Journal« einen sehr bemerkenswerten Aufsatz publiziert, in dem sie sich um die soziale Akzeptanz der Marktwirtschaft besorgt zeigen. Sie vertreten die These, dass bei der moralischen Beurteilung des Marktes systematische Vor- und FehlUrteile unterlaufen können. Um diese auszuräumen, unterscheiden die Autoren zwei Typen von Moral: die im Kontext kleiner Gruppen anzutreffende Helfermoral, bei der es um konkrete Anteilnahme und persönliche Fürsorge (im Sinne positiver Pflichten) geht; und die im Kontext großer Gesellschaften anzutreffende Marktmoral, bei der normkonformes Verhalten in Übereinstimmung mit abstrakten Regeln (im Sinne negativer Pflichten) – wie z. B. die Einhaltung von Verträgen und der mit ihnen verbundenen Leistungsversprechen – im Vordergrund steht. Zugrunde liegt die Idee, dass die Moral im sozialen Nahbereich eine andere Gestalt annimmt als im sozialen Fernbereich und dass man folglich die moralische Qualität des Marktes leicht unterschätzen kann, wenn man diesen Unterschied nicht sorgsam beachtet. Dieses Buch ist aus der Überzeugung heraus entstanden, dass der Aufsatz von Clark und Lee es verdient, auch im deutschen Sprachraum zur Kenntnis genommen zu werden. Diese intellektuelle Auseinandersetzung lohnt sich! Und zwar auch gerade dann, wenn man den Autoren gar nicht oder jedenfalls nicht in allen Details zustimmen mag. Um eine kritische Diskussion zu fördern, offeriert dieses Buch diverse Materialien, die eine inhaltlich tiefschürfende Auseinandersetzung erleichtern. Es enthält:

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Vorwort





• •

die deutsche Übersetzung, der ein Abdruck des englischen Originalaufsatzes Absatz für Absatz gegenübergestellt ist, um eine textgenaue Lektüre zu erleichtern, 1 ferner Anregungen für eine eigenständige Textanalyse, mit der man sich die Argumentationslinie des Aufsatzes so vor Augen führen kann, dass man als Leser über eine solide Interpretationsgrundlage verfügt, die ein fundiertes Urteil ermöglicht, sodann elf kurze Kommentare, die einzelne Aspekte des Themas kritisch ausleuchten sowie schließlich einige weiterführende Hinweise für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Thesen des Aufsatzes.

Das in diesem Buch versammelte Diskussionsmaterial wurde auf einer interdisziplinär besetzten Tagung vorbereitet, die vom 28.–30. Mai 2014 in Lutherstadt Wittenberg stattgefunden hat. Der DieterSchwarz-Stiftung ist für finanzielle Unterstützung zu danken. Dank gebührt insbesondere auch den Teilnehmern der Tagung. Viele von ihnen sind als Autoren in diesem Buch vertreten. Ihre Beiträge dokumentieren, wie interessant das Thema ist und wie anregend die Diskussionen waren, die wir in Wittenberg führen konnten. Ein ganz besonderes Dankeschön verdient Gerhard Engel – und dies keineswegs nur deshalb, weil er unsere produktive Diskussionstagung in Wittenberg mit substanziellen Beiträgen und zudem mit einem hoch attraktiven musikalischen Abend bereichert (und begeistert) hat. Ich habe sehr davon profitiert, dass er dieses Buchprojekt von Anfang an mit Rat und Tat inhaltlich unterstützt hat. Dankbar bin ich auch für seine Bereitschaft, sich auf das Abenteuer einzulassen, gemeinsam mit mir zu versuchen, den englischen Originaltext von Clark und Lee in eine gut lesbare deutsche Fassung zu übersetzen. Hier wurde um jedes Wort gerungen, an jeder Formulierung Hinweis zur Zitation: Verwendete Quellen werden durch Autorennamen, Jahreszahl(en) sowie ggf. durch Seitenverweise im Text und in den Fußnoten kenntlich gemacht. Der vollständige Quellennachweis findet sich in den Literaturverzeichnissen am Ende der jeweiligen Beiträge. Stehen hinter einem Autorennamen zwei durch ein Komma getrennte Jahreszahlen, so zeigt die erste Zahl das Erscheinungsjahr der Erstausgabe, die zweite Zahl das Erscheinungsjahr der zur Zitation verwendeten Ausgabe an. Die Abkürzung H. i. O. steht für »Hervorhebung(en) im Original«. Die Zitation des Aufsatzes von Clark und Lee erfolgt in diesem Buch durchgehend nach einem besonderen Muster der Abkürzung und Verweisung auf Absatz-Ziffern. Beispielsweise steht »CL-4« für »Clark und Lee (2011, 2015; Ziffer 4)«.

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Vorwort

gefeilt. Ich habe in diesem Prozess sehr viel gelernt und kann nur hoffen, dass man der Übersetzung nicht ansieht, wie viel Arbeit wir da hineingesteckt haben. Für uns als Übersetzer außerordentlich hilfreich waren die zahlreichen kenntnisreichen Kommentare und konstruktiven Hinweise der Tagungsteilnehmer in Wittenberg, namentlich die von Johannes Fioole. Auch hierfür ein herzliches Dankeschön! Als Herausgeber bleibt mir zu wünschen, dass sich möglichst viele – insbesondere junge – Menschen von dem Geist kritischer Analyse und engagierter Diskussion inspirieren lassen, der unsere Tagung in Wittenberg prägte und in den diversen Beiträgen zu diesem Buch einen deutlichen Niederschlag gefunden hat. Dieser Wunsch, dass der Funke überspringen möge, speist sich aus zwei sehr unterschiedlichen Motiven. Das eine ist individual-ethischer, das andere system-ethischer Natur. Zum einen kann kein Mensch sämtliche Ausprägungen des heutigen Wirtschaftslebens affirmativ bejahen. Aber für das eigene Lebensgefühl und Wohlbefinden macht es einen erheblichen Unterschied, ob man dem Wirtschaftssystem, das man vorfindet, mit moralischer Ablehnung und Fundamentalopposition begegnet oder ob man dem zugrunde liegenden Marktprinzip aufgrund von Sachargumenten aus innerer Überzeugung und mit differenzierender Kritik zustimmen kann. Zum anderen gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen destruktiver und konstruktiver Kritik. Deshalb ist es für die kulturelle Evolution unseres Wirtschaftssystems – insbesondere auch im globalen Maßstab – von geradezu existenzieller Bedeutung, ob die Bürger zur Verwirklichung moralischer Anliegen eher eine (partielle) Außerkraftsetzung oder eine (verbesserte) Inkraftsetzung des Marktes anstreben. Bürger sind wir ja schließlich nicht nur als Wirtschaftsbürger (bourgeois), sondern auch als Staatsbürger (citoyens), die über politische Stellhebel verfügen. Die Zukunft liegt in unserer Hand. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit den Thesen von Clark und Lee weitaus mehr als nur theoretischer Selbstzweck oder akademisches l’art pour l’art. Die Diskussion ist praxisrelevant für eine nachhaltige Entwicklung – auf der Ebene des Individuums ebenso wie auf der Ebene unserer (Welt-)Gesellschaft. Halle (Saale), im Oktober 2014

Ingo Pies 7

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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5

I. Textquelle J. R. Clark und Dwight R. Lee: Markt und Moral . . . . . . . . . .

12

J. R. Clark und Dwight R. Lee: Markets and Morality

. . . . . . .

13

Ingo Pies: Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik. Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Clark und Lee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

II. Hinweise zur Textbearbeitung

III. Kommentare Gerhard Engel: Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«? Anmerkungen zu Hayeks Begriff der »Hordenmoral« . . . Ingo Pies: Solidarität unter Fremden

100

. . . . . . . . . . . . . . 111

Reinhard Zintl: Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen und ihren Wechselbeziehungen . . . . . . .

123

Michaela Haase: »Beliefs in action« – Eine in Bezug auf den Umgang mit Ideologie kritische Analyse des Aufsatzes von Clark und Lee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 9

https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Inhaltsverzeichnis

Johannes Fioole: Interesse und Tugend am Markt

. . . . . . . . 150

Birger P. Priddat: Moralproduktion durch Märkte: Moral ohne Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Johannes Fioole: Moral als Marktversagen . . . . . . . . . . . .

169

Stefan Hielscher: Der Ehrbare Kaufmann als GovernanceEntrepreneur: Zur Relevanz von Corporate Citizenship in der modernen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . .

181

Alexandra von Winning: Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft . . . . . . . . . .

194

Christian Rennert: Unternehmensstrategie und Moral . . . . . .

206

Matthias Georg Will: Märkte, Moral und Organisationen . . . . .

218

IV. Ausblick Ingo Pies: Weiterführende Hinweise . . . . . . . . . . . . . .

230

Kurzangaben zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Textquelle

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Markt und Moral Jeff R. Clark and Dwight R. Lee 1

1

Adam Smith war Moralphilosoph. Daher war die Ökonomik eine Disziplin, die sich zu Beginn ganz selbstverständlich sowohl mit positiven als auch mit normativen Überlegungen beschäftigt hat. Als jedoch die Ökonomik im Laufe der Zeit immer ›wissenschaftlicher‹ wurde, verdrängte die positive Analyse der Konsequenzen wirtschaftlichen Handelns zunehmend die normative Analyse der Moralität dieser Handlungen. Heutzutage legen Wirtschaftswissenschaftler gewöhnlich besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Ökonomik »wertfrei« sei. 2 2 Das Problem betrifft nicht die positive Ökonomik. Ohne ihre Fähigkeit, zu plausiblen Voraussagen der Folgen politischer Entscheidungen zu gelangen und für stimmige Erklärungen beobachteter wirtschaftlicher Phänomene zu sorgen, wäre die Ökonomik wenig wert – und zwar ganz unabhängig vom zugrunde gelegten Wertesystem. Aber solange Wirtschaftswissenschaftler nicht erkennen, dass moralische Werte in die ökonomische Analyse eingebettet sind, beschränken sie in einschneidender Weise ihre Fähigkeit, wirtschaftliche Phänomene zu verstehen und das, was sie verstehen, auch wirksam zu kommunizieren. Mehr noch: Wenn Wirtschaftswissenschaftler die moralische Dimension ihrer Disziplin ausblenden, überlassen sie das Feld gerade denjenigen, die über ein enormes Repertoire verfügen, 0 Ursprünglich erschienen unter dem Titel »Markets & Morality«, in: Cato Journal, Vol. 31, No. 1 (Winter 2011), S. 1–25. Der Aufsatz einschließlich der im Text angeführten Zitate wurde übersetzt von Gerhard Engel und Ingo Pies. – Jeff R. Clark ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Tennessee in Chattanooga, wo er den Probasco-Lehrstuhl für Freies Unternehmertum innehat. Dwight R. Lee ist William J. O’Neil-Professor für Globale Märkte und Freiheit an der Southern Methodist University. 0 Die Behauptung, dass die Ökonomik eine wertfreie positive Wissenschaft ist oder sein kann, hat unter verschiedenen Gesichtspunkten zunehmend Kritik auf sich gezogen. Vgl. Heyne (2008; Kap. 2).

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Markets and Morality J. R. Clark and Dwight R. Lee 1

Adam Smith was a moral philosopher, and economics clearly began as 1 a discipline concerned with both normative and positive considerations. Over time, however, as economics became more »scientific,« positive analysis of the consequences of economic activity increasingly crowded out normative analysis of the morality of that activity. It is now common for economists to boast that economics is »value free.« 2

The problem is not with positive economics. Without the ability 2 of economic analysis to make reasonable predictions about the consequences of policies and to provide coherent explanations of observed economic phenomena, there would be no value to economics regardless of the value system applied. But without recognizing that moral values are embodied in economic analysis, economists severely limit their ability to understand economic phenomena and to communicate effectively what they do understand. Furthermore, when economists dismiss the moral dimensions of their discipline, they leave the field to others who have an endless supply of pronouncements on the morality of economics in general, and the market order in particular, that are as logically appalling as they are publicly appealing. Only by coupling positive economics with a willingness to engage in moral discourse can economists use their understanding to effectively defend market arrangements, and the general benefits they provide, against Cato Journal, Vol. 31, No. 1 (Winter 2011), p. 1–25. Copyright © Cato Institute. All rights reserved. J. R. Clark is Professor of Economics at the University of Tennessee at Chattanooga, where he holds the Probasco Chair of Free Enterprise. Dwight R. Lee is the William J. O’Neil Professor of Global Markets and Freedom at Southern Methodist University. 0 The claim that economics is, or can be, a positive science free of values has increasingly come under attack from a variety of perspectives (see Heyne 2008: chap. 2). 0

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Markt und Moral

wenn es darum geht, Behauptungen über die Moral der Ökonomik im Allgemeinen und über die Moral der Marktordnung im Besonderen zu verkünden – insbesondere solche Behauptungen, die logisch haarsträubend und zugleich öffentlich zugkräftig sind. Nur wenn sie die positive Analyse mit der Bereitschaft verbinden, sich in den moralischen Diskurs einzuschalten, können Ökonomen ihre Einsichten dazu nutzen, Markt-Arrangements und die allgemeinen Vorteile, die mit ihnen einhergehen, gegen jene moralisierenden Spitzfindigkeiten zu verteidigen, die von Politikern und ihrer Klientel organisierter Sonderinteressen in apologetischer Absicht vorgebracht werden, um politisch bevorzugte Gruppen vor dem disziplinierenden Druck des Marktwettbewerbs zu schützen. 3 Doch bedauerlicherweise sieht sich ein moralisches Plädoyer zugunsten des Marktes mit einem ernsten Problem konfrontiert. Argumenten, die dem Markt eine moralische Qualität zuschreiben, steht eine weitverbreitete ethische Sichtweise gegenüber, welche die meisten Menschen dazu veranlasst, Märkte als fundamental unmoralisch anzusehen. Dies ist nun aber kein Problem, das sich durch Fortschritte der positiven Ökonomik lösen ließe. 3 Wir vertreten die Auffassung, dass eine moralische Argumentation zugunsten des Marktes dann am meisten überzeugt, wenn man die übliche Sichtweise auf moralisches Handeln als legitim akzeptiert und gleichzeitig anerkennt, dass die Überlegenheit von Märkten auf ihrer Fähigkeit beruht, wünschenswerte Ergebnisse hervorzubringen, ohne auf das zu bauen, was man gemeinhin als ›moralisches Handeln‹ ansieht. Daraus leiten wir ab, dass Märkte für eine vernünftige und humane soziale Ordnung von wesentlicher Bedeutung sind, denn sie können substitutiv an die Stelle einer Moralität der Fürsorge treten, die für faire und menschenwürdige Verhältnisse unerlässlich ist. Unsere Erörterung von Moralität konzentriert sich vorrangig auf 4 das, was man im Allgemeinen als Pflichtethik bezeichnet (richtiges Handeln aus Pflicht oder Pflichtgefühl), im Gegensatz zu einer folgenorientierten Ethik (richtiges Handeln, das optimale Ergebnisse erIn diesem Punkt unterscheiden wir uns von einigen Ökonomen, vor denen wir großen Respekt hegen. Milton Friedman (1953; S. 5) beispielsweise behauptet, dass »wirtschaftspolitische Meinungsverschiedenheiten zwischen uneigennützigen Bürgern überwiegend auf unterschiedlichen Prognosen über die ökonomischen Folgen bestimmter Maßnahmen beruhen – Meinungsverschiedenheiten, die sich im Prinzip durch den Fortschritt der positiven Ökonomik beseitigen ließen –, und weniger auf fundamentalen Unterschieden zwischen grundlegenden Werten.«

0

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Markets and Morality

moral sophistries used by politicians and their special-interest clients to justify policies to protect politically favored groups against the discipline of market competition.

Unfortunately, making a moral case for markets faces a serious 3 problem. Arguments supporting the morality of markets confront a widespread view of morality that predisposes most people to see markets as fundamentally immoral. This is not a problem that can be overcome by advances in positive economics. 3 It is our view that the most effective way to make a moral case for markets requires accepting the dominant view of moral behavior as a legitimate one, while recognizing that the superiority of markets is the result of their ability to generate desirable outcomes without relying on what is widely seen as moral behavior. This leads us to argue that markets are essential for decent and humane social order because they can be substituted for the morality of caring that is necessary for decent and humane relationships.

Our discussion of morality focuses primarily on what is com- 4 monly referred to as duty-based morality (behaving the right way out of a sense of duty) as opposed to outcome-based morality (behaving in a way that achieves the best outcomes). This does not mean we ignore economic outcomes. Obviously when assessing the desirability On this point, we part company with some economists for whom we have great respect. For example, Milton Friedman (1953: 5) states that »differences about economic policy among disinterested citizens derive predominantly from different predictions about the economic consequences of taking action – differences that in principle can be eliminated by the progress of positive economics – rather than from fundamental differences in basic values.«

0

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Markt und Moral

zielt). Das bedeutet nicht, dass wir ökonomische Folgenkalkulationen vernachlässigen. Offensichtlich kann man die allgemeine Wünschbarkeit einer Verhaltensweise ja nur dann beurteilen, wenn man nicht ignoriert, ob die Konsequenzen allgemein wünschbar sind, die sich aus der Verhaltensweise ergeben. Nun ist es allerdings so, dass sich ein Großteil der Marktskepsis aus einer weitverbreiteten Missbilligung der Handlungsmoral herleitet, die Marktprozesse antreibt – und zwar ganz unabhängig von den jeweils erzielten Ergebnissen. Angesichts der vorherrschenden Sichtweise einer pflichtenbasierten Ethik haben oft sogar diejenigen, die gemeinhin die Überlegenheit der Märkte bei der Erzeugung materieller Wohlfahrt anerkennen, den Eindruck, diese Überlegenheit gehe auf Kosten moralischen Anstands. Das lässt sie dann politische Maßnahmen befürworten, die gewöhnliche Markttransaktionen beschränken und so beträchtliche Effizienzverluste herbeiführen. 4 In diesem Sinne bemerkte Joseph Schumpeter: »Die Wertpapierbörse ist ein völlig unzureichender Ersatz für den Heiligen Gral.« 5 5 Im nächsten Abschnitt untersuchen wir die Eigenschaften, die nach Ansicht der meisten Menschen die Bedingungen einer pflichtenbasierten Moral erfüllen – wir nennen sie ›Helfermoral‹. Sie vergleichen wir dann mit derjenigen Moral, die Marktprozessen zugrunde liegt – und von uns als ›Marktmoral‹ bezeichnet wird.*. Dabei legen wir unser Augenmerk auf die allgemeine Neigung, die Helfermoral über die Marktmoral zu setzen. Im dritten Abschnitt untersuchen wir einige Beispiele für moralische Anfeindungen des Marktes, die seine Leistungen ausblenden. Wir verknüpfen diese Anfeindungen mit der anhaltenden Sehnsucht nach einer Wirtschaftsordnung, die auf der Helfermoral beruht. Der vierte Abschnitt zeigt die Unmöglichkeit, Im politischen Raum wird diese Neigung verstärkt durch die geringen persönlichen Kosten gefühlsorientierter Wahlentscheidungen, die sich aus der extrem geringen Wahrscheinlichkeit ergeben, dass eine einzelne Stimme das Wahlergebnis beeinflussen wird. Vgl. Brennan und Lomasky (1993; Kap. 3). 0 Schumpeter (1942, 1950; S. 137). * Anmerkung der Übersetzer: Für die im englischen Original verwendeten Ausdrücke »magnanimous morality« bzw. »mundane morality« gibt es angesichts der spezifisch deutschen Begriffstradition keine ideale Übersetzung. Wir behelfen uns daher mit den aspekthaft verkürzenden Begriffen »Helfermoral« und »Marktmoral«. Sie sollen zum Ausdruck bringen, dass es Clark und Lee darauf ankommt, einerseits das großherzige Helfen-Wollen zu betonen und andererseits darauf hinzuweisen, dass die Regeleinhaltung auf Märkten auch jenen Menschen eine moralische Achtung erweist, die man weder persönlich kennt noch jemals kennenlernen wird.. 0

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Markets and Morality

of behavior, the desirability of the outcomes resulting from that behavior cannot be ignored. But, as we shall argue, much of the criticism of markets results from widespread disapproval of the morality of the behavior that drives the market process, quite independently of the outcomes that are generated. Given the prevailing view of duty-based morality, even those who accept the superiority of markets at generating material comforts commonly see that superiority as so morally tainted that they are sympathetic to political action to restrict normal market practices at the cost of considerable market efficiency. 4 As Joseph Schumpeter ([1942] 1950: 137) observed, »The stock exchange is a poor substitute for the Holy Grail.«

In the next section, we consider characteristics most people see as 5 satisfying the conditions of duty-based morality – which we call magnanimous morality – and compare it with the morality that underpins the market process – which we call mundane morality – and note the emotional basis for the public appeal of the former over the latter. In our third section, we consider examples of moral hostility toward markets obscuring the benefits of the market, and relate that hostility to the persistent desire for an economic system based on magnanimous morality. Our fourth section points to the impossibility of an extended market order based on magnanimous morality. In our fifth section, we contrast the abilities of magnanimous morality and mundane morality of the market to foster the moral ideals of social harmony and human liberty, while recognizing the importance of both moralities when confined to their proper spheres. Our final section contains some concluding comments on making a moral case for markets.

This willingness is accentuated by the low personal cost of expressive voting resulting from the extremely low probability that any one vote will decide an election outcome (see Brennan and Lomasky 1993: chap. 3).

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Markt und Moral

eine entwickelte Marktordnung auf die Helfermoral zu gründen. Im fünften Abschnitt vergleichen wir die Helfermoral und die Marktmoral unter dem Gesichtspunkt, inwieweit sie die Ideale sozialen Friedens und menschlicher Freiheit zur Geltung bringen können – wobei wir durchaus die bedeutende Rolle beider Moralprinzipien anerkennen, solange sie sich auf ihre angestammten Gebiete beschränken. Der letzte Abschnitt enthält einige abschließende Bemerkungen über moralische Argumente zugunsten des Marktes.

Zwei Arten der Pflichtmoral 6

Für unsere Zwecke ist es nützlich, zwischen zwei Arten einer auf Pflichten gegründeten Moral zu unterscheiden, die wir als ›Helfermoral‹ bzw. als ›Marktmoral‹ bezeichnen. Wenn Menschen an moralisches Handeln denken, dann ist es fast immer die Helfermoral, die sie dabei im Sinn haben. Wir wollen zuerst sie genauer untersuchen.

Die Helfermoral 7

Die ›Helfermoral‹ lässt sich am besten im Sinne einer ›Hilfe für andere‹ bestimmen. Dabei muss diese Hilfe drei Eigenschaften aufweisen: Sie muss als solche beabsichtigt sein, sie muss ein persönliches Opfer bedeuten, und sie muss identifizierbaren Adressaten gelten. 7 Anderen zu helfen gilt nur dann als moralisch selbstlos, wenn die Hilfe bewusst intendiert ist. Nehmen wir die wohlbekannte Weihnachtsgeschichte A Christmas Carol von Charles Dickens. Der geizige Ebenezer Scrooge** hilft am Ende der Familie Cratchit und dem behinderten Sohn Tiny Tim mit voller Absicht, nachdem er am Wir behaupten nicht, dass diese Eigenschaften den Begriff ›Helfermoral‹ erschöpfend charakterisieren. Aber wir sind überzeugt, dass sie von vorrangiger Bedeutung sind, wenn es darum geht, zwischen den beiden Arten der Moral zu unterscheiden, um die es hier geht. ** Anmerkung der Übersetzer: Ebenezer Scrooge ist die Hauptfigur dieser Novelle. Er wird als selbstsüchtiger und übelgelaunter alter Mann dargestellt, der als Geldverleiher in London lebt – ohne Sinn für Freude und Freundlichkeit, die er als Zeitverschwendung ansieht. Auch in der Weihnachtszeit, in der Liebe und Altruismus noch etwas gelten (sollen), ändert er sein Verhalten gewöhnlich nicht. Bob Cratchit ist sein kurz gehaltener Angestellter. 0

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Markets and Morality

Two Kinds of Duty-Based Morality For our purposes it is useful to distinguish between two types of 6 duty-based morality, which we designate as magnanimous morality and mundane morality. When most people think of moral behavior, it is magnanimous morality they have in mind, and we consider it first, and in greater detail.

Magnanimous Morality Magnanimous morality can best be defined in terms of helping others 7 in ways that satisfy three characteristics – helping intentionally, doing so at a personal sacrifice, and providing the help to identifiable beneficiaries. 5 Helping others is considered magnanimously moral only if the help is intentional. Consider the well-known story A Christmas Carol by Charles Dickens. Ebenezer Scrooge ends up helping the Cratchet family, and their crippled son Tiny Tim, intentionally after he is transformed into a caring human being by his Christmas Eve encounter with the ghost of his former partner and the three ghosts of Christmas. This story, written in 1843, still invokes a strong emotional response to Scrooge’s desire to help others as a result of his moral awakening.

We do not claim these characteristics are exhaustive, but we believe they are of primary importance in distinguishing between the two types of morality being considered.

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Markt und Moral

Weihnachtsabend durch die Begegnung mit dem Geist seines Vorgängers und den ›drei Geistern der Weihnacht‹ in ein fürsorgliches Menschenkind verwandelt wurde. Diese 1843 verfasste Geschichte erzeugt auch heute noch eine starke emotionale Resonanz, weil es berührt, wie Scrooge nach seinem moralischen Erwachen den Wunsch verspürt, anderen helfen zu wollen. Das besondere Gewicht bewusster Absichten für die Helfermoral 8 ist eng mit der Forderung nach persönlichen Opfern verknüpft. Je größer das Opfer ist, das eine Person zur Unterstützung anderer erbringt, desto offenkundiger ist es, dass die Hilfe in voller Absicht geleistet wird, und desto größer ist die moralische Qualität, die man der Hilfe zuschreibt. Unter dem Aspekt der Helfermoral ist die Größe des Opfers in der Regel wichtiger als die tatsächlich bewirkte Hilfeleistung. Das wird durch die biblische Geschichte der armen Witwe verdeutlicht: Ihre beiden kleinen Münzen im Opferstock veranlassten Jesus seinen Jüngern gegenüber zu dem Ausspruch: »Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferstock hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt«. 9 9 Im Gegensatz dazu wird Hilfeleistung aus Eigennutz fast immer als ein Zeichen dafür angesehen, dass die primäre Absicht darin besteht, selbst zu profitieren, nicht jedoch darin, anderen Menschen Gutes zu tun. Selten gilt hochprofitables Handeln als moralisch, und zwar ganz unabhängig davon, wie groß die Vorteile sind, die daraus für andere entspringen. Man übersieht nur zu leicht die sozialen Vorteile gewinnorientierten Handelns oder stuft dieses Handeln sogar als schädlich für andere ein. Trotz der spätestens seit Adam Smith unternommenen Bemühungen von Wirtschaftswissenschaftlern und trotz der eindeutigen Belege durch die spektakuläre Zunahme der Weltbevölkerung und des Pro-Kopf-Einkommens in den letzten beiden Jahrhunderten bleibt die am Nullsummenspiel orientierte Meinung verbreitet, reich werden könne man nur auf Kosten anderer. 10 Im Vergleich zu der breitgestreuten Vorteilsdiffusion, die ohne Ansehen der Person und diskriminierungsfrei wirkt, wird die dritte Eigenschaft der Helfermoral, nämlich Hilfe nur identifizierbaren Personen zukommen zu lassen oder sie nur in solchen Fällen zu leisten, 0

Markus 12:43–44, veränderte Einheitsübersetzung.

20 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Markets and Morality

The importance of intentions to magnanimous morality is related 8 to the requirement of personal sacrifice. The greater the sacrifice a person makes to help others, the clearer it is that the help is being provided intentionally and the greater the morality attributed to it. In terms of magnanimous morality, the amount of the sacrifice is typically more important than the benefit created. This is illustrated in the biblical story of the widow who, by dropping two pennies into the collection box, prompted Jesus to tell his disciples »I tell you the truth, this poor widow has given more than all the others who are making contributions. For they gave a tiny part of their surplus, but she, poor as she is, has given everything she had to live on« (Mark 12:41–44, New Living Translation).

In contrast, profiting by helping others is almost always seen as 9 an indication that the primary intention is to profit, not to do good. Rarely is highly profitable behavior seen as moral no matter how great the benefits it generates for others. There is a strong tendency to overlook the benefits from profitable activities, or even to see them as harmful to others. Despite the efforts of economists at least since Adam Smith, and the clear evidence provided by dramatic increases in both global population and per capita income over the past two centuries, the zero-sum belief that those who get rich must be doing so at the expense of others remains common.

The third characteristic of magnanimous morality – providing 10 benefits to identifiable people or particular causes deemed to be worthy – is more likely to be considered moral than providing widely dispersed benefits impersonally and indiscriminately. Organizations soliciting contributions to fight hunger in poor countries, for example, commonly appeal to our sense of morality by offering the oppor21 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Markt und Moral

in denen sie als angemessen gilt, weitaus eher als ›moralisch‹ im eigentlichen Sinne aufgefasst. Wenn Organisationen dringend zu Spenden aufrufen, um, sagen wir, den Hunger in armen Ländern zu bekämpfen, appellieren sie gewöhnlich dadurch an unser sittliches Empfinden, dass sie die Möglichkeit anbieten, für ein bestimmtes Kind zu spenden und als Gegenleistung sein Bild und seine Lebensgeschichte zu erhalten. Andere Beispiele finden sich in den sehr unterschiedlichen Reaktionen auf Philanthropen und Investoren. Philanthropie wird als moralische Handlung verstanden, die das negative Image einer Person verbessern kann, die zu Reichtum gekommen ist, auch wenn diese Person dadurch reich wurde, dass sie weitaus mehr Menschen weitaus größere Wohltaten erwiesen hat als in der Rolle des Philanthropen. Hingegen werden Sparen und Investieren selten als moralische Handlungen aufgefasst, und das trotz der Tatsache, dass der investierende Unternehmer mit jedem gesparten Dollar anderen sicherlich mehr hilft als der Philanthrop mit jedem gespendeten Dollar. Im Gegensatz zu Philanthropen, die darüber entscheiden, was sie den Begünstigten zukommen lassen wollen, lässt der Unternehmer die Nutznießer (also die Kunden) darüber selbst entscheiden. Außerdem sorgen private Investoren für allgemeinen Nutzen, ohne dass die Nutznießer sie dazu drängen müssten. Aber obwohl der investierende Unternehmer mehr zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beiträgt als der Philanthrop, erfreut sich der erstere keiner moralischen Zustimmung, weil seine Hilfe ohne Ansehung der Person geleistet wird und nicht an eindeutig identifizierbare Empfänger geht. Und schließlich: Der investierende Unternehmer wird nicht als jemand wahrgenommen, der anderen absichtlich Wohltaten zukommen lassen will oder persönliche Opfer in Kauf nimmt, um anderen zu helfen. 11 Evolutionäre Prägungen erlauben eine plausible Erklärung für die oben genannten Kriterien, die nach verbreiteter Auffassung als notwendige Bedingungen für Moralität gelten. 10 Die menschliche Evolution vollzog sich fast ausschließlich in einer Zeitspanne, in der die Menschen als Jäger und Sammler in Kleingruppen von vermutlich 25 bis 125 Mitgliedern lebten. Das Überleben hing entscheidend davon ab, wie Menschen gegenseitig auf ihr jeweiliges Verhalten reagierten. Allmählich sedimentierten Reaktionsgewohnheiten mit dem größten Überlebenswert zu Gefühlsregungen, die genau das zu ver0

Vgl. Rubin (2003).

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tunity to contribute to a specific child in return for his or her picture and history. Another example is found in the very different reactions to philanthropists and investors. Philanthropy is seen as a moral act that can moderate the public’s negative view of someone who has become wealthy, even though he became wealthy by providing far greater benefits spread over more people than his philanthropy does. Saving and investing money, in contrast, is seldom seen as a moral act even though the investor-entrepreneur surely does more to help others for every dollar saved than the philanthropist does for every dollar given away. As opposed to philanthropists, who decide what they want beneficiaries to have, entrepreneurs let the beneficiaries (consumers) decide what they want. Also, private investors provide their benefits without the beneficiaries having to lobby for them. But even though the investor-entrepreneur creates more social value than the philanthropist, the former receives no moral acclaim because his help is provided indiscriminately rather than going to clearly identifiable recipients. Finally, the investor-entrepreneur is not seen as intending to benefit others or making a personal sacrifice to provide the benefits.

Evolutionary imprinting provides a plausible explanation for the 11 above conditions being widely seen as requirements for morality (Rubin 2003). Human evolution has taken place almost entirely while humans lived in small bands (probably consisting of 25 to 125 or so individuals) of hunter-gatherers. Survival was critically influenced by how people reacted to the behavior of each other, and those reactions with the greatest survival value evolved into emotional responses that helped enforce what became to be considered desirable, or moral, behavior. The type of behavior necessary for the mutual support and cooperation needed for survival in small hunter-gatherer bands was obviously limited, given that each band was almost entirely self-suf23 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Markt und Moral

stärken halfen, was wir gewöhnlich als wünschenswertes oder moralisches Verhalten betrachten. Die für gegenseitige Hilfe und überlebensdienliche Kooperation notwendigen Verhaltensweisen waren in kleinen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften offensichtlich begrenzt, wenn man bedenkt, dass jede Gruppe fast völlig autark war. Gegenseitige Unterstützung wurde mit voller Absicht gewährt, und zwar von identifizierbaren Personen für identifizierbare Personen, die einander gut kannten. Obwohl es auch Reziprozitätserwartungen gab, war die Hilfe für andere auch durch einen Sinn für persönliche Fürsorge und gemeinsames Teilen motiviert, ohne dass man den Hilfsempfängern ausdrücklich Verpflichtungen auferlegen musste. Man sieht: Persönliche Opfer, um anderen zu helfen, wurden unschwer als solche wahrgenommen; sie förderten innerhalb der relevanten Bezugsgruppe den Ruf der Großzügigkeit; und eine solche Reputation war vielleicht fast ebenso wirksam wie eine ausdrückliche Forderung nach Reziprozität. Allerdings hätte ein entsprechender guter Ruf gelitten, wenn die Gemeinschaft zu der Überzeugung gelangt wäre, die Hilfe sei aus persönlichem Gewinninteresse gewährt worden – wobei zu bedenken ist, dass man innerhalb der Bezugsgruppe Gewinne in Form einer außergewöhnlichen Anhäufung materieller Güter leicht feststellen konnte. Unter den Mitgliedern der kleinen Gemeinschaften kam es in begrenztem Maße zu Spezialisierung und Tausch, so dass Jäger und Sammler zwar strenggenommen nicht in einer Nullsummen-Gesellschaft lebten, aber doch nahezu. Die Auffassung, jemand könne sich nur auf Kosten anderer über das allgemein Übliche hinaus Güter aneignen, war unter diesen Umständen vernünftig.

Die Marktmoral 12

Die Helfermoral, wie wir sie in diesem Abschnitt bis hierher diskutiert haben, unterscheidet sich grundlegend von der Marktmoral, die wir jetzt untersuchen. Die Marktmoral kann, grob gesagt, als Befolgung allgemein akzeptierter Regeln oder Verhaltensnormen beschrieben werden – wie etwa ›die Wahrheit sagen‹, ›Versprechungen einlösen‹, ›vertragliche Verpflichtungen erfüllen‹, ›fremde Eigentumsrechte respektieren‹ oder ›andere nicht bewusst schädigen‹. Adam Smith hat es so formuliert:

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ficient. The assistance that people provided each other was given intentionally by and to identifiable people who knew each other well. Although there were expectations of reciprocity, helping others was also motivated by a sense of personal caring and mutual sharing, without any need for formally imposed obligations on those receiving the help. True, making personal sacrifices to help others was easily seen, and established a reputation for generosity throughout the relevant community that may have been almost as effective as a formal claim on reciprocity. But such a reputation would have been tarnished if it were thought the help was being given for personal profit, as measured in the accumulation of material wealth much in excess of that prevailing in the band. Some limited specialization and exchange did take place within the band, so while hunters and gatherers did not live in strictly a zero-sum society, it was close to one. The belief that anyone accumulating more wealth than generally possessed was doing so at the expense of others would have been a reasonable one.

Mundane Morality The magnanimous morality discussed so far in this section contrasts 12 sharply with the mundane morality we now consider. Mundane morality can be described broadly as obeying the generally accepted rules or norms of conduct such as telling the truth, honoring your promises and contractual obligations, respecting the property rights of others, and refraining from intentionally harming others. As stated by Smith ([1759] 1982: 82),

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»Bloße Rechtmäßigkeit ist in den meisten Fällen lediglich eine negative Tugend und hält uns nur davon ab, unserem Nächsten zu schaden. Derjenige, der einfach davon absieht, die Person, das Vermögen oder den guten Ruf seines Nächsten zu schädigen, erwirbt damit sicherlich nur ein geringes positives Verdienst. Und doch beachtet er alle Regeln der Tugend, die man im eigentlichen Sinne ›Gerechtigkeit‹ nennt, und er tut alles, was ihm seine Mitmenschen fairerweise aufnötigen und für dessen Unterlassung sie ihn bestrafen können. Wir können in vielen Fällen allen Regeln der Gerechtigkeit einfach dadurch entsprechen, dass wir still dasitzen und nichts tun.« 11

14

Niemand sollte daraus schließen, dass Smith die Bedeutung von dem gering schätzte, was wir ›Helfermoral‹ nennen. Er unterscheidet lediglich zwischen negativen und positiven Verdiensten, wobei er letztere nur denjenigen Menschen zubilligt, die anderen wohlgesinnt und gegenüber Hilfsbedürftigen großzügig sind – also denjenigen, die einer Helfermoral folgen. Und er vertrat die Auffassung, dass diese Moral ein wichtiger Bestandteil unserer seelischen Konstitution ist. Smith eröffnete seine Theorie der ethischen Gefühle mit dem programmatischen Satz: »Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch ganz offensichtlich bestimmte Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bringen, am Schicksal der anderen Anteil zu nehmen, und die ihm selbst deren Glückseligkeit zum Bedürfnis machen, obgleich er daraus keinen anderen Vorteil zieht als das Vergnügen, davon Zeuge zu sein.« 12 Wer glaubt, Adam Smith sei ein Verfechter der Habgier gewesen, hat sich nicht der Mühe unterzogen, ihn sorgfältig zu lesen. Selbstverständlich ging Smith davon aus, dass jeder von uns auch 15 ein gesundes Eigeninteresse an den Tag legt. Um ihn noch einmal zu zitieren: »Zweifellos neigt jedermann von Natur aus zuallererst und grundsätzlich dazu, sich um sich selbst zu kümmern; und da er das besser kann als für irgendeinen anderen zu sorgen, ist es nur recht und billig, dass er das auch tun soll.« 13 Doch Smith erkannte auch, dass in einer modernen Gesellschaft (und das schließt seine damalige Gesellschaft mit ein) niemand von uns seinen Lebensstil aufrechterhalten könnte, ohne auf die Unterstützung von Menschen zurückzugreifen, deren Anzahl sehr viel größer ist als der vergleichsweise kleine Kreis von Menschen, die man konkret umsorgen bzw. von de0 0 0

Smith (1759, 1982; S. 82). Smith (1759, 1982; S. 9). Smith (1759, 1982; S. 82).

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Mere justice is, upon most occasions, but a negative virtue, and only hinders 13 us from hurting our neighbor. The man who barely abstains from violating either the person, or the estate, or the reputation of his neighbours, has surely little positive merit. He fulfills, however, all the rules of what is peculiarly called justice, and does everything which his equals can with propriety force him to do, or which they can punish him for not doing. We may often fulfill all the rules of justice by sitting still and doing nothing.

No one should conclude that Smith slights the importance of what we 14 are calling magnanimous morality. He is merely distinguishing between negative merit and positive merit, reserving the latter for those who are sympathetic to others and show generosity to those in need – those who demonstrate magnanimous morality. And he believed this morality was an important part of our psychological makeup. Smith ([1759] 1982: 9) opens The Theory of Moral Sentiments with the sentence »How selfish soever man may be supposed, there are evidently some principles in his nature, which interest him in the fortune of others, and render their happiness necessary to him, though he derives nothing from it except the pleasure of seeing it.« Anyone who believes that Adam Smith was a champion of greed has not bothered to read him carefully.

Of course, Smith recognized that each of us also has a healthy 15 regard for his own interest. Again, quoting Smith ([1759] 1982: 82), »Every man is, no doubt, by nature, first and principally recommended to his own care; and as he is fitter to take care of himself than of any other person, it is fit and right that it should be so.« Yet, he also recognized that none of us in modern society (including his at the time) can maintain his life style without the help of far more people than we can care about, or who can care about us, or as Smith ([1776] 1981: 26) expresses it, »In civilized society [each] stands at all times in need of the cooperation and assistance of great multitudes, while his whole life is scarce sufficient to gain the friendship of a few persons.« The fundamental insight of Smith comes from his understanding that the limited numbers who care for us in no way limits a network of mutual assistance and support from expanding to include everyone in a position to provide each of us all the help sufficiently valuable to 27 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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nen man konkret umsorgt werden kann. Smith drückt es so aus: »In der modernen Gesellschaft ist [jeder] zu jeder Zeit auf die Zusammenarbeit und Mitwirkung zahlreicher Menschen angewiesen, obwohl sein ganzes Leben kaum dazu ausreicht, die Freundschaft einiger weniger Personen zu gewinnen.« 14 Diese fundamentale Einsicht Smiths ergibt sich aus seiner Erkenntnis, dass die beschränkte Zahl derer, die uns beistehen, in keiner Weise das Netzwerk gegenseitiger Unterstützung begrenzt. Vielmehr ist es möglich, das soziale Netzwerk wechselseitiger Hilfsleistungen so stark auszuweiten, dass es jedermann in die Lage versetzt, jedem von uns genau die Unterstützung angedeihen zu lassen, deren Wert hinreicht, um den Aufwand zu rechtfertigen. Die bekannteste Formulierung dieser Einsicht bei Smith lautet so: Weil jedermann darum bemüht ist, seine Aktivitäten dorthin zu lenken, wo 16

»ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, [ist] dann auch jeder einzelne ganz zwangsläufig darum bemüht, das jährliche Volkseinkommen so groß wie möglich werden zu lassen. Doch grundsätzlich beabsichtigt er weder, den allgemeinen Nutzen zu fördern, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag dazu ausfällt ...; und indem er seine wirtschaftlichen Aktivitäten so steuert, dass ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, strebt er lediglich nach seinem eigenem Gewinn. Er wird in diesem wie in anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der nicht in seiner Absicht lag. Es wirkt sich für die Gesellschaft auch nicht dadurch nachteilig aus, dass er nicht beabsichtigt war. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er die der Gesellschaft häufig auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigte, sie zu fördern.« 15

17

Diese Textstelle ist seit gut zwei Jahrhunderten sowohl aus positiven als auch aus normativen Gründen kritisiert worden. Nach unserer Auffassung war die Kritik, die den stärksten Einfluss auf die öffentliche Meinung entfaltet hat, dezidiert in normativen bzw. moralischen Überlegungen verankert. Gewiss – ein Großteil der Kritik hat auf Marktversagen abgestellt, das in Smiths Äußerung zur Unsichtbaren Hand nicht vorkommt. Aber das allein würde schwerlich die weitverbreitete Marktskepsis erzeugen, die es immer schon gegeben hat. Natürlich kann die positive Ökonomik auf Unzulänglichkeiten realer Märkte verweisen. Doch setzt man solche Mängel zu positiven Ana-

0 0

Smith (1776, 1981; S. 26). Smith (1776, 1981; S. 456).

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justify its provision. The most famous statement of this insight by Smith ([1776] 1981: 456) is that since every individual endeavors to direct his industry where

its produce may be of the greatest value; every individual necessarily la- 16 bours to render the annual revenue of society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it … ; and by directing that industry in such a manner as its product may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it worse for the society that it was no part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it.

This passage has been criticized for well over two centuries on both 17 positive and normative grounds. We believe the criticism that has most influenced public opinion has been firmly rooted in normative, or moral, considerations. True, much of the criticism has pointed to market failures that are ignored in Smith’s statement of the »invisible hand.« But, this alone would hardly create the widespread skepticism toward markets that has always existed. Of course, positive economics can point to imperfections in realworld markets. But when compared to positive analysis of the realworld alternatives, whether fullblown central planning or political attempts by democratic governments to correct market failures (real or otherwise), criticisms of market imperfections are difficult to take seriously as a general condemnation of markets. It is much easier to understand the persistent criticism of markets, and of the invisible hand justification for them, 29 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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lysen realer Alternativen in Beziehung, etwa einer vollentwickelten zentralen Planwirtschaft oder den politischen Versuchen demokratischer Regierungen, ein tatsächliches oder vermeintliches Marktversagen zu korrigieren, dann kann die Kritik an Marktunzulänglichkeiten schwerlich als generelle Ablehnung von Märkten ernst genommen werden. Die anhaltende Kritik am Markt und an seiner Rechtfertigung durch die Unsichtbare Hand lässt sich jedoch viel leichter verstehen, wenn man die starke emotionale Bindung an die Helfermoral berücksichtigt. Die meisten Menschen glauben, das Marktverhalten lasse eine moralische Dimension weitgehend vermissen, und dieses instinktive (Miss-)Verständnis wird durch die Rechtfertigung des Marktes mit Hilfe der Unsichtbaren Hand sogar noch untermauert, weil hierbei die Helfermoral keine Rolle spielt. 18 Die Bedeutung der Unsichtbaren Hand für die Charakterisierung des Marktes liegt in der Tat darin beschlossen, dass seine wirklich eindrucksvolle Fähigkeit, zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung zu motivieren, gerade kein bewusst intendiertes Wohl-Wollen, keine persönlichen Opfer und keinen identifizierbaren Nutznießer notwendig macht. Folgt man dem Argument der Unsichtbaren Hand, dann wird auf Märkten den Mitmenschen deshalb mehr Hilfe gewährt, weil gar nicht beabsichtigt wird, ihnen zu helfen; die Unterstützungsleistungen für andere sind motiviert und im Allgemeinen auch begleitet durch das persönliche Gewinninteresse; und der Nutzen kommt der Gesellschaft zugute – sie bevorzugen also niemanden im Besonderen. Insofern setzt der Markt das Verhalten, das die meisten als moralisch ansehen, nicht nur nicht voraus; vielmehr herrscht der Eindruck vor, der Markt fördere ein Ausmaß an moralischer Indifferenz, das man weithin als unmoralisch ansieht – vor allem, wenn es um Habgier geht sowie um die Bereitschaft, aus den Schwierigkeiten anderer Menschen Nutzen zu ziehen. Diese Sichtweise auf Märkte wird noch weiter verstärkt durch die menschliche Neigung, die Motive anderer Menschen zu beargwöhnen – vor allem dann, wenn sie Fremde sind.

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once the strong emotional attachment to magnanimous morality is considered. Most people see market behavior as largely lacking in moral behavior as they instinctively understand it and that view is reinforced by the invisible hand justifi cation for markets since it ignores any role for magnanimous morality.

Indeed, the importance of the invisible hand characterization of 18 the market is that the truly impressive performance of the market at motivating mutual help and assistance does not involve intention, personal sacrifice, or identifiable beneficiaries. According to the invisible hand case for markets, more help is provided because people do not intend to provide it; the help is motivated and generally accompanied by personal gain; and the benefits go to society, in other words to no one in particular. So not only does the market not require the behavior that most see as moral, it is seen as motivating a level of indifference to that morality that is widely seen as immoral – in particular, rewarding greed and the willingness to profit from the problems of others. This view of markets is intensified by the tendency for people to be suspicious of the motives of others, particularly those of strangers.

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Feindschaft gegen den Markt verschleiert seine wünschenswerten Leistungen 19

Die instinktive Abneigung gegen die moralischen Defizite und die Unmoral, die nach verbreiteter Auffassung den Marktprozess antreiben, untergräbt gewöhnlich die Wertschätzung des Marktes – und zwar unabhängig von seinen Ergebnissen. Für viele Menschen verderben die Mittel des Marktprozesses seinen Zweck. Diese marktfeindliche Mentalität wird deutlich, wenn man einige Erfolgsbeispiele betrachtet: Man feierte sie als edle Werke, wenn sie ohne Marktanreize zustande gekommen waren, sie verloren aber an Wertschätzung, wenn sie (oft sogar besser) durch Märkte geschaffen wurden. 20 Der Gemeinschaftliche Scheunenbau*** spricht unseren moralischen Sinn an. Hier kommen Menschen zusammen, um etwas zu teilen. Sie verfolgen die klare Absicht, einem bestimmten Mitglied der Gemeinde zu helfen, das seine Scheune oder ein anderes Gebäude verloren hat. Die meisten Menschen stimmen darin überein, dass es wünschenswert wäre, wenn solche gemeinsamen Unternehmungen sich über die Grenzen kleiner homogener Gemeinschaften hinaus ausbreiten könnten; dahinter steckt die Hoffnung, dass sich auf diese Weise zahlreiche unterschiedliche Menschen rund um den Globus zum fürsorglichen Teilen mit denen veranlassen ließen, die einen erlittenen Schadensfall nicht ohne Hilfe bewältigen können. Aber Informationsdefizite über räumlich weit entfernte Schäden und geringe Reziprozitätserwartungen gegenüber Fremden begrenzen die wechselseitige Freigebigkeit, die im Gemeinschaftlichen Scheunenbau ihren Ausdruck findet, auf kleine, eng verbundene Gemeinschaften. Gleichwohl ist eine weit verstreute Gemeinschaft von ›Scheunen-Erbauern‹ dennoch möglich und wurde dadurch verwirklicht, dass wir uns nicht mehr auf die Helfermoral, sondern auf die Marktmoral der finanziellen Anreize verlassen. Es ist unübersehbar: Wir sprechen von Versicherungen, wie sie gewinnorientierte Unternehmen bereitstellen. Sie bündeln die Risiken zahlreicher Menschen, beschaffen *** Als Gemeinschaftlicher Scheunenbau (›barn raising‹) wird die bei einigen amerikanischen Religionsgemeinschaften zu findende Praxis bezeichnet, größere Bauvorhaben als Gruppe anzugehen, ohne die individuellen Arbeitsleistungen nach Marktgepflogenheiten abzurechnen. Die Hilfe, die der Einzelne auf diese Weise von seiner Gruppe erfährt, zahlt er gewissermaßen dadurch zurück, dass er seinerseits an Projekten mitarbeitet, die innerhalb der Gemeinschaft anderen zugute kommen. Für ein Beispiel vgl. http://tinyurl.com/owg5nbr.

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Hostility to the Market Obscures the Desirability of Its Achievements The instinctive hostility toward the lack of morality (and immorality) 19 widely seen as motivating the market process commonly undermines appreciation for markets no matter how desirable their outcomes. In the minds of many, the ends of the market process are contaminated by the means of that process. This anti-market mentality is illustrated by considering some examples of outcomes applauded as noble achievements when accomplished in the absence of market incentives, but which cease to be appreciated when accomplished, and accomplished better, through markets. Barn raisings appeal to our sense of morality since they involve 20 people coming together in a spirit of sharing with the clear intention of helping someone in the community who has lost his barn or some other physical structure. Most agree that it would be nice if barn raisings could be extended beyond small homogenous communities to involve large numbers of diverse people dispersed around the globe caring for and sharing with those who needed help replacing a loss. But lack of information about remote losses, and little expectation of reciprocity from strangers, confines the mutual generosity exemplified by barn raisings to small, close-knit groups. Yet, an extended community of »barn raisers« is possible, and has been realized by shifting our reliance from magnanimous morality to the mundane morality of financial incentives. We are obviously talking about insurance, which is provided by profit-seeking firms pooling the risk of large numbers of people, acquiring information on where losses occur, and ensuring that each person’s contribution assisting others is reciprocated when, and if, they need assistance. The outcomes of insurance are actually better than traditional barn raisings. The risks are shared far more widely, and those suffering losses receive money with which to hire specialists in the type of work needed, which means better work and fewer injuries. But this achievement is seldom appreciated as an improvement over traditional barn raising because the provision of insurance is at best seen as an impersonal process completely lacking in concern and sacrifice for others. Appreciation of the widespread network of mutual help made possible by insurance is largely trumped by thoughts of profiting from the misfortune of others.

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Informationen über Schadensereignisse und garantieren, dass der individuelle Beitrag, mit dem man andere in Schadensfällen unterstützt, Reziprozitätsleistungen auslöst, wenn man selbst einen Schaden erleidet und Unterstützung benötigt. Die Resultate einer solchen Versicherung sind tatsächlich sogar besser als beim traditionellen Scheunenbau: Die Risiken werden viel weiter gestreut, und diejenigen, die einen Schaden erleiden, werden mit Geldzahlungen kompensiert, so dass sie geeignete Spezialisten beauftragen können; das bedeutet bessere Arbeit und weniger Verletzungen. Aber diese Errungenschaft wird selten als Fortschritt gegenüber dem traditionellen Scheunenbau gewürdigt, weil die Bereitstellung einer Versicherung bestenfalls als unpersönlicher Vorgang gilt, dem die Fürsorge und das Opfer für andere völlig abgehen. Die Wertschätzung eines weitgespannten Netzwerks gegenseitiger Hilfe, wie es durch Versicherungen möglich ist, wird weitgehend von dem Gedanken überlagert, dass eine Versicherung ›Profit‹ aus dem Unglück anderer zieht. Nehmen wir das Beispiel der Ressourcenschonung. Hier geht es 21 darum, mit künftigen Konsumenten zu teilen, die oft noch nicht einmal geboren sind. Fast ausnahmslos wird die Schonung unserer Ressourcen im Interesse künftiger Generationen als Paradebeispiel einer moralisch gebotenen Maßnahme angesehen. Dennoch verringert die Moral der Ressourcenschonung keineswegs die Schwierigkeiten, in die man bei jedem ernsthaften Versuch gerät, Ressourcen auf kluge Weise zu schonen. Um ein Beispiel zu geben: Wie viele Mengeneinheiten einer knappen Umweltressource sollten wünschenswerterweise bewahrt werden? Offensichtlich ist eine Ressourcenschonung nur so lange vernünftig, wie der heutige Grenzertrag der zu schonenden Mengeneinheit kleiner ist als der zukünftige Grenzertrag. Und selbst dann, wenn wir wüssten, welche Ressourcenmenge zu bewahren wäre: Welche Motivation haben Menschen, auf der Grundlage einer solchen Information zu handeln? Ressourcenschonung erfordert heutige Opfer; die Versuchung ist daher groß, sich darauf zu verlassen, dass andere das Opfer schon leisten werden. Selbst wenn man anfangs seinen Anteil an dem Opfer, das mit geringerem Ressourcenverbrauch verbunden ist, bereitwillig akzeptiert, wird man es kaum noch tun, wenn man sieht, dass andere ihren kurzsichtigen Weg weitergehen und sich als Trittbrettfahrer erweisen. Was nur wenige erkennen oder gar würdigen, ist der Umstand, dass der stärkste Zwang zur Ressourcenschonung von Spekulanten ausgeht, die auf der Suche nach Gewinnen Marktpreise kommunizieren und auf Marktpreise reagie34 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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Consider conservation, which is an example of sharing with fu- 21 ture consumers, often those yet unborn. Almost without exception, conserving our resources for the benefit of future generations is considered the moral thing to do. The morality of conservation, however, does not reduce the difficulties faced by any serious effort to conserve wisely. For example, how much of a resource is it desirable to conserve? Obviously conserving more of a resource makes sense only as long as its marginal value is less today than it will be in the future. And even if we knew how much to conserve, what motivation do people have to act on that information? Conservation requires current sacrifice, and the temptation is strong for people to depend on others to do the conserving. Even if one is initially willing to accept her share of the sacrifice by using less of a resource, she is unlikely to continue doing so when seeing others persisting in their shortsighted ways. What few recognize, or appreciate, is that the most effective force for conserving resources is speculators communicating through and responding to market prices in search of profits. Speculators are constantly responding to changing information on the likely value of particular resources in the future and, when they believe a resource’s value will increase, they seek to profit by entering into contracts vation is excessive) can help correct the situation and profit (if they are correct) by entering into contracts that reduce the resource’s current price and increase current consumption.

35 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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ren. Spekulanten stellen sich ständig auf wechselnde Informationen über den wahrscheinlichen Zukunftswert bestimmter Ressourcen ein; und wenn sie glauben, dass dieser Wert steigen wird, suchen sie davon zu profitieren, indem sie in Kontrakte einsteigen, die den aktuellen Ressourcenpreis ansteigen lassen – was alle Konsumenten dazu bringt, heute weniger zu verbrauchen und so morgen mehr verfügbar zu haben. 17 Ohne die Anreize höherer Marktpreise, wie sie durch Spekulation entstehen, würde es kaum Ressourcenschonung geben. Spekulanten sind jedoch gemeinhin als profitsüchtige Hamsterer verschrieen – und das sogar bei denen, die sich selbst für unbeugsame Befürworter der Ressourcenschonung halten. Die Ansicht, Spekulanten seien unmoralisch, wird allerdings verständlich, wenn man berücksichtigt, dass es auf dem Feld der Spekulation eine Helfermoral nicht gibt. Und das ist nur ein weiteres Beispiel für die weitverbreitete Feindschaft gegenüber der Moralität von Märkten, welche übersieht, wie moralisch wünschenswert die Marktleistungen sind. 22 Manche Güter und Dienstleistungen haben starke emotionale Verbindungen zur Tradition des ›caring-and-sharing‹* in stark personalisierten Situationen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte fast ständig zugenommen haben. Ärztliche Betreuung ist ein naheliegendes Beispiel. Deshalb sollte man erwarten, dass die Helfermoral bei der Bewertung ärztlicher Versorgung von größerer Bedeutung ist als bei vielen anderen produktiven Tätigkeiten. Darin liegt eine zwar nur partielle, aber wichtige Erklärung für die umfangreiche Rolle des Staates im Gesundheitswesen. Bis vor kurzem wurde die ärztliche Versorgung fast ausschließlich durch einen Hausarzt geleistet, der meist diejenigen persönlich kannte, die er behandelte, und zwar nicht nur als Patienten, sondern auch als Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft. Die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient ließ zwischen ihnen ein Gefühl wechselseitiger Verbundenheit entstehen, das sich gewöhnlich sogar auf die Höhe der Arztrechnungen In gleicher Weise gilt: Spekulanten, die glauben, dass der Wert einer Ressource sinken wird (dass das gegenwärtige Ausmaß an Ressourcenschonung also übertrieben ist), können dazu beitragen, die Lage zu verbessern; sie profitieren (wenn sie richtig liegen) dadurch, dass sie in Kontrakte einsteigen, die den aktuellen Preis der Ressource sinken lassen und so den gegenwärtigen Verbrauch steigern. * Anmerkung der Übersetzer: Hier geht es um Tätigkeitsfelder, in denen man sich um einzelne konkrete Menschen kümmert und in denen es auf persönliche Zuwendung ankommt, also etwa um die Heil- und Pflegeberufe oder um den Bereich der Kinderbetreuung.

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36 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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which increase its current price, motivating all consumers to consume less today and making more available in the future. 6 There would be little conservation without the incentives of the higher market prices generated by speculation, yet speculators are widely despised as profiteering hoarders even by those who consider themselves strongly in favor of conservation. The view of speculators as immoral is understandable given the lack of magnanimous morality involved in speculation. And it is another example of the widespread hostility toward the morality of markets obscuring the desirability of its achievement.

Some goods and services have strong emotional connections to a 22 tradition of caring and sharing in highly personal settings that extend through almost all of human history. Medical care is an example that comes to mind. As a result, it seems reasonable to expect magnanimous morality to be a more important factor in evaluating the provision of medical care than in many other productive activities. This is surely a partial, but important, explanation for the large government role in medical care. Until very recently, medical care was provided almost entirely by a family physician who often knew those he treated, not only as patients but as fellow members of the community. The personal connection between doctors and patients increased the sense of caring between them, and this commonly extended to patient fees being adjusted to their particular circumstances. The personalized nature of medicine weakened as medical technology increased the number and importance of medical specialties, with a patient often seeing several different physicians in the treatment of an illness or injury. As medical insurance (most of which is acquired through employers) became an increasingly significant way of paying for medical care, the personal relationship between patients and physicians was Similarly, speculators who believe that a resource’s value will decline (that conservation is excessive) can help correct the situation and profit (if they are correct) by entering into contracts that reduce the resource’s current price and increase current consumption.

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37 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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auswirkte, die den jeweiligen Umständen angepasst war. Die personenbezogene Eigenart der Heilkunst verlor jedoch an Bedeutung, seit die Medizintechnologie die Zahl und Bedeutung medizinischer Fachrichtungen vermehrt hat, so dass der Patient bei der Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen oftmals mehrere verschiedene Ärzte zu Gesicht bekommt. Als dann die Krankenversicherung (die in den USA zumeist durch den Arbeitgeber vermittelt wird) in zunehmendem Maße eine wichtige Rolle bei der Finanzierung ärztlicher Dienstleistungen spielte, ging die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient noch weiter verloren. Die damit einhergehende Erosion wechselseitigen Vertrauens hat sicherlich die öffentliche Reaktion auf die wachsenden Gesundheitskosten beeinflusst, die schneller als die Inflationsrate angestiegen sind – teilweise wegen der eindrucksvollen, aber kostspieligen Entwicklungen in der Medizintechnologie, teilweise aber auch wegen der moralischen Versuchungen,**, die durch Krankenversicherungen mit niedriger Selbstbeteiligung erzeugt werden. 20 Die gestiegenen Kosten (die von den Beschäftigten sowohl direkt als auch indirekt über niedrigere Löhne und Gehälter getragen werden) kommen in höheren Versicherungsbeiträgen zum Ausdruck, die von gesichtslosen, nicht als Person wahrnehmbaren Krankenversicherungen eingefordert werden. Bei all dem spielen Gefühle persönlicher Verbundenheit und Fürsorge eine zu geringe Rolle, um die Abneigung gegen das abzumildern, was man als Profitinteresse wahrnimmt. Es überrascht kaum, dass Politiker darin eine Gelegenheit sahen, ihr ›Mitgefühl‹ zu demons** Anmerkung der Übersetzer: Im englischen Original wird der Fachbegriff »moral hazard« verwendet. Hierbei handelt es sich um das Ausnutzen einer Möglichkeit, die speziell bei Versicherungen auftritt: Vor Abschluss eines Versicherungsvertrags, wenn man das Risiko selbst trägt, ist man entsprechend vorsichtig, dass kein Schaden eintritt, sowie entsprechend sparsam, wenn Schäden zu beheben sind. Nach Abschluss eines Versicherungsvertrages hingegen ändert sich die Anreizsituation grundlegend. Die Folge: Schäden werden wahrscheinlicher, und die durchschnittliche Schadenshöhe steigt. Märkte begegnen diesem Problem, indem sie eine Eigenbeteiligung der Versicherten einführen. Deshalb halten die Autoren es für bedenklich, dass der Staat steuerpolitische Anreize setzt, die die jeweils gewählte Eigenbeteiligung künstlich niedrig halten. 0 Geringe Eigenbeteiligungen bei Krankenversicherungen werden durch eine Steuerpolitik gefördert, die die vom Arbeitgeber für den Arbeitnehmer gezahlten Krankenversicherungsbeiträge nicht als zu versteuerndes Einkommen des Arbeitnehmers wertet. Daher gilt: Je geringer die Eigenbeteiligung ist, desto größer ist der Anteil an den Ausgaben für die eigene Gesundheit, den man aus dem Einkommen vor Steuern finanziert.

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further eroded. This erosion has surely affected the public response to rising medical-care costs that have been increasing faster than inflation rates partly because of impressive but expensive improvements in medical technology, and partly because of the moral hazard created by low-deductible health insurance. 7 With most of these increased costs reflected in the higher premiums charged by impersonal insurance companies (which employees pay both directly and with lower salaries and wages), there is little sense of personal connection and caring to moderate the hostility toward what is seen as profiteering. Not surprisingly, politicians have used this as an opportunity to showcase their »compassion« by increasing government subsidies for health care to reduce the perceived medical-care costs. Of course, these subsidies serve to increase costs, but the higher costs are blamed on the greed of insurance companies and doctors.

Low deductibles on health insurance are motivated by tax policy that does not tax the cost of health insurance premiums paid directly by employers as income to the employees. Therefore, the lower the deductible the greater the proportion of health care costs paid with pretax income.

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trieren, und zwar in Form steigender staatlicher Zuschüsse für das Gesundheitswesen, um die für Patienten spürbaren Kosten ärztlicher Versorgung zu senken. Natürlich führen solche Zuschüsse zu Kostensteigerungen. Aber die werden dann der Geldgier von Versicherungsgesellschaften und Ärzten zugeschrieben. Weitere Beispiele liefern all jene Erfolge, die fast jeder mit Zu23 stimmung und Beifall zur Kenntnis nähme, wenn sie durch ein Verhalten erzielt würden, das den Bedingungen für die Helfermoral genügt, die aber nicht gewürdigt oder sogar abschätzig beurteilt werden, wenn sie durch die Marktmoral zustande kommen. So bestünde der wirksamste Weg, die Armut in Haiti lindern zu helfen, für reiche Länder darin, ihre Märkte für Produkte zu öffnen, bei deren Erzeugung die Haitianer komparative Kostenvorteile besitzen, speziell bei Zucker. Würde man es den Haitianern ermöglichen, durch Produktion und Export von Zucker und anderen Gütern sich selbst zu helfen, trüge das zur Steigerung ihres Wohlstandes langfristig mehr bei als gelegentliche und zeitlich begrenzte Hilfsaktionen. Doch in keinem der reichen Länder, die gegenwärtig Zuckerimporte aus Haiti blockieren, gibt es einen erkennbaren politischen Druck, diese Handelshemmnisse abzubauen. Die Hilfe, die man anonym bleibenden Ausländern auf indirekte Weise durch unpersönlichen wirtschaftlichen Austausch zukommen lässt, erzeugt eben nicht jene moralische Befriedigung, die sich mit Hilfsleistungen verbindet, welche direkt an klar identifizierbare Opfer von Naturkatastrophen gehen. 24 Und schließlich: Nierentransplantationen sind lebensrettende chirurgische Operationen. Man nimmt sie an sich mit anerkennendem Beifall auf, sofern die Nieren auf einem moralisch akzeptablen Weg bereitgestellt wurden – nämlich unentgeltlich und daher ohne jede Absicht, von der Notlage anderer zu profitieren. Doch leider werden auf diese Weise weniger Nieren gespendet, als man benötigt. Überzeugende Argumente, die durch empirische Evidenz untermauert werden, stärken die Auffassung, ein Markt für Nieren würde jedes Jahr das Leben von Tausenden einfach dadurch verlängern, dass man die Anzahl der verfügbaren Nieren erhöht. 21 Aber solche Märkte sind in den Vereinigten Staaten sowie in fast allen anderen Ländern verboten, und es gibt kaum öffentliche Unterstützung dafür, solche Märkte zu legalisieren. Überall wird das noble Anliegen, Leben zu retten, unerschütterlich propagiert; gleichwohl ist dieser Wunsch of0

Vgl. Becker und Elias (2007).

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Additional examples come to mind of outcomes that almost 23 everyone would applaud if they were generated by behavior satisfying the conditions of magnanimous morality, but which go unappreciated or worse when generated by the mundane morality of the marketplace. The most effective way to help relieve Haiti’s poverty would be for wealthy countries such as the United States to open their markets to the products that Haitians have a comparative advantage producing, in particular sugar. Making it possible for Haitians to help themselves by producing and exporting sugar, and other products, would do more to increase the long-run prosperity of the Haitian people than occasional and temporary relief efforts. Yet there is no apparent political pressure in any of the wealthy countries currently restricting sugar imports from Haiti to lift those restrictions. Providing help indirectly to unidentified foreigners through impersonal commercial exchange does not generate the moral satisfaction as does providing help directly to identifiable victims of natural disasters.

Finally, kidney transplants are a life-saving surgical procedure, 24 and applauded as such when the kidneys are provided in a morally acceptable way – without compensation and therefore without any intent to profit from the plight of others. Unfortunately, fewer kidneys are donated than are needed, and plausible arguments supported by empirical evidence support the view that a market in kidneys would extend thousands of lives each year by increasing the number of kidneys available (Becker and Elias 2007). But such markets are outlawed in the United States and almost all other countries, with little public support for legalizing them. The noble desire to save lives is universally and adamantly proclaimed, but it is apparently not strong enough to overcome the moral aversion to doing so for commercial reasons.

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fensichtlich nicht stark genug, um die moralische Abneigung dagegen zu überwinden, dass Menschenleben aus kommerziellen Gründen gerettet werden. Die emotionale Anziehungskraft eines Verhaltens, das den Vor25 stellungen der Helfermoral entspricht, liefert eine plausible Erklärung für die trügerische Suche nach dem ›Dritten Weg‹ oder einem ›Kapitalismus mit menschlichem Antlitz‹. Diese Termini lassen sich auf eine Reihe politischer Vorhaben beziehen. Doch sie stellen meist nicht mehr als politische Parolen dar: Sie suggerieren die Möglichkeit einer Wirtschaftsordnung, in der die Prosperität freier Märkte durch persönliche Anteilnahme und Fürsorge zustande kommt, wie sie der Helfermoral entsprechen. Sosehr diese Möglichkeit unser instinktives Moralverständnis auch ansprechen mag: Sie ist nicht realisierbar. Das erklärt, warum der tschechische Präsident Václav Klaus seine Präferenz für einen »Kapitalismus ohne Adjektive« bekundete. Der französische Präsident Nikolaus Sarkozy dagegen zielte in seiner Grundsatzrede auf dem Weltwirtschaftsforum 2010 in Davos auf das vorherrschende Moralverständnis, als er forderte: »Wir müssen den Kapitalismus neu erfinden, um seine moralische Dimension, sein Gewissen wiederherzustellen.« 22 Solche politischen Appelle sind besonders wirkungsvoll, wenn es darum geht, öffentliche Unterstützung zu erzeugen, um während einer Wirtschaftskrise die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft auszuweiten: Man preist die Helfermoral der Staatsführung im Kontrast zur Moral des Marktes. Daraus resultiert die weitverbreitete Ansicht, dass wir mehr staatliches Handeln brauchen, um wirtschaftliche Probleme zu lösen, die hauptsächlich durch die ohnehin schon überbordende Staatstätigkeit verursacht worden sind. 23

Fürsorge genügt nicht 26

Sich um andere zu kümmern gilt allgemein als ein moralischer Imperativ. Dennoch gibt es zwei Gründe, warum Fürsorge niemals die Grundlage für umfassende Kooperation und Prosperität sein kann. Erstens ist die Anzahl der Menschen, für die wir in sinnvoller Weise

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Vgl. Lincicome (2010). Vgl. Meltzer (2010).

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The emotional appeal of behavior conforming to the ideas of 25 magnanimous morality provides a plausible explanation for the illusive search for a »third way,« or »capitalism with a human face.« These terms can refer to a number of policy proposals, but they are often nothing more than political slogans suggesting the possibility of an economy that provides the prosperity of free markets with the personal compassion and caring of magnanimous morality. No matter how much this possibility appeals to our instinctive morality, it is not possible, which explains why President Vaclav Klaus of the Czech Republic has stated his preference for »capitalism without adjectives.« But French President Nicolas Sarkozy appealed to the dominant morality in his keynote speech to the 2010 World Economic Forum in Davos by urging, »We must re-engineer capitalism to restore its moral dimension, its conscience« (Lincicome 2010). Such political appeals are particularly effective at creating public support for expanding government control over the economy during economic crises by proclaiming the magnanimous morality of government in contrast to the mundane morality of the market place. The result is a widespread belief that more government is needed to solve economic problems that were primarily caused by an already excessive government (Meltzer 2010).

It Takes More than Caring Caring for others is universally seen as a moral imperative. There are 26 two reasons, however, why it can never be the basis for widespread cooperation and prosperity. First, the number of people we can meaningfully care for is tiny compared to the number we have to cooperate with in a productive economic order. We all depend on the specialized efforts of countless others for the goods and services required to maintain our standard of living. Assisted living is not just for the elderly. We all need the benefits of assisted living, with literally hun43 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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sorgen können, winzig klein im Vergleich zur Anzahl derer, mit denen wir in einer produktiven Wirtschaftsordnung zusammenarbeiten müssen. Im Rahmen der Arbeitsteilung ist jeder von uns auf die Bemühungen unzähliger Mitmenschen angewiesen, damit all die Güter und Dienstleistungen produziert werden, die wir benötigen, um unseren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Senioren profitieren von den Hilfsleistungen des Betreuten Wohnens; im übertragenen Sinne sind wir jedoch alle auf solche Hilfsleistungen anderer angewiesen – mit buchstäblich Hunderten von Millionen Helfern. Natürlich muss diese Hilfe gegenseitig sein und auf der Erwartung basieren, dass wir unsererseits durch arbeitsteilige Bemühungen eine Gegenleistung erbringen werden, um wiederum anderen jene Unterstützung zukommen zu lassen, die von ihnen benötigt wird. Es ist unmöglich, dass mehr als ein winziger Anteil an dieser gegenseitigen Hilfe durch Menschen zustande kommt, die sich von Herzen umeinander kümmern. Zweitens: Sogar dann, wenn wir uns um die vielen Millionen 27 über den ganzen Globus verstreuten Konsumenten fürsorglich selbst kümmern könnten, würden wir Informationen darüber benötigen, was sie am dringendsten benötigen. Und selbst wenn wir das aus irgendeinem Grund wüssten, erforderte die effiziente Produktion von dem, was ihre dringendsten Bedürfnisse befriedigt, Informationen darüber, wie sich unsere eigenen Ressourcen und spezialisierten Fähigkeiten mit denen der ungezählten Anderen optimal kombinieren lassen. Und wie ließen wir denen, die aus unseren produktiven Anstrengungen Nutzen ziehen, Informationen darüber zukommen, was sie für uns produzieren sollen? Angesichts der Größenordnung der Aufgabe, jene Leistungs28 bereitschaft und jene Informationen zu erzeugen, die für die Koordination der Handlungen zahlloser Menschen im Dienste ihrer wechselseitigen Interessen nötig sind, ist es offensichtlich, dass kein Wirtschaftssystem diese Aufgabe einwandfrei bewältigt oder bewältigen kann. Aber jeder, der über die mit der Marktwirtschaft verbundene Prosperität nachdenkt, müsste eigentlich schnell erkennen, dass es den Menschen auf einem Markt in wundersamer Weise gelingt, gewaltige Informationsmengen auszutauschen und auf diese Informationen so zu reagieren, als ob sie sich fürsorglich umeinander kümmern würden. Die Erklärung hierfür liegt darin, dass der Markt ein wahrhaft staunenswertes Netzwerk zur Informationsverarbeitung darstellt, das schon lange vor dem Beginn dessen funktioniert hat, 44 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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dreds of millions of assistants. Of course, this assistance has to be mutual with it expected that we will reciprocate with specialized productive efforts of our own to provide others with the assistance they need. There is no way that more than the tiniest amount of this mutual assistance can be motivated by people sincerely caring about each other.

Second, even if we could care about many millions of consumers 27 scattered all over the globe, we would need to have information on what they most want. Even if we somehow knew that, producing what they want efficiently requires information on how to best combine our resources and specialized skills with those of countless others. And how do we communicate to those benefiting from our productive efforts what we want them to produce for us?

Given the magnitude of the task of providing the motivation and 28 information needed for countless people to coordinate their actions to serve their mutual interests, it is obvious that no economic system does, or can do, a perfect job. But anyone who thinks about the prosperity enjoyed in market economies should recognize that somehow people are doing an impressive job communicating vast amounts of information back and forth to each other and responding to this information as if they cared for each other. The explanation for this is that the market is a truly amazing information-processing network that has been operating since long before the arrival of what we now call the Information Age (Lee 2001). The market allows the constantly changing information that is possessed in fragmented amounts by literally billions of widely dispersed individuals on their 45 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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was wir heute ›Informationszeitalter‹ nennen. 24 Der Markt macht es möglich, dass buchstäblich Milliarden weitverstreuter Individuen ständig wechselnde Einzelinformationen über ihre je spezifischen Präferenzen, Fähigkeiten, Erwartungen und Lebensverhältnisse aggregieren und an diejenigen weitergeben, die diesen Informationen am besten entsprechen können, und zwar so, dass wechselseitig vorteilhafte Verhaltensweisen zustande kommen. Das alles wird durch Marktpreise erreicht, die aus einem Prozess weitgehend unpersönlichen Austauschs von Privateigentum hervorgehen – ohne dass diejenigen, die wechselseitig voneinander profitieren, wechselseitig miteinander in Fürsorge verbunden sein müssten. 25 29 Marktergebnisse werden, wie wir gesehen haben, trotz ihrer breitgestreuten Wohlfahrtswirkungen im Allgemeinen wenig geschätzt, da sie durch Markttransaktionen bestimmt werden, die in der Regel ohne konkrete Kenntnis des Gegenübers ablaufen – sie finden also statt zwischen Menschen, die sich weder kennen noch in Fürsorge miteinander verbunden sind. Solche Markttransaktionen sind ausschließlich durch Eigeninteresse motiviert. Aber selbst dann, wenn man die Ergebnisse des Marktes angemessen würdigt, ändert das nichts an der verbreiteten Sehnsucht nach einem Wirtschaftssystem, das die Vorteile des Marktes auf eine Weise erzeugt, die weitverbreiteten moralischen Überzeugungen besser entspricht – wie etwa ein ›Kapitalismus mit menschlichem Antlitz‹. Es sollte aber klar sein, dass unpersönlicher Austausch und Eigeninteresse unerlässlich sind, um die erwünschten Wohlfahrtswirkungen zu realisieren. 30 In den vergangenen Jahrzehnten hat es in der Informationstechnologie spektakuläre Fortschritte gegeben. Doch die Fähigkeit, mit Hilfe der Wunderdinge des Informationszeitalters erfolgreich zu kommunizieren, verblasst im Vergleich zu dem, was Marktpreise in dieser Hinsicht leisten. Wenn beispielsweise Bananen für Kanadier einen höheren Wert bekommen als für Amerikaner, sind Marktpreise, wie sie sich aus der erhöhten Nachfrage ergeben, der beste Weg, auf dem die Kanadier den Amerikanern ihren Wunsch nach mehr Bananen übermitteln können. Im Gegensatz zu massenhaften eMails, in denen die Kanadier die Amerikaner auffordern, weniger Bananen zu essen, zielt der höhere Preis nur auf jene, die am ehesten in der Lage sind, auf die Aufforderung zu reagieren: auf jene Amerikaner 0 0

Vgl. Lee (2001). Vgl. Hayek (1945).

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unique preferences, abilities, expectations, and circumstances to be aggregated and communicated to those best able to respond to it, and done so in a way that motivates mutually beneficial responses. This is accomplished through market prices which emerge from a process of what are largely impersonal exchanges of private property without the need for those benefiting from each other to care for each other (Hayek 1945).

Despite the widespread benefits created by market outcomes, we 29 have seen that those outcomes are commonly unappreciated because they are determined by trades that are commonly impersonal – that is, they take place between people who don’t know or care for each other – and motivated solely by self-interest. And even when the outcomes of the market are appreciated, there remains a longing among many for an economy that provides the benefits of the market in ways more consistent with widespread views of morality – for example,« capitalism with a human face.« It should be obvious, however, that impersonal exchange and selfinterest are necessary for realizing those benefits.

There have been spectacular advances in communications tech- 30 nology in recent decades, but the ability to communicate effectively with the digital marvels of the Information Age pales in comparison to communication with market prices. For example, if the value Canadians realize from bananas increases relative to that realized by Americans, the best way for Canadians to communicate their desire for Americans to share more bananas with them is through the higher market prices resulting from their increased demand. As opposed to a mass e-mailing from Canadians asking Americans to consume fewer bananas, the higher price goes only to those in the best position to respond to the request – Americans who eat bananas. And as opposed to the information we get from many of the e-mails we receive (such as someone in Nigeria who wants to transfer millions of dollars into our banking account), when receiving information from prices we take it seriously and respond to it as if we care as much about the 47 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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nämlich, die Bananen essen. Und im Gegensatz zu den Informationen, die in vielen unserer empfangenen eMails enthalten sind (dass etwa jemand aus Nigeria dringend einen Millionenbetrag auf unser Bankkonto transferieren möchte), nehmen wir Preisinformationen ernst und reagieren darauf, als ob wir uns um die Angelegenheiten anderer (in unserem Beispiel etwa um den Wunsch der Kanadier nach Bananen) im gleichen Maße kümmern würden wie um unsere eigenen Belange. Außerdem haben die Kanadier keine Vorstellung davon, um wie viel jeder einzelne Amerikaner seinen Bananenverbrauch einschränken sollte oder wie weit alle Amerikaner ihren Konsum insgesamt absenken sollten. Dennoch wird jeder einzelne amerikanische Bananen-Konsument auf höhere Bananenpreise reagieren: Jede Person wird die nur für sie selbst verfügbare Information über ihre eigene Wertschätzung für Bananen bestmöglich nutzen, und zwar so, dass sie ihren Konsum verringert, solange der Wert, den sie opfert, geringer ist als der Wert, den kanadische Konsumenten einem zusätzlichen Bananenkonsum zumessen. Und die aggregierte Menge, um die die Amerikaner ihren Bananenverbrauch senken werden, wird ziemlich genau jener Gesamtmenge an Bananen entsprechen, welche die Kanadier zum höheren Preis zusätzlich konsumieren wollen. 31 Marktpreise sind also offensichtlich unpersönlich (und sogar noch unpersönlicher als Massen-eMails), und sie sind das Ergebnis eines Austauschprozesses, der fast völlig durch Eigeninteresse motiviert ist. Doch damit Marktpreise präzise Informationen enthalten über den Wert dessen, was gekauft wird, sowie über die hierfür angefallenen Produktions- und Bereitstellungskosten, müssen die Aktivitäten des Kaufens und Verkaufens all jene Informationen verwerten, die den am Austausch Beteiligten jeweils vorliegen. Und jedes Individuum weiß besser als irgendjemand sonst, in welcher Weise seine eigenen Interessen durch die Beschaffung oder Herstellung eines Gutes bzw. einer Dienstleistung berührt sind. Folglich muss die in den Marktpreisen enthaltene Information notwendigerweise auf dem Eigeninteresse derer beruhen, die ökonomische Entscheidungen treffen. Nur dann werden genau jene Informationen bereitgestellt, die das globale Netzwerk gegenseitiger Unterstützung leistungsfähig machen, auf das wir alle angewiesen sind. Ohne dieses Netzwerk könnte nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung überleben; und auf diejenigen, die das schaffen würden, wartete allenfalls ein kurzes Leben unter miserablen Bedingungen. 32 Dennoch bleibt es ein weit verbreitetes Phänomen, dass Märkte 48 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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concerns of others (the desire of Canadians for bananas in our example) as we do our own. Also, the Canadians have no idea how much any particular American should reduce her banana consumption, or how much all Americans should reduce their consumption in total. But each American banana consumer will response to higher banana prices, using the information that only she has on the value she receives from bananas, by reducing her consumption only as long as the value she sacrifices is less than the additional value a Canadian consumer realizes. And the total amount by which Americans will reduce their banana consumption will almost exactly equal the total amount of additional bananas that Canadians want to consume at the higher price.

Market prices are obviously impersonal (even more impersonal 31 than a mass e-mail), and they are also the result of an exchange process that is motivated almost entirely by self-interest. But for market prices to embody accurate information on the value of what is being bought and the cost of making it available, the buying and selling has to be informed by the information dispersed over those participating in the exchange. And what each individual knows better than anyone else is how his interests are affected by acquiring or making available a good or service. So the information embodied in market prices has to be based on the self-interest of those making economic decisions in order to provide the information that is vital to the global network of mutual assistance upon which we all depend. Without that network only a small fraction of the world’s population could survive, and those who did would live short lives in wretched poverty.

Yet, lack of appreciation for the market remains widespread as 32 49 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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keine angemessene Wertschätzung erfahren. Dies zeigt sich in der fortwährenden Flut von Empfehlungen, Fürsorge und Mitgefühl an die Stelle von Austausch und Marktpreisen zu setzen. Ernsthafte Versuche, solche Empfehlungen umzusetzen, erfordern allerdings oft Preiskontrollen, die zu unbeabsichtigten und ungünstigen Konsequenzen führen: zu verschärfter Knappheit, höheren Kosten, geringerer Qualität, zu Schwarzmärkten und zur Verdrängung legaler durch illegale Handlungen. Aber solche missliebigen Auswirkungen werden routinemäßig übertrumpft durch deplatzierte Moralpredigten. 33 Nehmen wir zum Beispiel die Ansicht, die Steven Rockefeller (ein Sohn von Nelson Rockefeller) über seine Erfahrungen während seiner Arbeit im Maklerbüro des Rockefeller-Centers äußerte: 34

»Ich ertappte mich dabei, dass ich herumlief, an Türen anklopfte und Sachen sagte wie »Hallo, ich bin Steven Rockefeller und komme, um Ihre Miete zu erhöhen!« Es war absurd ... Ich war an Politik und Religion interessiert, an den moralischen Grundlagen der Demokratie sowie an der Frage, was eine ›Gute Gesellschaft‹ ausmacht. Es gibt einen grundlegenden Zwiespalt zwischen dieser Ebene des Denkens und dem Versuch, von Tür zu Tür zu laufen, um anderen Leuten die Miete zu erhöhen, zumal es mir nicht so vorkam, dass meine Familie noch mehr Geld benötigte. Ich selbst jedenfalls benötigte nicht mehr Geld – nichts über den Betrag hinaus, über den ich schon verfügen konnte. Nach meinem Empfinden lag schon eine Ungerechtigkeit darin, dass wir so außerordentlich viel Geld hatten inmitten einer Welt weitverbreiteter Armut.« 26

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Es spielt keine Rolle, wie sehr Steven Rockefeller in seiner Funktion als Makler um das Wohlergehen von Mietern besorgt war: Mieten, die sich nach seinem Mitgefühl und seinem Sinn für Gerechtigkeit bemessen, wären nicht annähernd so leistungsfähig wie marktgerechte Mieten, wenn es darum geht, divergierende Einschätzungen der Kosten und Nutzen alternativer Verwendungsmöglichkeiten von Büroräumen in New York City produktiv und einvernehmlich in Einklang zu bringen. 36 Dem Markt wird oft der moralische Vorwurf gemacht, dass er einige wenige Menschen auf verschwenderische Weise belohnt, ohne ihr Verdienst ins Verhältnis zum Verdienst jener Vielen zu setzen, die härter arbeiten und gewöhnlich ein respektableres Leben führen, aber ein geringeres Einkommen erzielen. Es fällt leicht, das als ein unge0

Collier und Horowitz (1976; S. 612–13).

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reflected in a constant stream of recommendations to substitute caring and compassion for exchanges and market prices. Serious attempts to implement such recommendations, however, often require price controls that lead to unintended and unfortunate consequences such as shortages, higher costs, lower quality, black markets, and the substitution of criminal for legal activity. But such adverse outcomes are routinely trumped by misplaced morality.

Consider, for example, the view expressed by Steven Rockefeller 33 (a son of Nelson Rockefeller) about his experience working in the rental office in Rockefeller Center: I found myself going around knocking on doors and saying things like, 34 »Hello, I’m Steven Rockefeller and I’m here to raise your rent.« It was ridiculous. … I was interested in politics and religion, in questions about the moral basis of democracy and the nature of the »good society.« There’s a basic conflict between this level of thinking and going around trying to raise somebody’s rent, especially when it didn’t seem to me that the family needed much more money. I didn’t need more money, didn’t need more than I already had. I already sensed an injustice in us having all we had, in the midst of a world with such great need on the part of so many [Collier and Horowitz 1976: 612–13)].

No matter how deeply Steven Rockefeller cared about the wellbeing 35 of renters, rents based on his caring and sense of justice are unlikely to be anywhere nearly as effective as market rents at productively and harmoniously reconciling different views on the costs and benefits of alternative uses of New York City office space.

The market is often faulted on moral grounds for rewarding a few 36 people lavishly without caring about their merit relative to that of the many who work harder and commonly lead more respectable lives, but earn far less. It is easy to see this as an unfair feature of the impersonal nature of markets. Why should someone who happens to be born with a beautiful voice, great athletic ability, or good looks and

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rechtes Wesensmerkmal der unpersönlichen Verfahrensweise von Märkten aufzufassen. Warum sollte jemand, der zufällig mit einer schönen Stimme, mit großartigen sportlichen Fähigkeiten oder mit einem guten Aussehen und schauspielerischem Talent geboren wurde, in wenigen Wochen mehr verdienen können (und dazu noch die Bewunderung zahlreicher Fans genießen) als die meisten in einem ganzen unspektakulären Leben voll harter Arbeit? Man ist versucht, den Markt gegen diese Kritik mit dem Hinweis zu verteidigen, dass Märkte die Menschen tatsächlich nach Verdienst belohnen. Aber dieses Argument finden die meisten Menschen nicht überzeugend, denn sie fassen ›Verdienst‹ im Sinne einer Moralvorstellung auf, die in der Marktmoral keine Rolle spielt. Insofern ist es durchaus richtig, dass dieses Argument nicht überzeugt. Schließlich werden auf dem Markt Menschen dafür belohnt, dass sie anderen dienen; diese Belohnung fällt um so höher aus, je größer der Nutzen der Leistung ist, die sie für andere erbringen, und zwar nach dem Urteil derer, die diese Leistung empfangen. Wegen der unpersönlichen Natur der meisten Markttransaktionen sind Konsumenten nicht annähernd so sehr am moralischen oder sonstigen Verdienst der Produzenten interessiert, welche die von ihnen erworbenen Güter hergestellt haben, wie an der Qualität und am Preis dieser Güter. 27 Auf Märkten ist es nicht unbedingt notwendig, dass Menschen hart arbeiten oder besonders intelligent, wohlerzogen, gutaussehend oder liebevolle Ehepartner sind, um wohlhabend zu werden. Markterfolg setzt lediglich voraus, dass Menschen über Ressourcen oder Fähigkeiten verfügen (die sie vielleicht durch reines Glück erlangt haben), für die andere Marktteilnehmer eine Wertschätzung empfinden, und dass Menschen auf die durch Marktpreise übermittelten Informationen reagieren, wie sie sich für andere nutzbringend einsetzen können. Marktkritiker übersehen oft, dass unpersönliche Markttransaktionen das Vorteilspotential vergrößern, welches den Konsumenten zugutekommt, wenn sie auf die besonderen Fähigkeiten von Spezialisten zurückgreifen. Wenn ein Kind mit dem Potential geboren wird, ein großer Sänger oder Athlet, ein Schriftsteller oder Unternehmer zu werden, so ist der BeiDieses Interesse für Qualität und Preis lässt sich auch anders als mit einem Verweis auf bloßen Eigennutz begründen. Wie Hayek (1960; S. 96) betont, wäre es »unmöglich für uns, jeden Verdienst gerecht zu entlohnen, ... [denn] es ist nur der Wert des Ergebnisses, den wir mit einiger Verlässlichkeit beurteilen können, nicht [jedoch] die unterschiedlichen Grade der Anstrengung und Sorgfalt, die es verschiedene Leute gekostet hat, das Ergebnis hervorzubringen«.

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acting talent be able to earn more in a few weeks (while receiving the adulation of a multitude of fans) than most earn in an obscure lifetime of hard work? It is tempting to defend markets against this criticism by arguing that markets do reward people on the basis of merit. But this defense is unconvincing to most people, who see merit in terms of a morality not contained in the mundane morality of the marketplace. And it should be unconvincing. In markets, people are rewarded for serving others and the greater the value of the services they provide, as evaluated by those receiving them, the larger the reward. Because of the impersonal nature of most market exchanges, consumers are not nearly as interested in the merit, moral or otherwise, of those producing the goods being bought as they are in quality and price of those goods. 8 In markets, people do not have to be hardworking, particularly intelligent, well educated, loving spouses, or very nice to become wealthy. All they have to do is possess things or abilities that people value (which they may have acquired by pure luck) and respond to the information communicated through market prices to benefit others. What critics of markets tend to overlook is that impersonal market exchanges increase the benefits that consumers realize from the special abilities that some people have. Consumers are far more likely to benefit from a child born with the potential to become a great singer, athlete, actor, writer, or entrepreneur if that child is born in a country relying on markets, where he or she can become fabulously rich by benefiting others, than if that child is born in North Korea, Cuba, Zimbabwe, or another country in which markets are suppressed.

This interest is understandable for reasons other than self–interest. As Hayek (1960: 96) points out, it would »be impossible for us to reward all merit justly, … it is only the value of the result that we can judge with any degree of confidence, not the different degrees of effort and care that it has cost different people to achieve it.«

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trag zur Steigerung des Gemeinwohls wahrscheinlich sehr viel größer, wenn dieses Kind in einem Land geboren wird, das auf Märkte vertraut und in dem man märchenhaft reich werden kann, sofern man seine Talente für andere nutzbringend einsetzt, als wenn dieses Kind in Nordkorea, Kuba bzw. Simbabwe zur Welt kommt oder in einem anderen Land, in dem Märkte unterdrückt werden. Aber es sind nicht nur Menschen mit besonderen Talenten, von 37 denen die Konsumenten in einer Marktwirtschaft stärker profitieren, als sie es in einer Wirtschaftsordnung könnten, die bestrebt ist, die Entlohnung von Menschen an irgendeinem Maßstab moralischen Verdienstes auszurichten. Schließlich gehen in unserem Alltagsleben die meisten Vorteile, in deren Genuss wir durch Märkte kommen, auf eine Vielzahl ganz gewöhnlicher Menschen zurück, die ihr persönliches Interesse verfolgen und ganz unspektakulären Tätigkeiten nachgehen, wobei sie auf Marktpreise reagieren und ansonsten wenig Interesse zeigen für die großen Bevölkerungskreise, denen ihre Bemühungen zugutekommen. Jeder Versuch, das Entgelt, das Menschen für ihre Marktleistung erhalten, so anzupassen, dass es ihr ›moralisches Verdienst‹ widerspiegelt anstatt das, was Konsumenten ihnen für die bereitgestellten Güter und Dienstleistungen bezahlen wollen, würde die in den Marktpreisen enthaltenen Informationen zerstören – Informationen, die unabdingbar sind, damit wir wissen können, wie wir unsere potentiellen Fähigkeiten am besten entwickeln und so einsetzen können, dass wir unsere eigene Lage verbessern, indem wir den Interessen anderer Menschen dienen, die uns namentlich nicht bekannt sind.

Die moralischen Ideale des sozialen Friedens und der menschlichen Freiheit 38

Moralität hat Folgen. Wir haben bisher die Neigung untersucht, an sich wünschenswerte ökonomische Auswirkungen auszublenden oder abzuwerten, sofern sie ohne gezielte Absicht zustande kommen und lediglich der Marktmoral zu verdanken sind. Im Folgenden wollen wir zwei Implikationen dieser Marktmoral näher untersuchen, die, weil sie selbst moralische Ideale darstellen, nicht so leicht abgetan werden können, und zwar auch dann nicht, wenn man erkennt, dass diese Ideale stärker mit der Marktmoral als mit der Helfermoral ver-

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But it is not just those with special talents from whom consumers 37 receive more benefit in a market economy than they would in an economy that attempted to reward people on some moral measure of merit. Most of the day-to-day benefits we receive in market economies come from the multitude of ordinary people pursuing their private interests doing rather ordinary things in response to market prices with little concern for the vast majority of those whom their efforts are benefiting. Any attempt to adjust the return people receive to reflect their merit instead of what consumers are willing to pay them for the goods and services they provide would destroy the information contained in market prices – information that is needed if we are to know how to develop our potential abilities, and how to make the best use of those abilities to improve our own situations by serving the interests of unknown others.

The Moral Ideals of Social Harmony and Human Liberty Morality has consequences, and we have been considering the ten- 38 dency to dismiss and disparage desirable economic consequences when they are achieved unintentionally through the mundane morality of the market process. We now examine two consequences of that mundane morality that, because they are moral ideals themselves, cannot be so easily dismissed even if people recognize that they depend on mundane rather than magnanimous morality. Those ideals are social harmony and human liberty.

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bunden sind. Diese moralischen Ideale sind sozialer Frieden und menschliche Freiheit.

Sozialer Frieden 39

Harmonische und friedfertige Beziehungen zwischen Menschen sind ein nobles und allseits gepriesenes, aber dennoch trügerisches Ideal. Das Problem ist: Menschen haben jeweils unterschiedliche Ziele bzw. Erwartungen, die unweigerlich ein soziales Spannungsverhältnis erzeugen. Deshalb wird üblicherweise das Ansinnen an uns herangetragen, dass wir unsere persönlichen Ziele jenen gemeinschaftlichen Zielen unterordnen, über die Einigkeit herrschen sollte. Doch eine derartige Einigkeit herzustellen ist nur in kleinen homogenen Gruppen möglich oder als temporäre Antwort auf schwere Krisen. 28 Ergänzend zum Rekurs auf gemeinsame Ziele bekommen wir deshalb auch immer wieder zu hören, wir sollten unsere bunte Vielfalt feiern. Auch dies würde dazu beitragen, den sozialen Zusammenhalt zu fördern. Doch leider ist es so: Wenn unsere vielfältigen Unterschiede politisiert werden, gibt es ein gravierendes Risiko, dass solche Feiern zu einem brandgefährlichen Feuerwerk ausarten. Die jüngsten Ereignisse im Mittleren Osten und in anderen Krisenherden legen davon Zeugnis ab. Den sozialen Frieden fördert man am besten durch einen institutionellen Rahmen, innerhalb dessen jeder einzelne seine individuellen Ziele so verfolgen kann, dass dies anderen dabei hilft, ihren jeweiligen Zielen nachzugehen – unabhängig davon, wie verschieden diese Ziele auch sein mögen. Und genau dies ist es, was der unpersönliche Austausch auf Märkten ermöglicht. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Märkte den sozialen Frieden zwischen verschiedenartigen Menschen weit mehr voranbringen als Versuche, Einvernehmen über gemeinsame Ziele herzustellen. 29 Ein Baptist beispielsweise, der nach Bauholz sucht, um seiner Kirche einen Seitenflügel anzugliedern, ist höchstwahrscheinlich nicht am Lebensstil der Händler interessiert, die Bauholz verkaufen. Wenn also ein atheisti-

Dieser Umstand liefert eine Erklärung dafür, warum Politiker von der Nation als einer Familie sprechen und warum sie angesichts kleiner oder sogar nur eingebildeter Probleme schwere Krisen an die Wand malen, wenn sie versuchen, öffentliche Unterstützung für eine Ausdehnung der Staatstätigkeit zu mobilisieren. 0 Vgl. Lee (1994). 0

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Social Harmony A noble, though illusive, ideal that is universally praised is harmo- 39 nious and peaceable relations among people. The difficulty is that people have different goals and aspirations that are always in conflict to some degree. So it is commonly suggested that we subordinate our personal objectives to common objectives upon which we should all agree. But achieving such unity of purpose is possible only in small homogenous groups or temporarily in response to serious crises. 9 So as a supplement to common goals, we also hear that it is important to celebrate our diversity as a way of promoting social harmony. Unfortunately, when our differences are politicized there is a real risk that the celebration will involve some high-octane fireworks, as illustrated by recent events in the Middle East and other global hot spots. The setting most conducive to social harmony is one in which we can each pursue our particular objectives in ways that help others pursue theirs, no matter how different those objectives may be. This is exactly what the impersonal exchanges of markets facilitate, which explains why markets do far more to promote harmony among diverse people than attempts to reach agreement on common objectives (Lee 1994). For example, a Baptist looking for lumber to add a wing to his church is not likely to be concentrating on the lifestyle of those selling lumber, so if an atheist playboy in the lumber business offers the best deal he will probably get the Baptist’s business. The result is that the Baptist facilitates a lifestyle that he abhors and the atheist facilitates a religious practice that he considers absurd, and they do so in a completely harmonious way. Trying to achieve the same harmonious cooperation by encouraging the two to have more personal contact to celebrate their diversity is more likely to create conflict than promote harmony.

This provides an explanation for why politicians talk about the nation as a family and depict small and often nonexistent problems as crises when they are trying to mobilize public support for expanding government.

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scher Playboy in der Bauholzbranche das beste Angebot macht, wird der Baptist ihm vermutlich den Zuschlag geben. Im Ergebnis unterstützt der Baptist einen Lebensstil, den er verabscheut, und der Atheist fördert eine religiöse Praxis, die er als absurd ansieht, und sie tun das auf eine völlig harmonische Weise. Wollte man versuchen, die gleiche friedliche Zusammenarbeit dadurch zu erreichen, dass man die beiden dazu ermuntert, in einen engeren persönlichen Kontakt zu treten und hierbei ihren individuellen Verschiedenheiten Ausdruck zu verleihen, würde man weitaus eher Konflikte provozieren als den Frieden fördern. 40 Ein gesteigertes Interesse für andere wird üblicherweise als ein Mittel empfohlen, sozialen Frieden zu erreichen. Doch bedauerlicherweise hat das oft eher den gegenteiligen Effekt. Tatsächlich lässt sich triftig argumentieren, dass eines der wirksamsten Mittel zur Verringerung sozialer Konflikte darin besteht, verstärkt Märkte in Dienst zu nehmen: Sie animieren uns dazu, unser Interesse für andere unserem Interesse am eigenen finanziellen Erfolg unterzuordnen. Die traurige Realität besteht ja darin, dass tief verwurzelte Kränkungen und Animositäten zwischen Mitgliedern verschiedener Religionen, Nationalitäten und ethnischen Gruppen oft dazu geführt haben, dass das Interesse am Schicksal der Mitmenschen von dem Wunsch begleitet wurde, ihnen so viel Schaden wir nur möglich zuzufügen. Muller beispielsweise gibt zu bedenken: 41

»Die bedeutsame historische Tatsache, die den moralischen Hintergrund für das Nachdenken über den Kapitalismus bildete, war ... der Religionskrieg zwischen Menschen mit rivalisierenden Anschauungen über das Seelenheil, zwischen Menschen, die ihre Auffassung über den Weg zum Heil für so gewiss hielten, dass sie bereit waren, das Blut ihrer Mitmenschen zu vergießen, um deren Seele vor Verdammnis zu bewahren. In diesem Umfeld stellten Intellektuelle sich selbst die Aufgabe, eine Theorie für Politik und Gesellschaft zu entwickeln, die es erlauben würde, dass Menschen trotz radikal verschiedener Vorstellungen vom guten und gottesfürchtigen Leben im Einklang miteinander leben können. ... Sie versuchten, die Sorge der Menschen um ihr ewiges Seelenheil umzulenken auf ihr irdisches Wohlbefinden – in der Annahme, dass die Aussicht auf ein verbessertes irdisches Wohlergehen die Übereinstimmung der Menschen oder doch zumindest ihr friedliches Zusammenleben auf eine verlässlichere Grundlage stellen würde.« 30

0

Muller (2002; S. 15–16).

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Increasing our concern for others is commonly recommended as a 40 way of achieving social harmony. Unfortunately, it often has the opposite effect. Indeed, a compelling argument can be made that one of the most effective ways of reducing social conflict is by increasing our reliance on markets because they encourage us to subordinate concern for others to concern for our financial success. The sad reality is that long-standing grievances and animosities between members of different religions, nationalities, and ethnic groups has often meant that the concern people have for the wellbeing of others is accompanied by the desire to inflict as much harm as possible on them. For example, Muller (2002:15–16) points out that

The great historical fact that served as the moral backdrop for thinking 41 about capitalism was … war between men with rival views of ultimate salvation, men who were so sure of their view of salvation that they were prepared to shed the blood of their fellow man in order to save his soul. It was in this setting that intellectuals set themselves the task of developing a political and social theory that would allow those of radically different visions of the good and holy life to live together. … [T]hey tried to redirect men’s fears from their eternal salvation to their earthy well-being, believing that the prospect of improving their worldly well-being would provide broader grounds for consensus, or at least for peace.

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Obwohl man über Mullers Annahme trefflich streiten könnte, dass Intellektuelle mehr bewirkt haben als bloß darüber zu theoretisieren, wie die zur damaligen Zeit (ohne jede Blaupause eines menschlichen Entwurfs) entstandenen politischen und ökonomischen Institutionen gesellschaftliche Konflikte mäßigen könnten, trifft es sicherlich zu, dass Intellektuelle zu erkennen begannen, dass eine solche Mäßigung durch Markttransaktionen und das Streben nach finanziellem Erfolg erreicht werden konnte. Samuel Johnson äußerte bekanntlich: »Ein Mann kann seine Zeit kaum auf eine harmlosere Weise verbringen als mit Geldverdienen.« 31 Voltaire fasste seine Beobachtungen an der Londoner Börse (zu seiner Zeit ein führendes Zentrum des internationalen Kapitalismus) in dem Kommentar zusammen:

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»Auch wenn die Episkopatkirche und die Presbyterianer die beiden größten Religionsgemeinschaften in Großbritannien darstellen, sind alle anderen willkommen und leben miteinander recht gut zusammen, obwohl sich die meisten ihrer Prediger gegenseitig verabscheuen. ... Hier versammeln sich Vertreter aus allen Ländern der Welt, um das Gemeinwohl der Menschheit zu fördern. Hier verkehren Juden, Mohammedaner und Christen miteinander, als gehörten sie derselben Religionsgemeinschaft an, und sie reservieren die Bezeichnung ›Nicht-Gläubige(r)‹für diejenigen, die bankrott sind.« 32

44

Ein Jahrhundert später stellte John Stuart Mill fest: »Dem Menschengeschlecht brüderliche Gefühle allein durch moralische Einflussnahme einzuimpfen, war vergebliche Liebesmühe – bis es schließlich gelang, zusätzlich auch den Sinn für gemeinsame Interessen zu schärfen; und diesen Sinn verdanken wir dem Handelsverkehr.« 33 Und im 20. Jahrhundert schrieb John Maynard Keynes:

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»Gefährliche menschliche Neigungen können in vergleichsweise harmlose Bahnen gelenkt werden, indem man die Möglichkeit eröffnet, Geld zu verdienen und Privatvermögen anzusammeln. Wenn man den Neigungen diesen Weg verschließt, können sie ihr Ventil in grausamen Verhaltensweisen finden, in rücksichtslosem Streben nach persönlicher Macht und Einflussnahme sowie in anderen Formen der Selbstverherrlichung. Es ist besser, wenn ein Mensch seinen Kontostand kujoniert – und nicht seine Mitmenschen.« 34 0 0 0 0

Zitiert bei Hirschman (1977; S. 58). Zitiert bei Muller (2002; S. 29). Mill (1848; S. 120). Keynes (1936, 1997; S. 374).

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Although one can quibble with Muller’s suggestion that intellectuals 42 did more than theorize about how political and economic institutions that were emerging at the time (without any help from human design) could moderate social strife, it is surely true that intellectuals began recognizing that such moderation could result from market exchange and the pursuit of financial success. Samuel Johnson famously said, »There are few ways a man can be more innocently employed than getting money« (Hirschman 1977: 58). Voltaire commented on the London Exchange (a major center for international capitalism during his time) by observing:

Although the Episcopalian and the Presbyterian are the two main sects in 43 Britain, all the others are welcome and live quite well together, while most of their preachers detest each other. … You will see assembled representatives of every nation for the benefit of mankind. Here the Jew, the Mohametan and the Christian deal with one another as if they were of the same religion, and reserve the name ›infidel‹ for those who go bankrupt [Muller 2002: 29].

Moving forward a century, John Stuart Mill (1848: 120) stated, »It 44 was in vain to inculcate feelings of brotherhood among mankind by moral influences alone, unless a sense of community of interest could also be established; and that sense we owe to commerce.« And in the 20th century John Maynard Keynes ([1936] 1997: 374) wrote: Dangerous human proclivities can be canalized into comparatively harmless 45 channels by the existence of opportunity for money-making and private wealth, which, if they cannot be satisfied in this way, may find their outlet in cruelty, the reckless pursuit of personal power and authority, and other forms of self-aggrandizement. It is better that a man should tyrannize over his bank balance than over his fellow-citizens.

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Kein Mensch käme auf den Gedanken, dass wirtschaftliche Betätigung uns dazu motivieren kann, allen die Hände zu reichen und »We are the World«*** zu singen. Andererseits aber muss die Marktmoral des wirtschaftlichen Austauschs hinsichtlich einer Förderung des sozialen Friedens gar nicht viel leisten, um hierin die Helfermoral zu übertreffen, die wir von unseren Vorfahren der Jäger und Sammler geerbt haben. Der Wunsch nach einer harmonischen und produktiven Gesell47 schaft, die auf der Helfermoral gründet, hat allgemein eine Hoffnung entstehen lassen auf das, was man als den »Neuen Menschen« bezeichnet hat. Der Neue Mann und die Neue Frau würden in eindrucksvoller Weise bereit sein, sich für das Gemeinwohl aufzuopfern, und sie sollten gegenüber anderen (vielen anderen) wohlwollende Anteilnahme hegen – ungeachtet der Rasse, Nationalität oder Glaubensüberzeugungen ihrer Mitmenschen. Dieses Traumbild von moralisch hochherzigen Männern und Frauen sowie von den utopischen Gesellschaftsordnungen, die durch den Neuen Menschen möglich werden würden, ist so attraktiv gewesen, dass man unmöglich die Geduld aufbringen konnte, die Ankunft des Neuen Menschen abzuwarten. Viele wollten schon vorher den Versuch unternehmen, solche Gesellschaftsordnungen zu schaffen, die eigentlich auf den Neuen Menschen angewiesen waren. Es versteht sich von selbst, dass dieser Neue Mensch niemals zum Dienst erschienen ist; und selbst wenn er es getan hätte, wären die auf ihm gründenden Gesellschaftsordnungen weder produktiv noch harmonisch gewesen. 48 So sehr Menschen auch bestrebt sein mögen, den Interessen anderer zu dienen – ohne Preise und Gewinne, vermittelt durch die Marktmoral unpersönlicher Markttransaktionen, fehlen ihnen die Informationen, die benötigt werden, um im Sinne eines Positivsummenspiels zu kooperieren. Allgemeine Positivsummenspiele, die im Zeitablauf die Lage aller verbessern, sind zweifellos dem sozialen Frieden dienlicher als Nullsummenspiele, bei denen der eine gewinnt, was der andere verliert. Wenn der Versuch scheitert, eine Gesellschaft aufzubauen, die auf der Helfermoral basiert, so ist das unvermeid-

*** Anmerkung der Übersetzer: Dies ist der Titel eines Songs von Michael Jackson aus dem Jahre 1985, der Grundlage für die gleichnamige Stiftung zur Stärkung der Solidarität zwischen Nordamerika und Afrika wurde – stellvertretend für die Industrieländer und die Entwicklungsländer. Das Original-Video ist auf YouTube unter http://www.youtube.com/watch?v=OoDY8ce_3zk zu finden.

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No one would argue that commercial pursuits can motivate us all to 46 join hands and sing »We Are the World.« But the mundane morality of commerce and trade does not have to do a great job promoting social harmony to outperform the magnanimous morality we inherited from our hunter-gatherer ancestors.

The desire for a harmonious and productive society based on 47 magnanimous morality has led people to hope for what has been referred to as the »new man.« The new man, and woman, would possess an impressive willingness to sacrifice for the common good and have a benevolent concern for others – many others – without regard to their race, nationality, or religious beliefs. This vision of morally elevated men and women and the utopian social orders they would make possible has been so attractive that many have found it impossible to wait for the new man to arrive before trying to create the social orders that depended on him. Of course, the new man never reported for duty, and even if he had, the social orders based on him would be neither productive nor harmonious.

No matter how motivated people might be to serve the interests 48 of others, the information they need to do so through positive-sum cooperation is lacking without the prices and profits made possible by the mundane morality of impersonal market exchanges. Clearly positive-sum activities with everyone improving their situation over time is more conducive to social harmony than zero-sum activities with those who gain doing so at the expense of others. And when attempts to create a society based on magnanimous morality fail, the inevitable result is more government control over the distribution of goods and services, always in the name of promoting fairness and social harmony. As opposed to reliance on impersonal market exchanges, when political considerations dominate economic decisions, the emphasis shifts from creating new wealth to distributing existing wealth, and positive-sum cooperation is increasingly replaced by zero-sum conflict. A recent article in The Economist (2010: 16) on 63 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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liche Resultat ein Mehr an staatlicher Kontrolle über die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen – immer unter der Flagge der Förderung von Gerechtigkeit und sozialer Harmonie. Wenn man sich nicht auf unpersönliche Markttransaktionen verlässt und wenn folglich ökonomische Entscheidungen von politischen Rücksichten bestimmt werden, verlagert sich der Schwerpunkt von der Schaffung neuen Wohlstands auf die Verteilung vorhandenen Wohlstands, und das Positivsummenspiel der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil wird zunehmend durch Nullsummenkonflikte ersetzt. Ein kürzlich erschienener Artikel im Economist berichtete über Bestrebungen, in den Mitgliedsländern der Europäischen Union den sozialen Zusammenhalt dadurch zu erhalten und zu fördern, dass man auf mehr Regulierung und staatliche Kontrolle der Wirtschaft setzt. Der Artikel gelangte zu der Schlussfolgerung, »dass viele politische Strategien, die im Namen des sozialen Zusammenhalts befürwortet werden, gerade nicht das Mitgefühl gegen die Gefühlskälte voranbringen. Vielmehr beschleunigen sie den Niedergang, vertiefen Spaltungen und gefährden so den sozialen Frieden, den sie zu stärken vorgeben.« 36

Menschliche Freiheit 49

Betrachten wir abschließend die menschliche Freiheit. Sie ist zweifellos ein moralisches Ideal. In der Tat ist es so, dass moralisches Handeln Freiheit voraussetzt, und zwar die negative Freiheit von willkürlichem Zwang. Eine Handlung, die zu Recht dann als moralisch gilt, wenn sie freiwillig ausgeführt wird, kann wohl kaum als moralisch gelten, wenn sie erzwungen ist. Aber allein die Abwesenheit von Zwang – ohne Verantwortung für das eigene Tun – ist noch keine Freiheit, sondern bloß ein Freibrief, und der wird nicht lange geduldet werden. Wenn man sich auf die Helfermoral stützt, um individuelles Verhalten in verantwortliche Bahnen zu lenken, ist damit kaum eine solide Grundlage gelegt für jene Verantwortung des eigenen Tuns, auf die Freiheit angewiesen ist. Da unsere moralischen Ressourcen begrenzt sind, erliegt die Helfermoral alsbald der Versuchung zum Trittbrettfahren: Man verlässt sich darauf, dass andere Verantwortung übernehmen. Von der Verantwortung für das eigene Tun bleibt 0

Economist (2010; S. 16).

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attempts in European countries to maintain and promote social cohesion with greater government control over the economy concluded »that many of the policies espoused in the name of social cohesion do not promote compassion over cruelty. Rather, they encourage decline, entrench divisions, and thus threaten the harmony they pretend to nurture.«

Human Liberty Finally, consider human liberty, which is clearly a moral ideal. Indeed, 49 moral behavior requires liberty in the negative sense of freedom from arbitrary coercion. Behavior that is properly considered moral when performed voluntarily is hardly moral if coerced. But the absence of coercion without responsibility is not liberty, but license, and will not long be tolerated. Relying on magnanimous morality to discipline behavior in responsible ways hardly provides a strong foundation for the responsibility upon which liberty depends. Given our limited moral capacity, magnanimous morality is quickly overwhelmed by temptations to free-ride on the responsibility of others, and not much responsibility remains. This leaves political suppression, which destroys all but the most clandestine exercise of freedom, as the only hope for constraining irresponsibility – a hope that is inevitably dashed by the irresponsible behavior of those with the political power.

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dann nicht viel übrig. So richten sich die Hoffnungen auf eine politische Unterdrückung unverantwortlichen Handelns. Unterdrückung aber zerstört die Freiheit und drängt ihre Ausübung ins Verborgene. Mithin sind den Hoffnungen, einem verantwortungslosen Handeln mittels der Politik Grenzen zu ziehen, ihrerseits Grenzen gesetzt, und zwar durch die Verantwortungslosigkeit jener, die politische Macht ausüben. 50 Wenn es darum geht, die Freiheit zu schützen, indem man verantwortliches Verhalten anregt, dann sind die Informationssignale und die Disziplinierungswirkungen des Marktes weit wirksamer als die Helfermoral. Wenn sich Menschen mit Preisen konfrontiert sehen, die aus Privateigentum und freiwilligen Tauschhandlungen hervorgehen, dann ist es in ihrem Interesse, sich dadurch verantwortlich zu verhalten, dass sie die Interessen der Anderen in Rechnung stellen. Eine solche Verantwortung für das eigene Tun lässt die Freiheit in weit größerem Ausmaß gedeihen, als es ansonsten geduldet würde. Sobald hingegen Privateigentum und Marktwirtschaft unmöglich sind oder durch Verbote unmöglich gemacht werden, ist Freiheit stets das erste Opfer. Nehmen wir die Umweltverschmutzung als Beispiel: Weil die Atmosphäre nicht in separate Mengeneinheiten aufgeteilt werden kann, so dass jedes Individuum sein eigenes Privateigentum erhält, können wir niemandem das Recht abkaufen, die Luft mit Emissionen zu belasten, und spiegelbildlich können wir niemandem das Recht verkaufen, die in unserem Besitz befindliche Luft mit Emissionen zu belasten. Das bedeutet: Emittenten sehen sich nicht mit Preisen konfrontiert, welche die Kosten abbilden, die ihre Emissionen anderen Menschen auferlegen. Deshalb gibt es einen Anreiz, die Umweltbelastung fortzusetzen, und zwar selbst dann, wenn der durch eine solche Handlung realisierte Zusatzwert geringer ist als die den anderen auferlegten Zusatzkosten. Unter solchen Bedingungen wird die Freiheit, emittieren zu dürfen, auf eine nicht-verantwortliche Weise ausgeübt. Man kann allerdings nicht damit rechnen, dass ein solcher Gebrauch der Freiheit lange toleriert wird, auch wenn es durchaus umstritten sein mag, welche Einschränkungen der Handlungsfreiheit erforderlich sind und wie sie konkret umgesetzt werden sollen. Wenn Privateigentum an einzelnen Anteilen der Atmosphäre möglich wäre, dann sorgten Preise für die Informationssignale und zugleich auch für die Motivationsanreize, die Menschen dazu bringen, bei der optimalen Nutzung der Atmosphäre so zu kooperieren, dass sowohl das Atmen als auch das Emittieren möglich ist, ohne die 66 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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Far more effective than magnanimous morality at protecting lib- 50 erty by motivating responsible behavior is the information and discipline of the market. When people face prices that result from private property and voluntary exchanges, it is in their interest to behave responsibly by taking the interests of others into consideration. It is this responsibility that allows freedom to flourish to a far greater degree than would otherwise be tolerated. When private property and market exchange are impossible, or outlawed, freedom is the first casualty. Consider pollution. Because the atmosphere cannot be sliced up into multitudes of separate sections with individuals owning their own slice, people are unable to buy the right to pollute the air owned by someone else or sell the right to let someone pollute the air they own. The result is that polluters face no prices that reflect the cost their pollution imposes on others. Therefore, the motivation is to continue polluting, even though the marginal value realized from doing so is less than the marginal cost to others. The freedom to pollute would not be exercised responsibly, and so the freedom to pollute is not tolerated, even though the restrictions on that freedom and the way they are imposed are controversial. If private ownership of slices of the atmosphere were possible, prices would provide the information and motivation for people to cooperate in making the best use of the atmosphere for both breathing and polluting without having to restrict anyone’s freedom to pollute. 10 And there would be no more reason for there to be social conflict over the freedom to pollute than

We ignore here the possibility of controlling pollution with transferable pollution rights. Such pollution rights do not establish anything close to perfect markets, but they would motivate pollution reduction with less government restrictions on our liberty.

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individuelle Freiheit zum Emittieren eigens einschränken zu müssen. 37 Und dann gäbe es ebenso wenig Veranlassung, über die Freiheit zum Emittieren im Streit zu liegen, als über die Freiheit, T-Shirts zu kaufen, auswärts essen zu gehen, Urlaub zu nehmen oder eine Brille zu kaufen. 38 51 Es muss betont werden, dass unser Argument nicht besagt, die Helfermoral stünde dem sozialen Frieden und der menschlichen Freiheit entgegen. Im Gegenteil: Sensibilität für die Belange der Mitmenschen, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber jenen, denen wir im Alltag begegnen, sowie die Bereitschaft zu persönlichen Opfern für diejenigen, die sich in einer Notlage befinden – all dies ist von großer Bedeutung für die Entstehung und die allgemeine Einhaltung gesellschaftlicher Normen, welche es überhaupt erst möglich machen, dass zwischenmenschliche Beziehungen eine produktive und harmonische Gestalt annehmen. Die Existenz und weitgehende Befolgung gesellschaftlicher Normen eröffnet die Option, ohne ausufernde formale Vorschriften, Verbote und Anordnungen auszukommen, auf denen man andernfalls bestehen müsste, auch wenn dadurch unsere Handlungsfreiheiten stark eingeschränkt werden. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass sich die Helfermoral in der Regel nur dann als vorteilhaft erweist, wenn sie sich darauf beschränkt, unsere Handlungen innerhalb jener relativ kleinen Gruppen von Menschen zu bestimmen, mit denen wir in direktem Kontakt stehen. Insofern ist es nicht die Helfermoral, sondern vielmehr das Bestreben, in die von der Marktmoral gesteuerte Sphäre der MarktWir sehen hier von der Möglichkeit ab, Umweltverschmutzung mit Hilfe von übertragbaren Verschmutzungsrechten zu regulieren. Solche Verschmutzungsrechte etablieren nichts, was einem perfekten Markt nahe käme, aber sie schaffen einen Anreiz zur Emissionsreduktion und halten zugleich das Ausmaß staatlicher Einschränkungen unserer Handlungsfreiheit gering. 0 Das mag für manche seltsam klingen, vor allem deshalb, weil es keinen naturgegebenen Weg gibt, einzelne Anteile an der Atmosphäre als privates Eigentum zu separieren. Dennoch ist es hilfreich, sich solche Eigentumsrechte vorzustellen, weil man dann besser versteht, welche gesellschaftlichen Vorteile wir aus freiwilligen Tauschhandlungen und der Orientierung an Marktpreisen in all den zahlreichen Fällen ziehen, in denen Privateigentum möglich ist – vor allem im Hinblick auf Freiheit und sozialen Frieden, ganz abgesehen von der Prosperität, die aus einer bestmöglichen Verwendung unserer Ressourcen folgt. Freilich werden – wie wir in diesem Aufsatz durchgängig betont haben – selbst noch so große Vorteile, die allein der Markt bietet, wenig daran ändern, dass im Bewusstsein vieler Menschen die Ansicht vorherrschend bleibt, Marktergebnisse seien moralisch belastet, weil es bei der Motivation unpersönlicher Marktprozesse an Helfermoral mangelt. 0

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there is over the freedom to buy shirts, eat out, take vacations, or buy a pair of eye glasses. 11

It needs to be emphasized that our argument is not that magna- 51 nimous morality is antithetical to social harmony and human liberty. Being sensitive to the concerns of others, being friendly and helpful to those we encounter in our daily activities, and being willing to make personal sacrifices to help those in need are critical to the emergence of, and general adherence to, social norms that facilitate productive and harmonious relations between people. These social norms, and widespread obedience to them, make it possible to dispense with a proliferation of formally imposed requirements, prohibitions, and mandates that would otherwise be widely demanded, even at the expense of restricting our liberties. It is important to recognize, however, that the benefits from magnanimous morality are realized primarily from applying this morality to our interactions with the relatively small number of people with whom we are in direct contact. It is the attempt to impose restrictions and prohibitions in the commercial sphere on behavior guided by the mundane morality of the marketplace rather than by magnanimous morality that is destructive to social harmony and freedom, as well as to the productivity upon which we all depend. As Hayek (1988:18) so insightfully pointed out,

This may sound strange to many, but primarily because there is no natural way of parceling out slices of the atmosphere as private property. Yet it is useful to consider doing it as a way of understanding the advantages we realize (in terms of freedom and social harmony – not to mention the prosperity from making the best use of our resources) from voluntary exchange and market prices in those many cases where private property is possible. Of course, as we have been emphasizing throughout this paper, no matter how great the benefit realized from markets, there will remain in the minds of many the belief that these results are contaminated by the lack of magnanimous morality motivating the impersonal market process.

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wirtschaft mit Einschränkungen und Verboten hineinzuregieren, von dem die Gefahr ausgeht, die Errungenschaften des sozialen Friedens, der menschlichen Freiheit und des allgemeinen Wohlstands zu zerstören, auf die wir alle angewiesen sind. Darauf hat Hayek einsichtsvoll hingewiesen: 52

»Wenn wir die Regeln des sozialen Mikrokosmos (d. h. der kleinen Sippe oder Horde, oder, sagen wir, unserer Familien) rigoros und unflexibel auf den Makrokosmos (auf unsere gesellschaftliche Zivilisation der ›erweiterten Ordnung‹) anwendeten, wie unsere Instinkte und sentimentalen Sehnsüchte es uns oft als wünschenswert erscheinen lassen, so würden wir die Zivilisation zerstören. Doch wenn wir umgekehrt ständig die Regeln der erweiterten Ordnung auf unsere eng vertrauten Gruppen anwendeten, würden wir diese sprengen. Deshalb müssen wir lernen, gleichzeitig in zwei verschiedenen Welten zu leben.« 39

53

Es ist offenkundig, dass sich Hayeks ›Regeln des Mikrokosmos‹ auf das beziehen, was wir hier ›Helfermoral‹ nennen, und dass seine ›Regeln der Großen Gesellschaft‹ auf das gegründet sind, was wir als ›Marktmoral‹ bezeichnet haben.

Fazit 54

Niemand bestreitet den Wert der Helfermoral. Aber man kann auch nicht bestreiten, dass diese Moral, wie fast alle Dinge von Wert, der Knappheit unterliegt: Es gibt zu wenig persönliches Mitgefühl und wahre Anteilnahme, und beides beschränkt sich auf eine zu kleine Anzahl von Mitmenschen – gemessen am Ausmaß, das wünschenswert wäre, wenn die soziale Entgrenzung individueller Fürsorge sowie ihre Ausrichtung auf eine wirksame Förderung des Gemeinwohls kostenlos zu haben wären. Dabei ist offenkundig, dass eine derartige Fürsorge Kosten verursacht. 40 Natürlich sind Menschen fähig, sich um eine eng begrenzte Zahl von Mitmenschen zu kümmern, und sie sind auch willens, hierfür persönliche Kosten auf sich zu nehmen. Die Bereitschaft hierzu lässt sich zum Teil damit erklären, dass bis zu Hayek (1988; S. 18). Zu diesen Kosten gehört es, beim Empfang von Hilfsleistungen solche auszusondern, die man lieber nicht haben will. Sicherlich hatte Henry David Thoreau (1904) diese Kosten im Sinn, als er schrieb: »Wenn ich mit Bestimmtheit wüsste, dass jemand mit der festen Absicht in mein Haus kommen will, um mir etwas Gutes zu tun – ich würde Reißaus nehmen und um mein Leben rennen.«

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Markets and Morality

If we were to apply the unmodified, uncurbed, rules of the micro-cosmos 52 (i. e., of the small band or troop, or of, say, our families) to the macro-cosmos (our wider civilization), as our instincts and sentimental yearnings often make us wish to do, we would destroy it. Yet, if we were always to apply the rules of the extended order to our more intimate groupings, we would crush them. So we must learn to live in two sorts of worlds at once.

Clearly Hayek’s »rules of the micro-cosmos« are based on what we 53 are referring to as magnanimous morality and his »rules of the extended order« are based on what we are referring to as mundane morality.

Conclusion No one denies the value of magnanimous morality. But neither can it 54 be denied that, like almost all valuable things, this morality is scarce – there is less genuine personal caring and concern for others and it is extended to a smaller number of people than would be desirable if the costs of expanding and properly directing it were zero. But such caring is obviously costly. 12 Of course, people are capable of caring for a limited number of others, and willing to do so despite some personal cost. Part of the reason for this willingness is that, up to some point, the marginal private return from behaving in ways consistent with magnanimous morality exceeds the marginal private cost. But not even economists believe that people respond to others in caring and compassionate ways solely because of the expectation that the costs will be repaid with reciprocity. Adam Smith ([1759] 1982: 9) recogOne of these costs involves filtering out the receipt of care from others we do not want. This is a cost that Henry David Thoreau (1904) surely had in mind when he wrote »If I knew for a certainty that a man was coming to my house with the conscious design of doing me good, I should run for my life.«

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Markt und Moral

einem gewissen Punkt die privaten Zusatzvorteile einer Handlungsweise, welche mit der Helfermoral übereinstimmt, die privaten Zusatzkosten übersteigen. Aber nicht einmal Ökonomen nehmen an, dass wir unseren Mitmenschen ausschließlich deshalb mit Fürsorge und Mitgefühl begegnen, weil wir die Erwartung hegen, dass die damit verbundenen Kosten durch reziproke Gegenleistungen schon wieder hereinkommen werden. Adam Smith (1759, 1982; S. 9) jedenfalls hat das im ersten Satz seines ersten Buches anerkannt, den wir im zweiten Abschnitt zitiert haben. Ferner steht ganz außer Zweifel, dass sich das von Adam Smith 55 beobachtete Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen sowie die daraus resultierende Fürsorge für andere gezielt trainieren und stärken lassen, wenn auch unter bestimmten Kosten. Ein beträchtlicher Anteil des Bruttosozialprodukts jedes Landes wird darauf verwendet, Menschen in dem Sinne zu zivilisieren, dass sie eine Bereitschaft ausbilden, ihre eigenen Angelegenheiten bis zu einem gewissen Grad den Interessen anderer unterzuordnen. Eine solche Akkulturation ist eine wichtige Aufgabe für Familien, Schulen, Kirchen und zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen. Wenn man die Langlebigkeit dieser Institutionen bedenkt, kann man kaum bestreiten, dass die von ihnen ausgehende Förderung des Gemeinwohls die anfallenden Kosten übersteigt – wenn nicht in jedem Einzelfall, so doch im Ganzen. 56 Unabhängig davon, wie hoch man den Beitrag veranschlagt, den das fürsorgliche Miteinander zum Gemeinwohl leistet, ist das optimale Ausmaß der Fürsorge doch in vielen Fällen begrenzt. Dies legt nahe, dass wir unser knappes Leistungsvermögen, für andere zu sorgen, dort einsetzen, wo es den größten Nutzen stiftet, und dass wir auf Märkte und die entsprechenden Tauschhandlungen zurückgreifen, wo sich diese als geeigneter Ersatz für persönliche Fürsorge anbieten – was letztlich bedeutet, dass wir die Moral des Marktes als ein leistungsfähiges Substitut für die Helfermoral ansehen sollten. Privateigentum, freiwilliger Tausch und die Marktmoral sind – zu vergleichsweise geringeren Kosten – viel besser geeignet, produktive Zusammenarbeit und sozialen Frieden zwischen einer großen Anzahl sehr unterschiedlicher und räumlich weit auseinander lebender Menschen zu fördern, als wenn man sich allein auf die Helfermoral verließe. Mehr noch: Indem man den Markt anstelle der Helfermoral in 57 Dienst nimmt, kann die der Knappheit unterliegende Fähigkeit des Menschen zur Fürsorge für andere, auf welche die Helfermoral konstitutiv angewiesen ist, genau dort eingesetzt werden, wo sie am 72 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Markets and Morality

nized this in the first sentence of his first book, which we quoted in the second section.

Furthermore, there can be no doubt that the benevolent sense 55 observed by Smith, and the caring for others that results, can be nurtured and expanded, at a cost. A significant amount of the gross domestic product of every country is devoted to civilizing people in the sense of developing their willingness to subordinate their private concerns to some degree to the interests of others. Such acculturation is an important function of families, schools, churches, and numerous social organizations. Given the durability of those institutions, it is hard to deny that the good they do exceeds their costs – if not at the margin then at least in total.

No matter how great one believes the marginal social value of 56 caring for others is, the optimal amount of it is very limited, which suggests we should use our limited capacity to care where it does the most good and rely on market exchange as a substitute for caring – that is, we should view the market’s mundane morality as a good substitute for magnanimous morality. Private ownership, voluntary exchange, and the mundane morality of the marketplace do a far better job, at a far lower cost, of promoting productive cooperation and social harmony over multitudes of diverse and dispersed people than relying solely on magnanimous morality.

Moreover, by substituting markets for magnanimous morality, 57 the extremely limited human capacity to care for others that is fundamental to magnanimous morality can be used where it is most precious – in the family and other small group settings in which indivi73 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Markt und Moral

wertvollsten ist – in der Familie und in kleinen vertrauten sozialen Milieus, in denen die Individuen einander aufrichtig zu schätzen wissen. In diesem Sinne schrieb William Niskanen: »Von allen gesellschaftlich bedeutsamen Formen sozialer Interaktion ist der Kapitalismus am wenigsten abhängig vom grundsätzlich beschränkten Angebot an persönlicher Fürsorge, die ihren Platz eher dort hat, wo es um soziale Interaktionen im engeren privaten Kreis geht.« 41 58 Kehren wir abschließend zurück zu unseren einleitenden Bemerkungen darüber, wie ein erfolgversprechendes Plädoyer zugunsten der Marktwirtschaft aussehen kann. An erster Stelle ist hervorzuheben, dass ein solches Plädoyer die moralische Dimension nicht ausblenden darf. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass eine moralische Argumentation zugunsten des Marktes, will sie auf solide ökonomische Erkenntnisse gegründet sein, keinesfalls mit jenem Moralbegriff arbeiten kann, wie er dem Alltagsverständnis zugrundeliegt. Die Marktordnung lässt sich nicht argumentativ legitimieren und gegen normative Angriffe verteidigen, wenn man sich auf das beschränkt, was wir ›Helfermoral‹ genannt haben. Jeder Versuch, das dennoch zu tun, ist unredlich und wird mit Sicherheit auf größte Skepsis stoßen – und vielleicht sogar zum Gespött werden. Zwar gehen wir nicht davon aus, dass ein Plädoyer zugunsten des Marktes auf der Grundlage einer Marktmoral, wie es hier unternommen wurde, mit Sicherheit zum Erfolg führen wird. Das liegt daran, dass offene Plädoyers zugunsten des Marktes unweigerlich auf ein weit verbreitetes und emotional hoch aufgeladenes Moralverständnis treffen dürften, das stets gravierende Vorbehalte auslösen wird gegen die Vorstellung, Märkte und die für sie typischen unpersönlichen Interaktionen könnten als normativ erstrebenswert gelten. Aber wir halten es für besser, mit offen und ehrlich vorgetragenen Argumenten begrenzte Erfolge zu erzielen, als Behauptungen über die Moral des Marktes in die Welt zu setzen, welche bestenfalls irreführend sind.

Literaturverzeichnis Becker, Gary S. / Elías, Julio J. (2007): Introducing Incentives in the Market for Live and Cadaveric Organ Donations. In: Journal of Economic Perspectives 21, Heft 3, S. 3–24.

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Niskanen (2009; S. 564).

74 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Markets and Morality

duals truly treasure one another. As William Niskanen (2009: 564) noted, »Of all the major forms of social interaction, capitalism is the least dependent on the inherently limited supply of caring, a relation that is better applied to more intimate social interactions.«

Let us conclude by returning to our introductory remarks about 58 making an effective case for market economies. The first thing to emphasize is that making such a case cannot ignore moral issues. But the only way to discuss morality when making the case in a way consistent with sound economics is by recognizing that markets cannot be defended on the basis of morality as commonly understood – namely, by relying on what we have called magnanimous morality. Any attempt to do so is dishonest and sure to be met with extreme skepticism, if not ridicule. We don’t claim that making the case for markets on the basis of the mundane morality discussed here is sure to succeed. An honest case for the market inevitably confronts highly emotional and widespread understandings of morality that will always trigger reservations about the desirability of markets and the impersonal interactions upon which they depend. But better to achieve limited success with an honest case than to achieve even less success by making moral claims for markets that are, at best, misleading.

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II. Hinweise zur Textbearbeitung

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Ingo Pies

Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik: Anregungen zur Interpretation des Aufsatzes von Clark und Lee Der Aufsatz von Clark und Lee hat das Potential, den Status eines klassischen Textes zu erreichen: • •



Das Thema ist relativ zeitlos und hinreichend wichtig, um auch noch in fernerer Zukunft Interesse zu wecken. Die Behandlung des Themas ist grundlegend, die Argumentation tiefschürfend und auf Erkenntnisgewinnung angelegt. Der Text will das übliche Denkmuster (Paradigma, »mind-set«) differenzieren und modifizieren. Er will seinen Lesern perspektivisch die Augen öffnen. Der Aufsatz ist das genaue Gegenteil einer hastigen Niederschrift locker assoziierter Gedanken. Er ist das Resultat sorgsamer Textarbeit. Das zeigt sich daran, dass nicht nur an einzelnen Formulierungen gefeilt wurde, sondern auch an der Strukturierung der einzelnen Argumente und an ihrer Zusammenführung zu einer Argumentationslinie, die den Text wie ein roter Faden durchzieht: Die Gedankenführung folgt einer durchdachten Komposition.

Der Aufsatz hat als Text eine besondere Qualität. Deshalb kann er zum Klassiker avancieren. Ob sich dies tatsächlich ereignen wird, hängt freilich auch davon ab, wie sorgfältig der Aufsatz rezipiert wird. Und da stehen die Chancen wohl leider nicht gut. In der modernen Medienwelt der Zeitungen, des Internets und der auf Schlagzeilen verkürzten Twitter-Meldungen werden wir alle mit Texten konfrontiert, die für den momentanen Konsum geeignet sein sollen. Es handelt sich gewissermaßen nicht um Gebrauchstexte, sondern um Verbrauchstexte, bei denen es sich nicht lohnt, sie ein zweites oder gar drittes Mal zu lesen und bei denen deshalb eine sorgfältige Lektüre von vornherein vergebliche Liebesmühe wäre. Zudem begegnet man zahlreichen Lehrbüchern in Schule und Hochschule, 80 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik

die so schlecht geschrieben sind, dass man zögern möchte, hier überhaupt von »Literatur« zu sprechen. Andererseits ist natürlich nicht in Abrede zu stellen, dass es auch durchaus schön(geschrieben)e Literatur gibt. Doch spielt die Belletristik gleichsam in einer anderen Liga, weil es sich bei ihr ja gerade nicht um Sach-Literatur handelt. Die Lesegewohnheiten unseres Alltags sind also an einer Textqualität geschult, die üblicherweise gar nicht erst die Erwartung aufkommen lässt, dass es sich lohnen könnte, bei der Texterfassung mehr Mühe zu verwenden, als für eine flüchtige Durchsicht erforderlich ist. Und das völlig zu Recht: Mehr intellektueller Aufwand macht sich dort einfach nicht bezahlt. Wer aber mit solchen Lesegewohnheiten an (potentiell) klassische Texte herantritt, wird Schwierigkeiten haben, die in ihnen enthaltenen Schätze zu heben. Diese Texte sind oft sehr viel länger als unsere Alltags-»Literatur«, und so erscheinen sie dem ungeübten Auge oft nur als langweilige Bleiwüsten aneinandergereihter Buchstaben. Das macht den Zugang zum Verständnis schwer. Sinn erschließt sich so nicht. Interesse kann folglich nicht aufkommen, ein Funke nicht überspringen. Wer so liest, bereitet den Klassikern intellektuell das Grab: Die Texte bleiben tote Materie. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Wie kann man (potentiell) klassische Texte zum Leben erwecken? Wie kann man sie für sich zugänglich machen, wie sie erschließen und so aufbereiten, dass sie zu einem sprechen und dass man aus ihnen lernen kann – übrigens vollends unabhängig davon, ob man in einzelnen Punkten zum Zuspruch oder zum Widerspruch tendiert? Auf diese Frage sind natürlich mehrere Antworten möglich. Im Folgenden will ich eine spezielle Antwort skizzieren. Sie beschreibt eine Methode, die aus vier Schritten besteht. 1 •

Der erste Schritt besteht darin, sich an der Maxime zu orientieren, dass der kürzeste Sinnabschnitt in einem klassischen Text nicht der Satz, sondern der Absatz ist: Jeder Absatz bekommt eine eigene Nummer, und dann schreibt man – inklusive Über-

Ich habe diese Methode seit 1990 in zahlreichen Lektüre-Kursen und Seminaren (auch in Form von »co-teaching«) allmählich entwickelt und dabei von meinen akademischen Lehrern und Kollegen, aber auch von den Studierenden immer wieder neue Anregungen aufgenommen. Stellvertretend für viele Inspirationsquellen möchte ich an dieser Stelle Karl Homann und Tatjana Schönwälder-Kuntze für gemeinsame Lehr-Erfahrungen danken, bei denen ich viel gelernt habe.

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Ingo Pies





schrift und Zwischenüberschriften – für jede Absatznummer einen kurzen prägnanten Satz, der den Inhalt des Absatzes in eigenen Worten zusammenfasst. Der zweite Schritt besteht darin, hierauf aufbauend – gleichsam aus der Vogelperspektive – einen Blick auf den Text und seine Argumentationsstruktur zu werfen. Manchmal bietet es sich an, eine kleine Skizze anzufertigen, die den Argumentationsgang nachzeichnet. In jedem Fall aber gilt es, den roten Faden zu entdecken. Hierfür sind die folgenden Leitfragen hilfreich: � Welche Problemstellung liegt der Argumentation zugrunde? (Dies ist die wichtigste Frage überhaupt! Sie ist gleichsam der Türöffner zum Textverständnis.) � Wie wird die Problemstellung bearbeitet? Welche Herangehensweise wurde gewählt? � Welche Thesen werden entwickelt? � Welche Problemlösung wird vorgeschlagen? Der dritte Schritt besteht darin, eine interne Kritik vorzunehmen. Hierzu wird überprüft, ob der Text seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird. Dafür sind die folgenden Leitfragen hilfreich: � Dienen die Thesen dazu, das vom Text selbst aufgeworfene Problem zu lösen? � Ist die Argumentation in sich konsistent? � Bauen die einzelnen Argumente logisch aufeinander auf, oder enthält der Text argumentative Sprünge? � Gibt es blinde Flecke? Werden wichtige Aspekte der Problemstellung ausgeblendet? � Sofern es Widersprüche im Text gibt (oder zu geben scheint): Was wollen die Autoren wirklich sagen? Ist ihnen der Widerspruch nicht aufgefallen? Warum nicht? Oder gibt es Anlass für Missverständnisse – z. B. in Form sprachlicher Formulierungen, deren Sinn sich im Laufe der Zeit geändert hat –, so dass der heutige Leser Positionen in den Text hineinliest, die die Autoren gar nicht vertreten haben? Vor solchen Missverständnissen muss man insbesondere dort auf der Hut sein, wo man es mit alten Texten oder mit Übersetzungen aus anderen Sprach- und Kulturräumen zu tun hat. � Sofern Faktenaussagen getroffen werden: Halten sie einer kritischen Prüfung Stand? � Sofern sich der Text auf Referenzpositionen stützt: Werden sie korrekt wiedergegeben?

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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik

Welche (Art von) Literatur wird zitiert, welche nicht? Wo liegen die Stärken, wo die Schwächen der Argumentation? Der vierte Schritt besteht darin, eine externe Kritik vorzunehmen. Hier geht es vor allem darum, den Text durch aktuelle thematische Bezüge neu zu kontextualisieren, um seine Leistungsfähigkeit für jene Probleme einzuschätzen, die uns als Leser heute interessieren. Die zentrale Leitfrage lautet: Was kann man aus diesem in der Vergangenheit geschriebenen Text für die Zukunft lernen? Diese Frage lässt sich auf mindestens zwei Ebenen beantworten: � Inhaltliche Ebene: Welche Informationen bzw. Argumente sind noch heute aktuell und aufschlussreich? Welche erweisen sich als zeitbedingt und überholt bzw. aktualisierungsbedürftig? Sind bestimmte Aussagen schlicht veraltet und damit falsch (geworden), oder sind sie aus heutiger Sicht lediglich differenzierungsbedürftig? � Methodische Ebene: In vielen Fällen lässt sich weder die Problemstellung des Textes noch seine Problemlösung im Maßstab 1:1 auf Gegenwart und Zukunft übertragen. Oft ist es aber dennoch möglich, aus einem klassischen Text zu lernen, indem man fragt, ob die Art der Problembehandlung Stärken bzw. Schwächen aufweist, die uns bei der Lösung heutiger Probleme als Orientierungshilfen dienen können. In vielen Fällen ist es hilfreich (und lehrreich), bei der kritischen Rezeption eines Textes nicht nur auf die einzelnen Argumente, sondern auch auf die Art des Argumentierens zu achten: auf die Gedankenführung und sogar auf die Architektur des argumentativ errichteten Gedankengebäudes. � Beide Ebenen hängen systematisch zusammen. Deshalb muss man sie im Zusammenhang – und auf diesen Zusammenhang hin – reflektieren. Also: Welche Fragen werden gestellt, und wie werden sie gestellt? Welche Antworten werden gegeben, und wie werden sie begründet?

� � •

Ich werde im Folgenden versuchen, zumindest annäherungsweise den Weg zu skizzieren, den man mit den vier Schritten dieser methodischen Handreichung zurücklegen kann.

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Schritt I Ich beginne mit einer grau unterlegten Zusammenfassung der Textaussagen nach Absätzen: Markt und Moral 1. Seit Adam Smith wurde die normative Analyse innerhalb der Ökonomik zurückgedrängt zugunsten der positiven Analyse. 2. Moralische Urteile über Märkte sollten Ökonomen nicht den Nicht-Ökonomen überlassen. 3. Wer sich politisch für die Marktwirtschaft einsetzen will, muss (auch) moralisch argumentieren. 4. Märkte stoßen auf moralische Skepsis, aber nicht wegen ihrer Ergebnisse, sondern wegen der markttypischen Handlungsmotivation. 5. Ankündigung der Vorgehensweise Zwei Arten der Pflichtmoral 6. Grundlegende Unterscheidung: Helfermoral versus Marktmoral DIE HELFERMORAL 7. Drei Eigenschaften der Helfermoral: (a) bewusste Absicht, (b) persönliches Opfer, (c) identifizierbare Adressaten. – (a) Beispiel für Absicht: Christmas Carol. 8. (b) Opfer: Verzichtsleistung ist für Moralurteil oft wichtiger als Ergebnis. 9. Hilfeleistung aus Eigennutz wird oft nicht moralisch geschätzt, selbst wenn die Ergebnisse besser sind. 10. (c) Investoren sind größere Wohltäter als Philanthropen, werden moralisch aber nicht so geschätzt. 11. Die drei Eigenschaften lassen sich evolutionär erklären. DIE MARKTMORAL 12. Marktmoral befolgt abstrakte Regeln, die allgemein gelten (ohne Ansehen der Person). 13. Smith-Zitat: Regeln der Gerechtigkeit lassen sich durch Unterlassung einhalten. 14. Smith war kein Verfechter von Raffgier. 15. Smith: In der modernen Gesellschaft hat man nur wenige Freunde, aber viele Kooperationspartner. 16. Smith-Zitat: Unsichtbare Hand 84 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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17. Erklärung für Marktskepsis: Viele Menschen vermissen die moralische Dimension beim Marktverhalten. 18. Erklärung der Marktskepsis: Stärke des Marktes wird als moralische Schwäche ausgelegt. Feindschaft gegen den Markt verschleiert seine wünschenswerten Leistungen 19. Allgemeine Wahrnehmung: Die Mittel des Marktprozesses verderben seinen Zweck. 20. Beispiel Scheunenbau: Nachbarschaftsleistung versus Versicherung 21. Beispiel: Ressourcenschonung setzt Informationen voraus, die nur Preise bereitstellen können. 22. Beispiel: Arzt-Patienten-Verhältnis hat sich gewandelt. 23. Beispiel: Haiti würde es helfen, Zucker in die USA exportieren zu dürfen. 24. Beispiel: Moralische Ablehnung des Marktes verhindert, dass mehr Nieren gespendet werden. 25. Appelle an die selbstlose Moral dienen oft dazu, die Staatsaktivität auszudehnen. Fürsorge genügt nicht 26. Zwei Argumente: (a) Die Zahl der Menschen, die uns am Herzen liegt, ist gering. 27. (b) Wenn wir helfen wollen, benötigen wir Informationen. 28. Das erforderliche Wissen kann nur durch Preise signalisiert werden. 29. Marktprozesse sind anonym, ohne Ansehen der Person. Deshalb werden sie moralisch nicht geschätzt. 30. Beispiel: Wie können Kanadier die US-Amerikaner dazu veranlassen, weniger Bananen zu essen? 31. Marktpreise sind unpersönlich und verarbeiten Informationen, die auf Eigeninteresse beruhen. 32. Selbstlose Moral auf Märkten erfordert Preiskontrollen. 33. Beispiel: Steven Rockefeller 34. Zitat Rockefeller 35. Interpretation: Zur Förderung des Gemeinwohls wäre Rockefellers Helfermoral weniger gut geeignet als die auf Knappheitspreise setzende Marktmoral. 36. Der Verdienst und das Verdienst fallen auf Märkten auseinander. 85 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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37. Preise sind gerade deshalb informativ, weil sie das moralische Verdienst nicht honorieren. Die moralischen Ideale des sozialen Friedens und der menschlichen Freiheit 38. Zwei Argumente zugunsten von Märkten: Sie fördern Frieden und Freiheit SOZIALER FRIEDEN 39. Menschen unterschiedlicher Auffassungen können miteinander Tauschakte abwickeln, ohne sich auf gemeinsame Ziele einigen zu müssen. 40. Konflikte lassen sich durch Märkte entschärfen. 41. Zitat Muller: Angesichts der Religionskriege wurden FriedensHoffnungen auf den Kapitalismus gesetzt. 42. Streben nach finanziellem Erfolg diszipliniert das eigene Interesse. 43. Voltaire-Zitat: Londoner Börse ist kosmopolitisch und multikonfessionell. 44. J. St. Mill: Gemeinsame Interessen verbinden. 45. Keynes-Zitat: Es ist besser, den Kontostand zu tyrannisieren als die Mitmenschen. 46. Selbstlose Moral der Jäger und Sammler hat nicht zu friedlicher Gesellschaft geführt. 47. Helfermoral motiviert eine vergebliche Hoffnung auf den Neuen Menschen. 48. Ohne Preise fehlen Information für selbstloses Engagement. MENSCHLICHE FREIHEIT 49. Helfermoral erliegt der Versuchung zum Trittbrettfahren. 50. Märkte halten zu verantwortlichem Gebrauch der Freiheit an. 51. Selbstlose Moral ist wichtig. Sie senkt Transaktionskosten. Aber sie kann auch schaden: als Interventionismus. 52. Hayek-Zitat: Wir müssen lernen, in zwei Welten zu leben. 53 Übersetzung: Mikrokosmos = Helfermoral; Makrokosmos = Marktmoral. Fazit 54. Helfermoral ist knapp. 55. Wohlwollen lässt sich trainieren. 56. Marktmoral kann Helfermoral stellenweise substituieren. 86 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik

57. Dadurch kann Helfermoral dafür aufgespart werden, wo sie besonders wertvoll ist. 58. Wie sieht ein erfolgreiches Plädoyer zugunsten der Marktwirtschaft aus? (a) Die Moralische Dimension darf nicht ausgeblendet werden. (b) Ein bloßer Rekurs auf Helfermoral wäre unglaubwürdig und deshalb dysfunktional.

Schritt II Die Zusammenfassung nach Absätzen ermöglicht es, eine makroskopische Perspektive einzunehmen und gleichsam aus der Vogelschau ein Gesamtbild zu entwerfen, das die Argumentationsstruktur des Textes ins Blickfeld rückt und den roten Faden sichtbar werden lässt. Ich orientiere mich an der formalen Gliederung des Textes und fasse die einzelnen Absätze wie folgt zusammen: I. Problemstellung: Absätze 1–5 II. Zwei Arten der Moral: Absätze 6–18 III. Beispiele, bei denen Marktmoral funktioniert: Absätze 19–25 IV. Beispiele, bei denen Helfermoral nicht funktioniert: Absätze 26– 37 V. Zwei Ideale: Absätze 38–53 VI. Problemlösung: Absätze 54–58 Sodann versuche ich, diese sechs Gruppen von Absätzen miteinander in Verbindung zu setzen. Ich rekonstruiere also, wie man sie zueinander anordnen kann. Dabei fällt sofort auf, dass es bestimmte Symmetrien gibt, die es erlauben, jeweils zwei Gruppen auf einer Ebene anzusiedeln und dann die Ebenen systematisch so aufeinander zu beziehen, dass ein roter Faden bzw. eine schwarze Pfeilkette sichtbar wird (siehe Abbildung 1).

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Ingo Pies

Abbildung 1: Eine Skizze der Argumentationsstruktur 2

Zur Erläuterung: Anfang und Ende des Aufsatzes, also die von mir als »Problemstellung« und »Problemlösung« bezeichneten Absatzgruppen (I: 1–5) und (VI: 54–58), gehören schon rein formal zusammen und sind folglich auf der gleichen Ebene anzusiedeln. Sodann fällt auf, dass die Absatzgruppen (II: 6–18) und (V: 38– 53) jeweils dem Versuch gewidmet sind, eine grundlegende Unterscheidung einzuführen. Deshalb ordne ich sie auf der gleichen Ebene an. Auch der Mittelteil des Textes ist symmetrisch aufgebaut. Dies betrifft die Absatzgruppen (III: 19–25) und (IV: 26–37). Hier werden Beispiele diskutiert, mit denen die Autoren versuchen, einen Bereich zu markieren und inhaltlich auszuleuchten, innerhalb dessen sie der Marktmoral im Vergleich zur Helfermoral eine überlegene Leistungsfähigkeit bescheinigen.







Aus meiner Sicht lässt sich der rote Faden nun wie folgt wiedergeben:

2

Quelle: Eigene Darstellung.

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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik

I.

II.

III. IV.

V.

VI.

Clark und Lee werfen das Problem auf, dass die Marktwirtschaft unpopulär ist, weil sie in der Bevölkerung auf moralische Vorbehalte trifft. Sie unterscheiden zwei Arten der Moral, weil sie deutlich machen wollen, dass die moralischen Vorbehalte gegen den Markt auf einem moralischen Vorurteil beruhen. Dieses besteht darin, die moralische Qualität der Marktmoral zu übersehen, weil sich die Beurteilungskriterien an den Eigenschaften der Helfermoral orientieren, folglich auf Handlungsmotive fixiert sind und damit das spezifisch Moralische des Marktes kategorial verfehlen. Clark und Lee zeigen anhand von Beispielen, dass die Marktmoral zu guten Ergebnissen führen kann. Clark und Lee zeigen anhand von Beispielen, dass die Marktmoral stellenweise sogar zu besseren Ergebnissen führen kann als die Helfermoral. Clark und Lee führen diesen Gedanken fort, indem sie aufzeigen, dass sich wichtige moralische Ideale wie Frieden und Freiheit nur mit Hilfe der Marktmoral realisieren lassen. Ihr Vorschlag zur Problemlösung besteht darin, den populären Vorbehalten gegen den Markt argumentativ entgegenzutreten, und zwar mit dem moralischen Argument, dass die Marktmoral allgemein wünschenswerte Ergebnisse herbeizuführen vermag, die sich auf einem anderen Wege – insbesondere ohne Markt, allein gestützt auf die Helfermoral – niemals realisieren ließen.

Schritt III Ich komme nun zur internen Kritik, beschränke mich aber notgedrungen auf einige wenige Punkte, um die Methode zu illustrieren. •

Die Unterscheidung von Helfermoral und Marktmoral ist eine originelle Eigenleistung der Autoren. Allerdings verzichten sie darauf, ihre Unterscheidung zur allgemeinen ethischen Literatur in Beziehung zu setzen. Das dürfte daran liegen, dass sie ihre Leitdifferenzierung ganz gezielt darauf hin zuschneiden, einen gewichtigen Beitrag zur Lösung des von ihnen aufgeworfenen Problems zu leisten, während die ethische Literatur vornehmlich andere Problemstellungen vor Augen hat wie etwa die mora-

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Ingo Pies







lische Beurteilung individueller Handlungen und Handlungsmotive. Die Gegenüberstellung von Helfermoral und Marktmoral wirft Fragen auf, die im Text nicht immer explizit beantwortet werden. Das lädt zu Missverständnissen ein und erfordert deshalb eine besonders gründliche eigenständige Interpretationsarbeit der Leser. Beispielsweise ist es so, dass manche Formulierungen auf eine friedliche Koexistenz – oder sogar auf Komplementarität: d. h. auf eine wechselseitige Unterstützung – von Helfermoral und Marktmoral hindeuten, während andere Formulierungen anzudeuten scheinen, dass es auch Konflikte geben kann und dass Helfermoral und Marktmoral zumindest teilweise – an manchen Stellen – in einem substitutiven Verhältnis zueinander stehen. In etwaigen Zweifelsfällen der Interpretation würde ich mich an dem langen Hayek-Zitat orientieren (CL-52). Demnach kommt es den Autoren darauf an, gesellschaftliche Bereiche so zu ordnen, dass Helfermoral und Marktmoral jeweils dort zur Geltung kommen, wo sie sich im Interesse der Menschen als leistungsfähig, d. h. als zweckmäßig, erweisen. Während Hayek dies als eine symmetrische Problemstellung ausweist, ist aber nicht zu übersehen, dass Clark und Lee hier einseitig nur das Problem betonen, die Gesellschaft vor der Versuchung zu warnen (und zu bewahren), Marktmoral durch Helfermoral substituieren zu wollen, was faktisch darauf hinausliefe, den Markt außer Kraft zu setzen. Das umgekehrte Problem, das Hayek anspricht, wird von ihnen nicht thematisiert. Es besteht darin, ungeeignete Versuche abzuwehren, Helfermoral durch Marktmoral substituieren zu wollen. 3 Es gibt weitere blinde Flecke der Argumentation: (a) Clark und Lee argumentieren nur mit individuellen Marktakteuren und blenden damit aus, dass es neben natürlichen Personen vor allem auch juristische Personen (Unternehmen als Organisationen) sind, die das wirtschaftliche Geschehen auf Märkten prägen. Folglich wäre zu fragen, ob und inwiefern die Helfermoral inner-

Hinweis: In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird dieses zweite Problem oft in Anlehnung an Jürgen Habermas als »Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemimperative« angesprochen. Deshalb bietet es sich an, das erste Problem spiegelbildlich als »lebensweltliche Kolonialisierung des Systems« zu bezeichnen. Vgl. z. B. Pies (2010; S. 236) sowie Pies und Hielscher (2012).

3

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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik

halb von Unternehmen – z. B. zwischen Teammitgliedern – eine funktionale Rolle zu spielen vermag. Dies würde die Schlussfolgerung nahelegen, dass die Grenzziehung zwischen Helfermoral und Marktmoral nicht bereichsontologisch zu denken ist, weil die Marktmoral die Sphäre des Marktes nicht komplett abdeckt. Um es bildlich auszudrücken: Im Meer der wettbewerblichen Marktbeziehungen gibt es zahlreiche Kooperationsinseln (= Unternehmen), die Raum dafür bieten, dass Menschen sich helfermoralisch begegnen. (b) Clark und Lee wollen die moralischen Vorbehalte gegen den Markt argumentativ entkräften und sogar ausräumen. Nun entzünden sich zahlreiche dieser Vorbehalte zweifellos an einem ganz bestimmten Strukturmerkmal des Marktes: dem Wettbewerb. Wenn Unternehmer bzw. Unternehmen gefragt werden, warum sie ihren Kunden nicht noch attraktivere Produkte verfügbar machen, warum sie ihren Arbeitnehmern nicht noch höhere Löhne zahlen oder bei ihren Lieferanten nicht noch höhere Umwelt- und Sozialstandards durchsetzen, warum sie nicht noch mehr Innovationen hervorbringen, nicht noch mehr in Umweltschutz investieren, nicht noch mehr attraktive Arbeitsplätze schaffen usw., dann lautet die Antwort oft lapidar, dass es ihnen unter Wettbewerbsbedingungen unmöglich ist, die dafür nötigen höheren Kosten in Kauf zu nehmen. Insofern muss überraschen, dass Clark und Lee es versäumen, hierzu systematisch Stellung zu nehmen. 4 (c) Clark und Lee argumentieren mit weitgehend perfekten Märkten und blenden damit aus, dass das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik weitaus komplexer ist, als es ihre – für die Diskurslage in den USA durchaus nicht untypische, aus europäischer Perspektive hingegen – etwas simplistisch anmutende Gegenüberstellung von Markt und Staat nahelegt. Ob bzw. wie gut Märkte funktionieren, hängt immer von der institutionellen Rahmenordnung ab. Deshalb Ich habe an anderer Stelle ein Argument zur moralischen Legitimation der Marktwirtschaft entwickelt, das auf die sozial erwünschten Anreizwirkungen des wirtschaftlichen Leistungswettbewerbs abstellt und sich auf die folgende Formel zuspitzen lässt: Konkurrenz ist ein Instrument gesellschaftlicher Kooperation. Mit dieser Formel soll die wichtige Einsicht zum Ausdruck gebracht werden, dass eine geeignete Ordnungspolitik den wirtschaftlichen Wettbewerbsdruck gezielt so einsetzen und ausrichten kann, dass er die gesellschaftliche Zusammenarbeit fördert und sich zur Verwirklichung moralischer Anliegen in Dienst nehmen lässt. Vgl. Pies (2000; S. 52–62) sowie Pies (2001; S. 155–176).

4

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kommt den politischen Prozessen zur Gestaltung der Rahmenordnung – insbesondere zur Definition und Zuweisung von Eigentumsrechten, die auf Märkten getauscht werden – eine besondere Bedeutung zu. Dass Unternehmer und Unternehmen (Stichwort: »Corporate Citizenship«) hierbei eine wichtige Rolle spielen können und dass es einen großen Unterschied macht, ob sie bei ihrer Einflussnahme auf die institutionellen Spielregeln des Marktes »Responsible Lobbying« oder »Irresponsible Lobbying« betreiben, wird von Clark und Lee leider nicht thematisiert. Die Ausführungen zur Klimapolitik (CL-50) sind etwas verwirrend. Einerseits wird richtig beschrieben, dass die Abwesenheit von Eigentumsrechten systematisch dazu führt, dass die Marktteilnehmer ihre Freiheit (zur Emission von CO2) in unverantwortlicher Weise in Anspruch nehmen. Andererseits wird behauptet, es sei unmöglich, entsprechende Eigentumsrechte zu schaffen. Diese Aussage überrascht, weil in Europa mittlerweile genau solche Eigentumsrechte in Form von CO2-Emissionszertifikaten eingeführt wurden, die nun an Börsen gehandelt und mithin zu Marktpreisen getauscht werden. (In den USA selbst gibt es solche Handelssysteme übrigens schon seit längerem, z. B. Emissionszertifikate für Stickstoffoxide (NOx), die für den Schutz der Ozonschicht eingerichtet wurden.) Clark und Lee wollen argumentieren, dass es gerade in moralischer Hinsicht irreführend ist, die Diskussion um die Legitimation der Marktwirtschaft auf die Frage zu verkürzen, welche Motive wirtschaftlichen Handlungen zugrunde liegen. Zu diesem Zweck berufen sie sich mehrfach auf Adam Smith (vgl. z. B. CL16). Allerdings hätte ich mir vorstellen können, dass sie ihr Argument noch weitaus stärker fundieren, etwa mit Hilfe folgender Überlegung: Nachfrager sind an niedrigen, Anbieter an hohen Preisen interessiert. Durch ihr eigenes Verhalten tragen Nachfrager jedoch zu steigenden Preisen bei, während eine stärkere Angebotsaktivität die Preise sinken lässt. Dies läuft den jeweiligen Intentionen der Marktakteure geradewegs zuwider. Insofern ist die Funktionsweise von Märkten dadurch charakterisiert, dass zahlreiche Ergebnisse nicht nur nicht-intendiert zustande kommen, sondern sogar kontra-intentional. Deshalb unterliegt man einem logischen Fehlschluss, wenn man allein von den Intentionen (= Motiven) der Wirtschaftssubjekte auf den moralischen Status des Marktes schließen will. Eine moralische Folgenkalku-

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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik

lation muss anders ansetzen: Üblicherweise hängen die Konsequenzen von Markthandlungen sehr viel stärker von den Institutionen des Marktes als von den Intentionen der Handelnden ab, so dass man nicht nur die Handlungsmotive, sondern vor allem die Situationslogik der Handlungsanreize in die moralische Beurteilung einbeziehen muss.

Schritt IV Mit all diesen Vorarbeiten ist nun endlich der Boden für eine externe Kritik bereitet. Auch hier beschränke ich mich wieder auf einige wenige Punkte, die ich für besonders relevant halte. Zunächst zu den Stärken der Argumentation: •



Aus meiner Sicht ist das von Clark und Lee aufgeworfene Problem außerordentlich wichtig. Zudem wird es wohl zukünftig an Relevanz eher noch zunehmen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die US-Leserschaft, an die sich die Autoren direkt wenden, sondern gerade auch im Hinblick auf den deutschen Sprachraum, in dem es ebenfalls deutliche Anzeichen dafür gibt, dass weite Teile der öffentlichen Meinung – nicht zuletzt als Reaktion auf enttäuschende Erfahrungen mit Wirtschaftskrisen – prononciert marktskeptische oder gar marktfeindliche Positionen vertreten. Absolut überzeugend finde ich das – auf Hayek (1939, 2012) zurückgehende – Argument, dass man die moralischen Vorbehalte gegenüber dem Markt ernst nehmen muss, was dann zwingend die Konsequenz nach sich zieht, dass man ihnen nur mit moralischen Argumenten kritisch begegnen kann. Will man diese wichtige Auseinandersetzung führen, reicht es also nicht aus, sich mit Hinweisen auf wirtschaftliche Effizienz zu begnügen. Für Ökonomen ist mit dieser Erkenntnis ein wirtschaftsethischer Bildungsauftrag und folglich eine interdisziplinäre Herausforderung verbunden. Sie besteht darin, sich auf jene Sprache und auch auf jene Denkkategorien einzulassen, mit denen sich die Bürger in gesellschaftlichen Diskursen über die Legitimation (sdefizite) der Marktwirtschaft verständigen.

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Nun zu den Schwächen der Argumentation. Auch hier will ich mich rein illustrativ auf einige wenige Punkte beschränken, die mir besonders relevant und lehrreich zu sein scheinen: •



Das für die deutschsprachige Tradition grundlegende Denken in alternativen Wirtschaftsverfassungen ist der angelsächsischen Tradition bis heute fremd geblieben. Statt von Ordnungspolitik spricht man von Regulierung und verwendet damit einen Begriff, der notorisch unscharf ist, weil er die Differenzierung verwischt, ob die Regulierungsinstanz mittels konkreter Vorschriften direkt – und damit dirigistisch und interventionistisch – in wirtschaftliche Spielzüge eingreift oder ob sie lediglich die Spielregeln gestaltet, an denen die Wirtschaftssubjekte ihre jeweiligen Entscheidungen und Handlungen eigenverantwortlich ausrichten. Aufgrund dieser mangelhaften Differenzierung zwischen Subordination und Ko-ordination landet der Diskurs dann schnell bei einer unterkomplexen Entgegensetzung von Markt und Staat sowie bei Anklängen an Laisser-faire-Vorstellungen, die sich auch im Artikel von Clark und Lee wiederfinden (vgl. z. B. CL25 oder CL-48), so als gälte es, die Staatsaktivität möglichst gering zu halten. Aus einem solchen Blickwinkel bleibt systematisch unterbelichtet, dass staatliche Leistungen wie die Produktion von Recht und anderen öffentlichen Gütern geeignet sein können, ein (besseres) Funktionieren von Märkten zu ermöglichen. Im Klartext: Das Verhältnis zwischen Markt und Staat ist nicht notwendig substitutiv; man muss es auch als komplementär denken können; dies vor allem dann, wenn man Märkte ordnungspolitisch gestalten will. Clark und Lee berufen sich auf Hayeks Unterscheidung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, die sie ausführlich zitieren (vgl. CL-52). Allerdings nehmen sie in diesem Zusammenhang eine wichtige Änderung vor: Während Hayek mit seiner Distinktion zwei Typen von Regeln unterscheidet, differenzieren Clark und Lee zwischen zwei Typen von Moral (vgl. CL-53). Das ist originell und folgenreich, aber gerade deshalb auch ambivalent. Einerseits erschließen sich Clark und Lee dadurch einen neuen Zugang zu ihrem eigentlichen Thema, der moralischen Rechtfertigung der Marktwirtschaft. Andererseits sind mit diesem innovativen Argumentationsaufriss zwei ganz grundlegende Probleme verbunden, auf die ich hier kurz aufmerksam machen möchte.

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Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik





Erstens läuft die von Clark und Lee gewählte Argumentationsstrategie darauf hinaus, die Sphäre des Marktes normativ aufzuladen. Moralischen Vorbehalten gegenüber dem Markt begegnen sie mit einem Verweis darauf, dass der Markt eine eigene Moral hervorgebracht hat, die zudem (im Hinblick auf die Ideale sozialen Friedens und individueller Freiheit) wichtige gesellschaftliche Funktionen übernimmt. Dadurch changiert die Argumentation stets zwischen Argumenten, die dem Markt und der für ihn typischen Marktmoral einen Eigenwert zuschreiben, und solchen Argumenten, die den Markt einer Funktionsanalyse unterziehen und ihn rein instrumentell rechtfertigen: als zweckmäßiges Anreizarrangement zur Hervorbringung von Produktions- und Innovations-Leistungen, mit denen sich wichtige moralische Anliegen verwirklichen lassen. Hierzu gehören die Bekämpfung von Hunger, Armut, Krankheit und Not; die kostengünstige Bereitstellung materieller und immaterieller Güter; attraktive Arbeitsplätze; hohe Einkommen und damit verbunden die Erfindung und Kultivierung von Freizeit; sowie schließlich all das, was die Menschen länger, gesünder und zufriedener leben lässt. Vor diesem Hintergrund ist gegen die von Clark und Lee gewählte Argumentation einzuwenden, dass reine Zweckmäßigkeitsargumente einem Verweis auf Eigenwerte deutlich überlegen sind, wenn es darum geht, moralische Vorbehalte gegen den Markt auszuräumen und einschlägige Kritiker argumentativ zu überzeugen. Zweitens handeln sich Clark und Lee mit dem von ihnen gewählten Argumentationsaufriss ein nahezu unlösbares Grundlagenproblem ein: Die Vermittlung der beiden Moraltypen erfordert eine dritte normative Position, also gleichsam eine Moral höherer Ordnung, von der aus zu entscheiden wäre, ob in konkreten Konfliktfällen die Helfermoral oder die Marktmoral Vorrang genießen soll. Demgegenüber erlaubt Hayeks Konzeptualisierung, den Gedanken zu verfolgen, dass es letztlich ein und dieselbe Moral ist, die in Mikrokosmos und Makrokosmos nur je unterschiedliche Ausprägungsformen findet. Tritt hier ein Konflikt auf, so ist dies nicht aufzufassen als ein Konflikt unterschiedlicher Moralen, zwischen denen normativ zu vermitteln wäre, sondern als ein

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Konflikt unterschiedlicher Regeln, der sich nach Kriterien moralischer Zweckmäßigkeit auflösen lässt.

Fazit Die methodischen Hinweise zur Textlektüre, Textbearbeitung und Textkritik sowie ihre beispielhafte Illustration sollen vor Augen führen, wie man sich in die formale Struktur und inhaltliche Argumentation eines anspruchsvollen Aufsatzes einarbeiten kann. Hierbei kommt es allerdings nicht so sehr auf die Lösung als vielmehr auf das Problem an: Es geht vor allem darum, zunächst einmal überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Lesegewohnheiten des Alltags nicht ausreichen, um einem Text gerecht zu werden, der das Zeug hat, zu einem Klassiker zu avancieren. Hat man dieses Problem erst einmal klar im Blick, gibt es durchaus unterschiedliche Möglichkeiten zur Problemlösung. Insofern ist das hier durchlaufene Verfahren keineswegs alternativlos. Zudem ist es auch in einem weiteren Sinne nur als exemplarisch zu verstehen, denn es lässt Raum für subjektive Differenzierungen, die vom eigenen Erkenntnisinteresse und Bildungshintergrund geprägt sind und insofern helfen, sich nicht nur über die eigene Interpretation des Textes, sondern auch über die dabei in Anspruch genommene Perspektive – mitsamt ihrem spezifischen Fokus und ihren blinden Flecken – intellektuell Rechenschaft abzulegen. Wer die vier Schritte gewissenhaft absolviert, kann also auch zu durchaus anderen Schlussfolgerungen gelangen. Insgesamt sollte gezeigt werden, dass die Erarbeitung eines eigenständigen und inhaltlich fundierten Urteils über die Argumentation des Textes nicht nur (a) Mühe erfordert, sondern auch (b) der Mühe wert ist. Ich jedenfalls darf freimütig mitteilen, dass ich den Aufsatz von Clark und Lee (z. B. als Mitübersetzer) mehrfach besonders intensiv gelesen hatte und dass sich mein Verständnis dieses Aufsatzes durch den nachträglichen Vollzug der vier Schritte dieser methodischen Handreichung zur Textinterpretation gleichwohl nochmals gründlich weiterentwickelt und stellenweise sogar gewandelt hat. Das liegt auch daran, dass die sorgfältige Trennung von interner und externer Kritik dazu anregt, nicht nur auf den Text zu reflektieren, sondern auch auf die eigenen Beurteilungsmaßstäbe, die man an den Text heranträgt. Um es bildlich auszudrücken: Die 96 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Textlektüre – Textbearbeitung – Textkritik

methodische Handreichung leitet dazu an, nicht nur das beleuchtete Objekt besser zu erkennen, sondern auch sich des eigenen Scheinwerfers deutlicher bewusst zu werden sowie der alternativ möglichen Blickwinkel, welche Licht und Schatten der zu analysierenden Argumentation jeweils unterschiedlich hervortreten lassen. Vor diesem Hintergrund gelange ich zu folgender subjektiven Einschätzung: Auch wenn ich eine andere Argumentations-Architektur bevorzuge, weil ich sie für leistungsfähiger halte, komme ich doch nicht umhin, dem Aufsatz von Clark und Lee das Verdienst zuzuschreiben, einen originellen und anregenden Beitrag geleistet zu haben, der der Diskussion um die moralische Legitimation der Marktwirtschaft wichtige Impulse zu geben vermag. Besonders interessant finde ich, dass dieser Beitrag geeignet ist, das Niveau der Diskussion – in Wissenschaft und Öffentlichkeit – anzuheben. Denn hier wird das Arsenal der Argumente pro und contra Marktwirtschaft nicht einfach nur quantitativ erweitert, sondern vor allem qualitativ bereichert, weil auf einen wichtigen Kategorienfehler hingewiesen wird, von dem die Gefahr eines Diskursversagens ausgeht. Der Kategorienfehler besteht darin, die Diskussion pro und contra Marktwirtschaft auf den – gerade in moralischer Hinsicht irreführenden – Aspekt zu verkürzen, welche Handlungsmotive wirtschaftlichen Handlungen zugrunde liegen. Von diesem wichtigen Hinweis können beide Seiten lernen – die Befürworter ebenso wie die Kritiker der Marktwirtschaft, so dass diese gesellschaftspolitisch höchst relevante Auseinandersetzung in Zukunft intelligenter, sachlicher und ertragreicher geführt werden kann.

Literatur Hayek, Friedrich August von (1939, 2012): Freedom and the Economic System, unveränderter Wiederabdruck des von Harry D. Gideonse herausgegebenen Public Policy Pamphlet No. 29, Mansfield Centre. Pies, Ingo (2000): Ordnungspolitik in der Demokratie. Ein ökonomisches Forschungsprogramm demokratischer Politikberatung, Tübingen. Pies, Ingo (2001): Eucken und von Hayek im Vergleich. Zur Aktualisierung der ordnungspolitischen Konzeption, Tübingen. Pies, Ingo (2010): Diagnosen der Moderne: Weber, Habermas, Hayek und Luhmann im Vergleich, in: Ingo Pies und Walter Reese-Schäfer (Hrsg.): Diagnosen der Moderne: Weber, Habermas, Hayek, Luhmann, Berlin, S. 229–254.

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Ingo Pies Pies, Ingo und Stefan Hielscher (2012): Gründe versus Anreize? Ein ordonomischer Werkstattbericht in sechs Thesen, in: Nida-Rümelin, Julian und Elif Özmen (Hrsg.): Welt der Gründe, Deutsches Jahrbuch für Philosophie, Band 4 (XXII. Deutscher Kongress für Philosophie. 11.–15. September 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Kolloquienbeiträge), Hamburg, S. 215–230.

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III. Kommentare

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Gerhard Engel

Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«? Anmerkungen zu Hayeks Begriff der »Hordenmoral« »Es ist das unselige Paradox der Moral, dass das Gute der anderen Gruppe mit dem eigenen Bösen identisch werden kann.« Norbert Bischof 1

Einleitung Clark und Lee ziehen am Schluss ihres Aufsatzes eine resignativ wirkende Bilanz: Angesichts der intuitiven Widerstände gegen die Marktmoral erwarten sie bei der öffentlichen Wirkung ihrer Argumente nur »begrenzte Erfolge« 2. Sie machen plausibel, dass unsere Schwierigkeiten bei der Akzeptanz der Marktmoral vom stammesgeschichtlich erklärbaren und daher nur schwer korrigierbaren »Flüstern in uns« 3 herrühren. Dieses Erbe lege systematisch und dauerhaft Intuitionen und Urteilsroutinen nahe, die einer modernen Industriegesellschaft nicht angemessen seien. Sie bündeln ihre Überlegungen im Begriff der ›Helfermoral‹, die uneigennützige und großherzige Unterstützung anderer Menschen fordert. Demgegenüber zeigt eine genauere evolutionstheoretische Analyse dreierlei. Erstens folgt auch die ›Helfermoral‹ einem nutzenorientierten Maximierungskalkül. Zweitens ist nicht die Horde, sondern die einzelne Familie der evolutionstheoretisch relevante Ort, wo sich die Entwicklung der ›Helfermoral‹ vollzogen hat. Und drittens entstand in unserer Stammesgeschichte auch eine Instanz, die unter heutigen Bedingungen sogar gegen die Helfermoral in Stellung geBischof (2012), S. 409. CL-58. 3 Das ist der Titel des immer noch höchst lesenswerten Buches von David Barash (1981). 1 2

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Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«?

bracht werden kann und muss: das Gewissen. Und so wird es denkbar, dass genauere Informationen dazu führen könnten, dass wir nur noch ›mit schlechtem Gewissen‹ den Einflüsterungen der ›Hordenmoral‹ folgen können und fähig werden, auch gefühlsmäßig das Konzept von ›Vorteilen und Anreizen‹ zu akzeptieren. 4 Doch das setzt voraus, dass wir uns über die Helfermoral in interdisziplinärem Zusammenhang genauer informieren. Dazu gehe ich in vier Schritten vor. – Zunächst geht es um den Begriff des kognitiven Mesokosmos. Hier wird spürbar, wie gravierend die Stammesgeschichte unser Denken, Wahrnehmen und Empfinden geformt hat. – Zweitens ist zu überlegen, ob nicht auch die Begriffe des sozialen und des moralischen Mesokosmos hilfreich sind, um das Feld zwischen Helfermoral und Marktmoral zu strukturieren. – Unter Bezug auf neuere Arbeiten zur Evolution des Gewissens wird erörtert, wie diese psychische Instanz evolvieren konnte, obwohl es für das Individuum offenbar nachteilig ist, der ›Stimme des Gewissens‹ zu folgen. – Abschließend wird gezeigt, dass auch das Gewissen eine moralisch zwiespältige Instanz darstellt, die zur Zerstörung des sozialen Zusammenhalts beitragen kann. Die Antwort auf unsere Titelfrage wird dann gewissermaßen ›typisch philosophisch‹ sein: Ja und nein. Die ›Helfermoral‹ hat zwar ihren evolutionären Ursprung in der Familie und den Familienverbänden, den Horden; aber auch sie folgt auf eine verborgene Weise der Logik von Vorteilen und Anreizen. Die ›Helfermoral‹ ist also offensichtlich nicht das, was sie zu sein scheint. Ganz im Gegenteil: Von ihr gehen ebenso wie von der Instanz des Gewissens Gefahren aus, die nicht auf die Akzeptanz der Marktwirtschaft beschränkt bleiben.

Der kognitive Mesokosmos Der Fortschritt der Wissenschaft besteht nicht nur in immer besseren Erklärungen für diejenigen Vorgänge und Beobachtungen, die wir erklären wollen, sondern auch in immer besseren Beobachtungsund Messtechniken. Umwälzende theoretische Fortschritte gingen fast immer mit der Entwicklung und dem Einsatz neuer Beobach4

Zu diesem Konzept vgl. vor allem Homann (2002).

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Gerhard Engel

tungsinstrumente einher: Galileis Fernrohr oder das Rastertunnelmikroskop stellen hier besonders markante Beispiele dar. Dabei verfeinern und erweitern wir unsere Beobachtungsmöglichkeiten in zwei Richtungen. Zum einen gelingt es uns, in immer größere Tiefen des Weltraums zu blicken; zum anderen richten wir unseren Blick immer erfolgreicher auch in den Mikrokosmos: Was nicht mit dem bloßen Auge wahrnehmbar ist, wird durch das optische Mikroskop, durch Elektronenmikroskope oder noch modernere Geräte sichtbar. Zwischen diesen beiden sich immer weiter verschiebenden Grenzen der Beobachtbarkeit stehen wir zwar nicht mathematisch exakt in der Mitte, aber wir nehmen doch in gewissem Sinne eine Mittelstellung ein – eben zwischen Mikro- und Makrokosmos. 5 Der kognitive Mesokosmos darf aber nicht einfach mit der Welt der mittleren Dimensionen identifiziert werden; er bildet vielmehr die kognitive Nische des Menschen. Wir empfinden also diejenigen Strukturen und Prozesse als anschaulich, plausibel und intuitiv einleuchtend, mit denen wir uns »wahrnehmend und handelnd, sensorisch und motorisch« auseinandersetzen müssen. 6 Beispiele sind etwa Entfernungen zwischen 0,1 Millimetern und 30 Kilometern (also zwischen einer ›Haaresbreite‹ und einem Tagesmarsch), Gewichte und Massen zwischen einigen Gramm und einigen Tonnen, Temperaturen von etwa –10° C bis zum Siedepunkt des Wassers oder auch Geschwindigkeiten zwischen dem Ruhezustand von 0 km/h und 40 km/h, wie sie bei Mensch und Tier vorkommen. Kurz: Unter all dem ›können wir uns etwas vorstellen‹. Das allein sind schon Sachverhalte, die zum Staunen anregen. Vollends verblüfft ist man, wenn man erkennt, dass manche Vorgänge in Mikro- und Makrokosmos sich nicht den gewohnten Erklärungsprinzipien fügen. Um die entsprechenden Vorgänge zu verstehen, mussten daher teilweise völlig neue Theorien entwickelt werden, deren Grundsätze nicht mehr ohne Weiteres mit dem vereinbar sind, was wir aus unserer Alltagserfahrung kennen. Dafür einige Beispiele:

Vgl. dazu das wunderbare Buch von Morrison und Morrison (1985, 1988), das nicht nur über die im Text beschriebenen Zusammenhänge belehrt, sondern sie auch anschaulich macht. 6 Vollmer (1985, 2008; S. 77); vgl. dort auch die Tabelle auf S. 78. 5

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Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«?





Wir empfinden es als kontraintuitiv, dass es so etwas wie die ›kleinste Länge‹ geben soll; es muss sich doch alles irgendwie immer teilen lassen! Das Weltall, so versichern uns die Kosmologen, sei endlich, aber unbegrenzt; und um diesen Satz anschaulich und plausibel zu machen, fordern sie uns auf, uns wie eine Ameise zu fühlen, die auf einer Kugel herumkrabbelt und auch nirgendwo ein Ende findet – »und das nun im dreidimensionalen Raum«.

Wie ist es nun zu erklären, dass wir uns bestimmte Dinge nicht vorstellen können und dass wir bestimmte gut bewährte Erklärungsprinzipien als plausibel und natürlich ansehen, andere aber nicht? Das wird klar, wenn wir unsere stammesgeschichtliche Vergangenheit betrachten. Um zu überleben, war es zielführend, vor allem die Welt der mittleren Dimensionen adäquat, also überlebensdienlich, wahrnehmen zu können. Daher empfinden wir auch die Axiome der Euklidischen Geometrie als ›unmittelbar einleuchtend‹, obwohl sie bei sehr großen Entfernungen nicht angemessen physikalisch interpretiert werden können. Im mesokosmischen Bereich lassen sich auch ohne Schwierigkeiten Geschwindigkeiten addieren: Wer in einem mit 200 km/h fahrenden Zug mit 3 km/h in Fahrtrichtung geht, bewegt sich relativ zur Erdoberfläche mit 203 km/h. Für große Geschwindigkeiten gilt dieses Additions-Prinzip jedoch nicht.

Der soziale Mesokosmos Es liegt nun nahe, diese Betrachtungsweise auch auf soziale Strukturen auszudehnen. Die folgende Tabelle zeigt, wie das Ergebnis aussehen könnte. Hervorgehoben sind soziale Gruppen, in denen die ›Helfermoral‹ am ehesten erwartet wird; eingeklammert sind Bereiche, die nur von wenigen Autoren als moralisch relevant angesehen werden. 7

7

Die obige Aufzählung ist leicht gekürzt entnommen aus Vollmer (2010; S. 246).

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Gerhard Engel Moralischer Referenzbereich

(Ich) Sozialer Mikrokosmos Familie Sozialer Mesokosmos Sippe und Clan Landsmannschaft Nation (Sprache) Sozialer Makrokosmos Europa (Kultur) Weltgesellschaft (Leidensfähige Wesen) (Alle Lebewesen) (Unbelebte Systeme)

→ →

– – – – – – – – – –

Sozialer Erfahrungsbereich

Moraltypus

›Helfermoral‹

›Marktmoral‹

Tabelle 1. Helfermoral, Marktmoral und ihre sozialen Orte

Der Philosoph Peter Singer weist der Ethik die Aufgabe zu, den Kreis der durch eine bestimmte Moral Begünstigten bis zur Weltgesellschaft zu erweitern (hier mit einem Pfeil symbolisiert). 8 Beispielsweise sollen wir in den entwickelten Ländern mindestens auf ein Zehntel unseres Einkommens zugunsten der Bewohner sehr armer Länder verzichten. Allerdings ist umstritten, ob sich ein solches Ansinnen moralisch rechtfertigen lässt und ob es obendrein mit Aussicht auf irgendeinen armutsrelevanten Erfolg durchgeführt werden kann. Hayek ist in diesem Punkt mehr als skeptisch: »Unsere gegenwärtige Schwierigkeit besteht zum Teil darin, dass wir unser Leben, unsere Gedanken und Gefühle unentwegt anpassen müssen, um gleichzeitig in verschiedenen Arten von Ordnungen und nach verschiedenen Regeln leben zu können. Wollten wir die unveränderten, uneingeschränkten Regeln des Mikrokosmos (d. h. die Regeln der kleinen Horde oder Gruppe oder beispielsweise unserer Familien) auf den Makrokosmos (die Zivilisation im großen) anwenden, wie unsere Instinkte und Gefühle es uns oft wünschen lassen, so würden wir ihn zerstören. Würden wir aber umgekehrt immer die Regeln der erweiterten Ordnung auf unsere kleinen

Vgl. dazu Singer (2011). Sehr weitgehende Forderungen in dieser Richtung erhebt Meyer-Abich (1990), die auch die unbelebte Natur einbeziehen. Wer anthropozentrisch denkt (und die Moral besteht ja aus Forderungen, die Menschen aneinander zu ihrem gemeinsamen Nutzen stellen), wird dagegen eine Ausweitung des von einer Moral Begünstigten auf Tiere oder gar auf die unbelebte Natur nur insoweit nicht ablehnen, wie damit mittelbar die Interessen von Menschen geschützt werden (sollen).

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Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«?

Gruppierungen anwenden, so würden wir diese zermalmen. Wir müssen also lernen, gleichzeitig in [mindestens; G. E.] zwei Welten zu leben.« 9

Einen sozialen oder moralischen Mesokosmos erwähnt Hayek hier nicht. Für ihn verschmelzen die Interessen des Einzelnen, der Familie und der Horde im Sinne der Gruppenselektion. Daher ist für ihn die Horde die kleinste moralisch relevante Einheit.

Der moralische Mesokosmos Wie im naturwissenschaftlichen Mesokosmos sind auch unsere moralischen Intuitionen auf einen bestimmten Ausschnitt aus dem sozialen Mesokosmos der Lebewesen zugeschnitten. Der Mensch entwickelte sich über lange Zeit in Kleingruppen, zu deren Moralkodex Teilhabe, Gleichheit, Solidarität und Altruismus gehörten. 10 Ressourcen wurden geteilt, damit unterschiedliches Jagdglück alle Gruppenmitglieder in gleichem Maße begünstigte; knappe Mittel wurden bedarfsgerecht unter allen aufgeteilt; bei Unglücken, Gefahrenabwehr oder Naturereignissen war die Solidarität der Horde gefragt; und ein reziproker Altruismus erleichterte den Austausch von Leistungen, auch wenn die Gegenleistung erst nach unbestimmter Zeit erbracht werden würde. Auch heute noch kann jeder, der am sonntäglichen Frühstückstisch, sagen wir, eine Tafel Schokolade aufteilt, erleben, wie eifersüchtig insbesondere die Kinder darauf achten, dass sie den genau gleichen Anteil erhalten: ›Gerechtigkeit‹ bedeutet für sie ›Gleichverteilung‹. Doch dieser moralische Mesokosmos, also die ›Hordenmoral‹ im Sinne Hayeks, verdient keineswegs jenen positiven moralischen Nimbus, der sie bei einem verklärenden Blick in die ferne Vergangenheit des ›Goldenen Zeitalters‹ umgibt. Das wird klar, wenn wir den von Hayek verfolgten gruppenselektionistischen Ansatz genauer untersuchen und die individuellen Vorteilskalküle betrachten, die innerhalb der Horde wirksam sind. 11

Hayek (1988, 1996; S. 15, H. i. O.). Hayek (1988, 1996; S. 7–26). Die Gruppengröße betrug anfangs wohl zwischen 15 und 40 Mitglieder (Hayek 1979, 1981; S. 218), später je nach Entwicklungsstand bis zu 150 Personen (Dunbar 1993). 11 Diesem Ansatz folgt z. B. Boone (1998). 9

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Warum teilen junge Männer das bei der Jagd erbeutete Fleisch sogar mit denen, mit denen sie nicht genetisch verwandt sind? Gewiss – eine solche Gewohnheit nützt allen und daher auch dem einzelnen Mitglied. Aber sowohl Ökonomen als auch Soziobiologen glauben aus methodischen Gründen nicht, dass ein derartiges Verhalten sich nur deshalb durchsetzen konnte, weil es ›für alle gut ist‹ : Der Einzelne muss einen Vorteil davon haben. Worin könnte der in unserem Beispiel bestehen? Zwar ist das Teilen der Jagdbeute, wie erwähnt, Teil eines impliziten Versicherungsvertrages gegen wechselndes Jagdglück. Aber worin besteht der Anreiz, sich an diesen Vertrag auch gebunden zu fühlen? Hier kommt dasjenige zum Tragen, was Soziobiologen ›Handicap-Altruismus‹ 12 nennen: Wer sich beim Teilen der Jagdbeute mit Anderen besonders hervortut, erhöht seine Fortpflanzungschancen, da sein Verhalten die Partnerschaftspräferenzen weiblicher Mitglieder der Horde beeinflusst. Es ist also nicht erst das Leben in sozialen Großverbänden, das von einer ›altruistischen‹ Hordenmoral zu einer ›egoistischen‹ Marktmoral führt. Diese Begriffe stellen Wertungen dar, die schon deskriptiv nicht angemessen sind, denn auch in der Horde setzen sich Vorteile für alle nur dann durch, wenn es Anreize für die Einzelnen gibt, sie auch bereitzustellen. Und die Wertungen sind auch normativ nicht angemessen, denn der Einzelne sollte durchaus das Recht haben, nicht dauerhaft und vorrangig im Interesse Anderer handeln zu müssen. Wie sehr soziobiologische Mechanismen den moralischen Mesokosmos durchdringen, lässt sich auch am Beispiel des 1974 von Robert Trivers thematisierten Helfer-Konflikts zwischen Mutter und Kind zeigen. Je eher die Mutter wieder schwanger wird, desto eher läuft das gerade geborene Kind Gefahr, nach der Geburt des Geschwisterchens die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern zu verlieren und auch andere Ressourcen teilen zu müssen. Das nächtliche Geschrei, das Eltern kleiner Kinder gelegentlich zur Verzweiflung treibt (»Sie ist doch satt, und die Windeln sind auch gerade gewechselt!«), wird aus der Perspektive des Helfer-Konflikts zu einer Strategie, mit der das Kind auf dem Umweg über komplizierte hormonelle Regulationsmechanismen eine zu frühzeitige erneute Schwangerschaft der Mutter verhindern kann. So also sieht es hinter den Kulissen der ›Helfermoral‹ aus. 12

Das ›Handicap-Prinzip‹ wird erläutert z. B. bei Zahavi und Zahavi (1998).

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Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«?

Die Evolution des Gewissens Doch damit nicht genug. Das Gewissen gilt als zentrale Instanz unserer Moralität und scheint jeder nutzenorientierten Erklärung zu widerstehen – nötigt es uns doch oft zu Handlungen ohne Rücksicht auf die Folgen für uns selbst und andere. Da aber die Evolution die Konsequenzen unseres Verhaltens bewertet (und in der Währung der ›Fortpflanzungschancen‹ auszahlt), stellt die evolutionäre Erklärung des Gewissens eine besondere Herausforderung dar. Denn wenn wir etwas als ›gerecht‹ oder ›moralisch geboten‹ erkannt zu haben glauben, setzen wir uns dafür weit mehr ein, als es unter Rücksicht auf die wahrscheinlich negativen Folgen für den Einzelnen angebracht wäre: Das Gewissen ist non-konsequentialistisch. Wie konnte es dann aber evolutionär überhaupt entstehen? Eine Antwort wird interessanterweise gerade dann möglich, wenn wir erneut den ›sozialen Mikrokosmos‹ näher betrachten und die Großfamilie einbeziehen. In kooperativen Fortpflanzungsgemeinschaften (englisch: cooperative breeding) geht es um den durchschnittlichen Lebensreproduktionserfolg der Familie. Wie kann er maximiert werden? Indem die Mitglieder (und zu ihnen gehören gerade auch die älteren Kinder) sich entweder direkt um die jüngeren Kinder kümmern oder die Mütter anderweitig entlasten. Dabei fällt auf, dass Kinder schon frühzeitig ›altruistische‹ Unterstützungshandlungen für Familienmitglieder zeigen, noch bevor sie überhaupt Vorteilsargumenten zugänglich sind. Das lässt auf eine vorgängige psychobiologische Ausstattung des Kindes schließen, die (auch) ein Sensorium für elterliche Gehorsamsanforderungen im Interesse des gemeinsamen (!) Fortpflanzungserfolgs enthält – kurz: ein Proto-Gewissen. »Die jugendlichen Helfer zeigen Altruismus, zugleich aber, weil sie noch abhängig sind, nehmen sie auch den Altruismus anderer in Anspruch. So gesehen sind Familien wie ein Marktplatz [!], auf dem es um die Verteilung der Kosten und des Nutzens von Selbstlosigkeit geht, also eines Guts, von dessen Aufteilung das Trivers’sche Eltern/Kind-Konflikt-Modell handelt und – um es vorwegzunehmen – in dessen Dynamik Gewissen seinen Ursprung nimmt. […] Manche Anthropologen sehen in dem Übergang zu einem kooperativen Fortpflanzungssystem den evolutionär entscheidenden Schritt auf dem Weg zu Homo sapiens. […] Mit Homo sapiens entspringt … eine Primatenspezies dem evolutionären Gärkessel, in der Kinder ihre

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Produktionskosten zurückzahlen. Das ist unter Menschenaffen eine absolute evolutionäre Innovation.« 13

Wir sehen: Die im Aufsatz von Clark und Lee erläuterte ›Helfermoral‹ entpuppt sich als adaptive Lösung des Trivers’schen Helfer-Konflikts; und sogar Familien können als Marktplätze gesehen werden, auf denen im wechselseitigen Interesse Leistungen getauscht werden.

Die Ambivalenz des Gewissens Das Gewissen fungiert aber nicht nur als Instanz, die den Einzelnen zur ›Rückzahlung seiner Produktionskosten‹ an die Gemeinschaft drängt. Moralische Verantwortung kann nämlich auch bedeuten, moralische Innovationen einzuführen und sich damit gegen seine Gruppe zu stellen. Schon bei Hayek findet man in seinem zentralen Werk ›Die Verfassung der Freiheit‹ einen ganz ähnlichen Gedanken: »[Moralische] … Entwicklung ist nur möglich mit Regeln, die weder erzwungen noch willkürlich auferlegt werden – Regeln, deren Befolgung zwar als Verdienst angesehen wird, und die auch von den meisten befolgt werden, aber doch von Einzelnen durchbrochen werden können, wenn sie fühlen, dass sie genügend starke Gründe haben, um der Kritik ihrer Mitmenschen standzuhalten.« 14

Auch das Gewissen ist also, wie vermutlich alles in der Menschenwelt, eine ambivalente Errungenschaft. Es kann uns beispielsweise dazu anhalten, die in uns getätigten Investitionen zurückzuzahlen und damit Ansprüche der Gemeinschaft zu befriedigen; es kann uns auch dazu bringen, moralische Innovationen einzuführen und zu testen. Aber subjektive Gewissensentscheidungen können Gruppen auch spalten oder in den Abgrund reißen. Ein geradezu spektakuläres Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg schildert Sarvapalli Radhakrishnan in seinem Buch ›Religion und Gesellschaft‹ : »Ein junger deutscher Flieger, dessen Flugzeug im Abwehrfeuer heruntergeholt worden war, wurde in eine französische Wohnung gebracht, die man in ein Hospital verwandelt hatte. Er war tödlich verwundet worden. Der Arzt neigte sich über ihn und sagte: »Sie sind Soldat und können dem Tod ohne Furcht ins Auge sehen. Sie haben nur noch eine Stunde zu leben. 13 14

Voland und Voland (2014; S. 114, S. 118 und S. 124 f., H. i. O.). Hayek (1960, 1983; S. 79).

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Gibt es einen »moralischen Mesokosmos«?

Möchten Sie einen Brief an Ihre Familie diktieren?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. Der Arzt sagte darauf, während er auf schwerverletzte Frauen und Kinder hinwies: »Jetzt, da Sie vor Gottes Angesicht treten werden, möchten Sie sicherlich Ihr Bedauern zum Ausdruck bringen, für das, was Sie getan haben – jetzt, da Sie das Ergebnis ihres Tuns vor sich sehen.« Der sterbende Pilot antwortete: »Nein, ich bedaure nur, dass ich die Befehle meines Führers nicht weiterhin ausführen kann. Heil Hitler!« und sank tot zurück.« 15

Und deshalb ist ein Plädoyer für den globalen Markt und für die mit ihm verbundene Erlaubnis, unter gleichzeitiger Anerkennung des unbekannten Anderen im eigenen Interesse zu handeln, keine prokapitalistische, ›neoliberale‹ oder konservative Marotte, sondern ein zentraler Mosaikstein des Friedens.

Literatur Barash, David (1981): Das Flüstern in uns. Ursprung und Entwicklung menschlichen Verhaltens im Lichte der Soziobiologie. Frankfurt am Main: S. Fischer. Bischof, Norbert (2012): Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten. Köln: Böhlau. Boone, James L. (1998): The evolution of magnanimity – When is it better to give than to receive?, in: Human Nature 9, Heft 1, S. 1–21. Clark, Jeff R. / Lee, Dwight R. (2011, 2015): Markt und Moral, in: Der Markt und seine moralischen Grundlagen, hrsg. von Ingo Pies, Freiburg und München, S. 12–77. Dunbar, Robin I. M. (1993): Coevolution of neocortical size, group size and language in humans. In: Behavioral and Brain Sciences 16, Heft 4, S. 681–735. Hayek, Friedrich August von (1960/1983): Die Verfassung der Freiheit. 2. Auflage. Tübingen: Mohr (Siebeck). Hayek, Friedrich August von (1979, 1981): Die drei Quellen der menschlichen Werte. In: Hayek, F. A. v.: Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen. Landsberg am Lech: verlag moderne industrie, S. 207–236. Hayek, Friedrich August von (1988, 1996): Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen. Homann, Karl (2002): Vorteile und Anreize. Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft. Tübingen: Mohr Siebeck. Meyer-Abich, Klaus Michael (1990): Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt. München, Wien: Hanser 1990.

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Radhakrishnan (1954; S. 14 f.).

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Gerhard Engel Morrison, Philip / Morrison, Phylis (1985; 1988): Zehn hoch. Dimensionen zwischen Quarks und Galaxien. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft. 4. Auflage. Radhakrishnan, Sarvapalli (1954): Religion und Gesellschaft. Persönliche Freiheit und soziale Bindung. Darmstadt und Genf: Holle. Singer, Peter (2011): The Expanding Circle. Ethics, Evolution, and Moral Progress. Princeton und Oxford: Princeton University Press. (Neuausgabe.) Trivers, Robert (1974): Parent-Offspring-Conflict. In: American Zoologist 14, S. 249–264. Voland, Eckart / Voland, Renate (2014): Evolution des Gewissens. Strategien zwischen Egoismus und Gehorsam. Stuttgart: Hirzel. Vollmer, Gerhard (1985, 2008): Was können wir wissen? Band 1: Die Natur der Erkenntnis. Beiträge zur Evolutionären Erkenntnistheorie. Mit einem Geleitwort von K. Lorenz. Stuttgart: Hirzel. 4. Auflage. Vollmer, Gerhard (2010): Gibt es einen sozialen Mesokosmos? In: Gerhardt, Volker / Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.): Evolution in Natur und Kultur. Berlin, New York: de Gruyter, S. 241–260. Zahavi, Amotz / Zahavi, Avishag (1998): Signale der Verständigung. Das Handicap-Prinzip. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel.

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Solidarität unter Fremden – Zur moralischen Leistungsfähigkeit des Marktes

Wie auch immer man zur Argumentation von Clark und Lee (2011, 2015) stehen mag – in einem wichtigen Punkt ist ihnen m. E. unbedingt Recht zu geben: Die Helfermoral innerhalb kleiner Gruppen lässt sich nicht ohne weiteres auf große Gesellschaften übertragen. Die unvermittelte Ausdehnung von Nächstenliebe auf Fernstenliebe würde jede realisierbare Idee von Liebe überdehnen. Kein irdisches Wesen wäre dem gewachsen. Nicht einmal Helden und Heilige sähen sich in der Lage, die emotional, kognitiv und materiell benötigten Ressourcen aufzubringen, die eine von lokalen Face-to-Face-Beziehungen ins anonym Universelle entgrenzte Anteilnahme und Fürsorge erfordern würden. Empathie ist und bleibt ein knapper Faktor. Gleichwohl ist es möglich, für das intendierte Wohlwollen, das es innerhalb kleiner Gruppen gibt, im Kontext der großen Gesellschaft ein funktionales Äquivalent zu organisieren, welches auf ein institutionalisiertes Wohlverhalten abstellt. Für das Gemein-Wohl ist es von großer, ja geradezu überragender Bedeutung, dass in verlässlicher Weise ein allgemeines Wohl-Verhalten zustande kommt, ohne dass dafür ein unrealistisches Maß an individuellem Wohl-Wollen vorausgesetzt werden muss. Hierbei spielen Märkte eine wichtige Rolle. Dies soll in gedrängter Kürze anhand eines Beispiels möglichst anschaulich gemacht werden. 1 Konkret geht es darum, wie sich mit Hilfe von Märkten für die große Gesellschaft Solidaritätsleistungen erzeugen lassen, die ein Für eine ausführlichere Argumentation vgl. Pies (2013; S. 65–75). Als weiterführender Literaturhinweis sei verwiesen auf Adam Smith: In seinem Werk über den »Wohlstand der Nationen« trägt das vierte Buch den programmatischen Titel »Systeme der Politischen Ökonomie«. In diesem vierten Buch gibt es am Ende des fünften Kapitels einen »Exkurs über den Getreidehandel und die Getreidegesetze«. Vgl. Smith (1776, 1983; S. 435–454). Dieser »Exkurs« ist nicht nur in ökonomischer, sondern gerade auch in ethischer Hinsicht sehr lehrreich und lesenswert. Vgl. hierzu – mit aktuellen Bezügen – die Interpretation bei Pies und Will (2014).

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funktionales Äquivalent dafür sind, was alternativ nur dann möglich wäre, wenn sich die Helfermoral ohne Überdehnung vom sozialen Nahbereich auf den Fernbereich ausdehnen ließe. Die zentrale Botschaft lässt sich zu einer These zuspitzen, die die von Clark und Lee (2011, 1015) angestellten Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Helfermoral und Marktmoral präzisiert und radikalisiert: Die im Kontext des zwischenmenschlichen Nahbereichs intendierte Solidarität der Helfermoral kann marktmoralisch im Kontext der großen Gesellschaft als institutionalisierte Solidarität zur Entfaltung gebracht werden. Die traditionelle Solidarität unter Verwandten und Bekannten lässt sich durch eine geeignete Indienstnahme von Märkten in eine Solidarität unter Fremden transformieren. Insofern befinden sich Marktmoral und Helfermoral nicht notwendig im Widerspruch zueinander. Richtig verstanden, handelt es sich hier nicht um Substitute, sondern um Komplemente: Die Marktmoral ist eine tendenziell kosmopolitische Fortsetzung der Helfermoral mit anderen Mitteln. (1) Am besten hilft ein Gedankenexperiment, sich zunächst einmal Klarheit darüber zu verschaffen, was gemeinhin unter Solidarität verstanden wird. Szenario I: Betrachten wir zwei benachbarte Dörfer A und B. Beide Dörfer leben von der Landwirtschaft, die auf Subsistenzbasis betrieben wird. Die Dörfer seien im Hinblick auf die Anzahl der Einwohner, die Größe der Bauernhöfe, die Produktivität der Landwirtschaft etc. absolut identisch – mit zwei Ausnahmen: (a) In Dorf A leben Altruisten, denen das Schicksal der Menschen im Nachbardorf genauso wichtig ist wie ihr eigenes Schicksal, während der Bevölkerung des Dorfes B vornehmlich das eigene Wohlergehen am Herzen liegt. (b) In Dorf A werden die Ernteerträge dezentral gelagert, während Dorf B mit einem kollektiven Gemeinschaftslager arbeitet. Nun passiere Folgendes: Nach erfolgter Ernte brennt das Lager in Dorf B mitsamt allen Vorräten ab. Es entsteht eine dramatische Notsituation. Die Dorfbevölkerung weiß nicht, wie sie den Winter überstehen soll. Es fehlt ihr an Lebensmitteln sowie an Saatgut für die nächste Saison. Angesichts dieser Lage entschließen sich die in Dorf A lebenden Altruisten, ihrem Nachbardorf beizuspringen und Notfallhilfe zu leisten. Sie verhalten sich solidarisch: Jeder Einzelne übt Verzicht und gibt exakt die Hälfte der ihm verfügbaren Vorräte ab, um damit seinem in Dorf B lebenden Pendant das Leben zu retten. 112 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Solidarität unter Fremden – Zur moralischen Leistungsfähigkeit des Marktes

(2) Nun werden in diesem Gedankenexperiment zwei Annahmen verändert, so dass wir von Szenario I zu Szenario II wechseln: (a) Es sei im Folgenden davon ausgegangen, dass auch Dorf A von Menschen bevölkert wird, die vornehmlich an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert sind, also das Schicksal ihrer Nachbarn nicht genauso wichtig nehmen wie ihr eigenes Schicksal. Um die Bedeutung dieses Aspekts noch genauer zu verstehen, sei sogar angenommen, dass Dorf A von reinen Egoisten bevölkert wird, denen das Wohlergehen ihrer Nachbarn herzlich egal ist. (b) Anstatt von Subsistenzwirtschaft auszugehen, sei unterstellt, dass in beiden Dörfern die Agrarproduktion marktwirtschaftlich eingebunden ist. Die Bauern leben also nicht ausschließlich davon, die von ihnen hergestellten Produkte selbst zu verzehren. Sondern sie leben davon, den größten Teil der von ihnen hergestellten Produkte zu einem bestimmten Marktpreis zu verkaufen. Ansonsten bleibt in diesem Gedankenexperiment alles beim Alten: Die Dörfer sind identisch bis auf die Art der Lagerhaltung. In Dorf B brennt das Gemeinschaftslager ab. Was wird nun passieren? Abbildung 1 hilft, sich die Funktionsweise – und die Solidaritätswirkung – des Marktes vor Augen zu führen. Betrachtet wird der Agrarmarkt in Dorf A. Die Ernte ist bereits erfolgt. Angenommen sei, dass sich das Nahrungsangebot kurzfristig – bis zur nächsten Ernte – nicht steigern lässt. Graphisch kommt dies darin zum Ausdruck, dass die bei xA einsetzende Angebotskurve exakt senkrecht verläuft. Vor dem Brand traf dieses Angebot nur auf die Nachfrage des Dorfes A. Nach dem Brand kommt zusätzlich die Nachfrage des Dorfes B hinzu. Dort gibt es ja kein Nahrungsangebot mehr, nachdem das Lager verbrannt ist. Da die Dörfer identisch sind, verdoppelt sich die Nachfrage. Graphisch kommt das darin zum Ausdruck, dass sich die für den Markt in Dorf A relevante Nachfrage von NA nach rechts verschiebt zu NA+B. Beide Kurven sind negativ geneigt. Das liegt daran, dass bei höheren Preisen weniger nachgefragt wird. Die Ausgangssituation auf diesem Markt sieht so aus: Vor dem Brand war in Dorf A die Erntemenge xA verfügbar. Angesichts der Nachfrage NA bildete sich der Angebot und Nachfrage zum Ausgleich bringende Preis p1. Der als G1 bezeichnete Punkt mit den Koordinaten xA und p1 markiert also das Ausgangsgleichgewicht. Nach dem Brand verdoppelt sich die Nachfrage zu NA+B. Zum alten Preisniveau p1 wird nun nicht mehr die in Dorf A verfügbare Erntemenge xA nachgefragt, sondern die exakt doppelt so große 113 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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Erntemenge xA+B. Das Ausgangsgleichgewicht wird also gestört. Unmittelbar nach dieser Störung befindet sich der Markt im Ungleichgewichtspunkt U. Angebot und Nachfrage klaffen auseinander. Es besteht ein Nachfrageüberschuss. Dies setzt nun den Preismechanismus in Gang. Er übernimmt die Funktion, Angebot und Nachfrage ausgehend von Punkt U in Übereinstimmung zu bringen: Da im Ungleichgewicht U mehr Erntemenge nachgefragt wird, als in Dorf A verfügbar ist, steigt der Preis. Dies lässt sich als eine Bewegung entlang der Nachfragekurve NA+B in nordwestliche Richtung nachvollziehen. Der Preis steigt so lange, bis das neue Gleichgewicht G2 erreicht ist. Dies ist bei dem Preisniveau p2 der Fall. Hier schneiden sich die Angebotskurve und die Nachfragekurve NA+B.

Abbildung 1: Die Solidaritätsleistung des Marktes 2

Um noch besser zu verstehen, was genau auf diesem Markt passiert, sei auf zwei Preiswirkungen gesondert hingewiesen. Erstens hat in diesem Gedankenexperiment der Preis ausnahmsweise keine unmittelbare Auswirkung auf das Angebot. Das liegt an 2

Quelle: Eigene Darstellung.

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der kurzfristigen Betrachtung sowie an der Annahme, dass bis zur nächsten Ernte die Menge der verfügbaren Agrargüter weder durch Eigenproduktion noch durch Handel mit der Außenwelt (den Dörfern C, D, usw.) vermehrt werden kann. Verfügbar ist und bleibt nur die Menge xA. Deshalb lässt sich der durch den Preis bewerkstelligte Ausgleichungsprozess als eine Bewegung entlang der Angebotskurve interpretieren, symbolisiert durch die senkrecht nach oben weisenden Pfeile von G1 nach G2. Zweitens hilft die Nachfragekurve NA, genau nachzuvollziehen, wie die Bevölkerung in Dorf A davon betroffen wird, dass durch die Brandkatastrophe in Dorf B die dort lebende Bevölkerung als Nutzungskonkurrenz auftritt: Ausgehend von dem Gleichgewicht G1 befindet sie sich nun im Zustand Z. Die Preissteigerung von p1 nach p2 bewirkt also, dass die von den Bewohnern des Dorfes A artikulierte Nachfrage zurückgedrängt wird. Hatten sie im Ausgangsgleichgewicht zum Preis p1 die Menge xA konsumiert, schränken sie im neuen Gleichgewicht zum höheren Preis p2 ihre Konsummenge notgedrungen ein, und zwar auf exakt die Hälfte (1/2 xA). Dies lässt sich nachvollziehen als eine preisinduzierte Wanderung entlang der Nachfragekurve NA, symbolisiert durch die in nordwestliche Richtung weisenden Pfeile von G1 nach Z. (3) So überraschend es zunächst vielleicht anmuten mag: In der zweiten Version dieses Gedankenexperiments reproduziert der Markt genau jene Solidaritätsfunktion, die in der ersten Version vom Altruismus übernommen wurde! Die Bewohner des Dorfes A verzichten exakt auf die Hälfte der ursprünglich für sie verfügbaren Erntemenge und machen es damit möglich, dass die Bewohner des Dorfes B, die durch die Brandkatastrophe ihrer Ernte verlustig gegangen sind, trotzdem versorgt werden, so dass sie die Zeit bis zur nächsten Ernte überleben können. 3 Zur Erläuterung: Im ersten Szenario gibt die Bevölkerung von Dorf A die Hälfte ihrer Erntemenge an die Bevölkerung in Dorf B ab. Dieser Konsumverzicht wurde als Geschenk interpretiert: als eine nicht auf Reziprozität angelegte Solidarhandlung, die durch puren Altruismus motiviert ist, ohne die Erwartung irgendeiner Gegenleistung. Im zweiten Szenario erfolgt eine solche Gegenleistung, und zwar instantan: Dorf A gibt die Hälfte der Erntemenge an Dorf B ab und erhält dafür im Gegenzug einen Geldbetrag (in Höhe des mathematischen Produkts aus p2 und ½ xA). Die beiden Szenarien sind folglich völlig identisch im Hinblick auf die Solidaritätsleistung; sie unterscheiden sich nur im Hinblick auf die Gegenleistung. – Es ist wichtig, sich darü-

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Die Annahmen in diesem Gedankenexperiment wurden gezielt so gewählt, dass Punkt für Punkt nachvollziehbar wird, wie der Markt eine Funktion übernehmen kann, die als Solidaritätsleistung qualifiziert zu werden verdient, obwohl der Altruismus – das bewusst intendierte Helfen-Wollen – als Handlungsgesinnung hier gar keine Rolle spielt. Es ist ja lediglich der marktliche Wettbewerb um knappe Ressourcen, der die Preise steigen lässt und damit als Handlungsbedingung die Anreizwirkung entfaltet, das eigene Verhalten genau so zu verändern, als hätte man sich altruistisch verhalten wollen. Die Solidaritätsleistung des Marktes kommt zustande als nicht-intendierte Folge intentionalen Handelns, und sie ist im Gedankenexperiment exakt identisch mit der Solidaritätsfunktion des Altruismus. In beiden Szenarien wird geschwisterlich geteilt, um die Notsituation zu überbrücken. (4) Modifiziert man das Ensemble der getroffenen Annahmen ein wenig, dann treten auch die Unterschiede zwischen beiden Versionen deutlicher zutage. Hierbei zeigt sich, dass im Vergleich beider Versionen die Marktlösung in mancher Hinsicht sogar Vorteile aufweist. (a) Lockert man die Altruismusannahme und geht realistischerweise davon aus, dass den Bewohnern des Dorfes A das Schicksal ihrer Mitmenschen zwar nicht unwichtig ist, aber doch deutlich weniger wichtig als ihr eigenes Schicksal, dann resultiert daraus, dass im ersten Modellszenario nicht mehr jeder Dorfbewohner bereit sein wird, auf exakt die Hälfte der ihm verfügbaren Erntemenge freiwillig zu verzichten. Dies lässt die Solidaritätsleistung der Helfermoral sinken. Im direkten Vergleich schneidet dann die Marktlösung sogar besser ab. Sie produziert mit Hilfe des Preismechanismus mehr Solidarität als die Lösung, die bei einem realistischen Ausmaß von Altruismus zustande kommt: Die auf Gesinnung setzende Solidaritätslösung hängt davon ab, wie weit der soziale Nahbereich eines stark ausgeprägten Altruismus reicht. Demgegenüber organisiert der Markt eine Solidaritätslösung, die nicht nur im Nahbereich funktio-

ber im Klaren zu sein, dass diese Marktlösung zwingend voraussetzt, dass die Bewohner des Dorfes B über ausreichende Zahlungsmittel verfügen, um ihrem dringenden Bedürfnis nach Nahrungsmitteln wirtschaftlich Ausdruck zu verleihen. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, können Einkommenstransfers erforderlich sein, um die Marktlogik sozialpolitisch in Kraft zu setzen. Vgl. hierzu Homann und Pies (1996).

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niert, sondern – vermittelt durch die Handlungsbedingung des Marktpreises – eine im wörtlichen Sinne globale Fernwirkung erreichen kann. Der (Welt-)Markt ermöglicht eine (weltweite) Solidarität unter Fremden. Das ist ein wichtiger Vorteil für die Konsumenten, gerade in moralischer Hinsicht. (b) Gesellschaftlich vorteilhaft sind aber auch jene Anreizwirkungen der Marktpreise, die die Produzentenseite betreffen: Realistischerweise ist davon auszugehen, dass die Angebotskurve nicht wirklich exakt senkrecht verläuft, sondern selbst bei kurzfristiger Betrachtung eine (geringfügig) positive Steigung aufweist. Hierfür sind mehrere Gründe ins Feld zu führen. Beispielsweise wäre es für Landwirte sehr kostspielig, wenn sie statt ihres Gewinns ihre Erntemengen zu maximieren versuchten. Sie müssten einen extremen Aufwand betreiben, um noch die letzte Kartoffel, und sei sie auch noch so klein, aus dem Acker zu holen oder um die letzte Frucht, und sei sie auch noch so schwer erreichbar, vom Baum zu pflücken. Insofern sind es wirtschaftliche Gründe, die dazu führen, dass niemals das gesamte Potential der technisch möglichen Erntemengen eingefahren wird. Wie hoch die Ernteverluste sind, hängt letztlich vom Preis der Produkte ab. Steigt der Preis, wird es wirtschaftlich lohnend, mehr Aufwand zu betreiben, um Ernteverluste zu begrenzen. Ähnlich verhält es sich mit den Abfall- und Ausschuss-Mengen, die im weiteren Verlauf der Wertschöpfungskette anfallen, angefangen vom Transport über die (Zwischen-)Lagerung bis hin zur Weiterverarbeitung der Agrarrohstoffe zu Lebensmitteln. Auch hier bewirken steigende Preise, dass mit den teurer gewordenen Gütern sorgsamer und sparsamer umgegangen wird, weil es sich lohnt, mehr Aufwand zu betreiben, um Mengenverluste zu vermeiden. – Diese Anreizwirkungen haben zur Folge, dass das Angebot steigt. Dies entlastet die Nachfrager, weil die ihnen zugemutete Verzichtsleistung reduziert wird. Im Klartext: Der in Reaktion auf die Notfallsituation steigende Marktpreis veranlasst nicht nur die Nachfrager, sondern auch die Anbieter zu Solidarhandlungen, die bewirken, dass die real existierende Not gelindert wird. Dies kann man sich mit Hilfe von Abbildung 1 wie folgt vor Augen führen: Verläuft die Angebotskurve ausgehend vom Abszissenabschnitt xA nicht senkrecht, sondern mit positiver Steigung, so schneidet sie die Nachfragekurve NA+B nicht im Gleichgewichtspunkt G2, sondern süd-östlich davon, so dass das Gleichgewicht durch einen niedrigeren Preis als p2 und durch eine höhere Menge als xA gekennzeichnet ist. Aufgrund dieser preisinduzierten Angebotsreaktion wer117 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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den alle Nachfrager entlastet. Für die Nachfrager aus Dorf A bedeutet dies, dass sie mehr als 1/2 xA für den eigenen Konsum verfügbar haben. Für die Nachfrager aus Dorf B gilt das Gleiche. Insofern schultern die Anbieter nun einen Teil der Solidarlast. (5) Dieses Gedankenexperiment lässt sich mit einigen wenigen Modifikationen der getroffenen Annahmen nochmals gezielt so weiterentwickeln, dass eine zusätzliche Dimension ins Blickfeld rückt, in der Märkte Solidaritätsleistungen organisieren können. Stand bisher perspektivisch im Vordergrund, dass die Bürger von Dorf B in Folge des Notfalls als Konsumenten hilfsbedürftig werden, richtet sich nun der Blick auf hilfsbedürftige Produzenten. Szenario III sieht so aus: In Dorf B gibt es nur noch eine Handvoll bäuerlicher Betriebe. Sie sind darauf spezialisiert, die lokale Dorfbevölkerung gegen Entgelt zu versorgen. Zu diesem Zweck unterhalten die Betriebe ein gemeinsames Lagerhaus mit Verkaufsstelle. Als dieses abbrennt, entstehen nun simultan zwei Notsituationen, die man gedanklich auseinanderhalten muss. Auf der einen Seite mangelt es der Dorfbevölkerung an Lebensmitteln, die sie kaufen können; und auf der anderen Seite mangelt es den bäuerlichen Betrieben an Lebensmitteln, die sie verkaufen können. Erschwerend kommt für sie noch hinzu, dass sie die abgebrannte Lagerhalle wieder aufbauen müssen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Helfermoral einen Beitrag dazu leisten könnte, zumindest einen Teil dieser Produzentenprobleme zu lösen. In dieser Hinsicht weisen Clark und Lee völlig zu Recht auf die nachbarschaftliche Tradition des »Gemeinsamen Scheunenbaus« hin, auch wenn sie deren Leistungsfähigkeit – ebenfalls völlig zu Recht – für prinzipiell begrenzt halten (CL-20). Wie aber steht es mit einem Schadensersatz für den entgangenen Umsatz? Konkret: Wie würden sich die Altruisten aus Szenario I verhalten, wenn ihnen aus dem Nachbardorf nicht nur hungerbedrohte Konsumenten, sondern auch konkursbedrohte Unternehmer begegnen? Würden sie die Hilfsbedürftigkeit dieser beiden Gruppen als moralisch gleichrangig wahrnehmen? Hier sind Zweifel mehr als erlaubt. Szenario II zeigt, wie ein offener Agrarmarkt das Versorgungsproblem der Konsumenten lösen kann, bietet aber keine Perspektive zur Lösung des Produzentenproblems. Diese eröffnet sich erst, wenn man Szenario III um die Annahme erweitert, dass die bäuerlichen Betriebe ein professionelles Risikomanagement betrieben haben. 118 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Solidarität unter Fremden – Zur moralischen Leistungsfähigkeit des Marktes

Dann darf man davon ausgehen, dass nicht versäumt wurde, auf dem Versicherungsmarkt einen Vertrag abzuschließen, der sowohl den Gebäudewert als auch den Warenwert ihrer mit Ernte gefüllten Lagerhalle abdeckt. Dies hat zur Konsequenz, dass der Vertragspartner auf dem Versicherungsmarkt – in der Regel ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, ein Versicherungsunternehmen oder ein Verbund von Versicherungsunternehmen inklusive Rückversicherern – für den erlittenen Verlust kompensatorisch eintritt und einen entsprechenden Schadensersatz auszahlt, sobald einwandfrei geklärt ist, dass der Brand nicht absichtlich von den Bauern gelegt wurde, sondern sich als Unglück ereignet hat. (6) Aufgrund dieses Sachverhalts eignet sich Szenario III ganz besonders dazu, einen wichtigen Punkt aufzuklären, der in vielen Diskussion innerhalb und erst recht außerhalb der Wissenschaft tendenziell im Nebulösen verbleibt, so dass sich hieran gravierende Vor- und Fehl-Urteile festmachen können: Altruismus gilt vielen als Leitbild für Solidarität. Aber Solidarität ist auch ohne Altruismus möglich! Definiert man Altruismus als Opferbereitschaft ohne individuelle Reziprozitätserwartung, so ist das zentrale Kennzeichen eines Altruisten seine moralische Neigung, anderen in selbstloser Weise helfen zu wollen, d. h. unter Inkaufnahme eigener Nachteile, ohne Aussicht, dafür anderweitig kompensiert zu werden. Ein solcher Altruismus läuft auf ein intendiertes Solidaritäts-Opfer hinaus. Macht man sich diese Kennzeichnung zu eigen, dann ist fraglich, ob es – jenseits möglicher Gedankenexperimente – einen so definierten Altruismus in der gesellschaftlichen Realität überhaupt gibt. 4 Insofern ist es kein Zufall, dass der Altruismus-Begriff in der Umgangssprache oft etwas anders verwendet wird, nämlich so, dass er eine – und sei es auch noch so vage, z. B. auf Belohnung im Jenseits hoffende – Reziprozitätserwartung nicht ausschließt, sondern einschließt. Beispielsweise kann es individuell sehr vorteilhaft sein, den Ruf zu genießen, über eine moralische Opferbereitschaft zu verfügen. Wichtig ist, hier festzuhalten, dass die Helfermoral nicht auf Altruismus (als Fraglich ist auch, ob ein solcher Altruismus in jedem Fall moralisch wünschenswert ist. Seine normative Ambivalenz zeigt sich beispielsweise dort, wo die individuelle Opferbereitschaft mit einem Freund-Feind-Schema verknüpft wird, so dass die intendierte Hilfsleistung für den Freundeskreis darin besteht, einen (realen oder auch nur imaginierten) Feind zu schädigen. Der damit verbundene moralische Heroismus kann bis hin zu Selbstmordattentaten reichen.

4

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theoretischen Grenzfall selbstloser Opferbereitschaft) angewiesen ist. Man kann es auch so ausdrücken: Altruismus ist stets Helfermoral. Doch umgekehrt ist Helfermoral mit Reziprozitätserwartung kein Altruismus, aber immer noch Helfermoral. Und auch sie ist zu wirkungsvollen Hilfsleistungen im Sinne einer intendierten Solidarität fähig, weil es einem moralisch sozialisierten Individuum möglich ist, anderen helfen zu wollen, z. B. aus einer emotionalen und kognitiven Melange aus Mitleid und Anteilnahme, aus Pflichtgefühl, aus dem Wunsch, die Erwartungen anderer – aber auch: die Erwartungen an sich selbst als moralisches Subjekt – nicht zu enttäuschen, usw. Insofern sich dieses Helfen-Wollen mit einer Reziprozitätserwartung verknüpft, die Leistungen an Gegenleistungen bindet, läuft die nichtaltruistische Helfermoral auf eine intendierte Solidaritäts-Investition hinaus. Auf dem Versicherungsmarkt liegen die Dinge anders. Hier spielen Mitleid und Hilfsbereitschaft, Empathie usw. systematisch keine Rolle. Ein Versicherungsunternehmen bietet Versicherungspolicen an, weil es sich davon Gewinn verspricht. Sein Geschäftsmodell besteht darin, Risiken über den Kapitalmarkt so zu diversifizieren, dass die Kosten der Risikoübernahme geringer sind als die Zahlbereitschaft der Kunden, die ihre Risiken gerne loswerden möchten, so dass ein wechselseitig vorteilhaftes Geschäft abgeschlossen werden kann. 5 Hier hat man es folglich mit einer Reziprozitätserwartung ohne Helfermoral zu tun. Das Ergebnis ist eine Form von Hilfsleistung, die man mit Fug und Recht als institutionalisierte Solidarität bezeichnen kann. Wir können folglich drei verschiedene Formen von Solidarität unterscheiden, die man zwar sorgfältig auseinanderhalten, aber nicht gegeneinander ausspielen sollte (Abbildung 2):

Zur Erläuterung: Ex post betrachtet, nach Bezahlung der Versicherungsprämie, ist ein Versicherungsgeschäft eine Wette, bei der die eine Partei gewinnt und die andere verliert. Tritt das versicherte Schadensrisiko ein, verliert der Versicherungsgeber den zu zahlenden Schadensersatz. Tritt der Schaden nicht ein, verliert der Versicherungsnehmer die von ihm gezahlte Versicherungsprämie. In der Ex-post-Perspektive erscheint ein Versicherungsgeschäft mithin als ein Nullsummenspiel, bei dem der eine Vertragspartner gewinnt, was der andere verliert. Aber ex ante betrachtet – bevor die Vertragsparteien wissen, ob das Risiko eines Schadenfalls auch tatsächlich eintritt – ist diese Wette für beide Seiten vorteilhaft, also ein Positivsummenspiel, von dem beide profitieren. Nur deshalb – in der subjektiven Erwartung, sich individuell besserzustellen – schließen sie den Vertrag auf freiwilliger Grundlage ab.

5

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Solidarität unter Fremden – Zur moralischen Leistungsfähigkeit des Marktes

• • •

Altruismus ohne Reziprozitätserwartung (R-): intendiertes Solidaritäts-Opfer Helfermoral mit Reziprozitätserwartung (R+): intendierte Solidaritäts-Investition Reziprozitätserwartung (R+) ohne helfermoralische Motivation: institutionalisierte Solidarität

Abbildung 2: Zur Systematisierung des Solidaritätsbegriffs 6

Während der Altruismus in einer Notsituation zu einem echten Opfer bereit ist, setzen die Formen der nicht rein selbstlosen helfermoralischen Solidarität sowie der institutionalisierten Solidarität auf eine Investition, die mit der Erwartung einer Gegenleistung verbunden ist. Allerdings ist es so, dass nur die Marktmoral, nicht jedoch die Helfermoral in der Lage ist, jene Grenze zu überschreiten, die den sozialen Fernbereich vom sozialen Nahbereich trennt. 6

Quelle: Eigene Darstellung.

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Ingo Pies

Die eigentliche Herausforderung besteht folglich darin, diese drei Solidaritätsformen angemessen zueinander in Beziehung zu setzen, um ihre jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen besser einschätzen zu können und sodann gesellschaftliche Lernprozesse in Gang zu setzen und in Gang zu halten, die darauf hinauslaufen, im weltgesellschaftlichen Maßstab mehr Solidarität zu verwirklichen. Solche Lernprozesse können von der Einsicht profitieren, dass ein wichtiges moralisches Verdienst von Märkten darin besteht, dort, wo das individuelle Motiv des Helfen-Wollens an Reichweite verliert, mit Hilfe institutionalisierter Anreize eine Solidarität unter Fremden zu ermöglichen.

Literatur Clark, Jeff R. und Dwight R. Lee (2011, 2105): Markt und Moral, in: Der Markt und seine moralischen Grundlagen, hrsg. von Ingo Pies, Freiburg und München, S. 12–77. Homann, Karl und Ingo Pies (1996): Sozialpolitik für den Markt: Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik, in: Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.): James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen, S. 203–239. Pies, Ingo (2013): Chancengerechtigkeit durch Ernährungssicherung – Zur Solidaritätsfunktion der Marktwirtschaft bei der Bekämpfung des weltweiten Hungers, Wirtschaftsethik-Studie 2013–1, Halle. Pies, Ingo und Matthias Georg Will (2014): Finanzspekulation mit Agrarrohstoffen: Wie (Wirtschafts-)Ethik und (Agrar-)Ökonomik gemeinsam einem Diskurs- und Politik-Versagen entgegentreten können, in: Jens-Peter Loy (Hrsg.): Marktwirtschaftliche Koordination: Möglichkeiten und Grenzen. Symposium anlässlich des 75. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ulrich Koester, Halle, S. 45–65. Smith, Adam (1776, 1983): Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes von Horst Claus Recktenwald, 3. Aufl., München.

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Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen und ihren Wechselbeziehungen

1.

Ausgangspunkt

Clark und Lee (CL) vertreten drei Thesen, zu denen ich hier Stellung nehmen möchte: (1) Die ökonomischen Handlungen von Personen sollten von den ökonomischen Resultaten her beurteilt werden. Kriterien hierbei wären demnach vor allem Wohlstand, Bedürfnisbefriedigung, Wachstum, Effizienz. (2) Eine individuelle »Marktmoral« (mundane morality), eine interessenbasierte Moral der Handlungen, sei leistungsfähiger für die Große (heutige) Gesellschaft als eine individuelle »Helfermoral« (magnanimous morality, CL-5, CL-7 ff.). Die selbstlose oder großherzige Moral oder Nächstenliebe sei nur für kleinere Gesellschaften wie etwa die Familie ein geeigneter Maßstab. (3) Es sei ein schwerer Fehler der heutigen ökonomischen Ethik, die selbstlose Helfermoral von der kleinen Gesellschaft auf die Große Gesellschaft zu übertragen (die Autoren folgen hier von Hayek (1988, Kap. 1) hinsichtlich ihrer Analyse und Beurteilung).

2.

Diskussion

Überzeugend ist der Vorschlag, dass man grundsätzlich die interessenbasierte Marktmoral zugrunde legen und die Moral der Fürsorge und Nächstenliebe zunächst nur engeren persönlichen Beziehungen zuweisen sollte. Doch bei näherer Betrachtung der interessenbasierten Marktmoral ergeben sich zwei Sorten von offenen Fragen: 123 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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Zum einen: Was sind die Prinzipien bzw. Beurteilungskriterien der Konsequenzen und Resultate der interessenbasierten Marktmoral? Wie steht es – neben den positiven Ergebnissen wie Wohlstand, Effizienz und sozialer Frieden – um Risiken, Verluste, Machtbeziehungen, Krisen, Notlagen und den Status der Schwächeren in der Gesellschaft? Zum anderen: Wie kommt die individuelle Motivation zur Befolgung interessenbasierter Normen zustande? Ist die Interessenorientierung nur Differenz und potentieller Konflikt mit »Selbstlosigkeit« oder auch Ergänzung der Motivation? Muss man sich einen externen Zwang der Personen vorstellen, oder gibt es auch so etwas wie eine innere Motivation durch Selbstbindung? Was sind die Grundlagen für das eine und das andere?

Im ersten Schritt betrachten wir zunächst die Unterscheidung der beiden Moraldefinitionen, die die Autoren verwenden, und erweitern die Analyse dann zu einer Typologie der Moral:

3.

Die Bandbreite der individuellen Moral

Wir sehen bei Clark und Lee zwei Sorten von Moral, die keine Alternative darstellen, sondern vielmehr die äußeren Enden einer Bandbreite: An dem einen Ende, der interessenbasierten Marktmoral, stehen die Grundprinzipien des Rechts individueller Freiheit – Autonomie der Entscheidung und Freiwilligkeit der Kooperation. Personen haben das Recht, um etwa mit Rawls (1971, 1979) zu sprechen, die gleichen Primärgüter zu suchen, festzuhalten, zu sichern: Eigentum, Wohlstand, Status. Sie haben das Recht, in diesem Rahmen dann ihre eigenen Ziele zu verfolgen. •



Ganz wichtig ist die Konsequenz für die Gegenrichtung: Wenn alle Personen dieses Recht haben, bedeutet es zugleich, dass eine Verbotsordnung für alle gilt. Man darf nicht stehlen, morden, foltern, betrügen, erpressen (CL-12). Die Freiheit impliziert Zwang. Die »Interessen«, von denen man hier als moralbasiert spricht, sind also nicht jegliche Wünsche der Menschen, sondern nur ihre legitimen Wünsche. Das nennen wir mit Kant (1793, 1968) das

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Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen

Recht der Freiheit. Oder mit Hayek (1960, 1971; Kap. I) den »negativen« Freiheitsbegriff. Am anderen Ende finden wir die selbstlose Helfermoral. Sie bezeichnet die stärksten positiven Pflichten: Man soll allen Menschen vollständig das Gute geben. •



Diese Moral – »magnanimous morality« im Originaltext – sollte man nicht zu wörtlich als selbstlos interpretieren. Es geht bei der Großherzigkeit eher um »Nächstenliebe«. Folgt man etwa der Bibel, besagt sie, dass man die (nächsten) Menschen so lieben soll wie sich selbst. Sein Leben zu geben, um eine andere Person reicher oder gesünder zu machen, wäre zu viel. Ein Opfer zu bringen, gehört jedoch dazu, z. B. etwas zu geben, damit andere mehr haben. Diese Moral der scharfen »positiven« Pflichten kennen wir typischerweise in der engsten Sphäre menschlicher Beziehungen (Walzer 1983, 1992).

Zwischen diesen beiden Enden der Bandbreite sind viele Schattierungen von Ethik möglich. Hier gibt es vielfältige Regeln, die sehr oft negative Restriktionen sind, die aber in bestimmten Fällen auch positive Pflichten enthalten. Sie regulieren den Umgang mit Asymmetrien bei Macht und Einfluss, mit Transaktions- und Informationskosten, Risikobewältigung, Unglück und Katastrophen, Steuerprinzipien, Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Zuständigkeiten, Wettbewerbssicherung und vieles mehr. •





Maßstäbe bzw. Bewertungskriterien der Handlungen können sein: Fairness, Solidarität, Hilfe usw. (vielleicht kann es auch um Effizienz gehen). Es lassen sich auch etliche Pflichten finden, die aus der engeren Nächstenliebe kommen und je nach Nähe mehr oder weniger weitergehen. In diesem Zwischenbereich ist Ordnungspolitik angesiedelt. Sie regelt das Zusammenleben – zwischen grundlegendem individuellen Recht und reiner Nächstenliebe. In den verschiedenen Gesellschaften kann sie sehr unterschiedlich ausgestaltet wurden.

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Wie können wir mit dieser Bandbreite umgehen?

4.

Positionen, Typologie

Eine mögliche Position konzentriert sich auf den ersten Fall: Man akzeptiert nur die negative Freiheit, die durch das generelle Recht gesichert ist. Positive Pflichten dürfen allenfalls als spezielles Recht gelten, für die engste Sphäre und ohne Übertragung auf die Große Gesellschaft. Man kann das als laissez faire bezeichnen, früher nannte man es auch Manchester-Kapitalismus. Heutzutage nennt man es oft die neoliberale Position (eine missverständliche Bezeichnung; ich komme gleich noch darauf zurück). Die Gegenposition konzentriert sich auf den anderen Pol: Man akzeptiert Nächstenliebe als Grundlage für generelle positive Pflichten, die keine Abstufung von Sphären braucht und die Verwerfung negativer Freiheit propagiert. Dann haben wir es mit Kommunismus zu tun, vielleicht auch mit frühchristlicher Ethik. Karl Marx kann man da zitieren über Gleichheit und Ungleichheit: »Die [bürgerliche, R. Z.] Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet. … [D]as Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums. … Jene individuelle Freiheit … [bildet] die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden. … Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er … vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.« 1 »Das gleiche Recht ist hier [in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, R. Z.] daher immer noch das bürgerliche Recht … Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. … Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht … Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein. … In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft … – erst

1

Marx (1843, 1956; S. 363 f.).

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Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen

dann kann … die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« 2

Eine dritte Position verarbeitet die gesamte Bandbreite: Die negative Freiheit unter dem Recht gilt als Grundlage; man respektiert und begrüßt neben ihr die speziellen positiven Pflichten der kleineren Gruppen; man akzeptiert und sucht zusätzlich ordnungspolitische Präzisierungen aus dem Recht und diverse anpassende Übertragungen aus den positiven Pflichten (vgl. vor allem etwa Rawls 1971,1979). •

Innerhalb dieser dritten Position gibt es vielfältige Varianten, etwa den Sozial-Liberalismus oder den Freiburger Ordoliberalismus (der nannte sich früher »Neo-Liberalismus« und bezeichnete den Laissez-Faire-Kapitalismus als »Paläo-Liberalismus« – heute sollte man wohl auf die missverständliche Terminologie ganz verzichten; vgl. insbesondere Rüstow 1949 und allgemeiner Eucken 1952).

Eine grundsätzliche Bemerkung zu den Positionen: Man sollte Ordoliberalismus und derartige Verfassungen nicht als einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus bezeichnen. Das wäre missverständlich, denn es handelt sich nicht um drei Alternativen auf derselben Ebene. Es gilt zunächst, zwischen den Alternativen Liberalismus und Kommunismus zu unterscheiden – und erst danach die Alternative zwischen zwei Varianten des Liberalismus zu wählen (siehe Abbildung). Die libertäre Extremposition glaubt, individuelle Autonomie in der Gesellschaft am besten ohne Staat oder allenfalls mit einem minimalistischen Staat herstellen zu können, während der Ordoliberalismus die überragende Bedeutung einer kollektiv verbindlichen Rahmenordnung für individuelle Autonomie und damit die institutionelle Verfasstheit von Politik und Wirtschaft hervorhebt. Individuum und Gesellschaft Liberalismus Kommunismus »Libertarianism«

2

»Ordoliberalismus«

Marx (1875, 1974; S. 21).

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5.

Welche Verfassung, warum?

Man kann über die individuellen Handlungsregeln (unabhängig davon, was ihre Folgen sind) ethisch urteilen und entsprechend dann die erste, zweite oder dritte Version der Verfassung gut finden. Man kann aber auch fragen, welche Konsequenzen eine Verfassung hat (wie auch immer die Regeln lauten) und sie danach ethisch beurteilen. Clark und Lee haben die zweite Betrachtungsweise gewählt: Sie haben gezeigt, dass es keine überzeugenden Gründe dafür gibt, reine Nächstenliebe als grundlegendes Normensystem für die Große Gesellschaft durchzusetzen, so menschlich sie auch sein mag. Das Normensystem der Nächstenliebe (»Helfermoral«) hat im wirtschaftlichen Ergebnis klare Nachteile im Vergleich zum interessenbasierten Normensystem der Großen Gesellschaft (»Marktmoral«). Das ist einleuchtend. Und eigentlich kann man auch sagen, dass das unstrittig ist. Clark und Lee gehen aber weiter: Sie behaupten, es habe Nachteile für eine Große Gesellschaft, Nächstenliebe auch nur als partiellen kritischen Einwand gegen die interessenbasierten Normen vorzutragen. Dies bewirke Instabilität, Konflikte, Ineffizienz. Und daher sei es falsch, an dem interessenbasierten Normensystem wie auch immer herumzudoktern. Sie lehnen strikt alles ab, was man einen »capitalism with a human face« nennt. Der »capitalism without adjective« sei die bestmögliche Verfassung (CL-25). Werde diese Verfassung verwässert, ruiniere man Prosperität. »Daraus resultiert die weitverbreitete Ansicht, dass wir mehr Regierungshandeln brauchen, um wirtschaftliche Probleme zu lösen, die hauptsächlich durch die überbordende Staatstätigkeit verursacht worden sind« (CL-25, mit Hinweis auf Meltzer 2010). Man kann den Unterschied der beiden Argumentationen, die Clark und Lee präsentieren, so bezeichnen: Im ersten Fall sagen sie nur, dass die interessenbasierten Normen für eine gut funktionierende Große Gesellschaft notwendig sind. In der Fortführung behaupten sie aber, dass das interessenbasierte Normensystem nicht nur notwendig, sondern zugleich hinreichend sei, und zwar nur dieses Normensystem. Strittig ist nicht die Behauptung der notwendigen Bedingung. Strittig könnte aber die Behauptung der hinreichenden Bedingung sein. Bei näherer Betrachtung geht es um zwei Gruppen von Fragen: Die erste Gruppe fragt nach den normativen Maßstäben und Krite128 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen

rien, mit deren Hilfe man mögliche Konsequenzen für die Gesellschaft beurteilen kann (Abschnitt 6.). Die zweite Gruppe fragt danach, wie man sich die Motivationsgrundlage für die Befolgung des einen oder anderen Regelsystems vorstellen kann (Abschnitt 7.). Es handelt sich in beiden Fällen zunächst um faktische und nicht schon um ethische Fragen.

6.

Über die Prinzipien und die Wirkungen in der Gesellschaft

Clark und Lee haben die guten wirtschaftlichen Resultate der interessenbasierten Normen ausführlich erläutert und erklärt. Das muss nicht in Frage gestellt werden. Es gibt aber auch etliche unerfreuliche gesellschaftliche Situationen, die nicht durch Zufälle oder durch externe Einwirkungen zustande kommen. Zu nennen sind wirtschaftliche Krisen, Entgleisungen des Finanzsektors, Umweltkatastrophen, gesellschaftliche Spaltungen, extreme gesellschaftliche Ungleichheit. Das sind Handlungsfolgen, die nicht notwendig vom Staat kommen oder durch abwegige Nächstenliebe entstehen. Vielmehr können sie sehr wohl auch mit dem interessenbasierten Verhalten zusammenhängen. Die Autoren sehen sie offenbar als Preisgeld an, das für die generell guten Erfolge zu zahlen ist. Ist das überzeugend? Es könnte ja auch sein, dass die Verfasser ihr Normensystem nicht gründlich genug analysiert haben. Häufig sind nicht die grundlegenden Prinzipien der Pflichten (nicht lügen, nicht stehlen etc.) das Problem, vielmehr fehlen Präzisierungen im Detail oder Einschränkungen von Exzessen an den Rändern der Pflichten. Ein Beispiel ist etwa die extreme Informations-Asymmetrie von Bankern gegenüber Kunden. Dort geht es nicht um die Vertragsfreiheit als solche, sondern nur um bestimmte Grenzen. Spaltung, Unsicherheit, faktische Macht und Ohnmacht, soziale Ungleichheit, Wahrnehmung von Rechtsungleichheit – all das erzeugt Kosten in einer Gesellschaft. Ordoliberal verfasste Gesellschaften sind vielleicht kurzfristig weniger produktiv, effizient und dynamisch als libertäre Gesellschaften. Aber sie können den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den Frieden und das Vertrauen in das Recht und die Chancengleichheit auf Dauer aufrechterhalten. Also sind sie vielleicht stabiler als libertäre Ordnungen und haben außerdem auch positive Wohlstandsbilanzen. 129 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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Damit kommen wir zum Kern der Diskussion mit Clark und Lee: Ist es denn zutreffend, dass eine Marktgesellschaft gefährdet ist, wenn man sie durch Regeln am Rand nachjustiert? Sind nur der reine Markt oder der reine Kommunismus auf Dauer möglich? Könnte es nicht umgekehrt sein, dass gerade die permanente Nachjustierung von Gesetzen den Markt auf Dauer so überlegen gemacht hat gegenüber dem Kommunismus? Und wenn das so ist, wie steht es dann mit der individuellen Moral?

7.

Über die Motivationen der Individuen

Hier betrachten wir zwei Gegenstände. Zum einen geht es um den Inhalt der moralischen Überzeugungen von Personen. Zum anderen geht es darum, wie wir uns die Motivation der Befolgung und Durchsetzung dieser moralischen Überzeugungen vorstellen.

(a)

Zum Inhalt der Urteile:

Man kann gut sehen, dass die Menschen die Interessenverfolgung in der Wirtschaft nicht so oft wegen des Mangels an Selbstlosigkeit oder Nächstenliebe kritisieren. Die Kritik zielt fast immer auf die Überschreitung dessen, was an sich als akzeptable Interessen angesehen wird. Es geht um ihre Exzesse, die Gier nach mehr und mehr, die Zocker-Mentalität. Man kann, anstatt die Kritik zu betrachten, auch die Frage nach der Grundlage des Vertrauens stellen. Woher kommt das Vertrauen, das in der Großen Gesellschaft nach wie vor gebraucht wird – obwohl die nahe und leicht durchschaubare Kooperation immer mehr durch komplexe globale Kooperation abgelöst wird? •

Hier können die Überlegungen hilfreich sein, die Baurmann (1996) über den »Markt der Tugend« angestellt hat: Die Akteure sind selbstverständlich nicht selbstlos, sondern sie folgen ihrem Interesse. Aber sie verstehen, dass sie gerade in entfernen und komplexen Situationen ihre Interessen am besten in einer Umgebung verfolgen können, in der sie fremde Akteure als nicht-exzessive Egoisten erwarten dürfen – und das auch erkennen kön-

130 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen



nen. Und in der Gegenrichtung: Sie möchten von anderen Akteuren nicht als exzessive Egoisten (fehl-)eingeschätzt werden. Der Maßstab ist dabei nicht Nächstenliebe, sondern vielmehr die Vorstellung von Fairness innerhalb der Interessenverfolgung. Hier können institutionelle Restriktionen (als »Ordnungsrahmen«) helfen.

Ganz offensichtlich passen die moralischen Intuitionen der Individuen recht gut zu den zuvor angestellten praktischen Überlegungen zu einer ordoliberalen Theorie. Die Vorstellung von Clark und Lee, dass jegliche Suche nach Normen letztlich pure Nächstenliebe ist und eine Unterminierung der notwendigen Interessenverfolgung darstellt, ist daher nicht einleuchtend. Diese Art von Sorge erinnert an die Vorstellung vieler Libertären vor etlichen Jahren: Man war der Meinung, dass ein Markt vom Gerechtigkeitsbedarf bedroht werde, der ja nur aus Neid komme und daher die Interessenverfolgung unterminiere (Schoeck 1966). In beiden Versionen der Kritik geht es darum, die Einflussnahme auf die reinen »Interessen« so zu dramatisieren, dass die Leute glauben, es sei am besten, ganz auf jegliche Einflussnahme zu verzichten.

(b)

Wie steht es mit der Motivation der Befolgung solcher Regeln?

Wir können gut verstehen, wie die passende Moral in der kleinen Gesellschaft befolgt wird. Man sieht einander dort aus der Nähe, und man straft Regelverletzung zumindest durch den Ausstieg aus einer Kooperation. Das wird auch von Clark und Lee so gesehen: »Die Existenz und weitgehende Befolgung gesellschaftlicher Normen eröffnet die Option, ohne ausufernde formale Vorschriften, Verbote und Anordnungen auszukommen, auf denen man andernfalls bestehen müsste, auch wenn dadurch unsere Handlungsfreiheiten stark eigeschränkt werden« (CL-51). Zwar ist die externe Kontrolle (des Staates) sowohl der negativen Pflichten (Schutz von Mord, Diebstahl etc.) als auch der positiven Pflichten (Solidarität, Hilfe) der Personen auch hier weiterhin unverzichtbar. Aber der Staat ist dabei nicht allein tragend, sondern nur intervenierend im Notfall. Wie steht es in der Großen Gesellschaft? Wie steht es mit einer interessenbasierten Moral? 131 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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Man kann diese Moral nicht so leicht auf gesellschaftliche Normen stützend sehen, da diese Normen ja nicht nur auf engere Beziehungen beruhen können. Man braucht nun sicherlich etwas mehr »Staat«. Es wäre aber auch hier zu einfach, sich allein auf die Durchsetzung externer Restriktionen durch eine Instanz zu verlassen. Man hätte ja zwei offene Fragen: Wie kann man sicher sein, dass eine externe Zwangsinstitution nur die Regeln korrekt durchsetzt und nicht stattdessen ihre eigenen Interessen verfolgt? Und wenn eine Person gerne reich wäre und gerade beim Stehlen nicht beobachtet wird – warum sollte die Person dann nicht stehlen? Es braucht also hier nicht nur externe Restriktion, sondern auch Internalisierung. Es bedarf einer Selbstbindung an die Regeln und auch einer Bereitschaft zur Missbilligung von Regelbrüchen durch andere. Bei Clark und Lee besteht nun aber in diesem Zusammenhang ein anderes Problem: Externe Kontrolle (des Staates) hinsichtlich der negativen Pflichten ist auch hier unverzichtbar, unterstützend, intervenierend im Notfall. Wenn der Staat im Markt – in der Großen Gesellschaft – nicht nur die negativen Pflichten, sondern auch die positiven Pflichten durchsetzen soll, werde der Markt ruiniert (CL-51). Grundsätzlich ist das nachvollziehbar. Aber es ist nicht so klar, wie die Unterscheidungen zwischen positiven und negativen Pflichten sind und ob die Grenze zwischen ihnen sauber gezogen wird. Eher ist es so, dass bei den Akteuren nicht einfach eine interessenbasierte »Marktmoral« gegen eine »Helfermoral« der Nächstenliebe steht, sondern dass die interessenbasierte »Marktmoral« etliche Injektionen aus der »Helfermoral« der Nächstenliebe benötigt. Solange die interessenbasierten Regeln von allen oder fast allen Personen noch als gesellschaftliche Normen befolgt werden, mit einem Konsens über »Anstand« – dann wird es einen zurückhaltenden Staat geben. Wenn aber das Verhalten bei etlichen besonders Cleveren exzessiv und sichtbar ist, dann fühlen sich die Anständigen eher als Verlierer. Sie brauchen dann »mehr Staat«. Hier werden Regeln benötigt, die auch positive Pflichten enthalten. Die Regeln sind aber nicht dafür da, um die die Braven ihrer Freiheit beschneiden, sondern sie sind Schranken, die die Braven vor den Rücksichtslosen beschützen. Man darf sich an Montesquieu (1748) erinnern: Es geht um den Esprit des Loix: Wo Menschen die Worte des Gesetzes so ausnutzen,

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Ordnungspolitik: Zur Typologie der Moralvorstellungen

dass sie den Geist des Gesetzes missbrauchen – da sollten die Gesetze repariert werden. Es gibt also gute Gründe dafür, dass die Große Gesellschaft die interessenbasierten Normen mit weiterer, tieferer Ethik unterfüttert. Sicher nicht einfach durch Nächstenliebe, sondern durch abgestufte positive Pflichten. Dabei geht es nicht um eine vermeintliche Entweder-Oder-Alternative zwischen Interessen und Fairness bzw. Solidarität, sondern um ihre wechselseitige Unterstützung. Die Interessenverfolgung wird eingebettet in eine weitere Motivation, die aber die Interessen als solche nicht in Frage stellt.

8.

Fazit

Die ordnungspolitische Betrachtung der Zusammenwirkung von interessenbasierter Marktmoral einerseits und Helfermoral der Nächstenliebe andererseits ist theoretisch leistungsfähiger als die simple Gegenüberstellung der zwei Typen von Clark und Lee. Und man kann noch weiter gehen: Wenn man die interessenbasierte Ethik wirklich unterstützen will, dann sollte man sie nicht so anämisch machen wie Clark und Lee. Puristen machen die Ethik nicht stärker, sondern setzen sie der Korrosion und Erosion aus. Man kann dies in Anlehnung an Schumpeter (1942, 1993; Kap. 12, 13 und 14) kritisch formulieren, allerdings etwas optimistischer als er: Der Markt braucht ethische Nahrungsmittelzusätze, und er bekommt sie endogen – wenn nicht seine eigenen Ideologen sie ausmerzen.

Literatur: Baurmann, Michael (1996): Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft. Eine soziologische Untersuchung, Tübingen. Eucken, Walter (1952): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen. Hayek, Friedrich A. v. (1960, 1971): Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Hayek, Friedrich A. v. (1988): Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen. Kant, Immanuel (1793, 1968): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Werkausgabe Band XI; Frankfurt, S. 125–172. Marx, Karl (1843, 1956): Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, Berlin, S. 347–377.

133 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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134 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Michaela Haase

»Beliefs in action« – Eine in Bezug auf den Umgang mit Ideologie kritische Analyse des Aufsatzes von Clark und Lee Einführung Der Aufsatz von Clark und Lee ist ein Text, an dem sich über die Bedeutung von Ideen in der Ökonomik und den Umgang damit einiges lernen lässt. Um dies besser zu verstehen, sind drei Annahmen wichtig, die im Folgenden vorausgesetzt werden. Erstens, die Wirtschaftswissenschaft ist wie jede Wissenschaft ideologisch. Hierbei wird ein Ideologiebegriff zugrunde gelegt, der aus der Tradition der Frankfurter Schule bzw. von Habermas stammt (Geuss 1981). Auf dieser Basis wird gegen Clark und Lee der kritische Einwand erhoben, dass sich ihr Aufsatz auf eine (Ideologie-)unkritische und kaum selbstreflexive Weise mit ökonomisch relevanten Themen befasst. Zweitens, Ideologie und Wissensentstehung sind eng verbunden. Auch wissenschaftliche Gemeinschaften verfügen über Ideologien oder greifen auf diese zurück oder werden von ihnen beeinflusst. Ideologien sind »frameworks of ideas«, systematisch verbundene Ideen, die auch in Theorien Eingang finden oder gefunden haben (das, was Clark und Lee die »invisible hand characterization« nennen, ist ein Beispiel dafür). Eine klare Trennung der Art: Wissen ist gut (und daher anzustreben) und Ideologie ist schlecht (und daher zu vermeiden) ist folglich nicht möglich. Aus heutiger Perspektive lässt sich feststellen: Ohne Ideologien bzw. die Ideen, die ihnen zugrunde liegen, kann kein Wissen entstehen. Ideen wirken bei der Beschreibung der natürlichen und der sozialen Realität, und sie prägen auch die Vorstellungen der Beeinflussbarkeit oder Veränderbarkeit dieser jeweiligen Realitäten. Drittens, der Aufsatz von Clark und Lee beruft sich auf Ideen maßgeblicher Ökonomen, insbesondere von Adam Smith und Friedrich A. von Hayek. Ein Thema ist die Erzielung des »common good« oder der gesellschaftlichen Wohlfahrt als unintendierte Handlungs135 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Michaela Haase

folge; ein anderes die Informationsverarbeitung in ungesteuerten Märkten. Dieser Beitrag befasst sich nur mit dem erstgenannten Thema, das Clark und Lee unter der Überschrift »invisible hand conception« diskutieren. Die Ideen von Smith und Hayek bilden den Rahmen, das »framing«, innerhalb dessen das Thema Markt und Moral von Clark und Lee diskutiert wird. Dieser Rahmen selbst bleibt sehr allgemein und vage. Clark und Lee legen nicht dar, welcher Sichtweise innerhalb der Ökonomik sie folgen. Die Allgemeinheit und Vagheit hat auch Vorteile. Es geht ja in dieser Buchreihe, an deren Anfang der Aufsatz von Clark und Lee steht, in der Tat nicht darum, z. B. bestimmte theoretische »Details« der Adam-Smith-Rezeption zu diskutieren. Wenn diese »Details« allerdings Auswirkungen auf das Verständnis der Argumentation in Bezug auf Markt und Moral haben (dies ist z. B. in Bezug auf die Interpretation des Eigeninteresses der Fall), dann muss man sich aber dennoch damit befassen. Zudem wäre es wichtig gewesen, dass Clark und Lee die Herkunft der in ihrem Aufsatz verwendeten Moralkonzeption erläutern und ihre Konsistenz mit ökonomischen Ansätzen prüfen. Das tun sie nicht. Entsprechend kritisch wird ihr Aufsatz im Folgenden diskutiert.

1.

Wissen und Ideologie

In diesem Abschnitt wird zuerst das Verhältnis von Wissen und Ideologie thematisiert. Dabei werden der ältere britische Empirismus, ein Philosoph der Aufklärung und die Frankfurter Schule (speziell Habermas) angesprochen. Danach folgt ein kurzer Abstecher in die Wissenschaftstheorie des letzten Jahrhunderts. Imre Lakatos’ Methodologie der Forschungsprogramme kann als Versuch gesehen werden, den »ideologischen Kern« einer Theorie und ihre empirisch-konzeptionelle Entwicklung in Einklang zu bringen. Abschließend werden drei Forschungskontexte angesprochen, die aus der Perspektive der Frankfurter Schule in Verbindung mit dem Ideologiebegriff stehen.

1.1

Idole und Ideologie: Bacon

Bei Francis Bacon (1561–1626) findet sich die Idee, dass die Erlangung von Wissen möglich ist. Der Prozess, der dahin führen kann, wird aber durch die menschliche »hardware« und soziale und sprachliche 136 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

»Beliefs in action«

Einflussfaktoren gestört. Auf dieser Basis entwickelt Bacon (1620, 1902) im Novum Organum seine Theorie der Idole: Idola Tribus begrenzt die Möglichkeit des Wissenserwerbs aufgrund der Beschaffenheit der menschlichen Natur. Der menschliche Geist kann die Wirklichkeit nicht eins zu eins erfassen; er funktioniert vielmehr wie ein gekrümmter Spiegel (»crooked mirror«). Mit Idola Specus trägt Bacon dem Unterbewussten im Denken und Handeln Rechnung. Die persönliche Disposition des Einzelnen und sein jeweiliger sozialer Umgang nehmen Einfluss auf den Erkenntnisprozess. Idola Theatri berücksichtigt Vorurteile durch philosophische Doktrinen, die unkritische Akzeptanz der Meinungen von Autoritäten und Dogmatismus. Idola Fori beruht auf falschen Begriffen und Irrtümern in Folge von öffentlicher Kommunikation oder dem Sprachgebrauch generell. Für Bacon folgte aus seiner Analyse, dass es die Aufgabe des Individuums ist, sich für die Prozesse der Wissensgenerierung »bereit« zu machen oder zu halten. Idola Tribus ist eine allgemeine Grunddisposition des Menschen, eine Folge seiner »hardware«, die durch Reflexion und Urteilskraft nicht zu beeinflussen ist. Andere Dinge, wie die Wiederholung von Experimenten, können jedoch dabei helfen, Fehler auszuschalten oder ihren Einfluss zu begrenzen. Auch Idola Specus haben Menschen nicht zur Gänze im Griff; hier kann man aber versuchen, gegenzusteuern (Persönlichkeitsentwicklung und Tiefenpsychologie könnten hier ansetzen). Aber nicht nur einzelne Wissenschaftler stehen im Blickpunkt, sondern (nach Kuhn 1962) auch wissenschaftliche Gemeinschaften. Mit Bezug auf Idola Theatri und Idola Fori lässt sich fragen, inwieweit grundlegende Annahmen, Modelle und Theorien in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft kritisch hinterfragt werden und inwieweit dies von etablierten Wissenschaftlern vom wissenschaftlichen Nachwuchs verlangt wird bzw. Gegenstand seiner Ausbildung ist. Es ist bekannt, dass es zu diesem Thema viele kritische Stellungnahmen innerhalb und gegenüber der Wirtschaftswissenschaft gibt (vgl. Goldschmidt 2014; Graupe 2014; Hafele/Heußner 2014). Die Idole können auch den Hintergrund der Analyse der Kommunikation einer wissenschaftlichen Gemeinschaft (z. B. der Ökonomen) mit der »Öffentlichkeit« oder der »Politik« bilden. Der Aufsatz von Clark und Lee ist ein Beispiel dafür, wie manche Ökonomen über Politiker und (Teile der) Öffentlichkeit sprechen. Was bringt Bacons Ansatz zum Thema Ideologie? Bacon zeigt uns, dass der Prozess der Wissensentstehung kein durchweg rationa137 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Michaela Haase

ler und rein methodisch zu steuernder Vorgang ist. Ideen, soziale Einflussfaktoren, die Ideen voranbringen, Autorität und Macht spielen bei der Wissensentstehung eine Rolle. Wie weiter unten dargelegt wird, sind Ideen und Ideologien aber nicht einfach die dunkle Seite der Medaille, die am besten gar nicht erst aufgedeckt wird. Ohne Ideen hätte sich die Wissenschaft nicht so entwickelt, wie sie es tat und tut. Theorienwettbewerb ist auch ein Wettbewerb um die besten Ideen. Wie kann man diesen Ideenwettbewerb methodisch begleiten? Antoine L. C. Destutt de Tracy (1754–1836), französischer Aufklärungsphilosoph und Direktor des Institut de France, mit Einfluss auf Thomas Jefferson und dessen Verständnis des ökonomischen Systems in den Vereinigten Staaten, wollte die Ideenlehre vom Anbiedern an weltliche und religiöse Autoritäten befreien und zum Gegenstand empirischer Forschung machen. Er prägte den Begriff der Ideologie und strebte empirisch überprüfbares Wissen über Ideen an. Der Ideologiebegriff ist bei Destutt de Tracy also positiv besetzt.

1.2

Die Methodologie der Forschungsprogramme: Lakatos

Der Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos (1922–1974) hat aufgezeigt, wie der Rolle von Ideen für die Entstehung und Entwicklung von Theorien Rechnung getragen werden kann. Dazu müssen zwei »Kräfte« in Einklang gebracht werden: ein richtungsweisendes Element (Ideen) und ein modifizierendes, zur Veränderung beitragendes Element (empirische Forschung). Lakatos, ein politisch Verfolgter des kommunistischen Regimes in Ungarn, dem die Flucht nach Wien gelang und der danach an der London School of Economics ein Schüler von Popper wurde, war niemand, der Ideologien unkritisch gegenüber stand. Er war zeit seines Lebens bemüht, zur Abgrenzung zwischen Wissen und Nichtwissen beizutragen. Lakatos (1974) charakterisierte Theorien durch einen »harten Kern« und einen Schutzgürtel von Hypothesen (oder empirisch prüfbaren Sätzen), der den harten Kern umgibt. Der harte Kern enthält all das, was vor vorschneller Widerlegung geschützt werden soll (dies ist Gegenstand der negativen Heuristik) oder gar nicht widerlegt werden kann. Die empirische Prüfung der Hypothesen im Schutzgürtel ist eine wichtige Antriebskraft von Theorieentwicklungen und Quelle von Informationen über ihre empirische Fruchtbarkeit. Dies ist der Gegenstand der positiven Heuristik: »Die negative Heuristik spezifi138 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

»Beliefs in action«

ziert den ›harten Kern‹ des Programms, der, infolge der methodologischen Entscheidung seiner Protagonisten, ›unwiderlegbar‹ ist; die positive Heuristik besteht aus einer partiell artikulierten Reihe von Vorschlägen oder Hinweisen, wie man die ›widerlegenden Fassungen‹ des Forschungsprogramms verändern oder entwickeln soll und wie der ›widerlegbare‹ Schutzgürtel modifiziert und raffinierter gestaltet werden kann« (Lakatos 1974; S. 131). Alle Forschungsprogramme haben einen ideologischen und metaphysischen Kern, der im Verlauf der Entwicklung des Forschungsprogramms nicht in Frage gestellt werden kann oder soll. Die »invisible hand characterization« ist ein Beispiel für eine solche Idee. Der ideologisch-metaphysische Kern einer Theorie spricht aber nicht dagegen, dass fruchtbare empirische Forschung auf ihrer Grundlage entfaltet werden kann (vgl. dazu Hillinger 2006 mit Bezug auf die Quantitätstheorie des Geldes).

1.3

Drei Forschungskontexte: Geuss

Geuss (1981) unterscheidet in Bezug auf Ideologien einen deskriptiven, einen pejorativen und einen positiven Forschungskontext. Der deskriptive Kontext entsteht dadurch, dass menschliche Gemeinschaften durch Ideologien charakterisiert werden können. Während Geuss (1981) mit Blick auf den deskriptiven Forschungskontext die Forschungsgegenstände von Anthropologen, Soziologen etc. vor Augen hatte, hat Van Dijk (2006) Ideologie als Gruppenphänomen herausgearbeitet. Ob als Gruppenphänomen oder Merkmal von (Teilen der) Gesellschaft, diese Form der Ideologie lässt sich empirisch untersuchen. Zu sagen, die Ökonomik sei ideologisch, meint dann: Ökonomen vertreten oder verbreiten Ideen (oder haben diese vertreten), die in Theorien oder Modelle Eingang gefunden haben. Sofern konkrete Gruppen lebender Ökonomen gemeint sind, nehmen diese möglicherweise regelmäßig Bezug auf diese Ideen, befürworten sie oder lehnen sie ab. 1 Die pejorative Bedeutung des Ideologiebegriffs bzw. ideologische Fehlerhaftigkeit (»ideological faultiness«) wird von Geuss im Hinblick auf drei Merkmale von Überzeugungen oder Meinungen (»beliefs«) diskutiert: epistemische (auf das Wissen bezogene) Merkmale, Dies geschieht zumeist »abseits« der regulären forschungsorientierten Diskurse. Vgl. z. B. de Vroey (2011) oder Becker (1993).

1

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Michaela Haase

funktionale Merkmale und historisch-genetische Merkmale. Im erstgenannten Fall geht es um falsche Überzeugungen, die aber für wahr gehalten bzw. die weitestgehend oder von vielen geteilt werden. Den positiven Forschungskontext kann man als eine Erweiterung der »positivistischen Ideologiekritik« auffassen, die methodisch gestützten Wissenserwerb verlangt. Während die »Positivisten« (darunter verstehen die Vertreter der Frankfurter Schule Popper und die Vertreter seiner Schule bzw. des Kritischen Rationalismus) glauben, dass »positives« Wissen möglich ist, glauben die Vertreter der Frankfurter Schule, dass auch normatives Wissen möglich ist. Kritische Theorie kann die lebensweltlichen Akteure (dazu gehören auch die Wirtschaftssubjekte) vor ideologisch bedingten Irrtümern bewahren. Damit kommen wir nun zum Aufsatz von Clark und Lee. Diese berufen sich auf Argumentationsfiguren aus unterschiedlichen theoretischen Traditionen (ökonomische Klassik bzw. Adam Smith; Neoklassik bzw. neoklassische Wohlfahrtsökonomik; österreichische Schule bzw. Hayek). Sie beziehen sich auf die Forschungstraditionen in einer Weise, die suggeriert, dass unter Ökonomen ein Konsens bezüglich dieser Ideen bestünde. Dies ist höchstens auf einer sehr abstrakten Ebene der Fall und vermutlich eher bezüglich Hayeks Idee zur Informationsverarbeitung auf ungesteuerten Märkten als bei Smiths »invisible hand conception«.

2.

Marktsystem, Helfermoral und Marktmoral

Für das Verständnis des Aufsatzes von Clark und Lee sind die »invisible hand characterization« (IHC) und ihre Unterscheidung zwischen einer auf Großmut basierenden Moral (»magnanimous morality« bzw. Helfermoral) und einer Alltagsmoral (»mundane morality« bzw. Marktmoral) maßgeblich. Den Aufsatz von Clark und Lee kann man entlang zweier Hauptachsen verstehen: Zum einen gibt es drei unterschiedliche Typen von Darstellern in dem Stück »Die unberechtigte Kritik des Marktes«. Zum anderen entwickeln die Autoren eine Interpretation moralischen Handelns, deren Unterscheidung zwischen einer Alltagsmoral und einer darüber hinaus gehenden Betonung des Helfens und Sich-Kümmerns nicht theoretisch hergeleitet oder anders (etwa durch den Verweis auf eine in einem RaumZeit-Ausschnitt tatsächlich vorliegende Moral) begründet wird. Die Moral einer Gesellschaft oder von Gruppen innerhalb dieser Gesell140 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

»Beliefs in action«

schaft ist ein konkretes, historisches Phänomen. »Moral« ist, wie Birnbacher (2007; S. 7) hervorhebt, »zunächst ein im weiteren Sinne soziologischer Begriff. Ähnlich wie das in einer Gesellschaft geltende Rechtssystem ist die Moral ein komplexes Ganzes aus teils kollektiv geteilten, teils individuellen und gruppenspezifisch ausdifferenzierten Überzeugungen über richtiges Handeln und ihnen entsprechenden Forderungen«. Clark und Lee könnten an dieser Stelle also entgegnen, dass es ihnen nicht um Ethik geht, sondern um die Moral einer bestimmten Gesellschaft (z. B. der US-amerikanischen) in einer bestimmten Zeitperiode (z. B. in der Gegenwart). Dazu äußern sich die Autoren aber nicht. Nachfolgend thematisiere ich zuerst die IHC, dann die Unterscheidung zwischen beiden Moralen. Im letzten Unterabschnitt erfolgt eine Diskussion der drei Gruppen, innerhalb deren und mit Bezug auf die Clark und Lee ihre Argumentation entfalten. Hier verlässt dieser Beitrag zum Teil und kurz die sachliche Ebene und wird selbst polemisch.

2.1

Die Invisible Hand Conception

Die IHC geht auf die Interpretation einer kurzen Textstelle im »Wohlstand der Nationen« von Adam Smith (1776, 2003) zurück; vgl. Krueger (2003; S. XVI). Welchen Status sie in Adam Smiths Werk selbst einnimmt, ist umstritten (Hillinger 2012, Krueger 2003). Die Idee von Adam Smith, dass eigeninteressiertes ökonomisches Handeln in der Konsequenz bzw. ohne die Absicht der Individuen zum Gemeinwohl führt, hat Anlass zu unzähligen Debatten innerhalb der Ökonomik gegeben (Sinn 2014; Lee 2010; Lee 2011). Dabei geht es u. a. um den Status der Idee oder Metapher (Graafland 2009; Zaman 2012) und ihre Relevanz innerhalb des Smithschen Denkgebäudes und für das heutige ökonomische Denken (Hillinger 2012, Krueger 2003). Es gibt daher vermutlich nicht nur eine IHC, sondern sicher eine ganze Reihe – je nachdem, wie die Textstelle interpretiert und ihre Relevanz eingeschätzt wird. Clark und Lee scheinen die IHC in einer neoklassischen, der »New Social Welfare Theory« (Roth 1999) entsprechenden Interpretation zu verwenden (dafür soll nachfolgend das Akronym »IHC*« stehen). Die Social Welfare Theory ist nicht ohne Kritik geblieben (Van Staveren 2009), was von den Autoren allerdings nicht themati141 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Michaela Haase

siert wird. Diese scheinen Markthandeln zudem mit Handeln in IH*Märkten gleichzusetzen: Wer die IHC* in Frage stellt, stellt Märkte generell in Frage.

2.2

Zwei Formen der Pflichtmoral

Mit Verweis auf Clark und Lee (2011, 2015) (siehe auch Lee 2010 und 2011) lässt sich die Vermutung stützen, dass die Bedeutung von »magnanimous morality« (Helfermoral) eher auf Hayek als auf Smith zurückgeht und auch im Sinne von Bacons Idola Tribus verstanden werden kann (CL-52). Instinkte und sentimentale Sehnsüchte bilden den Hintergrund für die »magnanimous morality« – und diese Dinge sind in der menschlichen »hardware« verankert. Lee (2010; ohne Seitenzahl, H. i. O.) schreibt: »What most people think of as moral behavior can be briefly described as satisfying three conditions: (1) helping others intentionally, (2) helping them at personal sacrifice, and (3) helping identifiable people and groups. We all seem hard-wired to like this morality, which I refer to as ›magnanimous morality‹«. Die Autoren nehmen eine Gegenüberstellung von Familien- und Clan-Strukturen mit modernen, anonymen Marktbeziehungen vor. Bestimmte Handlungsmotive, etwa das Sich-Kümmern (care) oder das Helfen (CL-18), passen zu Familien- und Clan-Strukturen. Es kann jedoch bezweifelt werden, dass die laut Clark und Lee »großherzige« Moral (magnanimous morality) wirklich das ist, was in heutigen Marktwirtschaften in ethischer Hinsicht gebraucht wird. Insofern kommen Clark und Lee diesbezüglich vermutlich sogar zum richtigen Ergebnis. Ihre Gegenüberstellung von großherziger Moral und Alltagsmoral lässt sich allerdings hinterfragen. Es bliebe zu zeigen, dass »caring for others« ein im Hinblick auf die Diskussion von Markt und Moral relevanter ethischer Imperativ ist. Dies kann mit Verweis auf die kognitivistischen, vernunftbasierten Richtungen der Ethik angezweifelt werden, denen auch Adam Smith zugerechnet werden kann (Ulrich 2001; S. 58, Abb. 5). Die Diskussion über die Moralität der Märkte, so die Vermutung dieses Beitrags, erfordert eher eine Auseinandersetzung mit kognitiven Fragen und auch eher die Auseinandersetzung mit Werten als eine Übertragung von Werten aus Kleingruppenbeziehungen auf Märkte. Clark und Lee verbinden die IHC* mit einem Handeln ohne mo142 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

»Beliefs in action«

ralische Motive, ohne persönliche Opfer oder identifizierbare Nutznießer. Die Handelnden müssen sich über die ethische Bewertung ihrer Motive keine Gedanken machen; der »benefit« ihres Handelns für die Gesellschaft ist eine unbeabsichtigte Handlungsfolge. Die Denkfigur des Helfens wird von Clark und Lee auch auf die anonymen Marktbeziehungen übertragen (CL-30), wenn es um die Bewertung der Ergebnisse geht (die so sind, als ob die Marktteilnehmer einander helfen wollten) und nicht um die Intentionen (CL-18). Was heißt es aber, wenn das unintendierte Ergebnis ökonomischen Handelns so ist, als ob die Wirtschaftssubjekte füreinander Sorge tragen würden? Clark und Lee nehmen fragwürdige »Schachzüge« vor, wenn sie Denkfiguren übertragen und wiederholen, ohne diese auf ihre Sinnhaftigkeit zu befragen. In der Folge erreichen sie eine »moralische Aufladung« der unintendierten Handlungsfolgen. Ähnliches trifft auch in Bezug auf die Formulierung zu, wonach es sich bei den Marktbeziehungen um »Netzwerke gegenseitiger Unterstützung« (CL-31) handelt. Das größte Manko des Beitrags liegt vielleicht darin, wie er die »Systemfrage« (das kapitalistische System, das Marktsystem) mit dem Eigeninteresse verknüpft. Zum einen wird Eigeninteresse (möglicherweise unbeabsichtigt) durch die Verknüpfung mit bestimmten Wortkombinationen (»rewarding greed and the willingness to profit from the problems of others«, CL-18) ins moralische Zwielicht gerückt. Man hätte auch darauf hinweisen können, dass die Verfolgung des Eigeninteresses nicht unmoralisch ist. Zum anderen muss man keineswegs akzeptieren, »that every agent is actuated only by selfinterest« (Edgeworth 1881; S. 16). 2 Von daher muss sich eine rein auf Selbstinteresse abstellende Theoretisierung des Markthandelns mit anderen Theoretisierungen vergleichen, die neben dem Selbstinteresse auch andere Motive gelten lassen. Wenn man annimmt, dass Akteure Präferenzen über ihre Präferenzen bilden können (Bowles 2004), dann sind sogar Akteure denkbar, deren persönlicher »benefit« erodiert, wenn er auf eine Weise erzielt wurde, die mit ihren Metapräferenzen nicht übereinstimmt. Auch in der neoklassischen Welt wird implizit unterstellt, dass Gesetze eingehalten werden und den »ethical customs« Genüge getan wird (Friedman 1970). Clark und Lee gehen, was die Darlegung der Bei Edgeworth handelt es sich bei dieser Aussage um eine Definition und damit um etwas, das aus der Lakatosschen Perspektive in den »harten Kern« der Theorie gehört.

2

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»ethical customs« betrifft, weit über Friedman (1970) hinaus (CL-12). Obwohl Clark und Lee nicht thematisieren, warum sie in »mundane morality« (der Alltagsmoral) eine Pflichtmoral sehen (CL-6), hat diese aber durchaus solche Züge. Eine Pflichtmoral nimmt nicht die Handlungsfolgen, sondern die Handlungsabsichten in den Blick. Pflichtethiken oder deontologische Ethiken werden von Birnbacher (2007; S. 113) mit Bezug auf Broads (1930) wie folgt charakterisiert: »Handlungen der Art h sind in Situationen vom Typ s immer richtig (oder falsch), gleichgültig welche Folgen sie haben«. Clark und Lees Alltagsmoral reicht mit ihrem Bezug auf das Motiv des Nicht-Schaden-Wollens in die Verantwortungsethik (Bayertz 1995) hinein, denn das Unterlassen von Handlungen hat keinen anderen Stellenwert als das Durchführen von Handlungen (Bayertz 1995; Birnbacher 1995). Der ökonomische Akteur bei Clark und Lee ist ein (in Teilbereichen) verantwortlich Handelnder. »Mundane morality« lässt sich vielleicht am besten als eine »abgespeckte« »magnanimous morality« verstehen, die in ihrem Pflichtenkatalog bestimmte Dinge, wie das Erbringen von Opfern und »caring« gegenüber dem Anderen, auslässt. Intentionales Handeln kann eine Pflichtmoral kaum auslassen.

2.3

The good, the bad, and the ugly

Als »beliefs in action« (Da Fonseca 1991) entfalten Ideologien ihre Kraft nicht als objektive mentale Makrophänomene. Sie entfalten ihre Kraft dadurch, dass Gruppen sie »aktivieren«, bestimmte Ideen zu ihrer Angelegenheit machen und sich mit den Verfechtern anderer Ideen oder Ideologien streiten. Da es keine anerkannte Methodologie für diesen Streit gibt, von Ideologien keine Konsistenz verlangt wird, rationale Rechtfertigung und Konsistenz also nicht im Vordergrund stehen, werden ideologisierte Gruppen und ihre Ideologien oft als unangenehm und die Gruppenmitglieder als geistig »unflexibel« wahrgenommen. Der Aufsatz von Clark und Lee adressiert drei verschiedene Gruppen. Ihre Ideologie wird aus der Sicht der Gruppe, der Clark und Lee angehören, beschrieben:

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»Beliefs in action«

The good Dies sind die Ökonomen. Sie verfügen über das überlegene Wissen der Ökonomik (»sound economics«, CL-58). Sie übersehen nicht die Leistungen des Marktes und sehen die faktischen und ethischen Vorteile gewinnorientierten Handelns. Ressourcen werden auf kluge Weise geschont. Nicht alles ist sachlich falsch, was die Autoren behaupten, aber der Ton macht hier auch die Musik (CL-21). Wie diejenigen dargestellt werden, die nicht an die von Clark und Lee in Bewegung gesetzten Ideen glauben, wird in den beiden folgenden Abschnitten angesprochen. The bad Dies sind die Politiker, die den Markt daran hindern, seine segensreichen Wirkungen zu entfalten. Dabei sind die Politiker selbst die Ursache der wirtschaftlichen Probleme. Politiker nutzen die für sie günstigen Situationen aus, insbesondere die Dummheit der anderen, um ihre Kontrolle über die Wirtschaft auszuweiten (CL-22/25). Politische Parolen suggerieren, der Wohlstand, der durch freie Märkte entsteht, könne auch durch »dritte Wege« erzeugt werden. Die haben aber immer damit zu tun, dass die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft ausgedehnt wird. Dadurch aber wird der Bock zum Gärtner gemacht (CL-25). The ugly Dies sind die »Blöden« bzw. die »meisten Menschen«. Sie sehen Märkte als fundamental unmoralisch an und verweigern ihnen die entsprechende Wertschätzung. Sie missbilligen die Handlungsmoral, die die Märkte antreibt und sehen die Herstellung materiellen Wohlstands als zwiespältig an. Sie sind rückwärts orientiert bzw. haben Sehnsucht nach einer Ordnung, die auf selbstloser Moral beruht. Gewinnorientiertes Handeln schätzen sie als schädlich ein. Die Leute glauben nicht an die »eindeutigen Belege« des funktionierenden Marktes; sie besitzen stattdessen eine »marktfeindliche Mentalität« (CL-21) und tun so, als ginge es in der Wirtschaft immer noch um Nullsummenspiele. Sie verstehen den Preismechanismus nicht (CL36) bzw. verstehen es nicht, den individuellen Unternehmer als Wohltäter wahrzunehmen. Diese Gruppe ist unbelehrbar (»wide145 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Michaela Haase

spread skepticism toward markets that has always existed«, CL-17); sie folgt der Tendenz, menschliche Motive zu beargwöhnen (CL-19); ihre Mitglieder haben Sehnsucht nach einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz (CL-25, 29). Die drei ideologisierten Gruppen sind nicht unabhängig voneinander. Clark und Lee behaupten, die »Blöden« (die Mehrheit) verfügen über ein falsches Bewusstsein (false consciousness nach Geuss 1981), weil sie eben nicht so denken, wie die »Guten« (die Ökonomen) bzw. nicht an die richtigen Ideen glauben. Die von den »Guten« geschmähten Gruppen könnten ebenfalls in den Instrumentenkasten von Geuss greifen und behaupten, was Clark und Lee von sich geben, sei von zweifelhaftem Ursprung (»tainted origin«, Mayer 2001; S. 253) und zudem von einem Denken gefärbt, das der historischen Bewertung der Märkte (und des kapitalistischen Systems, innerhalb dessen sie in der Gegenwart fast überall ihre Wirkung entfalten) nicht gerecht wird. Die jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen haben manche Ökonomen bescheidener auftreten lassen, und auch das jüngst erschienene Buch von Thomas Piketty (2014) hat die Diskussion um die Ungleichheit in kapitalistischen Marktwirtschaften wieder befeuert. Man muss daraus nicht den Schluss ziehen, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft nichts (mehr) zu bieten haben, aber eine auch nach außen wirksame Auseinandersetzung zum Thema Markt und Moral (wäre sie denn beabsichtigt) fällt bei Clark und Lee einer ideologieunkritischen Haltung zum Opfer.

3

Schlussfolgerungen

Die Fragen, die Clark und Lee in ihrem Aufsatz stellen bzw. die man aus dem Beitrag herauslesen kann, sind wichtig: Wie viel Moralität verlangt das Markthandeln? Welche moralischen Voraussetzungen verlangt der »Wohlstand der Nationen«? Wie ist die kapitalistische Marktwirtschaft mit der Freiheit des Handelns verbunden? Es sind die Fragen von Adam Smith und Friedrich A. von Hayek, die Clark und Lee da wiederholen. Jede Antwort hängt u. a. von dem theoretischen Rahmen ab, innerhalb dessen sie gegeben wird. Clark und Lee führen keine Diskussion innerhalb eines explizit gemachten theoretischen Rahmens. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die österreichische Marktprozesstheorie so harmonisch mit der neoklassischen 146 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

»Beliefs in action«

Preistheorie und Wohlfahrtsökonomik kombiniert werden kann, wie die Autoren das zu unterstellen scheinen. Der hohe Abstraktionsgrad der Diskussion lässt solche Probleme nicht sichtbar werden. Die Voraussetzungen der Unterscheidung zwischen zwei Formen der Pflichtmoral und die Eignung dieser Unterscheidung im Vergleich mit anderen Konzeptionen für die Diskussion von Markt und Moral werden in dem Aufsatz nicht reflektiert. Zu diskutieren wären auch die Folgen einer Integration pflichtmoralischer (deontologischer) Elemente in die konsequenzialistischen, d. h. an den Handlungsfolgen orientierten ökonomischen Modelle (vgl. dazu White 2009). Die Diskussion des Aufsatzes von Clark und Lee zeigt, dass die Gegenüberstellung von Markt und Moral zu einfach ist. Die relevante Frage ist nicht nur, »wie viel« Moral Märkte benötigen, sondern auch welche. Wie Clark und Lee richtig darlegen, sind das Motiv des Helfens oder des Sich-Kümmerns keine allgemeine Grundlage für die Entfaltung von Marktbeziehungen. Dies trifft auch dann zu, wenn man Marktbeziehungen aus einer nicht-neoklassischen Perspektive betrachtet, z. B. aus der der Institutionenökonomik. Der Artikel von Clark und Lee bietet zahlreiche Ansatzpunkte für Studierende der Wirtschaftswissenschaften, sich mit Markt und Moral auseinanderzusetzen. Sie können dabei lernen, dass es verschiedene Ideen in der Ökonomik gibt, die Theorien oder Sichtweisen geprägt haben. Ideen spielen eine große Rolle in und für alle Wissenschaften. Nur, wie diese Ideen angemessen zu würdigen, zu reflektieren, zu kritisieren sind (und welche Rolle dabei die Empirie und der Theorienwettbewerb spielen), darüber müsste mehr gesprochen werden.

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Interesse und Tugend am Markt

A. Die Überlastung der Marktmoral In ihrem Aufsatz über »Markt und Moral« versuchen Jeff R. Clark und Dwight R. Lee, den Leser in klassischer Manier vom Markt zu überzeugen. Die Rede ist von einem hell strahlenden Markt, der Frieden schafft, Freiheit entfesselt, den Wohlstand mehrt, potentiell jedes erdenkliche Bedürfnis stillen kann – und all das auf Grundlage einer bloß interessenbasierten Marktmoral. Diese Moral ist so voraussetzungslos, wie man sie sich nur ausmalen mag: Der Marktteilnehmer ist in erster Linie daran gehalten, an sich selbst zu denken, ja: von selbstlosem Verhalten raten ihm die Autoren im Makrokosmos des Markts sogar vehement ab. Fürsorge und Mitgefühl führten zu verheerenden Ergebnissen, würden diese Prinzipien Austausch und Marktpreis ersetzen. Wer könnte angesichts der Verheißungen, die Clark und Lee da verkünden, noch Marktskeptiker bleiben? Nicht wenige, wie man weiß. Mitunter scheint es in weitläufigen Kreisen salonfähig zu sein, sich unverblümt marktkritisch zu positionieren. Eindrucksvoll zeigte sich das zuletzt in der Reaktion auf die Finanzkrise des Jahres 2008. Wie kommt es, dass eine breite Öffentlichkeit es bisweilen vorzieht, sich den von Clark und Lee herangetragenen Argumenten – zumindest rhetorisch – zu verschließen? In meinem Beitrag werde ich versuchen, annehmbar zu machen, dass der Keim der Uneinigkeit in divergierenden Bewertungen des für die ökonomische Modellbildung so zentralen (Eigen-)Interesses 1 liegen dürfte. Die Öffentlichkeit ist, zumal in krisenhaften Zeiten, ein Ort, Im Folgenden werde ich die Begriffe Interesse und Eigeninteresse synonym verwenden. Das Interesse, wie ich es verstehe, bezeichnet immer eine Form der Eigennützigkeit, sodass das Präfix »Eigen-« dem Interesse nur eine pleonastische Bedeutung verleiht.

1

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»wo die Moral noch majestätisch herrscht« 2. Das Interesse jedoch, so werde ich einleitend argumentieren, verliert an Plausibilität, sobald es moralisch aufgeladen werden soll, um diesen Moralbedarf zu decken. Im zweiten Teil meines Aufsatzes werde ich einige Denkanregungen zu den Möglichkeiten und Grenzen beisteuern, Tugendethiken für die Wirtschaftstheorie fruchtbar zu machen. Die Impulse, den Markt mit dem prima vista etwas altmodischen Tugendbegriff zu verbinden, sind in jüngster Zeit Legion. 3 Bietet die Renaissance der Tugendethik einen Ausweg aus den Paradoxien eines normativen Interessenbegriffs?

B.

Wie viel Moral lässt die Semantik des Interesses zu?

Was ist der Kern des interessengeleiteten Handelns? Mit Hirschman verstehe ich darunter ein selbstbezügliches Handeln, das rationalen Berechnungen folgt. 4 Das entspricht größtenteils dem Gegenteil der (beinah) selbstlosen Helfermoral von Clark und Lee und ist kompatibel mit dem, was die Autoren Marktmoral nennen, wiewohl jene mit ihrer im Ansatz prozessualen Komponente stärker das Rechte betont als Hirschmans Definition. 5 Mir scheint noch eine dritte Eigenschaft – seit Jahrhunderten – eine bemerkenswerte Stabilität aufzuweisen: Angewandt auf Politik und Ökonomie ist in erster Linie die Konsequenz ethischer Prüfstein des Interesses. Bevor Smith, die theoretischen Fundamente Mandevilles ausbauend, das Interesse für die ökonomische Theorie tragfähig machte, war es in der Staatskunst als Innovation gefeiert worden. Der leidenschaftliche Staatsmann stand im schlechten Ruf, aufbrausend und ungezügelt zu sein, sodass man dem Machthaber, dessen Kompass das kalkulierbare, planbare, robuste und vor allem rationale Interesse war, eher zutraute, dem öffent-

Müller (1996; S. 823). Für einen Literaturbericht wenigstens der angelsächsischen Studien vgl. Fourcade & Healy (2007). 4 Hirschman (1986, 1992; S. 36). 5 Ebendiese Betonung eines Regelwerks (statt des Guten) ist aber vielleicht notwendig, um die Spannung zwischen Interesse und Moral einigermaßen zu lösen, meint etwa Willems (2003; S. 9): »Je mehr man den Charakter der Moral als Ensemble von Regeln betont, […] die das Leben des einzelnen erst ermöglichen, desto weniger prinzipiell fällt der Gegensatz zwischen Moral und Interesse aus«. 2 3

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lichen Wohl dienlich zu sein. 6 Seit ehedem gilt das Interesse also nicht so sehr als intrinsisch wertvoll; vielmehr bewertet man es zuvörderst relativ zu seinen in der Regel beachtlichen Erfolgen. Sobald die Konsequenzen des Interesses jedoch nicht länger haltbar sind, wird das Interesse als Schafspelz gescholten, der die aus strikt deontologischer Sicht verachtenswerte Geltungssucht und Gier des Individuums verhülle. Hume schrieb einst über das Interesse: »Political writers have established it as a maxim, that […] every man ought to be supposed a knave, and to have no other end […] than private interest. By this interest we must govern him, and, by means of it, make him, notwithstanding his insatiable avarice and ambition, co-operate to public good«. 7 Das bleibt also, durch Humes Linse gelesen, wenn sich Interesse und Gemeinwohl als inkompatibel erweisen: ein Schurke mit unersättlicher Habgier und Ambition. Das sind Klassifizierungen, die in gegenwärtigen Karikaturen des stereotypischen Wall-Street- oder London-City-Brokers nachklingen. Gehen wir diesem Befund auf den Grund. Wieso steht das Interesse gewissermaßen ständig unter Generalverdacht? Warum muss es sich immer wieder mit seinen Erfolgen legitimieren? Die Antwort von Clark und Lee lautet, die meisten Menschen glaubten instinktiv, dass das Marktverhalten eine moralische Dimension weitgehend vermissen lasse. 8 Auch gebe es eine »weitverbreitete ethische Sichtweise […], welche die meisten Menschen dazu veranlasst, Märkte als fundamental unmoralisch anzusehen« 9. Das sind zwei verschiedene Thesen, die zusätzliche Präzision erfordern. Die letztere halte ich für wenig stechend, da zu pessimistisch. Abgesehen von Fällen, in denen ein unglücklich arrangierter Markt das Interesse fehlleitet und Exzesse ermöglicht, dürften viele Menschen, elementare Kenntnisse über den Markt vorausgesetzt, die aggregierte Wirkung des Interesses in einer funktionierenden Marktordnung gutheißen, und so die Institution Markt für vernünftig, vielleicht sogar für moralisch (jedenfalls nicht für unmoralisch) halten. Hier, meine ich, finden wir die Ursache ernst gemeinter Marktskepsis nicht. Hingegen ist die erste These zum individuellen Verhalten am Markt zielführend. Ethisch betrachtet haben realistische Theorie6 7 8 9

Hirschman (1986, 1992; S. 40). Hume (1742, 1907; S. 117 f.). CL-17. CL-3.

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ansätze des etsi deus non darentur, die sich auf die Fahne schreiben, die Menschen zu nehmen, wie sie wirklich oder im ungünstigsten Szenario sind – nämlich vollkommen eigeninteressiert –, eine Schwachstelle. Hirschman bemängelt an diesen Theorien der Unsichtbaren Hand, sie ermöglichten ein soziales Zusammenleben nur hinter den Rücken der Subjekte. 10 Ein wenig Heuchelei könne nicht immer ausgeschlossen werden, heißt es. 11 Wohlan, der Entscheidungsträger, der die Marktordnung zu gestalten hat, darf nicht davor zurückschrecken, seine Hände an dieser Prise Doppelmoral schmutzig zu machen: Er tut gut daran, indirekte Folgen, Nebenwirkungen, externe Effekte von Handlungen für das gemeine Wohl einzusetzen. Es spricht dann wenig dagegen, ihn dafür zu preisen, das Richtige oder Rechte, vielleicht sogar Gute getan zu haben. Für den einzelnen Marktteilnehmer geht dieses Kalkül nicht auf. Es wirkt ungehobelt, das spezifische interessengeleitete Individuum für seinen Beitrag am öffentlichen Wohl zu rühmen. Es mangelt ihm an einer sichtbaren und glaubwürdigen Absicht zu moralischem Verhalten. Richtig betrachtet ist das öffentliche Wohl geradezu per definitionem kein hinreichendes Motiv des eigeninteressierten Subjekts am Markt. Während es unsinnig wäre, ein politisches oder ökonomisches System an den Absichten seiner Glieder zu messen, gelten für Individuen andere Normen. Ein Beispiel zur Illustration: Der deutsche Textildiscounter-Kunde A kauft preiswerte Mode. Dadurch fördert er die Textilindustrie in Bangladesch. Und der bangladeschische Näher B arbeitet lange Tage, sodass A sich zeitgemäße Mode leisten kann. Das sind die unumstößlichen Nebenfolgen der Handlungen von A und B. Niemand auf weiter Flur, weder wir noch A und B selbst, käme jedoch auf die Idee, A ernsthaft zum Entwicklungshelfer oder B zum Samariter im Dienste deutscher Konsumenten mit kleinem Budget zu erheben. Auf Grundlage der beschriebenen Handlungen gibt es keinen Anlass, A und B als gute Menschen zu bezeichnen, da offenkundig ist, dass sie eigennützig handeln. Die von Hirschman diagnostizierte Verlogenheit würde hier zweifellos relevant. Ich meine darum, dass Versuchen, dem interessengeleiteten Marktverhalten des Individuums eine moralische Qualität zuzuschreiben, unweigerlich eine zynische Scheinfrömmigkeit anhaftet. Da das ausschließlich interessengeleitete Subjekt nur an sich selbst denkt, ist es schwierig, 10 11

Hirschman (1986, 1992; S. 40). Hirschman (1982; S. 1465).

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seine Handlungen als moralisch zu klassifizieren. Clark und Lee verkennen das, wenn sie solcherlei Urteile pejorativ mit einer versagenden ökonomischen Aufklärung oder unreflektierten rudimentären Verhaltensweisen aus pleistozäner Zeit abtun möchten. Viele Menschen haben das tiefe Bedürfnis, in Kontexten der Kleingruppe moralisch zu handeln. Sie helfen anderen Menschen, um ihr Selbstbild als moralisches Subjekt zu bestätigen oder Ansehen zu erwerben. Mitunter kann sich ein reziprokes Kalkül hinter der Helfermoral verbergen; Menschen könnten darauf hoffen, ihre Hilfe zahle sich über kurz oder lang aus. Auf solche Überlegungen aufbauend kann man an moralischen Handlungen kritisieren, dass sie oft einfach und durchschaubar sind, ja, im Falle sozialer oder ökonomischer Lösungsoptionen vielleicht gar ein »Zeichen mangelnder Intelligenz« sein können. 12 Vertretene Moralnormen, so die ernüchternde Hobbes’sche These, seien auch nur Ausdruck von Interessen. 13 Diese und etliche weitere Gründe sprechen dafür, den in der Öffentlichkeit artikulierten Moralbedarf normativ zu hinterfragen. Das ändert jedoch kurzfristig nichts an dem faktischen Bestehen dieser Nachfrage, die der Markt vereinzelten Initiativen des ethical consuming 14 zum Trotz nur schwierig zu bedienen vermag. In der Regel kann der Marktteilnehmer seine interessengeleiteten Handlungen beruhigten Gewissens durchführen, doch für eine positiv-moralische Tätigkeit eignet sich das Interesse nicht.

C. Refugium Tugendethik? Während das Interesse also als anonymes Element für den effizienten Markt unverzichtbar ist und dadurch auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen durchaus eine moralische Qualität erreicht (wiewohl sich anthropomorphe Zuschreibungen hier verbieten), schlägt die Analogie individualethisch fehl. Wenn ich bis hierhin richtig argumentiert habe, überspannt es die Semantik des Interessenbegriffs, der an die moralische Qualität einer intendierten und uneigennützigen Handlung nicht heranzureichen vermag, wird ihm ein substantielles moralisches Element eingeschrieben. Gibt es an das Interesse 12 13 14

Reese-Schäfer und Mönter (2013; S. 44). Vgl. Hoerster (2003). Diese Initiativen können aber ebenfalls problematisch sein. Vgl. Pies (2013).

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anschlussfähige Konzepte, die das festgestellte Vakuum füllen könnten? Als solche müssten sie marktkompatibel sein (das heißt auch: die schöpferische Dynamik und die Motivationskraft des Interesses nicht bremsen) und doch eine intendierte gemeinnützige Handlung zulassen können. Ein geeigneter Kandidat könnte die Tugend sein, die in den vergangenen Jahren eine Renaissance erlebt hat. Nun bedürfte es natürlich viel ausführlicheren Überlegungen, als an dieser Stelle möglich ist, um darüber urteilen zu können, ob der Tugendbegriff für unseren Problemaufriss lohnbringend ist. Was nachfolgend – alles nähere Detail gänzlich übergehend – mit wenigen Strichen skizziert wird, kann aber vielleicht erste Hinweise auf Möglichkeiten und Grenzen der Tugend am Markt aufdecken. Betrachten wir zunächst Hirschmans Arbeiten, die die alte Doux-Commerce-These wieder aufgegriffen haben. In ihren Grundzügen geht diese These auf Montesquieu zurück, der postulierte: »Der Handel beseitigt störende Vorurteile, und es gilt beinahe allgemein die Regel, dass es da, wo sanfte Sitten herrschen, auch Handel gibt und dass überall, wo es Handel gibt, auch sanfte Sitten herrschen«. 15 Nebenprodukt des Markts könne also nicht nur der Wohlstand sein, sondern auch Tugend: Handel mache den Menschen ehrenhaft, verlässlich, ordentlich, diszipliniert, ja, sanft und liebenswürdig. 16 Dieser aufklärerische Optimismus, so Hirschman, flaute schon bald infolge der Industriellen Revolution ab, die als wild, blind oder unbarmherzig, doch keinesfalls als sanft empfunden wurde. 17 In dieser Ablehnung des Doux Commerce tritt ein Paradoxon in Erscheinung. Wenn es zutrifft, dass der interessengeleitete Handel die Menschen sanft macht, können die Menschen dann noch durchgehend eigennützig handeln? Sind die Menschen im Ergebnis egoistisch geblieben oder doch liebenswürdig geworden? Auf den ersten Blick soll uns diese Spannung kein Anlass sein, eschatologisch zu urteilen. Üblicherweise weiß der Kunde C, dass hinter dem freundlichen Lächeln des D, mit dem D ein Produkt verkauft, letztlich ökonomisches Kalkül steckt. Konfrontierten wir C, sähe er mit einiger Sicherheit ein, dass der Verkäufer D ihn in anderen Kontexten möglicherweise gar nicht zu schätzen wüsste. Und doch widerspricht es unserer 15 16 17

Montesquieu (1748, 1951; S. 2). Hirschman (1982; S. 1464 f.). Hirschman (1982; S. 1470).

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Erfahrung nicht, dass C die freundlichen Gesten des D seinerseits mit Nettigkeiten erwidert. Das gilt wohl insbesondere dann, wenn das Interesse eines Marktteilnehmers, sich an Sitte und Norm zu halten, weitestgehend unbewusst abläuft und dadurch authentisch wirkt, oder das Individuum gar einen entsprechenden Habitus entwickelt (also tugendhaft ist!). Mir scheint, als löse die Tugend ihr Versprechen in vertrauten Kontexten, sagen wir, des Wochenmarkts, der Brötchentheke oder des örtlichen Kiosks durchaus ein. Das sind genau die Alltagsräume, in denen das bloße Interesse moralisch überfordert ist. Leitet das Interesse aber bestimmte Tugenden an, vermag es als etwas Ehrenwertes, Rechtschaffenes in Erscheinung zu treten. Das meint auch Walzer: »The man or woman who builds a better mousetrap, or opens a restaurant and sells delicious blintzes, or does a little teaching on the side, is looking to earn money. And why not? … This is, indeed, a kind of »rightness« that the community may see fit to enclose and restrain.« 18 Wir sehen: Die gesinnungsethische Dürftigkeit des Interesses marginalisiert sich durch die Tugend. Vorstellungen wie diese haben Autoren dazu verführt, triumphierend ökonomisch-liberale Tugendkataloge aufzustellen, von denen die sieben Bürgertugenden von Deirdre McCloskey die bekannteste Variante sein dürften. 19 All diesem Optimismus setzt Michael Baurmann die desillusionierende Beobachtung entgegen, dass die Marktbeziehungen, die wir uns hier vor Augen führen, gegenwärtig eher die Ausnahme als die Regel bilden. Der Markt sei oft unpersönlich und konkurrenzbestimmt, sein »Netz wechselseitiger Tauschbeziehungen und persönlicher Abhängigkeiten … nicht dicht genug«. Dadurch verführe er die mobilen und ungebundenen homines oeconomici zu opportunistischen Strategien. Und doch, so Baurmann, könne der Markt normgenerierend sein, vorausgesetzt, er ist in eine offene Gesellschaft eingebettet, die den Individuen Vereinigungs- bzw. Kooperationsfreiheit gewährleistet. In diesem Arrangement erkenne der interessengeleitete Akteur, dass sich die Investition in Tugenden für ihn auszahlen könnte. Die Nachfrage nach moralisch integeren Kooperationspartnern mit sozialem Charakter sei nämlich nach wie vor ungebremst, 20 und es lohne sich nicht, die Tugend am »Markt der 18 19 20

Walzer (1983; S. 109). McCloskey (2006). Baurmann (1996; S. 645).

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Tugend« nur vorzutäuschen – zu groß das Risiko des Reputationsverlustes. 21 So würde es rational, interne Sanktionsmechanismen wie Reue, Scham und Verantwortungsgefühl zu entwickeln. 22 Vor allem diese letztgenannte These Baurmanns müssen wir als kontrovers bezeichnen. Kann ein Marktteilnehmer allein auf Grundlage der Regeln, die er befolgt, um den eigenen Vorteil zu sichern, echte Reue empfinden? Für Wolfgang Kersting, nota bene selbst bekennender Liberaler, besteht über ihre Antwort kein Zweifel: »Entweder sprechen wir die Sprache der Moral, entweder empfinden wir moralisch, oder wir sprechen die Sprache des Interesses und achten auf unseren Vorteil«. Dementsprechend nimmt Kerstings Urteil über den Markt der Tugend nicht wunder: »Baurmanns Ökonomismus betreibt Markendiebstahl; seine Moral ist eine Designermoral, die der richtigen zwar äußerlich zum Verwechseln ähnlich sieht, aber innerlich, und darauf kommt bei der Moral alles an, nichts mit ihr gemein hat.« 23 Wer mit diesen Worten sympathisiert, wird sich schwer tun, die These eines normgenerierenden Markts in all ihren Facetten zu unterschreiben. Durch Kerstings Skepsis bürdet man sich jedoch die schwierige Aufgabe auf, nachzuweisen, dass es tatsächlich eine andere, »richtige« – altruistische? – Moral gibt, die nicht interessengeleitet ist. Einen weiteren originellen Beitrag zur Tugend am Markt haben die Ökonomen Luigino Bruni und Robert Sugden mit ihrem Aufsatz Reclaiming Virtue Ethics for Economics vorgelegt. Ihr Plädoyer bekennt sich zu einem aristotelisch verstandenen Tugendbegriff 24, der auf einen Telos (τέλοϚ = »Ziel«, »Zweck«) 25 abzielt. Das ist insofern bemerkenswert, als mit diesem Tugendbegriff insbesondere jene Theoretiker argumentieren, die man mit einiger Berechtigung zu den Kommunitariern zählen darf. Die Ergebnisse kommunitarischer Baurmann (1996; S. 430–444). Baurmann (1996; S. 311). 23 Kersting (1997; S. 12). 24 Diesen behandeln die Autoren übrigens arg verkürzt. Für die entscheidenden Stellen im Original vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1095b, 1098a, 1103a, 1105a– 1107a, 1177a–1176b. 25 Das Telos war ein in der griechischen Antike geläufiger Begriff, mit dem man die Essenz eines Gegenstandes, mehr noch, dessen natürliche Bestimmung kennzeichnete. Es hieß, jedem Gegenstand wohne ein spezifisches Streben nach Zielzuständen inne. Ließ man seinerzeit einen Stein fallen, so war es eine keineswegs unübliche Interpretation, der (tugendhafte!) Stein gehe zu Boden, weil es sein Telos sei, bei der Erde zu sein. Vgl. einführend Sandel (2009; S. 184–207). 21 22

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Abhandlungen erlauben selten so viel Optimismus über die Kompatibilität von Markt und Tugend wie die Konklusionen im Aufsatz von Bruni und Sugden. 26 Dabei ist die Argumentationslinie der Autoren denkbar simpel. Das Telos des Markts definieren sie zunächst als das Ermöglichen gegenseitigen Vorteils. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zu den Markttugenden, zu jenen (Charakter-)Eigenschaften, die es dem Individuum ermöglichen, gegenseitigen Vorteil zu schaffen: Respekt, Wachsamkeit, Vertrauen (und Vertrauenswürdigkeit), die Akzeptanz von Wettbewerb, Eigenverantwortung, die Ablehnung von Rivalität und dergleichen mehr. Das sind Markttugenden, die die Autoren sehr zu Recht als lobenswert bezeichnen. 27 Der besondere Charme des Ansatzes geht aber von der teleologischen Komponente des Tugendbegriffs (dem Telos eben) aus, mit dem sich der Markt naturgemäß gut verträgt. Das Telos wirkt so als Scharnier, als integratives Bindemittel, das, im Gegensatz zum bloßen Interesse, am Markt eine Brücke zu einer deontologischen Ethik schlagen kann. Es sollte indes nicht unerwähnt bleiben, dass ein Telos des Markts zum ontologischen Problem wird, nehmen wir mit Hayek 28 an, der Markt sei als unbeabsichtigte Folge menschlicher Handlungen eine spontane Ordnung. Ein Telos impliziert einen finalen Grund, den der Markt mangels eines planenden Schöpfers gar nicht haben kann. Sind wir bereit, hier ein Auge zuzudrücken (obschon nicht nur ein Schönheitsfehler), dann bleibt uns eine Theorie, die wie die Argumentation Baurmanns zeigt, dass es Tugenden geben kann, die der Marktteilnehmer authentisch aufrechterhalten kann. 29 Wohlverstanden: Um am Markt Erfolge feiern zu können, muss das Individuum nicht zwingend tugendhaft sein, geschweige denn intentional oder gar mit Herzblut das Telos des Markts erfüllen wollen. Das ist ja gerade die Crux der Marktwirtschaft. Die Abhandlung legt jedoch elegant dar, dass sich interessengeleitetes tugendhaftes Handeln mit dem Markt verträgt, ja, auszahlen kann. Das ist nicht wenig – und ein scharfer Kontrast zu Clark und Lee, die in uneigennützigem Handeln Wettbewerbsnachteile und Ineffizienz wittern. Im Ergebnis wollen wir dem Markt durchaus Mechanismen zuschreiben, die Tugenden generieren können. Diese Tugenden sind im 26 27 28 29

Vgl. etwa Sandel (2012; S. 118 und S. 128 ff.). Bruni & Sugden (2013; S. 152–159). Vgl. Hayek (1967, 1969). Bruni & Sugden (2013; S. 160).

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Kern interessengeleitet und bieten doch Anknüpfungsstellen zur deontologischen Ethik. Dadurch entfaltet sich ein Potenzial, auch faktisch bestehende Moralbedürfnisse zu bedienen – ein Versprechen, das der Interessenbegriff allein nicht erfüllen kann. All der Heiterkeit wollen wir gleichwohl ein letztes Wort entgegensetzen. Tugenden haben keinen Wert sui generis. Jede Praxis erfordert und fördert partikulare Tugenden. Sogar ein Nationalsozialist kann auf seine eigene Weise tugendhaft sein, um nur ein plakatives Beispiel zu nennen. Zwei Mahnungen scheinen uns deshalb angebracht. Erstens benötigen Markttugenden stets ein reflexiv-kritisches Moment. Verursacht der Markt – aus welchem Grund auch immer – verdrießliche Ergebnisse, tut der Marktteilnehmer natürlich gut daran, sein tugendhaftes Handeln zu hinterfragen. Zweitens steht nirgends geschrieben, dass der Markt ausschließlich gute Tugenden produziert. Das Telos von Bruni und Sugden kann beispielsweise auch dazu verleiten, Kartelle zu gründen. Hier bleibt uns nur zu hoffen, dass wir richtig argumentiert haben: Denn dann hätten die wünschenswerten Tugenden durch ihre Eigenschaft, moralisch vertretbar zu sein oder gar moralische Bedürfnisse bedienen zu können, im Hayekianischen Wettbewerb der Moralsysteme einen handfesten Wettbewerbsvorteil.

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Birger P. Priddat

Moralproduktion durch Märkte: Moral ohne Ethik

Der Gedanke, der Bevölkerung ein angemessenes KapitalismusFunktionsverständnis beizubringen, ist für Ökonomen ebenso betörend wie nutzlos. Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen moralisch denken und daraus anti-kapitalistische Attituden gewinnen, schlagen Clark/Lee (2011, 2015) vor, von ›Helfermoral‹ auf ›Marktmoral‹ umzustellen. Angemessen daran ist die Idee, Moral als fait social ernst zu nehmen und die moderne Marktwirtschaft nicht als neutrale Zone nur funktional zu erklären. Weniger angemessen erscheint mir hingegen der Vorschlag, die Moral zu wechseln, d. h. den Akteuren zu erklären, dass es effizienter sei, interessenbasierte Marktmoral anzuwenden als andere Formen. 1 Die moral discourses in der Gesellschaft (und folglich dann auch in der Wirtschaft) aber gründen auf cultural patterns, informellen Institutionen und Kommunikationsereignissen, die durch ›vernünftige Argumente‹ viel-

Es klingt nach einer Verwandlung des Ethischen ins Dianoetische (in Klugheitsüberlegungen). Beide sind – in der aristotelischen Tradition – Tugenden. Nur dass Clark/ Lee die ethische durch eine dianoetische ersetzen – in der aufklärerischen Tradition der vernünftigen Selbstbestimmung. In der rational choice schwingt noch der Schatten dieser Vernunftunterstellung mit. Die normative Implikation, die Akteure sollten sich rational verhalten, d. h. gleichsam einer Regel der Maximierens folgen (eine Institution (vgl. Priddat 2012a)), behandelt sie wie tugendhafte Akteure. Es ist eine nicht-ethische Klugheits-Tugend (basierend auf der prohairesis, der klugen Wahl). Wir werden zeigen, dass in modernen Märkten Moral weder als tugendhafte Relation noch als ethische fungiert, sondern als kommunikatives Ereignis, in dem die Akteure keine selbstbestimmten Individuen mehr sind. Damit wäre das Programm des homo oeconomicus hinfällig – nicht, weil es unrealistisch sei, sondern weil es wegen seiner Tugend-Grundstruktur fehl geht. Aber bereits die klassischen Ökonomen (von Mandeville bis Smith et al.) hatten ein anderes Programm entwickelt: egal, welche Motive und Gründe die Menschen bewegen – ob habgierig oder sozial –, der Markt reguliert alle Tugenden, Temperamente, behaviours über einen laisser-faire Mechanismus der emergenten Herstellung von Ordnung. Diesen Aspekt werden wir im zweiten Abschnitt über die digital markets wieder aufnehmen. 1

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leicht im Kreis von Moralökonomen als änderbar erscheinen mögen, kaum aber in der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft. Clark/Lee’s Vorschläge lassen sich als Vorschläge zum Ideologiewechsel auffassen; im Sinne von D. C. North aber sind ›ideologies‹ in neuerer Interpretation ›shared mental models‹, die sich kultur- und wirtschaftsevolutiv ausbilden. Ob dazu die Vorschläge zweier Ökonomen ausreichen, eine Änderung der mentalen Modelle vorzunehmen, mag bezweifelt werden. Es läuft bei ihnen darauf hinaus, die ökonomische Theorie ›richtig zu verstehen‹, mit Anregungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Ich schlage hingegen vor, Anregungen aus dem 21. Jahrhundert wahrzunehmen, die das Verhältnis von Moral und Wirtschaft längst faktisch ändern und in den Marktprozess aufgenommen haben. Wir befinden uns längst in Prozessen der moralischen Prädikation von Gütern. Damit meine ich nicht nur solche Phänomene wie ›moralischer Konsum‹ (Priddat 1997; Koslowski/ Priddat 2006; Giesler 2004), sondern die Tatsache, dass Güter auf Märkten angeboten werden, die in der Werbung und in der allgemeinen Kommunikation als moralisch qualifiziert ausgewiesen werden. Ob es durch Verweise auf Ökostandards, Gesundheitswerte, fair trade, Nachhaltigkeit etc. geschieht oder direkt als moral commodity beworben wird, ist erst einmal sekundär. Natürlich geschieht diese moralische Prädikation nicht selbstlos, sondern um Umsatz und Absatz zu erhöhen. Faktisch werden Konsumenten für ihre moralischen Einstellungen bedient, indem sie Güter offeriert bekommen, die ihnen moralische Zweifel an Produkten (und Produktionsweisen (z. B. Kinderarbeit, Ausbeutung etc.)) nehmen sollen. Es geht nur z. T. um eindeutige moralische Positionierungen; im Vordergrund steht meistens die moralische Einbettung von Konkurrenzprodukten, die auf diese Weise höhere Aufmerksamkeit und Akzeptanz gewinnen sollen. Es sind keine moralischen Trends im engeren Sinne, sondern social trends, die funktional aber wie moralische Maximen operieren, denen man sich umso leichter anschliessen kann, weil alle anderen es auch tun. Der Eintritt in diese fließenden social and moral communities wird durch zunehmende kommunikative Intensität und Dichte erleichtert. Was in der Semiosphäre (der Welt der Zeichen, Semantiken, Narrative, Gründe etc.: Lotmann 2010, Priddat 2014a: Kap. 4) kommuniziert wird und ins Alltagshandeln großer Gruppen gelangt, ist der semantic pool, aus dem heraus die Unternehmen wagen, moral commodities anzubieten. Sie leihen sich ihre moral meanings aus der 162 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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Semiosphäre, die die Legitimations- und Akzeptanzfragen längst vorgeklärt hat bzw. immer wieder neu klärt. Für die Unternehmen und ihre Kommunikationsexperten (Werbung) ist die Moral, die sie angebotsseitig bedienen, ein Kommunikations-Zeichen, das einen erweiterten Präferenzbereich der Kunden anspricht. Jeder der verteilten moral discourses kann eigene Skalen aufweisen, nach denen die dann je spezifische moral quality eingeschätzt und gerankt wird: was ist gut, was besser, was schlecht. Die Urteilsbasis ist schmal, aber hoch effektiv. Es geht eher um einen Kommunikations- und Überredungs- als über einen Urteilszusammenhang. In dem Sinne haben wir es mit Ersatz-Moral zu tun (ich verwende Arjo Klamers Ausdruck ersatzeconomics für kleine Alltagstheorien von Wirtschaftsakteuren (Priddat 2014a: Kap. 2)), um die alltagsmoralischen Inklusionen zu erläutern. Eine Ersatzmoral ist mehr als ein reduziertes moralisches Begriffsset, sondern ein kleines System, das einer gewissen Differenzierung fähig ist, d. h. minimal-komparatistisch argumentieren kann, weil es eine Skalierung aufweist. Daran ist nichts abzählbar (obwohl das, wenn man statistische Linguistik heranließe, auch möglich ist). Man kann zwischen rankings und ratings unterscheiden; die letzteren ordnen Wahrscheinlichkeiten der Geltung zu; die ersteren skalieren nur nominal-ordinal (Beckert /Aspers 2011: 22; vgl. auch Priddat 2013). Das alles geschieht unabhängig von Marktprozessen, parallel, selten direkt verwoben. Indem aber die Unternehmen moralisch prädikatierte oder moral goods offerieren, bedienen sie sich nicht nur der Semantiken der Semiosphäre, sondern auch der dort ausgeformten Skalierungen. Das was als ›moralisch besser‹ prädikatiert ist, wird in Wettbewerbsterms übersetzbar. Wenn wir die gewöhnliche Preis/ Mengen/Qualität-Skalierung der Märkte in diese Prozesse eingewoben sehen, wird das, was dort ›Qualität‹ heißt, ausdifferenziert. ›Qualität‹ ist keine natürliche Eigenschaft von Gütern, sondern a) eine Zuschreibung, die b) über Bedeutungen, d. h. semantisch-semiologisch kommunikativ produziert wird. Über die ›Qualitäten‹ laufen alle möglichen Zuschreibungen, Interpretationen und Metaphern. Über diese Zuschreibungsoffenheit kommen auch moralische Skalierungen in den ökonomischen Entscheidungsvorgang. Um es pointiert zu sagen: indem verschiedene Skalierungen in Konkurrenz stehen, erweist sich die Preis/Güter-Skalierung als eine unter anderen. Sie ist nicht ab ovo dominant. Wenn Akteure z. B. ökologische belief-structures haben, ist ihnen der Preisvergleich mit nicht-öko163 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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logischen Produkten irrelevant: erst innerhalb der ökologisch prädikatierten Gütergruppe gehen sie in weitere Unterscheidungen, in denen die Preise in zweiter oder dritter Instanz eine Rolle spielen. Das gilt für viele moral goods bzw. moralisch prädikatierte Güter. Man leiht sich moral beliefs, ohne sie selbst entfalten und entscheiden zu müssen: Moral light. Die hohen kognitiven Anforderungen an moralisches Urteilen werden durch Lieferung von moral trends reduziert, die inhaltlich unbestimmt bleiben können, solange sie soziale kommunikative Legitimation haben. Hier mischen sich medial erzeugte Trends, ältere Sozialisationsmuster und divergente Netzwerkteilhaben (mit ihren jeweils differenten social codes). Über diese Argumentation bekommt Clark/Lee’s ›Marktmoral‹ wieder Bedeutung, aber nur über die angezeigten Prozesse moduliert. Es geht nicht um kognitiv-rationale Urteilsfindungen, sondern um die individuellen Interessen, die dann subjektiv legitim erscheinen, wenn sie über einen moral trend laufen. Dann entflieht man dem Konflikt, selber moralisch entscheiden zu müssen, indem man sich sozial das ›leiht‹, was andere auch an moral action kommunizieren und vollziehen. Die semiosphärisch generierten moral trends wechseln, je nach Diskursdichten und -frequenzen. Der moral trend operiert als Adaptionsangebot, das den Akteuren erspart, eigne moral beliefs auszubilden. Diese Prozesse werden in den digital markets neuerdings forciert.

Personalized markets? Vieles, was wir über Märkte sagen, ändert sich gerade in den digital markets. Im Internet ändert sich unser Verhalten: ein neues Kulturprogamm beginnt sich zu entfalten. Alle unsere Käufe im Internet, aber auch schon im normalen Geschäftsleben, werden statistisch erfasst und über Algorithmen ausgewertet. Indem sie so unsere Kaufgewohnheiten und Vorlieben kennen, können die Unternehmen uns individuelle Angebote machen, die uns nicht nur erstaunen, sondern umschmeicheln: Es ist eine Form der Anerkennung unserer Person und Identität, die – statistisch gespiegelt – uns angenehm berühren wird (vgl. dazu und zum Folgenden weitaus genauer: Priddat 2014b: Kap. 2). Es entsteht eine automatisierte Form der ›Selbst-Reflektion‹, die insofern Reflektion heißt, als dass wir uns gespiegelt bekommen. Die Algorithmen bzw. die daraus abgeleiteten Angebote arbeiten als Identitätsverstärker: eine neue Resonanzmaschine, der wir uns umso 164 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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sinnlicher hingeben werden, wenn sie Variationen vorschlägt, die ›in der Nähe‹ unsere bisherigen Wünsche liegen, den Wunschkatalog aber persönlichkeitsgekoppelt erweitert. Wir lernen uns besser kennen als wir uns kennen. Es sind Präferenzmodulatoren. Insofern ändert das Internet mehr als nur unsere Wissensdimension: Es ändert unser Verhalten – ein möglicher Kulturbruch. Wie von unsichtbarer Hand werden wir gespiegelt und variiert (Staun 2014). Es geht nicht mehr schlicht um Werbung, sondern um ›Modifikation des Verhaltens‹ (Lanier 2014; eine Art von extended nudging). Unsere biographische Geschichte beginnt, algorithmengeleitet, mit uns in Dialog zu treten, ohne dass wir es uns – als angestrengte Reflektion – selber vornehmen müssten. Wir reden mit uns über einen Dritten, der intransparent bleibt: Gleichsam überreden wir uns selbst. Wie ändert das die Märkte, die Gesellschaft? 2 Wir befinden uns nicht mehr in einer pure economics, sondern in einer Art von angewandter ökonomischer Wirtschaftssoziologie (in informationstechnologischer Ausprägung): einer Art gespiegelter Interaktion mit uns selber. Denn nicht das Versprechen der ›Effizienz‹ ist ausschlaggebend für unsere Resonanz, sondern die Spiegelung unserer ›Person‹ (wie rumpfartig auch immer: Alter, Geschlecht etc.), die die Überredung erfolgreich machen lässt. Darin lassen sich beliebige Variationen moralischer Empfindungen und Narrative einspinnen. Es ist eine pragmatische Version des ›as if‹ : als ob ich selber entschieden hätte, ohne dass ich entschieden habe. Das System simuliert ein ES, das auf mein ICH wirkt 3 – eine Art algorithmischer Psychoanalytik. 4 2 Zu den Mechanismen dieser invisible hand of 2nd order: ein invisible statistical knowledge, das die Konsumenten nicht wissen können, vgl. Hofstetter (2014) und Morgenroth (2014) sowie Priddat (2014b). 3 ICH entscheidet intuitiv: »Intuition ist die Fähigkeit, Urteile zu fällen, ohne sich der Information, auf denen diese Urteile beruhen, bewusst zu sein« (Goschke 2012: 80). Das »ES denkt mit« (dito); das alte Freud’sche ES wird als ›adaptives Unbewusstes‹ reformuliert (Goschke 2012: 82); »Implizites Urteilen geht mit der Aktivität tiefer im Gehirn liegender Emotionszentren wie der Amygdala einher. Unbewusste Gefühlsreaktionen können eine Grundlage für Intuitionen sein« (Goschke 2012: 82). Intuition wird hier als Rückgriff auf einen emotiven Kern beschrieben (oder, wie bei Heiner und Gigerenzer, als Rückgriff auf rules of thumb oder ältere Regeln, die allerdings emotionale Muster repräsentieren können wie aber auch soziale Interaktionsmuster). Es sind Spieglungen: Ich entscheide jetzt (intuitiv), indem ich mich auf einen älteren oder eigentlichen Zustand berufe, in dem ich mich bereits einmal als erfolgreich erlebte. Ich spiegele in der Gegenwart meine erlebte Vergangenheit in die Zukunft. 4 Vgl. Assheuer (2013, Sp. 5); ähnlich Byung-Chul Han (2014: Sp. 7); vgl. auch Staun (2014).

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Unternehmen können im Big-Data-Kontext sehr viel genauer ihre Angebote platzieren und in der Kapazität steuern, weil sie die Kaufprofile auswerten. Gekoppelt mit der automatisierten Prozesssteuerung der Produktion (Industrie 4.0 und Nachfolger) verbinden sich Markt und Produktion in einem selbststeuernden System, das wesentlich durch gezielte passgenaue Angebote (mass customization) und deren Bewerbung geschieht. Die Werbung tritt nicht mehr als anonyme Bewerbung auf, sondern als persönliche Information, abgestimmt auf die bisherigen Präferenzprofildynamiken, in deren Nähe Variationen angeboten werden, die die Innovationen persönlicher machen. So persönlich angesprochen reagieren die Konsumenten in Dank/Schuld-Mustern, das ›Geschenk‹ nicht sogleich ausschlagen zu können. In die Marktökonomie spielen sich Elemente einer Geschenk-/Gabenökonomie ein – eine hypermoderne Inversionsgestalt einer moral economy. 5

Moral ohne Ethik Was wir zu Beginn über das Verhältnis von Markt und Moral ausführten, zeigt sich in den big-data-modulierten neuen Märkten in erweiterter Form. Jede Moral ist einspielbar, und zwar dreifach: die Firmen können moral goods bzw. Moralprädikate in die personspezifischen Angebote einspielen; sie können individuelle moral beliefs aus dem bisherigen Kaufverhalten ermitteln, und sie analysieren aus Die Geschenk-Dimension ist breiter: alle Informationen, die Google, Amazon, Yahoo, Facebook etc. nutzen, sind Gratisgeschenke der Nutzer an die Firmen. Jaron Lanier weist darauf hin, dass hier das kapitalistische System aussetzt: Google et al. müssten – wenn es ökonomisch zuginge – für jede Informationsnutzung und -verwertung an die Nutzer zahlen, d. h. ihnen die jeweiligen Nutzungsrechte abkaufen. Erst dann wären wir wieder in einem (klassischen) Markt (Lanier 2014b). In der jetzigen Fassung haben wir es mit asymmetrischer Reziprozität zu tun: Die Datengeschenke werden von Google et al. profitabel genutzt, die Geber/Nutzer bekommen hingegen lediglich ihre individuell zugeschnittenen Angebote, d. h. einen service, den sie nicht bestellt haben, aber ›dankbar‹ – als einen comfort of life – annehmen – als ob sie es von Google et al. ›geschenkt‹ bekämen. Durch diese dankbare Akzeptanz verfällt der Blick dafür, dass sie längst bezahlt haben: über einen unfreiwilligen Kontrakt, den sie post hoc ›legitimieren‹, ohne die Preise zu wissen. Innerhalb der Märkte läuft eine marktferne Transaktionswelt, die den Anschein einer reziprozitären Moralökonomie hat, obwohl sie auf einer (ausgeprägten) Wertschöpfungsasymmmetrie beruht. Ein weiterer Fall der Ausnutzung von moral patterns.

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den jeweiligen social networks und communities der Akteure spezifische moral patterns, auf die die Akteure gewöhnlich sozial reagieren. Das erschließt nicht das ganze Feld der Moral / Markt-Relation, aber zeigt eine neue Korrelation, die nicht als Kontrast oder gar Widerspruch behandelt wird, sondern als individuelle Rücksicht auf die moralische Temperierung der Konsumenten angebotstaktisch eingewoben wird. Jedes Produkt kann jedem anders angeboten werden, individuell zugeschnitten. Jedes Mal werden andere Semantiken verwendet, die auf die moral fracta der statistisch erfassten Person hin kalibriert werden können. Was als individueller Angebotszuschnitt längst zu praktizieren begonnen wird, verfeinert sich über die Zeit. Aber unabhängig von den individuellen Zuschneidungen werden statistisch ermittelte moral trends eingespielt, die das, was in der Gesellschaft (und ihrer Semiosphäre) als moral discourse läuft, in die Angebote und ihre Kommunikation implementieren kann. Alexander Pentland (2014: Kap. 3) nennt das die Transformation from beliefs to habits. Wir haben es mit einer ethik-fernen Moralität zu tun, die auf Kollaborationsmuster ausgelegt ist, auf moralische Ansprechbarkeit, nicht aber auf ethisch fundierten Habitus. Wenn das die Beschreibung künftiger Märkte ist, hat sich eine ökonomische Theorie der Moral darauf einzustellen. D. h. gegebenenfalls sich auf die Interpretation und Beeinflussung von social patterns zu kaprizieren, mit der Reflektion emotionaler, narrativer und ästhetischer Aspekte, die in den patterns wirksam sind. Clark/Lee’s Konzeptangebot wird sich als kognitivistische Fehldeutung erweisen, mit unzureichendem Repertoire für die digitally embedded actors und die neuen market designs. Die Moral, die in diesen Märkten flottiert, ist kein ethisches Konstrukt. Sondern eine Zeichen-Nutzung und -verwendung, die die Ansprechbarkeit erhöht (vgl. bereits Hutter 1998: on the consumption of signs), ohne daraus ethisch wirksames Verhalten zu generieren. Indem man die moralisch kommunizierten Produkte kauft, kann man sich bereits als moral man simulieren. Die Märkte operieren mit moralischen Anspielungen, auf den Spuren moralischer Ressourcen, ohne ein moral behaviour zu fördern. Wir haben es – um Bruno Latour abzuwandeln – mit einem Internet der Dinge zu tun, in dem die Objekte die Moral scheinbar bereits enthalten. Man muss sie lediglich kaufen.

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Moral als Marktversagen

A. Einleitung Clark und Lee postulieren, dass Moralvorstellungen mitunter zur Befürwortung effizienzhemmender Politiken führen. 1 In diesem Kurzbeitrag wollen wir diese These aufgreifen und weiter pointieren. Kann deskriptive Moral, d. h. Moral als soziale Tatsache 2 auch auf direktem Wege ein Störfaktor am Markt sein? Kurz, kann Moral zu einem Marktversagen führen? Zu Beginn der Untersuchung stehen einige unvermeidliche Klärungen zum Marktversagenparadigma an. Danach erörtern wir einige Beiträge kommunitarischer Couleur, die nutzbringende Listen von Gütern aufgestellt haben, deren Handel aus moralischen Gründen blockiert ist. Insbesondere aufgrund der affirmativen Züge dieser Studien wird anschließend eine Gegenüberstellung von positiven und negativen Kontexten nötig sein, in denen Moral Marktergebnisse beeinflusst. Dabei wird sich zeigen, dass eine Kleingruppenmoral, die sich einseitig an deontologischen Ethiken orientiert, am Markt Zündstoff bergen kann. Eine Moralkritik kann dadurch nicht ausbleiben.

B.

Wann versagt der Markt?

Marktversagen – das klingt suggestiv, tendenziös, reißerisch. Dazu: Kann der Markt eigentlich versagen? Der Markt kann sich selbst kaum herbeigeführt oder gestaltet haben, sodass es irreführend ist, ihm ein Versagen vorzuwerfen – so, wie ein Markt gelegentlichen Vgl. CL-4. Genau genommen verstehe ich darunter gemäß Kambartel (2004; S. 932, H. i. O.) jene »Handlungsregeln und Ziele …, die in einer Gruppe oder Gesellschaft faktisch handlungsleitend und verbindlich« sind.

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anthropomorphen Zuschreibungen zum Trotz auch nicht verteilen, belohnen oder bestrafen kann. Gewiss ist das Marktversagen schon deshalb ein unglücklich gewählter Begriff für das, was der Wohlfahrtsökonom einst griffig zu benennen bezweckte, nämlich paretoineffiziente Allokationen am Markt. 3 Nun sind vollkommene Märkte im Sinne der neoklassischen Gleichgewichtstheorie, wie sie im Textbuch stehen, empirisch die Ausnahme – und Marktversagen nach dieser Definition allgegenwärtig. Eingedenk insbesondere des beim Marktversagen gelegentlich mitschwingenden Verlangens nach Staatseingriffen – das in diesem Kontext wohl zuerst Arthur Pigou aussprach 4 – scheint mir das jedoch eine zu weite Begriffsbestimmung zu sein. Statt einer Abweichung von einem utopischen Modellergebnis schlug Ronald Coase daher eine von der Empirie ausgehende Möglichkeit der marginalen Wohlfahrtssteigerung als Ausgangspunkt vor. Eine Änderung der Marktspielregeln sei nur dann vertretbar, wenn die dadurch zu erwartende neue Situation besser sei als der Status quo. 5 Versperren Transaktionskosten ein Tauschgeschäft am Markt, muss das den Staat aber noch nicht zwingend ins Spiel bringen, denn auch die Hierarchie von Unternehmen kann mit ihren besonderen Anweisungsbefugnissen einen Tausch koordinieren. Wenn aber ausschließlich »ein »freies« Wirken der Marktkräfte ohne entsprechende hoheitliche Eingriffe zu schlechteren Ergebnissen führt als mit diesen Eingriffen« 6, dann erscheint der Begriff des Marktversagens 7 angemessen. Indes, eine zielführende staatliche Intervention in das Marktgeschehen muss keineswegs ein notwendiger Indikator für ein Marktversagen sein. Konsultieren wir noch einmal Coase: »All solutions have costs and there is no reason to suppose that government regulation is called for simply because the problem is not well handled by the market or the firm.« 8 Bisweilen stellt sich am freien Markt also ein wenig zufriedenstellendes Ergebnis ein, das auch staatliche Koordination nicht zu verbessern verspricht. Nun Vgl. Bator (1958; 351 f.). Vgl. etwa Pigou (1932; S. 129 f.). 5 Coase (1960; S. 43). 6 Fritsch (2014; S. 14). 7 Übrigens hält eine ganze Reihe namhafter Ökonomen Transaktionskosten(-probleme) für das allgemeinere Phänomen, das das Marktversagen auslöst. Vgl. einführend Arrow (1969; 1983) und Williamson (1971). 8 Coase (1960; S. 18). 3 4

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Moral als Marktversagen

kann ein Marktergebnis aus einer bunten Vielfalt an Gründen als unerwünscht eingestuft werden; uns soll nachfolgend aber nur ein Grund interessieren. Ein Marktergebnis wollen wir dann als unerwünscht bezeichnen bzw. soll uns dann als Indikator eines Marktversagens dienen, wenn ein Marktteilnehmer mit seiner individuellen Handlung am Markt ein Ergebnis erzielt, das er selbst, gemessen an den Normen seiner eigenen Handlungsabsicht, als unmoralisch bezeichnen dürfte.

C. Blockierte Tauschgeschäfte Was ist bisher über das Störungspotential der Moral geschrieben worden? Die Literatur zu Marktversagen und Transaktionskosten, die inzwischen Bibliotheken füllt, beleuchtet in der Regel die gegenteilige These. Kenneth Arrow etwa interpretiert Ethik- und Moralkodizes als gesellschaftliche Reaktion auf Marktversagen. 9 Diese Deutung hat natürlich durchaus ihre Berechtigung und Plausibilität. Solche Institutionen schaffen Vertrauen, Planungssicherheit. Genuin moralische Akteure missbrauchen ihre Marktmacht nicht, nutzen Informationsasymmetrien nicht aus, verursachen wenig negative Externalitäten, und so weiter. Floriert die Moral, bleiben Transaktionskosten niedrig. Das gilt allerdings längst nicht für den Tausch aller wirtschaftlichen Güter. Ja, ganze Kataloge von Gütern sind angefertigt worden, deren Tauschgeschäfte aus moralischen Gründen blockiert sind. Wenn ich es richtig überschaue, war Arthur Okun der erste, der sich an eine solche Liste heranwagte. 10 Naturgemäß ist laut Okun eine Reihe von politischen Rechten nicht für den Marktplatz bestimmt, obschon jeder fortgeschrittene Student der Ökonomik zu zeigen in der Lage wäre, dass etwa der freiwillige Stimmrechtshandel den Nutzen sowohl von Verkäufern als auch von Käufern erhöhen könnte. 11 Ferner sei Sklaverei selbstredend verboten, wie auch aus Verzweiflung getätigte Geschäfte des letzten Auswegs moralisch nicht geduldet würden. 12 Auch eine Art Überlebensrecht will Okun erkannt haArrow (1969, 1983; S. 151). Vgl. Okun (1975; S. 1–26). 11 Okun (1975; S. 4, 9). 12 Okun (1975; S. 15 f., 19 ff.). 9

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ben: »I do not know anyone today who would disagree, in principle, that every person […] should receive medical care and food in the face of serious illness or malnutrition.« 13 Ein ähnlicher Beitrag wie der Okuns stammt aus der Feder Michael Walzers, dem vom Menschen bis zur Ehe, von politischen Ämtern bis hin zu Freundschaft und Liebe 14 Güter eingefallen sind, die er zu den blockierten Tauschgeschäften zählt, weil die Moral einen Tausch nicht zulässt. 14 Diese und ähnliche Ansätze – und dazu sind auch die Kasuistiken von Amitai Etzioni 15 oder Michael Sandel 16 zu zählen – sind unterhaltsam, aber sowohl aus deskriptiven als auch aus normativen Gründen wenig ergiebig. Nicht zu übersehen ist zunächst, dass der Geltungsbereich der betreffenden Güter relativ zu Ort und Zeit ist – wie jede Moral ihren Skopus hat. Die Autoren nennen moralische Grenzen des Markts, wie sie zur Zeit der Erstauflage der jeweiligen Texte in den USA vorzufinden gewesen sein mögen. Dass niemand dieser Autoren, sagen wir, Schusswaffen oder ökologisch bedenkliche Güter nennt, ist demnach nachvollziehbar, macht aber jede Übertragung auf hiesige Verhältnisse obsolet. Relevante und aktuelle Daten müssten demnach regelmäßig und an verschiedenen Orten erhoben werden. 17 Sollen die Ergebnisse auch belastbar sein, sind darüber hinaus Methoden vonnöten, die Mutmaßungen und Spekulationen ausschließen – denn daran vergreifen sich die Autoren bisweilen. Erlauben wir uns einige Vorüberlegungen zur Bildung von Hypothesen zur deskriptiven Moral in einem Staat – und sei es nur als erste Richtschnur für diese Suche nach Gütern, die aufgrund bestehender Moralvorstellungen ein Marktversagen auslösen könnten. Mir fallen sieben Indizien ein, anhand deren sich Arbeitshypothesen aufstellen ließen: 1. Ein Gut ist ein Recht. Was ein Recht ist, sollte per definitionem gleich verteilt sein und nicht verkauft oder erworben werden können. 18

Okun (1975; S. 118 f.). Vgl. Walzer (1983; S. 100–103). 15 Vgl. Etzioni (1988; S. 77–83). 16 Vgl. Sandel (2012). 17 Dieses Vorgehen berücksichtigt übrigens auch, dass Moral immer in Relation zu Macht zu denken ist, und dadurch dynamischer, unstetiger und instabiler Natur ist. 18 Walzer (1983; S. 100). 13 14

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2. Es ist kraft Gesetz verboten, mit einem Gut zu handeln, oder der Handel eines Guts ist so stark reguliert, dass der Kauf und Verkauf des Guts effektiv blockiert ist. 3. Ein Gut wird nur im Verborgenen getauscht. Würden dadurch moralische Tabus missachtet, so Walzer, wüssten Verkäufer und Käufer, dass der Tausch eigentlich nicht rechtens sei: Klammheimlich verdeckten sie ihre Machenschaften mit Lügen. Ferner heißt es: »When people sneak across the boundary of the sphere of money, they advertise the existence of the boundary. It’s there, roughly at the point where they begin to hide and dissemble.« 19 4. Es herrscht – gemessen an öffentlichen Stellungnahmen, Studien, Wahlergebnissen, Umfragen und dergleichen mehr – unter verschiedenen, gesellschaftlich relevanten (politischen, kulturellen, religiösen …) Gruppen eine weitgehende Einigkeit darüber, dass ein Gut nicht käuflich sein sollte. 5. Menschen handeln erkennbar mit dem Ziel, eine moralische Grenze des Marktes zu verteidigen, wobei die Handlung über ein bloßes Empören oder über die individuelle Kundgabe der Meinung hinausgeht und erhebliche Opportunitätskosten in Kauf genommen werden. 6. Ökonomische Experimente weisen auf moralische Grenzen des Markts hin. 7. Ein Gut wird schlechterdings empirisch nicht getauscht.

D. Der Nutzen der Moral Es bleibt uns noch die normative Komponente bisheriger Untersuchungen nach moralisch sensiblen Gütern zu problematisieren. Die Sammlungen erwähnen nur besonders starke, augenscheinlich unstrittige Grenzen und berücksichtigen keine Güter, die aufgrund der Moral zwar hohe Transaktionskosten aufweisen, aber durchaus noch getauscht werden. Das hängt ganz wesentlich mit dem theoretischen Unterbau der Argumentationen zusammen, der affirmativen Zwecken dienen soll. Ziel der Untersuchungen ist es nämlich, dem Markt, dem ökonomischen Imperialismus, dem neoliberalen Denken, der Kommerzialisierung der Gesellschaft und dergleichen mehr Einhalt zu gebieten. Bestehende Grenzen des Markts bestätigen die Au19

Walzer (1983; S. 97 f.).

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toren deshalb dankbar. Das ist nicht nur deskriptiv dürftig, sondern auch normativ fragwürdig. Es klingt widersprüchlich, doch längst nicht immer ist eine Moral, die einen effizienten Markt verhindert, auch moralisch geboten. Natürlich, häufig ist eine Konservierung der Wirkung der Moral am Markt angebracht. Wir wollen das nicht nur der Vollständigkeit halber betonen: Moral kann den Tausch von Gütern am Markt blockieren und dadurch ein überaus erwünschtes Ergebnis erzielen. Wenn die Kosten des Tausches seinen Nutzen übersteigen, entspricht der Nicht-Tausch schlicht den Präferenzen und Interessen der Marktteilnehmer. 20 Beispiele solcher Güter gibt es zuhauf. So dürfte der Umsatz von Schweinefleisch in jüdischen Gemeinschaften vergleichsweise niedrig sein. Oder denken wir an grün-progressive Milieus, in denen, falls Anspruch und Realität sich decken sollten, kaum jemand rasante Sportwagen fährt – aus moralischen Gründen. Nicht zu vergessen sind außerdem die demeritorischen Güter, die durchaus potentielle Abnehmer hätten, aber nicht zum Verkauf stehen, da eine breite Mehrheit das zu verhindern wünscht. Politische Rechte gehören dazu – Wählerstimmen dürften besonders begehrt sein –, aber vielleicht auch Okuns Tauschgeschäfte des letzten Auswegs. Wenn Menschen ihr letztes Hemd veräußern müssen, um Geschäfte des täglichen Bedarfs zu finanzieren, dann entfacht das moralische Bedenken. Wir dürfen staatliche und private Sozialprogramme als Versuch verstehen, diese Geschäfte des letzten Auswegs zu minimieren. Unter welchen Umständen geht diese Rechnung der fruchtbaren Reziprozität von Markt und Moral nicht auf? Um die Wechselwirkung von Markt und Moral nachvollziehen zu können, die einerseits sehr gewinnbringend sein kann, andererseits aber, wie zu zeigen ist, auch in ein Marktversagen münden kann, wollen wir den Markt für menschliches Blut betrachten. Dieser Markt eignet sich gut zur Illustration unseres Arguments, weil umstritten ist, ob die Moral sich positiv oder negativ auf den Markt auswirkt. Es bietet sich also an, beide Deutungen der Moral durchzuspielen und zu vergleichen. Nicht zuletzt ist an diesem Markt auch leicht ersichtlich, welches Ergebnis erwünscht ist: ein möglichst hohes Spendenaufkommen. Als Ausgangslage dient uns ein paradox anmutendes Phänomen, auf das Ökonomen immer wieder hingewiesen haben: Mancherorts spenden

20

Fritsch (2014; S. 289 f.). Vgl. auch Arrow (1969, 1983; S. 148).

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Menschen seltener Blut, sobald sie für ihre Spende Geld erhalten 21 – eine Beobachtung, die wir unseres Arguments wegen für bare Münze halten wollen. Die erste – nennen wir sie die positive – Deutung besagt, dass die Moralität oder die Tugend, die man einer ehrenamtlichen, vorgeblich altruistisch motivierten Spende gemeinhin zuschreibt, Teil des Nutzens ist, der mit der Handlung einhergeht. Dafür kann es viele Gründe geben. Der Spender, der sein Blut unentgeltlich bereitstellt, weiß etwa, dass er »etwas Gutes« getan hat, bestätigt sein Selbstbild als moralisches Subjekt oder ist sich eines sozialen Zuspruchs gewiss. 22 Doch ganz gleich, ob Personen intrinsisch oder extrinsisch motiviert sind: Die Spende für Geld hätte in beiden Fällen einen Beckerschen »shadow price« 23, der den Nutzen des Geldbetrags übersteigt. In der Folge entsteht eine kurzweilige Ineffizienz, aber noch kein Marktversagen. Der Schlüssel zur erwünschten Effizienz ist nämlich keineswegs eine hoheitliche Intervention, sondern eine Entschädigung, die höher ist als der Schattenpreis für die moralische Handlung. Trifft die Deutung zu, dann gehören finanzielle Anreize bei der Blutspende nicht abgeschafft, sondern müssen wohlüberlegt gesetzt sein. »Zahle genug oder zahle erst gar nicht« empfehlen deshalb Uri Gneezy und Aldo Rustichini. 24 Welcher Preis sich als richtig erweist, ergibt sich alsbald im Wettbewerb. Kurzum, es liegt nur ein scheinbares Marktversagen vor.

E.

Moralkritik: Das Störungspotential der Moral

Analysieren wir den gleichen Markt anhand eines zweiten, negativen Interpretationsansatzes, der auf Sandel 25 zurückgeht. Nach dieser Deutung halten Menschen es für unmoralisch, für eine Handlung Geld zu nehmen, die sie selbstverständlich als ehrenamtlich, als Bürgerpflicht wahrnehmen. Finanzielle Anreize, ganz gleich, wie hoch Vgl. etwa Titmuss (1970) oder Seabright (2004). Nehmen wir an, dass der Spender trotz eines Markts für Blut noch immer unentgeltlich spenden kann, dürfte der dritte Punkt empirisch am schwersten wiegen, da der ehrenamtliche Blutspender weniger oder gar nicht mehr sichtbar in Erscheinung tritt. 23 Becker (1976; S. 6 f.). 24 Gneezy und Rustichini (2000). 25 Sandel (2012; S. 113–120). 21 22

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sie sind, können diesen Verlust nicht kompensieren, denn die Bürgerpflicht kann nicht mehr erfüllt werden. Mehr noch, richtig betrachtet missachten sie die Essenz der Blutspende, verschmutzen sie sie gewissermaßen. Wenn Menschen also nach der Einführung von Zahlungen für Blut vermehrt auf Spenden verzichten, dann zeigt sich darin eine grundsätzliche Inkompatibilität von Geld und Blut. Anders ausgedrückt: Der Markt ist ein ungeeigneter Allokationsmechanismus für Blut, der aus moralischen Gründen versagt. Aus dem einfachen Grund, dass niemand Blutspender dazu zwingt, eine Aufwandsentschädigung entgegenzunehmen, sodass sie nichts davon abhält, ihrer Bürgerpflicht Folge zu leisten, mag diese Deutung wenig plausibel erscheinen. 26 Führen wir unseren Gedankengang trotzdem noch für einen Augenblick fort und fragen wir uns, welche Ethik sich hinter der geschilderten Moral verbergen könnte. Was ist das für eine Ethik, die ein geringeres Spendenaufkommen verantwortet? Sie ist in erster Linie deontologisch, d. h. sie bewertet Handlungen nicht oder nicht vorrangig nach deren Konsequenzen. Offensichtlich hält diese Ethik den Handlungserfolg – denn dieser ist verheerend – zumindest für weniger wichtig als die Gesinnung, die Handlungsabsicht des Akteurs. Motivierend könnte, klassisch tugendethisch, der Verstoß gegen die Bürgerpflicht wirken. In einer etwas anderen, die Pflichtethik aber keineswegs ausschließenden Sichtweise könnte die Ethik auch eine Prinzipienethik sein; das Prinzip, dem die Blutspender gehorchen, lautet dann etwa »Ziehe keinen Profit aus der Not anderer!«. Ob Pflicht- oder Prinzipienethik – abstrahieren wir von jeglichen Konsequenzen am Markt, dann ist die Handlungsabsicht der Menschen, die nicht länger Blut spenden möchten, in Alltagsbeziehungen zwischen Menschen, die nah verbunden sind, gut vertretbar. In der Tat dürfte es den meisten Menschen grob unangebracht erscheinen, notleidende Freunde, Familienmitglieder oder Nachbarn für eine Blutspende zur Kasse zu bitten. Das zeigt, dass die Ethik, von der wir reden, als Kleingruppenmoral, als hayekanisches Regelwerk des sozialen Mikrokosmos Anwendung finden kann. Fraglich ist aber, ob es in unserem Fallbeispiel denn erlaubt sein kann, die Konsequenzen, die sich am Markt einstellen, zu ignorieren. Spitzen wir

Es sei denn, die potentiellen Blutspender bezwecken mit ihrem Verhalten die Verteidigung moralischer Grenzen. Vgl. Punkt 5 in unserer Liste auf S. 173.

26

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die Frage zu: Dürfen Marktteilnehmer auf jede ökonomische Rationalität und Weitsicht verzichten, um vorgeblich gute Handlungsabsichten zu schützen? Wie in einem inversen Mandeville-Paradoxon führt das individuelle »gute« Verhalten der Marktteilnehmer – drücken wir es drastisch aus – linea recta zu potentiell lebensbedrohlichen Versorgungsengpässen in den Krankenhäusern. Es mutet verantwortungslos an, sich vor dieser Aussicht nicht an einem Verstoß gegen Gebote der Kleingruppenmoral die Hände schmutzig machen zu wollen. Von ihr abzuweichen wäre das doch offenkundig kleinere Übel. Je nach Wissen um die Situation bzw. je nach Ausprägung des Vorsatzes, mit dem die Akteure die Konsequenzen ihrer Handlung mehr oder minder billigend in Kauf nehmen, ist auch die moralische Qualität ihrer Handlungsabsichten zu hinterfragen. Wie bereits betont, mangelt es Sandels Interpretation des Markts für Blut an Plausibilität, sodass ein von Moral ausgelöstes Versagen des Markts für Blut glücklicherweise unwahrscheinlich ist. Nichts anderes erzählt uns natürlich auch die übliche Zahlungspraxis in den meisten Blutspendediensten. An anderen Märkten hat die Moral allerdings reale Störungspotentiale, und zwar in ganz ähnlicher Manier wie in unserem Gedankenexperiment zum Markt für Blut. Denken wir an die mannigfaltigen Forderungen nach höheren betrieblichen Sozialstandards in der Dritten Welt. Konkret könnte sich ein Konsument hierzulande etwa – einem eurozentristischem Bias zum Trotz dürfen wir getrost festhalten: mit Recht – über die niedrigen betrieblichen Sozialstandards in bangladeschischen Nähfabriken empören. Dem Konsumenten könnte es moralisch geboten erscheinen, folglich auf den Konsum dort hergestellter Textilien zu verzichten – wieder nach dem Motto, keinen Profit aus der Not anderer ziehen zu wollen. Ein anderer Weg wäre, die Empörung auf politischem Wege, über Parteien, Bürgerinitiativen oder NGOs zu artikulieren. Die Folge dieses gut gemeinten Engagements ist immer die gleiche. Entweder muss der bangladeschische Näher leidsam zusehen, wie die hohen Standards die monetäre Komponente seines Lohns ersetzen, oder die hohen Standards erhöhen den Preis der Textilien und entpuppen sich als beste Voraussetzung für Arbeitslosigkeit. Die nicht intendierte Folge des moralischen Konsums ist also ein überaus verdrießlicher Zustand, der mit der Handlungsabsicht des Akteurs geradezu im Widerspruch steht. Die zugrundeliegende Ethik verkennt, dass nur Produktivitätssteigerungen eine marktkonforme Anhebung von Sozialstandards in Aussicht stellen. Diese bleiben jedoch 177 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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aus, wenn Firmen den Anschluss an Markt und Wettbewerb verlieren. 27 Ein anderes in jüngster Zeit kontrovers diskutiertes Beispiel ist die Agrarspekulation, von der wir mit den nötigen Verkürzungen festhalten können, dass die öffentliche Meinung sie für unmoralisch hält, obwohl der aktuelle Erkenntnisstand über die Konsequenzen dieser Praxis solche Pauschalurteile nicht zulässt. Eine verengte Kritik der Terminmärkte verkennt gleichwohl die realwirtschaftlichen Ursachen von Hungersnöten, die dadurch bestehen bleiben. Dazu: Eine der wesentlichen Meriten der Agrarspekulation ist ihre Fähigkeit, die Knappheit von Nahrungsmitteln früh anzuzeigen. Mit der durch den öffentlichen Druck hervorgerufenen Abnahme von Akteuren an den Terminmärkten dürfte es jedoch in der Tendenz immer schwieriger werden, dieses Versprechen einzulösen. Die deskriptive Moral erschwert den Handel der Produkte und Dienstleistungen, die wir bisher besprochen haben, sichtbar. Die weitaus größte Gruppe von Gütern, auf die dieser Mechanismus Einfluss hat, entzieht sich jedoch unserer Aufmerksamkeit, weil deren Märkte schlechterdings nicht oder nur im Verborgenen existieren. Der Handel vieler dieser Güter – Sterbehilfe, Drogen, Leihmutterschaften uvm. – ist wohl aus anderen, wenn auch ebenfalls moralischen Gründen eingeschränkt. Eine eklatante Ausnahme dieser Regel liegt aber auf der Hand: der Handel mit menschlichen Organen. Obzwar jeder erkennt, dass der Mangel an Organspenden bittere Folgen hat, käme kein rationaler Politiker 28 auf die Idee, für einen Organmarkt zu plädieren. Das gilt natürlich für den freien, aber wohl auch für einen penibel durchregulierten Organmarkt, der verzweifelte oder unfreiwillige Verkäufe zu minimieren versucht, wenig kaufkräftigen Patienten finanziell unter die Arme greift und darüber hinaus noch andere Vorkehrungen trifft, um den gängigen Moralvorstellungen gerecht zu werden. Deshalb ist eine Linderung der Allokationsprobleme kurzfristig nicht über eine Einführung finanzieller Anreizstrukturen zu erwarten. Erfreulicherweise gibt es weitere Optionen. Denkbar wäre es etwa, Bürger standardmäßig als Organspender zu registrieren, damit die Streichung von den Spenderlisten eine Aktivität verlangt und nicht, wie derzeit, die Registrierung. Das ist keine Pies (2013; insbes. S. 2, S. 5 f., S. 8). Übrigens auch kein rationaler Politik- und, so vermute ich, Wirtschaftswissenschaftler.

27 28

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sonderlich liberale, aber eine kostengünstige und vielleicht wirksame Lösung. Die Kleingruppenmoral kann am Markt also sehr unterschiedlich zu bewertende Folgen haben. An ihr bemängeln Clark und Lee, dass sie nur verschwindend geringen Wirkungsbereich haben könne. Zudem sei sie dem Markt als System der Informationserhebung unterlegen. 29 Wir können dem einen dritten Grund hinzufügen. Eine Kleingruppenmoral, die die Konsequenzen von Handlungen am Markt nicht einkalkuliert, kann schwerwiegende Marktversagen verursachen. Auf seine guten Absichten allein kann der Marktteilnehmer sich nicht verlassen.

F.

Literaturverzeichnis

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29

Vgl. CL-26 f.

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Stefan Hielscher

Unternehmen als Governance-Entrepreneure: Die politische Rolle moderner Unternehmen im Kontext der kommerziellen und der industriellen Revolution Der Beitrag von Clark und Lee zielt darauf ab, über die moralische Qualität der Marktwirtschaft aufzuklären. Ihrer Argumentation liegen zwei Thesen zugrunde: Die Autoren vertreten die Auffassung, dass Märkte und die auf ihnen agierenden eigeninteressierten Akteure in vielen Fällen besser in der Lage sind, moralische Anliegen der Gesellschaft zu verwirklichen, als eine konventionelle »Helfermoral«, die Hilfe für Bedürftige rein solidarisch motiviert zu Verfügung stellt. Die Autoren verknüpfen diese erste These mit einer zweiten These. Sie besagt, dass die Helfermoral nicht sensibel dafür ist, die moralische Qualität von Märkten angemessen zu würdigen, und dass sie dazu verleitet, der altruistischen Solidarität eine höhere moralische Qualität zuzuweisen als der Solidarität in Märkten. Aus diesem Grund führen die Autoren eine Leitunterscheidung zwischen der Helfermoral und einer »Marktmoral« ein, die in die Lage versetzt, auch jene Formen nicht-intendierter Hilfe mit moralischen Kategorien erfassen zu können, welche Bedürftige durch die anonymen Mechanismen des Marktes erfahren. Clark und Lee leisten auf diese Weise einen Beitrag zur Aufklärung von Moralvorstellungen: Sie tragen dazu bei, dass über die Marktwirtschaft differenziertere moralische Urteile gefällt werden können. Diese Argumentation wirft freilich eine Reihe Fragen auf. So wäre es durchaus interessant und aufschlussreich darüber nachzudenken, inwiefern das Projekt von Clark und Lee aus theoriestrategischer oder auch aus sozialpsychologischer Sicht erfolgversprechend ist. Statt jedoch diese Fragen zu erörtern, wird hier ein Aspekt aus ordnungsethischer Perspektive beleuchtet, der bei Clark und Lee in dieser Form nicht angelegt ist: dass die moralische Qualität der Marktwirtschaft nicht primär in den Märkten selbst, sondern in den Funktionalitätsbedingungen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zu

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Stefan Hielscher

finden ist. 1 Folgt man dieser ordnungsethischen Perspektive, ist die Moral der Marktwirtschaft eng verbunden mit dem Schutz von Eigentumsrechten, der Herstellung von Vertragssicherheit und einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit einschließlich der hierfür erforderlichen Organisationsstrukturen. Obwohl diese Governance-Aufgaben typischerweise dem Staat zugewiesen werden, ist im Zuge der Globalisierung zu beobachten, dass auch andere, nicht-staatliche Akteure wichtige politische Funktionen ausüben. Vor allem Unternehmen übernehmen Governance-Aufgaben und wirken konstruktiv an der Diskussion und Ausgestaltung von Regeln für marktwirtschaftliche Wertschöpfung mit. Dieses Engagement steht in starkem Kontrast zu den gesellschaftlich unerwünschten, weil auf Wettbewerbsbeschränkungen abzielenden politischen Aktivitäten wie Rent Seeking oder Irresponsible Lobbying. Denkt man diesen Gedanken konsequent weiter, dann müsste man – anders als bei Clark und Lee – Unternehmen konsequenterweise eine moralische Qualität nicht nur für ihre Rolle als wirtschaftliche Akteure, sondern gerade auch für ihre politische Rolle bei der Ausgestaltung von Wettbewerbsbedingungen zuweisen. Die Idee dieses Kurzbeitrags besteht darin, die politische Rolle moderner Unternehmen vor dem Hintergrund zweier wichtiger historischer Phasen der Wirtschaftsentwicklung zu reflektieren und zu erörtern: der kommerziellen Revolution des Mittelalters und der industriellen Revolution der Neuzeit. Die zugrunde liegende Idee besteht darin, dass man aus beiden historischen Entwicklungen Erkenntnisse für die moderne gesellschaftliche Rolle von Unternehmen ableiten kann, weil die aktuellen Globalisierungstendenzen im Hinblick auf die unternehmerische Wertschöpfung Merkmale beider historischer Phasen tragen. Zu diesem Zweck wird zunächst im ersten Abschnitt ((1)) ein wichtiges Interaktionsproblem sequentieller Wertschöpfungsprozesse abstrakt vorgestellt, bevor in den darauf folgenden Abschnitten gezeigt wird, wie dieses Problem ((2)) im Fernhandel der Hansekaufleute im Hochmittelalter und ((3)) in der kapitalistischen Massenproduktion im Zuge der Industrialisierung gelöst wird. Abschnitt ((4)) schließlich vergleicht beide Phasen miteinander und zieht daraus Schlussfolgerungen für die politische Rolle von Unternehmen in der modernen Gesellschaft.

1

Zum Ansatz der Ordnungsethik vgl. Homann (2001, 2002) und Pies (2009).

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Unternehmen als Governance-Entrepreneure

((1)) In Wertschöpfungsketten bestehen zwischen den einzelnen Wertschöpfungsstufen prinzipiell ausbeutungsgefährdete Interaktionsbeziehungen: Kunden erwarten, dass sich Unternehmen an das Leistungsversprechen ihres Produktes halten, das sie ursprünglich gegeben haben. Unternehmen müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Zulieferer die Vorprodukte in der vereinbarten Qualität und Zeit liefern. Und Zulieferer erwarten, dass Rohstoffe den Qualitätsansprüchen genügen, die vereinbart wurden. Derartige Wertschöpfungsbeziehungen zeichnen sich typischerweise durch die Gefahr einer einseitigen Ausbeutung aus, die aus ordnungsethischer Sicht als ein einseitiges soziales Dilemma rekonstruiert werden kann. Abbildung 1 verdeutlicht den Sachverhalt. Abgebildet ist ein Akteur B, der vor der Wahl steht, ein gegebenes Leistungsversprechen einzuhalten (e) oder nicht einzuhalten (ne). Ferner abgebildet ist ein weiterer Akteur A. Er steht vor der Wahl, Akteur B zu vertrauen (v) oder nicht zu vertrauen (nv). Die ordinalen Payoffs spiegeln die subjektive Bewertung der beiden Spieler wider. Aus Sicht von B wäre es am besten, wenn A sein Vertrauen honorieren und das gegebene Leistungsversprechen einhalten würde (Strategiekombination I). Am schlechtesten wäre es, getäuscht und ausgebeutet zu werden (Strategiekombination II). Im Vergleich dazu nimmt Strategiekombination III einen mittlere Position ein: Spieler A vertraut Spieler B nicht. Die Wertschöpfungsinteraktion kommt gar nicht erst zustande.

Abb. 1: Ein einseitiges Dilemma zwischen zwei Akteuren einer Wertschöpfungskette

Aus Sicht von B wird die relative Vorteilhaftigkeit anders eingeschätzt. Den höchsten subjektiven Wert erhält Strategiekombination 183 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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II: Spieler B bricht sein Versprechen. Er kommt in den Genuss einer Leistung, ohne die Gegenleistung zu erbringen. Am zweitbesten schneidet Strategiekombination I ab: Akteur B hält sich an sein Versprechen und realisiert seinen Teil des Win-Win-Potentials, das von beiden Partnern erwartet wird. Im Vergleich dazu hat B die geringste Wertschätzung für Strategiekombination III. Wird ihm nicht getraut, meidet sein potentielles Ausbeutungsopfer den Auftrag, und beide Seiten können das Win-Win-Potential ihrer Kooperationsbeziehung nicht freisetzen. Die Gleichgewichtslösung dieses Spiels erhält man, indem man den Strategiebaum von rechts nach links analysiert: Versetzt man sich zunächst in die Situation von B, so sieht man, dass er einen Anreiz hat, sein Versprechen zu brechen (2 � 1). Spieler A antizipiert dieses Verhalten, so dass für ihn Strategiekombination II faktisch aus dem Spiel genommen ist. So reduziert sich die Wahl von A darauf, entweder Vertrauen zu schenken und dann sicher ausgebeutet zu werden oder die Ausbeutungssituation zu vermeiden, indem er sein Vertrauen entzieht und die Beziehung gar nicht erst eingeht. Als Gleichgewicht stellt sich Strategiekombination III ein. Die Kooperationsbeziehung zwischen A und B kommt nicht zustande. Gleichwohl ist diese Situation für beide Parteien unbefriedigend, weil ihnen ein wichtiger Vorteil entgeht. Vergleicht man die Strategiekombinationen II und III, so wird deutlich, dass sich die potentiellen Kooperationspartner in einem sozialen Dilemma befinden: Sie verfehlen eine prinzipiell mögliche wechselseitige Besserstellung und realisieren stattdessen eine pareto-inferiore Lösung. Einen Ausweg aus diesem sozialen Dilemma kann B finden, wenn er sich eine glaubwürdige Bindung auferlegt und auf die Ausbeutungsoption verzichtet. B verzichtet auf Strategiekombination II, die sich ohnehin nicht realisieren lässt, wenn man es mit einem Kooperationspartner zu tun hat, der sich antizipativ auf die Ausbeutungsoption einstellt. Reicht ein Vertrag nicht aus, das eigene Leistungsversprechen glaubwürdig zu machen, lässt sich die fehlende Glaubwürdigkeit dadurch herstellen, dass man dem Interaktionspartner ein Pfand (p) in die Hand gibt, mit dem sich ein Sanktionspotential verbindet. Hierdurch lässt sich der Payoff von B von 2 auf 2-p reduzieren. Ist das Pfand wertvoll genug, so dass 1 � 2-p, ändert dies die Gleichgewichtslösung und überwindet das zugrunde liegende Dilemma. Spieler B hat nun einen Anreiz, sein Versprechen zu halten. Dies antizipiert A und schenkt B sein Vertrauen, so dass die Wertschöpfungsbeziehung zustande kommt. Beide Parteien verbessern 184 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Unternehmen als Governance-Entrepreneure

sich von 0,0 zu 1,1. Im Vergleich zur Ausgangssituation erzielen sie nun ein pareto-superiores Ergebnis. ((2)) Die Deutsche Hanse ist in die Geschichte als ein Händlernetzwerk eingegangen, dem es gelungen ist, im Hochmittelalter einen überaus erfolgreichen überregionalen Fernhandel in Nordeuropa aufzubauen und über Jahrhunderte aufrechtzuerhalten. Gemeinsam mit den oberitalienischen Städterepubliken und anderen bedeutenden Handelsorganisationen ist die Hanse ein Eckpfeiler dessen, was Historiker als »kommerzielle Revolution« Europas bezeichnen. 2 Ihr wesentlicher Meilenstein ist der Übergang vom Wanderhandel umherziehender Händler zum Auftragshandel sesshafter Kaufleute. Der Vorteil des Auftragshandels besteht im Nutzen von Arbeitsteilung: Kaufleute müssen nicht mehr selbst mit ihrer Ware auf Reise gehen, sondern können Handelspartner als Agenten beauftragen, in ihrem Namen Geschäfte in den Zielmärkten abzuschließen. Dadurch entstehen freie Ressourcen, die in die Ausweitung gewinnbringenden Handels investiert werden können. Der Nachteil besteht in den hohen Governance-Kosten, die aufgewendet werden müssen, um die potentiell ausbeutungsgefährdete Auftragsbeziehung zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Die zugrunde liegende Interaktionsbeziehung entspricht einem einseitigen sozialen Dilemma zwischen Auftraggeber (A) und Agent (B) (Abbildung 1). Zur Illustration betrachte man ein typisches hansisches Auftragsgeschäft: den Salz- und Heringshandel eines Lübecker Kaufmanns zwischen Lüneburg und dem damals dänischen Schonen im heutigen Schweden. Der Lübecker Kaufmann (A) kauft bei einem Lüneburger Kunden Salz an und beauftragt einen Handelspartner (B), das Salz per Schiff über Lübeck nach Dänemark zu bringen, um es auf den schonischen Messen zu veräußern. Die dortigen Fischhändler erwerben das Salz und verarbeiten damit die Ostseeheringe zu Salzheringen. Der Handelspartner des Lübecker Kaufmanns wiederum kauft die begehrte Dauerware, verschifft sie in verschiedene Zielmärkte in Europa und veräußert sie dort im Namen des

Zur Bedeutung der Deutschen Hanse als wichtiges Handelsnetzwerk der kommerziellen Revolution vgl. Dollinger (1966); aus institutionenökonomischer Sicht vgl. insbesondere North (1990), Greif (1992) und (2006; S. 91–123) sowie Greif, Milgrom und Weingast (1994).

2

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Lübecker Kaufmanns. Wie gelingt es dem Lübecker Kaufmann, die in ((1)) beschriebenen Anreizprobleme dieses mehrstufigen Auftragshandels zu überwinden? Welche Governance-Instrumente nutzen Hansekaufleute, damit der Auftragshandel floriert? Die dreigeteilte Antwort (a), (b) und (c) auf diese Fragen zeigt zugleich, dass die Hanse nur deshalb über Jahrhunderte eine erfolgreiche Handelsorganisation darstellte, weil sie politische Aufgaben in ihrem Wertschöpfungsumfeld übernommen hat. (a) Die Deutsche Hanse als Informationsnetzwerk: Der Lübecker Kaufmann ist bemüht, die Ausbeutungsrisiken im Auftragsgeschäft per Selektion zu verringern. Dazu benötigt er verlässliche Informationen über die Vertrauenswürdigkeit – also: die Ehrbarkeit – potentieller Handelspartner. Eine Möglichkeit besteht darin, das Netzwerk von Familie und Freunden zu nutzen und nur mit Kaufleuten Geschäfte einzugehen, mit denen er eine familiäre oder freundschaftliche Beziehung pflegt. In diesem Fall nutzt der Kaufmann das Sanktionspotential der Kleingruppe (Pfand p in Abb. 1), um die Auftragsbeziehung zu stabilisieren. Die Hanse als Städteverbund mit einem funktionierenden Informationsnetzwerk bietet dem Kaufmann eine weitere Möglichkeit, vertrauenswürdige Handelspartner zu finden, weil sie ihm verlässliche Informationen über Reputation eines Kaufmanns zur Verfügung stellt. Jeder Hansekaufmann war daher darum bemüht, einmal gegebene Leistungsversprechen einzuhalten und auf diese Weise eine Reputation als ehrbarer Handelsagent (»Ere«) aufzubauen und aufrechtzuerhalten, damit potentielle Auftraggeber den Glauben (»Geloven«) an seine Ehrbarkeit bewahren. (b) Die Deutsche Hanse als Garant der Wirtschaftsordnung: Der Lübecker Kaufmann kann im Hochmittelalter auf eine Reihe von Governancestrukturen der Hanse zurückgreifen, um Vertragsbeziehungen zu stabilisieren. Diese wirken wie eine unterstützende Sanktion – in Abb. 1 als Pfand p dargestellt –, und ihre Androhung erleichtert die Vertragsdurchsetzung. Dabei spielt die Governance-Struktur der Stadt eine besondere Rolle, weil sich die Hanse als ein Netzwerk von Handelsstädten etabliert. Dort entwickeln die Kaufleute im Mittelalter eine eigene Ordnung des Fernhandels: Sichere Eigentumsrechte, Vertragsrecht, städtische Gerichtsbarkeit und Gendarmerie, aber auch einheitliche Qualitätsstandards, Maße und Gewichte für Waren. Die Besonderheit besteht darin, dass diese Ordnung nicht nur innerhalb einer Hansestadt, sondern innerhalb des gesamten Hanseverbundes und schließlich auch in den gegründeten ausländischen Han186 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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sekontoren gilt, in denen hansisches Recht umgesetzt wird: Wer Verträge im Fernhandel nicht einhält, dem drohen Gericht und Strafverfolgung, etwa durch die hansischen Appellationsgerichte. Im Extremfall kann es gar zur sogenannten »Verhansung« kommen: Dann werden einzelne Kaufleute oder sogar ganze Städte aus der Hanse ausgeschlossen und verlieren alle Vorteile der hansischen Wirtschaftsordnung, wenn sie sich nicht an die vereinbarten Regeln halten. (c) Die Deutsche Hanse als Garant öffentlicher Ordnung: Der Fernauftragshandel des Mittelalters leidet jedoch nicht nur an direkten, sondern auch an indirekten Ausbeutungsrisiken. Als im Zuge des deutschen Interregnums im 13. Jahrhundert die öffentliche Ordnung in Norddeutschland weitgehend zusammenbricht, kommt es auf dem Land- und Seeweg immer wieder zu Überfällen und Plünderungen. Der Hansestädte reagieren darauf mit der Finanzierung und Ausstattung von militärischem Geleitschutz auf den Fernhandelsrouten. Auf militärische Unterstützung durch die Hanse kann sich der hansische Kaufmann schließlich auch im internationalen Fernhandel verlassen: In Auseinandersetzungen um die Aufrechterhaltung von Handelsfreiheit für Hansekaufleute in den ausländischen Kontoren entsendet die Hanse mehrfach erfolgreich militärische Expeditionsflotten, um Handelsrouten und Privilegien zu sichern. ((3)) Die Industrialisierung ist in die Geschichte als eine Zeit des radikalen Umbruchs eingegangen, weil sie nicht nur die Wirtschaftsform, sondern auch die Lebensverhältnisse der Menschen in den westlichen Industrienationen grundlegend verändert hat. Die Träger dieser »industriellen Revolution« waren jedoch nicht die in Händlergilden organisierten Großkaufleute, sondern kapitalistische Großunternehmen. Der wesentliche Meilenstein dieser Entwicklung ist der Übergang von der manufakturellen Einzel- und Kleinserienproduktion hin zur kapitalistischen Massenproduktion. Der Vorteil der kapitalistischen Massenproduktion liegt in einem hohen Grad an Arbeitsteilung und Spezialisierung: Im Gegensatz etwa zur Salzheringsproduktion im Hochmittelalter können im kapitalistischen Großunternehmen nicht nur vergleichsweise einfache Konsumgüter, sondern auch komplexe Investitionsgüter in Massenfertigung hergestellt werden. Allerdings sind bei der Herstellung komplexer Industrieprodukte deutlich mehr und kapitalintensivere Wertschöpfungsstufen bei der Fertigung von Vor- und Zwischenprodukten 187 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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involviert. Außerdem handelt es sich nicht um leicht reproduzierbare Standardprodukte, sondern um hochspezialisierte, für ein bestimmtes Endprodukt zugeschnittene Zulieferkomponenten. Der Nachteil der kapitalistischen Massenproduktion besteht daher auch in den hohen Governance-Kosten, die aufgewendet werden müssen, um die potentiell ausbeutungsgefährdete Austauschbeziehung zwischen den einzelnen, spezialisierten Wertschöpfungsstufen zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Zur Zeit der Industrialisierung sind die Märkte für spezialisierte Vor- und Zwischenprodukte tendenziell schwach; nur wenige Betriebe sind etwa in der Lage, passende Achsen oder Bremsen für den Automobilbau zu produzieren. Ein Automobilhersteller sieht sich daher mit einem Hold-Up-Problem konfrontiert, das den gesamten Wertschöpfungsprozess zu torpedieren droht. 3 Im stark vereinfachten Fall eines zweistufigen Wertschöpfungsprozesses entspricht die zugrunde liegende Interaktionsbeziehung einem einseitigen sozialen Dilemma zwischen einem Hersteller von Hauptkomponenten (A) und einem Hersteller für komplementäre Vorprodukte (B), etwa bei der Automobilproduktion (vgl. Abbildung 1). Das Ausbeutungsproblem besteht in der Verteilung des Gewinns: Aufgrund des schwachen Marktes weiß Eigentümer B, dass Eigentümer A auf keine alternativen Anbieter komplementärer Vorprodukte ausweichen kann. Daher kann B damit drohen, die Maschinenanlage seiner Wertschöpfungsstufe vollständig aus der sequentiellen Gemeinschaftsproduktion mit A zurückzuziehen und die Herstellung des Endproduktes zu vereiteln. Dies verschafft B einen entscheidenden Vorteil bei der Gewinnverteilung, so dass er A auf ein Minimum herunterhandeln kann. Antizipiert ein rationaler A dieses Ausbeutungspotential, wird er die Wertschöpfungsbeziehung mit B gar nicht erst eingehen. Die Produktion kommt nicht zustande. Wie lösen die Vertragspartner dieses Problem einseitiger Ausbeutung, um die gemeinsamen Vorteile der industriellen Massenproduktion zu realisieren? Welche Governance-Strukturen ermöglichen eine Kooperation? Die zweigeteilte Antwort (a) und (b) auf diese Fragen hilft zugleich zu verstehen, warum auch die kapitalistische Massenproduktion eine politische Aufgabe für Unternehmen nach sich ziehen kann.

Zur ökonomischen Analyse des Fabriksystems zur Zeit der Industrialisierung vgl. Leijonhufvud (2007).

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Unternehmen als Governance-Entrepreneure

(a) Zur Lösung dieses Problems ist der Hauptkomponentenhersteller darum bemüht, die Ausbeutungsrisiken in den Interaktionsbeziehungen zwischen den Wertschöpfungsstufen zu verringern. Eine Möglichkeit besteht darin, alleiniger Eigentümer der Maschinenanlagen aller Wertschöpfungsstufen zu werden, deren Produkte nur auf schwachen Märkten gehandelt werden. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die finanziellen Ressourcen der Familie zu nutzen und ein Familienunternehmen zu gründen. Auf diese Weise wird das Sanktionspotential des Familiennetzwerks als Kleingruppe genutzt, um die Wertschöpfungsbeziehungen zu stabilisieren. Im Gegensatz zu den ersten beiden Lösungsoptionen ist die dritte Möglichkeit eine wachstumsorientierte Lösung, der der Kapitalismus auch seinen Namen verdankt: die Gründung der kapitalistischen Firma. In diesem Fall einigen sich die Kapitaleigentümer in einem Akt kollektiver Willensbildung darauf, ein Unternehmen zu gründen und ihr Eigentum an einer Maschinenanlage in Eigentum an Unternehmensanteilen zu überführen. Die Gewinnverteilung erfolgt auf Basis der Höhe des eingebrachten Kapitals. Auf diese Weise wird verhindert, dass ein Kapitalgeber als alleiniger Gesellschafter ein Erpressungspotential in die Hand bekommt, mit dem die Produktion zum Erliegen gebracht werden kann. Die Kapitalgesellschaft löst das Hold-Up-Problem, weil die kapitalistische Unternehmensverfassung das Eigentum des Gesellschafters nicht an einer einzelnen wertschöpfungsrelevanten Maschine, sondern am gesamten Unternehmen festmacht. (b) Die Gründung der kapitalistischen Firma ist ein wesentlicher Bestandteil der marktwirtschaftlichen Wachstums- und Wohlstandsdynamik, die die westlichen Industrieländer seit dem 19. Jahrhundert auf breiter Front kultivieren. Das Charakteristikum der kapitalistischen Firma ist ihre tiefe vertikale Integration, die alle ausbeutungsgefährdeten Wertschöpfungsstufen umfasst. Gleichzeitig zieht diese Wertschöpfungstiefe eine Reihe von Folgerisiken nach sich, die den kapitalistischen Wertschöpfungsprozess gefährden können. Diese Risiken sind jedoch nicht direkt mit der Interaktionsbeziehung zweier Wertschöpfungsstufen verbunden, sondern sie sind eine Begleiterscheinung der kapitalistischen Massenproduktion. Ihre Lösung erfordert Governance-Strukturen, deren Etablierung als politische Aufgabe interpretiert werden kann. Ein besonders prominentes, für die Industrialisierung in Deutschland insgesamt aber keineswegs untypisches Beispiel ist das

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Wohlfahrtsprogramm der Firma Alfried Krupp in Essen. 4 Die Kruppsche Gussstahlproduktion sieht sich im 19. Jahrhundert dem Problem ausgesetzt, dass die hohen Qualitätsansprüche der Kunden mit den verfügbaren, gering qualifizierten Wanderarbeitern nicht befriedigt werden können. Um seine Arbeiter besser zu qualifizieren, bietet Krupp höhere Löhne als die Konkurrenz und baut für seine »Kruppianer« preisgünstige Mietwohnungen, um sie sesshaft zu machen. Außerdem investiert er in eine umfassende Infrastruktur für die Lebensmittelversorgung, die Kinderbetreuung und die Schulausbildung. Hinzu kommt die Einführung einer betrieblichen Renten- und Krankenversicherung als Pflichtversicherung, um Notfälle im Alter und bei Krankheit zu verhindern. Vor allem die mit Hilfe der Krankenversicherung finanzierten ärztlichen und sanitären Einrichtungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung fataler Epidemien, die sich immer wieder im bevölkerungsreichen Essen ausbreiten. ((4)) Vergleicht man die beiden hier kurz skizzierten Phasen der Wirtschaftsentwicklung, dann wird deutlich, dass sowohl die Fernhandelskaufleute des Mittelalters als auch das kapitalistische Großunternehmen Governance-Aufgaben übernehmen, die in vielerlei Hinsicht weit über die rein wirtschaftliche Funktion von Unternehmen hinausgehen und explizit politische Dimensionen umfassen: •



Im Fall der kommerziellen Revolution sind der Aufbau und die Aufrechterhaltung der städtischen Wirtschaftsordnung eine explizit politische Leistung von Kaufleuten. Ein instruktives Beispiel ist die Deutsche Hanse: Fast alle Hansestädte sind Kaufmannsgründungen, in denen Fernhandelskaufleute die städtische Governance-Struktur weitgehend in Eigenregie aufgebaut haben. Die städtische Wirtschaftsordnung mit ihren weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten ist zugleich die Basis für weitere politische Aufgaben, die weit über die Grenzen des Deutschen Reiches hinaus ihre Wirkung entfalten: den Aufbau eines einheitlichen Wirtschaftsraums und die Sicherung der öffentlichen Ordnung auf Fernhandelsrouten. Im Fall der industriellen Revolution ist die Entwicklung der kapitalistischen Firma eine politische Leistung von Industriepionie-

Eine ordnungsethische Analyse des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms findet sich bei Hielscher (2010) sowie bei Hielscher und Beckmann (2009).

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ren. Darüber hinaus lässt sich auch die Lösung vieler sozialer Folgeprobleme der industriellen Massenproduktion als explizit politische Aufgabe charakterisieren. Ein instruktives Beispiel ist das Kruppsche Wohlfahrtsprogramm: Krupp ist Vorreiter der betrieblichen Sozialpolitik und übernimmt politische Aufgaben im Bereich der Seuchenprävention, der Krankheitsbekämpfung und der Bildung. Der Vergleich beider Phasen weist außerdem darauf hin, dass die Art der politischen Rolle von Unternehmen eine Funktion der zugrunde liegenden Wertschöpfung und der Regulierungstätigkeit anderer politischer Akteure ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sich beide Fälle: •



Die mittelalterlichen Fernhandelskaufleute sind keine Produzenten, sondern »Deal-Maker« zwischen den verschiedenen Stufen international weit verzweigter Wertschöpfungsprozesse. Ihre Handelsunternehmen weisen keine vertikale Integration auf, denn die standardisierten Massengüter wie Salz, Tuch, Pelz oder Pech, die die Hansekaufleute über weite Distanzen und über Ländergrenzen hinweg verschifften, wurden auf vergleichsweise starken Märkten gehandelt. Die Hansekaufleute übernehmen angesichts weitgehender Rechtsunsicherheit in Nord- und Osteuropa politische Aufgaben, um die Ordnungsprobleme im Handel zwischen den Produktionsstandorten zu lösen. Die politische Ordnung der verbundenen Hansestädte stellte sicher, dass ihre Händler als ehrbare Kaufleute hohe und allgemeingültige Qualitäts- und Verhaltensstandards einhalten konnten. Diese Art des politischen Engagements bezieht sich im Kern auf die Verlässlichkeit von Handelspartnern und wird primär unter der Kategorie der Ehre behandelt. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Fernhandelskaufleuten integriert die kapitalistische Firma die Wertschöpfungsstufen der Produktion hoch spezialisierter Massengüter in einem Fabriksystem. Das kapitalistische Unternehmen weist eine tiefe vertikale Integration auf, weil die Produkte der einzelnen Wertschöpfungsstufen spezifische Investitionen erfordern, auf schwachen Märkten gehandelt werden und daher für die Produktion eine kritische Bedeutung aufweisen. Vertikal tief integrierte Unternehmen übernehmen politische Aufgaben, um Ordnungsprobleme am Produktionsstandort zu bewältigen, die durch andere po191 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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litische Akteure wie den Staat nicht oder noch nicht in Angriff genommen werden: durch betriebliche Sozialpolitik und Bildungspolitik sowie betriebliche Gesundheits- und Seuchenprävention. Diese Art des politischen Engagements bezieht sich im Kern auf die Produktivität des Standorts – und damit vor allem auf die Arbeiterschaft – und wird primär unter der Kategorie der sozialen Verantwortung von Unternehmen behandelt. Aktuell gehen Ökonomen davon aus, dass die »neue industrielle Revolution« in der globalisierten, modernen Gesellschaft nicht nur die Merkmale der Industrialisierung aufweist, sondern auch die Züge mittelalterlicher Händlerökonomien trägt. 5 Globalisierte Märkte mit drastisch reduzierten Informations- und Transportkosten ermöglichen es, auch hoch komplexe Produktionsprozesse vertikal zu desintegrieren, weil die Vor- und Zwischenprodukte zunehmend auf starken, wettbewerblich strukturierten Märkten gehandelt werden. Neben das traditionelle kapitalistische Großunternehmen treten daher verstärkt auch kleinere, vertikal kaum integrierte Deal-MakerFirmen, die Produktionsprozesse projektorientiert immer wieder neu zusammensetzen, abhängig lediglich vom Preis der auf globalisierten Märkten verfügbaren Komponenten. Aus diesem Grund ist es wohl nicht verwunderlich, dass Unternehmen heute nicht nur soziale Verantwortung übernehmen, sondern auch darum bemüht sind, in ihre Reputation als ehrbare Unternehmen zu investieren. Diese Orientierung spiegelt sich auch in der Breite der politischen Aufgaben wider, die Unternehmen im Zuge der Globalisierung übernehmen: von Ethik-Kodizes, mit deren Hilfe Unternehmen allgemeingültige Verhaltens- und Qualitätsstandards in global vernetzten Wertschöpfungs-prozessen etablieren, bis hin zu globalen Unternehmensinitiativen wie dem UN Global Compact, in denen Unternehmen Orientierung suchen, wie sie mit der Pluralität weltweiter Regulierungsstandards umgehen können. Der Sache nach steht diese Perspektive nicht im Widerspruch zum Beitrag von Clark und Lee, auch wenn die hier diskutierten Aspekte nicht im Fokus der Autoren stehen. Eine Perspektive, welche die Selbstregulierungsaktivitäten der Wirtschaft explizit als politische Aufgabe würdigt und den Unternehmen eine Rolle als politische GoVgl. hierzu Leijonhufvud (2007). Die These, dass es im Zuge der Globalisierung zu einer »new industrial revolution« kommt, wird bereits bei Blinder (2006) diskutiert.

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Unternehmen als Governance-Entrepreneure

vernance-Entrepreneure zuweist, ergänzt vielmehr die etwas einseitige Sichtweise ihres Ansatzes, der sich generell skeptisch zeigt gegenüber den meisten staatlichen Regulierungsbemühungen.

Literatur Blinder, Alan S. (2006): Offshoring: the Next Industrial Revolution?, in: Foreign Affairs 85 (2), S. 113–128. Dollinger, Philippe (1966): Die Hanse, Stuttgart. Greif, Avner (1992): Institutions and International Trade: Lessons from the Commercial Revolution, in: American Economic Review 82, S. 128–133. Greif, Avner (2006): Institutions and the Path to the Modern Economy, Cambridge. Greif, Avner, Robert Milgrom und Barry R. Weingast (1994): Coordination, Commitment, and Enforcement: The Case of the Merchant Guild, in Journal of Political Economy 41, S. 745–776. Hielscher, Stefan (2010): Wie man durch Moral ins »Geschäft« kommt: Ein ordonomischer Beitrag zum betrieblichen Risikomanagement, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 99(2), S. 155–183. Hielscher, Stefan und Markus Beckmann (2009): Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik: Zur Rolle gesellschaftlicher Change Agents am Beispiel des Kruppschen Wohlfahrtsprogramms, in: ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 60, Stuttgart, S. 435–461. Homann, Karl (2001; 2002): Ökonomik: Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln, in: ders: Vorteile und Anreize, hrsg. von Christoph Lütge, Tübingen, S. 243–266. Leijonhufvud, Axel (2007): The Individual, the Market and the Division of Labor in Society, in: Capitalism and Society 2(2), Article 3, S. 1–19. North, Douglass (1990): Institutions, in: Journal of Economic Perspectives 5, S. 97–112. Pies, Ingo (2009): Moral als Heuristik. Ordonomische Schriften zur Wirtschaftsethik, Berlin.

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Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft

Jeff Clark und Dwight Lee gehen in ihrem Artikel »Markt und Moral« der Frage nach, warum viele Teile der Bevölkerung dem Marktsystem skeptisch gegenüberstehen und dabei scheinbar die gesellschaftlich wünschenswerten Vorteile übersehen, die eben dieser Markt hervorbringt. Als Ursache machen sie eine »instinktive Abneigung gegen die moralischen Defizite und die Unmoral [aus], die nach verbreiteter Auffassung den Marktprozess antreiben« (CL-15). Sie erarbeiten ein Plädoyer zugunsten der Marktwirtschaft, das auf einem veränderten Moralverständnis fußen soll – auf einem interessenbasierten statt auf einem selbstlosen Verständnis von Moral. Bei ihrer Argumentation lassen sie jedoch außer Acht, dass ein Gesellschaftsentwurf nicht nur seine grundlegende moralische Überlegenheit im Vergleich zu anderen Gesellschaftsentwürfen auf Papier verteidigen können muss. Er sollte auch praktische Lösungen für nicht-intendierte externe Effekte des Wirtschaftens aufbieten können, über die in der Bevölkerung wachsender Unmut herrscht. Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, Korruption oder Umweltzerstörung sind sichere Zeichen von Marktversagen, für deren Überwindung die Bevölkerung zu Recht Bewältigungsstrategien erwarten darf. Denn: the proof of the pudding is in the eating. Finden sich keine Lösungen für praktisch drängende Fragen, so ist der Ruf nach dem Staat, nach Regulierung und Geißelung des Markts naheliegend. Im Folgenden wird herausgearbeitet, dass Unternehmen selbst eine beträchtliche Rolle spielen können, um Marktskeptikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es wird aufgezeigt, welche moralische Funktion Unternehmen durch professionelles CSR-Management 1 wahrnehmen können, indem sie eben dem Konzept interessenbasierter Moral in der Praxis Ausdruck verleihen. Damit entsteht für Das Kürzel CSR steht für »Corporate Social Responsibility«, die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen.

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Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft

Unternehmen die Möglichkeit, die Übernahme von Unternehmensverantwortung nicht nur als Investition in die Gesellschaft, sondern auch in die eigene Wertschöpfung zu betrachten und somit die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen. Die Argumentation erfolgt in drei Schritten: Zunächst werden Anforderungen an ein komplexes globales System der Marktwirtschaft erarbeitet, dessen Ziel es ist, die Besserstellung jedes Einzelnen im System zu fördern (I.). Sodann wird abgeleitet, welche Verantwortung Unternehmen in einem solchen System intern wie extern tragen, damit der Markt nachhaltig seine Aufgabe des gesellschaftlichen Fortschritts erfüllen kann (II.). Abschließend werden diese Überlegungen übersetzt in praktische Aufgaben für ein CSR-Management, mit dem Unternehmen ihrer Verantwortung systematisch gerecht werden können (III.).

I.

Anforderungen an ein Marktsystem, das im Dienste der Menschen steht

Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse zur moralischen Verantwortung von Unternehmen ist die gleiche Annahme, die Clark und Lee in ihrem Aufsatz »Markt und Moral« propagieren: Die marktwirtschaftliche Ordnung ist das beste bisher bekannte gesellschaftliche Instrument zur individuellen Besserstellung aller. Die Marktwirtschaft ist effizient, schafft Wohlstand und ermöglicht damit Freiheit, zwingt zum sparsamen Umgang mit knappen Ressourcen und belohnt die Generierung neuer Ideen. Sie kann ihre Funktion jedoch nur dann erfüllen, wenn sie eingebettet ist in eine Rahmenordnung, die Marktversagen verhindert und für alle Marktteilnehmer verbindliche Spielregeln festlegt, die den Handlungsrahmen jeder Organisation und jedes Einzelnen definieren. Daraus ergeben sich zwei Grundsätze, die im Folgenden kurz skizziert werden.

i)

Der systematische Ort der Moral von Marktprozessen liegt in der Rahmenordnung.

Wird der Markt nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck verstanden, so kann die Gesellschaft den Markt so einsetzen, wie er ihren normativen Vorstellungen entspricht. Auf der Ebene der Rah195 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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menordnung können für die Marktteilnehmer die Anreize so gestaltet werden, dass gesellschaftlich erwünschtes Handeln honoriert und gesellschaftlich unerwünschtes Handeln sanktioniert wird, sei es durch formale ordnungspolitische Regeln oder durch soziokulturell entstandene Werte und Normen. Der systematische Ort, an dem Moral ins Spiel gebracht, diskutiert und in Frage gestellt wird, ist somit die Rahmenordnung. Dies schließt Moral auf der Handlungsebene nicht aus, aber verdeutlicht, dass die Rahmenordnung die strategische Stellschraube darstellt, um konsensfähigen moralischen Vorstellungen Schlagkraft zu verleihen.

ii)

Es ist gesellschaftlich unklug, von Unternehmen selbstlose Moral zu verlangen.

Im Markt werden Unternehmen aus guten Gründen unter Wettbewerbsdruck gesetzt. Dies dient dazu, Anreize für Preissenkungen, Ressourcenschonung, Produktverbesserungen, technologischen Fortschritt und Innovationen zu setzen. Doch konfrontiert mit ordnungsbedingten Fehlanreizen im Wettbewerb – wie derzeit in der globalen Klimapolitik – kann ein Unternehmen seinen Konkurrenten gegenüber in Nachteil geraten, wenn es der von Clark und Lee kritisierten Idee selbstloser Moral nachkommt und somit Kosten in Kauf nimmt, die vom Markt nicht honoriert werden. Gerade jene Unternehmen, denen die Verwirklichung moralischer Anliegen wichtig ist, geraten durch selbstloses Engagement in Gefahr, mittel- und langfristig vom Wettbewerb aussortiert zu werden. Um diesen Prozess zu verhindern und gleichzeitig jene integren Unternehmen zu unterstützen, ist es gesellschaftlich funktionaler, an der Berücksichtigung der Moral auf Ebene der Rahmenordnung durch kluge Spielregeln zu arbeiten, statt auf der Handlungsebene selbstlose Moral bei den Spielzügen von Unternehmen zu verlangen. Die beiden skizzierten Grundsätze könnten den Schluss nahelegen, dass im System der Marktwirtschaft die Verantwortung von Unternehmen allein darin liegt, geltende Regeln der Rahmenordnung zu befolgen. Im folgenden Absatz wird eine andere Stoßrichtung verfolgt, die Unternehmen eine weitere maßgebliche moralische Verantwortung zuschreibt: Verantwortung für die interne und externe Rahmenordnung, die ihr Wirtschaften definiert. 196 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft

II.

Die Verantwortung von Unternehmen für die Gestaltung und Befolgung von Regeln

»The social responsibility of business is to increase its profits« lautete die Überschrift des aufsehenerregenden Aufsatzes von Milton Friedman im Jahr 1970. 2 Doch tragen Unternehmen neben der Gewinnmaximierung weitere Verantwortung? Dieser Abschnitt geht auf Basis der oben dargelegten Grundsätze der Frage nach, welche Verantwortung Unternehmen – in ihrem eigenen Interesse – für eben jene Regeln tragen, die ihre unternehmerischen Spielzüge kanalisieren. Denn die Rahmenordnung gesellschaftlicher Interaktion ist systematisch immer unvollständig: aus veränderten Sozialstrukturen, wachsenden Interdependenzen, Innovationen oder Krisen erwachsen kontinuierlich neue Chancen und neue Konflikte, die gesellschaftliche Lernprozesse notwendig machen. Klassischerweise wurde diese ordnungspolitische Aufgabe der Politik zugewiesen. Doch ein solches Verständnis von Governance fußt auf der Annahme, dass die Politik das Wissen und die Macht besitzt, Ordnungsprobleme im Alleingang zu lösen. Ohne Zweifel kommt der Politik eine wichtige ordnungspolitische Rolle zu. Doch die wachsende Komplexität von Interaktionen und Wirkungszusammenhängen legt den Schluss nahe, dass in der modernen Gesellschaft kein einzelner Akteur – kein Unternehmen, kein Bürger und selbst kein Staat – die Ausgestaltung einer funktionalen Rahmenordnung allein bewältigen kann. Innovative Lernprozesse zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden zunehmend notwendig. 3 Die Hauptthese dieses Artikels lautet daher: Unternehmen tragen die Verantwortung, Rahmenordnungen für unternehmerisches Handeln weiterzuentwickeln und ihnen Geltung zu verleihen. In der CSR-Fachliteratur wird dies unter dem Begriff »Ordnungsverantwortung« verhandelt. 4 Bei der konzeptionellen Konkretisierung unternehmerischer Ordnungsverantwortung wird im Folgenden zwischen der externen Friedman (1970). Braun (2009; Kapitel 2) rekonstruiert, dass Friedman in seinem Aufsatz davon ausgeht, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vom Staat hinreichend anreizkompatibel gestaltet werden, so dass seine Argumentation einer Theorie unternehmerischer Ordnungsveranwortung nicht entgegensteht. 3 Für eine ausführliche Begründung, warum Governance als gesellschaftlicher Lernprozess statt als Machtkampf anzusehen ist, vgl. Sardison (2009; Kapitel 2) sowie Pies, Beckmann, Hielscher (2011). 4 Vgl. Beckmann und Pies (2008, 2009) sowie Beckmann (2010). 2

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und der internen Perspektive unterschieden, wobei Unternehmen jeweils intern wie extern auf drei Dimensionen Verantwortung zugeschrieben wird: die Verantwortung für die Regelfindung, für die Regelsetzung und für die Regelbefolgung. 5 Die folgende Grafik (Abb. 1) liefert hierzu einen Überblick.

Abb. 1: Dimensionen unternehmerischer Ordnungsverantwortung

Unternehmen tragen zum einen nach außen, in Interaktion mit ihren Stakeholdern, Verantwortung für die gesellschaftliche Ordnung. Zum anderen haben Unternehmen nach innen Verantwortung für die Gestaltung ihrer organisationalen Ordnung: Es ist ihre Aufgabe, die organisatorische Lebenswelt der Mitarbeiter so zu gestalten, dass individuelles moralisches Handeln anreizkompatibel (gemacht) wird. Diese Lebenswelt konstituiert sich aus der Kultur, den formalen Regeln und den Persönlichkeiten (und Instinkten) der Mitarbeiter des Die Dimensionen sind übernommen aus dem ordonomischen Forschungsprogramm von Ingo Pies, der in einem Drei-Ebenen-Schema zwischen Regelfindungsdiskurs, Regelsetzungsprozess und Regelbefolgungsspiel unterscheidet; vgl. Pies (2009; S. 8 ff.).

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Unternehmens. 6 Es liegt also in der Verantwortung des Unternehmens, sowohl die Anreizwirkung der eigenen Institutionen und der informellen Regeln der Unternehmenskultur zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, als auch die Anreizwirkung zu überprüfen, die von einzelnen Persönlichkeitsstrukturen der Mitarbeiter ausgeht. Gegebenenfalls liegt es eben auch in der Verantwortung von Unternehmen, sich von Mitarbeitern, die sich nicht an geltende Regeln halten, zu trennen, da sonst die Gefahr besteht, eine Kultur der Nichtbeachtung von Regeln zu fördern, wodurch die eigenen Institutionen erodieren können. Sowohl für die gesellschaftliche Rahmenordnung als auch für die interne organisationale Rahmenordnung tragen Unternehmen Verantwortung für einen Regelfindungsdiskurs, für einen Regelsetzungsprozess und für die Durchsetzung der Befolgung geltender Regeln. Die Unterscheidung zwischen Regelfindungsdiskurs und Regelsetzungsprozess ist der Erkenntnis geschuldet, dass die Zuschreibung von Ordnungsverantwortung in der Praxis der Reflexion bedarf, denn auch für Unternehmen gilt – wie in Abschnitt I) ausgeführt – der wichtige ethische Grundsatz, wonach Sollen Können voraussetzt. 7 Wenn beispielsweise die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (sowohl kulturelle Gepflogenheiten als auch Gesetze) Korruption begünstigen (wie es auch in Deutschland noch bis vor wenigen Jahren der Fall war), so ist es unrealistisch, die Erwartung an Unternehmen zu adressieren, sie müssten die Regeln für ihre Mitarbeiter so gestalten, dass diese nicht korrumpieren (können). Andernfalls würde man von Unternehmen erwarten, systematisch gegen ihr Eigeninteresse zu verstoßen, also die marktwirtschaftlich kontraproduktive selbstlose Moral einfordern. Aber selbst wenn man Unternehmen auf der Ebene der Regelbefolgung entlastet, so haben sie doch auf der Regelfindungsebene die Verantwortung, sich konstruktiv an gesellschaftlichen Diskursen mit Stakeholdern zu beteiligen, um jene wettbewerblichen Fehlanreize, die sie im Status quo daran hindern, sich moralisch zu verhalten, gemeinsam überwinden zu können. 8 In Anlehnung an Kirschs »Bezugsrahmen zur Differenzierung zwischen Außenund Binnenperspektive eines Unternehmens«; vgl. Kirsch (1996, 1997; S. 36). 7 Pies findet diesen Gedanken bereits im Corpus Iuris Civilis des römischen Rechts: In den Digesten schreibe Aulus Cornelius Celsus um 100 n. Chr.: »Impossibilium nulla obligatio est«; vgl. Spruit (2001; S. 985), zitiert nach Pies (2008, 2009; Fußnote 14, S. 246). 8 Beckmann und Pies (2006; S. 11 ff.) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwi6

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Im Folgenden wird aufgezeigt, wie die Wahrnehmung von Unternehmensverantwortung in der Praxis aussehen kann.

i)

Regelfindungsdiskurs: Stakeholder Engagement und Diskurs

Im Regelfindungsdiskurs geht es für ein Unternehmen darum, responsiv zu sein für Probleme, mit denen es konfrontiert ist, sei es von außen oder von innen. Prozesse für systematisches Stakeholder Engagement, wie der Global Compact der Vereinten Nationen, und Freiräume für interne – auch kritische – Diskurse geben Unternehmen die Möglichkeit, am Puls der Zeit zu sein, d. h. proaktiv agieren und aufklären zu können, anstatt defensiv auf moralische Vorwürfe reagieren zu müssen. Die »Materialitätsanalyse«, bei der konkrete inhaltliche Erwartungen von Mitarbeitern und externen Stakeholdern aufgenommen und auf Basis von potentiellen Auswirkungen auf Wachstum, Kostenstruktur und Reputation analysiert und priorisiert werden, hat sich mittlerweile als geeignetes Instrument für den Start hin zu zielgerichtetem Dialog und Stakeholder Engagement etabliert. Sie kann eine hilfreiche Basis sein für Konsultationen und Partizipationsprozesse, aber auch für Investitionen in die (wissenschaftliche) Erforschung der Wurzeln und möglichen Lösungen von Problemen, mit denen Unternehmen konfrontiert sind.

ii)

Regelsetzungsprozess: Responsible Lobbying und Governance

Bei unvollständigen gesellschaftlichen und unternehmensinternen Rahmenbedingungen tragen (auch) Unternehmen Verantwortung für die Weiterentwicklung verlässlicher Regeln, auf Basis der Inforschen »Steuerungsverantwortung« und »Aufklärungsverantwortung«: Für den Fall, dass ein Unternehmen im Alleingang in der Lage ist, die Ordnung zu verändern, oder für den Fall, dass eine »konditionierte Bindungsbereitschaft« aller anderen besteht, schreiben sie dem Unternehmen auf der Regelsetzungsebene eine »Steuerungsverantwortung« zu. Für den Fall hingegen, dass eine notwendige Kooperationsbereitschaft der anderen unbedingt ist, erweise es sich für das einzelne Unternehmen als lukrativ, die Trittbrettfahrerposition einzunehmen. In diesem Fall könne man vom Unternehmen jedoch nicht erwarten, gegen seine Interessen zu verstoßen. Allerdings schreiben die Autoren den Unternehmen auf der Ebene des Regelfindungsdiskurses dann immer noch eine »Aufklärungsverantwortung« zu, die darauf abzielt, Defizite der Rahmenordnung abzubauen.

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Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft

mationen, die sie im Regelfindungsdiskurs entdecken. Doch um extern der Kritik von Nepotismus und von Hayeks Sorge um eine ›Nebenregierung‹ entgegentreten zu können 9, tun Unternehmen gut daran, ihre Art des Lobbyings zu verändern und eine grundlegende Umstellung vorzunehmen vom Strippenziehen in Hinterzimmern hin zu Responsible Lobbying im Sinne einer transparenten Zusammenarbeit mit Politik und Zivilgesellschaft. 10 Ein Beispiel für die Implementierung innovativer neuer gesellschaftlicher Institutionen ist die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) 11: Zahlungen für Rohstoffexporte aus Afrika betragen im Schnitt fast neunmal mehr, als afrikanische Länder an Entwicklungshilfe erhalten, doch die Bevölkerungen rohstoffreicher Länder sind oft die ärmsten, weil diese Zahlungen aufgrund allgegenwärtiger Korruption nicht bei ihnen ankommen. Dabei könnten die staatlichen Abgaben der Förderunternehmen erheblich zur Entwicklung der Länder beitragen und die Armut der Bevölkerung reduzieren helfen. Aus diesem Grund haben mehrere europäische Regierungen 2003 die EITI gegründet, die von ca. 80 multinationalen Bergbau-, Erdöl- und Erdgasunternehmen, zahlreichen internationalen Organisationen wie der OECD und der Weltbank, Nichtregierungsorganisationen (NGO) und auch der Europäischen Kommission unterstützt wird. Die Initiative folgt einem einfachen Prinzip: die teilnehmenden Länder müssen regelmäßig offenlegen, welche Einnahmen sie von Öl-, Gas- und Bergbauunternehmen erhalten, und die betreffenden Unternehmen müssen unabhängig davon einen Bericht über ihre Zahlungen an die jeweiligen Regierungen veröffentlichen (Publish What You Pay). Die Berichte beider Seiten werden dann von einer unabhängigen Gruppe nationaler Stakeholder abgeglichen und verifiziert. Durch ihre freiwillige Selbstverpflichtung tragen die involvierten Unternehmen nicht nur zu mehr Transparenz im Rohstoffsektor bei, sondern sen-

Es wird an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass Versuche seitens von Unternehmen, sich an der Gestaltung gesellschaftlicher Regeln zu beteiligen, oftmals als Vorstoß interpretiert werden, durch den Einsatz von Macht in Form einer »Nebenregierung« die Durchsetzung von Sonderinteressen zu verfolgen. Vgl. hierzu beispielsweise Beck (2002, 2003), der solche Aktivitäten seitens von Unternehmen als Versuch auffasst, eine Gegenmacht zu Staaten zu bilden. Vgl. auch von Hayek (1976, 1981; S. 195). 10 Vgl. SustainAbility/WWF (2009). 11 Vgl. Internationales EITI-Sekretariat (2013). 9

201 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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den auch ein wichtiges Signal an ressourcenreiche Entwicklungs- und Schwellenländer, um diese im Kampf gegen Korruption zu stärken. Unternehmensintern ist die Corporate Governance von Bedeutung: Das Unternehmen definiert im Rahmen komplexer Organisationsentwicklung, nach welchen Regeln das Unternehmen geleitet wird, angefangen bei der Entwicklung eines gemeinsamen Leitbilds über die Anerkennung etablierter Standards bis hin zur Entwicklung geeigneter Leitungs- und Kontrollstrukturen, die Interessenkonflikte von Mitarbeitern systematisch verhindern.

iii)

Regelbefolgungsspiel: Compliance und Wertemanagement

Liegen extern wie intern verbindliche Regeln vor, so liegt es nicht nur in der rechtlichen, sondern auch in der moralischen Verantwortung von Unternehmen, geeignete Vorkehrungen zur Einhaltung dieser Regeln zu implementieren und in diesem Rahmen den eigenen Gewinn zu maximieren. Die Einhaltung geltender Gesetze wird oft als Compliance bezeichnet. 12 Manchmal kann es für Mitarbeiter im Unternehmen anreizkompatibel sein, sich bei ihren individuellen Spielzügen nicht an die Gesetze zu halten. Dem müssen Unternehmen entgegenwirken. Ihre Aufgabe ist es, zur Vermeidung interner ungewollter Dilemmastrukturen nicht nur formale, sondern auch informelle Regeln zu gestalten und durchzusetzen. Unternehmenskultur und Wertemanagement sind hier die Stichworte. Wertemanagement bedarf jedoch eines langen Atems und einer professionellen Gestaltung organisatorischer Strukturen, um die Werte und Normen nicht nur auf Hochglanzpapier erstrahlen zu lassen, sondern im Alltag Anreize zu setzen, diese Werte und Normen auch zu leben. Kümmert sich ein Unternehmen im Rahmen seiner CSR-Strategie glaubwürdig um Stakeholder Engagement, Dialog, Responsible Lobbying, Corporate Governance, Compliance und Wertemanagement, so steht es vor anspruchsvollen Aufgaben. Bei der Umsetzung reflektierter CSR-Aktivitäten ist immer mit Kritik, Hürden, Interessenkonflikten und Rückschlägen zu rechnen. Aber wohlverstandenes Dieser Verantwortung von Unternehmen steht jedoch komplementär die Kontrollfunktion der Regierung gegenüber, um sicherzustellen, dass nicht diejenigen Unternehmen, die sich an die Gesetze halten, die Dummen sind, während andere Unternehmen sich ungestraft Wettbewerbsvorteile verschaffen.

12

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Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft

CSR als interessenbasierte statt als selbstlose Moral hat das Potential, eine echte Investition nicht nur in die Gesellschaft, sondern in das eigene Kerngeschäft zu sein.

III. Ausblick: Voraussetzungen für professionelles CSRManagement Die gesellschaftlichen Anforderungen an Unternehmen haben sich erhöht: Während ihnen in Zeiten des Wirtschaftswunders lediglich die Aufgabe zugeschrieben wurde, Kunden mit immer besseren und gleichzeitig günstigeren Produkten zu versorgen, wird heute ihre Legitimität gesellschaftlich in Frage gestellt, wenn sie nicht die moralischen Probleme ihres Umfelds lösen. Mit diesen Anforderungen sind Unternehmen häufig überfordert: Oft wissen sie nicht, ob sie die Forderungen als legitim betrachten sollen, und noch viel weniger wissen sie, wie sie ihnen in der Praxis nachkommen sollen, ohne sich selbst systematisch schlechter zu stellen und somit Gefahr zu laufen, (mittel- und langfristig) aus dem (globalen) Wettbewerb auszuscheiden. Im vorliegenden Text wurde ein Verständnis von Unternehmensverantwortung skizziert, das nicht die Entscheidung zwischen Gewinn oder Moral erzwingt, sondern Möglichkeiten aufzeigt, durch CSR-Management die Weichen für eine nachhaltige Gewinnmaximierung zu stellen. Professionelles CSR-Management zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht fallweise und unabhängig vom Kerngeschäft betrieben wird, sondern systematisch und kontinuierlich. Für die systematische Entwicklung und Verankerung von CSR-Strategien zur Regelfindung, Regelsetzung und Regelbefolgung ist es wichtig, Prozesse von einzelnen Mitarbeitern unabhängig zu machen und in einem institutionalisierten Managementsystem aufgehen zu lassen. Damit professionelles CSR-Management Wirkung entfalten kann, bedarf es der Entwicklung spezifischer Kompetenzen. Einige dieser Voraussetzungen können institutionell durch ein sinnvoll konzipiertes und in der Lebenswelt des Unternehmens verankertes Managementsystem erfüllt werden. So kann beispielsweise die notwendige Responsiveness sichergestellt werden, indem das Unternehmen regelmäßig Stakeholderbefragungen durchführt, sich an Stakeholderdialogen beteiligt etc. Für andere Voraussetzungen ist jedoch die Ausbildung spezifischer Kompetenzen von Führungskräften unerlässlich. So müssen ins203 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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besondere die Analyse-, Governance- und Kommunikationskompetenz von Mitarbeitern sichergestellt werden, um moralische Anforderungen konzeptionell aufarbeiten und strukturieren zu können. Clark und Lees Unterscheidung zwischen dem Konzept selbstloser und interessenbasierter Moral ist in dieser Hinsicht eine wichtige theoretische Grundlage für Führungskräfte. Schließlich ist wirksames CSR-Management auch auf gesellschaftliche Unterstützung – und einen damit verbundenen Paradigmawandel – angewiesen. Sowohl Clark und Lee als auch der vorliegende Beitrag heben hervor, dass es nicht nur für Unternehmen, sondern gerade auch für die Gesellschaft unproduktiv ist, den systematischen Verstoß gegen das eigene Interesse zu verlangen. Wird dies gesellschaftlich dennoch verlangt, beispielsweise im Ruf nach Philanthropie und nach der Verteilung von Gewinnen für wohltätige Zwecke, so laufen wir Gefahr, nicht nur die Produktivität von Unternehmen, sondern auch die Leistungskraft der Marktwirtschaft und somit die Chancen auf Besserstellung jedes Einzelnen zu torpedieren. Vision und Werte eines Unternehmens dürfen daher nicht daran gemessen werden, ob sie im Status quo bereits faktisch realisiert sind, sondern daran, ob das Unternehmen Initiative ergreift, den Status quo in Richtung der Werte – zum Wohl sowohl des Unternehmens als auch der Gesellschaft – weiterzuentwickeln. Von einem solchen Paradigma, das nicht auf Machtkämpfe, sondern auf gemeinsame Lernprozesse ausgerichtet ist, sind wir gesellschaftlich noch weit entfernt. Somit können nicht nur Unternehmen einen Beitrag leisten, sondern jeder Einzelne, indem er zu einem wichtigen Paradigmawandel beiträgt, der über die Qualität unser aller Zukunft entscheidet.

Literatur Beckmann, Markus (2010): Ordnungsverantwortung: Rational Choice als ordonomisches Forschungsprogramm, Berlin. Beckmann, Markus und Ingo Pies (2008, 2009): Ordnungs-, Steuerungs- und Aufklärungsverantwortung – Konzeptionelle Überlegungen zugunsten einer semantischen Innovation, in: Ingo Pies (Hrsg.): Moral als Produktionsfaktor. Ordonomische Schriften zur Unternehmensethik, Berlin, S. 192–222. Braun, Johanna (2009): Unternehmerische Ordnungsverantwortung: Potenzial und Grenzen einer veränderten Rolle von Unternehmen in der modernen Gesellschaft, Berlin.

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Unternehmen und Moral: CSR als Investition in Geschäft und Gesellschaft Clark, Jeff R. und Dwight R. Lee (2011, 2105): Markt und Moral, in: Der Markt und seine moralischen Grundlagen, hrsg. von Ingo Pies, Freiburg und München, S. 12–77. Beck, Ulrich (2002, 2003): Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter: Neue weltpolitische Ökonomie, Frankfurt am Main. Hayek, Friedrich A. von (1976, 1981): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg am Lech. Internationales EITI-Sekretariat (2013): Der EITI-Standard, Oslo. Kirsch, Werner (1996, 1997): Wegweiser zur Konstruktion einer evolutionären Theorie der strategischen Führung: Kapitel eines Theorieprojekts, Herrsching. Pies, Ingo (2008, 2009): Markt und Organisation: Programmatische Überlegungen zur Wirtschafts- und Unternehmensethik, in: Ingo Pies (Hrsg.): Moral als Produktionsfaktor. Ordononmische Schriften zur Unternehmensethik, Berlin, S. 233–264. Pies, Ingo (2009): Das ordonomische Forschungsprogramm, in: Ingo Pies (Hrsg.): Moral als Heuristik. Ordonomische Schriften zur Wirtschaftsethik, Berlin, S. 2–32. Pies, Ingo, Markus Beckmann and Stefan Hielscher (2011): Competitive Markets, Corporate Firms, and New Governance – An Ordonomic Conceptualization, in: Ingo Pies and Peter Koslowski (ed.): Corporate Citizenship and New Governance – the Political Role of Corporations, Dordrecht etc., pp. 171–188. Sardison, Markus (2009): Global Governance: Vom Machtkampf zum Lernprozess. Konzeptionelle Überlegungen aus der Perspektive einer ökonomischen Ethik, Berlin. Spruit, Johannes E. (Hrsg.) (2001): Corpus iuris civilis, 6, Digesten 43 – 50, Zutphen. SustainAbility/WWF (2005): Influencing Power – Reviewing the Conduct and Content of Corporate Lobbying, London.

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Christian Rennert

Unternehmensstrategie und Moral

1.

Einleitung

Ökonomik liefert als Gesellschaftstheorie Aussagen über gesellschaftlichen Fortschritt (verstanden als Lösung menschlicher Problemlagen) und gesellschaftlichen Rückschritt (verstanden als Verschärfung menschlicher Problemlagen). Zur Entwicklung dieser Aussagen erhält die Ökonomik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine auf den ersten Blick ungewöhnlich anmutende Forschungsperspektive: Sie konzipiert den an seinem eigenen Wohlergehen interessierten Akteur (homo oeconomicus) und konzentriert sich weniger auf die Erforschung der gesellschaftlichen Bedeutung von Ergebnissen, die solche eigeninteressierten Akteure mit ihren Handlungen beabsichtigen, sondern nimmt die unbeabsichtigten Folgen dieser Handlungen in den Blick. 1 Die Ökonomik verdankt Adam Smith die Ausarbeitung dieses Arguments zur Fundierung gesellschaftlichen Fortschritts. Paradigmatisch formuliert er: »Gib mir, was ich will, und du wirst bekommen, was du willst … Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von deren Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Menschenliebe, sondern an ihre Eigenliebe und sprechen nie von unseren eigenen Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.« 2 Menschen lösen Probleme ihrer Mitmenschen nicht, weil sie dies unmittelbar beabsichtigen, sondern weil sie die Absicht haben, ihre eigenen Interessen zu befriedigen. So konzipiert Smith Moral als einen durch Eigeninteresse gestützten – d. h. extrinsisch motivierten – und auf Kooperation programmierten sozialen Prozess, dessen Qualität sich

1 2

Vgl. Pies (2008; S. 33 ff.). Smith (1776, 1999; S. 98).

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darin zeigt, wie und in welchem Maß die Interessen anderer in das eigene Handlungskalkül einbezogen werden (Marktmoral). 3 Mit dieser Interpretation des moralischen Fundaments sozialer Beziehungen gelingt Smith eine Antwort auf die in seiner Zeit drängende Frage, wie Vergesellschaftung angesichts des Zerbrechens des normativen Gefüges des frühindustriellen Europas – welches individuelle Handlungsmotive in seinem Normenhorizont faktisch nicht kannte – in der aufkeimenden industriellen Marktgesellschaft – für die individuelle Handlungsmotive zunehmend konstitutiv werden – entstehen kann. Das Selbstinteresse des Metzgers, Brauers oder Bäckers führt nicht zur Erosion, sondern – im Gegenteil – zur Bildung von Gesellschaft, und zwar indem es deren Verhalten auf die Handlungsweisen und Bedürfnisse jener Mitmenschen konditioniert, die nach einer Mahlzeit verlangen. Erst auf Bedürfnisse von Mitmenschen bezogenes Selbstinteresse ist bei Smith vernünftig verstandenes Selbstinteresse und deutlich abzugrenzen von Egoismus als unvernünftigem Selbstinteresse, welches sich zu Lasten der Mitmenschen durchzusetzen versucht und damit deren Kooperationsbereitschaft aufs Spiel setzt, ohne die das Erreichen eigener Ziele langfristig nicht möglich ist. 4 Rekonstruiert man die Smithsche Argumentationskette in der Absicht, Formierung und Fortschritt moderner, funktional differenzierter Gesellschaften zu verstehen, so fördert dies zutage, dass Unternehmen ihre gesellschaftliche Funktion dann erfüllen, wenn sie sich in ihrer Absicht zur Erwirtschaftung von Gewinnen für ihre Eigentümer konstruktiv mit der Lösung von Problemen auseinandersetzen, die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Rolle als Nachfrager auf Märkten artikulieren, und mit dem Angebot geeigneter Güter und Dienstleistungen Vorschläge zur Lösung dieser Probleme entwickeln. Solche Problemlösungen für (potentielle) Nachfrager sind aus einer Smithschen Perspektive das Mittel, um Gewinne zu erwirtschaften und deren einzige Legitimationsgrundlage: »Konsum ist der einzige Sinn und Zweck aller Produktion; und das Interesse des Produzenten sollte nur insoweit berücksichtigt werden, als es für die Förderung des Konsumenteninteresses nötig sein mag.« 5 Alle Produktionsprozesse finden ihre Rechtfertigung in der Befriedigung von 3 4 5

Vgl. Pies (2008; S. 53) sowie CL-12, CL-18 und CL-20. Vgl. Plumpe (2007). Smith (1776, 1999; S. 645).

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Nachfragerbedürfnissen. Die Keimzelle von Unternehmen (und einer Theorie der Unternehmung sowie des Profits) sind mithin unbefriedigte – und häufig noch unbekannte – Bedürfnisse von Nachfragern. Diese Smithsche Argumentationskette soll im Folgenden in einem betriebswirtschaftlichen Zusammenhang fortgeführt werden. Ziel ist die Beantwortung der Frage, wie auf Gewinnerwirtschaftung ausgerichtete Handlungen (Strategien) von Unternehmen mit gesellschaftlichem Fortschritt und Rückschritt zusammen gedacht werden können. Dies erfordert in Kapitel 2 zunächst eine Klärung des Ursprungs von Gewinn und Unternehmenswert. Kapitel 3 entwickelt die Logik von Unternehmensstrategien im Wettbewerbsprozess aus der von Smith fokussierten Perspektive von Transaktionen zwischen Anbietern und Nachfragern. Dieser explizite Einbau des Wettbewerbsprinzips in die Smithsche Argumentation ist notwendig, um den moralischen Gehalt von Unternehmensstrategien differenziert erfassen zu können. 6 Der Aufsatz schließt mit drei Vorschlägen zum Weiterdenken (Kapitel 4).

2.

Wertschaffung und Wertaneignung

Unternehmen entwickeln Strategien mit dem Ziel der Erhöhung des Unternehmenswerts. Man kann das übersetzen als Erhöhung der (erwarteten) Gewinne. Die Keimzelle des Gewinns liegt in gelingenden Transaktionen (»Geschäften«) zwischen Anbietern und Nachfragern. Um möglichen Einwänden zuvorzukommen, sei hervorgehoben, dass Kundentransaktionen nicht die einzige, gleichwohl die systematische Quelle des Gewinns darstellen. Die Ressourcen der anbietenden Unternehmen, deren Nutzung Kosten verursacht, als weitere Quelle des Gewinns besitzen nur dann einen Wert, wenn deren produktive Kombination zum Angebot von Leistungen (Absatzleistungen) führt, die für Nachfrager einen Gebrauchswert besitzen, der von diesen erkannt wird. Dies zeigt sich erst in konkreten Kaufhandlungen, und zwar durch die Zahlung von Preisen als Tauschwerten für die Absatzleistungen. Nachfrager entscheiden, ob Unternehmen Werte geschaf-

Zwar erwähnt Smith Wettbewerb an verschiedenen Stellen in seiner »Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker«, jedoch berücksichtigt er diesen an den hier zitierten »klassischen« Stellen nicht.

6

208 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Unternehmensstrategie und Moral

fen haben. Pointiert formuliert: Wenn Transaktionen mit Kunden nicht gelingen, schaffen Unternehmen keine Werte. 7 Von der Wertschaffung (value creation) ist die Wertaneignung (value capture) durch Unternehmen zu unterscheiden. 8 Die Wertaneignung folgt logisch der Wertschaffung und beinhaltet die Allokation des Tauschwerts auf das Unternehmen sowie die an der Leistungserstellung direkt oder indirekt beteiligten Stakeholder des Unternehmens. Die Höhe des dem Unternehmen als Gewinn zufallenden Teils hängt vom Verhandlungsgeschick der verantwortlichen Manager im jeweils vorliegenden Transaktionskontext ab. Insofern ist für das Ausmaß der Wertaneignung durch das Unternehmen eine Einschätzung der handelnden Manager über die Bedeutung der Stakeholder für die Qualität des Leistungserstellungsprozesses und deren Machtpotential hinsichtlich dessen Blockade (»hold-up«) notwendig. Aufgrund der systematischen Bedeutung von Transaktionen zwischen Kunden und Anbietern als notwendiger Grundlage für die Erwirtschaftung von Gewinnen werden Unternehmensstrategien nachfolgend idealtypisch aus der Perspektive dieser Transaktionen entwickelt.

3.

Unternehmensstrategien im Wettbewerbsprozess

Gedanklicher Ausgangspunkt für die Ableitung von Unternehmensstrategien sind Verhandlungen zwischen Anbietern und Kunden unter Wettbewerbsbedingungen im Vorfeld von Transaktionen. Aus Gründen der Anschaulichkeit wird zunächst von Homogenität der Absatzleistungen ausgegangen; d. h. der Darstellung liegt die Annahme zugrunde, dass alle Absatzleistungen der um die Kundengunst ringenden Unternehmen aus der subjektiven Perspektive der Nachfrager denselben Gebrauchswert besitzen.

3.1

Wettbewerb als Verhandlungs- und Rivalitätsprozess

Der Wettbewerbsprozess setzt sich aus Verhandlungsprozessen zwischen Anbietern und potentiellen Kunden um die Höhe des Preises 7 8

Vgl. Priem, Butler und Li (2013). Vgl. ebenda (S. 473 mit weiteren Nachweisen).

209 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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der Absatzleistungen und aus Rivalitätsprozessen unter den Anbietern um die knappen Transaktionen mit den potentiellen Kunden zusammen. Die Verhandlungsprozesse bestimmen den Druck auf den Gewinn der Anbieter. Die Intensität des Wettbewerbs – manifestiert im Druck auf den Gewinn – steigt mit der Freiheit der Nachfrager, ihre (potentiellen) Transaktionspartner in den Verhandlungsprozessen substituieren zu können und zu wollen. So entstehen Rivalitätsprozesse unter den Anbietern und ein Wettlauf um Transaktionen mit den potentiellen Kunden. Bei homogenen Absatzleistungen verbleibt konkurrierenden Unternehmen in ihren Verhandlungsprozessen mit Nachfragern kurzfristig nur eine Senkung der Preise, um Wettbewerber im Rivalitätsprozess auszuschalten und Transaktionen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Dies führt zur Kompression des Gewinns und löst damit den Impuls zur Strategieentwicklung aus.

3.2

Funktionale Unternehmensstrategien

Unternehmensstrategien begründen, wie Unternehmen diesem Druck auf den Gewinn zu entkommen planen. Sie geben Auskunft über die jeweils gewählten Handlungsparameter im Rivalitätsprozess, die den Unternehmen einen über dem Durchschnitt ihrer Branche liegenden Gewinn über einen längeren Zeitraum ermöglichen sollen. Funktionale Unternehmensstrategien führen zur Lösung von Problemen, die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Rolle als Nachfrager auf Märkten artikulieren. Dysfunktionale Unternehmensstrategien verschärfen menschliche Problemlagen. In beiden Fällen stellen sich diese Konsequenzen als Nebenwirkung der von den Unternehmen unmittelbar beabsichtigten Gewinnerzielung im Wettbewerbsprozess ein. 9

Die Kennzeichnung von Unternehmenshandlungen, die Nachfragern und Gesellschaft Schaden zufügen, als »Unternehmensstrategie« ist ungewöhnlich. Dies geschieht jedoch in der Absicht, sowohl die nicht unmittelbar intendierten positiven als auch die negativen Folgen der Gewinnerwirtschaftung im Wettbewerb innerhalb einer Argumentationskette darzulegen. Häufig verhandeln Wettbewerbskritiker die unerwünschten, Wettbewerbsbefürworter hingegen die erwünschten Folgen der Gewinnmaximierung im Wettbewerb. Die hier entwickelte Argumentation folgt Baumol (1990), der produktives, unproduktives und destruktives Unternehmertum unter-

9

210 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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3.2.1 Operative Effizienzsteigerung durch Prozessinnovationen Neben kontinuierlichen Verhandlungen über die Allokation des Tauschwerts mit ihren Stakeholdern fordert die Gewinnerosion aufgrund sinkender Preise Unternehmen auf, ihre durchschnittlichen Gesamtkosten durch Implementierung von Innovationen im Leistungserstellungsprozess zu reduzieren. Dies umfasst vor allem Maßnahmen zur Ausschöpfung von Skaleneffekten, neuartige Managementmethoden sowie die Verlagerung von Unternehmensteilen an Standorte mit komparativen Kostenvorteilen. 10 Die auf diesem Wege entstehenden Gewinne lassen sich als Effizienzgewinne bezeichnen. Kostensenkungsstrategien setzen nicht am Gebrauchswert der Absatzleistungen, sondern an den durch seine Produktion verursachten Kosten an. Nicht die Wertschaffung, sondern die Wertaneignung steht im Vordergrund. Kostensenkungsstrategien vermögen daher die Logik des oben dargestellten Wettbewerbsprozesses nicht im Sinne der Anbieter zu durchbrechen und die Gewinnerosion systematisch aufzuhalten. Bei homogenen Absatzleistungen bleibt der Druck auf die Preise in den Verhandlungsprozessen zwischen Anbietern und Nachfragern erhalten und wird i. d. R. sogar verstärkt (»Preissenkungsspiralen«). Die Anbieter verfügen aufgrund der erarbeiteten Kostensenkungspotenziale über größere Preissenkungsspielräume, um Transaktionen mit Nachfragern herbeizuführen. 3.2.2 Präferenzorientierte Strategien (Absatzdifferenzierung und Absatzinnovation) Neben der Senkung der durchschnittlichen Gesamtkosten bleibt Unternehmen als Strategiealternative eine gründlichere Auseinandersetzung mit Bedürfnissen und Bedarfen der Nachfrager. Dieses Wissen verschafft ihnen zunächst Möglichkeiten, ihre Absatzleistungen inhaltlich zu differenzieren und deren Gebrauchswert für enger umgrenzte Kundensegmente zu erhöhen mit dem Ziel, Präferenzen auf Seiten der Nachfrager zu erzeugen und zusätzliche Zahlungsbereitschaft (»Preiswilligkeit«) zu aktivieren. 11

scheidet und die Ausprägung dieser Formen des Unternehmertums in verschiedenen historischen und gesellschaftlichen Kontexten diskutiert. 10 Vgl. z. B. Bresser (2010; S. 112 ff.). 11 Vgl. z. B. ebenda (S. 114 f.).

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Da die Absatzdifferenzierung nicht an den Kosten, sondern am Gebrauchswert der Absatzleistungen ansetzt, werden Unternehmen – im Gegensatz zu den dargestellten Kostensenkungsstrategien – in die Lage versetzt, die Logik des oben erläuterten Wettbewerbsprozesses in ihrem Sinne zu durchbrechen. Nicht die Wertaneignung, sondern die Wertschaffung für Nachfrager steht im Vordergrund. Die nun nicht mehr vorhandene Homogenität der Absatzleistungen mildert den Wunsch der Nachfrager, ihre (potentiellen) Transaktionspartner in Verhandlungsprozessen zu substituieren. Der Preis verliert seine Wirkung als dominierendes Instrument der Anbieter, um Wettbewerber im Rivalitätsprozess auszuschalten. Der in Verhandlungsprozessen entstehende Druck auf Preise und Gewinn geht zurück. – Die Extremform der Absatzdifferenzierung und den gleichsam »strategischen Königsweg« stellt die Absatzinnovation dar. Durch Antizipation oder Neuinterpretation von Nachfragerbedürfnissen gelingen Unternehmen völlig neue Problemlösungen. Absatzinnovationen führen zur seltenen Gelegenheit der Übereinstimmung von Gebrauchs- und Tauschwert der Absatzleistungen. Durch präferenzorientierte Strategien entstehende Gewinne lassen sich als Fortschrittsgewinne bezeichnen. Im Gegensatz zu Gewinnen aus Kostsenkungsstrategien beruhen sie auf Lösungen qualitativ neuer Problemlagen von Menschen. 3.2.3 Funktionale Strategien im nachahmenden und schöpferischen Wettbewerb Unter den geschilderten Wettbewerbsbedingungen stehen Unternehmen die drei Strategieoptionen: Prozessinnovation, Absatzdifferenzierung und Absatzinnovation zur Verfügung, um dem Gewinndruck aus dem Wege zu gehen. Gewinne oder Verluste entstehen folglich als Ergebnisse des strategischen Verhaltens von Unternehmen im Rivalitätsprozess und kennzeichnen die Güte der jeweils gewählten Strategie. Hohe Gewinne der erfolgreichen Wettbewerber fordern die weniger erfolgreichen auf, die Strategien der erfolgreichen Unternehmen zu verstehen und nachzuahmen. 12 Gelingende Imitationen fühIn der Unternehmenspraxis vollziehen sich solche Nachahmungen u. a. im Rahmen von Benchmarking, Best-Practice-Studien, durch Abwerbung von Wissensträgern bei der Konkurrenz oder durch Wissensverteilung durch Unternehmensberatungen.

12

212 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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ren zur inhaltlichen Konvergenz der Leistungserstellungsprozesse und Absatzleistungen der konkurrierenden Unternehmen. Sie erhöhen den Grad der Vollkommenheit des Wettbewerbs. Der Gewinndruck in den Verhandlungsprozessen mit Nachfragern steigt erneut – wobei Effizienzgewinne zügiger erodieren als Fortschrittsgewinne. Dies treibt die um Transaktionen mit Kunden ringenden Unternehmen an, ihre betrieblichen Leistungsprozesse und Absatzleistungen schöpferisch zu überarbeiten oder gänzlich neu zu entwickeln. Bildhaft ließe sich von einem durch das Gewinnmotiv angetriebenen »Rad der Unternehmensstrategie« sprechen, mit welchem die Unternehmen in drei verschiedenen Geschwindigkeiten durch den Wettbewerbsprozess hindurch manövrieren. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Wettbewerb Unternehmen mit starken Anreizen versorgt, auf Gewinnerzielung und Ausschaltung von Konkurrenten ausgerichtete Strategien zu entwickeln, deren nicht unmittelbar intendierte Ergebnisse Nachfragern zugutekommen. Soweit sich menschliche Problemlagen als Marktnachfrage manifestieren, führen sie zu Angeboten von Unternehmen, die diese aufgrund ihres (zunächst unternehmensseitig unterstellten) Gebrauchswerts zu deren Lösung vorschlagen. Der durch nachahmenden Wettbewerb und Ausweitung des Angebots entstehende Preisrückgang bewirkt, dass ebenso Menschen mit niedrigeren Einkommen – jedoch mit zeitlicher Verzögerung – Möglichkeiten erhalten, diese Angebote in Anspruch zu nehmen. Pointiert formuliert: Jedes menschliche Problem wird irgendwann zu relevanter Nachfrage auf Märkten. Indem der Wettbewerb die Bindung unternehmerischer Strategieentscheidungen an Belange von Menschen in ihrer gesellschaftlichen Rolle als Nachfrager auf Märkten regelrecht erzwingt, stellt er den originären Beitrag sicher, den Unternehmen für gesellschaftlichen Fortschritt leisten können. Alle anderen Beiträge von Unternehmen zum gesellschaftlichen Fortschritt, etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen, sind Derivate gelingender Transaktionen mit Nachfragern.

3.3

Dysfunktionale Unternehmensstrategien

Der Wettbewerb versorgt Unternehmen nicht nur mit starken Anreizen zur Produktion ihrer Beiträge für gesellschaftlichen Fortschritt, sondern mit ebenso starken Anreizen, auf Gewinnererzielung aus213 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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gerichtete Strategien zu entwickeln, die das geschilderte »Rad der Unternehmensstrategie« verlangsamen oder zum Stillstand bringen. Gewinne können mit Verschlagenheit, List und Tücke erzeugt werden. Zu solchen Strategien gehören beispielsweise Kartellbildung, Korruption, Übervorteilung von Kunden und anderen Stakeholdern, Bilanzmanipulationen sowie die Einflussnahme auf politische Entscheidungsträger mit dem Ziel, Vorteile gegenüber Konkurrenten im Wettbewerb um Transaktionen mit Kunden über privilegierende Gesetzgebung abzusichern (»rent seeking«). Derartige Strategien lösen intuitiv Empörung aus. Sie sind jedoch gesellschaftlichem Fortschritt insbesondere deswegen abträglich, weil sie Gewinnerwirtschaftung ohne Änderung des betrieblichen Leistungsprozesses und vor allem ohne vorausschauende Berücksichtigung von Kundeninteressen ermöglichen. Die Logik nachahmenden und schöpferischen Wettbewerbs greift bei dysfunktionalen Strategien in gleichem Maße wie bei funktionalen Strategien. Wird dieses »unproduktive« oder »destruktive« Unternehmertum mit Gewinnen belohnt, verschwinden sukzessive Akteure mit Talenten für die Entwicklung funktionaler Strategien. Sie werden verdrängt durch Akteure, die den Zwängen des Wettbewerbs mit sich kontinuierlich überbietender, listiger Kreativität zu entgehen vermögen. So kommt der von Nachfragern getriebene Beitrag von Unternehmen zum gesellschaftlichen Fortschritt zum Erliegen, provoziert die Erosion gesellschaftlicher Ordnung und legitimiert staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen im Sinne einer »ultima ratio«.

4.

Statt einer Zusammenfassung: Drei Vorschläge zum Weiterdenken

Die Ableitung funktionaler – also aus gesellschaftlicher Perspektive wünschenswerter – Unternehmensstrategien ergänzt die vorwiegend in der Volkswirtschaftslehre anzutreffende, (liberale) Standardargumentation zur moralischen Legitimation wettbewerblich organisierter Marktwirtschaften 13 um die betriebswirtschaftliche Dimension. Insofern bietet sie einen Erkenntnisfortschritt. Von gleichrangiger Bedeutung ist jedoch die Auseinandersetzung mit Strategien zur Erzielung von Gewinn, die – nicht-intendiert – menschliche Problemla13

Vgl. prototypisch CL-36 f. sowie CL-56.

214 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Unternehmensstrategie und Moral

gen verschärfen und gesellschaftlichen Rückschritt bewirken. Solche dysfunktionalen Strategien scheint Adam Smith bei der Abfassung der oben zitierten Stellen als durch Erziehung prinzipiell korrigierbare Ausnahmefälle, hingegen nicht als mögliche systemimmanente Regelerscheinungen im Blick gehabt zu haben. 14 Unter Wettbewerbsbedingungen ist indes davon auszugehen, dass der Einsatz dysfunktionaler Strategien im Kalkül der handelnden Personen immer – mehr oder weniger explizit – mit abgewogen wird. Strategien müssen nicht unmittelbar illegal sein. Raum für noch legale, aber illegitime Handlungen ist in der Praxis des Managements jedoch beständig vorhanden. 15 Da das Gewinnmotiv – und nicht die Absicht der Erzeugung gesellschaftlichen Fortschritts – die Entwicklung von Unternehmensstrategien in Marktwirtschaften ursächlich treibt, wird die Form der Gewinnerwirtschaftung selbstdurchsetzend. Ob funktionale oder dysfunktionale Strategien die Oberhand gewinnen, ist unter Wettbewerbsbedingungen unklar. Vor dem Hintergrund der stetig wachsenden wirtschaftspraktischen Bedeutung des Corporate-Governance-Managements als Grundlage »guter« Unternehmensführung wäre eine Diskussion interessant, ob funktionale Unternehmensstrategien unter Wettbewerbsbedingungen nicht vergleichsweise instabil sind oder ob deren Instabilität durch Corporate-Governance-Management – nicht-intendiert – vielleicht verstärkt oder sogar hervorgerufen wird. 16 Der Umgang mit dieser normativen Ambivalenz des Wettbewerbs hat seit den 1980er Jahren ein ausdifferenziertes Angebot wirtschafts- und unternehmensethischer Theoriekonzepte hervorgebracht. Hier sei erwähnt, dass insbesondere das ordnungsethische Forschungsprogramm, wie es von Karl Homann und seinen Schülern entwickelt und fortwährend ausgebaut wird, die Frage beantwortet hat, wie mit von Unternehmen verursachtem gesellschaftlichen Rückschritt umzugehen ist, ohne die Smithsche Innovation, das Gewinninteresse in den Dienst für andere zu stellen, aufgeben oder entschärfen zu müssen. In aller Kürze: Das Gewinnmotiv entfaltet seine gesellschaftliche Produktivität, wenn Bürger und bürgerliche Einrichtungen – etwa Hochschulen – ihre Verantwortung für das Ent14 15 16

Vgl. Plumpe (2007; S. 343 ff.). Vgl. z. B. Lehmann (2012). Vgl. z. B. Khurana (2007; S. 291 ff.).

215 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

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stehen unternehmerischer Handlungsergebnisse erkennen, verstehen und annehmen. Unternehmen sind stets in durch Menschen beeinfluss- und gestaltbare, sanktionsbewehrte formale und informale Institutionengefüge eingebettet, die funktionale Strategien stabilisieren und dysfunktionale Strategien destabilisieren. Zugespitzt formuliert: Jede Gesellschaft formiert ihre Wirtschaft. Aufgrund dieser aus theoriestrategischen Gründen vorgenommenen Verortung der Gewinnmaximierung wird die Ordnungsethik zum gleichsam natürlichen Partner des strategischen Managements in der Betriebswirtschaftslehre. Auf einer von beiden Disziplinen definierten Agenda lassen sich abschließend drei Vorschläge zum Weiterdenken identifizieren. Erstens: Das strategische Management und die Theorie der Unternehmung als dessen Fundierung haben (interessanterweise) das für funktionierende Marktwirtschaften wesentliche Vehikel zur Erzeugung von Gewinnen aus dem Blick verloren: den Kunden. Gewinne und Unternehmenswert werden gegenwärtig im Mainstream des strategischen Managements aus einer Unternehmensperspektive (»resource based view«) oder Eigentümerperspektive (»shareholder value«) konzipiert. 17 Dies verengt den Blick auf Wertaneignung und rückt Wertschaffung für Nachfrager als Voraussetzung einer nachhaltigen Wertaneignung und als Heuristik zur Suche nach geeigneten Strategien in den Hintergrund. Insofern ist die Nachfrageseite in Theorie, Lehre und Praxis des strategischen Managements im hier dargelegten Sinne konzeptionell zu verankern. Zweitens: Im strategischen Management wächst das Interesse an einer Mikrofundierung von Strategien, d. h. an einer Mikrofundierung des Prinzips der Gewinnmaximierung. Hier wird den kognitiven und motivationalen Prozessen von Menschen nachgegangen, die in Organisationen mit Strategieentwicklung und -umsetzung befasst sind. Erste Erkenntnisse deuten auf komplexe und aus ökonomischer Perspektive zunächst kontraintuitive Zusammenhänge hin: Dauerhaft erfolgreiche Gewinnmaximierung von Unternehmen scheint möglicherweise den Verzicht, zumindest jedoch eine starke Relativierung des Gewinns als Steuerungsgröße innerhalb dieser Unternehmen zu erfordern. 18

17 18

Vgl. Priem, Butler und Li (2013) sowie Schmidt (2007). Vgl. Foss und Lindenberg (2013).

216 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Unternehmensstrategie und Moral

Drittens: Die Ordnungsethik baut das Smithsche Erbe einer Ökonomik als Gesellschaftstheorie aus und ist mit dem strategischen Management über das Gewinnmotiv verbunden. Hier bietet sich eine Diskussion zur Sondierung von Möglichkeiten an, wie Betriebswirtschaftslehre systematisch und ohne ethische Kontamination Anschluss an Gesellschaftstheorie findet. Erst dann kann Betriebswirtschaftslehre als Theorie jene Wirkungen reflektieren, die sie als Lehre für die Praxis in der Praxis erzeugt.

Literatur Baumol, William J. (1990): Entrepreneurship: Productive, Unproductive, and Destructive, in: Journal of Political Economy, Vol. 98, No. 5, S. 893–921. Bresser, Rudi K. F. (2010): Strategische Managementtheorie, 2. Auflage, Stuttgart. Clark, Jeff R. und Dwight R. Lee (2011, 2015): Markt und Moral, in: Der Markt und seine moralischen Grundlagen, hrsg. von Ingo Pies, Freiburg und München, S. 12–77. Foss, Nicolai J. und Siegwart Lindenberg (2013): Microfoundations for Strategy: A Goal-Framing Perspective on the Drivers of Value Creation, in: The Academy of Management Perspectives, Vol. 27, No. 2, S. 85–102. Khurana, Rakesh (2007): From Higher Aims to Hired Hands: The Social Transformation of American Business Schools and the Unfulfilled Promise of Management as a Profession, Princeton, NJ. Lehmann, Erik E. (2012): Corporate Governance, Compliance & Crime, in: Wissenschaftliche und praktische Aspekte der nationalen und internationalen Compliance Diskussion, hrsg. von Thomas Rotsch, Baden-Baden, S. 43–61. Pies, Ingo (2008): Markt und Organisation. Programmatische Überlegungen zur Wirtschafts- und Unternehmensethik, in: Moral und Kapital. Grundfragen der Wirtschafts- und Unternehmensethik, hrsg. von Wolfgang Kersting, Paderborn. S. 27–59. Plumpe, Werner (2007): Die Geburt des »Homo oeconomicus«. Historische Überlegungen zur Entstehung und Bedeutung des Handlungsmodells der modernen Wirtschaft, in: Menschen und Märkte. Studien zur Wirtschaftsanthropologie, hrsg. von Wolfgang Reinhard und Justin Stagl, Wien, Köln und Weimar, S. 319–352. Priem, Richard L., John E. Butler und Sali Li (2013): Toward Reimagining Strategy Research: Retrospection and Prospection on the 2011 AMR Decade Award Article, in: Academy of Management Review, Vol. 38, No. 4, S. 471–489. Schmidt, Reinhard H. (2007): Die Betriebswirtschaftslehre unter der Dominanz der Finanzmärkte, in: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Jg. 59, Sonderheft 56/07, S. 61–81. Smith, Adam (1776, 1999): Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, hrsg. von Erich Streissler, 2 Bände, Düsseldorf.

217 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Matthias Georg Will

Märkte, Moral und Organisationen

Der Artikel mit dem programmatischen Titel »Markets and Morality« von Clark und Lee argumentiert, dass in einer Gesellschaft mit funktionierenden Märkten niedrige Ansprüche an individuelle Moral ausreichen, um wechselseitig akzeptierte Ziele zu erreichen. 1 Interessant ist ihr Argument, dass Konflikte zwischen individuellen Zielen und gesellschaftlichen Zielen genauso wie zwischen konkurrierenden individuellen Zielen durch funktionierende Märkte überwunden werden können. Für das Überwinden dieser Zielkonflikte sei vor allem die Ausgestaltung der Marktordnung verantwortlich. Dieses Argument ist auch deshalb interessant (und verdient eine nähere Auseinandersetzung), weil es einen blinden Fleck aufweist. Clark und Lee übersehen einen wichtigen Intermediär: die moderne Organisation und ihren Einfluss auf die Kooperationsbereitschaft von Individuen. Dabei wäre eine moderne Gesellschaft ohne Organisationen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – also beispielsweise ohne Parteien, Unternehmen und Bürgerinitiativen – gar nicht denkbar. Solche Organisationen übernehmen typischerweise drei Funktionen: (1) eine Optimierungsfunktion, (2) eine Gestaltungsfunktion und (3) eine Aufklärungsfunktion. 2 Allerdings ist es so, dass Organisationen nicht nur Probleme lösen, sondern auch Probleme verursachen. Organisationen können versagen. Sie können sich unmoralisch verhalten. Sie können ihre Mitglieder oder Dritte schädigen. Die folgenden drei Abschnitte dieses Aufsatzes zeigen deshalb, unter welchen Bedingungen Organisationen einen konstruktiven Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme leisten können, indem sie ihre Optimierungs-, Gestaltungs- und Aufklärungsfunktion Vgl. Clark und Lee (2011, 2015). Für diese drei Funktionen verweise ich auf den Forschungsansatz der Ordonomik. Vgl. Pies et al. (2009) sowie Pies et al. (2010).

1 2

218 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Märkte, Moral und Organisationen

wahrnehmen. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf privatwirtschaftlich agierenden Unternehmen.

1.

Optimierungsfunktion

Im öffentlichen Diskurs wird häufig die Anschauung vertreten, dass privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen aufgrund der Interessen ihrer Eigentümer keine gesellschaftlich wichtige Funktion erfüllen könnten. Inwieweit dieses weit verbreitete (Vor-)Urteil zutrifft, hängt vor allem davon ab, ob sich die Unternehmen in einer geeigneten Wettbewerbsordnung bewegen. Sofern der Wettbewerb funktioniert, zwingt dieser Druck die Eigentümer grundsätzlich dazu, die Unternehmen so auszurichten, dass Interaktionen mit verschiedenen Stakeholdern dauerhaft bzw. wiederkehrend möglich werden – nicht weil die Stakeholder dazu gezwungen sind, sondern weil sie dies aus Eigeninteresse wollen. Der Wettbewerbsdruck diszipliniert die Eigentümer, im Interesse der Stakeholder zu handeln, selbst wenn die Eigentümer eigentlich lieber andere Ziele verfolgen würden. Der Wettbewerb fördert ein Interaktionsverhalten, bei dem Unternehmen dauerhaft nur Gewinne machen können, sofern die Unternehmen nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Interaktionspartner besserstellen. 3 Im Folgenden wird dies für die beiden wichtigsten Stakeholder der Unternehmen aufgezeigt: für (1) Konsumenten und (2) Arbeitnehmer. (1) Positive Effekte für die Konsumenten: In einer funktionierenden Wettbewerbsordnung führt die Intention der Unternehmen, Gewinne erwirtschaften zu wollen, zu der nicht-intendierten, aber systematischen Konsequenz, dass die Wertschöpfungserträge von den Unternehmen an die Konsumenten umverteilt werden. 4 Wenn Unternehmen im Wettbewerb versuchen, ihre Gewinne zu steigern, indem sie Preis-, Qualitäts- oder Innovationsführer werden, rufen sie Konkurrenten auf den Plan, die von den hohen Ertragsaussichten ebenfalls profitieren wollen. Durch deren Markteintritt (bzw. die Ausweitung des bestehenden Angebots) aber erodieren die Gewinnaussichten aller Unternehmen dieser Branche. Aus einem vormaligen Anbietermarkt wird so ein Nachfragemarkt, in dem vor allem die 3 4

Vgl. Pies et al. (2009) sowie Pies et al. (2010). Vgl. Hicks (1941), Pies et al. (2009), Pigou (1910), Popper (1945, 2002).

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Matthias Georg Will

Konsumenten profitieren. 5 Diese Wettbewerbsdynamik führt zu sogenannten Red-Queen-Spielen, bei denen die Anbieter beständig günstiger, besser oder innovativer werden, ohne die eigene Wettbewerbsposition relativ zu verbessern. 6 Eine weitere positive Systemfolge wettbewerblichen Unternehmenshandelns besteht darin, dass einer Diskriminierung von Konsumenten systematisch entgegengewirkt wird. 7 Im Gegensatz zu vormodernen Marktprozessen, bei denen beispielsweise der soziale Status (oder Größe, Aussehen, Hautfarbe, Konfessionszugehörigkeit etc.) der Interaktionspartner einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf den Tauschvorgang hatte, ist es in einer modernen Wettbewerbsordnung für jedes Unternehmen mit Nachteilen (= Gewinneinbußen) verbunden, Konsumenten aufgrund ihres sozialen Status zu diskriminieren. Wer es dennoch versucht, lädt die eigenen Konkurrenten dazu ein, die diskriminierten Konsumenten günstiger zu bedienen. Auf diese Weise profitieren insbesondere marginalisierte Minderheiten vom Wettbewerb der Anbieter. (2) Positive Effekte für die Arbeitnehmer: Oft wird in der öffentlichen Debatte und auch in vielen Veröffentlichungen 8 kolportiert, dass in einem kompetitiven Umfeld Unternehmen gezwungen wären, die eigene Belegschaft auszubeuten. Dieses Argument ist allerdings nicht überzeugend: In wettbewerblich verfassten Märkten konkurrieren Unternehmen um den knappen Faktor Arbeit. Arbeitnehmer können folglich auswählen, für welchen Arbeitgeber sie tätig sein wollen. Dies kommt ihnen sehr zugute. 9 Ein Weiteres kommt hinzu: Der dynamische Wettbewerbsdruck auf das moderne Unternehmen, ständig innovativ zu sein und ProVgl. Mises, (1951, 2008). Vgl. Baumol (2004). 7 Vgl. Becker (1993), Leijonhufvud (2007). 8 Vgl. hierzu Marx (1867, 1906; S. IV, S. XIII und S. 19) sowie Weber (1968, 1978). 9 Nicht immer lässt sich das schon auf den ersten Blick erkennen. Zu Beginn der industriellen Revolution war es beispielsweise so, dass ein scheinbar endloser Strom ehemaliger Landarbeiter in die Manufakturen und Fabriken drängte. Das Ergebnis wird oft als Ausbeutung interpretiert. Allerdings deuten die empirischen Daten darauf hin, dass die Unternehmer den Arbeitern Löhne zahlten, die über dem Einkommensniveau der Bauern lagen. Vgl. Clark (2001) sowie McCloskey (2010). Vom Elend in den Städten sollte man sich also nicht den Blick darauf verstellen lassen, dass auf dem Lande ein noch weitaus größeres Elend herrschte. Ähnliche Schlussfolgerungen kann man für die gegenwärtige Landflucht in Entwicklungsländern wie beispielsweise China ziehen. 5 6

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Märkte, Moral und Organisationen

zess- oder Produktneuerungen hervorzubringen, bietet mittel- bis langfristig vielfältige Vorteile für die Arbeitnehmer. Gerade der säkulare Trend, harte körperliche Arbeit immer stärker durch Maschinen erledigen zu lassen, hat zu einem enormen Anstieg der Lebensqualität und auch der Lebensdauer geführt. Man denke beispielsweise daran, unter welchen Bedingungen Kumpel der Essener Zeche Zollverein bis vor wenigen Jahrzehnten Kohle gefördert haben 10 oder wie beim Weltmarktführer Rosenthal für Porzellan im fränkischen Selb bis in die 1960er Jahre hinein die Ausgangsmaterialien für die Porzellanherstellung gewonnen wurden. 11 Schon seit geraumer Zeit gibt es die Entwicklung, dass immer mehr Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, einen Job zu finden, der zur persönlichen Selbstverwirklichung beiträgt. 12

2.

Gestaltungsfunktion

Clark und Lee gehen von der Hypothese aus, dass Märkte funktionieren und dass die Systemlogik der Wettbewerbsprozesse dazu beiträgt, dass aus dem Verhalten von Individuen (und Organisationen!) ein sozial erwünschter Output entsteht, der unabhängig ist von den Intentionen der beteiligten Akteure. Dies ist natürlich eine sehr optimistische Annahme, denn in vielen Fällen führt das Verhalten von Individuen genauso wie das von Organisationen zu negativen Konsequenzen, die man als Marktversagen beschreiben kann. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele: von der Umweltzerstörung über Diskriminierung, Ausbeutung und (Wirtschafts-)Kriminalität bis hin zu Wirtschafts- und Finanzkrisen. Organisationen können also ein Marktversagen hervorbringen. Aber auch das Umgekehrte ist möglich: Die Existenz von Organisationen ist in vielen Fällen eine Antwort auf Lücken und Defizite in der gesellschaftlichen Rahmenordnung. Das soll nun kurz am Beispiel von Unternehmen illustriert werden. Ein Teil der ökonomischen Organisationsforschung, der im We-

Einen interessanten Einblick bietet hier das Museum des UNESCO-Welterbes Zollverein. 11 In diesem Zusammenhang ist das Porzellanikon – Staatliches Museum für Porzellan in Selb eine Reise wert. 12 Vgl. Phelps (2009). 10

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sentlichen auf die Beiträge von Coase (1937), Williamson (1971) sowie Williamson (1973) zurückgeht, leitet die Existenz von Unternehmen aus einem Marktversagen ab: Wenn Marktakteure befürchten müssen, von ihren Wertschöpfungspartnern ausgebeutet zu werden, dann lassen sie sich auf potentiell produktive Interaktionen erst gar nicht ein. Für solche Problemlagen können Organisationen oft eine Lösung anbieten. (1) Bezüglich des Außenverhältnisses haben Organisationen gegenüber natürlichen Personen den Vorteil, dass sie grundsätzlich eine unendliche Lebensdauer haben. Hierdurch können Organisationen besser Reputation aufbauen. 13 Dies ist vor allem dann von Vorteil, wenn Individuen entscheiden können, ob sie lieber Interaktionen mit (langlebigen) Organisationen oder mit (kurzlebigen) Privatpersonen eingehen möchten. Die Reputation der Organisation entfaltet hier eine disziplinierende, die Organisation bindende Wirkung. 14 (2) Eine weitere Stärke von Organisationen findet sich im Innenverhältnis, und dies ist gerade für komplexe Wertschöpfungsprozesse von Vorteil. Durch formale wie auch informale Governance-Strukturen regeln Organisationen die internen Interaktionen zwischen den Angestellten und Managern. Durch ein funktionales Arrangement von (langfristigen) Arbeitsverträgen, Hierarchien, Kontrollen, Aufstiegsmöglichkeiten und Boni wird es möglich, dass Individuen produktiv Wertschöpfung betreiben, obwohl die beteiligten Akteure unterschiedliche Ziele, Risikopräferenzen und Zeithorizonte haben. Auf freien Märkten wären ähnlich komplexe Interaktionen zwischen Individuen in vielen Fällen aufgrund der wechselseitigen Koordinationsprobleme und Ausbeutungsmöglichkeiten nicht denkbar. 15 Durch die Organisationkultur – also durch formale und informale Anreizstrukturen – gestalten Organisationen eine produktive Arbeitsumgebung. Sie ermöglichen Interaktionen, die andernfalls nicht zustande kämen. Produktive Wertschöpfung wird nicht länger an eine persönliche Opferbereitschaft, sondern stattdessen an eine individuelle Investitionsbereitschaft geknüpft.

13 14 15

Vgl. Axelrod (1984). Hierzu vgl. auch Kreps (1990). Vgl. Coase (1937), Williamson (1971) und Williamson (1973).

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Märkte, Moral und Organisationen

(3) Vielfach findet sich die Auffassung, dass Unternehmen ausschließlich Regelnehmer wären und Staaten als Regelgeber die Rahmenordnung des Wirtschaftens bestimmen. Demnach müsste Marktversagen vor allem durch lenkende Eingriffe des Staates behoben werden. Ein solches Verständnis übersieht allerdings, dass Unternehmen beispielsweise Branchenvereinbarungen abschließen können, in denen sie sich auf bestimmte Mindeststandards einigen. Gemeinsam mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen können sie Rahmenordnungen festlegen und verbindlich machen, mit denen Ordnungsdefizite behoben werden. Gerade bei vielen Themenfeldern im Bereich der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit sind Unternehmen in den letzten Jahren initiativ geworden. 16 Insbesondere bei sozialen und ökologischen Problemen, die über die Grenzen von Nationalstaaten reichen, können (multinationale) Unternehmen einen wichtigen Beitrag leisten, sofern die betroffenen Staaten aufgrund von zwischenstaatlichen Koordinations- und Interaktionsproblemen keine adäquaten Lösungen etablieren können. Diese Entwicklung führt direkt zu einer weiteren Erkenntnis: Nicht jedes politische Engagement von Unternehmen ist als eine sozial unerwünschte Privilegiensuche (= Rent-Seeking) einzustufen. Wenn Unternehmen mit zivilgesellschaftlichen und staatlichen Organisationen kooperieren, um soziale und ökologische Probleme zu überwinden, dann hat diese Art der Kooperation eine ganz andere Qualität als Versuche, durch Lobbying die Politik einseitig zu Gunsten der Unternehmen (und gleichzeitig zu Lasten anderer) zu beeinflussen. Während Rent-Seeking vor allem darauf abzielt, kompetitive Märkte im einseitigen Interesse der Unternehmen außer Kraft zu setzen, ist auch das Gegenteil möglich: Anstatt kompetitive Märkte zur Durchsetzung von Partikularinteressen außer Kraft zu setzen, können sich Organisationen – d. h. sowohl Unternehmen als auch Akteure der Zivilgesellschaft – für eine bessere Inkraftsetzung des Marktes einsetzen, um beispielsweise soziale oder ökologische Probleme zu lösen.

16

Vgl. Pies et al. (2009) sowie Pies et al. (2010).

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Matthias Georg Will

3.

Aufklärungsfunktion

Unternehmen stehen in einer pluralistischen Gesellschaft häufig der Herausforderung gegenüber, dass sie für ihre Unternehmenspraxis kritisiert werden und sich um Legitimität bemühen müssen. Kritik an Unternehmen kann vielfältige Gründe haben. Selbstverständlich kann es in der Realität vorkommen, dass Unternehmen schlecht geführt sind und in ihrem Alltagsgeschäft gegen gängige Umwelt- und Sozialstandards verstoßen. Es gibt deshalb viele Fälle, bei denen die Zivilgesellschaft gut daran tut, gegen solche Missstände vorzugehen. Daneben gibt es aber noch zwei weitere Ursachen, weshalb Unternehmen in der Kritik stehen können. Diese beiden Ursachen erfordern eine differenziertere Auseinandersetzung: (1) Kritik gegen Unternehmen kann die Folge davon sein, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben. 17 Hier stößt eine Vielzahl von Zielen, Werten und Weltanschauungen aufeinander. Daraus kann eine problematische Gemengelage entstehen, denn oft gibt es für die verschiedenen Ansichten gute und nachvollziehbare Gründe. Konflikte lassen sich deshalb häufig nicht dadurch lösen, dass man überlegt, welche Ansichten legitim sind und welche nicht. 18 In einer pluralistischen Gesellschaft existiert nur noch eingeschränkt ein universelles Wertefundament, das für diese Art von Konflikten eine Orientierungshilfe bietet. 19 Allerdings gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg. Hierfür haben die beiden vorherigen Abschnitte vielfältige Möglichkeiten aufgezeigt. Durch die beschriebene Optimierungs- und Gestaltungskompetenz können Unternehmen wechselseitige Besserstellungspotentiale freisetzen, 20 die gerade in einem Umfeld mit heterogenen Ziel- und Wertvorstellungen eine befriedigende Wirkung haben können. 21 Kritik an Unternehmen aufgrund unterschiedlicher Ziel- und Wertvorstellungen kann in diesem Zusammenhang für Unternehmen sogar ein wichtiger Indikator dafür sein, dass bestimmte Bedürfnisse der Stakeholder noch nicht ausreichend erfüllt sind. Man kann dies als Hinweis auf mögliche neue Geschäftsfelder interpretieren. 17 18 19 20 21

Vgl. Rawls (1993, 2005). Vgl. Pies et al. (2009) sowie Luhmann (1990). Vgl. Luhmann (1990). Vgl. Bhattacharya et al. (2009) und Pies et al. (2010). Vgl. Hardy et al. (2005) sowie Pies et al. (2009).

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Märkte, Moral und Organisationen

(2) Kritik an Unternehmen kann auch aufgrund von Rezeptions- und Vermittlungsproblemen zwischen den Unternehmen und verschiedenen Stakeholdergruppen entstehen. 22 Die Funktionsweise von Märkten und modernen Organisationen ist häufig nur schwer mit der Alltagswahrnehmung bzw. durch einfache Plausibilitätsüberlegungen fassbar. Ohne die jeweilige Situationslogik zu begreifen, nach der Märkte und Organisationen funktionieren, wirken Prozesse auf Märkten und in Organisationen häufig kafkaesk. Dies kann dazu führen, dass die Stakeholder den Eindruck haben, dass das, was in Organisationen oder auf Märkten passiert, ihren eigenen Interessen sowie generell moralischen Grundsätzen entgegenläuft. Haben die Stakeholder diesen Eindruck, weil sie beispielsweise auf die Intentionen der verantwortlichen Akteure abstellen, dann erfolgt in vielen Fällen eine Kritik der Akteure auf der Ebene der Moral. Manager erscheinen dann beispielsweise als gierig, Banker als amoralisch etc. Hier lässt sich fragen: Wie können Unternehmen mit dieser Art von Kritik konstruktiv umgehen? Höchstwahrscheinlich erfolglos werden Maßnahmen bleiben, wenn Unternehmen ohne eine geeignete Konzeption der Kritik antworten. Antworten sie beispielsweise rein aus ihrer Systemlogik heraus – überspitzt formuliert: listen sie als eine Rechtfertigung auf, wie viele Neukunden sie hinzu gewonnen haben und wie die Gewinne in den letzten Jahren gestiegen sind –, dann wird dies ihre Kritiker eher nicht überzeugen. Anders verhält es sich hingegen, wenn sich Unternehmen auf die Kritik argumentativ einlassen. Sie müssen dann versuchen, ihre Handlungen und die Situationslogik, der ihre Handlungen folgen, allgemein verständlich zu erklären und in eine moralisch nachvollziehbare Sprache zu übersetzen. 23 Damit Unternehmen von den Stakeholdern als legitime Akteure in der Gesellschaft angesehen werden, müssen Unternehmen folglich auch über ihre Funktion in einer modernen und pluralistischen Gesellschaft aufklären. Auf den ersten Blick erscheint dies als eine kostspielige Angelegenheit. Langfristig ist dies aber eine durchaus lohnenswerte Investition. Einerseits bietet ein breites gesellschaftliches Verständnis, dass Unternehmen durch Optimierungs- und Gestaltungskompetenz beständig wechselseitige Besserstellungspotentiale zur Lösung gesellschaftlicher Probleme freisetzen, den besten Schutz 22 23

Vgl. Pies et al. (2010). Wie dies gelingen kann, zeigt der Beitrag von Pies et al. (2014).

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Matthias Georg Will

vor einer Regulierung gegen den Markt und gegen Unternehmen. Andererseits führt ein solches Verständnis dazu, dass es wahrscheinlicher wird, dass Stakeholder dazu übergehen, anstatt einer konfrontativen und moralisierenden Kritik konstruktive Argumente auszutauschen. Kritische Stakeholder werden dann zu wichtigen Partnern, mit denen gemeinsam sich neue Geschäftsfelder zur Überwindung gesellschaftlicher Probleme entwickeln lassen.

Zusammenfassung und Ausblick Der Beitrag von Clark und Lee (2011, 2015) weist darauf hin, dass in Gesellschaften mit funktionierenden Märkten verschiedene Moralverständnisse parallel existieren können und dass eine Koexistenz von »magnanimous morality« und »mundane morality« für die jeweiligen Sphären sogar funktional zu sein vermag. Der hier vorliegende Beitrag macht sich für die Einsicht stark, dass es neben Individuen und Märkten auch noch einen wichtigen Intermediär gibt: Organisationen. Aus der konzeptionellen Sicht dieses Beitrages können nun einige Schlussfolgerungen gezogen werden, wie das Zusammenspiel aus »magnanimous morality« und »mundane morality« organisationstheoretisch gedacht werden kann. Bei dieser Betrachtung sind insbesondere zwei Fälle interessant: (1) Markt- bzw. Organisationsversagen trifft auf »magnanimous morality«: In diesem Fall kritisieren Individuen aufgrund ihrer persönlichen Moralvorstellungen die Folgen von Organisations- und Marktversagen. Dies ist eine legitime und auch wichtige Kritik. Diese Kritik können Organisationen – und vor allem auch Unternehmen – zum Anlass nehmen, die relevanten Governance-Strukturen so zu gestalten, dass sich Organisations- und Marktversagen abstellen lässt. Hieran ist vor allem bemerkenswert, dass die Überwindung von Organisations- und Marktversagen durch geeignete Bindungsmechanismen nicht nur für die betroffenen Individuen positive Effekte hat, sondern auch für die involvierten Organisationen. (2) »Magnanimous morality« trifft auf funktionierende Märkte und Organisationen: In diesem Fall sind Organisationen häufig einer Kritik ausgesetzt, die auf sogenannten intentionalistischen Fehlschlüssen beruht; die Kritiker schließen für die Beurteilung von 226 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Märkte, Moral und Organisationen

Handlungen auf die Motive der beteiligten Akteure, obwohl die gesellschaftlichen Folgen dieser Handlungen nicht primär von Intentionen, sondern von Institutionen abhängen: von der Rahmenordnung für die Interaktionsprozesse in Organisationen und auf Märkten. Um solchen intentionalistischen Fehlschlüssen vorbeugend entgegenzuwirken, können Organisationen über die positiven Effekte funktionierender Märkte und Organisationen aufklären. Somit bleibt als Fazit festzuhalten: Moralische Kritik an Märkten und Organisationen kann berechtigt oder unberechtigt sein. Mit dieser konzeptionellen Differenzierung lässt sich konstruktiv darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen bestimmte Moralvorstellungen an die Eigenlogik von Märkten und Organisationen (nicht) anschlussfähig sind und unter welchen Bedingungen sich gängige Moralvorstellungen destruktiv bzw. konstruktiv auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme auswirken.

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228 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

IV. Ausblick

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Ingo Pies

Weiterführende Hinweise

Wer sich mit der Argumentation, die Clark und Lee (2011, 2015) vorbringen, sowie mit der Gedankenwelt, der sie entstammt, näher vertraut machen will, wird vielleicht folgende Hinweise auf weiterführende Literatur als hilfreich empfinden.

I. Von besonderem Interesse ist, dass einer der beiden Autoren (Lee 2012) einen Nachfolgeaufsatz verfasst hat. Dieser Text ist vor allem aus drei Gründen aufschlussreich und deshalb empfehlenswert: Erstens wird die Begründung der Argumentationsstrategie deutlicher herausgearbeitet, als dies im Aufsatz von Clark und Lee (2011, 2015) der Fall ist. Zweitens wird eine wichtige Ergänzung vorgenommen, die größere Klarheit darüber verschafft, wie man sich das Verhältnis zwischen Helfermoral und Marktmoral vorzustellen hat. Und drittens wird explizit formuliert, vor welcher Herausforderung der ökonomische Wissenschaftsbetrieb steht. (1) In dem Nachfolgeaufsatz liest man: »Making a convincing moral case for markets is difficult. The approach most often taken is to point to the desirable outcomes motivated by markets, many of which can be described as moral. Markets are unequaled in reducing poverty, improving environmental quality, decreasing discrimination, and providing opportunities for social and economic advance based on freedom and responsibility. … One can make the case that given the right institutional arrangements, the pursuit of self-interest is a virtue on instrumental grounds, but few will be convinced.« 1

1

Lee (2012; S. 203).

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Weiterführende Hinweise

Lee vertritt mithin die Auffassung, dass eine rein instrumentelle Rechtfertigung der Marktwirtschaft zwar möglich, aber wenig leistungsfähig ist. Seiner Meinung nach lassen sich nicht viele Menschen durch den Nachweis überzeugen, dass die Anreizwirkungen der institutionellen Arrangements einer Marktwirtschaft außerordentlich erwünschte Folgen zeitigen können. Deshalb setzt Lee auf eine andere Argumentationsstrategie. Er wählt als Ausgangspunkt die Helfermoral und identifiziert als Quelle der moralischen Vorbehalte gegen den Markt, dass das Alltagsverständnis Moral mit Helfermoral gleichsetzt und dabei übersieht, inwiefern auch der Marktmoral ein genuin moralischer Status zukommt. (2) Am Nachfolgeaufsatz ist ferner bemerkenswert, dass Lee (2012) eine neue Überlegung vorstellt, die die Argumentation von Clark und Lee (2011, 2015) in einem wesentlichen Punkt ergänzt, so dass die angestrebte Stoßrichtung der Argumentation nochmals deutlich an Klarheit gewinnt. Lee verweist auf die normative Ambivalenz der Helfermoral. Die besteht darin, dass das individuelle Wohlwollen gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gruppe oft einhergeht mit einer weitaus weniger wohlwollenden Einstellung gegen andere Gruppen und deren Mitglieder. Die Helfermoral tritt oft in Kombination mit einem Freund-Feind-Schema auf. Lee (2012) spricht in diesem Zusammenhang von einer »dark side of emotional morality«. Hierzu liest man: »I … argue that what is universally seen as morality and as the source of enormous human happiness also has a dark side that has caused enormous grief throughout human history. The morality of concern and caring for those with whom we identify as members of our community can also trigger hostility and hatred toward those who belong to other communities. The human decency based on our propensity to exhibit compassion and love and a willingness to sacrifice for some is coupled with an equally human tendency to inflict pain and suffering on others. What goes almost completely unrecognized, even by those most vocal in their desire to reduce human brutality, is that the morality of markets serves to moderate hostility between diverse groups by harmonizing conflicting objectives through positive-sum exchange. Markets make the instinctive morality we all embrace emotionally more moral than it would be otherwise.« 2

2

Lee (2012; S. 204).

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Ingo Pies

Lee verknüpft hier zwei Argumente. Das erste besagt, dass Märkte das Verhältnis zwischen Gruppen harmonisieren, die sich ansonsten eher fremd (und sogar feindlich) gegenüberstehen: Menschen, die sich als Tauschpartner kennen- und schätzen lernen, entwickeln einen Sinn für gemeinsame Interessen. Wo ohne Markt nur Trennendes war, entsteht durch den Markt Verbindendes. Hierzu liest man: »It should not be surprising that as the number of people with whom we interact through markets has increased dramatically, violence has declined significantly. Market exchanges are positive-sum activities in which people expect to be made better off and generally are by those with whom they are dealing. Indeed, market exchanges commonly elicit feelings of cooperation and expressions of mutual thanks.« 3

Das zweite Argument zieht die Schlussfolgerung für das Verhältnis von Helfermoral und Marktmoral. Hier setzt Lee deutlich auf Komplementarität. Sein Argument besagt, dass die Marktmoral dazu beiträgt, den moralischen Status der Helfermoral anzuheben, indem sie deren dunkle Seite aufhellt. Insofern ist der Aufsatztitel »Moderating the Dark Side of Emotional Morality with the Bright Side of Market Morality« durchaus programmatisch gewählt. Die Kernaussage lautet wie folgt: »[A]n advantage realized from the mundane morality of markets is of such moral significance that it cannot be dismissed once it is understood. This advantage comes from markets’ ability to increase the value of magnanimous morality by moderating its dark side. That dark side is responsible for an untold amount of violence between groups that might be engaged in harmonious, mutually beneficial dealings with each other. By creating positive-sum opportunities on a global scale, the mundane morality of markets makes it possible for us to see strangers as allies in our efforts to improve our lives rather than as enemies to be plundered and eliminated before they plunder and eliminate us.« 4

(3) Lee (2012) wendet sich an die Ökonomen und fordert sie auf, sich konstruktiv in den Prozess zivilisatorischen Fortschritts einzubrinLee (2012; S. 214). Als Beleg für diese empirische Aussage verweist Lee mehrfach auf das in der Tat außerordentlich lesenswerte Buch von Steven Pinker (2011), das mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Vgl. Pinker (2011, 2013). Pinker dokumentiert die historische Abnahme zwischenmenschlicher Gewalt in den letzten Jahrtausenden, Jahrhunderten und Jahrzehnten. Zudem diskutiert er mögliche Gründe, die diese Entwicklung erklären können. 4 Lee (2012; S. 215). 3

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Weiterführende Hinweise

gen, durch den die Welt wohlhabender und friedlicher wird. Hierzu sollen sie gründlicher als bisher zur Kenntnis nehmen und in Rechnung stellen – also sich argumentativ ernsthaft darauf einlassen –, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung moralische Vorbehalte gegen den Markt hegt. Hierzu liest man: »Economists are in a good position to contribute to this progress [in achieving a more peaceful and prosperous world] by virtue of their understanding of the extended cooperation made possible through markets, but to direct their understanding in ways that best promote peace as well as prosperity, it would be useful for more economists to focus attention on the insights their discipline can provide about moral concerns in ways that resonate with the concerns of a large audience. I can think of no better way to begin than by acknowledging the importance and emotional appeal of magnanimous morality in small groups, while also pointing out with compelling arguments that this morality has a brutal dark side that is best moderated by the mundane morality of markets.« 5

II. Es gibt noch weitere Artikel des Autorenteams, die das thematische Umfeld ihres Aufsatzes ausleuchten. Auf zwei sei hier gesondert hingewiesen. (1) In dem Aufsatz »Why Businessmen Are More Honest than Preachers, Politicians, and Professors« 6 vergleicht Lee die Anreize für ehrliches Verhalten, mit denen unterschiedliche Berufsgruppen konfrontiert sind. Hier gelangt er zu dem Schluss, dass die sozialen Feedback-Mechanismen, durch die beispielsweise falsche Versprechungen bestraft werden, bei Kaufleuten wesentlich stärker ausgeprägt sind als bei den Berufsgruppen der Prediger, Politiker und Professoren. Dafür, dass im direkten Vergleich der Anreize für ehrliches Verhalten Politiker schlechter abschneiden als Kaufleute, führt Lee zwei Argumente an, die deutlich werden lassen, wie man sich das Zustandekommen und die Wirkungsweise einer »Marktmoral« vorzustellen hat:

5 6

Lee (2012; S. 215 f.). Vgl. Lee (2010).

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»For two reasons, people are less likely to be swayed by dishonesty and emotion when responding to business ads than when responding to political ads. First, businessmen are attempting to persuade people who are usually spending their own money; in contrast, politicians are trying to persuade people who are deciding how they want to spend other people’s money. … The motivation to minimize mistakes by carefully considering claims about costs and benefits before a decision is made and by evaluating those claims in light of postdecision experience is greater when one is bearing all of the cost of the decision than when others are bearing most of the cost. Thus, dishonest business advertising is less likely to yield short-run gains and more likely to result in the replacement of any short-run gains with longrun losses than is dishonest political advertising. … Second, misleading claims are less effective in promoting commercial products than in promoting political products because the choices that consumers of commercial products make have far more decisive effects on outcomes than do the choices that consumers of political products make. When people purchase a product in the marketplace, their choice is decisive – they get the product they choose, and they get it because they chose it. … [T]he decisiveness of their market choices elevates the value consumers realize by paying attention to the accuracy of business advertising. … The decisiveness inherent in marketplace choices may not motivate as much honesty in business advertising as we would like, but the decisiveness in market choices is appreciated when compared to the lack of decisiveness in voters’ political choices. The probability that a voter’s choice will be decisive – that is, the probability that he gets what he votes for, and he gets it because he voted for it – is vanishingly small in state and federal elections, and it is seldom greater than a small fraction of one percent in most local elections.« 7

Lee stellt bei seinem Vergleich verschiedener Berufsgruppen nicht auf inhärente Charaktereigenschaften unterschiedlicher Menschentypen und ihre Selbstselektion zu entsprechenden Betätigungsbereichen ab, sondern konzentriert sein Argument ganz auf die bereichstypischen Sanktionsstrukturen für (un-)moralisches Verhalten. Die werden aus seiner Sicht vor allem dadurch bestimmt, dass die Wirtschaft private Güter produziert, während es in der Politik um die Bereitstellung öffentlicher Güter geht. Aufgrund der signifikant unterschiedlichen Anreizwirkungen schließt Lee auf signifikant unterschiedliche Verhaltensmuster. Typisch hierfür ist beispielsweise die folgende Aussage:

7

Lee (2010; S. 438).

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Weiterführende Hinweise

»Because emotional claims in political advertising are more salient than accurate facts to most voters, politicians can profit by making emotionally appealing promises that they seldom keep.« 8

(2) In dem Aufsatz »Market Failures, Government Solutions, and Moral Perceptions« 9 entwickeln Lee und Clark die These, dass die weitgehende Gleichsetzung von Moral mit Helfermoral direkt politische Konsequenzen nach sich zieht, indem sie beispielsweise zur Ausdehnung der Staatstätigkeit beiträgt. In diesem Artikel werden zahlreiche Aussagen getroffen, die interessant – im Sinne von: einer kritischen Betrachtung wert – sind. Zwei seien hier angeführt. Die erste bezieht sich auf die Rolle des Staates, während die zweite eine Antwort auf die Frage gibt, warum die ökonomische Bildung mit spezifischen Aufklärungs-Hindernissen zu kämpfen hat. Zum einen vertreten Lee und Clark als Public-Choice-Ökonomen die These, dass zahlreiche Staatsaktivitäten – und insbesondere staatliche Transferzahlungen – das Ergebnis eines erfolgreichen Rent-Seekings sind, also dadurch zustande kommen, dass sich einzelne Interessengruppen auf Kosten der Allgemeinheit politisch mit Privilegien versorgt haben. Diese Sicht der Dinge hält sie jedoch nicht davon ab, dem Staat wichtige Funktionen zuzuweisen. Hierzu liest man: »Civil society and free market prosperity depend on government securing our liberty by protecting our persons and property against violence and theft, providing basic infrastructure and public goods unlikely to be privately provided, and enforcing the rules of private property and voluntary exchange that allow people to pursue their own objectives and solve most of their problems in productive cooperation with each other. But government’s proper role is a limited one. Unfortunately, when people see problems as the result of market failures that require government corrections, the limits on government action quickly begin to erode.« 10

Zum anderen berichten Lee und Clark von persönlichen Erfahrungen mit Versuchen, ihre Mitbürger über die kontra-intuitiven Folgen politisch populärer Maßnahmen ökonomisch aufzuklären – und über die moralischen Widerstände, auf die diese Versuche gestoßen und an denen sie gescheitert sind: Lee (2010; S. 439). Vgl. Lee und Clark (2013). 10 Lee und Clark (2013; S. 288). 8 9

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»Certainly we, and we suspect most others who have studied public choice, have attempted to explain our political insights to people we have met at social gatherings by pointing out that the effect of their vote on the outcome of any but very small local elections is effectively zero. The hope is that the reaction will be one of interest coupled with a desire to hear more. This hope is almost always disappointed. About the best reaction one can expect is a reasonably polite argument that starts with »What if everyone believed that?« More likely there is a quick end to the conversation, often initiated by a less than flattering comment directed our way. The reactions are much the same when we have attempted to explain to someone that the noblesounding policy he voted for, such as a minimum wage increase to help the poor, import restrictions to help American workers, or anti-price-gouging laws to help victims of natural disasters, harms the very people he intended to help. Almost no one likes being told that his vote provides no noticeable support for the policies he voted for, or if those policies are enacted they will harm the very people he wanted to help. And those whose sense of magnanimous morality from voting depends on the belief that their votes represent an intentional and meaningful personal sacrifice to achieve moral objectives are, we suspect, the most offended by these and other insights of public choice economists.« 11

Lee und Clark vertreten mithin die These, dass viele Bürger, die sich selbst und ihr Verhalten (an der Wahlurne) primär aus einer helfermoralischen Sicht wahrnehmen, innere Widerstände gegen ökonomische Erkenntnisse aufbauen, die ihnen die Augen dafür öffnen würden, dass politische Maßnahmen, die mit wohlklingenden Begründungen ausgestattet werden, oft etwas ganz anderes bewirken als das, was sich die Bürger von ihnen erhoffen.

III. Abschließend sei noch auf drei Bücher hingewiesen, die ihren Scheinwerfer darauf richten, wie sich die Argumente pro und contra Marktwirtschaft im Laufe der letzten Jahrhunderte gewandelt haben. Alle drei Bücher sind außerordentlich lesenswert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen:

11

Lee und Clark (2013; S. 294).

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Weiterführende Hinweise







Das erste Buch wurde von Albert O. Hirschman verfasst. 12 Es enthält auf rund 150 Seiten eine gedrungene Gedankenskizze mit reichhaltigem Belegmaterial. Zwei Ideen verdienen es, hier besonders hervorgehoben zu werden: Zum einen schildert Hirschman, wie der Begriff des »Interesses« im 17. Jahrhundert Einzug in den ethischen Diskurs gehalten hat und sich mit der Hoffnung verband, die moralisch bedenklichen »Leidenschaften« (= Laster) bändigen zu können. Zum anderen zeichnet Hirschman nach, wie nach den Religionskriegen führende Vertreter der Moralphilosophie auf die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Strukturen setzten, von denen sie sich eine konfliktbesänftigende Befriedungswirkung versprachen. Das zweite Buch wurde von Jerry Muller verfasst und wird im Aufsatz von Clark und Lee auch zitiert (CL-41). 13 Auf rund 470 eng bedruckten Seiten zeichnet Mullers material- und kenntnisreiche Studie nach, auf welche (z. T. wiederkehrenden) Argumentationsmuster sich Befürworter und Gegner der Marktwirtschaft seit dem 18. Jahrhundert gestützt haben. Die Studie orientiert sich an einzelnen Autoren, die exemplarisch, aber außerordentlich niveauvoll und gut lesbar behandelt werden. Die jeweils tiefschürfenden Analysen reichen von Voltaire und Adam Smith über u. a. Hegel und Marx bis zu Schumpeter, Keynes und Hayek. Das dritte Buch wurde von Alan Kahan verfasst. 14 Es entfaltet die These, dass die Intellektuellen seit rund 150 Jahren eine Art Krieg gegen die Marktwirtschaft geführt haben und ruft sie zum Waffenstillstand auf. Unabhängig davon, ob man dieser These so zustimmen mag, enthält dieses Buch auf rund 300 Seiten zahlreiche interessante Belege, die zum eigenen Nachdenken anregen. Das zeitliche Spektrum reicht von Aristoteles bis zum 20. Jahrhundert.

Vgl. Hirschman (1977, 1997). Es liegt auch in deutscher Übersetzung vor. Vgl. Hirschman (1977, 1987). 13 Vgl. Muller (2002). 14 Vgl. Kahan (2010). 12

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Ingo Pies

Literatur Clark, Jeff R. und Dwight R. Lee (2011, 2105): Markt und Moral, in: Der Markt und seine moralischen Grundlagen, hrsg. von Ingo Pies, Freiburg und München, S. 12–77. Hirschman, Albert O. (1977, 1987): Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a. M. Hirschman, Albert O. (1977, 1997): The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton, New Jersey. Kahan, Alan S. (2010): Mind vs. Money: The War between Intellectuals and Capitalism, New Brunswick. Lee, Dwight R. (2010): Why Businessmen Are More Honest than Preachers, Politicians, and Professors, in: The Independent Review 14(3), S. 435–444. Lee, Dwight R. (2012): Moderating the Dark Side of Emotional Morality with the Bright Side of Market Morality, in: The Independent Review 17(2), S. 203–217. Lee, Dwight R. und J. R. Clark (2013): Market Failures, Government Solutions, and Moral Perceptions, in: Cato Journal 33(2), S. 287–297. Muller, Jerry Z. (2002): The Mind and the Market. Capitalism in Western Thought, New York. Pinker, Steven (2011): The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined, London ßblockakßu. a. O.ßblockakß Pinker, Steven (2011, 2013): Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, übersetzt von Sebastian Vogel, Frankfurt a. M.

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Kurzangaben zu den Autoren

J. R. Clark, Ph.D., ist Inhaber des »Probasco Chair of Free Enterprise« an der University of Tennessee at Chattanooga in den USA. Dr. Gerhard Engel ist Präsident der Humanistischen Akademie Bayern in Nürnberg. Johannes Fioole ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität zu Göttingen. PD Dr. Michaela Haase leitet das Zentrum für Marketingethik am Marketing Department des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin. Dr. Stefan Hielscher ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dwight R. Lee, Ph.D., ist Inhaber des »William J. O’Neil Endowed Chair of Global Markets and Freedom« an der Southern Methodist University in den USA. Prof. Dr. Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Birger P. Priddat ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaft und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Prof. Dr. Christian Rennert ist Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Unternehmensführung am Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften der Fachhochschule Köln. 239 https://doi.org/10.5771/9783495808252 .

Kurzangaben zu den Autoren

Dr. Matthias Georg Will ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Dr. Alexandra von Winning ist geschäftsführende Inhaberin der CSR-Beratung »Good Growth«. Prof. Dr. Reinhard Zintl ist Emeritus des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

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