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German Pages 526 Year 2014
Vanessa Schröder Geschichte ausstellen – Geschichte verstehen
Vanessa Schröder (Dr. phil.) ist freiberuflich im Bereich Besucherforschung und Kulturevaluation tätig. Sie hat an der Universität Bielefeld Diplom-Soziologie mit den Schwerpunkten Organisations-, Arbeits- und Managementsoziologie sowie Politikwissenschaft studiert und an der Universität Duisburg-Essen promoviert sowie als Kultursoziologin gelehrt.
Vanessa Schröder
Geschichte ausstellen – Geschichte verstehen Wie Besucher im Museum Geschichte und historische Zeit deuten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorbemerkung | 7 Museumsphänomene | 11
1
TEIL I Geschichte, Historische Zeit und Museen | 31
2
2.1 Museale Geschichte(n): Was ein Museum konstituiert | 31 2.2 Zeitperspektiven und Geschichtssemantik | 84 2.3 Zusammenfassung und Ausblick | 96
TEIL II 3
Die Museen und ihre Selbstbeschreibungen | 103
3.1 Das Memory Museum: JMB | 103 3.2 Geschichte erleben – Ein narrativer Integrationsversuch von Ost und West, Politik und Lebenswelt: HdG | 126 3.3 Ein Nationalmuseum im europäischen Kontext: DHM | 131 3.4 Lokale, regionale Geschichte in Europa: MHU | 138 3.5 Zusammenfassung und Ausblick | 142 4
Die Besucher | 145
4.1 4.2 4.3 4.4
Zum Stand der Besucherforschung | 145 Das Erhebungsdesign: vier vergleichende Besucherstudien | 155 Portraits des Besuchspublikums im JMB, HdG, DHM und MHU | 158 Zusammenfassung und Ausblick | 169
TEIL III 5
Wie Geschichtsverstehen untersucht wurde | 175
5.1 Wie die Besucher ihre Eindrücke schildern und dabei Geschichte deuten | 178 5.2 Wie die Besucher die museal inszenierte Geschichte deuten | 246 5.3 Zusammenfassung und Ausblick | 300 6
Wie die Besucher die Museen nutzen | 303
6.1 Eckdaten der Besuche | 308 6.2 Rezeptionsmodi | 312
6.3 Vorwissen: Die Dokumentation der Arbeitsschritte | 313 6.4 Eindrücke des Besuches: Historische Perioden, Themen, Geschichtsdarstellung und Exponatinszenierung | 331 6.5 Architektonische Sinnbilder: Die Architekturbeschreibungen im JMB | 338 6.6 Ordnungen im Museum | 344 6.7 Antizipierte Erinnerung an den Besuch | 353 6.8 Zusammenfassung: Die Museen aus der Sicht ihrer Besucher | 362 7
Deutungen von Geschichte und Zeit | 367
7.1 Wie wird Geschichte gedeutet? – Unterschiede im Geschichtsverstehen zwischen den Museen | 367 7.2 Anderes Geschichtsverstehen, andere implizite Zeitperspektive? | 371 7.3 Anderes Museum, andere Besucher, andere Zeitperspektive? | 382 7.4 Dem Geschichtsverstehen implizite Zeitperspektiven | 394 7.5 Zusammenfassung | 397 8
Wie sind die Unterschiede in der Konstruktion von Zeitperspektiven und im Verstehen von Geschichte empirisch zu erklären? | 401
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Sozial geteilte Zeitperspektiven | 404 Historische Zeitperspektiven | 409 Konstruktion von Weltzeit: Chronologie | 416 Geschichtsverstehen: Die spezifischen Deutungen von Geschichte | 421 Zusammenfassung: Verstehen von Geschichte und Zeit im Museum | 432
9
Geschichte ausstellen – Geschichte verstehen | 437
Anhang | 449
Abbildungsverzeichnis | 449 Tabellenverzeichnis | 450 Abbildungen/Tabellen im Anhang | 451 Literaturverzeichnis | 474 Fragebogen | 507
Vorbemerkung
Das hier veröffentlichte Buchmanuskript entspricht der stark überarbeiteten Fassung meiner Dissertationsschrift „(Geschichts-)Bilder einer Ausstellung. Wie Besucher von vier Museen Geschichte und historische Zeit erleben“, die von der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen als Dissertationsschrift angenommen wurde. Für die vorliegende Publikation verwende ich vier Besucherbefragungen aus dem Jüdischen Museum Berlin (JMB), dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) in Bonn, dem Historischen Museum am Hohen Ufer (MHU), Hannover und dem Deutschen Historischen Museum (DHM), Berlin. Diese Befragungen führe ich im Kapitel 4 mit den Profildaten der Besucher ein, um sie dann im empirischen Teil III dieser Publikation weiter zu interpretieren. Dieses empirische Material wurde in dem von Prof. Dr. Hanns-Georg Brose geleiteten Forschungsprojekt „Kulturen der Ungleichzeitigkeit“ (KUGL), in dem ich im Jahr 2004 als wissenschaftliche Hilfskraft mitzuarbeiten begann, erhoben und ausgewertet. Dem Leiter des Projekts, später zugleich Betreuer meines Promotionsvorhabens, gilt demnach mein besonderer Dank, da er mir die Möglichkeit eröffnete, die Daten und Befunde des Projekts im Rahmen meines Promotionsvorhabens zu nutzen, weitergehend auszuwerten und hier erstmalig zu publizieren. Weiter danke ich Prof. Dr. Stefan Liebig als dem Zeitgutachter meiner Promotion. Der Auftakt der Befragungen am JMB in 2004 wurde vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen unterstützt. Später war das Projekt an der Universität Duisburg-Essen angesiedelt und erfuhr von dort ab November 2004 finanzielle und personelle Unterstützung. Die quantitative Auswertung der Besucherbefragungen profitierte von den Ratschlägen der dortigen Kollegen. Exemplarisch danke ich am Institut für Soziologie dieser Universität Dawid Bekalarczyk für seinen methodischen Rat zu verschiedenen strukturanalytischen Auswertungsverfahren und Jan Finsel für seine kritische Lektüre der Darstellung meiner Analysen. Weiter ist den Verantwortlichen der vier Museen zu danken, die uns den Zugang zu ihren Ausstellungs-
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häusern eröffneten. Im JMB erfuhr das Projekt Unterstützung von Christiane Birkert und Anja Löffler sowie weiteren Interviewern aus dem Team der dortigen Besucherforschung. Die Möglichkeit Ende des Jahres 2004, im HdG in Bonn zu erheben, eröffnete uns Prof. Dr. Hermann Schäfer und Hans Joachim Westholt. Der Direktor des Historischen Museums am Hohen Ufer, Hannover, Prof. Dr. Thomas Schwark und Heike Domeier öffneten uns im Herbst 2005 für eine Besucherbefragung ihr Haus. Die Erhebungen am DHM in Berlin wurden Ende des Jahres 2006 durch Prof. Dr. Hans Ottomeyer und Stefan Bresky ermöglicht. Als Interviewer arbeiteten Torben Bleikerts, Wendy Saal, Maria Neumann und Viktoria Leygraf als studentische Hilfskräfte an den Erhebungen mit. Liegt der Zweck von Studien zur Besucherforschung allgemein darin, den Besuchern eine Stimme zu verleihen und diese insofern zu „gefragten Gästen“ der Kultureinrichtungen zu machen, bedurfte es nicht zuletzt auch der Zeit und Geduld der Museumsbesucher, die die Interviews mit uns führten. Selbst wenn diese zum Teil die Option ausdrücklich begrüßten, nach ihrem Besuch über ihre Eindrücke zu reflektieren, ist es keineswegs selbstverständlich, dass sie sich noch nach einem informations- und eindrucksreichen Museumsbesuch auf ein Interview einließen. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin von KUGL habe ich an den qualitativen Auswertungen des Textmaterials mitgearbeitet. Mein Dank gilt insbesondere Wendy Saal, die zur lebhaften Diskussion zur Interpretation des Textmaterials und deren Abgleich untereinander im Auswertungsteam beitrug. Michael Eberle beriet mich bei der ersten Berechnung einer Faktorenanalyse. Die deskriptiven Auswertungen des statistischen Datenmaterials konnte ich seit 2004 nach und nach als Projektmitarbeiterin vornehmen. Die theoretische Einbettung der empirischen Befunde habe ich eigenständig geleistet und die Selbstbeschreibungen der Museen zusammengetragen. Das Jahr 2007 habe ich umfassend für weiterführende statistische Auswertungen genutzt, die aber nicht berücksichtig werden konnten. Im Jahr 2008 endete formell meine Projektmitarbeit, während ich als Doktorandin zugleich dem Projekt und dem Lehrstuhl Brose verbunden blieb. Ich trage entsprechend dieser verschiedenen Rollen, als Projektmitarbeiterin und Doktorandin, für die hier dargestellten empirischen Befunde die Verantwortung. Als Projektmitarbeiterin berichte ich über die in KUGL erhobenen Daten und Befunde. Für die abschließende Darstellung der Befunde und weitere Interpretation der Ergebnisse trage ich als Doktorandin in der vorgelegten Fassung die alleinige Verantwortung. Aber es ist offensichtlich, dass diese Publikation ohne die Mitarbeit und Hilfe der anderen Mitarbeiter nicht zustande gekommen wäre. Zuletzt gilt mein Dank für ein geduldiges Lektorat und Korrektorat Tobias Ellenberger sowie Dr. Heike Wilde für die Endfassung. Die Liste derjenigen, die mich privat unterstützt haben, Stimmungsschwankungen ertragen, meinen Mangel an Zeit toleriert, meine Möglichkeiten und Kompetenzen erweitert haben, ist sehr lang. Sehr viele Menschen haben dafür gesorgt, dass ich
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mir zeitliche Freiräume verschaffen und zwischenzeitliche ökonomische Missstände überbrücken konnte. Meinen Partnern, Freunden und Bekannten in dieser Zeit verdanke ich eine große Fülle an Aufmerksamkeiten und Zuwendungen. Einzelne wollen nicht genannt werden, deshalb belasse ich es dabei, niemanden zu nennen und an alle zu denken, um auch jede kleine Unterstützung angemessen zu würdigen. Explizit danke ich an dieser Stelle meinem Vater, Heiko Schröder, und seiner Partnerin, Gisela Fischer, die mir diese Publikation finanziell ermöglichen. Vanessa Schröder, Karlsruhe, 14.01.2013
1 Museumsphänomene
Zu Beginn des dritten Jahrtausends hat es Konjunktur, sich mit musealisierter Geschichte zu befassen und dabei „Geschichte“ auf eine spezifische Art und Weise zu verstehen, wie verschiedene Museumsphänomene nahe legen (Liddiard, 2004). Der Fokus dieser Arbeit liegt für einen Einstieg ins Thema zunächst auf Museumsbauten, der Blick schweift über Aspekte musealer Präsentation, richtet sich auf Medien, bemerkt die Verbreitung und Vielfalt von Ausstellungshäusern, um zu der Art und Weise zu sprechen zu kommen, wie Museen heute Geschichte erzählen. Eine solche Phänomenskizze wird in diesem Kapitel entfaltet und diese soll auf die kulturellen und sozialen Implikationen des Themas verweisen. In der vorliegenden vergleichenden Besucherbefragung wird es darum gehen, wie die Besucherinnen und Besucher1 von vier kulturhistorischen Museen Geschichte und historische Zeit verstehen. Geschichte wird unten in Kapitel 2.1.2 definiert als kulturell überformte Erzählung, die als historische Narration immer ex post erfolgt und verschiedene Phasen, Perioden und Ereignisse durch wechselseitiges zeitliches Herstellen von Beziehungen literarisch oder dinglich-materiell konstruiert. Eine Erzählung darüber, wie der Mauerfall eine Periode der deutschen Teilung beendete, bezieht so z. B. die Nachkriegsperiode der Zweistaaten-Deutschlands auf das Ereignis ihrer Wiedervereinigung. Die „Beziehung“ zwischen Repräsentationen und ihrem Sinn – ob nun wie in der Semiotik zwischen Signifikant und Signifikat binär oder als komplexere Ordnung organisiert – soll hier als auf einem abgleichenden Ins-Verhältnis-Setzen von Sinnattributionen beruhend definiert werden (Foucault, 1971: 98f), das der Konstruktion jeder Sinnzuschreibung zugrunde liegt. Das gilt für die Beziehung eines
1
Im Folgenden wird aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung schlicht von Besuchern in männlichem Genus die Rede sein, was die Besucherinnen mit einschließt. Es sei denn, es geht explizit um Befragte, deren Geschlecht als soziale Kategorie und Variable in der Besucherforschung relevant ist.
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Signifikanten auf ein Signifikat ebenso wie für das Herstellen von Bezügen zwischen verschiedenen Zeiten, durch Chronologie auf Ereignis oder auf historische Perioden etc. Der Vergleich zwischen zweierlei (z. B. Signifikant und Signifikat) ist die Grundoperation jeder Sinnbildung, in der sich zugleich als Drittes der Beobachter zeigt. Als Beispiel lässt sich wiederum auf die Phase der deutschen Teilung verweisen, die eine bestimmte Zeitspanne „von dann bis dann“, geprägt durch den Kalten Krieg und die Konfrontation zwischen Ost und West darstellt. Die Selektion, gerade diese Themen, diese Zeitphasen bzw. Ereignisse in Beziehung zu setzen und nicht andere, liegt bei einem Beobachter. Häufig wird Sinn sprachlich attribuiert und damit stellt sich ein Subjekt in Beziehung zu einem Objekt. Durch die Funktionen der Sprache lassen sich die zugrundeliegenden Prozesse recht einfach veranschaulichen. „Alle Funktionen der Sprache lassen sich auf drei Elemente zurückführen, die zur Bildung eines Satzes unerlässlich sind: das Subjekt, das Attribut und ihre Verbindung. Es liegt ein Satz – und Diskurs – vor, wenn man zwischen zwei Dingen eine attributive Verbindung feststellt, wenn man sagt, dies ist jenes“ (Foucault, 1971: 133). Es liegt ein historischer Diskurs vor, wenn man einer Spanne zwischen zwei Zeitpunkten eine sachliche Qualität zuschreibt. Wenn man zum Beispiel sagt, die Zeitspanne „von dann bis dann“ sei charakterisiert durch „das und das“ wie: die zehn Jahre von 1948 bis 1958 gelten als Periode des Wirtschaftswunders. Im Herstellen von Beziehungen ist eine Grundoperation von Sprache, diskursiver Kommunikation und Sinnbildung zu sehen. Hinzu kommt, dass im Diskurs Verbindungen zwischen Subjekt, Attribut und Objekt möglich sind, die nicht ihre Identität, sondern ihre Differenz behaupten: X unterscheidet sich von Y bzw. Y ist nicht X. Nur, wenn man zwei Zustände in Relation zueinander setzt und vergleicht, ist es möglich, den andauernden Bestand des einen gegenüber dem anderen ebenso wie Veränderungen zu verstehen. In der Geschichtswissenschaft ist es mittlerweile gängig, wenn auch in Bezug auf ihren Objektivitäts- oder Wahrheitsanspruch nicht unumstritten, Geschichte als Erzählung zu verstehen (z. B. White, 1973; Röttgers, 1982; Danto, 1985; Lyotard, 1987, 1994; Ricœur, 1988; Rüsen, 1989, 1990). Bemerkenswert ist zudem die Anzahl sozialwissenschaftlicher Publikationen, die Wissen und Lebensgeschichte als Erzählung verstehen (z. B. Meuter, 1995; Roberts, 1997; Gergen, 1998, Kraus, 2000; Sepulveda, 2001; Heinrich, 2002). Es gibt entsprechend eine Fülle an Autoren, die davon ausgehen, dass nicht nur Geschichte und Zeit (Koselleck, 1989), sondern auch historische Erzählung und subjektive Zeit miteinander zusammenhängen (Ricœur, 1988: 13; 87). Historische Literatur konstruiert gleichsam, ebenso wie die dingliche Inszenierung in Museen, eine kulturelle „Geschichtserzählung“ als historische Semantik, die in zeitlicher Hinsicht dieses Ereignis in Beziehung zu jenem stellt, jene Phase in Abgrenzung zu einer anderen präsentiert, diese Periode mit einer nächsten vergleicht etc., obschon vielleicht eine dritte ausgelassen wird. Dabei werden spezifi-
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sche kulturelle Kodierungen und (Darstellungs-)Formen etabliert, die bestimmen, wie Geschichte verstanden wird. Daran anknüpfend lautet eine zentrale These dieser Untersuchung: Die medialen Ordnungen, mittels derer Geschichte kulturell repräsentiert wird, bestimmen, mit welchem Sinn Vergangenheit als „Geschichte“ vergegenwärtigt und mit welchem Sinn sie überliefert wird. Ausgehend vom Sinn, der der Vergangenheit in der Renaissance zugeschrieben wurde (Burke, 1969: 105f; LeGoff, 1992: 102f), lässt sich veranschaulichen, wie kulturelle Ordnungen allgemein das organisieren und bestimmen können, was als Geschichte wie überliefert wird. Fehlte es in dieser Periode zunächst noch an einer explizit historischen Perspektive, beeinflusste der Rückgriff auf die antike Rhetorik, was wie überliefert, was ausgelassen oder vernachlässigt wurde. Antikes wurde in der Renaissance als historische Semantik behandelt, der im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit eine größere Relevanz zugeschrieben wurde. Was als Geschichte gilt, variiert nicht nur infolge der je gegenwärtigen Auswahl und Aufmachung von Fakten, die man aus erkenntnismäßigen oder anderen Gründen für berichtenswert hält (Luhmann, 1976: 341). Spätestens seit dem 16. Jahrhundert wurden mit einer „antiquarian attitude“ nach Ursprüngen in einer länger zurückliegenden Vergangenheit gesucht (Burke, 1969: 40f). Man suchte Erklärungen und Gründe verstärkt in der Zeit. „Das eingebürgerte Fremdwort der ‚Historie‘, das vornehmlich den Bericht, die Erzählung von Geschehenem meinte […], wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts von dem Wort „Geschichte“ verdrängt.“ (Koselleck, 1989: 47). Geschichte wandelte sich im 18. Jahrhundert mit der Moderne zu einem Erwartungsbegriff. Die Geschichtswissenschaft als Reflexionswissenschaft eröffnete ein Spektrum von Vergangenheitsinterpretationen und offerierte damit Orientierungen für die Zukunft (Speth, Wolfrum, 1996: 13; Rüsen, 1999: 84). Die volle Historisierung wurde erst im 19. Jahrhundert mittels einer einheitlichen Weltzeit denkbar. Historisierung bedeutet, dass in die beiden Zeithorizonte der Gegenwart geschachtelt wiederum Gegenwarten mit eigenen Zeithorizonten, nämlich eigenen Zukünften und Vergangenheiten auftauchen, also mit Iterationsmöglichkeiten, die nicht logisch, sondern nur durch Fragen der Kapazität begrenzt werden (Luhmann, 1976: 352). Die Historisierung steht mit dem Motiv der Veränderbarkeit der Welt im Zusammenhang: Sähe die Zukunft immer gleich aus, wäre sie nicht beeinflussbar; würde sich die Zukunft nicht ausgehend von einer Gegenwart verändern, wäre ein ins Weltgeschehen eingreifendes Handeln sinnlos. Wie man die Vergangenheit – gemeint ist damit der gesamte Horizont vergangenen Geschehens – oder Geschichte rekonstruierend formt, gilt als Vorbereitung zukünftigen Handelns (vgl. Koselleck, 1989: 11). Die Perspektive auf die Geschichte kollektiven Fortschritts, z. B. die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse betreffend, war seit der im 19. Jahrhundert beginnenden Industrialisierung ein bestimmendes Motiv politischen Handelns. Kommunistischen und sozialistischen Bewegungen etwa diente Geschichte zur Überwindung der Gegenwart durch
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Utopie- und Handlungsentwurf. In diesem Kontext war die Einsicht entscheidend, dass auch individuelle Handlungsakte, eingebunden in kollektive politische Handlungsanstrengungen, geschichtsmächtig werden können und Veränderungen bewirken. Ob Geschichte heute, in einer Gegenwart, in der Fortschritt als überholter Begriff gilt und vom Ende der Geschichte oder Posthistoire die Rede ist (Niethammer, 1989; Fukuyama, 1992), immer noch zu einer Orientierung in der Zeit dient, kann fraglich werden. Spätestens heute haben sich die Arten der Geschichtsdarstellung weiter diversifiziert. Dieselbe Geschichte lässt sich aus mehreren Perspektiven erzählen, je nach Beobachter als Fortschritt oder Regress verstehen. Die je relevanten Ausschnitte aus dem vergangenen Geschehen unterscheiden sich je nach sozialer Gruppenzugehörigkeit und Ausdeutung. Deshalb gibt es Geschichte immer nur im Plural, jenseits des modernen Kollektivsingulars (Koselleck, 1989: 51ff), der sich dafür etabliert hat. Dieser wird hier im Folgenden z. T. zur Vereinfachung weiter verwendet. Geschichtsschreibung interpretiert Vergangenes immer neu, ausgehend von einer Gegenwart. Insofern „machen“ Historiker Geschichte (Giddens, 1984: 201; Ricœur, 1997: 435). Die Konstruktion „Geschichte“ ist genuin literarisch (Ernst, 1992: 20). Aus einer systemtheoretisch inspirierten Perspektive lassen sich Geschichte und Kultur als Gedächtnis und Semantik thematisieren; ein Gedächtnis, welches mit der Semantik für die Gesellschaft mögliche Zeitperspektiven aufbewahrt. Geschichte ist beobachterabhängig; für Geschichte sind Selektionen aus dem Geschehenen notwendig, die von der Relevanz dieses Vergangenheitsausschnitts geprägt sind. Museen sammeln insofern symbolische Strukturen, die unseren öffentlichen Mythen, denjenigen Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, eine institutionalisierte, materialisierte Gestalt geben (Kavanagh, 1990: 127; Rowland, 2006). Semantiken, die als etablierte Selbst- und Fremdbeschreibungen, die Vergangenes als Geschichte oder Geschichten aktualisieren, sind von verschiedenen Zeitbegriffen durchzogen, die als Binnenstruktur zeitliche Ordnung in die erzählte Geschichte bringen (Koselleck, 1989: 9f). Bereits von einem Zeitverlauf auszugehen, stellt kommunikativ unterschiedliche Ereignisse in Beziehung. Die Zeitstruktur ist Geschichte demnach eingeschrieben. Wie kommt aber die Zeit „in“ die historischen Relikte, wie bekommt der museale Raum eine zeitliche Struktur? Daran anknüpfend entsteht die Frage, ob und wie sich Geschichte musealisieren lässt (Korff, 1995a) und wie eine solche musealisierte Geschichte von den Besuchern erlebt wird. In dieser Untersuchung wird es um Besucher kulturhistorischer Museen gehen, denen aufgrund ihrer Anwesenheit in einem Museum ein Mindestmaß an Geschichtsinteresse zu unterstellen ist (Merriman, 1989: 158). Die Rede vom „Museum“ meint hier, abhängig vom Kontext, nicht nur ein spezielles Museum in der Einzahl, das dann jeweils zu bezeichnen wäre, sondern ebenso das, was „Museum“
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als Institution (DiMaggio, 1991; Rowland, 2006) sowie als begrifflich-semantisches Konzept prägt. Die Neugier darauf, wie Besucher kulturhistorischer Museen Geschichte und historische Zeit verstehen, geht auf die sich in zeitgenössischen Museen aktuell abzeichnenden Veränderungen zurück. Die Zugänge zu Geschichte im Museum vervielfältigen sich; die museale Architektur symbolisiert zunehmend historische Brüche statt linearer Zeit, und die Anzahl an und Vielzahl von Museen erweitert sich. – Waren Sie schon einmal im Schokoladenmuseum? Neue Medien dringen in die Museen ein; glauben Sie, die Computerisierung verdrängt das historische Original? – Dass die Diskussion um Antworten auf diese Fragen in einem öffentlichen Diskurs geführt wird, zeigt, Geschichte ist nicht mehr, was sie einmal war. Diese Phänomene scheinen auf einen Wandel in der symbolischen Repräsentation von Zeit in der musealen Inszenierung von Geschichte zu verweisen. Als Sensibilisierung für das Thema soll hier eine skizzenhafte, illustrierende Beschreibung von Museumsphänomenen stehen. Für Museen selbst ist typisch, dass sich Zeit und Wandel am Gegenstand und Einzelphänomen besser sichtbar machen lassen. Es wird zu Beginn der Ausführungen dabei bewusst darauf verzichtet, dieser Sizze bereits eine Systematik, Argumentationsstruktur oder gar einen Anspruch auf Vollständigkeit zu geben. Ziel der Beschreibung von Museumsphänomenen ist eine Annäherung an den Gegenstand und zunächst ein selektives Aufzeigen der Relevanz des Themas. Ähnlich einem Kaleidoskop, das man dreht, um zu unterschiedlichen Einstellungen und Perspektiven auf etwas zu gelangen, wobei einem jedes Bild eher zufällig und temporär entstanden zu sein scheint, soll hier zunächst eine Annäherung an die Geschichtsdarstellung zeitgenössischer Museen aus der Sicht ihrer Besucher unternommen werden. Im Zuge dieser Untersuchung wird es dann darum gehen, nach dem zunächst mittels der unterschiedlichen, fragmentarischen Einstellungen eines Okulars als Sehhilfe unternommenen Einstiegs den Forschungsgegenstand anhand einer nach und nach schärferen Einstellung präziseren und Rekonstruktion der Bedeutungen von Geschichte für das Publikum kulturhistorischer Museen zu verdichten. Der Sinn des Drehens an der hier sinnbildlichen Bild- und Projektionsmaschine liegt darin, die Aufmerksamkeit für den Phänomenbereich und für unterschiedliche sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Zugänge zum Thema zu steigern. Einstellung eins – Die Architektur Eine Annäherung an das Erkenntnisinteresse zur Frage nach den Geschichtsdeutungen der Besucher kulturhistorischer Museen lässt sich zunächst durch einen oberflächlich-visuellen Verweis auf die Architektur von Museen unternehmen. Mu-
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seumsbauten sind zumeist Prototypen des zeitgenössischen Geschmacks und vorherrschender Architekturstile. Traditionell symbolisieren modern geprägte Museumsarchitekturen – der Präsentationsraum innen und der Museumsbau nach außen – nach dem Vorbild der Great Exhibition den nationalen Fortschrittsgedanken (z. B. Bergius, 1981; Bennett, 1995: 184f). Die Dinge wurden seinerzeit in linearer Reihenfolge geordnet. Linearität repräsentiert das vorherrschende progressive Konzept von Entwicklung in zeitlicher Abfolge. Architektonisch orientierte man sich daher für Repräsentativbauten lange an klaren geometrischen Formen. Abb. 1.1: Luftbild des Zeughauses und des I.M.-Pei-Baus
Quelle: © DHM
Suggerierten die repräsentativen modernen musealen Bauten zudem eher überzeitliche Kontinuität, entspricht es einem heute zeitgenössischen Baustil, alter Repräsentationsarchitektur neue Elemente hinzuzufügen und damit ein Augenmerk auf Veränderung, stilistische und zeitliche Durchdringungsprozesse zu lenken. Die explizit moderne, wenn auch zeitgenössische Architektur des Anbaus I. M. Peis am Deutschen Historischen Museum, Berlin, behält z. B. die klare Linienführung des Grundrisses des Zeughauses bei, die es zugleich abrundet und ergänzt. Die barocke Repräsentationsarchitektur des Zeughauses potenziert Kontinuität und Geltung durch seine geometrisch klare Form „ins Quadrat“ (Fliedl et al., 1996).
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Ein Unterschied zwischen moderner und postmoderner Architektur lässt sich darin erkennen, dass postmoderne Architektur nicht länger eine Idee des Fortschritts, der Rationalität und Freiheit verkörpert (Lyotard, 1987: 100) oder diese gar, wie im Falle vieler Architekturentwürfe von Libeskind, dekonstruiert. Gilt I. M. Pei als zeitgenössischer moderner Architekt, da er stilistisch, im Unterschied zu Libeskind, mehr oder weniger bei geometrischen Formen und klaren Linien bleibt, lassen sich im Vergleich beider Museumsbauten recht gut die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zeitgenössischer Architekturstile veranschaulichen. Das Neue zeitgenössischer Architektur löst das Alte nicht länger ab, sondern fügt Neues hinzu, das nicht ersetzt, sondern ergänzt. Die Moderne ging davon aus, dass es nur eine zeitliche Richtung gäbe, während Zeitlichkeit gerade aus dem Nebeneinander heterogener Zeitlichkeiten besteht (Rancière, 2008b: 43). Eine Ablösung des Alten liegt beim durch I. M. Pei ergänzten Zeughaus nicht vor. Die Formensprache des Architekten ist dennoch relativ klar und rein, wie es dem „modernen“ Ideal entspricht. Dieser Stil findet sich z. B. bei Peis modernen Glasanbauten, die an Mies van der Rohe erinnern. Sich bei der DHM-Architektur für einen international anerkannten Architekten zu entscheiden, dessen Pyramide seit 1989 bereits den Louvre in Paris ziert, entspricht gerade aufgrund des „Zitatcharakters“, sich mit dieser Referenz auf den Louvre als das prototypisch moderne Museum zu beziehen, einem eher zeitgenössischen Gestus. Die Gestaltung des Berliner Anbaus wirkt zudem weniger flächig, eindeutig und linear als der Louvre-Anbau desselben Architekten. Die poetische oder literarische Moderne bestand in einer ihrer kommunikativen Gebrauchsfunktion enthobenen Sprache; die moderne Malerei ist die Rückkehr zum „Eigensten“: Farbpigment, Fläche; die musikalische Moderne, die Zwölftonmusik, ist von jeder Analogie zur Sprache befreit. Was man als „Krise der Kunst“ bezeichnet, ist die Auflösung des einfachen Paradigmas der Moderne, immer Neues zu schaffen. Damit entfernte sie sich immer weiter von den Mischungen der Gattungen und Bildträger sowie von politischen Polyvalenzen. So könnte man nach Rancière (2008b: 44) das Moderne in der Ästhetik definieren. Die radikale Zukunftsausrichtung der Moderne scheint einer Gegenwart gewichen, die im Laufe der Zeiten ihre Vergangenheiten nicht länger vollständig zu überwinden und damit zu eliminieren sucht. Museen lassen sich demnach als Orte der Produktion kultureller Zeitsemantiken verstehen und versprechen damit Aufschluss über die (Zeit-)Kultur der Gegenwart. Nicht zuletzt schlagen sich Veränderungen zumeist im Wandel musealer Symboliken nieder.
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Abb. 1.2: Luftbild des Jüdischen Museums Berlin, Libeskind-Bau und Kollegienhaus
Quelle: © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Günter Schneider
So scheint ein oberflächlicher Blick auf den von Daniel Libeskind entworfenen Bau des Jüdischen Museums Berlin mit seinem gezackten Grundriss in Form eines Blitzes und den Ritzen und Brüchen, die die Fassade prägen, auszureichen, um konstatieren zu können: Zeitgenössische Architektur organisiert den musealen Raum nicht länger geradlinig, geometrisch, eindeutig und klar. Das zumindest veranschaulichen sowohl der moderne Pei-Bau wie der postmoderne Libeskind-Bau. Historische Zeit scheint im Kontrast zu vielen Repräsentativbauten vergangener Epochen nicht länger kontinuierlich gedeutet. Damit liegt zumindest die Vermutung nahe, dass sich auch Ausstellungen in ihrer symbolischen Repräsentation historischer Zeit gewandelt haben. „Anhand dieser Schwebe, der Unentschiedenheit, dem fortwährenden Aufschub einer Festlegung wird deutlich werden, dass sich das Thema ‚Jüdische Geschichte in Deutschland‘ nicht eindeutig, nicht in den Kategorien der nationalen Geschichte fassen lässt“,
so interpretiert Ernst (1997: 267) die Libeskind-Architektur des Jüdischen Museums Berlin. Zu vermuten wäre demnach, dass nicht nur zeitgenössische Architektur Deutungen von Geschichte konstruiert, sondern auch die Geschichtsinterpretation und -darstellung der Museen zur zeitgenössischen Konstruktion von Geschichte beiträgt (im Folgenden Einstellung zwei und drei).
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Einstellung zwei – Die Geschichtsinterpretation Der Wandel in der Architektur findet seine Entsprechung in einem Wandel der Geschichtsinterpretation und -darstellung. Aktuell ist eine Multiplikation möglicher musealer Zugänge zur Vergangenheit zu verzeichnen. Geschichte wird nicht länger als die eine nationale im Kollektivsingular erzählt. Als „Geschichten“ erzählt (Kavanagh, 1996; Bolz, 2000: 56f), finden verschiedene, oft konkurrierende Perspektiven zugleich Eingang in die vormals allein von einer nationalen Geschichtserzählung dominierten Präsentationen (Beier-de Haan, 2005: 61f). Selbst wenn man von der Besonderheit jüdischer Geschichte in Deutschland und ihrer Präsentation absieht, hat sich die Interpretation von Geschichte verschoben: Das Jahr 1989 steht besonders in Deutschland für das Ende des Kalten Krieges und den Wegfall der Ost-West-Konfrontation. Im musealen Raum symbolisiert es nicht allein eine zeitliche Wendemarke, sondern auch einen inhaltlichen Wandel der historisierten Vergangenheit in Museen. Der Umstand, dass sich der territoriale Bezug verändert hat, das Territorium ein anderes, größeres geworden ist, erweist sich nicht als banal, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn es wird eine gemeinsame Geschichte erfunden, wo über die Zeit der Teilung Deutschlands hinweg allein Unterschiede attestiert wurden. Vielfach dient ein Anknüpfen an vormoderne Zeiten dazu, Kontinuitäten, Traditionen und Wurzeln retrospektiv zu konstruieren. Die Diskontinuitäten in der Moderne in Deutschland sind durch die beiden Weltkriege und den Holocaust markiert und mündeten in die deutsche Teilung. Zur Überwindung der deutschen Teilung wird eine kulturell integrierende deutsche Geschichte gegenwärtig neu erfunden (Hobsbawm, Ranger, 1983; Giloi, 2005). Eine gesamtdeutsche Geschichte, die kulturell Gemeinsames produzieren und Unterschiede überwinden will, braucht insofern gegenüber zwei „geteilten Geschichten“ einen größeren Zeitrahmen. Nicht nur das Deutsche Historische Museum, sondern auch das Jüdische Museum Berlin präsentieren zweitausend Jahre deutsche Geschichte und heben tendenziell die Vielfältigkeit, die Buntheit menschlichen Lebens in der Historie hervor, statt auf die Brüche und das menschliche Leiden infolge des Phänomens moderner Nationenbildung zu verweisen. „Und dieser Rückgriff auf das 19. Jahrhundert oder auf noch frühere Zeiten ist nicht zufällig. Denn mit dem Ziel der Herstellung der kulturellen Identitäten werden Artefakte, Zeichen und Dokumente präsentiert, die auf Zeiten vor der imperialistischen Eroberung, vor dem Aufkommen des Kommunismus oder Nationalsozialismus verweisen, d. h. auf die Zeiten vor den Traumata, die diese Identitäten im Zuge der imperialistischen, universalistischen Projekte des 19. und 20. Jahrhunderts erlitten haben.“ (Groys, 1997: 52)
Im öffentlichen Diskurs ist eine vermehrte Aufmerksamkeit für die räumlich bestimmten kulturellen Phänomene Lokalität, Regionalität und Globalität zu beobach-
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ten; dabei wird „Raum“ gerade weniger entlang nationaler Grenzen bestimmt. So entfernt man sich im Museum zunehmend von einer Darstellung, die zuvor von der politisch ausbuchstabierten kulturellen Totalität ideologischer Blöcke bestimmt schien (Bennett, 1995: 141). In der Moderne hat demzufolge der Nationalstaat die einzigartige Beziehung zwischen Geschichte und Territorium als Historisierung des Territoriums und Territorialisierung der Geschichte etabliert. Was geschieht also mit der Historie, wenn sie ihren territorialen Bezug ändert? Besonderes Augenmerk liegt im Zuge eines fortschreitenden Globalisierungsprozesses darauf, kulturelle Heterogenität in der Präsentation zu befördern sowie den Besuchern Freiraum für ihre subjektiv verschiedenen Sinnzuschreibungen zu lassen. Instruktiv erscheint hier, dass das Deutsche Historische Museum (DHM) sich als deutsche Geschichte in Europa präsentierend versteht.2 An einem eindeutig definierten Kanon nationaler Geschichte wird nicht länger festgehalten. Ausstellungen verzichten zunehmend darauf, dem Besucher über Texte die eine Lesart als verbindliche Interpretation, die eine Ausdeutung der Geschichte anzubieten. Zu vermuten ist, dass mit der Umdeutung des Raumes eine Bedeutungsverschiebung der Zeit einhergeht. Einstellung drei – Die Geschichtsdarstellung der Präsentationen Analog zum Wandel der Museumsarchitektur liegt eine weitere Veränderung in der medialen Repräsentation vor. Die Geschichtspräsentationen der Ausstellungshäuser bevorzugen nicht länger die vertraute Eindeutigkeit moderner Geschichtsdarstellungen, sondern folgen neuen Konzepten (Macdonald, Silverstone, 1990): Textliche Darstellungen treten zurück, den individuellen Sinnzuschreibungen der Besucher wird ein größerer Freiraum eröffnet. Wie digitale Medien den Charakter des Museums verändern, ist ein prominentes Thema zahlreicher neuer Museumspublikationen (z. B. Klein, 1995; vgl. Sauter, 2005). Elektronische Medien finden neben den für Museen typischen historischen „Dingen“ zunehmend Eingang in die Institution Museum. Der Wandel des Museums lässt sich so exemplarisch an der Mediengattung der elektronischen Medien illustrieren. In der Kunstwissenschaft bezeichnet man die Nicht-Reduzierbarkeit bildlicher Phänomene auf Sprachliches als „ikonische Differenz“ (Burri, 2008: 248; Rancière, 2008a: 17; Boehm, 1994: 30). Damit wird der Unterschied zwischen Seherfahrung und möglicher Bildbeschreibung bezeichnet, der im Modus der Sinnbildung im Rückgriff auf visuelle Medien entsteht (Burri, 2008: 348; Boehm, 1994): ein Unterschied, der der Wahrnehmung im Verstehensakt größere Freiheitsspielräume lässt (Schröder, 2003; Rancière, 2008a: 15). Wenn in den Kulturwissenschaften die Frage nach der „digitalen Differenz“ gestellt wird, ließe sich in Anleh2
Vgl. http://www.dhm.de/orga/index.html (Stand vom 30.08.2007).
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nung an den Begriff der ikonischen Differenz die Frage formulieren, ob die Digitalisierung von Informationen etwas an dem durch Objekte digital repräsentierten Sinn ändert.3 Digitale Medien suggerieren eher Flüchtigkeit als Bestand. In Abhängigkeit vom User entscheiden Suchpfade, welche Verknüpfungen sich in actu ergeben und man mag die Organisationsprinzipien digitalisierten Sinns als ein Durchbrechen moderner linearer Ordnung verstehen (Flusser, 1992). Der Lesefluss verläuft nicht länger linear, sondern ist durch Sprünge und Abbrüche gekennzeichnet. Es ließe sich im Sinne von McLuhans The medium is the massage (1967) argumentieren, dass neue Medien subtil und synchron wirken und die Bedeutung der Gegenwart gegenüber Vergangenheit und Zukunft weiter erhöhen. McLuhan zufolge ist das Medium nicht einfach die Botschaft, vielmehr trägt diese die Spur des Mediums. Selbst wenn Interfaces nach der Logik zeitlicher Linearität miteinander verknüpft wären, würde ein User dieser Struktur nicht unbedingt folgen. Diese Veränderung in der kulturellen Repräsentation von Informationen betrifft dergestalt zumindest die zeitliche Ordnung des Leseprozesses. Multimediale Interfaces beruhen auf Wissensvernetzung und trainieren die Besucher, sich damit in eigenständiger Wissenskonstruktion zu üben (Lyotard, 1994). Die Möglichkeiten des Besuchers, sich auf einer Computer-Benutzeroberfläche über Links und Interfaces einen selbstgesteuerten Zugang zu Informationen zu eröffnen, versinnbildlicht sehr treffend den selektiven Charakter von Sinngenerierungsprozessen überhaupt. Der Akt des Lesens und die ihn begleitenden Auswahlentscheidungen bestimmen, welche Informationen überhaupt zugänglich sind. Digitale Medien erlauben eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Informationszugänge, die in einer Sequenz verzeitlicht abgerufen werden. Zu sagen, dieser Sinngenerierungsprozess verzeitliche sich weiter, impliziert, dass er pfadabhängig und damit stärker von zu bestimmten Zeitpunkten getroffenen Entscheidungen geprägt ist (Hünnekens, 2002: 15ff). Virtuelle Medien lassen sich prozessualisiert erschließen 3
Umgekehrt lässt sich mit dem Begriff der Textur sowohl die sprachliche Qualität von Bildern bzw. visuellem (inklusive Objekten) als auch von sprachlichen Medien vergleichen; und als Gemeinsames hervorheben, dass sich mit Bildern analog zu sprachlichen Medien Sinn vermitteln lässt. Alle Medien konstituieren zudem eine je besondere mediale Differenz und lassen sich in Abhängigkeit vom Besucher als Sinn ‚lesen‘. So wird mit einer konstruktivistischen Position hier ein entschiedenes ‚Sowohl-als auch‘ zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen von Text und Bild vertreten: Beides erhält seinen Sinn in Abhängigkeit vom Beobachter bzw. Betrachter; es kommt allein auf dessen Zuschreibungen und dessen Erleben an. Dies Thema bildet u.a. den Forschungsgegenstand eines neuen wissenschaftlichen Diskurses über Bildlichkeit (siehe NFS „eikones“, Nationaler Forschungsschwerpunkt an der Universität Basel).
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(Hünnekens, 2002: 17): Der User wählt einen Link hier, folgt einer spontanen Aufmerksamkeit da und wird zu einer selbst gesteuerten Wissensaneignung genötigt, während demgegenüber ein Ding oder Relikt schlicht statisch gegeben erscheint. Damit ist die Erschließung digitaler Informationen, z. B. durch die Nutzung unterschiedlicher Links auf einer Computeroberfläche, sehr viel stärker durch die Auswahl des individuellen Nutzers bestimmt. Eindeutige Orientierungsleistungen der Präsentationen verlieren an Bedeutung, und es kann von einer Individualisierung der Sinnzuschreibungsprozesse in Museen die Rede sein (Hünnekens, 2002: 15). Beier (2000: 313) kritisiert, dass dabei in kulturhistorischen Museen im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Bilder die für die Vermittlung historisch-moralischer Aussagen relevanten Texte zurücktreten und propagiert ein größeres Vertrauen in die Nicht-Illiteraten unter den Rezipienten. Dennoch markiert allein der Audio-Guide einen weiteren Paradigmenwechsel in Museen, da der „Betrachter im Ohr“ die visuelle Wahrnehmung mit Sprache anreichere (Voss, 2009). Wie die Reproduzierbarkeit der Fotografie langfristig den Status des Originals veränderte, so verändern elektronische Medien langfristig die Semantiken des kulturellen Gedächtnisses – so lässt sich das in diese Richtung zielende Argument der Kulturwissenschaften zusammenfassen. Positiv lässt sich diese Entwicklung als Beseitigung kultureller Barrieren und Hoffnung auf kreative, aktiv Sinn konstruierende Besucher verstehen (Macdonald, Silverstone, 1990: 168f; Gielen, 2004) Einstellung vier – Diversifizierung und Vervielfältigung von Museen Im wissenschaftlichen Diskurs ist vielfach von einer „Musealisierung der Gegenwart“ die Rede. Diese Musealisierung schreitet fort (Sturm, 1991): Es werden immer mehr und weitaus häufiger vielfältige Dinge für ungewisse Zukünfte aufgehoben, Gegenstände veralten schneller und die Kriterien dafür, was bewahrt und überliefert wird, haben sich diversifiziert. Die Gegenwart scheint geprägt durch eine ausufernde Sammelleidenschaft. Die Komplexität dessen, was für wert befunden wird, aufbewahrt zu werden, erweitert sich ins Unermessliche. Was als Problem der Aufbewahrung und Speicherung beschrieben werden kann, lässt sich gleichsam als Heterogenisierung der Kriterien von Sinn-, Wert- und Bedeutungszuschreibungen verstehen. In Hamburg eröffnete etwa ein Museum für Auswanderung, „Ballinstadt“, in dem Puppen mittels Audioinstallationen über ihre Gründe und Motive zur Auswanderung erzählen. Museen repräsentieren damit nicht länger allein die kulturelle Identität derjenigen, die einer Nation „angehören“, sondern auch die Geschichten der Menschen, die sie verließen. Die Museumslandschaft vermag mittlerweile ein ganzes Potpourri gesellschaftlicher Identitäten zu repräsentieren, wie der Typ „Neighborhood-Museum“ veranschaulicht (Feidel-Mertz, Wolzogen, 1980). Exemplarisch erzählt etwa das Stadtteilmuseum Berlin-Kreuzberg von Geschichte und Selbstverständnis seiner sich größtenteils abseits der Massenkultur positionierenden Bewohner.
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„1978 begann das Kunstamt Kreuzberg damit, ein Heimatmuseum neuen Typs zu verwirklichen, in dem Alltagsgeschichte, das scheinbar banale Relikt, und der große historische Zusammenhang zusammen gehören“,
heißt es auf der Homepage des Hauses.4 Jede beliebige Vergangenheit kann mittlerweile zu einer musealisierten Geschichte werden und darüber Aufwertung und Anerkennung erfahren, so eine daraus abzuleitende Botschaft. Mit Blick auf die Funktion von Museen in der Gesellschaft scheint diese von einer Obsession für die Beschäftigung mit Vergangenem geprägt. Museal haben sich die „musealisierungswerten“ Vergangenheiten vervielfältigt. Als Zusammenfassung dieser ersten vier Einstellungen ließe sich die Frage aufwerfen, ob Unterschiede in der Repräsentation von Sinn (Architektur, digitale Medien, Geschichtsdarstellung, vielfältige Arten des Museums), also Unterschiede im Modus der Sinnbildung, sich auf die möglichen Inhalte einer Sinnproduktion in Museen auswirken. Begrifflich noch klarer ist dies mit dem Begriff der ikonischen Differenz, einer digitalen Differenz oder, allgemeiner, einer „materialen Differenz“ zu formulieren. Anders formuliert: Macht es einen Unterschied für das Geschichtsverstehen der Besucher, wie – also im Rückgriff auf welche Medien oder Darstellungsformen – Geschichte in Museen erzählt wird? Diese Frage kann als eine Ausgangsfrage dieser Arbeit gelten und soll im Weiteren theoretisch und empirisch diskutiert und beleuchtet werden. Einstellung fünf – Besucherorientierung und Popularisierung Museen geraten im 21. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht unter starken Anpassungsdruck an gesellschaftliche Entwicklungsprozesse. Die Institution Museum hat in den vergangenen 30 Jahren tiefgreifende Wandlungsprozesse durchlaufen (Davies, 1994: 33). Gegenwärtig steigt der ökonomische Druck, dem die Ausstellungshäuser ausgesetzt sind. Europaweit sind Museen vom Ausbleiben der bisherigen öffentlichen Finanzierung betroffen, Ausstellungshäuser beschaffen sich unter erschwerten Bedingungen ihre Finanzmittel. Dies führt zunächst zu einem Ansteigen von Legitimationserfordernissen in der Öffentlichkeit und zur Konkurrenz um die Besucher. Dabei weitet sich nicht nur unter den Museen der Wettbewerb um Budgets und Fördergelder aus, sondern sie stehen auch zunehmend in Konkurrenz zu anderen Freizeitangeboten und Massenmedien, historischen Stätten, Themen- und Vergnügungsparks, was auf die von den Museen geforderte Besucherorientierung (Wittgens, 2005) zurückwirkt. Vermehrt wird diese nicht länger als Zumutung, sondern 4
Vgl. http://www.kreuzbergmuseum.de/mu_unter/prof_inn.htm (Stand vom 11.02.2011) und Richter (2010).
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als Chance gesehen, Museen stärker in die Gesellschaft zu (re-)integrieren und die Bedeutungen und Funktionen, die Museen mit Blick auf die Gesamtgesellschaft und ihre Kultur zukommen können, zu erweitern. Aus diesem Grund ist von Museen eine größere Besucherorientierung gefragt (Kavanagh, 1990: 117; HooperGreenhill, 1994: 2; Graf, 2000). Mit der Verschärfung der Konkurrenz durch Einbindung in einen breiter gefassten Service- und Dienstleistungssektor geht der als Gefahr und Chance zugleich gesehene Wandel in Richtung Wissensgesellschaft einher (Stehr, 1994; Maasen, 1999: 59), der auch den Inhalt und die Form kultureller Bildung, der traditionellen Domäne der Museen, betrifft (Treinen, 1994). Mit dem Prozess der Musealisierung, verstanden als eine Proliferation von Museen, als zeitgleiche Ausbreitung, Vertiefung und Diversifizierung des musealen Kulturangebots, geht die Ausweitung des Bedürfnisses, auch die freie Zeit zum Wissenserwerb zu nutzen, einher (Falk, Dierking, 1992: 17ff; 2000: 1ff). Bildungsinteressen bestimmen zunehmend, welche Aktivitäten in der Freizeit verfolgt werden. Der so genannte Museumsboom der 1990er Jahre (z. B. Baumgartner, Trauner, 1996: 196), der letztlich primär in einer Vermehrung und Ausweitung von Ausstellungen und Museen bestand, verweist nicht unbedingt auf einen Besucherzuwachs der Häuser insgesamt (Kirchberg, 2005: 22ff). Deutlich wird im „Museumsboom“ primär eine andere Tendenz: Die Ausstellungsvielfalt bedient die Bedürfnisse breiterer Zielgruppen und Bevölkerungsschichten, womit eine Popularisierung von Museen einhergeht. Vor allem in den ausklingenden 1980er Jahren wurde das Museum als „Elfenbeinturm“ (Rheinisches Museumsamt, 1996; John, 1997) und als elitäre Bildungsstätte kritisiert (Baumgartner, Trauner, 1997: 196), da die Zugangsschwelle zu Ausstellungshäusern für einfach gebildete Besucher hoch liegt. Diese Barriere scheint zwar nach wie vor vorhanden, aber dennoch weniger offensichtlich. Die Ausbreitung unterschiedlichster Ausstellungen befriedigt – neben den als anspruchsvoller wahrgenommenen „Kunstpalästen“ – diversifizierte Unterhaltungsund Bildungsinteressen (Hooper-Greenhill, 1994: 67). Etliche Museumskonzepte erzeugen geringere Schwellenängste als Kunstmuseen. Je größer die Bandbreite zwischen EXPO, Rundfunk-, Sport- oder Schokoladenmuseum, Heimatausstellung, Auswandererwelt und Kunstpalast (Glasmeier, Bexte, 1992), desto breitere Publikumssegmente werden durch Museen allgemein angesprochen. Dabei wird der individuelle Geschmack des Besuchers als Konsument bedient (Macdonald, Silverstone, 1990: 179), nicht länger allein der Gusto des Kunstbeflissenen oder Bildungsinteressierten. Die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu, 1987) werden so nivelliert. Sie haben nicht länger die Funktion, geringer Gebildete systematisch von Museen fernzuhalten. Seit der Bildungsexpansion bestimmt die soziale Herkunft nicht länger notwendig den späteren sozialen Status
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einer Subjekts5, dennoch bleiben soziale und kulturelle Unterschiede als solche weiter erhalten (Fye, Ross, 2001). Zugleich begründen diese Phänomene ein soziologisches Interesse, sich mit Geschichtsverstehen und Museen zu befassen: Museen stellen sich um, um ihrer Besuchsklientel ein Erlebnis zu bieten, das es mit dem Unterhaltungswert von Freizeitparks aufnehmen kann. Dies macht Museen erneut, und anders als bisher, für soziologische Fragestellungen interessant. Vergos (1989) Ausführungen dessen, was den Gegenstand der „neuen“ Museologie in Abgrenzung zu dem einer alten ausmacht, rückt Museen erneut in einen Blickwinkel, der sich deutlicher als zuvor mit Forschungsinteressen der (Kultur-) Soziologie überschneidet. Das „Subjekt des Besuchers“ rückt auf andere Weise wieder ins Blickfeld musealer Interessen. Museen versuchen weniger exklusiv und sozial distinktiv zu sein (Ross, 2004: 84f); so lassen sich auch diejenigen Ansätze einordnen, die den Besuchern unterschiedliche Perspektiven auf Geschichte zubilligen. Dabei lassen sich im Rahmen der „New Museology“ theoretische Ansätze der Sozialwissenschaften nutzen. So fragt diese Museologie nach der Rolle des Museums in der Gesellschaft und danach, wie denn Sinn und Bedeutung (Ricœur, 1996 [1972]: 360ff) in Museen konstruiert wird.6 Für den empirischen Teil dieser Arbeit (vgl. Teil II, Kapitel 4, Teil III, Kapitel 5, 6, 7 und 8) stehen mir die Daten und Befunde einer Besucherbefragung in vier Museen zur Verfügung. Diese Besucherinterviews wurden im Jüdischen Museum Berlin (JMB), dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (HdG), dem Deutschen Historischen Museum (DHM) und dem Historischen Museum am Hohen Ufer, Hannover (MHU) im Rahmen des Forschungsprojekts „Kulturen der Ungleichzeitigkeit“ (KUGL) durchgeführt. Das an der Universität Duisburg-Essen angesiedelte Projekt wurde von Prof. Dr. Hanns-Georg Brose geleitet (für eine Skizze des Forschungsprogramms der „Kulturen der Ungleichzeitigkeit“ vgl. Brose, 2001; 2004). Mit den KUGL-Besucherbefragungen wurde statistisches Datenmaterial erhoben, die in Kapitel 4 in den Kontext der Museumsbesucherfor5
Viele so genannte „neue Museologien“ (z. B. Hausenschild, 1988) haben gemeinsam, einen anderen Zugang zum Subjekt anzustreben. Subjekt ist dabei in der vollen Breite des Begriffes gemeint: Das Subjekt des Kurators, das Ausstellungssubjekt als Thema – im Sinne des englischsprachigen subject oder französischsprachigen sujet – und bzw. oder das Subjekt des Besuchers.
6
Relevant dafür sind verschiedene englischsprachige Publikationen von Hooper-Greenhill (1988, 1991, 1992, 1994, 1995, 1999a, 1999b, 2000, 2002), McManus (1987, 1988, 1991), Kavanagh (1989, 1990, 1996), Bennett (1995, 1999), Falk (1985, 1992, 1993, 1995, 1998, 2000).
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schung eingebettet werden. Im Zuge der Besucherbefragungen, auf denen der empirische Teil dieser Dissertation (Teil III) beruht, ist zugleich qualitatives Textmaterial entstanden, dessen Auswertung durch die Erstellung eines Kategorienschemas und die Kodierung der sogenannten Vergleichsfragen (vgl. Kapitel 5) in diesem Forschungskontext erfolgte. Aus dem Fragebogen im Anhang ist zu ersehen, dass sich zwei der Fragen in den Interviewgesprächen mit den Museumsbesuchern einer auf Vergleichen beruhenden Erhebungstechnik bedienten, die später in Kapitel 5 erläutert werden soll. Diese Ergebnisse werden in Kapitel 6 genutzt, um die Museen aus Sicht ihrer Besucher darzustellen. Die Befunde aus den KUGL-Besucherbefragungen interpretiere ich schließlich ausgehend vom Forschungsstand (Teil I, Kapitel 2) und den Selbstbeschreibungen der Museen und ihren Besuchern (Teil II, Kapitel 3 und 4) in Kapitel 7 und 8 im Sinne der Fragestellungen meiner Untersuchung. Zum Abschluss fasse ich zusammen, welche Resümees sich für das Thema dieser Publikation Geschichte ausstellen – Geschichte verstehen ziehen lassen. Nach dieser kaleidoskopartigen Vorrede soll nun die Struktur des theoretischen Teils dieser Arbeit skizziert werden, der ein theoretisches Modell für die Konstruktion von Geschichte im Museum vorstellt. Durch den gewählten Zugang zum Phänomen Museum wird die gesellschaftliche Leistung und Funktion des Museums zunächst theoretisch beschrieben, wobei sich die empirische Untersuchung dem Geschichtsverstehen der Besucher und ihren historischen Zeitperspektiven in konkreten Museen zuwendet. Dergestalt werden die theoretischen Annahmen mit der Empirie konfrontiert.
Im Theorieteil sollen zwei Argumentationsstränge derart ineinander verwoben dargestellt werden, dass eine Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen Zeitkonstruktion und Geschichtsmuseum theoretisch auszubuchstabieren, deutlich wird: •
•
Argumente einer konstruktivistischen Perspektive: Museum wird als eine Form der Kommunikation definiert – demzufolge ist allein das Verstehen der Besucher relevant; Argumente eines narrativen Ansatzes in Bezug darauf, was ein Museum „tut“: Kommunizieren durch die „Verdinglichung“ einer historischen Erzählung.
Dabei sind zumindest im Prozess der Kommunikation, der sich durch einen Akt des Verstehens realisiert, die Sinnbezüge von Museum und Besucher interdependent. Zunächst sind in Kapitel 2 die zentralen Begriffe Geschichte, historische Zeit und Museum einzuführen. Im Abschnitt über Kommunikation soll ein theoretisches Modell dazu angeboten werden (Abschnitt 2.1), wie Museen kommunizie-
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ren. Im Falle kulturhistorischer Museen handelt es sich um eine spezifische Kommunikation, die historische Erzählung der musealen Präsentation. Diese Museen konstruieren jeweils eine Geschichtserzählung (Abschnitt 2.1.2), indem sie Dinge und andere Exponate als narrative Medien (Abschnitt 2.1.3) in eine museale Ordnung einbinden. Die Besonderheit von Museen liegt in den Dingen (Korff, 1995b), den spezifischen Medien, die sie zum Erzählen von Geschichte verwenden. Narration und Visualisierung gelten als zwei Methoden der Inszenierung von Museumskommunikation (Ernst, 1992: 7). Aber auch Visualisierungen selbst können von einem Betrachter, vor allem in einem kulturhistorischen Museum, als Teil einer Geschichte gelesen werden. Die Museen Sinn gebenden Ordnungen erhalten eine gewisse Kontingenz dadurch, dass sie sich historisch gewandelt haben. In diesem Bedeutungswandel transformierte sich der Sinn von Geschichte und Zeit (Abschnitt 2.1.4). Die Organisation von Exponaten in einem Raum kann thematische Zusammenhänge nahelegen und Zeit damit „qualifizieren“. Der Abschnitt über die Veränderungen zeitlichen Ordnens in der Historie der Institution Museum soll die These untermauern, dass sich Geschichtsverstehen im kulturellen Bedeutungsgefüge wandeln können, und dass dies wiederum Aufschlüsse über die jeweilige Gegenwart erlaubt. Das Museum zugleich als kulturelles Gedächtnis zu fassen (Abschnitt 2.1.5), ermöglicht einerseits, seine Leistung des Sammelns und Bewahrens für gesellschaftliche wie subjektive Prozesse des Erinnerns (und Vergessens) hervorzuheben. Museen erlauben, auf bestimmte Geschichten zurückzukommen und ihren Sinn zu rekonstruieren. Andererseits lässt sich so der Bogen zur Rolle von Museen in Sachen „Konstruktion von Zeit“ schlagen. Denn subjektives Gedächtnis beruht auf einem Semantik konstruierenden Prozess des zeitlichen BeziehungenHerstellens, und eine Analogisierung von subjektivem und kulturellem Gedächtnis dient dazu, zu veranschaulichen, wie Geschichte ähnlich wie Gedächtnis erlaubt, später auf bestimmten Sinn zurückzukommen und ihn zu aktualisieren. Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses muss zunächst entwickelt werden, um die Bedeutung von Museen in dieser Hinsicht zu beleuchten. Den Geschichtserzählungen von Museen kommt eine wesentliche soziale Funktion zu: Sie sind an einem wechselseitigen Sinn(re)konstruktionsprozess zwischen dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft und den Gedächtnissen der Subjekte beteiligt. Die museale Inszenierung selbst dient als Verdichtung semantischer Wahrheiten, die sie zugleich als Objektivierungen einer dinglich-materiellen Geschichtserzählung legitimiert. In Bezug auf die Zeitkonstruktionen eines Museums lässt sich veranschaulichen, inwiefern sich die Relevanzen verschiedener Gegenwarten in der Sammlung eines Museums niederschlagen und damit bestimmen, was zukünftig an „wahren“ Geschichten erzählbar ist (Abschnitt 2.1.6).
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Nachdem die Rolle der Museen für die Konstruktion von Zeit schon aus verschiedenen möglichen Perspektiven theoretisch betrachtet wurde, soll ein kurzer Abriss über eine Theorie sozialer Zeit erfolgen, der die Basis dafür bildet, dem Gesamtzusammenhang von Zeit und Geschichtserzählung weiter nachzugehen (Abschnitt 2.2). Dafür sind die benötigten Grundbegriffe einer Theorie der Zeit einzuführen und zu klären, wie sich Zeitbewusstsein im Rekurs auf Uhrzeit und Datum konstruiert (Abschnitt 2.2.1). Über diese Ausführungen lässt sich begründen, dass die Zeitperspektiven der Besucher mit den musealen Geschichtspräsentationen in Museen, Semantik und Erzählung, verbunden sind, davon ausgehend, dass die Rekonstruktion von Geschichtssemantik im Rekurs auf Chronologie erfolgt (Abschnitt 2.2.2).
Teil I
2
Geschichte, Historische Zeit und Museen
Die Frage, was ein Museum ist, lässt sich am ehesten mit Blick darauf beantworten, was es tut bzw. wie ein Museum als ebensolches funktioniert. Im folgenden Kapitel soll aber nicht nur „Museum“ definiert werden, sondern auch in den einzelnen Abschnitten jeweils unterschiedliche Thesen dazu entwickelt werden, wie denn „die historische Zeit ins Museum kommt“.
2.1 M USEALE G ESCHICHTE ( N ): W AS EIN M USEUM KONSTITUIERT Gängig ist die Definition der ICOM von 1974: „A museum is a non-profit-making, permanent institution in the service of society and its development, and open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates, and exhibits, for purposes of study, education and enjoyment, material evidence of people and their environment“ (zitiert nach Maroevìc, 1998: 105).
Im deutschsprachigen Raum wurde die Aufgabe von Museen häufig als Sammeln, Bewahren, Forschen, Vermitteln und Ausstellen gefasst (z. B. Grütter, 1997), wobei der Schwerpunkt zeitgenössischer Museen im Kommunizieren und Ausstellen liegt (Roberts, 1997: 151). In der Beziehung, die das Museum mit seinem Adressatenkreis, dem Publikum, aufbaut, ist nur Letzteres relevant (Bröckers, 2007: 13). Demzufolge lässt sich das, was Museen konstituiert, als Kommunikation fassen und zwar nicht im Sinne einer Übertragungsmetapher (Vermitteln), sondern als Prozessieren von Sinnselektionen in Bezug auf „symbolisch generalisierte Medien“ und Erwartungen (Luhmann, 1984: 193; 222; 101; 135). Über einen solchen theoretischen Zugang lässt sich auch berücksichtigen, dass Lernen zumeist nicht nachzuweisen ist und Besucher nicht immer „richtig“ verstehen.
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Der Sinn von Geschichte und historischer Zeit wird insbesondere in kulturhistorischen Museen kommuniziert, um die es im Folgenden gehen soll. Damit ist jedoch keineswegs gemeint, Geschichte als sinngebend zu verstehen: Von einem Sinn der Geschichte auszugehen, ist historisch endgültig diskreditiert (z. B. Young, 2001: 43f). Bei Sinn geht es in diesem Zusammenhang vielmehr um einen deutenden Umgang mit der historisierten Vergangenheit (Rüsen, 1997: 17; 24). Für den im Folgenden dargestellten theoretischen Zugang ist es entscheidend, Kommunikation als dasjenige zu definieren (Abschnitt 2.1.1), was ein Museum konstituiert (Klein, 2004: 9f). Durch das Verstehen der Besucher realisiert sich in einem dreistelligen Selektionsakt eine Beziehung zwischen dem Besucher (als Adressaten) und dem Museum resp. der Ausstellung (als Mitteilendem). Dabei hängt das Zustandekommen der Kommunikation vom Besucher ab und davon, wie und was er versteht. 2.1.1 Kommunikation Für diese These spricht zunächst, dass sich die Besucherorientierung nicht nur beim Ausstellen, beim Vermitteln und im Servicebereich, sondern in allen Einstellungen des Museums zu seinen Besuchern zeigt. Sie ist eine Querschnittsfunktion, die alle Musemsarbeit umgreifend beeinflusst (Reussner, 2010: 5f). Hier ist damit aber gerade nicht ein in der Museumswissenschaft gängiger Kommunikationsbegriff gemeint, der häufig auf ein Verständnis vom Museum als Massenmedium zurückgeht (z. B. Hooper-Greenhill, 1991; Kaplan, 1995; Treinen, 1996; Maroevìc, 1998: 267ff), sondern eine soziologisch-konstruktivistische Definition von Kommunikation, die von einem dreistelligen Selektionsprozess ausgeht. Kommunikation wird hier, in Erweiterung eines differenzierungstheoretischkonstruktivistischen Ansatzes durch einen vertieften Fokus auf die musealen Medien, als dreistelliger Selektionsprozess bestehend aus Mitteilung (z. B. durch die Medien des Museums repräsentiert), Information (z. B. historische Themen, eine Erzählung als kulturelle Selbstbeschreibung), und Verstehen (z. B. durch einen aktiv Sinn zuschreibenden Besucher) definiert (Luhmann, 1984: 194ff; 1995: 23). Damit wird Verstehen ein „unerlässliches Moment des Zustandekommens von Kommunikation...“ (Luhmann, 1984: 198). Ein solcher Begriff von Kommunikation legt die Annahme nahe, dass die Art, wie Besucher im Museum die historische Zeit der Geschichte rekonstruieren, etwas mit dem gemeinsam haben, wie sie Informationen auch alltäglich subjektiv ausdeuten. Sie konstruieren Sinn, indem sie ihn in seiner sachlichen, sozialen, räumlichen Dimension verstehen oder auch im Hinblick auf ihre eigene Zeitperspektive deuten.
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Denn Kommunikation wird dieser Theorie zufolge nicht ausgehend vom Bewusstsein des Subjekts definiert, sondern ausgehend vom sozialen System und seiner Koevolution mit psychischen Systemen verstanden. Von diesem Ansatz ausgehend werden in diesem Theorieteil Grundbegriffe verwendet und durch weitere begriffliche Spezifikationen im Hinblick auf Museen ergänzt. Die ist u.a. deshalb nötig, da Museen keinem Funktionssystem zuzuordnen sind, Zeit nicht allein durch Kommunikation, sondern spezifischer durch Erzählung konstruiert wird und zudem durch die für Museumskommunikation typischen Medien, Ordnungen und Inszenierungen. Die zentrale Rolle bei diesem Kommunikationsbegriff kommt also dem Akt des Verstehens zu, denn Verstehen ermöglicht subjektive wie soziale Folgewirkungen. Beim Verstehen „wird jeweils mitgeprüft, ob die vorausgegangene Kommunikation verstanden worden ist. […] Der Test kann negativ ausfallen und gibt dann oft Anlass zu einer reflexiven Kommunikation über Kommunikation.“ (Luhmann, 1984: 198) „In den Kommunikationsvorgang ist mithin die Möglichkeit der Ablehnung zwingend (Herv. i. Orig.) miteingebaut.“ (Luhmann, 1984: 212).
Erst ein Akt des Verstehens schließt einen Kommunikationsprozess ab. Ausgehend von einem solchen Begriff wäre es, überspitzt gesagt, gleichgültig, was das Museum wie präsentiert, entscheidend wäre allein, wie ein Publikum versteht. Entsprechend des hier verwendeten Kommunikationsbegriffes bedarf es erst eines Aktes aktiver Sinnzuschreibung, wie selektiv auch immer sich dieser realisiert. Also kann selbst dann, wenn ein Besucher „missversteht“ (Treinen, 1994: 33; Bicknell, 1995: 283), davon ausgegangen werden, dass Kommunikation stattfand. Verstehen meint, dass Sinn und Sinnstrukturen selektiv im Gedächtnis des Subjekts zurückbleiben und damit als Wissen erhalten bleiben und in einer anderen, späteren Situation wiederum als Information verwendet werden können, um weiteren Sinn zu konstruieren. Diese Radikalisierung durch den Kommunikationsbegriff betrachtet die soziale Relevanz von Museen demnach ausschließlich im Hinblick auf die Kommunikationsfunktion (ihre Präsentation, ihre pädagogische Vermittlung und ihrer Besucherorientierung inklusive der Öffentlichkeitsarbeit und des Marketings), also allein dahingehend, was beim Besucher „ankommt“. Dies erlaubt weiterhin, Kommunikation als prozesshaft zu verstehen (Luhmann, 1984: 212f). Es bedeutet, dass Sinn sich verändern kann. Kontinuität wiederum erzeugt, dass jedem lebensgeschichtlich die Teilnahme an Kommunikation vertraut ist (und speziell die Teilnahme an massenmedial geprägten Diskursen als öffentlicher Kommunikation) und jeder gelernt hat, sich möglichst an etablierte Kommunikationsfiguren zu halten, um verstanden zu werden. Als Prozess verstanden, ist eine Kontinuität des gesellschaftlichen Sinnvorrats nicht gegeben; der Sinn (sprachlicher) Symbole ergibt sich durch deren Verwendung. Mit dieser spezifischen Defini-
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tion von Museum als durch Kommunikation konstituiert, wird die Frage, ob sich Geschichte musealisieren lässt, dahingehend eingegrenzt, wie sie in Museen verstanden wird. Der Begriff der Kommunikation wird hier als „umbrella term“ gebraucht, der geeignet ist, weitere, noch spezifischere Definitionen von Kommunikation, wie sie in der Kultur- und Museumswissenschaft gängig sind, zu integrieren. Kunst wäre z. B. als eine Art visueller Kommunikation zu fassen (Treinen, 1996: 60). Visuelle Kommunikation im Allgemeinen lässt sich als soziale Praxis im Umgang mit Wahrnehmung definieren. Ein wahrnehmendes Subjekt verwendet Unterscheidungen, die eben gerade nicht von ihm selbst stammen, sondern auf einem Vergleich mit anderem, vorher Gesehenem beruhen, um die eigene Wahrnehmung zu verstehen (Luhmann, 1995). „Die Feststellung des Primats der Wahrnehmung für das Bewusstsein“, die von Luhmann (1995: 16) „Anschauung“ genannt wird, ist für diese Arbeit wichtig, um den Umgang mit den Dingen in Museen zu beschreiben. Kommunikation kann zwar auf Wahrnehmungen zurückgehen, aber nicht jedes Erleben mündet notwendig in Verstehen. Erlebtes lässt sich weniger klar differenzieren, da Information, Mitteilung und Verstehen im Erleben als psychischem Sinnprozess nicht unterschieden werden können. Von Kommunikation, die bei der Wahrnehmung der Besucher ansetzt, ist dabei ein größerer Freiheitsspielraum in den Akten der Sinnzuschreibung zu erwarten. Kunst sowie visueller und sinnlicher Kommunikation ist „die Offenheit im Sinne einer fundamentalen Ambiguität“ eigen (Eco, 1977: 11). Inszenierte räumliche Arrangements können beim Museumsbesucher gezielt Sinnzuschreibungen motivieren; ob und wie sie verstanden werden, lässt sich aber zumeist nicht direkt beobachten. Ästhetisches Wahrnehmen beinhaltet einen Akt des Urteilens, des beobachtenden Verstehens also. Damit werden Anteile der Wahrnehmung sprachlich mitteilbar; die Impression lässt sich auf einen Begriff bringen. Das menschliche Erleben ist trotz Freiheitsspielräumen, die die sinnliche Ansprache dem Verstehen des Publikums lässt, hinreichend konventionalisiert und kanalisiert psychische Energie (Csikszentmihalyi, Rochberg-Halton, 1989: 195), um innerhalb eines begrenzten Rahmens erwartbar zu sein. Laut Eco (1991: 138) gilt schon seit dem Mittelalter der ästhetische Blick als durch Synthese, Analyse und Urteilsakt bestimmt. Es wurde zwischen einer kognitiven Einstellung und einem emotionalen Element der ästhetischen Erfahrung unterschieden (Eco, 1991: 119ff): Das ästhetische Beobachten ist kein Erfassen auf einen Blick, sondern ein Diskurs über seinen Gegenstand. Ästhetisches Wahrnehmen wird als Beobachtung im Rückgriff auf die Unterscheidungen anderer verstanden und wird damit nach dem systemtheoretischen Ansatz in großer Nähe zur Kommunikation mit ihrem Unterscheidungsgebrauch definiert. Aber „nur im Falle psychischer Systeme setzt der Begriff (der Beobachtung,
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V.S.) Bewusstsein voraus...“ (Luhmann, 1984: 63). Ergo lässt sich festhalten, dass „beobachtendes Verstehen“ zwar auch als psychische Operation gelten kann, dieses aber bruchlos in sozialisierten Unterscheidungsgebrauch übergeht. Denn falls Beobachtungen und Urteilsakte analog zur Kommunikation mit Unterscheidungen operieren, geht ästhetisches Wahrnehmen unmittelbar in Kommunikation über. Durch die Zentralstellung des Verstehens wird es gerade möglich, in geringfügiger Distanz zum systemtheoretischen Ansatz, die aktiv Sinn konstituierende Rolle der Besucher ernst zu nehmen, wie sie von den museum studies und der Besucherforschung herausgearbeitet wurde (z. B. McManus, 1988: 62; Kavanagh, 1990: 135; Hooper-Greenhill, 1999b: 67f). Die Besucher wählen nicht nur bestimmte Präsentationselemente gezielt aus, sondern ziehen auch ihre persönlichen Schlussfolgerungen aus dem Gesehenen, gemäß ihrem Vorwissen, ihren Relevanzen und eigenen Perspektiven, ihren Bewertungen und Vorlieben (Falk, Dierking, 1992: 25). Die „Sinngebung“ im Museum hat privaten Charakter (Treinen, 1981: 215). Einige Besucher kommen demzufolge gezielt in ein Museum, um ein einzelnes Exponat, einen kleinen Themenausschnitt, zu sehen; wieder andere schlendern an den Stücken vorbei, nehmen die Dinge nur flüchtig wahr und reagieren nur auf das, was sie unmittelbar anspricht (Klein, 1993: 798; Rounds, 2004). Ein solcher Besucher sieht nur das, was aus seiner Sicht „aus dem Rahmen fällt“, heraussticht, sich von anderem abhebt (Bitgood, 1992: 15; Falk, 1993: 133). Andere fühlen sich angesprochen von dem geordneten Zusammenhang der Objekte, den eine Präsentation herstellt. Der museale Kontext, die Ordnung im Museum, erlaubt es, Informationen auf eine je individuelle Art in Bezug zueinander zu setzen. In den museum studies hielt seit Ende der 1980er Jahre ein anderer Kommunikationsbegriff Einzug und markierte eine Hinwendung zur verstärkten Besucherorientierung. Die Kommunikation des Museums wurde in die Nähe zur Kommunikation der Massenmedien gerückt (Hooper-Greenhill, 1999a; Russo et al., 2006), und in der Praxis verstanden sich die Ausstellungshäuser zunehmend als Dienstleister. Museumsobjekte gelten als basale Zeichen von Museumskommunikation (Maroevìc, Edson, 1998: 277); Wohlfromm (2002: 29) fasst ein Museum in seiner (massen-)medialen Funktion als Text. Die Museologie selbst beschreibt sich als praktisch orientierte Wissenschaft, die theoretische Ideen in Kommunikation überführt. Dabei bedient sich diese Disziplin ausdrücklich anwendungsbezogener soziologischer Konzepte, Theorien und Begriffe (Maroevìc, Edson, 1998: 15; 19). Die Kommunikation der Massenmedien gilt in einem differenzierungstheoretischen Ansatz hingegen nur als eines von mehreren gesellschaftlich ausdifferenzierten Kommunikationssystemen. Im Museum findet jedoch, abgesehen von der Interaktion der Besucher untereinander, und auch nur punktuell bei Führungen, keine face-to-face-Kommunikation
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unter Anwesenden statt. Verstehenstests sind so nicht möglich. Die Botschaften eines Museums sollten demnach für jedermann verständlich sein. Das Museum macht lediglich Angebote, die durch das Publikum selektiv entschlüsselt werden – oder eben auch nicht (Treinen, 1996: 120; Schäfer, 1997: 92). Kommuniziert man in Museen zumeist nicht unter Anwesenden, meint dies auch, dass Verstehen nicht unmittelbar beobachtet, Missverstehen nicht korrigiert werden kann (HooperGreenhill, 1994: 35; Treinen, 1994: 33). Aus Sicht des Museums muss fraglich bleiben, was die Besucher wie verstehen. Das heißt: Museen richten ihre Kommunikation an Erwartungen über ein Publikum aus, die auf Zuschreibungen beruhen. Strittig bleibt somit, ob es sich bei „Vermittlung“ überhaupt um eine Eins-zueins-Weitergabe von Sinn handeln kann, wie der Begriff suggeriert. Eine Kritik dieser Vorstellung findet sich bei Hooper-Greenhill (1995: 5; 2000: 132ff): Der Terminus des Vermittelns suggeriert Nähe zu einem naiven Kommunikationsbegriff, einem Sender-Empfänger-Modell. Im Verständnis musealer Kommunikation als Massenmedium liegt ein maßgeblicher Grund, warum Museen tendenziell eher Bestehendes reproduzieren: Kuratoren müssen, wie für die meisten medial vervielfältigten Informationen nötig, zu allgemein verständlichen Kodes und Darstellungsformen greifen, um verstanden zu werden. Dies macht Besucherevaluationen für Museen umso notwendiger, um herauszufinden, was ein Besucher wie versteht oder auch, was und wie er missversteht. Der verwendete Kommunikationsbegriff muss im Hinblick auf die Medien und Botschaften auf der Mitteilungsseite erweitert werden (s. u.). Stellt die Museologie das museale Ding ins Zentrum, lässt sich mit dieser Erweiterung die Zentralstellung und Besonderheit der musealen Medien ernstnehmen (Maroevìc, Edson, 1998: 15). Es scheint bestimmte Medien zu geben, die in einem Museum andere Sinnzuschreibungen motivieren als dies außerhalb des Kontextes Museum der Fall wäre. Die begriffliche Umstellung von Vermittlung auf Kommunikation entspricht dem Wandlungsprozess hin zu einer stärker subjektorientierten Museologie (Vergo, 1989). Die musealen Medien sind allein als Kommunikationsangebote aufzufassen (Treinen, 1996: 60). Ausgehend vom musealen Ding gelangt man in einer theoretischen Auseinandersetzung auf einem anderen Argumentationsweg zur Kontingenz dessen, was Besucher im Museum verstehen. Aufgrund dieser Kontingenz ist es instruktiv, hier auf eine holistische Schematisierung von Kommunikation zurückzugreifen. Denn Informations- und Mitteilungsakte beschränken trotz vorhandener Kontingenz dasjenige, was ein Besucher in einem Museum wie verstehen kann. Was jemand an Sinn konstruiert, ist demnach nicht unabhängig von seiner Wahrnehmung.
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Abb. 2.1.1 Holistisches Modell des Erlebens von Museumskommunikation (The entire experience of the museum contributes to the image of the museum)
Quelle: Hooper-Greenhill, 1994: 51
Dieses Modell ist im Vergleich mit dem dreistelligen Prozessmodell, das dem hier verwendeten Kommunikationsbegriff zugrunde liegt, sowohl differenzierter als auch ungenauer, da es zwar die Informationsseite bzw. die mediale Mitteilung, nicht aber den sozialen Prozess des Verstehens differenzierter darstellt. Hooper-Greenhill (1994) hebt als Merkmale eines neuen Kommunikationsmodells für Museen die Selektivität der Besucher aufgrund von persönlicher Relevanz sowie der Kongruenz und Angemessenheit der Darstellung hervor. Die Mitteilung könne nur dann verstanden werden, wenn die museale Sprache wechselseitig als angemessen (engl.: pertinent) gelte, was allerdings nur selten der Fall sei (Treinen, 1996: 62; Castells, 2001). Da Museumsbesucher eine Ausstellung selten vollständig anschauen (Falk et al., 1998), die Wahrnehmung von Exponaten eher zufällig erfolgt (Falk, 1993: 134), sie das Gesehene, Erlebte oder Gelesene gemäß ihren indi-
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viduellen Dispositionen ausdeuten und im Gedächtnis behalten, wird ein homogenes Verstehen dieser „Sprache“ durch ein Publikum als höchst unwahrscheinlich angesehen. Das Modell macht trotzdem klar, was alles der Mitteilungsintention eines Kurators oder Kuratorenteams entgegen stehen kann: Wenn zum Beispiel der bereits kalte Kaffee im Museumsrestaurant vom Besucher als Affront verstanden wird, kann dies der „Sinn“ sein, den er zukünftig mit dem Museum verbinden wird (HooperGreenhill, 1991: 59). Es bleibt eine theoretische Debatte unter professionell mit Museen Befassten, ob Stücke für sich selbst oder in einem Kontext zu stehen hätten (Vergo, 1989: 50; dagegen z. B. Karp, 1991: 12). Stehen sie für sich selbst, bildet u. U. die Besuchssituation den Kontext, der dem Objekt im Blick des Besuchers seinen Sinn gibt. Je mehr sich Museen entsprechend einer aktuellen Ausstellungsmode auf das einzelne Ausstellungsstück ohne sprachlichen Kontext einlassen, desto interessanter wird die Frage, was für eine „Story“ sie denn erzählen, wenn sie keine erzählen. Der Begriff Kommunikation wird für das Thema dieser Arbeit auf „Erzählung“, eine spezielle Art der Kommunikation, verengt. Denn dies erlaubt, die Mitteilungen eines Museums tendenziell – trotz des theoretisch plausiblen und für das Museum wichtigen Holismus – wiederum auf die jeweilige Geschichtsdarstellung zu beschränken, statt alles das berücksichtigen zu müssen, was ein Besucher im Museum als Information oder Mitteilung erlebt (also auch z. B. kalten Kaffee). So ist es möglich, sich auf dasjenige zu beschränken, was ein Besucher im Museum versteht. Die Geschichtserzählung bzw. Narration gilt in der Entwicklungspsychologie als eine Sinnkonstruktionsform, um Informationen in einer für Individuen eingängigen Art und Weise darzustellen (Meuter, 1995; Roberts, 1999; Kraus, 2000). Narration ist demnach eine Darstellungskonvention, die Informationen in einer für das kulturelle wie individuelle Gedächtnis gleichermaßen zugänglichen Weise aufbereitet. Die im folgenden Abschnitt vertretene These lautet, dass die Geschichtserzählung im Museum historische Zeit konstruiert (Abschnitt 2.1.2). Dabei ist theoretisch zu begründen, wie durch Erzählung Zeit konstituiert wird. 2.1.2 Geschichtserzählung und Zeit im Museum Geschichte ist die Erzählung darüber, wie durch Zeit Unterschiede zustande kommen: „Der Begriff des Ganzen (holos)“ bildet den Ausgangspunkt der Analyse Ricœurs (1988: 66): In dem Moment, wo eine Definition den Zeitbegriff streift, „ist sie am weitesten davon entfernt: ‚Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt“, zitiert Ricœurs (1988: 66) Aristoteles. „Nur aufgrund der dichterischen Komposition
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gilt nun etwas als Anfang, Mitte oder Ende: nicht dass ihm nichts vorhergeht, definiert den Anfang, sondern das Fehlen einer Notwendigkeit in der Abfolge.“ Geschichte erst integriert eine Fülle von Einzelereignissen zu einem Ganzen (Ricœur, 1988: 105; Koselleck, 1989: 51). Durch die „Synthesis des Heterogenen“ gilt (Ricœur, 1988: 7f; 106) die Erzählung als „semantische Innovation […] durch die Fabel werden Ziele, Ursachen und Zufälle zur zeitlichen Einheit“ integriert. „Die vielfältigen, zerstreuten Ereignisse werden hier zu einer umfassenden, vollständigen Geschichte ‚zusammengefasst‘ und integriert, so dass die intelligible Bedeutung, die mit dem Ganzen der Erzählung verbunden ist, schematisiert wird.“ (Ricœur, 1988: 8). Dem folgend, möchte ich die Begriffe Narration und Erzählung synonym verwenden und mit Ricœur (1988: 7f; 106) als Synthesis des Heterogenen definieren. Dieses Argument lässt sich mit dem Rückgriff auf das Beispiel veranschaulichen, dass es für eine Geschichtserzählung von Klassenkämpfen weniger entscheidend wäre, wann diese Geschichte beginnt – die Erzählung von der Industrialisierung bildet Begriffe wie diejenigen der Arbeiterklasse und den einer ihr komplementären Bourgeoisie erst heraus. Entscheidend dafür, dass sich eine Geschichte der Klassenkämpfe erzählen lässt, wäre dem Argument Ricœurs zufolge, dass sich dieser Antagonismus als Strukturmuster bis in die Gegenwart (eines Erzählers) hinein fortsetzt. Teilt man mit Ricœur die Einschätzung, dass es der dichterischen Komposition und solcher Strukturmuster bedürfe, um Zeitperspektiven zu entwickeln, gilt: „Mit anderen Worten: dass die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und dass die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“ (Ricœur, 1988: 87)
Die Strukturfunktion, dass Geschichte allein von einem Endpunkt aus als Totalität wahrnehmbar ist, wird nicht im Erzählen, sondern im Weitererzählen erkennbar (Ricœur, 1988: 109). Ricœur (1988: 226) kommt auf dieses Argument zurück, um zum „subjektiven Faktor“ der „Erwartung“ zu kommen, deren Antizipation der Zukunft durch Geschichte angeleitet ist. Geschichte wird immer ex post, mit der zeitlichen und durch wissenschaftliche Verfahren bzw. Argumentationsweisen legitimierten Distanz eines Historikers erzählt. Ein vergangenes Geschehen bezeugender Zeitgenosse könnte demgegenüber, während er über ein Ereignis berichtet, historische Strukturmuster noch gar nicht erkennen. Diese zeigen sich dann, wenn ein Wissen über ein Einzelereignis in Relation zu anderen Ereignissen gebracht und „weitererzählt“ – zu einer Erzählung verdichtet wird. In der Erzählung lassen sich verschiedene Darstellungsformen, Regeln, „Formen, Gattungen und Typen“ finden. „Paradigmen“ bestimmen, was wie erzählt wird (Ricœur, 1988: 111f). Die Narration gibt dem Erzählten „Modellcharakter“
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und exemplifiziert diese Erzählfiguren. Beim Lesen prägt sich die Erwartung heraus, dass sich diese Figuren wiederholen werden (Ricœur, 1988: 120ff). Der Akt der Fabelkomposition (der Geschichtserzählung) bezieht zwei Zeitdimensionen, eine chronologische und eine nicht chronologische aufeinander und synthetisiert eine Vielfalt an Ereignissen zu einer zeitlichen Einheit. Ricœur macht auch auf das Paradoxon aufmerksam, dass das Geschichtsverstehen zwei Modelle bevorzugt, die beide letztlich die Historizität zum Verschwinden bringen: Als System verstanden, hebt Geschichte sich durch Logik auf, und im Modell der Einzigartigkeit von Geschichte liegt das Ende von Geschichte. Auch die Zeit ist – wie die Geschichte – ein Kollektivsingular: „Die Behauptung des Einzigkeits- und Einheitscharakters der Form Zeit wird […] zum eigentlichen Problem“ (Ricœur, 1991[1985]: 403). „Die Totalität der Zeit kann nur ein Korollar ihrer Kontinuität sein.“ (Ricœur, 1991[1985]: 404). Denn damit wird eine „Einheit des Bewusstseins, die von der Einheit der Zeit verdoppelt wird“ unterstellt, wobei demgegenüber „Die Konstitution einer gemeinsamen Zeit […] an der der Intersubjektivität festmachen“ müsste (Ricœur, 1991[1985]: 405). „Der dialogische Charakter der historischen Zeit“ stelle sie von vornherein „unter die Kategorie des Zusammenlebens“ (Ricœur, 1991[1985]: 410). Das Prinzip der Erzählung bilde eine Formgebung, die der historischen Erkenntnis nahe steht (Grütter, 1997: 711). Zeit lässt sich nur als faktisch gegeben thematisieren, wenn sie in einer Erzählung als Ordnungs- und Strukturprinzip vorliegt – vorausgesetzt, jemand versteht die erzählend konstruierten zeitlichen Zusammenhänge. „Historisches Erzählen“ trägt zur Ausbildung von Zeitbewusstsein bei, ohne das intentionales Handeln menschlicher Subjekte im Laufe der Zeit nicht gedacht werden kann (Rüsen, 1990: 163f). Hier ist das Argument Dantos (1985: 343) instruktiv: „There is an analogy between the acquisition of historical consciousness and the acquisition of that structure of perception Sartre speaks of […]. For the knowledge that there are other consciousnesses transforms the way a person structures the world, […]. Indeed, Sartre argues that one has no true conception of one’s self as a self until one has the concept of other selves. The analogy […] marks the difference between the consciousness of living through events, and a consciousness of those events as seen from the outside, by historians for whom they are located in narrative structures. There is, in brief, an analogy between other minds and other times […].“
So lässt sich in übertragenem Sinne Geschichtsbewusstsein mit Meads generalisierten Anderen analogisieren: Geschichtsbewusstsein generalisiert den Zugang zu anderen Zeiten durch kulturelle, narrative Überformung.
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Es braucht Geschichte als Anleitung zur Erwartungsausbildung in allen Kontingenzen und Peripetien, nicht nur für ein „dann-und-dann“, sondern auch für ein „undso-weiter“ (Ricœur, 1988: 108). Bennett (1995: 186) erwähnt „the ‚backtelling‘ structure of evolutionary narratives“ (Hervor. i. Orig.). Die erinnernde Rekonstruktion, ein „die Leere rückwärts füllen“ (Droysen, 1960: 19), ermöglicht, Informationen aus ihrer Situation und ihrem Kontext herauszulösen und auf andere Situationen zu übertragen. Durch die Vergegenwärtigung der Vergangenheit wird nicht nur die Gegenwart erklärbar und verständlich, es lassen sich überhaupt erst Deutungsmuster für zeitliche Veränderung ausbilden und damit erst die Zukunft antizipieren. Erwartungen prägen dann Handlungsintentionen in der Gegenwart. Dies würde aber voraussetzen, dass sich zeitliche Zusammenhänge immer in gängigen „Figuren“ (Ricœur, 1988: 107) darstellen lassen. Historie wird durch Erzählung und die für sie typischen Elemente darstellbar. Ernst (1992: 13) argumentiert in seiner Annäherung an die Frage, ob Geschichte darstellbar ist, dass Dinge immer einer narrativen Verknüpfung – also eines Textes – bedürfen, um als „historisch“ gelten zu können. Geschichtserzählungen sind immer rekonstruktiv und geben dem Vergangenen damit in der Aktualisierung einen vom realen vergangenen Geschehen abweichenden Sinn. Narrationen sind, wie Kommunikation, immer selektiv und unvollständig (Danto, 1985: 17). Objekten kommt je nach Positionierung im Ausstellungskontext ein spezifischer Sinn zu. Also bekommen Objekte ihre historische Qualität erst durch die Platzierung in diesem Kontext (Danto, 1985: 26). Dinge, Symbole und Metaphern haben gemeinsam, dass sie ihren Sinn nur aktualisieren, wenn sie kontextuell gebraucht werden (Ricœur, 1996 [1972]: 361). Ernst (1992: 22) schließt daraus, dass Objekte im Museum nichts an und für sich besagen würden; was sie sagen, sei unsere Unterstellung. Wie oben ausgeführt, kommt es auf den Verstehensakt an, um Kommunikation zu realisieren. Da Geschichte nicht ist, bleibt Historie immer eine Konstruktion. Narration ist eine spezifische Art der von Kommunikation, ein spezifisches Prozessieren von Informationen, ausgehend von historischer Semantik. Eine Erzählung aktualisiert Semantik mit einer spezifisch kulturellen sowie literarisch-poetisch ausgebildeten Kodierung. Eine Minimal-Definition von Erzählung liefert Röttgers (1982: 15f): Erzählen heiße, Antworten auf die Fragen zu geben: Was geschah? Wer bin ich (sind wir)? Wer bist du (seid ihr)? Und was bedeutet das? So rekonstruiert eine Erzählung Bezüge in Selbst- und Fremdreferenz und aktualisiert davon ausgehend sozialen Sinn bzw. Semantik. Insofern sind Semantik und Erzählung verwandte Kommunikationsformen, da beide auf Selbst- und Weltbeschreibungen zurückgehen. Es ließe sich von Zeit (der Erzählung selbst und der erzählten Zeit) und Charakterisierung (Konkretisierung und Perspektive) sprechen (Herman, Vervaeck, 2005: 59). Der Standpunkt des Redners zeichnet sich aufgrund von Selekti-
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vität und Perspektive ab, selbst wenn in der Kommunikation allein Welt beschrieben wird. Im Museum sind dies vor allem Erzählungen darüber, wer wir nicht sind (Karp, 1991: 15). Wie jede Rede konstruiert die museale Erzählung mindestens zwei Referenzen: „Sie bezieht sich auf die Welt oder auf eine Welt, aber zugleich bezieht sie sich auf ihren eigenen Sprecher […]. Auf diese Weise hat die Sprache zugleich Realitätsreferenz und Selbstreferenz.“ (Ricœur, 1996 [1972]: 360)
Wie Ricœur aufgrund von Aristoteles Poetik Erzählung durch Anfang, Mitte und Ende bestimmt, entspricht eher einer strukturalistischen Definition von Erzählung: „Narrative (is) an account that is chronologically ordered and has a recognizable beginning, middle, and end. […] As structuralist theorists of narrative have taught us, the events of a narrative are not always told in strict chronological order: on the contrary, all sorts of backtracking and foretracking are permitted on the level of the telling of the story. […] Second, just as narrative does not usually follow strict chronological order but diverges from that order in greater and lesser degree, so too there is an insufficiency or divergence in the categories of beginning, middle, and end“ (Megill, 1998: 43).
Eine Geschichtserzählung orientiert sich demnach immer an einer chronologischen Abfolge, um davon ausgehend ein eigenes Ordnungsprinzip, eine story logic zwischen Anfang, Mitte und Ende zu entwickeln, um sich zugunsten von SinnZusammenhängen selektiv und gezielt vom chronologischen Prinzip abzusetzen. Postmoderne Narrative gehen eher metaphorisch vor, heben das Differente, sonst Ausgeschlossene, hervor und relativieren das Räumliche (Herman, Vervaeck, 2005: 108ff). Dies ist auch in Museen der Fall (Miles, 1996: 46). Poststrukturalistische Narrative lassen sich, streng genommen, dem Charakter ihres Anspruchs nach, gerade nicht oder nur negativ definieren. Sie meiden es, zu definieren, zu synthetisieren, Hierarchien zu bilden und die Zeit linear zu deuten. Im Anschluss an diese Ansätze wird Narration hier als eine spezifische Kommunikation definiert, die mindestens zwei Zeitpunkte aufeinander bezieht und die Sinn nicht allein selbstreferenziell, sondern auch in Fremdreferenz poietisch konstruiert. In den Kulturwissenschaften gilt es, wie gesagt, als strittig, ob Geschichte überhaupt musealisierbar ist. Ein Problem für das historische Bewusstsein bestehe darin, dass eine synoptische Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander der Dinge im Museum, dem Sinn für ein diachrones Nacheinander von Geschichtlichkeit eher entgegensteht (so Fliedl, 1990; vgl. z. B. Hünnekens, 2002: 113). Die Synchronie der Informationen widerstrebe einem Verstehen historischer Diachronie. Das Museum „ent-
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historisiere“ selbst, wenn es die Dinge ihrem ursprünglichen Sinnkontext und laufenden Umdeutungsprozessen entziehe, indem ihr Verfallsprozess aufgehalten wird und die Dinge zu Sammlungszwecken hinter die Museumsmauern „evakuiert“ werden. Das Museum bewahre auf Dauer (Fliedl, 1990: 173). Manche Ausstellungen verwandeln damit Vergangenheit in ein „plattes Jetzt“ (Sturm, 1991: 39). Dem entgegenstehen Castells Ausführungen (2001: 6), in der zur Atemporalität neigenden Informationsära die Funktion von Museen darin zu sehen, das Publikum an Zeit zu erinnern. Wie wird die historische Zeit im Museum vom Publikum erlebt, eher synchron oder diachron, eher kontinuierlich oder als Diskontinuität? Das doppelte Paradox (Lord, 2006: 3), dass Museen eine unendliche Zeit in einem begrenzten Raum repräsentieren und dass sie beides sind, ein Raum in der Zeit (Ungleichzeitigkeit) und ein zeitloser Raum (Gleichzeitigkeit), wird zunehmend zu der Seite hin aufgelöst, Zeit durch kulturelle Symboliken zu repräsentieren. Analog lässt sich das Paradoxon der Zeit, ihres gleichzeitigen „Seins und Nicht-Seins“ bei Augustinus fassen: „Die Zeit hat kein Sein, da die Zukunft noch nicht, die Vergangenheit nicht mehr ist und die Gegenwart keine Dauer hat.“ (Ricœur, 1988: 18). Poiesis, also Dichtung allein, löst das Paradox der Zeitlichkeit dadurch, eine Abfolge zeitlicher Ereignisse, also etwas, das nicht mehr ist, als Figur zu repräsentieren. Der Akt der Fabelkomposition gewinnt „einer zeitlichen Abfolge eine Figur“ ab (Ricœur, 1988: 107), die die Geschichte für Hörer und Leser nachvollziehbar macht. Kulturhistorische Museen und Geschichtsschreibung entsprechen einem anthropologischen Grundbedürfnis nach Ordnung, einer Ordnung der Zeit (Ricœur, 1988: 116; 138). So können die musealen Angebote als Orientierungsleistung in unübersichtlichen Zeiten verstanden werden (Rüsen, 1999: 82f; 84): „Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist eine notwendige Bedingung dafür, das menschliche Leben mit einem kulturellen Orientierungsrahmen auszustatten. So wird eine Zukunftsperspektive eröffnet, die auf Erfahrungen der Vergangenheit basiert.“
Die Exponate werden chronologisch geordnet, vielfach mit textlichen Zusätzen versehen, um sie zu datieren, zu beschreiben und den Schein ihrer objektiven Evidenz (Kavanagh, 1989) durch wissenschaftliche Einbettung zu erhöhen. Die Fabelkomposition der Geschichtserzählung sei niemals „der bloße Triumph der Ordnung“, so Ricœur (1988: 116). Es macht trotzdem einen Unterschied für den Verstehensakt – obschon er in jedem Fall Sinnkonstruktion bleibt –, ob jemand Sinn aufgrund von Tönen, Filmen, Multimedia, Sprache, Texten, Bildern oder Dingen zuschreibt (Koch, 2001). Unterschiedliche Medien legen dem Adressaten unterschiedliche Sinnkonstruktionen nahe und beschränken andere Möglichkeiten des Verstehens.
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Spätestens neuere Museumsbauten konstruieren symbolisch-architektonisch Brüche, Diskontinuität und zeitliche Differenzen. Kulturhistorische Erinnerung wird zunehmend erfunden, die Musealisierung wirkt realitätsverändernd auf das Objekt (Kavanagh, 1989: 127; Sturm, 1991: 96; 69; vgl. Hobsbawm, Ranger, 1983). Die Emphase der Museen liegt aktuell darauf, Diachronie und Wandel zu erklären, nicht Synchronie und kulturelle Lokalität in die Tiefe gehend zu vermitteln (Kavanagh, 1989: 134). Wie aber erlebt dies das Publikum? Im folgenden Abschnitt geht es darum, sich der Spezifik der musealen Kommunikation, dem musealen „Ding“ zuzuwenden (Abschnitt 2.1.3). Dabei geht es um die Art und Weise, wie die Museumswissenschaft selbst ihre Hinwendung zum Ding, dem musealen Objekt, das als favorisiertes Exponat kulturhistorischer Museen gilt, beschreibt. Lässt sich davon ausgehen, dass die Dinge selbst erzählen? Ist davon auszugehen, dass sie Geschichte erzählen? Und lässt sich davon ausgehend die These plausibilisieren, dass durch die Geschichtserzählung historische Zeit im Museum konstruiert wird? Ein Ding kann zunächst nur als Information gelten, wenn es von einem Beobachter als Information verstanden wird. Falls es aber zentral auf das Verstehen des Dings ankommt, kann ein Ding auch als erzählend gefasst werden, wie ein Bild auf einen Blick eine Geschichte thematisieren kann. Denn es käme einem Ding eine poetische Funktion zu, wenn es nicht allein in einer Sequenz, sondern in Kombinationen auftritt (White, 1999: 89, vgl. Fußnote 11). Wenn Geschichtserzählung dadurch bestimmt ist, dichterische Komposition zu sein (vgl. Kapitel 2.1.2), organisiert sie auch die Konstruktion von Zeit. Damit käme einem Ding im Kontext des Museums und seiner Erzählung eine historische Qualität zu. Dies soll im Folgenden theoretisch erläutert werden und wird anhand der empirischen Ergebnisse erneut zu diskutieren sein. 2.1.3 Narrative Medien? Dinge, Objekte, Exponate Das Museum gilt seinen Besuchern sowie den professionell damit Befassten primär als Ort der authentischen, historischen Dinge (Treinen, 1994: 23ff), der Originale als historischer Zeugen. Museale Dinge erhalten ihre spezifische kommunikative Funktion aufgrund der Unterscheidung von Materialität und Medialität (Korff, 1995b: 22; vgl. Rancière, 2008a: 18). Haben Dinge eine poetische Funktion und fungieren sie als museale Medien, können sie als narrative Medien verstanden werden (Pearce, 1994).
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Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt, dass sich religiöse Darstellungen trotz des icon clash, des Streites um das christliche Verbot, Göttliches bildlich darzustellen, häufig eines Rückgriffs auf die römische Tradition bedienten, um sich deren Mittel der symbolisch-erzählerischen Vermittlung der Heiligen Schrift gegenüber Illiteraten zu Nutze zu machen. So werden trotz Bildersturm bildliche Darstellungen auch heute noch narrativ genutzt. Diese Tradition setzte sich bis hin zu Werken der modernen Kunst fort: „Greek and Roman art provided a great stock of figures […] All these types prove useful in the telling of a story…“ (Gombrich, 2006 [1950]: 107; 95; 332; 351f). Die Auffassung, dass Dinge Geschichten erzählen, ist weiter aus der Sachkulturforschung bekannt (z. B. Kuntz, 1989: 98). Eine Ausstellungspräsentation wird als narrative Struktur (White, 1973: ix), als „Text“ aus Sinneseindrücken, Bildern, Objekten und Schautafeln, aus Vitrinen, Anordnungen, Inszenierungen und festgelegten Wegen definiert, die in ein System der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eingearbeitet sind (Heinisch, 1992: 42; Ernst, 2000: 18). Bevor eine symbolische Mitteilung zu einem Text wird, hat sie eine kommunikativ kodierte latente Textur, die den Horizont potenziell möglichen Sinns hin zu kulturell spezifisch Wahrscheinlichem, plausibel Erwartbarem hin eingrenzt. Auf die Textur zu verweisen, meint zu betonen, dass Subjekte in einer gewissen Praxis der Sinnkonstruktion lebensgeschichtlich geübt sind (Reckwitz, 2006: 294). Diese Praxis schränkt die Kontingenz jeder Sinnzuschreibung wiederum ein. Kommunikation etabliert gängige Sinnzuschreibungen und Deutungsmuster allein über die lebensgeschichtliche Praxis eines jeden. Für eine Begründung im Rückgriff auf die museum studies ist vorrangig notwendig zu plausibilisieren, dass auch Dinge und Exponate als Objekte und „narrative Medien“ zu fassen sind. Denn nicht zu vergessen ist, dass ein historisches Ding oder ein Geschichtsmuseum Zeit nicht wie ein Gefäß enthält, sondern allein der Kontext des Objekts, der in der Geschichtserzählung oder dem Museum besteht (Husband, 1992: 3), diesem einen Sinn gibt und eine Zeitstelle zuweist. In der Materialität der Dinge liegt eine Widerständigkeit (Arendt, 2003 [1967]: 113f; Rancière, 2008a: 16ff), die dazu auffordert, entschlüsselt zu werden. Der Umgang mit Objekten ist Jedem aus seinem Alltag vertraut. Dinge sollen zur Kultivierung des Selbst beitragen, dort, wo sie helfen, Ordnung herzustellen (Csikszentmihalyi, Rochberg-Halton, 1989: 35). Objekte motivieren zu Sinnzuschreibungen, also zu Verstehensleistungen. Die dinglichen Exponate werden als eine „Erinnerungsveranlassungsleistung“ für die Besucher verstanden (Korff, 1995b: 22, vgl. Kavanagh, 1989: 130). Sie würden dazu auffordern, verstanden zu werden, Treinen (1994: 23) geht jedoch davon aus, sie würden mittlerweile weniger als „handlungsauffordernde Symbole“ gesammelt. Mit Weber wäre sogar weiter davon auszugehen, dass Gegenstände aus dem Gegentandsbereich der Soziologie herausfallen würden (Schulz-Schaeffer, 2009: 5),
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allerdings nur dann, wenn Handlung, nicht sozialer Sinn, als zentraler Problembezug der Soziologie verstanden wird. Eine Soziologie des Museums müsste die Dinge im Museum jedoch primär als kommunikative Medien und ihre Materialität im Kontext des Museums als Botschaft, als „Aufforderung“ zum Beobachten und Verstehen, auffassen. Der Besucher eines Museums wäre gefordert, einen Abgleich mit dem eigenen Gedächtnis zu unternehmen: wo er das Objekt bereits sah, was es ist, auf welchen Sinnkontext es verweist. Das heißt, bereits in dem Moment, in dem ein Besucher an ein Museumsding herantritt und sich z. B. die Frage stellt, warum denn nun „dieses olle Ding“ im Museum steht, ist ein Bezug zu zwei Zeitpunkten realisiert. Da sich diese Frage auf eine abweichende Gegenwart richtet, zu der das „olle Ding“ derart kulturell wertund bedeutungsvoll wurde, dass man es ins Museum stellte, liegt in dieser Frage bereits eine Zeitkonstruktion vor. Die Feststellung ist also, dass jeder synthetische Verstehensakt, der Sinn konstruiert, sich aufgrund des zeitlichen BeziehungenHerstellens realisiert. Und deshalb erzählen die Objekte, falls sie denn vom Publikum gesehen und von den Besuchern verstanden werden – und nicht nur der kalte Kaffee im Museumscafé im Gedächtnis bleibt – eine Geschichte. Ein Objekt wird dann zu einem solchen, wenn es nicht nur ausgestellt ist, sondern auch verstanden wird, von ihm also „die Rede ist“. Exponate, Ausstellungsstücke oder Dinge sind demgegenüber schlicht der materiell ausgestellte Gegenstand, Thema bzw. Mitteilung des Museums. Wird ein Objekt im Verstehensakt auf irgendetwas anderes als auf sich selbst bezogen, was im Museum wohl eher die Regel als die Ausnahme ist, handelt es sich um ein narratives Medium. Die Objekte im Museum eignen sich deshalb besonders gut zur Präsentation von Vergangenheit, weil sie selbst Geschichte nicht allein kommunizieren, sondern erzählen. In Geschichtsmuseen dienen Exponate als Dokumente für etwas Anderes, das Historie heißt (Ernst, 1992: 24). Zum Beispiel erinnerte sich eine Besucherin des Hauses der Geschichte in Bonn an ihre Kindheit, „als Adenauer mit seinem Mercedes vorfuhr“ und sie mit ihren Eltern in der Menschenmenge stand. Damit ist das Objekt durch die Besucherin an einer konkreten Zeitstelle ihres Lebens verortet. Als Erinnerungsveranlassungsleistung realisiert ein Ding zeitliche Bezüge, die vom Kurator nicht zu planen sind. Ein Objekt erzählt für jemanden eine sehr idiosynkratische Geschichte und ist in diesem Sinne narrativ. Gegenüber logisch-deduktiven Denkformen konstruieren narrative Denkformen psychische Realität, die ihre Legitimität allein durch Gewohnheit erhalten (Roberts, 1997: 134ff; Hein, 2000: 151) und insofern unhinterfragt einleuchten7. 7
Watson (2010: 77) stellt als Tradition der Aufklärer heraus, Poetik als der Reflexion vorrangig und überlegen zu fassen. Der Poet galt als mit einem intuitiven Zugang zur Wahrheit ausgestattet.
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Ausgehend von einem naiv-kindlichen Bestaunen des Museumsdings schildert Jordanova (1989: 22f)8, dass die Dinge selbst als Quelle des Wissens gelten. Museumsdinge sind Basis sinnlicher Erkenntnis (Korff, 1995b: 18ff). Die Objekte regen darüber hinaus zu Reflexionen an; sie motivieren dazu, Sinnbezüge zu konstruieren. Die Kommunikation der Dinge beruht auf einem Spannungsverhältnis aus sinnlicher Nähe und historischer Fremdheit (Korff, Roth, 1990: 17; vgl. Groppe, Jürgensen, 1989). Spannung wird durch museale Objekte darüber realisiert, dass sie auf das „ganz Andere“, Fremde verweisen und kontrapräsentisch wirken (Assmann, 1992: 24). Das Spannungselement ist wichtig, da Geschichten mit einer Dramaturgie und Plotstruktur für das Publikum analog zu Literatur und Film besser zugänglich und im Nachhinein leichter erinnerbar sind. Kontrapräsentische Erinnerung meint Erinnerung im Widerspruch zur Gegenwart. In einer Ausstellung zum Deutschen Widerstand9 lässt sich z. B. fragen, wie es gekommen wäre, wenn das Attentat auf Hitler von Graf Schenk von Stauffenberg am 20. Juni 1944 erfolgreich gewesen wäre oder Georg Elser bereits am 1. September 1939 mit seiner Bombe im Bürgerbräukeller Hitler hätte töten können. Nicht ohne Grund wird den Besuchern in einer Führung durch die Ausstellung gerade diese Frage vorgelegt. Darin liegt eine Möglichkeit, Zeitdifferenzen zu erfahren (Grütter, 1997a: 673). Gedacht werden kann auch an eine Flucht aus der Gegenwart (Bennett, 1995: 162) als konservative, „antiquarian attitude“, eine Haltung des Sich-Zurückwendens im Sinne einer romantisierenden, verklärenden Nostalgie eines „Früher-war-alles-besser“. Musealen Objekten kommt ein affektiver Sinn zu (Treinen, 1994: 27ff; Kavanagh, 1990: 113f), und sie sind taktil zu erfahren (Maroevìc, Edson, 1998: 267). Als Stücke materieller Kultur eignen sie sich aufgrund ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit besonders dazu, vom Besucher auf individuelle Art mit einer Erzählung ausgestattet zu werden, so die These. Die emotionalen Bezüge, die sich zu Materiellem aufbauen lassen, die Imaginationen und Phantasien, das Staunen, das sie auslösen, erzeugen in besonderem Maße Aufmerksamkeit und Relevanz (Mead, 1972 [1934]: 64f; Annis, 1986). Andererseits erzählen die Objekte vom Historisch-über-die-Zeitfremd-Gewordenen oder Immer-schon-Fremden, das mit den Dingen greifbar werden kann. Dazu wird gern Walter Benjamin herangezogen, dem es anhand des AuraBegriffs gelingt, die kulturelle Bezauberung durch die Dinge wiederzubeleben. Benjamin ging mit Proust davon aus, die sinnliche Erfahrung von Dingen könnte unwillkürliche, unmittelbar unbewusste Erinnerungen auslösen. In Prousts Roman8
Gegen Jordanovas (1989) Auffassung, Museen könnten nur Fiktionen schaffen, wendet sich Klein (2004: 11).
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Zu dieser Ausstellung vgl. http://www.gdw-berlin.de (Stand vom 11.02.2011).
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zyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sind das diejenigen Momente, in denen die Madeleines, ein süßes Gebäck, allein durch ihren Geschmack die vielschichtige Atmosphäre ganzer Zeiträume als Erinnerungslandschaften der Kindheit wieder auferstehen lassen. Walter Benjamins Begriff der Aura wird vielfach verwendet, um das Besondere an historischen Originalen und Objekten zu benennen. Benjamin macht ein solches Spannungsfeld aus sinnlicher Nähe und historischer Ferne auf, wenn er „Aura“ als „Erscheinung der Ferne“ beschreibt, „so nah sie sein mag.“ (Benjamin, 1977 [1963]: 15). „In der Spur werden wir der Sache habhaft, in der Aura bemächtigt sie sich unser“ (Wohlfromm, 2002: 25 zitiert damit Benjamins, 1983: 560). Der Begriff der Aura lässt sich so übersetzen in einen Unterschied zwischen der präkognitiven Unmittelbarkeit von Wahrnehmung und Emotion gegenüber der Distanz, in der das Wiedererkennen und eine kognitive Einordnung des Gesehenen in eine Historie erfolgt (Csikszentmihalyi, Rochberg-Halton, 1989: 188, 193; Rüsen, 1989: 119ff). Der Prozess der Er-innerung wird in Anlehnung an Benjamin gegenläufig mit Ver-dinglichung zusammengedacht (Ernst, 2000: 21). Das Objekt soll zu Assoziationen veranlassen, und das gerade aufgrund seiner sinnlich erfahrbaren Qualitäten. Ähnlich verhält es sich mit dem Subjekt des Besuchers. Der Besucher kann sich selbst in seiner Erinnerung als Beobachter begegnen (z. B. neben Adenauers Mercedes) (Luhmann, 1976: 372), wenn er das Objekt verdinglicht, d. h. wenn er es aus seinem Sinnkontext herausschneidet, es dekontextualisiert (Treinen, 1973: 339; Wohlfromm, 2002: 28ff) und es sich aneignet, indem er sich damit identifiziert und der Erinnerung gestattet, weiteren Sinn zu generieren und Phantasien zu erzeugen (Jordanova, 1989: 25). Ein Subjekt wird selbst zum Objekt der eigenen Erinnerung: Ein Beobachter erster Ordnung kann sich selbst im Nachhinein als Beobachter zweiter Ordnung beobachten. In einer erinnerbaren (Lebens-)Geschichte begegnet sich selbst jemand als Handelnder. Dergestalt würden sich museale Objekte eignen, Emotionen zu aktualisieren, während sie zugleich – als indikative Hinweise auf Themen und Sinnzusammenhänge – mit Abstraktionen operierende kognitive Schemata aktivieren und aktualisieren (Treinen, 1996: 63). Etwas vorher Gehörtes, Gelesenes oder Erfahrenes wird mit neuem Sinn, einem neuen Bezug zu etwas, und sei es das Museumserlebnis, ausgestattet, aktualisiert und darin ändert sich der Gehalt des individuellen Gedächtnisses (Klein, 1985: 143). Einem Objekt kommt gerade kein konstanter, stabiler Sinn zu, allein die Materie, nicht ihr Sinn, kann als permanent und dauerhaft gelten. Seine Originalität und Materialität gibt dem Ding kulturellen Wert. Die Spezialisierung auf das historisch Originale suggeriert, einer Tradition zu entspringen und eine Verbindung zur Welt der Vorfahren zu realisieren, wie sie tatsächlich längst zerbrochen ist. Benjamin (1977 [1963]: 13) beklagt den Wegfall von Originalität und Echtheit durch die Fotographie; ein Umstand, der ihre Tradierbarkeit betreffe.
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Ein Original erlaubt Zuschreibungen von künstlerischem Genie und betont die Besonderheit des Einzelnen gegenüber der Masse. Trotzdem darf man mit Benjamin nicht verfahren, wie er dies selbst – eingebunden in seine Zeit – an der Fotographie kritisierte: Die Fotographie schneide letztlich nur einen begrenzten Ausschnitt aus einem Situationskontext (Benjamin, 1977 (1963): 14; 36; 50). Es wäre verkürzt, dem Original immer noch einen derart hohen kulturellen Stellenwert zuzumessen, wenn der Alltag, wie zunehmend auch die Museen, von medialen Reproduktionen dominiert wird. So sind die Texte Benjamins vor allem aus der modernen Episteme seiner Zeit heraus zu verstehen10, als ein Ausschnitt aus einer historisch bereits vergangenen Phase. Spätestens die medialen Neuerungen in Museen verschieben die Paradigmen der musealen Präsentation und die Trennungslinie zwischen Ding, Bild und Wert, Ertasten, Sehen und Hören. Mit dem Audioguide im Museum z. B. ist der Betrachter bereits „im Ohr“ (Voss, 2009), ein Kunst- oder Geschichtsgenuss nicht länger ein originär visueller. Dadurch wird der Ästhetik ihr Charakter als Expertendiskurs genommen, ästhetische Erfahrungen werden im Museum sprachlich vermittelt, der Zugangsmodus zu einem Werk über rein visuelle Kontemplation vor einem Ding oder Bild werde damit tendenziell und langfristig eher zur Ausnahme. Sinn ist generell Bildern und Dingen nicht eingeschrieben, sondern sie dienen als Symbole, die sich in verschiedenen Bedeutungen aus einem Situationskontext heraus aufschlüsseln lassen. Es handelt sich bei dem Wert der Originalität der Dinge um eine kulturelle Konstruktion, deren Ursprung auf die Romantik mit ihrer Hervorhebung des einzelnen (Künstler-)Genies zurückgeht, die noch heute über breite Geltung verfügt (Watson, 2010). Materialität verweise zudem auf Dauer (z. B. Husband, 1992: 1; Fliedl, 1990); „die Konsistenz des Werkes“ widersteht „dem Verschleiß durch die Zeit“ (Rancière, 2008a: 7); Dinge wirken konkret und permanent, was Geltung und Stabilität suggeriere. Objekte gelten durch diese Suggestion als dem Zwang zur Veränderung entzogen und werden als Gegengewicht zu moderner Beschleunigung gedacht (Sturm, 1991: 23ff). Gerade dieses Merkmal legt nahe, einem Exponat Werte wie Authentizität, Objektivität, Permanenz und Essenz zuzuschreiben, um mit einem Objekt Tradition zu assoziieren. Dies geschah vor allem in der Zeit rund um den Ersten Weltkrieg (Kavanagh, 1989: 133). In die Dinge wird eine Art Heilsversprechen hineingelegt, das seinen mythischen Hintergrund offenbart und durch Sammlungsinteressen mehr über die (Verlust-)Ängste einer Gegenwart und ihre kulturellen Semantiken verrät als über Vergangenes. Eine Kritik dieser Position wendet
10 Eine Kritik zur Objekt- und Originalfixierung von Museen liefert Treinen (1994: 27f; 1996: 62). Originale sind demnach nicht aus sich selbst heraus dekodierbar.
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sich mitunter (pauschal) gegen den Historismus und assoziiert Museen mit Friedhöfen (Klein, 2004: 12). Gerade die Präsentationen historischer Museen sind als mit kulturellen Mythen und Fiktionen durchzogen zu lesen (Macdonald, Silverstone, 1990). Im fiktionalen Spiel mit Authentizität liegt z. B. das Potential, Imaginationen anzuregen (Wohlfromm, 2002: 30). Die Interpretation von Sinnbildungsprozessen muss demzufolge die physische Beschaffenheit und „Binnenstruktur“ berücksichtigen. Sinnbildungsprozesse gehen zugleich auf die Materialität des Dings zurück (Rill, 1995: 192). Das Objekt verfügt kulturwissenschaftlichen Ansätzen zufolge, die auf dessen Materialität setzen, über eine vierte Dimension: Das Ding, im Unterschied zum Objekt, das bereits medial zum Gegenstand von Kommunikation geworden ist, trage eine Spur vergangener Zeitphasen, verfüge über Zeitschichten im Sinne aufgeschichteter Bedeutungen. Die Materie der historischen Objekte hat unterschiedliche Zeiten durchlaufen, und einige Ereignisse haben Spuren hinterlassen. Die Materialität ermögliche also gerade, dass an ihnen Zeit wahrnehmbar ist, was nicht unbedingt mit Bestand oder Dauer gleichzusetzen ist. Der Historiker selbst versteht und erklärt vergangene Ereignisse interpretativ. Verstehen ist immer interpretierende Rekonstruktion und das Subjektive des „Beobachters historischer Spuren“, die Persönlichkeit des Historikers, tritt darüber in die Geschichte ein. Es kommt in seiner Interpretation darauf an, welche Fragen er an die Dokumente heranträgt und in welcher Hinsicht er diese interpretiert. „Es gibt keine historische Wirklichkeit, die vor der Wissenschaft fertig existierte und einfach getreulich abzubilden wäre“ (zitiert Ricœur, 1988: 144 Raymond Aron (1938)). Ricœur (1988: 129) hebt außerdem hervor, dass sich nur die Geschichtsschreibung selbst auf die Empirie bezieht, die auf Ereignisse zurückgeht, die tatsächlich stattgefunden haben. Vielfach werden Sekundärquellen herangezogen. Wirklichkeit ist somit immer schon kommunikativ überformt und repräsentiert. Was tatsächlich geschah, liegt in der Vergangenheit und bedarf einer wiederum poietischen, also sinnschaffenden Rekonstruktion. Beim isolierten Objekt im Museum bleibt dies dem Wissen des Besuchers überlassen, jedoch ohne weiteres Quellenmaterial. Festzuhalten bleibt auch, dass ein isoliertes Objekt das zu seiner weiteren Einordnung nötige Wissen nicht mitliefert. Ein Objekt ohne textuellen Kontext privilegiert den Wissenden gegenüber dem Lernwilligen. Generell repräsentiert ein Objekt als Medium immer nur einen Ausschnitt aus einem Sinnzusammenhang oder sich selbst. Als Dokumente würden Objekte etwas aus ihrem Primärkontext veranschaulichen, sie würden über sich selbst hinaus weisen. Dokumente stehen exemplarisch für eine bestimmte Zeitphase. Die Dokumentationsfunktion, z. B. „so sahen Brunnen im Mittelalter aus“, ist an den Museumskontext gebunden und drückt sich über die Zeitachse aus (Maroevìc, 1995: 25ff). Auch die Lesart eines Objekts als typisch für die Zeit X ist an eine zeitliche Einord-
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nung gebunden. Eine solche muss aber, im Gegensatz zu einer Vorher/NachherUnterscheidung, der Museumskontext leisten – ein Exponat steht z. B. im Abschnitt über das Mittelalter – oder aber eine zusätzliche Beschriftung weist ihm ein Datum zu. Ohne jedoch über eine Referenz auf historische Zeit zu verfügen und mindestens eine historische Einordnung zu erlauben, wäre das Objekt nicht in einem historischen Museum zu finden. Im Übrigen entspricht der Modus der Rekonstruktion der professionellen Interpretation von Objekten durch einen Historiker (Koselleck, 1989: 349f), ebenso wie dieser z. B. eine Geschichte anhand bestimmter Dokumente schreiben würde. Dessen Aufgabe besteht ansonsten darin, Zeitschichten in Dokumente hineinzulesen, Sinn zu rekonstruieren. Ein Historiker erhält allerdings die Chance, darüber hinaus Zusatzinformationen in seine Interpretation einzubeziehen, über die der Museumsbesucher selbst nicht verfügt. Doch auch ein Historiker kann sich der Vergangenheit, „wie sie wirklich war“, nur annähern. Die Materialität ermöglicht, das Objekt als Medium zeitlicher Unterschiede zu lesen. In einer Gegenwart sind Permanenzen ebenso wie zeitliche Unterschiede nur zu rekonstruieren. Das Deutsche Historische Museum z. B. stellt Soldatenhelme aus, an denen der Besucher Einschusslöcher finden kann. Ob der Besucher die Löcher sieht und ob er die Beschädigungen an den Objekten dann auf den Ersten Weltkrieg bezieht, bleiben andere Fragen. Im Museum ausgestellt, haben die Stahlhelme jedenfalls die mediale Qualität, als Potenz und Angebot des Museums, auf den „Ersten Weltkrieg“ zu verweisen. Die musealen Dinge gelten in ihrer Materialität mittlerweile nicht länger als konstante Garanten eines „erfahrbaren“ Wissens, ihre Medialität bleibt nicht länger unhinterfragt. Fehr (2000: 163) kritisiert an Korff (z. B. Korff, Roth, 1990: 14ff), dass dieser immer noch an der Authentizität als der zentralen Besonderheit des musealen Objekts festhalte (Korff, 2002: 141) und davon ausgehe, Exponate seien aus sich selbst heraus entschlüsselbar. Die Aussagekraft materieller Kultur wird zunehmend analog zu sprachlichen Sinnsystemen als Kommunikation analysiert und als soziale Konstruktion begriffen. Die Frage entsteht, ob dies nicht mittelfristig die vorherrschende Annahme tangiert, dass insbesondere materielle Kultur Stabilität in der Zeit vermittele und zur Kompensation der beschleunigten Veränderungen diene. Als Semiophoren, also polysemische Zeichenträger (Pomian, 1988: 49f; Annis, 1986: 186 spricht von „multivocal“ und „polyvalent“), „tragen“ museale Objekte ganze Komplexe möglicher Sinnbezüge. Ein Objekt bezieht sich zunächst polysemisch auf vielfältigen Sinn (Ricœur, 1996 [1972]: 361; Annis, 1986). Realisieren können die Zeichenträger diese Semantik nur durch einen diesen Sinn aktualisierenden Verstehensakt. Zu Beginn einer Rekonstruktion der Bedeutungsgeschichte einzelner Objekte steht zunächst ihr Sinn als Gebrauchsgegenstand, mit dem ein Objekt produziert wurde; später im Museum besteht sein Sinn als Exponat darin, Bedeutung innerhalb
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eines Museumskontextes zu repräsentieren. Demnach sind es letztlich die Ausstellungen als Kontexte, die mit Klassifikationen, Ordnungen und Strukturen Sinn in oder auf Objekte legen, die ansonsten, als bloß Singuläres visuell bleibend, allein Befremden auslösen würden (Heinisch, 1988). Die genannten Soldatenhelme befinden sich aber gerade im Museum, weil sie eben jene Spuren aufweisen. Die Dinge sind also im Museum, weil sie Historie erzählen können. Die Materialität der Dinge ist also nicht von ihrer Medialität zu trennen. Medium und Botschaft seien identisch und gerade die materielle Welt zeige, wie sehr die Dinge und die Deutungsmuster, die wir mit ihnen realisieren, dasselbe seien, so Pearce (1995: 15). Das wäre dann anzuzweifeln, wenn Objekte zunächst als Information von einem Besucher genutzt werden müssten, um als Medium zu gelten. Der Besucher könnte die Dinge auch allein als physische Umwelt behandeln. Einem Rauschen aus der Umwelt wird keine Aufmerksamkeit geschenkt und insofern auch kein Sinn zugeschrieben. Es lassen sich für narrative, erzählende Kommunikation (mittels Objekten) jedoch einige Merkmale nennen, die darauf zurückgehen, dass sich durch das Zusammenspiel von Medialität und Materialität in Museen die kommunikativen Möglichkeiten erweitern. Ein Objekt verfügt nach der Kategorisierung der SAMDOK11 über folgende symbolische Werte, Sinnschichten und Signifikationsfunktionen, die sich für eine Ausstellung nutzen lassen: • • • • • • • • • • •
„Affektiver Wert Fetisch-Qualitäten Repräsentationswert Kann pars pro toto, als Teil für ein größeres Ganzes stehen Illustrative Funktion Ästhetischer Wert Bedeutung eines Objekts für eine technologische oder kulturellen Entwicklung (z. B. Buchdruck) Objekte mit Schlüsselwert (engl. key value) Objekte, die eine Beziehung zu einem Themenkontext oder geographischen Raum herstellen; mit Referenzwert (z. B. zu kulturellem Wandel) Prototypische Signifikationsfunktion Unikat, Original Sammlerwert (z. B. „der blauen Mauritius“ für einen Briefmarkensammler)“ (Kavanagh, 1990: 113f).
11 SAMDOK: Voluntary association of Swedish museums of cultural history and their network for contemporary studies and collecting; vgl. http://www.nordiskamuseet.se (englische Version, Stand vom 09.04.08).
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Das historische Original oder Unikat ist in dieser Übersicht nur als eine Symbolfunktion unter anderen aufgeführt. Objekte zeichnen sich durch das Merkmal aus, pars pro toto verstanden werden zu können. Ein Stück oder Teil eines Objekts, ein Fragment, kann das „große Ganze“ symbolisieren. Einigen Objekten im Museum kommt ein ritueller, symbolischer Wert zu (Kavanagh, 1990: 113f). Damit sind die Objekte mit den Ritualen und Gründungsmythen einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe assoziiert. Ebenso erlauben Exponate, in Anhängigkeit vom Verstehen, Sinnzuschreibungen, die Objekte als Fetische verstehen oder auf kontagiöse Magie zurückgehen. Der Umgang mit einigen historischen Objekten ähnelt heute noch der Art, mit heiligen Reliquien umzugehen, denen eine kontagiöse Magie zugeschrieben wird. Kontagiöse Magie bezeichnet in der Ethnologie seit James Frazer die Eigenschaft von Objekten, mit Jesus, Maria, den Aposteln oder Märtyrern in Berührung gekommen zu sein, was sie zu heiligen Objekten christlicher Tradition macht (Kohl, 2003: 48). „Reliquien sind Gegenstände, von denen man annimmt, dass sie mit Gott oder einem Heroen in Berührung gekommen sind oder dass sie Spuren irgendeines großen Ereignisses aus der mythischen oder einfach nur fernen Vergangenheit sind“ (Pomian, 1988: 30).
Dazu muss ein Besucher von dieser Tradition wissen. Auf kontagiöse Magie setzen aber auch jüngere Ausstellungskonzepte, z. B. das Prinzip des musée sentimental: „Da konnte man das Totenbett Van Goghs, den Reisekoffer Rimbauds, die Nagelschere Brancusis und das Rasiermesser Dantons neben den Seidenstrümpfen der Kaiserin Eugène und der Violine des Malers Ingres bewundern“,
beschreibt Plessen (1981: 7) im Ausstellungskatalog „Le Musée Sentimental de Prusee“ das zugrunde liegende Konzept. Sowohl Künstler als auch Kuratoren knüpfen, wie dieses Beispiel zeigt, an kulturelle Traditionen an. Ein Besucher muss mindestens wissen, wer Brâncuúi oder Ingres waren, um die Exponate zu würdigen. In Abhängigkeit vom Wissenshintergrund der Besucher ist in ein solches Ausstellungskonzept auf unterschiedlichen Ebenen vielfältiger Sinn hineinzulesen. Innerhalb eines Publikums werden nur einige Besucher diese Anspielung auf die Reliquientradition verstehen. Mögliche und legitime Lesarten einer Ausstellung vervielfältigen sich weiter. Die Objekte können als Zeichen zugleich abstrakte Ideen vergegenständlichen. Ein frühes Beispiel für die kulturelle Bedeutung symbolischer Vergegenständlichungen sind die Gesetzestafeln, die Mose der Bibel zufolge, von Gott erhielt. Sie symbolisieren sowohl den Zusammenhalt der israelitischen Gemeinschaft als auch die integrierenden, zusammenhaltenden Bedeutungen von Religion, Werten, Re-
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geln, Ethik und Moral. Sie dienen der sozialen Erinnerung an den Bund des Volkes mit Gott und sind ihr kulturell überformter Referent (Assmann, 1992: 30f). Das ist insofern entscheidend, als im Zusammenhang mit der Differenzierung des Gesellschaftssystems ein zeitlich-symbolischer Abstraktionsbedarf zu erkennen ist: Zur Koordination über Grenzen hinweg bedarf es koordinierender Generalisierungen, die es ermöglichen, verschiedene Systemgeschichten zu integrieren oder in Beziehung zueinander zu stellen (Luhmann, 1979: 349). Gerade dies ist an dem Museumsphänomen der Gegenwart zu beobachten. Objekte können Kategorien des Alltagsbewusstseins repräsentieren und sind in der Lage, abstrakte Notationen greifbar zu machen (Hooper-Greenhill, 2000: 111). Beruht historische Zeit ebenso wie Geschichte auf abstrakten Notationen, ist beides allein als kulturelle Konstruktion angemessen zu verstehen. Eine andere Seite der Qualität von Objekten liegt darin, komplexe Botschaften ggf. „auf einen Blick“ zu thematisieren. In diesem Sinne kommen Objekte u. U. ohne viele Worte schneller „auf den Punkt“. Burri (2008: 348) bezeichnet dies als visual value und verweist auf den Kunsthistoriker Max Imdahl, der diese Simultaneität als „Konzentration“ und „Zeitverdichtung“ verstand, die eine „optische Koinzidenz von Noch, Nicht-mehr, Schon und Noch-nicht“ darstellen – derart lässt sich eine zeitliche „Spur“ an den Dingen berücksichtigen. Durch diese Konzentration trete die Leistung der Bildlichkeit zutage, „eine das Textlogische übertreffende Sinneinheit“ zu erreichen (Imdahl, 1996: 53f). Aber erst die Narration, die ein Objekt und sein Kontext als Sinnbezugsgefüge realisieren, so die hier vertretene These, konstruiert die historische Zeit, von der das Objekt „erzählt“. Der Kontext mag auch allein eine spezifische Situation sein, in der ein Besucher ein Objekt sieht. Würden Objekte als Zeichenträger verstanden, entstände die Frage, auf welchen Sinn welcher Zeit die Zeichen referieren. Museumsobjekte können in einer Präsentation als Dokumente oder als Informationen stehen (Maroevìc, 1995: 25ff). Als Informationen stehen die Exponate für sich selbst und erfüllen zwei Leistungen: Sie verfügen über wahrnehmbare Eigenschaften (ästhetische oder „Anmutungsqualität“) und über eine darüber hinaus gehende Interpretation. Die Beobachtung eines Einschussloches in einem Soldatenhelm beruht auf dem interpretativen Akt, dass es sich um ein durch einen Schuss verursachtes Loch handelt. Die Interpretation verwendet dann zumindest eine zeitliche Unterscheidung zwischen vorher und nachher: Fabrikneu hergestellt wird der Helm keine Schäden aufgewiesen haben, interessant wird das Objekt dadurch, dass es jetzt ein Loch aufweist, das sich dem Krieg als „Ursache“ zuschreiben lässt. Im Kommunikationsprozess des Museums verändert sich der Sinn des Helms, und er erzählt Geschichte(n). Anders verhält es sich weiterhin mit einem statischen Ding, bezieht man das Publikum in die Überlegung mit ein: In einem Museum, als Kommunikation oder als Erzählung gefasst, die an ein Publikum adressiert ist, gibt es Geschichte im Verstehensakt der Besucher auch angesichts eines isolierten Einzelobjekts. Legt man
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die oben eingeführte verstehensabhängige Definition von Kommunikation zugrunde, lässt sich nicht nur die These von narrativen Medien entfalten, sondern auch begründen, dass ein isoliertes Objekt dem Betrachter eine Geschichte erzählen kann. Einem ungeübten, teilnahmslosen Betrachter werden die Objekte hingegen nicht nur schweigend gegenüber treten; ein solcher wird an einem isolierten Objekt wenig Anleitung zu seiner Entschlüsselung finden. Eine solche Rekonstruktion erscheint demnach abhängig von Zusatzinformationen und Vorwissen. Auch Situationen fungieren als Kontexte, und der Kontext Museum prägt die Erwartung, ein Original vorzufinden. Die Kulturgeschichte zu einem Objekt und „um es herum“ befördert eine historische Lesart. Angesichts von Einzeldingen im Museum wird der Besucher selbst zum Historiker ernannt und dazu aufgefordert, sich Geschichte interpretativ aufgrund seines vorhandenen Wissens „zusammenzubasteln“. Postmoderne Museen befassen sich damit, den Umgang mit Informationen zu lehren (Ernst, 2000: 18). Die Objekte im Museum erlauben eine mindestens zweistellige zeitliche Einordnung (vorher – nachher). Ist in einer Sonderausstellung des Deutschen Historischen Museums12 beispielsweise ein Bild vom Börsenkrach (ca. 1869) ausgestellt, realisiert das Exponat ein Spannungsfeld aus (erinnerter) Erfahrung und Erwartung und erlaubt damit einen dreistelligen Zeitbezug: Es repräsentiert das soziale Wissen, dass Börsen zusammenbrechen können, es referiert auf den Entstehungszeitpunkt des Bildes und kann, ausgehend von heute, an die Börsenkrise der 1920er Jahre erinnern und die Erwartung befördern, dass weiterhin Börsenkurse extrem einbrechen können. Der Clou, Plot oder Witz dieses Exponats kann gerade diese Datierung sein, die den Betrachter irritiert, weil er u. U. Börsen-Crashs als historisch spätere Erscheinung vermutet hätte. Eine museale Kommunikation wird also nur in Abhängigkeit vom und durch den Verstehensakt des Besuchers konstruiert, immer dann, wenn dieser selektiv als Mitteilung interpretiert, was er sieht. Museen verfügen zwar im Gegensatz zu einer rein sprachlichen Geschichtserzählung über eine Vielzahl von Kommunikationsmedien und können potentiell verstanden werden: Dinge, Bilder, Hands-on, digitale, interaktive und audio-visuelle Exponate etc. Diese Medien sind aus soziologischer Sicht primär als Informationsangebot aufzufassen (Treinen, 1996: 60). Aber nur als in eine museale Ordnung eingebundenes Objekt, also verstandenes Exponat, realisieren sie sich als medialer Mitteilungsakt. Themenabgrenzungen und anderen Kriterien folgende Ordnungen sind als Kontext zu sehen, die den Objekten in ihrer relationalen Stellung einen Sinn geben. 12 Gründerzeit, 1848-1871: Industrie und Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich, 25. April bis 31. August 2008.
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Aber dies ergibt natürlich auch den Kontext, aus dem heraus der Besucher Ordnung für sich selbst, jenseits der materiell realisierten Museumsordnung, herstellt. Die Ordnungen der Sinnkonstruktionen des Besuchers stimmen nicht unbedingt mit der musealen Ordnung überein und solcherlei „einordnende Rezeptionen“ erfolgen situativ verschieden. Also könnte als ein „Sinnkontext“ auch die Situation des Besuchs oder der Museumsbesucher selbst mit seinem je individuellen Leben gelten. Einem Besuchertyp erscheint denkbar und nahe liegend, der allein situativ beim Museumsbesuch den Sinn eines Objekts in seiner persönlichen Vita verortet und ihm so allein subjektiv Sinn zuschreibt. Da Menschen eine Biographie haben und Sinn subjektiv konstruieren, indem sie Bezüge zu vorhandenem, erinnerbarem Wissen herstellen, kann ein Besucher ein Objekt entweder biographisch oder historisch zeitlich verorten. Der Akt der Platzierung allein, im Museum oder auf einer individuellen cognitive map eines Besuchers, stellt eine sachlich-thematisch und zeitlich interpretierbare Referenz her. Denkbar sind auch Bezüge, die auf die sozialen und räumlichen Dimensionen von Sinn zurückgehen. Das Ding im Museum hat also mindestens den Besucher selbst und das Museum als Kontext, der den Objekten ihren Sinn gibt und sie damit kodiert. Es käme demnach auf den Besucher an, was ein Objekt als Medium bedeutet, welche Geschichte es ihm erzählt. Ein Objekt steht nicht allein als Original, sondern als exemplarische Veranschaulichung eines historischen Zusammenhangs im Museum (Treinen, 1996: 62). Zunächst einmal kann ein Sinnbezug auf ein Objekt ein sachlicher sein, also Fragen nach einem „Was“ beantworten. Dann aber stehen in Museen keine Dinge ohne kulturelle Bedeutung, und der den Objekten zugeschriebene Sinn wird vermutlich insbesondere in historischen Museen zumeist zeitlich konstruiert. Mit Danto (1985: 355) lässt sich ganz im Sinn von Ricœurs „bedeutsam machen“ argumentieren, dass ein Ding ohne Geschichte eine narrative Irrelevanz bedeuten würde: „Rather, such a reference is a narrative irrelevance, a mention to which Wittgenstein’s well known characterization applies: a wheel that turns though nothing turns with it is not part of a machine. So whatever is included in a narrative is a wheel, the turning of which we want to understand, or is there because it turns another wheel. Thus we read a narrative with the expectation that each thing mentioned is going to be important: which is an attitude conceptually ruled out when we believe ourselves to be reading a chronicle.“
Das ließe sich ebenso auf die Dinge im Museum übertragen: Wären die Objekte nicht Elemente einer Geschichte, wären sie im Museum irrelevant bzw. gar nicht ausgestellt. Wenn man, wie die Museumswissenschaft, von narrativen Objekten ausgehen will und mit „dinghaften Zeitzeugen“ (Korff, 2002: 141) Geschichte erzählen will, können in diesem Sinne alle Museumsobjekte als narrative Medien gelten, falls sie der (Ausstellungs-)Kommunikation eines historischen Museums dienen. Ohne jene
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Einschusslöcher, die es ermöglichen, Spuren der Zeit in sie hineinzulesen, würden die oben erwähnten Soldatenhelme nicht in gleicher Art und Weise präsentiert. Damit verfügen die Objekte über dieselben Merkmale wie die von Danto (1985: 143ff) definierten narrativen Sätze: Einen historischen Sinn erhält ein Stahlhelm nur durch die Geschichten, die sich nach seiner Herstellung ereigneten, durch den Ersten Weltkrieg und das Einschussloch, das symbolisch dem Tod eine Präsenz und ein materielles Nachleben verleiht, also dadurch, dass das Objekt als Medium bereits ein temporales Spannungsverhältnis realisiert. Ohne den Ersten Weltkrieg wäre der Helm nicht gesammelt und nicht historisiert worden. Ohne seine Einordnung in eine Historie hätte er keinen Sinn, der zeitlich in Vergangenheit und Zukunft reichend über seine Präsenz hinausweisen würde. Die Spuren der Zeit verleihen dem Objekt selbst eine zeitliche Struktur. Diese Struktur realisiert sich schon dadurch, dass allein der Umstand, dass ein Objekt für kulturell bedeutsam gehalten wurde, ein zeitliches Spannungsverhältnis zur Gegenwart erzeugt: Ein Museum sammelte zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit ein Objekt im Hinblick auf eine Zukunft, von der erwartet wird, das Stück sei es in dieser zukünftigen Gegenwart wert, ausgestellt zu werden. Allerdings braucht es Zeit, um dem Ding eine Geschichte zu entlocken, und es braucht die verstehende Aktivität eines Betrachters (McManus, 1988: 62; vgl. Assmann, 1999c: 29). Ob es sich beim aktiven Betrachter um einen Historiker, Experten oder Laien handelt, scheint dabei sekundär zu sein, solange der Beobachter dem Objekt Geschichte zuschreibt und es als Element einer Erzählung versteht. Kommt es in Museen also tatsächlich auf das Verstehen an? Davon ist auszugehen, weil man sich gerade nicht allein auf Sammeln, Bewahren und Forschen beschränkt und im Gegenteil Sammlungen z. T. erst angelegt werden, nachdem ein Museum gegründet wurde. In der Zwischenzeit übernehmen mitunter Reproduktionen den Platz bestimmter historischer Relikte. Besucher gehen wie selbstverständlich davon aus, von ihnen werde im Museum erwartet, zu verstehen. Ob dabei von den Besuchern „richtig“ verstanden wird bzw. ob immer historisch, bleibt eine andere Frage. Objekte, einmal aus ihrem Entstehungskontext herausgelöst und damit dekontextualisiert, können den Sinnkontext, aus dem sie stammen, nur bedingt zeit- und deutungsstabil repräsentieren. Ist ein historischer Gegenstand einmal seines ursprünglichen Funktionszusammenhanges beraubt, hat sich sein Sinn bereits verändert, denn sonst wäre er nicht historisch. Als Beispiel lässt sich der Zigarrenstumpen Napoleons anführen. Auf Schloss Metternich in Tschechien existiert ein Kuriositätenkabinett, das eine Zigarre Napoleons zu seiner Sammlung zählt.13 Kuntz 13 Vgl. http://www.kynzvart.cz/de/index.html (Stand vom 01.02.2009) und Jeggle (1983). Für ein anderes Beispiel für den Bedeutungswandel von Objekten vgl. Saumarez Smith (1989: 11f).
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(1989: 97) beschreibt, wie Jeggle die subjektive Geschichte eines Heimathistorikers erzählt, der dieses Erinnerungsstück bestaunt: „Seither war Napoleon für ihn ein hastiger Zigarrenraucher und es galten ihm die Heimat-(Museums-)Forscher als die Kippensammler der Geschichte.“ Tabak und Papier wurden hergestellt, um den Gebrauchsgegenstand Zigarre zu produzieren. Gehandelt und verkauft wurde die Zigarre als Genussmittel ԟ und als solches wird Napoleon sie geraucht haben. Heute gelangt dieser Zigarrenstumpen als ehemaliges Besitztum Napoleons ins Museum und erlangt je nach musealer Inszenierung, je nachdem, welche Geschichte das Museum zu erzählen beabsichtigt, seinen Sinn beispielsweise als säkulares Relikt der Aufklärung, Fetisch oder affektiv besetztes Objekt. Im Kontext der frühen bürgerlichen Rechtsprechung des Code Napoleon z. B. oder als Habseligkeit des machtgierigen Kriegsherren, zu dem sich Napoleon im Zuge der europäischen Schlachten entwickelte, kommen diesem Relikt sehr unterschiedlicher Sinn und disparate Wertungen zu. Objekte durchlaufen zunächst mindestens einen Umdeutungsprozess, der sich als De- und Rekontextualisierung (Wohlfromm, 2002: 28ff) bezeichnen lässt, bevor der Besucher sie im Rahmen einer Ausstellung zu Gesicht bekommt. Oft gerät in Vergessenheit, dass Objekte, genauso wie sprachliche Symbole, ihren Sinn erst über ihre relationale Stellung in einem situativen Verweisungskontext erhalten (s.o.; vgl. Maroevìc, 1995: 25). Die Materialität sichert damit also keineswegs einen Bestand in der Bedeutung der Objekte. In einen neuen Kontext gestellt, kommt ihnen zwangsläufig ein anderer Sinn zu. Der Besucher ergänzt in seinem Verstehensakt ebenfalls dasjenige an Kontext, was das Museum nicht explizit zeigt: Nur durch einen entsprechenden Verstehensakt des Besuchers bringt der Stahlhelm die Erzählung vom Ersten Weltkrieg auf einen Punkt. Das historische Objekt verweist im Kontext eines kulturhistorischen Museums auf die Geschichte, in deren Kontext es im Museum steht. Das alles betrifft die Medialität des Objekts im Museum, und es scheint berechtigt, aufgrund dieser Argumente selbst bei einem Einzelding im historischen Museum von einem narrativen Medium auszugehen. Denn im Zweifel setzt sich die Erwartung durch, in einem kulturhistorischen Museum Geschichte präsentiert zu sehen. Der Unterschied zwischen Materialität und Medialität eines Museumsobjekts wird aber, so das Resümee dieses Abschnitts, in den Kommunikationsprozess zurückverlagert. Das heißt, letztlich ist dieser Unterschied nur relevant, falls er zum Thema in einer Kommunikation wird oder beeinflusst, was verstanden wird. Das museale Ding ist in seiner Materialität relevant, solange der Besucher dem Objekt aufgrund seiner Materialität einen spezifischen Sinn zuschreibt und im öffentlichen Diskurs materielle Dinge weiterhin als relevant gelten. Der folgende Abschnitt 2.1.4 erhält in diesem Rahmen selbst eine Struktur, die den Zeitaltern bei Foucault entspricht (Foucault, 1971: 25), die wiederum weitgehend
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der der Epocheneinteilung in der französischen Literatur angeglichen sind. Foucault ist bemüht darum, sich beim historischen Vergleich einer positiv oder negativ wertenden Hierarchisierung zu enthalten, wie Kneer (1996: 174) in Übereinstimmung mit weiterer Sekundärliteratur zum Werk Foucaults hervorhebt. Deshalb wird eine chronologische Darstellung auch hier bewusst vermieden und zunächst mit Referenz auf die Gegenwart begründet, welchen Zweck die Darstellung hier verfolgt. Zudem ist anzumerken, dass es Foucault bei seiner Einteilung in Zeitalter gerade nicht um Epochen geht, sondern um die zwei großen Diskontinuitäten – den Übergang von der Renaissance zum „klassischen Zeitalter“ und den Einschnitt zur Moderne mit Ende der französischen Revolution. Die Frage, der in diesem Abschnitt 2.1.4 theoretisch nachgegangen werden soll, lautet dementsprechend, ob sich das Verstehen von Geschichte, ob sich historische Zeit im Zuge des Wandels musealer Ordnungen verändern. Dabei geht es darum, vorstellbar zu machen, wie sich historische Zeit durch eine Veränderung ihrer Repräsentation wandelt. 2.1.4 Museumsgeschichte: Die Veränderung von Ordnungen Die Struktur einer Erzählung entsteht durch die Ordnung von Informationen, die selbst als Sinn konstruierend zu werten ist. Es erscheint beinahe banal, kulturhistorische Museen mit einer Ordnung der Dinge zu verbinden. Der Kontext einer Ausstellung präsentiert nicht nur den Sinn der Stücke, sondern konstruiert ihn auch. Insofern ist die museale Ausstellung auch mit einer Ordnung der Zeiten zu assoziieren (Baumgartner, Trauner, 1996: 189), welche die repräsentierte historische Zeit organisiert. Die Konzeption einer Ausstellung, die Strategie, mit der sie Materielles organisiert, bildet die strukturelle Identität einer Ausstellung (Maroevìc, Edson, 1998: 269). Mit Blick auf die Ideengeschichte (z. B. Burke, 2000) lässt sich zeigen, wie Paradigmenwechsel das bestimmen und je abweichend konstruieren, was jeweils als Wissen und etablierter Sinn gilt. Anhand einer Geschichte musealer Ordnungen, die die jeweils geltenden Semantiken und ihre Konstruktionsprinzipien veranschaulicht, soll in diesem Abschnitt gezeigt werden, wie sich im Museum die Konstruktion von historischer Zeit wandelte. Dies soll die Annahme begründen, in verschiedenen zeitgenössischen Museen Geschichte und historische Zeit unterschiedlich konstruiert vorzufinden. Dazu bietet es sich an, in die Geschichte (des Museums) zurückzugehen und auf diese Weise zu beleuchten, wie sich die musealen Ordnungen diachron veränderten und wie sie damit auch je synchrone Vorstellungen von Zeit abweichend konstruierten. Denn die wesentliche Qualität museologischer Konzepte realisiert sich auf
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der strukturellen Ebene, wenn die musealen Errungenschaften in den Dienst von Ideen gestellt werden (Maroevìc, Edson, 1998: 16). Geschichtserzählungen sind durch verschiedene Strukturen ausgezeichnet, die Ereigniskomplexe ordnen. Antworten auf die Fragen „Worauf läuft das alles hinaus?“ und „Was soll das Ganze?“ weisen einer Narration oder Fabel einen Stellenwert im synoptischen Verhältnis zu anderen Fabeln zu (White, 1973: 7). Analog stehen gerade im Museum die Dinge synoptisch nebeneinander und erst gewisse Ordnungen geben dem „Ganzen“ der Geschichte ihren Sinn. Sinn lässt sich sehr unterschiedlich ordnen; die Objekte und die Welt lassen sich mit verschiedenen sprachlichen Kategoriensystemen erfassen. Foucaults archäologisches und genealogisches14 Projekt ist mit der Veränderung von Wissensordnungen befasst und betrifft insbesondere die Kontingenz dieses Prozesses (Lord, 2006: 8). Die Archäologie Foucaults identifiziert zwei Diskontinuitäten der Erkenntnisweise: diejenige Mitte des 17. Jahrhunderts, die das klassische Zeitalter eröffnet, und den Bruch Anfang des 19. Jahrhunderts, der die Moderne einleitet (Foucault, 1971: 25). Dies entspricht der gängigen Epocheneinteilung der französischen Literatur. „Das Zeitalter der Renaissance, das (bei Foucault, V.S.) am Ende des nur verschwommen skizzierten Mittelalters anhebt, reicht bis Mitte des 17. Jahrhunderts. Darauf folgt das klassische Zeitalter, dessen Ende durch die Französische Revolution markiert wird. Das 19. und 20. Jahrhundert ist das Zeitalter der Moderne.“ (Kneer, 1996: 176)
Diese Wendepunkte prägen die Geschichte der Institution Museum und zeigen Wandlungsprozesse der vorherrschenden Erkenntnisweise an, die eng mit dem Sinn der musealen Objekte verbunden sind. In diesem Abschnitt wird es darum gehen, wie sich die Repräsentation von (historischer) Zeit und Geschichte historisch gewandelt hat und inwiefern sich damit der Blick auf die jeweils gegenwärtige Welt verschoben hat. War der vorherige Abschnitt den Sinnzuschreibungen gegenüber Objekten gewidmet, sollen nun die unterschiedlichen Ordnungen der Sinnproduktion durch museale Arrangements zum Thema werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie zeitliche Unterschiede kulturell produziert werden. Es soll dabei jedoch nicht etwa darum gehen, die Kritik Foucaults an modernen Ordnungen und der Aufklärung zu reproduzieren. Der hier vertretenen Hypothese zufolge sind es insbesondere räumliche Anordnungen, die Herstellung von Synopsen, Sequenzierungen, Hierarchisie14 Foucault (1971: 26) definiert die Archäologie als Systeme der Gleichzeitigkeit, während sich Foucault in seiner Genealogie der Macht (Foucault, 1976) mit dem Ungleichzeitigen befasse. Er unternimmt dabei eine Kulturbetrachtung, die unterschiedliche Ordnungen des Wissens oder der Erkenntnis miteinander vergleicht (Kneer, 1996: 192).
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rungen oder Isolierungen von Exponaten, die latent Zeitbezüge herstellen. Ordnungen, museale Arrangements von Objekten, verfestigen für den Besucher reproduzierbare Wissensstrukturen. Der Blick in die Geschichte der Institution Museum kann veranschaulichen, wie Museumsobjekte ebenso anders geordnet, mit anderen Hintergrundannahmen ausgerüstet, dem Besucher entgegentreten können. Es geht also um die Kontingenz kultureller Ordnungen und Sinnzuschreibungen im Allgemeinen. Zudem mag ein Blick auf die Langfristigkeit kultureller Beschreibungskonventionen verdeutlichen, dass immer noch der eine oder andere Besucher erwartet und erwarten darf, dass das eine oder andere „alte“ Repräsentationsmuster heute wieder aufgegriffen wird. Ein Beispiel dafür sind einige zeitgenössische Präsentationskonzepte. Denn die heutige, postmodern geprägte Kultur zeichnet sich durch ein Spiel mit historischen Bezügen aus. Das Ausstellungskonzept des Musée sentimental (Plessen, Spoerri, 1981) greift auf ein Ausstellungsdispositiv aus der Zeit der Raritäten-, Schatz- und Wunderkammern zurück. Ein anderes, das des Autoren-Museums (Plessen, 1990: 181), reproduziert die idiosynkratische (Un-)Ordnung persönlich gestalteter Gelehrten- oder Fürstensammlungen: „Das Autorenmuseum verfährt nach dem Prinzip der Leidenschaftlichkeit: es setzt den Betrachter den Dingen aus, nimmt ihn nicht an die Hand wie die didaktisch aufgebaute, nach gattungsgeschichtlichen Kriterien geordnete Sammlung, deren innere Bezüge durch Beschriftungsformeln hergestellt werden. Im Autorenmuseum müssen die Betrachter diese Bezüge selbst herstellen, die Enträtselung selbst vollziehen, am inneren Dialog der Dinge aktiv teilnehmen.“
Dieses Konzept beruht auf den Merkmalen bewusster Ahistorizität als Aufbrechen linearer Muster. Zeitordnungen werden aufgelöst, stattdessen wird das Alphabet als Ordnungsprinzip genutzt. Die Kuriosität selbst steht für Ahistorizität (Crane, 2000: 62), Naturobjekte sind neben Kunstobjekten platziert, die Erzählung verharrt in der Synchronie. Diese individualisierten Ausstellungsarten legen nahe, eine Exposition durch einen Perspektivwechsel mit dem Sammlungsbesitzer resp. Kurator oder durch Introspektion zu entschlüsseln, um potenziell gemeinte Mitteilungen zu verstehen. Insbesondere das Konzept eines Musée sentimental eignet sich, im Zuge zunehmender Erlebnisorientierung der Museen aufgegriffen zu werden. Dieses Beispiel zeigt auch, dass es nicht falsch sein kann, ein Museum mit einem breiteren Wissen über die Geschichte musealer Ordnungen entschlüsseln zu wollen. Die Einschätzung, ein Besucher könne erwarten, dass von ihm erwartet werde, dass er zwischenzeitlich als überholt geltende Lesarten an Museen heranträgt, kann plausibilisiert werden.
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Abb. 2.1.4.1: Kunst- und Wunderkammer von Francesco Calceolari (ca. 1522 – 1609)
Quelle: Ceruti, Chiocco (1622) entnommen von: http://www.kunstkammer.at/calcraum.htm (Stand vom 11.02.2011).
Die gesellschaftliche Funktion und das Verständnis von Museen wandelten sich seit ihrer Entstehung.15 Historisch variierten Museumskonzepte zudem zwischen der Präsentation von Raritäten in Schatz- und Kunstkammern oder Kuriositätenkabinetten und der Ausstellung von zu einer jeweiligen Zeit universell Geltendem, der Darstellung einer kulturellen Totalität (Bennett, 1995: 97). Die Wunderkammern dienten dem Staunen und sie standen für die Vielheit der Welt. Sie verkörperten dabei zugleich das Prestige und den Reichtum ihrer dem Adel oder Klerus zugehörigen Besitzer (Pomian, 1988: 61). Museen waren in der Herausbildung von Wissen für die letzten sechshundert Jahre aktiv. Das über Sammlungen von Objekten repräsentierte Wissen unterschied sich in der Renaissance von den Sammlungen im klassischen Zeitalter und in der Moderne und entsprach der spezifischen Episteme dieser Zeit. Ein breiter Spielraum zwischen Wissensstrukturen und Regeln zur Wis15 Einen guten Überblick zu Begriff, Geschichte und Arten musealer Sinnvermittlung des „Mediums Museum“ bietet Wohlfromm (2002), eine historisch lexikalische Begriffsgeschichte legen Blank und Debelts (2002) vor.
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sensproduktion war in Verwendung (Hooper-Greenhill, 1992: 191). Der Fokus liegt heute dabei auf Durchdringungen, Veränderungen, Differenzen, Eigenarten und Brüchen in unterschiedlichen Repräsentations- und damit Wissensstrukturen. Das Italien des 15. Jahrhunderts, zu Beginn der Renaissance, war weder eine soziale noch eine kulturelle Einheit, insofern lässt sich die Ausbreitung und Entwicklung von Ideen nicht allein einem konkreten Ort oder einer konkreten Zeit zuordnen. Es gab zunächst eine ausgesprochene Emphase für das Leben in der Gegenwart. Ausgehend vom Mittelalter erhält die Sammlung von Dingen Bedeutung, da Erkenntnis a posteriori, also auf Erfahrung beruhend, zunehmend auf empirische Betrachtung zurückging. Zivilrechtliche und kanonische Überlegungen leiteten ab dem Mittelalter die politischen Entscheidungen der Fürsten an und dies wurde zunehmend mit der Anwendung der aristotelischen Prinzipien und Erkenntnismethoden empiristisch begründet (Burke, 2000: 92; 205). Der Aristotelischen Doktrin des Imperiums folgend forderte der mittelalterliche Gelehrte Roger Bacon (Naturwissenschaftler, 1220-92 Burke, 2000: 21) ein argumentum ex re, die Beobachtung der Sachen selbst, statt eines argumentum ex verbo, d. h. Meinungen, die sich aus der Akkumulation von Worten ergeben (Hooper-Greenhill, 1992: 32; LeGoff, 1992: 101). Bacon, Montaigne (Essayist, 1533-92), Spinoza (Philosoph, 1632-77) und Voltaire (Philosoph, 1694-1778, jeweils Burke, 2000) können als auf das je gegenwärtige empirische Urteil vertrauende Gelehrte gelten, die religiösen und mythischen Zeitdeutungen sowie entsprechenden Endzeitprophetien skeptisch begegneten (Koselleck, 1989: 27). So lässt sich ideengeschichtlich der Beginn einer empirischen Argumentationsweise unter Rückgriff auf die Beobachtung der Dinge selbst und das empirisch ermittelte Urteil ausgehend vom Mittelalter ansetzen. Diese Ideengeschichte spiegelt sich im Funktionswandel, die Museen als Dingsammlungen zukam. Als Orte wissenschaftlicher Erfassung und Ordnung der Welt betrachtet, sind Museen, nicht nur deren Sammlungen, nach bestimmten Kriterien geordnet. Die Geschichte der Institution Museum ist bereits im Italien des 15. Jahrhunderts, dem Denken der Renaissance entsprechend, anzusetzen (Klein et al., 1981: 16). Sinnliche Erkenntnis ist der dominierende Rezeptionsmodus, der diese Phase prägt (Foucault, 1971: 174). Hooper-Greenhill (1992: 33ff) erläutert sehr detailliert die Konzepte, Erkenntnisweisen und Strukturen, die in ihrer Entstehungsphase die Sammlung des Medici-Palastes prägten. Dieser kann als erste bedeutende Sammlung Europas gelten, die recht lange Bestand hatte und durch einige Umorientierungen im Sammlungskonzept gekennzeichnet war. Die Funktion der fürstlichen Kollektionen bestand darin, die Welt in Miniatur symbolisch um die zentrale Figur des Principe herum zu arrangieren (Bennett, 1995: 95). Erste Aufmerksamkeit erhielt zeitlicher Wandel im 15. Jahrhundert (Maroevìc, Edson, 1998: 33). Im Mittelalter war alles gleichmäßig in Begriffen der Gegenwart verstanden worden (Koselleck, 1989: 33). Wo das unmöglich war und Unterschiede
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in Betracht gezogen werden mussten, wurden zwei Arten von Unterscheidungen getroffen: Eine Idee betraf die Verwendung des Konzepts der Fremdheit, das Augenmerk auf räumliche Differenzen überlagerte jeden Sinn für Zeit. Die Zunahme von Reisen verlieh Exponaten aus exotischen Ländern Relevanz (Pomian, 1988: 58). Eine andere mögliche Erklärung erfolgte über die Zuordnung zu Übernatürlichem: Ein Schloss wurde z. B. als Arbeit von Giganten ausgegeben. Diese Art der Zuschreibung ist mit der ersten verknüpft, da Fremde als nicht-menschlich betrachtet wurden. Es gab einen mythischen Glauben an die Evidenz von textlich Erfasstem oder – mit größerer Tragweite zu dieser Zeit – mündlich Erzähltem und kein Interesse an Motiven oder Gründen (Burke, 1969: 6ff). Dieser Mangel an kausaler Historie tritt in den Strukturen der mittelalterlichen Geschichten hervor, die in engem Bezug zu den Chroniken standen und narrative Aufzeichnungen darüber enthalten, was während des Jahres passierte. Zudem waren Geschichten um Konzepte herum organisiert, wie das von den vier Imperien oder den sechs Jahren. Der Renaissance war eine Vorstellung von einer Korrespondenz zwischen Mikro- und Makrokosmos eigen. „Renaissance Italians lived in a mental universe which was animate rather than mechanical, moralized rather than objective, and organized in terms of correspondence rather than causes.“ (Burke, 1974: 208).
Diese Differenzierung stand im Bezug zur kosmologischen Trennung der Welt über Numerologie und befasste sich mehr mit Beschreibung als mit Analyse (Burke, 1974: 209). Nicht vor dem 15. Jahrhundert begann man in Italien, auf zeitliche Unterschiede aufmerksam zu werden (Hooper-Greenhill, 1992: 32). Bei der Reaktivierung der Vergangenheit wurden zunächst die Ereignisse des unmittelbar Vergangenen in Italien als Traditionsbruch mit der klassischen Zeit abgewertet und den Ereignissen der Antike, als älterer Tradition, der Vorzug gegeben (Burke, 1974: 39; 223ff; Münkler, 1982: 19f; Koselleck, 1989: 27). Es gab eine Restauration (engl.: renovation), keine Innovation (Burke, 1974: 226). Gegenstände erhielten auf einmal ihren Wert allein dadurch, dass sie alt waren (Hooper-Greenhill, 1992: 60). Die Humanisten grenzten sich von der „barbarischen“ Zeit, vom Mittelalter und von der gleichzeitigen Gegenwart anderer Völker und Kulturen, durch einen Rückgriff auf das antike Vorbild ab (Koselleck, 1989: 306). Fürsten, Händler und Gelehrte begannen, Sammlungen zu errichten, die ihr Wissen von der Klassik sowie ihren Reichtum zeigten. Geschmack und Interesse des Besitzers wurde mit der Sammlung zur Demonstration von Macht (Pomian, 1988: 61). In den 1440er Jahren waren die Sammlungen geprägt von einer Koexistenz von Konzepten zeitlichen Wandels mit anderen, älteren Erklärungsansätzen für die Natur der Welt. Die Episteme der Renaissance beruhte auf vier Ähnlichkeiten –
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Gleiches (du même) unterteilte sich in conventia, aemulatio, Analogie und Sympathie – und unternahm eine Annäherung an eine innere Ordnung der Welt (Foucault, 1971: 46). Die Beziehungen der Dinge in Raum und Zeit wurden als Ähnlichkeitsverhältnis gedacht (Kneer, 1996: 193). Die Ordnung des Makrokosmos (Welt) entsprach der des Mikrokosmos (Mensch). Das Universum war moralisch-ideologisch in verschiedene Schichten mit höherem und geringerem Status unterteilt, wobei die höheren Ebenen als erstrebenswerter angesehen wurden. Das Verhältnis von „Mikrokosmos“ und „Makrokosmos“ konstruierte Beziehungen zwischen Mensch und Universum (Hooper-Greenhill, 1992: 34ff). Während des 15. Jahrhunderts ermöglichte die technische Innovation dann eine andere Berücksichtigung von Zeit und Raum. Während vorher die Zeit in kleinen Einheiten – z. B. die Zeit, die es braucht, um ein „Ave Maria“ zu beten (Edgerton, 1975) – erfasst wurde, erlaubte die Erfindung der mechanischen Uhr die Entwicklung der Idee, dass Zeit wie Geld behandelt werden könne (Münkler, 1982: 27ff). Und die Beziehung zwischen Wörtern und Dingen wurde auf einem Verhältnis der Ähnlichkeit beruhend gedacht (Maroevìc, 1998: 34). Dies verband die Veränderungen im Handel mit solchen der Technologieentwicklung (Hooper-Greenhill, 1992: 42). Die Renaissance war dadurch geprägt, dass es noch keine enzyklopädische Sicht der Welt gab. Das studiolo, das Kuriositätenkabinett der Renaissance, gilt als Gedächtnistheater (artes memoriae), was es gerade in Bezug auf Museen heute noch rechtfertigt, es als kulturelles Gedächtnis zu fassen (Ernst, 2000: 17). Sammlungen wurden zu jener Zeit, am Ende des 15. Jahrhunderts in Florenz, zum ersten Mal Museum genannt (Maroevìc, 1998: 33). Zeit war bis weit in die Neuzeit hinein durch ein topologisches Gedächtnis garantiert (Luhmann, 1990 [1971]: 7ff). Ein historischer Vorläufer der Institution Museum im 16. Jahrhundert verstand sich primär als Wissensspeicher (Assmann, 1999b). Die Episteme stellte sich mit der Aufklärung nach und nach auf das Ordnungsprinzip der Repräsentation nach Gleichheiten und Differenzen um (Kneer, 1996: 194). Damit erhielten zeitliche Unterschiede Gewicht. Die Sammlung der monarchischen Gesellschaft bestand aus Kategorisierungen der Welt, tabellarischen Beziehungen von Worten und Objekten, gebildet aufgrund von Differenzierungen und Abgrenzungen, Gattungen und deren Taxonomie, wo die Ordnung der Natur anhand simpler visueller Nebeneinanderstellung demonstriert wurde (Hooper-Greenhill, 1992: 192). Entsprechend der klassischen Episteme ging es darum, den Dingen Namen zuzuteilen (Foucault, 1971: 164; 360). Im Kontext rationaler Prognostik wurde dann das Immer-Gleiche eschatologischer Erwartung abgelöst durch das „Immer-Neue“ einer entlaufenden Zeit, die prognostisch eingefangen wurde (Koselleck, 1989: 30). Als Neuzeit wurde die Geschichte peu à peu erst seit dem 17. Jahrhundert gefasst; eine Zeit, die dadurch geprägt ist, sich in emphatischem Sinne für Neues zu öffnen und sich entschieden vom Mittelalter abzusetzen. Aber erst das 18. Jahrhun-
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dert deutete das letzte Zeitalter der Universalhistorie als Neuzeit (Koselleck, 1989: 315ff). Das moderne Museum vollzog seinen Distinktionsakt primär gegenüber fremden, primitiven Kulturen, die als unterlegen galten (Bennett, 1995: 187ff). Das Selbstbild der eigenen Fortschrittlichkeit beruhte auf der narzisstischen und hierarchischen Selbststilisierung des männlichen Weißen und der rassischen Abgrenzung vom Anderen. Seither prägte der moderne Fortschrittsbegriff die historische Zeit der Geschichte. Historische Zeit wurde prähistorisch demgegenüber abweichend als Gattungsgeschichte des Menschen in evolutionären Entwicklungsetappen begründet (Bennett, 1995: 195f). Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wurde dann zum Topos der modernen Zeiterfahrung. Seit ungefähr 1870 setzte sich eine chronologische historische Ordnung in Ausstellungen – zumindest des Kunsthandwerks – immer mehr durch (Tibbe, 2006: 72). Die modernen Beschleunigungen führten zu einer Verzeitlichung von Geschichte und es setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich der Sinn der Vergangenheit für eine Gegenwart laufend aktualisiert, sich also mit Fortschreiten der Zeit verändert (Koselleck, 1989: 327). Zeit erschien linear, Zukunft wurde als grundsätzlich andersartig aufgefasst. An der Entwicklung musealer Ordnungen ist z. B. ablesbar, inwiefern sich der kulturelle Wert des Alten, Realen und Vollständigen gegenüber dem Fragment verändert. Die Renaissance zeichnete sich durch die Ablehnung älterer Formen des Denkens aus und war auf der Suche nach neuen Ideen (Hooper-Greenhill, 1992: 30). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden alte und neue Dinge nebeneinander gezeigt. Das neu erwachte Bewusstsein für die Bedeutung von direkter Beobachtung erwuchs aus den technischen Innovationen des Handels (Wackernagel, 1981: 243). Das Mittelalter hatte eine gewisse Basis dafür gelegt. Dies zeigt, dass die zeitliche Periodisierung, wie sie für die heutigen Museen als selbstverständlich angesehen wird, dies durchaus nicht immer war (Hooper-Greenhill, 1992: 196). Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein wurden Fragen der Vergegenwärtigung von Vergangenheit in der Rhetorik erörtert (Rüsen, 1989: 113). Eine mnemotechnische Methode antiker Rhetorik bestand darin, einem Redner, der zumeist Analphabet war, Erinnerungsstützen zu bauen, die eine zeitliche Reihenfolge suggerieren. Konnte er nicht auf Verschriftlichungen der Rede zurückgreifen, ließ sie sich im Gedächtnis vorstrukturieren und das erinnernde Abrufen der Inhalte erleichtern, indem er im Zuge der Rede im Geiste einen vertrauten Raum abschritt und einzelne Aspekte seiner Argumentation, einzelne Themen an bestimmten Stellen „ablegte“. Indem die Rede vorab als imaginäres Abschreiten eines Raumes eingeübt und Bezüge einzelner Dinge im Raum zu Themen des Textes konstruiert wurden, ließ sich später der Vortrag zeitlich und inhaltlich gliedern (Assmann, 1999c: 27ff; 298). Bei dieser Gedächtnisleistung wird eine Wissensstruktur in zeitlicher Abfolge verräumlicht, nur bleibt Zeit hier eng an Raumvorstellungen gebunden. Mit der Verwissenschaftlichung des Denkens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bricht diese Tradition ab.
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„Seit dem neunzehnten Jahrhundert entfaltet die Geschichte in zeitlicher Serie die Analogien“ (Foucault, 1971: 271); „Die Geschichte gibt (Herv. i. Orig.) den analogen Organisationen Raum (Herv. i. Orig.), so wie die Ordnung den Weg der Identitäten und der abfolgenden (Herv. i. Orig.) Unterschiede öffnete.“
Gegenüber vorherigen Zeiten verlagerte das bürgerliche Museum des 19. Jahrhunderts seinen Aufgabenschwerpunkt stärker hin zur Wissensvermittlung gegenüber einem breiten Publikum (Spickernagel, 1979; Wohlfromm, 2002: 12f). In prototypisch moderner Art wurde unter einem Museum eine Institution verstanden, die zum Wissensfortschritt durch die Möglichkeit des Studiums von Sammlungen beiträgt, die, eindeutigen, systematischen und wiedererkennbaren Schemata der Klassifikation folgend, nicht arbiträr arrangiert sind. Dieser moderne Prototyp des Museums war immer noch sehr eng mit den jeweils zeitgenössischen Erwartungen der Besucher verbunden. Die Institution Museum entsprach einem verbreiteten Bedürfnis nach verbindlichem, eindeutigem Wissen eines gesicherten und kulturell geteilten Bestandes und erschien als Ausdruck eines Bedürfnisses nach einer klaren Ordnung der Welt und der Zeiten. An die Renaissance anknüpfend ging die Museumsarchitektur des 19. Jahrhunderts auf klassische Vorbilder zurück und suggerierte „Alter und ‚überzeitliche‘ Kontinuität“ (Fye, 2001: 128). Insbesondere die Ästhetik musealer Architektur verkörpert oder materialisiert vorherrschende Deutungen historischer Zeit in einer jeweiligen Gegenwart, einem jeweiligen kulturellen Kontext (Kohl, 2003: 250ff). In der Museumsgeschichte scheinen prestigereiche Museumsprojekte und ihre architektonische Symbolik insbesondere gesellschaftliche Umbruchphasen und Wandlungsprozesse zu markieren. Zumeist wird jedoch die Öffnung der Sammlungen für ein breites Publikum als Kriterium gesehen, um von Museen im heutigen Sinne zu sprechen. Die Öffnung von Bibliotheken für die Öffentlichkeit begann bereits 1602 in Oxford. Die Gründung der ersten öffentlichen Sammlung erfolgte dann 1683 in Oxford, als der Universität eine Privatsammlung vermacht wurde. 1734 folgte eine beschränkte Öffnung des Museo Capitolino in Rom. Die Kunstsammlung der Medici öffnete sich für Kenner und Gelehrte in Florenz bereits 1743. Die Kunstsammlung des sächsischen Königshauses in Dresden war seit den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts für ausgewählte Gelehrten- und Kennerkreise zugänglich. Als Prototyp heutiger Museen werden gemeinhin der Louvre in Paris oder das British Museum verstanden. Die erste Museumsgründung in heutigem Sinne eines für ein Publikum geöffneten Hauses, erfolgte um 1753. Das einem enzyklopädischen Prinzip folgende British Museum in London (Möbius, 2006: 14) öffnete sich zunächst unter Auflagen, z. B. bezüglich angemessener Kleidung und erwünschtem Verhalten, einem breiten, letztlich jedoch nur bürgerlichen Publikum. Zur demokratischen Institution wurde das British Museum durch den Akt seiner Gründung durch das Parlament; das französische Natio-
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nalarchiv wurde etwas später, 1794, durch Erlass der Nationalversammlung gegründet (Pomian, 1988: 66f). Das British Museum unterschied sich von den Wunderkammern durch den Anspruch, ein Universalmuseum zu errichten. Es sollte im Sinne der Universalwissenschaft das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrung, das Erbe der Menschheit, eine systematische naturhistorische Sammlung und eine sehr große Bibliothek beherbergen (Wilson, 1992: 109; vgl. Kohl, 2003: 237ff). Anspruch der Sammlungen war es, vollständig und umfassend zu sein. Kennzeichnend für ein idealtypisches Universalmuseum als mnemotechnischer Idealbau waren zudem die klaren Ordnungsraster, die alles Vorhandene einzusortieren suchten (Bredekamp, 1993: 27). In Deutschland wurde zwischen 1769 und 1779 nach dem Vorbild des British Museum das Fridericianum in Kassel als erstes eigenständiges Museum durch Landgraf Friedrich II. von Hessen errichtet (Kohl, 2003: 246). Der Louvre, als „Revolutionsmuseum“ in gewissem Sinne ein Kind der französischen Revolution (Eröffnung im August 1793), lässt sich demgegenüber eindeutig als eine breiten Bevölkerungsschichten zugängliche Ausstellungs- und Bildungseinrichtung verstehen. Gegenwärtig werden moderne Ausstellungen in ihrer Funktion für politische Macht vielfach kritisch als Disziplinierung durch die Ordnungsprinzipien der Kultur verstanden (Macdonald, 2001). Das Wissen im, in Foucaultscher Terminologie, disziplinären Museum (Abbott, 2001) repräsentierte die Wahrheit der Befreiung von der Tyrannei. Es eröffnete die egalitäre und demokratische Option, auf eine Menschheitsgeschichte der Befreiung von ihren Unterdrückern zu schauen, und es war frei, ein eigenes Bild der Geschichte zu entwerfen. Zugleich wurde ein altes Element reaktiviert, die Position des Fürsten oder Prinzen erschien wieder in der Ausstellung. Das Denken im 19. und 20. Jahrhundert ist bestimmt durch einen „identitätslogischen Zwang“. Diese Episteme befördere einen „Positivismus der Tatsachen“ und eine „Metaphysik vorgegebener Ordnungen“ (Kneer, 1996: 199) – in den Museen dieser Zeit wurde Kontingenz ausgeklammert und Objektivität, Eindeutigkeit und Geltung des empirisch Gegebenen suggeriert. Selbst wenn in der Theorie Foucaults eine massive Kritik an der Aufklärung und ihren musealen Taxonomien liegt, lässt sich diese positiv zugunsten des Museums wenden und dessen progressives Potential für Veränderungen nutzen (Bennett, 1995: 91; Lord, 2006: 5ff). Die Veränderungen seit den 1970er, 1980er Jahren sind durch die Intention einer größeren Öffnung der Museen gegenüber breiteren sozialen Schichten gekennzeichnet. Ross (2004: 84f) nennt neben einer veränderten theoretischen Perspektive eine gesteigerte Selbstreflexivität in den Museen seit den 1970er Jahren, die sie zunehmend davor bewahren würden, weiterhin exkludierende und sozial distinktive Institutionen zu sein. Dieser Prozess begann in Deutschland mit einem Verständnis vom Museum als „Lernort“, der sich durch eine Dominanz von Text und Beschriftung und durch die Suggestion einer eindeutigen Geschichtsinterpretation auszeich-
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nete. Diese Demokratisierung ging mit einer breiten Debatte um den „elitären Elfenbeinturm“-Status (bei Ross im engl. Orig.: „elitism“) der Museen und deren offen ideologische Mission einher (Biermann, 1996). Die älteren Narrative von Nation, Staat, Klasse, Rasse und Wissenschaft wurden als unangemessen für eine pluralistische, multikulturelle Gesellschaft erachtet. Dazu mussten die Museen selbst ihr Image und ihr Aussehen verändern und sich von monolithischen Visionen der Geschichte trennen, um eine Rechtfertigung ihrer weiteren Existenz zu erhalten. „Museums must come to terms with a plurality of pasts, sometimes in conflict with each other.“ (Ross, 2004: 85) Zeitgenössische Museumskonzepte gelten demgegenüber in ihrem metaphorischen Charakter als offener für individuell und kulturell verschiedene Sinndeutungen (Ernst, 1992: 20). Lord (2006) nennt als solches explizit das Jüdische Museum Berlin. An zeitgenössischen Konzepten in Wissenschaftsmuseen lassen sich die Merkmale der zeitgenössischen Ausstellungsprinzipien am deutlichsten veranschaulichen: Rekonstruierte Szenarien, interaktive Exponate, audiovisuelle Technologie mit einer einfachen, spartanischen Ästhetik, die weniger objektintensiv ist, prägen aktuell die Wissenschaftsmuseen. Die Hinwendung zu interpretationsbedürftigen, kontextuellen Mitteln der Präsentation findet sowohl dort als auch in kulturhistorischen Museen statt. Zeitgenössische Museen begegnen zunehmend dem Problem, dass Objekte letztlich immer nach subjektiven Prinzipien arrangiert sind. Gegenwärtig werden in Geschichtswissenschaft und Philosophie der Wissenschaften wie in vielen anderen Disziplinen moderne, als absolutistisch geltende Positionen durch relative ersetzt, und es wird herausgestellt, dass alle Klassifikationssysteme generell arbiträr und ambivalent sind (Macdonald, Silverstone, 1990: 180f). Der Besucher begegnet Medien eines breiten Variationsspielraums und wird von einer Palette von Sinneseindrücken angesprochen und aufgefordert zu partizipieren: Video- und Audioaufnahmen, interaktive Exponate, Gewürze und Essen zum Riechen, Geräusche zum Hören, gestaltete Formen zum Ertasten oder Schütteln, Installationen, die man betreten, in denen man stehen oder sitzen kann. Damit findet eine explizite Abgrenzung gegenüber modernen musealen Arrangements statt: Die Weltausstellungen, aus denen Technik- und Wissenschaftsmuseen entstanden, befassten sich mit Exponaten als Zeichen des Fortschritts. Überall, wo aktiv Entscheidungen über die jeweilige Auswahl getroffen werden mussten, verwendeten diese Museen zwei Kriterien: Die Objekte sollten generelle wissenschaftliche Prinzipien illustrieren oder den Fortschritt von Wissenschaft und Industrie veranschaulichen. Die Arrangements bevorzugten klare Linienführungen. Aber selbst ein zeitgenössisches Museum, das mit einer Vielzahl sensueller Erlebnismöglichkeiten in seiner Präsentation rezipiert wird, kann dennoch „modern“ gelesen werden. Wenn das Verstehen des Besuchers von der Erwartung bestimmt ist, in Museen moderne, d. h. authentische, eindeutig und klar differenzierte und klassifi-
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zierte Wissensordnungen vorzufinden, ist es wahrscheinlich, dass er diese in Museen „hineinliest“. Ein diskursanalytischer Ansatz der Museumsgeschichte wurde hier als Ausgangspunkt gewählt, da dieser ermöglicht, die historische Variabilität dessen, was als wahr und anerkannt gilt, hervorzuheben. Auf diesem Weg lassen sich unterschiedliche Konstitutionsweisen von kulturell Geltendem als historisch kontingente Realisationen beschreiben (Falk, Dierking, 2000: 41). Jede Gesellschaft hat ihre eigenen generellen Politiken der Wahrheit (Hooper-Greenhill, 1992: 194). Der Kontingenz solcher Sinnordnungen ist dennoch eine Grenze gesetzt. Nicht alle Geschichten lassen sich konsistent in das Selbstbild einer Gesellschaft zu einer Zeit integrieren (Kavanagh, 1990: 4). Insofern implizieren museale Erzählungen kulturell und zeitlich Typisches und geben damit Aufschluss über die Kultur einer Gegenwart, ihre Mythen und Fiktionen. Koselleck (1989) beschreibt, wie sich die Geschichte ausgehend vom Mittelalter verzeitlicht. Eine Verzeitlichung der Geschichte kann deshalb mit dem Wandel unterschiedlicher Sprach- und musealer Präsentationskonventionen zusammengedacht werden. Die Identität und der Sinn materieller Objekte werden jeweils dem Rahmen der jeweiligen Episteme angepasst. Einen solchen Zugang zur Geschichte von Museen wie in diesem Kapitel zu wählen, ist sicherlich nur eine unter mehreren möglichen Erzählweisen dieser Geschichte. Deutlich wird so, dass Museen unterschiedliche Funktionen übernahmen und verschiedenen Logiken folgten sowie diese repräsentierten. Dies soll vor allem herausgestellt werden, um zu verdeutlichen, dass in diesen Ausstellungsformen Zeit auf unterschiedliche Arten mit diversen Symboliken ausgedeutet wurde. Wird der Sinn von Objekten dem Wandel musealer Ordnung jeweils angepasst, wie dieser Abschnitt zeigen konnte, wird für eine Arbeit über die Konstruktion von Zeit im Museum zudem die Funktion von Ausstellungshäusern zu beleuchten sein, Sinn aufzubewahren. Denn gerade Museen werden doch über die ihnen zukommende Aufgabe des Bewahrens (von Geschichte) in ihrer Funktion für die Gesellschaft verstanden. Für ein theoretisches Verständnis von Zeit im Museum ist, einem konstruktivistischen Ansatz folgend, neben der kommunikativen resp. narrativen Konstruktion von Sinn ebenso relevant wie Kontinuität, also Bleibendes, theoretisch erklärt werden kann. Im folgenden Abschnitt 2.1.5 wird das Museum weiterhin medientheoretisch als kulturelles Gedächtnis bestimmt.
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2.1.5 Museum als kulturelles Gedächtnis In den Kulturwissenschaften wird gerne der Begriff des Gedächtnisses verwendet, um kollektive Prozesse der Sinnkonstruktion zu thematisieren (Erll, 2004: 3f). In der Tradition der „Klassiker“ zu diesem Thema, dem Soziologen Maurice Halbwachs (1985 [1966]) und des Kunsthistorikers Aby Warburg sowie des Historikers Pierre Nora (1998) und anderen lässt sich festhalten, dass die Intersubjektivität kollektiven Gedächtnisses dasselbe zu einem sozialen und insofern für Kulturwissenschaft und Soziologie gleichermaßen relevanten Phänomen macht. Auch Museen werden mit sozialem Gedächtnis in Verbindung gebracht (Fliedl, 1988; 2000; Gößwald, 1991; Crane, 2000; vgl. Welzer, 2001), als Muse des Museums gilt Mnemosyne, die Muse der Erinnerung (z. B. Baumgartner, Trauner, 1996: 199). Museen verwalten die mnemotechnischen Gedächtnisfunktionen der Kultur zwischen Erinnern und Vergessen (Geary, 1999: 129), da sie durch ihre Sammeltätigkeit darüber entscheiden, welche Auswahl aus dem Ganzen der Vergangenheit für eine Zukunft mittels welcher Medien aufbewahrt wird. Die zentrale These von Maurice Halbwachs lautet „Es gibt kein Gedächtnis, das nicht sozial ist“ (Assmann, Assmann, 1994: 117 in Bezug auf Halbwachs, 1985 [1966]). So lässt sich eine Brücke zwischen Kulturwissenschaft und Soziologie schlagen, indem dieser Abschnitt Museen als kulturelles Gedächtnis definiert, das Halbwachs folgend ohnehin ein soziales Phänomen ist. Jan Assmann fasst „kulturelles Gedächtnis“ sehr breit als einen Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Kommunikation, Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht (Assmann, 1988: 9). Der kulturelle Gedächtnisbegriff eigne sich besonders, um die „Wirklichkeit konstruierende Kraft von Medien“ (Erll, 2004: 5) herauszustellen. Oben wurde „narrativen Medien“, also Objekten, die auch aufgrund ihrer Materialität in Abhängigkeit vom Verstehen der Besucher Geschichte(n) konstruieren, bereits der ganze Abschnitt 2.2.3 gewidmet. Medien sind demnach generell sinnkonstruierend, ihre Materialität ist interpretationsbedürftig, wodurch sie ihren Sinn nicht deutungsstabil repräsentieren, sondern u.a. in Abhängigkeit vom Betrachter aktualisieren: Zum einen ist dafür, wie oben gezeigt wurde, die Unterscheidung zwischen ihrer Materialität und Medialität zentral. Diese grundlegende Unterscheidung deckt sich annäherungsweise mit den in der kulturwissenschaftlichen Medientheorie verwendeten Komponenten des Me-
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dienbegriffes16. Von der kulturwissenschaftlichen Medientheorie her kommend führt Erll (2004: 13) zum anderen zwei weitere Komponenten des Medienbegriffes an. Als dritte Komponente nennt sie das konkrete Gedächtnismedienangebot. Diese Komponente entspricht sowohl dem, was ein Museum als solches konstituiert sowie der Besonderheit des musealen Gedächtnismedienangebotes: dem Medienmix aus Dingen, Bildern, Texten, Hands-on-Exponaten, Installationen, Computeranimationen etc. Dieser Punkt ist in der vorliegenden Untersuchung allgemeiner gefasst und ihm ist das gesamte Kapitel 2.2 gewidmet. Die letzte Komponente, die sie nennt, betrifft die soziale Dimension durch Institutionalisierung und Funktionalisierung (Erll, 2004: 16f). Die Institutionalisierung des musealen Gedächtnisses wurde im Abschnitt 2.2.4 bereits als Veränderung verschiedener Ordnungs- respektive Organisationsweisen behandelt. Für Jan Assmann (1988: 14) ist die „Organisiertheit“ ein konstitutives Merkmal der Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses. Darüber hinaus, einem anderen Organisationsbegriff folgend, ist leicht einsichtig, dass Museen mit ihrem Personal, ihren Entscheidungsstrukturen und einem gemeinsamen, in der gesellschaftlichen Umwelt der Organisation kollektiv definierten Organisationsziel folgend, eine Institution darstellen. Dazu tritt ihre Funktionalisierung als Gedächtnismedium. Der Erllsche Punkt der „Funktionalisierung“ betrifft, übertragen von der Medientheorie auf Museen, die Aufgabe des Sammelns und Bewahrens, wie sie nach der oben eingeführten ICOM-Definition Museen zukommt. In Museen werden mediale Arrangements gezielt produziert, Dinge und Exponate zusammen getragen, um sie zu Sammeln und für die Nachwelt zu bewahren. Die Funktion einer Museumssammlung ist auch darin zu identifizieren, Dinge aufzubewahren. Erll (2004: 17) nennt dies die „produktionsseitige Funktionalisierung“. Ein Museum verfolgt mit seinen Sammlungsinteressen eine gesellschaftlich anerkannte Funktion und stellt damit ein Kulturprodukt zur Verfügung. Oben habe ich diesen letzten Aspekt der Museumsdefinition als weniger relevant zurückgestellt, indem ich Museum zunächst primär als Kommunikation bestimmte. Dennoch hängt weiterhin der Aspekt, den Erll (2004: 17) „rezeptionsseitige Funktionalisierung“ nennt, mit der Produktionsseite zusammen: Sind Objekte als 16 Ich vernachlässige hierbei bewusst, dass in der Sprachwissenschaft „Medium“ mitunter auf Zeichen reduziert wird und übergehe den gängigen Unterschied zwischen Semiotik (Zeichentheorie) und Semantik (Theorie des Satzes, der Rede bzw. Diskurstheorie) (Ricœur, 1986 [1975]: 120), um allein Semantik zu berücksichtigen. „...nur die Semantik beschäftigt sich […] mit der Beziehung zwischen Sprache und Welt.“ (Ricœur, 1986 [1975]: 130). Aus soziologischer Perspektive geht es um Sinnkonstruktion, die Entstehung und Verfestigung von Bedeutung im sozialen Prozess, nicht aber um Zeichenverwendung jenseits eines jeweils konkreten Sinnkontextes.
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„Gedächtnismedien intendiert“, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Museum „als ein solches angesehen und funktionalisiert“, also als Gedächtnismedien verstanden werden. „Gedächtnismedium ist hier alles, was von einem Kollektiv als Vergangenheit vermittelnd begriffen wird. Die gemeinschaftliche (Herv. i. Orig.) Zuschreibung gedächtnisrelevanter Informationen macht selbst aus Körpern, Objekten und natürlichen Begebenheiten Medien des kollektiven Gedächtnisses.“ (Erll 2004: 18)
Aufgrund solcher gemeinschaftlicher Zuschreibungen wird alles in Museen Ausgestellte, qua gesellschaftlicher Funktion der Institution Museum, kulturell wertvoll und als Information relevant. Das geht dann eventuell sogar bis zu dem anekdotisch überlieferten Besucher, der in einem Kunstmuseum mit nachdrücklichem Interesse einen an der Wand befestigten Feuerlöscher inspiziert haben soll. Museen werden dem Konzept der Assmanns folgend für diese Arbeit als kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft definiert. Insbesondere Museen bewahren diejenigen Dinge auf unbestimmte Zeit auf, die sich irgendwann als Mitteilungen für zukünftige Kommunikation über Vergangenes nutzen lassen. Die musealen Objekte lassen sich immer wieder in einen neuen Kontext stellen und ihr Sinn lässt sich insofern auch zukünftig aktualisieren. Da es gerade narrative Medien sind (s.o.), die Museen zu einem besonderen Ort der Konstruktion von Geschichte machen, so die oben vertretene These, wird auch die Gedächtnisfunktion des Museums medientheoretisch zu bestimmen sein. Deshalb wird Museum als kulturelles Gedächtnis ausgehend von der Theorie von Aleida und Jan Assmanns als solches definiert. Das kulturelle Gedächtnis wird damit anhand verschiedener Merkmale bestimmt: Es handelt sich um ein nicht-erbliches Gedächtnis (Assmann, Assmann, 1994: 117). Die kulturelle Überlieferung von Verhalten macht Tiere und Menschen voneinander unterscheidbar, denn das komplexe Verhaltensprogramm der Tiere wird genetisch weitergegeben. Die symbolische Überlieferung von Kultur erfolgt hingegen über die Sozialisation, was die kulturelle Weitergabe gegenüber der genetischen letztlich weniger zwingend macht. Für ein Subjekt steht im Gegensatz zum Tier seine Kultur in größerem Maße zur Disposition, es kann z. B. seinen Kulturkreis wechseln, für das Tier ist sein Verhalten alternativlos. Das kulturelle Gedächtnis beruht auf der zentralen „poietischen – d. h. aktiv und kreativ Wirklichkeit erzeugenden – Verfahren der Kultur“ (Erll, 2004: 4). Der Begriff der „poiesis“ geht ursprünglich auf die Aristotelische Poetik zurück. Die aristotelische Mimesis bestand darin, den Einklang zwischen einer produktiven Natur (einer poiesis) und einer rezeptiven Natur (einer aisthesis) herzustellen (Rancière, 2008a: 16). Der Begriff der „poiesis“ wird häufig dann verwendet, wenn Sinnkonstruktionsakte etwas über sich selbst Hinausgehendes schaffen. Das kulturelle Ge-
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dächtnis muss als poietisch abhängig von seiner jeweiligen Aktualisierung durch Subjekte, also durch das immer neue Verstehen der Museumsbesucher, gelten. „Als Konstruktion ist das Funktionsgedächtnis an ein Subjekt gebunden, […] Subjekte konstituieren sich durch ein Funktionsgedächtnis, d. h. durch selektives und bewusstes Verfügen über Vergangenheit“ (Assmann, Assmann, 1994: 123).
Ein kulturelles Gedächtnis beruht dieser Definition zufolge auf der durch ein Subjekt verstandenen und daher mit einem spezifischen Sinn aktualisierten Vergangenheit. Insofern beruht Gedächtnis auf Sinnkonstruktionen. Ein kulturhistorisches Museum kann nicht das „objektive vergangene Geschehen“ als solches überliefern. Die musealen Medien erinnern bestenfalls an Ausschnitte, indem sie materiale Medien zusammenstellen (s.o.). Nicht nur die Konstruktion, sondern auch die Selektion des Vergangenheitsausschnittes ist von einem Subjekt abhängig. Das im Museum Bewahrte muss den Besuchern gegenwärtige Anknüpfungspunkte bieten, um als relevant aufgegriffen zu werden. Der Besucher muss etwas mit den Themen und Exponaten einer Ausstellung „anfangen“ können. Sozial relevant sind nur diejenigen Gedächtnisanteile, die weiter verwendet werden. Erinnert wird nur, was das Subjekt interessiert. Neben ihrer Funktion, für einen Besucher Vergangenheit zu aktualisieren, erhalten die Objekte jedoch sozial betrachtet das Potential, überhaupt auf Geschichte zurückzukommen: Der Kurator entscheidet letztlich, wie er welchen Ausschnitt der Geschichte mit den verfügbaren Objekten inszeniert und der Betreuer einer musealen Sammlung entscheidet über die Relevanz der in einer Gegenwart verfügbaren Objekte für die Zukunft einer Sammlung und ihrer Schwerpunkte (s. u.). Das Verhältnis zwischen subjektivem und kulturellem Gedächtnis ist letztlich als wechselseitig konstitutiv zu denken: Das kulturelle Gedächtnis bedarf der Aktualisierung durch Subjekte und Subjekte bedürfen eines verfestigten kulturellen Sinnvorrats, um zu kommunizieren, zu handeln und zu erleben. Setzt man in der Definition von Museen auf Kommunikation, bestimmt sich Gedächtnis durch seine Bedeutung für den jeweiligen Verstehensakt der Besucher. Ich möchte an dieser Stelle von kulturellem Gedächtnis reden, wenn Sinngehalte (im Museum) bereits strukturiert und organisiert bereitgehalten werden. Es lassen sich unterschiedliche Funktionsweisen des kulturellen Gedächtnisses unterscheiden: Das offizielle Gedächtnis diene der Legitimation von Herrschaft, Macht und Herkunft. Das inoffizielle, kritisch subversive Gedächtnis bewirke Delegitimierung (Assmann, 1999c: 138f). Weiterhin diene das kulturelle Gedächtnis der Distinktion, bestehend aus Identifikation und Abgrenzung (Assmann, Assmann, 1994: 126). Als letztes, unverzichtbares Merkmal des kulturellen Gedächtnisses ist seine kulturelle Überformung hervorzuheben. Als kulturelle Überformung möchte ich
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hier lediglich eine Etablierung von Kodierung und die Konventionalisierung bestimmter Seh- und Darstellungskonventionen im Sinne einer Semantik (s. u.) verstehen. Ein Funktionsgedächtnis ist dadurch strukturiert (Assmann, Assmann, 1994: 122), die Gedächtniselemente sind nicht nur selegiert, also ausgewählt, sondern auch miteinander verbunden, also komponiert. Im Sinne der Argumentation hier ließe sich sagen, dass das Gedächtnis seine Elemente ordnet, organisiert und sie zu einer Semantik verdichtet. Über dieses Merkmal lässt sich so zugleich zu dem ersten Definitionsmerkmal für das kulturelle Gedächtnis zurückkommen, dass sich das kulturelle Gedächtnis poietisch in einem Wechsel zwischen Verfestigung und Aktualisierung konstituiert. Nun lässt sich im Anschluss daran fragen, was denn der Inhalt des kulturellen Gedächtnisses ist? Die Antwort, dass es sich allein um Medien handele, würde trotz der Definition von Medien als generell sinnkonstruierend die zentrale Funktion von Museen auf einer höheren Ebene, Sinn durch die Kombination von Medien zu konstruieren, tendenziell unterbelichtet lassen. Denn wie hier gezeigt werden sollte, hat das Museum als Institution des kulturellen Gedächtnisses ja darüber hinaus die Funktion, Geschichte durch die eigene Inszenierung zu produzieren (s. u.). Dies betrifft gewissermaßen die museale Praxis. Der Begriff der Semantik (s. u.), erlaubt im Weiteren eine Antwort auf die Frage zu geben, wie denn die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses jenseits ihres medialen Charakters weiter zu bestimmen sind. Denn die Sinngehalte des medial konstruierten Gedächtnisses möchte ich in Anlehnung an die Systemtheorie als Themenund Begriffsrepertoire verstehen, da dies in einem späteren Schritt in weiterführender Hinsicht zu erklären hilft, wie neben sinnkonstruierendem Verstehen der Besucher, der Erzählung, den Medien, zeitlichen Ordnungen und der musealen Inszenierung theoretisch zu erklären ist, wie historische Zeit in die Gegenwart einer Museumspräsentation hineinkommt. Das, was das kulturelle (Funktions-)Gedächtnis beinhaltet, ist zu verstehen als Repertoire an etablierten Sinnbezügen, als ein Weltbeschreibungs- und Themenpool, als ein Vorrat sinnvoller Unterscheidungen (Baecker, 2004). Es hält etablierte Begriffe und Annahmen mit unhinterfragter, langfristiger Geltung bereit, die als mit anderen geteilte Basis weiterer Kommunikation gelten kann. Damit verbindet die systemtheoretische Definition von kultureller Semantik diese mit ihrer Gedächtnisfunktion. Als Einbettung von Informationen in ein Muster von sozial geprägten, lebensgeschichtlich erworbenen Erwartungen entzieht sich Kulturelles zumeist einer Reflexion, da es unhinterfragt einleuchtet (Nassehi, 1999: 349). Als kulturell überformte Semantik und insofern geordnetes und strukturiertes Konstrukt stellt das kulturelle Gedächtnis im Museum einen verfestigten Begriffs- und Themenpool bereit (Luhmann, 1997: 409).
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Im folgenden Abschnitt 2.1.6 wird es also darum gehen, wie Museen durch die museale Inszenierung von Geschichte zugleich historische Zeit produzieren (Pearce, 1994: 64). In dieser musealen Inszenierungspraxis werden u.a. der Kurator und der Sammlungsbetreuer eines Museums als „Museumsleute“ für die Auswahl, Zusammenstellung und Inszenierung von historischen Dingen und ihre Überlieferung relevante Instanzen berührt. 2.1.6 Die museale Inszenierung von Geschichte Traditionell stehen Museen für das „gesellschaftlich Wahre“. Auf die dem Aufklärungsgedanken entstammende Idee der modernen Institution Museum geht der Topos zurück, Museen mit Wahrheit und Objektivität zu assoziieren. In übertragenem Sinne und damit bildlich gesprochen drücken Museen historischen Informationen und damit unvermeidlich bloß rekonstruierten Sinnstrukturen einen Stempel mit dem Schriftzug „offiziell authentisch“ oder wahlweise „objektive Wahrheit“ auf. Dies kann als Anlass gelten, sich mit dieser Institution zu befassen, sucht man nach gesellschaftlich dominanten Konstruktionsformen historischer Zeit. Wird der Objektivitätsglaube und die Assoziation „Museum = Wahrheit“ mittlerweile zumeist als Museumsmythos oder Museumsfiktion behandelt (Macdonald, Silverstone, 1990), bleibt es trotzdem für breite Teile des Publikums eine gängige Erwartung, Museen mit Authentischem und Wahrheitsfähigem zu assoziieren. Wenn Museen kulturellen Sinn legitimieren, tun sie dies auf unterschiedlicher Ebene zugleich: „In thinking about how visitors distil meaning from the museum’s terrain and the symbols in their path, it is useful to imagine ‚scripts‘, or symbolic engagement occurring simultaneously at more than one level“ (Annis, 1986: 168).
Sprachsysteme sind gegenüber Bildern und Inszenierungen geeigneter, eine kognitive Auseinandersetzung mit Ideen, Analysen und Abstraktionen zu initiieren. Bilder und Objekte werden vermutlich Assoziationen und Suggestion stärker dem Leser und dem Hörer überlassen und sind insofern deutungsoffener. Sprache ermöglicht die Reduktion des Komplexitätsproblems, dass Alter letztlich nicht wissen kann, was Ego meint durch „Regeln für den Zeichengebrauch“ und „durch Eingewöhnung einer begrenzten Kombinatorik.“ (Luhmann, 1984: 220). Eine Ausstellung gebe demgegenüber genauere, konkrete Informationen über physische Realitäten; zugleich schnüre sie die Phantasie und Vorstellungskraft des Besuchers ab, indem die Exposition ihm fertige Objekte und Bilder vorsetze. Insofern lassen sich mit Bildern und Objekten authentischer wirkende Bilder der Welt
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repräsentieren, die geglaubt werden, obschon sie ähnlich produziert sind wie jede filmische oder literarische Fiktion. Ein Museum unterscheidet sich von einer historischen Ausstellung darin, dass es über einen Sammlungsbestand verfügt, historische Forschung ermöglicht und den historischen Dingen damit einen langfristigen Lagerort und, in übertragenem Sinne, ein Dach auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft bietet. Der so genannte „Museumseffekt“ (Alpers, 1991: 27) besteht darin, dass etwas, ins Museum gestellt, kulturell bedeutsam wird. Das steht dann im Haus der Geschichte – „schau mal, Omas Geschirr, und dort, ein Gartenzwerg“ –, und der Zwerg meint dort doch anderes als in Nachbars Garten. Der Museumseffekt liegt darin, zu zeigen, was offiziell der Aufbewahrung für wert befunden wird (Maroevìc, Edson, 1998: 268; Gielen, 2004: 148). Der materielle Charakter der Dinge suggeriert immer noch Beständigkeit und Verbindlichkeit, was davon ablenkt, dass ihre medialen Sinnkonstruktionen weniger fixiert, vielmehr veränderlich sind. Dies ist relevant für die Charakterisierung der gesellschaftlichen Rolle von Museen als Wissensproduzenten. Mit Maimann (1984: 140) ließe sich wie folgt argumentieren: Da uns Ausstellungen eine derart große Annäherung an eine „Realität“ suggerieren können, sind sie in der Lage, ein präziseres „Wissen“, eine genauere Vorstellung weiterzugeben als die geschriebene und gesprochene Sprache oder das unbewegte Bild. Weil sie als authentisch, objektiv und wahrhaftig galten, kommt ihnen auch aktuell noch eine spezifische Leistung als Produzent kulturellen Sinns zu. In Museen ist daher am ehesten zu erwarten, ein legitimiertes Bild von Geschichte zu finden, das eine Gesellschaft nachgeborenen Generationen von sich selbst und ihrer Vergangenheit überliefern will. Die Referenz des Museums auf sich selbst, als Fiktion etikettiert, durchbricht nicht etwa den Anspruch des Museums, Wahrheit zu produzieren, sondern fügt der musealen Wahrheit einfach weitere wahrhaftige Perspektiven hinzu. Dieser Akt vervielfältigt allein mögliche Wahrheiten: „So the historic theme park / museum curators or the heritage centre administrators are all in some ways representative of a new secular priesthood – without, clearly, any problems about the ordination of women! […] Some favor an astringent puritan Romanticism, others a thrusting business-efficiency Evangelism. There are the advocates of the blow-your-mind audiovisual Counter-Reformation, Baroque – and in some of our most successful temples dedicated to the elements of fire and water there is, for all the accompanying technology, a strong and undercurrent of animism“(Sorensen, 1989: 6).
Sich mit Museen zu befassen, erlaubt nach Ansicht vieler Autoren ähnliche Aufschlüsse über Kultur, die dominanten gesellschaftlichen Diskurse der Gegenwart, ihre Ideologien, Mythen und Stereotype sowie die Stile ihrer Repräsentation wie eine Beschäftigung mit Religion oder Literatur. Demnach lassen sich in kulturhisto-
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rischen Museen diejenigen Theorien beobachten, die eine Gesellschaft von sich selbst erzählt. Wenn Maimann (1984: 144) argumentiert, historisch-filmische Inszenierungen hätten meist mit „Geschichte“ wenig zu tun, sondern vielmehr mit zeitbedingten Sehnsüchten und Mythen, lässt sich dieses Argument bruchlos auf Ausstellungen übertragen – gerade wenn diese narrativ werden und ihre historische Erzählung vermehrt mit literarischen Topoi und Darstellungstechniken aus Theater- und Filminszenierungen anreichern, wodurch die Kodes von Ausstellungen eingängiger und für ein breites Publikum zugänglicher werden. In zeitgenössischen Ausstellungen tritt die zwangsläufige Nähe von Ausstellungsinszenierung und Geschichtserzählung zunehmend deutlicher hervor. Eine Geschichtserzählung muss generell als selektiv und beobachterabhängig gelten (Röttgers, 1982: 184f). Günter Schabowski ging z. B. 1989 allein mit einem Satz in die deutsche Geschichte ein, während beispielsweise ein Satz der weniger bekannten Fanny Müller (2008) deutlich schneller in Vergessenheit geraten wird. Weiterhin ist davon auszugehen, dass es Geschichte nur perspektivisch, nur für einen bestimmten Beobachter oder eine Gruppe von Beobachtern gibt. Einigen Hamburgern mögen die Geschichten von Fanny Müller mehr und anderes bedeuten als der Berliner Mauerfall. Die Selektivität ist immer durch spezifische Perspektiven geprägt. Aufgrund der Beobachterabhängigkeit von Geschichte bietet es sich an, an dieser Stelle das Interesse an der Geschichtskultur der Gegenwart gleich mit dem thematischen Fokus auf einen bestimmten Personenkreis, nämlich die Museumsbesucher, zu beschränken. Narrative haben zwar keinen direkten Bezug zur Wahrheit, aber sie haben einen eigenen kognitiven, heuristischen Wert (Megill, 1998). Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann (Rancière, 2008b: 61). Was aus den musealen Dingen entsteht, sind überlieferte Fakten, zum Teil als Erzählungen, zum Teil allein als Dokumente repräsentiert. Geary (1999: 134f) vertritt die Auffassung, die Gesellschaft wünsche Erinnerungen zu haben, nicht Historiker. Aus soziologischer Perspektive wiederum ist interessant, welche Erzählungen die Besucher konstruieren. Ricœur geht davon aus, dass Chronologie ein reines Grundmuster in der Organisation von Erzählungen ist. Er unterscheidet zwischen Zeit der Erzählung, also Uhrzeit und Chronologie, und erzählter Zeit. Erst die Erzählung, die ein Qualifizieren von Zeit erlaubt, macht Zeit zu einer „menschlichen“ Dimension (Ricœur, 1988: 13). Mit Danto (1985: 11) ließe sich auch argumentieren, dass allein im Kontext einer Erzählung Ereignisse „signifikant“ im Sinne von bedeutsam und wichtig werden (Ricœur, 1988: 223). Geschichtsschreibung, Poesie und Literatur beruhen auf Tätigkeiten narrativen Gestaltens und Konfigurierens, die eine „Synthesis des Heterogenen“ (Ricœur, 1988: 7) herstellen. Unterschiedliche, vielfältige und zer-
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streute Ereignisse werden zu einer umfassenden, vollständigen Geschichte zusammengefasst und integriert (Ricœur, 1988: 8; vgl. Meuter, 1995: 124). Indem historische Ausstellungen Geschichte inszenieren, produzieren sie kulturell überformte historische Zeit, so die These. Sie verwenden dabei unterschiedliche kulturelle Darstellungsformen, indem sie z. B. das Einzelding als Exemplar oder Beispiel verwenden, indem sie das Dokument als historischen Sachzeugen betrachten, indem sie Exponate mit spezifischen Texten kontextualisieren und indem sie im Zuge dessen selbst eine kulturelle Darstellungskonvention (re-)produzieren. Diese produzierte kulturelle Kodierung historischer Zeit wirkt sich durch die vermeintliche Objektivität aus, die man ihr aufgrund der Materialität ihrer Erzählform zuzuschreiben geneigt ist. In Museen werden demzufolge zeitliche Ordnungen erzählend produziert. Geschichte ist immer eine Konstruktion von Vergangenheit; die (Geschichts-) Inszenierung der Museen besteht darin, dass sie Dinge in ein Geschichtsbild integrieren (Grütter, 1997a: 671). Themen werden nach Kriterien aneinandergereiht. Museen als Zeitmaschinen (Lumley, 1988) produzieren in diesem Sinne Zeit, sie sind Sinngeneratoren, Semantisierungsmaschinen oder Historiosynthesemaschinen (Ernst, 1992: 34). Wie die Maschine funktioniert, veranschaulicht Zacharias (1990: 16): „Die Museen zum Beispiel werden zu den Bühnen der Geschichte, die Museumsleute sind die Regisseure dieses historischen Theaters, in dem dinglich inszeniert wird, wie es hätte gewesen sein sollen: Und wenn auch das Gold der Pharaonen ‚echt‘ ist, die Echtheit der Materie überstrahlt nur das Talmi, die Schieflage der Repräsentanzen und der damit hausierenden Gegenwart, wenn es um Geschichtsbilder, Geschichtsabbilder mit Wahrheitsansprüchen geht“.
Geht es in diesem Zitat um das, was in inhaltlich-sachlicher Hinsicht Geschichtsverstehen prägt, tritt im Museum ebenso die zeitliche Komponente hinzu: Das Museum ist in mindestens zweifacher Hinsicht ein Raum in der Zeit. Zum einen bestimmen Relevanzen, Aufmerksamkeiten und Problembezüge und damit zusammenhängende Legitimations-, Delegitimations- und Distinktionsbedürfnisse einer Gegenwart Ausstellungsmoden und damit, was überhaupt aufbewahrt wird. Zum anderen erhalten die Sammlungen Dinge über die Zeit. Nur irgendwie aufbewahrte Exponate erhalten eine Chance, zukünftig „sinntragend“ für Geschichtserzählungen zu werden. Damit beruhen die Objektarrangements, die durch ihre spezifische Erzählung Zeit produzieren, auf der Grundlage des durch Musealisierung als Sammeltätigkeit der Häuser noch aus der Vergangenheit Verfügbaren. An dieser Stelle ist kurz darzustellen, inwiefern die museale Inszenierung von Geschichte und in Abhängigkeit davon die kulturelle Konstruktion historischer Zeit wiederum ihrerseits durch zeitlichen Wandel geprägt ist. Diese Ausführungen tragen dazu bei, zu erläutern, wie aktuelle Sammlungsstrategien bestimmen, was an Vergangenem zukünftig
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wie ausgestellt werden kann. Somit ist das eine untrennbar mit dem anderen verknüpft: Die Zeiten des Musealisierungsprozesses bestimmen, wodurch sich in einer späteren Gegenwart Vergangenheit repräsentieren lässt. Ein Musealisierungsfeld in einer beliebigen Gegenwart (Abb. 2.1.6.1) lässt sich mit einer Achse, die zwischen den Extrempolen Museumswesen und Lebenswelt, kulturelles und individuelles Gedächtnis verläuft, darstellen. Das in Museumsbestände Gelangte gilt entlang dieser verschiedenen Relevanzperspektiven als wertvoll und wird zugleich durch die Selektion des Museums, durch den Museumseffekt als kulturell geweiht ausgezeichnet. Zwischen diesen Polen verfestigt bzw. kondensiert sich kultureller Sinn. Die Musealisierung kann Distanz schaffen und Befremden erzeugen. Dem gegenüber steht das Extrem der Lebenswelt, die Assoziationen zu Alltag, Vertrautheit und Nähe bietet. Im Präsentationsraum trifft Museum auf Lebenswelt und erzeugt vielleicht beim Publikum eine Mischung aus Befremden und Vertrautheit. Dabei können Dinge auf einer Achse zwischen Einzel- und Spitzending (z. B. van Goghs Sonnenblumen oder Napoleons Zweispitz) bis hin zu den massenhaft produzierten Alltags- und Gebrauchsgegenständen (z. B. einer Coladose oder einem Sandmännchen-Kinderspielzeug) eingeordnet werden. Selektionskriterien dieser Art, anzusiedeln an beliebigen Punkten der beiden Achsen, entscheiden darüber, was überhaupt ins Museum gelangt. Abb. 2.1.6.1: Das Feld der Musealisierung
(Zacharias, 1990: 22)
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Dieses Bild lässt sich dann dynamisieren (Abb. 2.1.6.2), denn dafür, was ins Museum gelangt, sind je gegenwartsgeprägte selektive Entscheidungen relevant. Z. B. präsentierte die DDR-Variante eines Nationalmuseums, das Museum für deutsche Geschichte (MfdG), die kapitalistische Vergangenheit historisch-materialistisch als fortschrittliche Überwindung zugunsten einer besseren, sozialistischen Zukunft.17 Entscheidend für die selektiven Entscheidungen ist eine jeweils aktuelle Antwort auf die Frage, was in einer Gegenwart ausreichend signifikant erscheint, um für die Zukunft bewahrt zu werden. Diese Antworten wandeln sich über die Zeit. Seit 1989 gilt die Wende als sinnstiftendes historisches Ereignis und es wird seitdem, z. T. mit denselben Museumsbeständen, eine ganz andere Geschichte erzählt. Insofern sind Museumsbestände geprägt vom jeweiligen Blick in Zukunft und Vergangenheit sowie den dazugehörigen Antizipationen und Retrospektionen. Dabei bestimmen vergangene Sammelstrategien die Ausrichtung eines Museums in einer Gegenwart, in der es diese fortführt oder sich von ihnen abhebt. Aber auch der vergangene Blick in die Zukunft ist von den jeweiligen damaligen Problembezügen und Relevanzen bestimmt. Abb. 2.1.6.2: Das Musealisierungsfeld im Raum der Zeit
(Zacharias, 1990: 23)
17 Vgl. Ebenfeld (2001), dazu als kontrastierende Rezension Gerd (2002).
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Im Laufe der Zeit kann sich der Stellenwert der Dinge im Musealisierungsprozess verändern. Moden transformieren z. B. den Status des Lebensweltlichen für Museen. Mittlerweile ist es für manchen Besucher ein Besuchsmotiv, das vertraut Lebensweltliche im Museum repräsentiert zu sehen, während in früheren Zeiten hinter den Museumsmauern primär das wertvolle, einzigartige Original präsentiert wurde. Die Jukebox z. B., die das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) zeigt, erlangt ihren Reiz als ehemals Vertrautes, das der Lauf der Zeit in befremdende Ferne gerückt hat. Solche Objekte auszustellen, lässt sich wiederum als einem jeweils zeitgemäßen Ausstellungskonzept folgend sehen. Die lila Latzhose einer Politikerin der Grünen, ausgestellt im Deutschen Historischen Museum (DHM), ist beispielsweise bereits kein massenhafter Gebrauchsgegenstand mehr und wird potenziell im Laufe der Zeit – aufgeladen mit kontagiöser Magie im Kontakt zur Politikerin (s.o. zur Reliquientradition) – zum Einzelobjekt avancieren. Der Wert und der Sinn der Objekte ändern sich mit der Zeit. Demnach befindet sich die Zeitkonstruktion der Museen im Wandel. Die im Museum präsentierten Vergangenheiten verändern sich somit allein aufgrund des jeweiligen Zeit- und Themenausschnitts. In diesem Sinn operieren Historiker als Agenten der jeweiligen Gesellschaft, produzieren und legitimieren Geschichte, die der Gesellschaft dient (Kavanagh, 1996: 4; Stichweh, 2000: 213). Für Kavanagh (1990: 64ff) erlaubt eine narrative Erzählung, Ereignisse auf Aktion, Geschichte zur Episode, Diachrones zu Synchronem, die Sequenz zur Struktur und Beziehung hin zu deuten und damit einen Gegenwartsbezug „einzuarbeiten“. Es beständen laut der Autorin drei Traditionen der Geschichtsschreibung: deskriptiv beschreibend, narrativ erzählend und analytisch. Die Unterscheidung von diesen drei Arten des Ausstellens, deskriptiv, narrativ und analytisch, verdeutlicht, dass es auf einem Interpretationsakt beruht, wie hier im theoretischen Ansatz alle Arten von Geschichtsdarstellung als Erzählung zusammenzufassen. Aber, so kann begründet werden, dass Ausstellungen – ähnlich wie Historiker – Geschichte erzählen, selbst wenn jene sich für ihre Geschichtsschreibung und -interpretation vorrangig anderer Mitteilungsarten als der der Ausstellungspräsentation bedienen. Ausgehend vom Publikum erhält es seine Berechtigung, davon auszugehen, dass alle Ausstellungskonzepte (auch) als Geschichtserzählung, also historisch, verstanden werden, da zu vermuten ist, dass das Publikum selbst eine deskriptiv oder analytisch argumentierende Ausstellung über Sinnzuschreibungen rekonstruiert. Selbst wenn der Besucher Heuristiken erlernt oder schlicht Informationen akkumuliert, sieht er Geschichte. Die Narration stellt eine basale Art der Sequenzierung dar, die nach einem chronologischen Muster Themenbereiche miteinander verknüpft aufreiht. Werden Objekte als leblos und konstant angenommen, kann über Narration nur eine deskriptive Geschichtsdarstellung erfolgen. Eine deskriptive Ausstellung bestehe häufig in der reinen Masse von Dingen, eine narrative Ausstellung sei durch Beschrif-
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tungen und thematisch abgegrenzte Bereiche ausgezeichnet, so Kavanagh (1990: 131ff.). Eine analytische Ausstellung führt den Besucher demgegenüber an eine eigene Geschichtsinterpretation heran und spielt mit möglichen Sinnbezügen. Das metaphorische Spiel mit Repräsentationen, die ironische Referenz einer Ausstellung auf sich selbst und die Ausstellungstradition thematisieren Akte des „Museum-Sehens bzw. -Lesens“ in der Präsentation selbst (ein Beispiel dafür beschreibt Fehr, 2000). Eine komplexe Ausstellung arbeitet mit all diesen Elementen zugleich: deskriptiv, narrativ und analytisch. In diesem Zusammenhang werden diese drei Ausstellungsarten unter den Begriff „museale Geschichtserzählung“ subsumiert. Deskriptives lässt sich analog zu narrativen Sätzen als Miniaturfabel (s.o.) sehen, und analytische Ausstellungsprinzipien lassen sich als Meta-Erzählungen verstehen. Diese Ausführungen dienen dazu zu verdeutlichen, dass Narration – trotz der analytisch sinnvollen Unterscheidung von Ausstellungsarten – als Grundzug jeder Geschichtsausstellung gelten kann. Nur durch die Dreidimensionalität der Dinge im Museum unterscheidet sich die Erzählung von sprachlich sequenzialisierter Kommunikation. Wie das Museum wiederum seine Sequenzen anordnet, wird entscheidend sein dafür, welche zeitlichen Bezüge es dem Besucher herzustellen ermöglicht. Die Art, wie die Besucher Museen als Geschichte konstruierend wahrnehmen, bildet das Ausgangsinteresse dieser Untersuchung. Bennett (1995: 177) arbeitet mit dem Begriff retrospektiver Prophetie (engl.: retrospective prophecies), um im Rückgriff auf Voltaires Zadig zu erläutern, dass Retrospektion und Prospektion auf denselben Prozeduren aufbauen. Er erläutert, wie moderne Museen, insbesondere in ihrer Architektur, symbolische Formen verwenden, die das Unsichtbare der Zeit materialisieren und das Publikum anleiten, Zeit vorwärts und rückwärts entschlüsselnd zu lesen (Bennett, 1995: 184ff). Es ist wesentlich, in Bezug auf Geschichte die in der Regel miteinander verwobenen zeitlichen und inhaltlichen Dimensionen zu differenzieren, um auseinander zu dividieren, was gemeint sein kann, wenn Historiker versprechen, Zukunftsperspektiven zu eröffnen (z. B. Jeismann, 1997). Aus diesem Grund fragt diese Arbeit nach dem Geschichtsverstehen in der Gegenwart und zwar nicht allein danach, wie Geschichte von Museen ausgestellt wird, sondern vor allem, wie das Publikum der Museen sie rekonstruiert. Was aber meint es weiter, von einer darin impliziten historischen Zeit auszugehen? Nachdem in Abschnitt 2.1 theoretische Überlegungen zur Repräsentation von Geschichte und Zeit angestellt wurden und damit verschiedene Elemente der Kommunikation, die ein Museum konstituiert, herausgegriffen wurden, soll nun in Abschnitt 2.2 ausgehend von einer konstruktivistischen Theorie der Zeit (Abschnitt 2.2.1) der Begriff der historischen Zeit und ihr Bezug zur Geschichte herausgearbeitet werden (Abschnitt 2.2.2). Dabei ist davon auszugehen, dass Zeit in Absetzung von Uhrzeit, Datum und Geschichte in Absetzung zur Chronologie konstruiert wird.
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Ausgehend von der Theorie sozialer Zeit über die Rekonstruktion von Geschichtssemantik soll im folgenden Abschnitt 2.2.1 die These theoretisch begründet werden, in Museen eine „soziale“ Zeitperspektive des kulturellen Gedächtnisses repräsentiert zu finden. Es wird in diesem Kapitel die These entfaltet, dass die Zeitperspektive der Besucher etwas mit der in Museen inszenierten Geschichte zu tun hat, was im Anschluss empirisch weiter untersucht wird.
2.2 Z EITPERSPEKTIVEN
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„Schon deshalb kann das Gedächtnis nicht als eine Art Archiv begriffen werden, in dem Vergangenes aufbewahrt und bei geeigneter Ordnung wiedergefunden werden kann. Die Theorie des Gedächtnisses kann Zeit nicht einfach voraussetzen, da das Gedächtnis Zeit zur eigenen Entwirrung überhaupt erst konstituiert“ (LUHMANN, 1999B: 45)18
Museen als kulturelles Gedächtnis zu theoretisieren, leitet über zu der These, es könne neben subjektivem Gedächtnis und subjektiven Zeitperspektiven auch ein kulturelles Gedächtnis, also zumindest eine kulturell überformte Zeitperspektive geben. Also gilt es, den Zusammenhang zwischen Zeitperspektive und Geschichtssemantik theoretisch zu beleuchten. Diese Frage wird zunächst dahingehend zu beantworten sein, dass es wenig sinnvoll erscheint, zwischen subjektiver und objektiver Zeit zu unterscheiden, da Zeit immer eine intersubjektive Konstruktion und von gängigen Semantiken geprägt ist. Dies gilt für Biographie ebenso wie für Geschichte, für individuelles wie für kulturelles Gedächtnis. 2.2.1 Ein theoretischer Zugang zu sozialer Zeit: Die Konstruktion von Zeitbewusstsein im Rekurs auf Uhrzeit und Datum „Zeit soll als symbolische Sinnstruktur aufgefasst werden, mit deren Hilfe die Welt begriffen und geordnet werden kann. Sie ist soziologisch als eine intersubjektive Konstruktion der Wirklichkeit anzusehen, mit deren Hilfe wir natürliche und soziale Ereignisse ordnen. Diese 18 Inhaltlich ähnlich: Ernst, 2000.
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intersubjektive Zeit muss unterschieden werden von der ‚subjektiven‘ Zeit psychischer Systeme und ist auch nicht identisch mit der ‚objektiven‘ Zeit im Sinne einer chronologischen Zeitordnung; letztere ist vielmehr nur ein Aspekt der sozialen Zeit“ (Bergmann, 1981: 92f).
Zeit ist die Konstruktion eines Beobachters (Luhmann, 1990: 98, Piaget, 1973: 80). Es sind die Operationen eines Bewusstseins- oder sozialen Systems, die Zeit hervorbringen. Der Begriff des Zeitbewusstseins entstammt der individualpsychologischen Wissenschaftstradition und bezeichnet so durch Bewusstseinssysteme konstruierte Zeit (Piaget, 1973; Rammstedt, 1975), wobei Zeit zugleich immer als intersubjektive Konstruktion gelten muss (Bergmann, 1981: 158). Die intersubjektive Konstruktion von Zeit herauszustellen, entspricht einer soziologischen Perspektive, die die Zeiten eines sozialen Systems in den Blick nimmt und z. B. Zeitsemantik als eine etablierte Art der Beschreibung und Konstruktion von Zeit betrachtet. Bewusstseins- sowie soziale Systeme nehmen in ihren Zeitkonstruktionen je unterschiedliche Perspektiven auf Vergangenheit und Zukunft ein. Ein individuelles Gedächtnis z. B. konstruiert Zeit durch erinnernden Rückbezug und ermöglicht so eine Antizipation von Zukunft. Zukunft wird in Erwartung eines „Und-so-weiter“, in Übertragungen von Regelmäßigkeiten der Vergangenheit auf die Zukunft, antizipiert (Schütz, Luckmann, 1973: 34ff; Ricœur, 1988: 108). In dem Akt des „Und-soweiter“ werden kulturelle Deutungsmuster von Zeit als Erwartung in die Zukunft projiziert. Wenn sich Museen als kulturelles Gedächtnis beschreiben lassen, konstruieren sie kulturell Zeit auf eine sozial etablierte Weise, nämlich aufgrund der in ihnen inszenierten historischen Erzählung. „Das Zeitbewusstsein ist mithin eine – wie immer ausformulierte – Antwort auf die Notwendigkeit, als Bedingung von Selektivität im Verhältnis System/Umwelt Konstanz und Veränderung zugleich zu denken“ (Luhmann, 1979: 347).
Zeitkonstruktionen, wie z. B. Zeitbewusstsein, aber auch Zeitsemantik, beruhen demnach auf der Einheit der Differenz aus Kontinuität und Diskontinuität. Nur an der Veränderung bzw. Diskontinuität, der Bewegung des Zeigers auf dem Zifferblatt der Uhr, lässt sich Dauer bzw. Kontinuität messen (Piaget, 1973: 69). Zeit beruht auf dem „In-Beziehung-Setzen“ eines Zustands oder einer Veränderung mit dem Verstreichen der abstrakten, physikalischen Zeit. Es wäre davon auszugehen, dass Zeit auf einem kognitiven Akt beruht, der eine Beziehung zweier verschiedener Größen zueinander herstellt, der auf einer Relation, auf einem Verhältnis von etwas zueinander beruht. Eco (2005: 36) liefert dafür in einem Roman ein anschauliches Beispiel wie eine solche Konstruktion von Zeit erfolgt:
86 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – GESCHICHTE VERSTEHEN „It’s nine o’clock. […] the clock woke me. I didn’t hear the first chimes, that is to say, I didn’t count them. […] I understood that I could say four and then wait for the fifth, because one, two and three had passed, and I somehow knew that. […] I think our lives are like that – you can only anticipate the future if you can call the past to mind“.
Zugleich ähnelt die dieser Konstruktion zugrundeliegende Operation im Rückgriff auf die Uhrzeit als chronologisch geordneter Weltzeit der Arbeit des Historikers im Rückgriff auf Datum und Chronologie (s. u.): Eine Zuschreibung von Kausalität wird nur ermöglicht, wenn zwei Ereignisse in Relation zueinander gebracht werden. Nur wenn das Ermächtigungsgesetz (1933) in einem Verhältnis zu der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und ihren Folgen gesetzt wird, lässt sich das eine als Folge aus dem anderen interpretieren. Die beiden unterschiedlichen Beispiele für kognitive Akte der Zeitkonstruktion zeigen an, wie fundamental für jede Sinnkonstruktion in jedem Fall der Akt des Ins-Verhältnis-Setzens, des Herstellens von Beziehungen bzw. die Bildung einer Relation zwischen mindestens zwei Sachverhalten, Objekten oder Ereignissen ist. Vom Subjekt und seinem Zeitbewusstsein ausgehend ist zu festzustellen, dass dessen Vorstellungen und Konstruktionen durch die Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation geprägt sind (Nassehi, 1993: 140; 163). Der Formenschatz dessen, was sinnvoll als Zeit bezeichnet werden kann, variiert aufgrund kultureller Konventionen nur geringfügig. Das Bewusstseinssystem eines Subjekts verfügt immer über einen Überschuss an Möglichkeiten, der sich nur selektiv mitteilen lässt (Nassehi, 1993: 143). Es lässt sich aufgrund der Individualität der Aktualisierung kultureller Sinnkonstruktionen aber argumentieren, dass Zeit empirisch multipel und heterogen auftritt. Für unterschiedliche Individuen bedeutet Zeit zeitgleich und vielleicht sogar mit Referenz auf dieselbe Phase, dieselbe Abfolge von bestimmten Ereignissen oder dieselbe Kommunikation qualitativ Verschiedenes. Zeitkonstrukte gehören zu den Ideen einer Gesellschaft, die kulturell in spezifischen Ausprägungen Epochen bestimmten, wie z. B. Beschleunigung als moderner Topos gilt. Die kognitiven Schemata und Skripts, mit denen Zeit begrifflich und kognitiv gefasst wird, sind demnach kulturell überformt, obschon es auf individuellen Sinnzuschreibungen beruht, wie Zeit in einer konkreten Situation verstanden wird. Zur Annäherung an Deutungsmuster von Geschichte bedarf es zunächst eines theoretischen Rahmens, der über Eckpunkte Möglichkeits- oder Variationsspielräume absteckt, innerhalb derer unterschiedliche Zeitkonstrukte anzusiedeln sind. Dieser Rahmen beschreibt die Grenzen dessen, was kulturell sinnvoll unter Zeit zu verstehen ist. Das psychische Bewusstseinssystem und das soziale System sind als wechselseitig konstitutiv für die Konstruktion von Zeit zu fassen (Bergmann, 1981: 156). Zeit ist nur als intersubjektive Konstruktion gegeben. Sich mit Zeit zu befassen ist deshalb zentral, da Zeit eine Sinndimension darstellt, die allen sozialen Prozessen
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zugrunde liegt. Auf persönlicher Ebene kann die Entwicklung von Zeitperspektiven (Brose, 1986; Brose, et al. 1993: 160ff) als Ressource gelten und als im Museum gefestigtes Wissen persönliche Entwicklungen eröffnen oder verschließen (Häder, 1996). Zeitperspektiven lassen sich analytisch unterscheiden in eine Vergangenheitsperspektive und eine Zukunftsperspektive (Bergmann, 1981: 162ff). Aufgrund vergangener, erinnerter Veränderungen in der Zeit, also nur aufgrund der Annahme einer gerichteten oder geordnet ablaufenden historischen Zeit, lässt sich Zukunft antizipieren. Es lässt sich eine Perspektive zum Horizont zukünftiger Möglichkeiten einnehmen. Für solche zunächst individuellen Perspektiven stellt der Pool kulturellen Sinns gängiger Semantik bereit. Kulturell geprägte Erwartungen sind dafür verantwortlich, wie jemand den eigenen Einflussbereich wahrnimmt, ob z. B. Zukunft als beeinflussbar oder unbeeinflussbar verstanden wird. Häufig wird die Vertrautheit mit kulturellem Sinn als Ressource gesehen, um an sozialen und kulturellen Prozessen zu partizipieren (Hooper-Greenhill, 2000: 50). Grundlage für das hier verfolgte theoretische Verständnis von sozialer Zeit ist die Systemtheorie im Anschluss an Niklas Luhmann als differenzierteste Ausarbeitung einer Zeitsoziologie (Bergmann, 1981; Luhmann, 2005 [1990]; Nassehi, 1993). Die Unterscheidung von sozialer und historischer Zeit ist wesentlich, weil sich über den Begriff soziale Zeit besser begründen lässt, welche Bedeutung der Konstruktion historischer Zeit zukommt. Historische Zeit ist definiert durch die Referenz einer Zeitperspektive auf eine bestimmte Geschichtserzählung (s. u.). Der Einschätzung Bergmanns ist zu folgen, wenn er die übliche Unterscheidung von „subjektiver“ und „objektiver“ bzw. „sozialer“ Zeit für verfehlt hält, da sie deren intersubjektive Konstitution vergesse. Einerseits überschätzen solche Differenzierungen die subjektive Innerlichkeit und damit Gesellschaftsunabhängigkeit der „subjektiven“ Zeit ebenso wie sie andererseits die „Objektivität“ der sozialen Zeit überhöht darstellen (Bergmann, 1981: 158; vgl. Adam, 1994: 23). Das lässt sich plausibel auf das Verhältnis der wechselseitigen Konstruktion zwischen individuellem und kulturellem Gedächtnis übertragen, indem abgeleitet werden kann, dass historische Zeit und Geschichte weder rein individuell noch rein sozial und nicht objektiv zu verstehen sind. Die Zentralstellung der Gegenwart im erinnernden Zugriff auf den Vergangenheitshorizont und antizipativ auf den Zukunftshorizont, die sich immer ausgehend von einer spezifischen Gegenwart selektiv aufspannen, bildet eine grundlegende Annahme der Zeittheorie (Mead, 1959; Brose et al., 1993). Die Gegenwart ist relevant für die Ausbildung einer Zeitperspektive auf Vergangenheit oder Zukunft. Demnach lässt sich Zeit nur durch Referenz auf eine Gegenwart bezeichnen, eine gegenwärtige Vergangenheit ist von einer gegenwärtigen Gegenwart und einer gegenwärtigen Zukunft zu unterscheiden. Der Horizont der Vergangenheit erschließt sich ebenso wie der der Zukunft aufgrund je aktueller Relevanzen, Blick-
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winkel und Problembezüge, die die Perspektive prägen. Mit beispielhaftem Verweis darauf, dass ein Geschichtsforscher keine gegenwärtige Vergangenheit, sondern Vergangenheit als damalige Gegenwart untersucht (Bergmann, 1981: 85) und ihn vielleicht noch die Vergangenheit und Zukunft der damaligen Gegenwart interessieren, lässt sich die Rolle der Gegenwart weiter erläutern. Gegenwart ist als augenblicksartiger Umschlagpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft zu betrachten. Vergangenheit ist nur in der Erinnerung zugänglich und existent, Zukunft als solche nur in der Antizipation. Dabei sind aktuelle Relevanzen und Problembezüge als ausschlaggebend dafür zu sehen, welche Aspekte des unendlichen Vergangenheitshorizontes selektiv vergegenwärtigt werden. Vergangenheit ist zu komplex, als dass sie sich in ihrer Totalität erinnern ließe – jedes Bewusstsein wäre damit überfordert –, und insofern konstitutiv auf Vergessen als Entlastungsmechanismus angewiesen (Esposito, 2002). Dies ist ein Umstand, der, übertragen auf Museen, veranschaulicht werden kann, indem man die Vorstellung bemüht, wie schnell die Lager und Speicher eines Museums überquellen würden, bestände dessen Aufgabe darin, alles, was je produziert wurde oder in der Vergangenheit relevant war, aufzubewahren. Eine jeweilige Gegenwart mit ihren jeweiligen Wertungen und Relevanzen ist selektionsleitend dafür, was erinnert bzw. aufbewahrt wird. Dabei ist zudem entscheidend, wie Zukunft zu diesem Zeitpunkt ausschnitthaft gedacht wird. Eine Zeitperspektive berücksichtigt immer den Doppelhorizont aus Vergangenheit und Zukunft. Eine historische Zeitperspektive bezöge sich davon ausgehend auf Zeit, die sich selektiv in einem bestimmten Situationskontext angesichts einer konkreten Geschichtserzählung rekonstruieren lässt. Der Begriff unterscheidet also zwischen einer auf Vergangenheit als realem Geschehen und einer auf Historie als erzählter Geschichte zu gründenden Perspektive. Ob eine historische Zeitperspektive zugleich diejenige eines Subjekts prägt und in welchem Ausmaß, erscheint, theoretisch betrachtet, ein von den theoretischen Bedingungen von Zeitkonstruktionen im Allgemeinen zu differenzierender Umstand zu sein. Aufgrund der Merkmale von Beobachterabhängigkeit und Gegenwartsabhängigkeit jeder Zeitkonstruktion wird es situativ von einer jeweiligen Geschichtserzählung abhängen, welche historische Zeitperspektive sich in einer jeweiligen Gegenwart rekonstruieren lässt. Es erscheint ziemlich plausibel, dass ein Besucher einer Ausstellung über den Holocaust historische Zeit anders rekonstruiert als würde er sich mit einer Ausstellung zur Phase des Wirtschaftswunders ab den 1948 befassen. Insofern entspricht es zwar dem Begriff der Zeitperspektive, dass sie sowohl Vergangenheit wie Zukunft zu konstruieren erlaubt, sie ist dabei aber sozial bzw. kulturell geprägt, weshalb ihre Konstruktion zwar kontingent, aber nicht unabhängig von kulturellen Vorgaben, der Überlieferung vergangenen Geschehens beispielsweise ist. Ob eine im Museum aktualisierte Zeitperspektive von einer Person über einen jeweiligen Situationskontext „Museumsbesuch“ hinaus adaptiert wird, kann zunächst theoretisch fraglich bleiben.
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Dabei liegt es für eine empirische Untersuchung nahe, sich auf die Zeit des Museumspublikums, die sich während der empirischen Erhebungen ausgehend von ihrer spezifischen Gegenwart aufspannt, zu beschränken. Dabei wird eine Perspektive auf die Vergangenheit und Zukunft der Subjekte vergangener Zeiten vernachlässigt (Koselleck, 1989: 19), bzw. wird diese nur empirisch anhand der Beobachtung derselben durch die Besucher rekonstruiert. Dabei handelt es sich jedoch um Zuschreibungen der Interviewten und eben nicht um die Perspektiven der historischen Subjekte selbst. Dennoch unterscheiden sich natürlich auch die Gegenwarten der Museumsbesucher individuell untereinander, da ihre jeweils unterschiedlichen biographischen Lebensgeschichten nur idealtypisch ausgeblendet werden können. Besucher rekonstruieren in kulturhistorischen Museen, wie historische Zeit durch die museale Inszenierung als Erzählung zur Semantik wird und übernehmen kulturelle Kodes, Darstellungs- sowie Sehkonventionen in ihre soziale Praxis, um damit u.a. die Erzählung vom eigenen Leben zu basteln und zeitlich zu orientieren – so lautet die in Abschnitt 2.2.2 entwickelte These, die empirisch weiter zu diskutieren sein wird. 2.2.2 Die Rekonstruktion von Geschichtssemantik im Rekurs auf Chronologie Die zeitliche Organisation einer Semantik wird in der theoretischen Ausarbeitung dieser Arbeit als ein latentes Sinnbildungsmuster angenommen. Zunächst bietet es sich ausgehend vom Vorherigen an, Semantik weiter nach einem systemtheoretischen Ansatz zu fassen. Denn Zeit wurde ja bereits oben als symbolische Sinnstruktur eingeführt. Demnach ist Semantik, der Sinn den Symbole zugleich aktualisieren und verfestigen, als etwas zu vermuten, das mit einem jeweiligen Verstehen von Zeit zusammenhängt. Kulturell verfestigte und als Themen etablierte Sinnzuschreibung werden von Luhmann (1984: 224) als Semantik definiert; diese stellt als „Themenvorrat“ ein zwischen „Interaktion und Sprache vermittelndes Erfordernis“ dar. Dabei gilt ihm Kultur insgesamt, nicht nur die museale, als Gedächtnis der Gesellschaft (Luhmann, 1999b: 47). Sinn wird gemäß der Systemtheorie in der Gesellschaft als Begriffspool bereitgestellt: Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Zunächst meint Semantik alles, „was als Kommunikationsthema produziert wird (auch Flüche, Sprichwörter etc.) Sie orientiert die weniger abstrakte, vertraute Kommunikation. […] Auf einer zweiten Ebene […] findet man die gepflegte Semantik“ (Baraldi et al. 1999: 45), nämlich „das, was uns die Begriffs- und Ideengeschichte überliefert“ (Luhmann, 1984: 224). Ausgehend von der Annahme, in kulturhistorischen Museen
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gepflegte, also etablierte Semantik vorzufinden, ließe sich davon ausgehen, dass diese der vertrauten (Alltags-)Kommunikation als Orientierung dienen. Der Begriff der „historischen Semantik“ bezeichnet die Art, wie Selbstbeschreibungen einer Nation oder sozialen Gruppe als Geschichte(n) in Begriffe gefasst werden (Koselleck, 1989: 214), die selbst eine Historie haben, sich also in ihrer Bedeutung wandeln. Historische Semantik verweist auf die Selbst- und Fremdbeschreibungen einer sich damit kulturell distinkt setzenden Gruppe, worin sich jedoch nicht allein ihre Einmaligkeit, sondern gewisse Vergleichbarkeiten mit anderen Kulturen, Gruppen und Ereignissen offenbaren. Es gebe „vier mögliche Formen der Unterscheidungen in der Beziehung zwischen Begriff und Realität“; wobei „ein gewisser Zustand existiert“ und man „andererseits über einen Begriff dieses Zustandes“ verfügt (Koselleck, 2002: 34). 1) Zustand und Begriff bleiben über eine längere Periode stabil; 2) Begriff und Zustand ändern sich gleichzeitig; 3) Begriffe verändern sich ohne begleitenden Wandel der Realität oder 4) „Die Realität verändert sich, während der Begriff stabil bleibt. Zweifellos ist die marxistische Geschichtsphilosophie eines der bemerkenswerten Beispiele dieser letzten Variante“ (Koselleck, 2002: 34f). Diese Argumentation mündet in die für diese Arbeit relevante Erkenntnis, dass sich temporale Strukturen bereits ausgehend von der historischen Semantik, also der Begriffsgeschichte, ergeben: „Die einzigartige Tatsache, dass jeder Begriff eine ihm innewohnende komplexe temporale Struktur (Herv. V.S.) aufweist, eröffnet einen Ausweg für die Lösung des Problems der Einzigartigkeit des individuellen Gebrauchs eines bestimmten Begriffs“ (Koselleck, 2002: 37).
Ausstellungskommunikation beruht vielfach auf Legitimationsmechanismen (Maroevìc, Edson, 1998: 268), die die in Museen präsentierten Themen als gesichertes und langfristiges Wissen erscheinen lassen (Stichweh, 2000: 213). Insofern kann diese Kommunikation als gepflegte Semantik gelten. Semantiken verfügen über das „Gütesiegel“, offiziell etabliert, langfristiger und anerkannt zu sein. Mit diesem Begriff wendet man sich auch explizit gegen eine Vorstellung von geschichtlicher Entwicklung als Überwindung, die darin besteht, ältere Formen als obsolet zurücklassen zu können (Eco, 1991: 220). Erwartungen lassen sich nicht einfach überwinden, kulturelle Semantiken wirken sich langfristig aus. In Semantiken überdauern Sinnrelikte unterschiedlicher Entstehungszeiten als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Ob Sinnbezüge zu verschiedenen Zeiten auf die gleiche Weise und von jedem gleichermaßen verstanden werden, ist allerdings fraglich. Aber, so auch Koselleck (2002: 40): „Semantik […] indiziert und favorisiert einen bestimmten Weg, seine Erfahrungen und Gedanken zu organisieren“.
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Ein weiterer, spezifischerer Fall historischer Semantik ist die Zeitsemantik: Diese kulturell etablierte Art, der Zeit Sinn zuzuschreiben, verfügt über eine ihr eigene Geschichtlichkeit. Zeitsemantik möchte ich nennen, wenn jemand „nach dem Zusammenhang von Geschichte und Zeit fragt, wenn es schon so etwas wie ‚geschichtliche Zeit‘ geben soll“ (Koselleck, 1989: 9ff): Im Alltag würde dies, was hier Zeitsemantik genannt werden soll, im Nebeneinander von Trümmern und Neubauten in Erinnerung gerufen und angesichts von modischem Stilwandel aktualisiert. Zwischen Erfahrung und Erwartung lasse sich geschichtliche Zeit fassen, im Wandel von Generationen, im Kollektivbegriff Geschichte, also auch in wissenschaftlichen Zeitkategorien. Im darauffolgenden Kapitel nennt der Autor (Koselleck, 1989: 17ff) auch das Gemälde der Alexanderschlacht als Beispiel, wendet sich der Geschichtsphilosophie zu oder befasst sich mit der „historia magistra vitae“, also der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens etc. Dergestalt würde Zeitsemantik z. B. als Museumsarchitektur vorliegen, könnte in einem Bild zum Ausdruck kommen oder sich in Dokumenten und Geschichtserzählungen rekonstruieren lassen. So kommt in musealen Medien und Objekten also in Abhängigkeit von den rekonstruktiven Verstehensakten der Besucher historische Zeit zum Ausdruck. Von der „historischen Zeit“ der Besucher spreche ich in Anlehnung an Kosellecks „geschichtliche Zeit“ (vgl. Kapitel 2.2.1; s.o.), wenn dieselben eine spezifische Zeitperspektive in einem historischen Museum rekonstruieren. Es entspricht zudem der Fragestellung Ricœurs (1988: 138), wie die „Konstruktion historischer Zeit“ erfolgt. „Der Akt der Fabelkomposition“ selbst verbindet miteinander „zwei Zeitdimensionen, eine chronologische und eine nichtchronologische“ (Ricœur, 1988: 107). Eine historische Zeitperspektive der Besucher entsteht, wenn sie bei der Rekonstruktion von Geschichtssemantik Zeit aktualisieren. Die Beobachtung von erzählter Zeit im Unterschied zu einer ausgehend von Lebenszeit oder sozialer Zeit konstruierten Zeitperspektive soll mit diesem Begriff hervorgehoben und damit die Spezifik der im Museum gewonnen Zeitperspektive betont werden. Historische Zeit ist durch einen Historiker bzw. den wissenschaftlichen Diskurs konstruierte Zeit (Ricœur, 1988: 144). Historie tritt zum einen mit einem gewissen Wahrheitsanspruch auf und zumeist handelt es sich um kulturell überlieferte Zeit, also um eine Semantik, die Vielen zugänglich ist. Da Vergangenheit natürlich immer entweder erzählt und erinnert aktualisiert wird, ist damit der durchaus sehr gängige Fall, dass sich Viele an erzählte Geschichte erinnern, hervorgehoben. Denn die meiste Geschichte erreicht uns heute (massen-)medial (Welzer, 2001) oder personal vermittelt: Der Geschichtslehrer hat erzählt, die Oma aus ihrem Leben berichtet oder wir haben Bücher gelesen, Fernsehfilme gesehen oder auch Museen besucht. Auch für historische Zeit und ihre Semantik gilt dabei ebenso die generelle Gegenwartsabhängigkeit jeder Zeitkonstruktion (s.o.):
92 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – GESCHICHTE VERSTEHEN „Entlang der doppelten Differenz von Vergangenheit und Zukunft und irreversiblem bzw. reversiblem Gegenwartsgeschehen variiert die historische Semantik der Zeit. […] Unter Geschichte soll hier nicht die faktische Sequenz der Ereignisse verstanden werden, der zufolge Gegenwärtiges als Wirkung verstanden werden kann. Das Besondere an der Sinngeschichte ist vielmehr, dass sie wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen ermöglicht, also ein Überspringen der Sequenz. […] Geschichte ist demnach immer: gegenwärtige Vergangenheit bzw. gegenwärtige Zukunft“ (Luhmann, 1984: 118).
Die Chronologie entspricht gewissermaßen der kalendarischen Zeit des Datums. Nach Ricœur (1991[1985]: 169f) lassen sich drei Merkmale von Kalendern nennen: (1) „ein Gründungsereignis“, Christi oder Buddhas Geburt, eine Thronbesteigung etc. das einen „axialen Moment von dem aus alle Ereignisse datiert werden“ bildet, (2) dass ausgehend von diesem axialen Moment zwei Richtungen – von der Vergangenheit zur Gegenwart und umgekehrt – denkbar sind sowie (3) Maßeinheiten festgelegt sind. „Die Verwandtschaft der kalendarischen Zeit mit der physikalischen Zeit ist unschwer zu bemerken“ (Ricœur, 1991[1985]: 170f). Insofern ist davon auszugehen, dass der Kalender, ähnlich wie Uhrzeit und Datum, als Grundlage anderer Zeitkonstruktionen dient. Daraufhin macht der Autor klar, dass das Gemeinsame „aller Kalender aus der Bestimmung des Nullpunktes der Berechnung ‚erwachsen‘, was dem Status der Gegenwart in der Phänomenologie der Zeit entspreche. Ricœur, 1991[1985]: 394 spricht von einer „dritten Zeit“, „um damit die vom historischen Denken geleistete Konstruktion von so exakt bestimmten Bindegliedern wie der kalendarischen Zeit zu bezeichnen“. Dabei handelt es sich also um jene Zeit, die ich als „historische Zeit“ definiere und die, wie oben eingeführt, durch den Zusammenhang von Geschichtserzählung und Zeitkonstruktion entsteht. In der Geschichtstheorie und -didaktik wird die Erzählung verschiedentlich als ein Modus sprachlicher Sinnbildung verstanden (vgl. Kapitel 2.2.2; White, 1973; Röttgers, 1982; Megill, 1998; Jeismann, 2002), der aus chronokalischen Fakten Geschichte macht. „Droysens bekannte Frage, wie aus Geschäften Geschichte wird, hat die Antwort gefunden: durch Erzählen“ (Rüsen, 1990: 153). Die gemäß der Chronologie gereihten Fakten an sich, geordnet entlang der Chronologie, machen noch keine Geschichte aus. Geschichte entsteht durch die Interpretation von Fakten, die Erzählung, die ein Historiker in Absetzung von der Chronologie aufgrund der Fakten rekonstruiert. Der Autor definiert weiter „Historisches Erzählen […] als eine Erzählhandlung […], durch die ein bestimmtes Zeitbewusstsein sich bildet“ (Rüsen, 1990: 163f). Sollte sich diese Definition als empirisch haltbar erweisen, ist davon auszugehen, dass mit der museal-dinglich inszenierten Geschichtssemantik sowie im Falle der Besucher ausgehend von Geschichtssemantik, Zeitperspektiven konstruiert werden.
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Die kulturellen Symbole und Ordnungen, die von Kommunikationsteilnehmern entsprechend der dinglich konstruierten Semantik verstanden werden, werden durch ihre Wiederholung und Redundanz lebensgeschichtlich vertraut. Diese Vertrautheit gelte besonders für die Narration, da man auch von der eigenen Lebensgeschichte, eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen erzählt (Meuter, 1995: 139ff; Kraus, 2000). Die Erzählung ist demnach eine Darstellungsform, die Sinn in einer für das kulturelle wie individuelle Gedächtnis gleichermaßen zugänglichen Art aufbereitet (s.o.). Die das autobiographische Ich prägende Erinnerung ist eine Gedächtnisfunktion, die sich im Erzählen auspräge (Röttgers, 1982: 149; Gergen, 1998; Kraus, 2000). Mittlerweile muss jedoch – und gerade ausgehend von historischer Semantik und Begriffsgeschichte – die Annahme als strittig oder idealistisch gelten, dass sprachliche Zeichen oder Sätze allein das Denken repräsentieren. Beruht die Geschichtserzählung also allein auf sprachlicher Sinnbildung? Auch Sprache befindet sich im Wandel. In Umdeutungsprozessen befindlich sind Begriffe und Wörter nicht statisch gegeben. Jede Sprachpraxis, jede Verwendung von Sprache, variiert ihren Sinn geringfügig. Im Rückgriff auf ein Levi-Strauss-Zitat Derridas lässt sich veranschaulichen, wie Sprache es erlaubt, sich Zukunft vorzustellen, zu imaginieren und zu entwerfen. „Der Bastler, sagt Levi-Strauss, ist derjenige der‚ ‚mit dem, was ihm zur Hand ist‘, werkelt. Sprachliche Werkzeuge findet er in seiner Umgebung vor und kann sich ihrer sogleich bedienen, sie sind schon da, wenn sie auch nicht speziell für das Vorhaben entworfen wurden, für das sie jetzt verwendet werden und für das man sie behutsam zuzurichten versucht; man zögert nicht, sie, wenn nötig, auszuwechseln oder mehrere gleichzeitig auszuprobieren, auch wenn ihr Ursprung oder ihre Form einander fremd sind“ (Derrida, 1994 [1967]: 431).
Dies widerspricht allerdings einer Annahme, dass die Sprache das Denken repräsentiere, da damit der sprachlich repräsentierte Sinn als stabil, eindeutig und nicht veränderbar gefasst wäre. Im Gebrauch sprachlicher und wohl auch kultureller „Werkzeuge“ verändert und aktualisiert sich aber der sprachliche Sinn. Jede Erzählung generiert und konstruiert auf je verschiedene Weise Zeit. Jeder sei ein Erzähler und somit ein Bastler von Vergangenheitsbildern, sowohl mittels Alltagssprache, wie auch mit wissenschaftlicher oder poetischer Sprache, so Krefting (2001: 170). Zeitkonstrukte sind gewissermaßen ebenso „kulturelle Werkzeuge“ mit denen sich, analog zur Sprache, „werkeln“ lässt. Also wäre zu erwarten, dass sich auch die Zeitperspektiven von Museumsbesuchern während ihrer Anwendung auf Geschichte im Museum aktualisieren und ggf. verschieben. Auch wenn die Besucher von Museen sich aus einem vorhandenen Vorrat an Geschichtssemantik und Zeitkonstruktionen bedienen, werden sie diese „Werkzeuge“ situativ anpassen. Die Vermutung, dass sich im Rückgriff auf die Geschichtssemantik im Museum, durch ein
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„Basteln“ mit Geschichte, die von Besuchern jeweils konstruierten Zeitperspektive verändern und sich im Museum dabei gewissermaßen der Sinn von Zeit aktualisiert, erscheint so hinreichend begründet. Denn ein ähnliches Spiel scheint in Museen stattzufinden. So, wie mit Sprache gebastelt werden kann, kann ein Museumsbesucher mit kulturellen Kodes und Konventionen basteln. Foucault gelten „Wahrheitsspiele“ als dafür verantwortlich, was als wirklich und normal gilt. Zeit und Zeitbewusstsein seien nicht unabhängig von der Sprache, wie sie das je kulturell geprägte Denken repräsentiere (Piaget, 1973: 71; Rammstedt, 1975: 48f; Koselleck, 1989: 13). In Absetzung von einer strukturalistischen Position (z. B. der von Levi-Strauss in dem Zitat oben) wäre jedoch festzuhalten, dass nicht allein die Sprache, sondern die Beziehungen, die kulturelles Wissen, also Semantik, zwischen Subjekt und Objekt herstellt, Zeit und Zeitbewusstsein konstruieren. „Wissen (savoir) besteht also darin, Sprache auf Sprache zu beziehen, die große einförmige Ebene der Wörter und der Sachen wiederherzustellen, alles sprechen zu lassen, das heißt, oberhalb aller Markierungen den Kommentar als zweiten Diskurs entstehen zu lassen“ (Foucault, 1971: 72).
Demzufolge ist es weniger die Sprache, die für Kommunikation ergo Zeitrekonstruktion grundlegend ist – gerade Museen werden von Besuchern auch wahrgenommen und erlebt, sie beruhen nicht vorrangig auf sprachlicher Kommunikation –, als vielmehr die kommunikativen Beziehungen, die sich im Diskurs realisieren, die sozialen Sinn verfestigen. „Es gibt […] eine kurze und in sich selbst drängende Erkenntnis: die Kurzform von einer langen Folge von Urteilen in der schnellen Figur des Zeichens. […] von einem Eindruck zum anderen wird die Beziehung die vom Zeichen zum Bezeichneten sein.“ (Foucault, 1971: 93f).
Sind auch Dinge in Museen Signifikanten die – in Abhängigkeit vom Verstehen der Besucher – auf Signifikate verweisen können und eine Beziehung realisieren, findet auch im Museum (diskursive) Kommunikation statt, die Zeit konstruiert. Das „Zwischen“ zwischen Subjekt und Objekt konstruiert laut Foucault (1971: 133) sozialen Sinn: „Man darf nicht mit Aristoteles bei der Tatsache stehen bleiben, dass das Verb die Zeiten bezeichnet (viele andere Wörter, Adverbien, Adjektive, Nomen können zeitliche Bedeutung tragen). […] das Verb bestätigt (Herv. i. Orig.), das heißt, es zeigt an, ‚dass der Diskurs, wo dieses Wort angewandt wird, der Diskurs eines Menschen ist, der nicht nur die Namen begreift, sondern der sie auch beurteilt‘“.
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Ausgehend vom klassischen Zeitalter schreibt er „Die Sprache repräsentiert das Denken, wie sich das Denken selbst repräsentiert.“ (Foucault, 1971: 114). „Die Sprache ist für das Denken und die Zeichen das, was die Algebra für die Geometrie ist; sie setzt an die Stelle des simultanen Vergleichs der Teile […] eine Ordnung.“ (Foucault, 1971: 120). „Die Sprache ist in der klassischen Epoche kein Fragment der Geschichte […] Es ist ein Raum der Analyse, in dem die Zeit und das Denken der Menschen ihre Bahn vollzieht“ (Foucault, 1971: 151). Mit dem Ansatz Foucaults lässt sich klären, wer denn in Museen und im Hinblick auf Geschichtssemantik traditionell derjenige ist, der Semantik und die vermutlich dieser impliziten Zeitperspektiven konstruiert, indem Geschichte auf eine spezifische Art und Weise kommuniziert wird. So tritt für Foucault mit der Moderne die Perspektive des Historikers in die Geschichtserzählung ein: „Auf jeden Fall ist der Historiker […] derjenige gewesen […] der sieht und der von seinem Blick her erzählt“ (Foucault, 1971: 171). Die Geschichte wird linear in Serie konstruiert, womit sie nicht länger als Ordnung, sondern als Entwicklung präsentiert wird. „Seit dem neunzehnten Jahrhundert entfaltet sich Geschichte in einer zeitlichen Serie die Analogien […] was sich an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert vollzogen hat: auf jene zu schnell gezeichneten Veränderungen von der Ordnung zur Geschichte (Herv. i. Orig.)...“ (Foucault, 1971: 271f).
Geschichte ist für Foucault eine moderne Erfindung. Entsprechend der modernen Episteme werde nach den Bedingungen der Repräsentation dort gefragt, wo das Verhältnis des Subjekts zum Objekt die formalen Bedingungen der Erfahrung im Allgemeinen bestimmt (Foucault, 1971: 300f). „Da er (der Mensch, V.S.) eine Sprache hat, kann er sich schließlich ein ganzes Universum aus Symbolen bilden, innerhalb dessen er Beziehungen zu seiner Vergangenheit, zu den Dingen, zu anderen Menschen hat, mit Hilfe dessen er ebenfalls so etwas wie ein Wissen bilden kann“ (Foucault, 1971: 421).
Insofern wären es Foucault folgend die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt im Diskurs, die, wenn sie sich zur Semantik verfestigen und zu kulturellen Kodes gerinnen, es erlauben, anhand von Geschichtssemantik Zeitperspektiven zu rekonstruieren. Relevant wären also demnach die Beziehungen, in die Subjekte zu den Objekten eintreten.
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2.3 Z USAMMENFASSUNG
UND
A USBLICK
Im Theorieteil wurden Museen als durch Kommunikation konstituiert definiert. Dafür wurde ein dreistelliger systemtheoretischer Begriff verstehensabhängig eingeführt, der jedoch im Hinblick auf die Mitteilungsseite weiter zu differenzieren war. Der relativ bereite Begriff der Kommunikation wurde daraufhin auf die spezifische Kommunikation der Geschichtserzählung in einem Museum eingeschränkt, um speziell die Historie, die Museen erzählen, in den Blick zu bekommen. Bereits dabei lässt sich ausgehend von Ricœur argumentieren, dass durch die Narration bzw. Erzählung Zeit konstruiert wird. Dieser Argumentationsgang wurde weiter verfolgt, indem zunächst die narrativen Medien des Museums in den Blick gerieten und theoretisch erläutert wurde, inwiefern die musealen Dinge und Objekte als narrative Medien – in Abhängigkeit vom Verstehen eines Beobachters – historische Zeit konstruieren. Mit Blick auf die Geschichte der Veränderungen musealer Ordnungen ließ sich weiter veranschaulichen, dass museale Konzepte Zeit je abweichend präsentierten und wohl immer noch präsentieren. Zuletzt wurde das Museum als kulturelles Gedächtnis definiert, um darüber zu erläutern, weshalb begründet zu vermuten ist, dass die Zeitperspektiven der Besucher historischer Museen mit der ausgestellten historischen Zeit und Geschichten zusammenhängen werden. Zuletzt wurde die Rolle, die Zeit bei der Inszenierung eines Museums spielt, weiter beleuchtet. So ließ sich veranschaulichen, wie Museen Geschichte und historische Zeit ausstellen, obschon sie ihre Objekte „in einem platten Jetzt“ (Fliedl, 1990; vgl. Sturm, 1991: 39) platzieren. So wurde theoretisch erläutert, „wie die Zeit ins Museum kommen“ kann. Eine Theorie der Zeit wurde in Abschnitt 2.2.1 entwickelt und der Zusammenhang zur im Museum präsentierten Semantik aufgezeigt (Abschnitt 2.2.2). Dabei wurde der Begriff der historischen Zeit eingeführt, die sich ausgehend von Uhrzeit, Datum und Chronologie bei der Rekonstruktion von Geschichtssemantik konstruieren lässt. Damit wurden verschiedene theoretische Ansätze beleuchtet, wie die Konstruktion historischer Zeitperspektiven aufgrund der im Museum präsentierten Geschichte ausgehend von verschiedenen theoretischen Ansätzen zu begründen ist. Im Anschluss an dieses Kapitel sollen in Teil II der Arbeit zunächst die konkreten Museen vorgestellt werden (Kapitel 3). Dabei wird auf die Selbstbeschreibungen der Museen zurückgegriffen, um nicht einen individuellen Beobachterstandpunkt zu sehr ins Zentrum zu rücken. Die Besonderheiten jeder einzelnen Museumserzählung werden veranschaulicht, um zu verdeutlichen, was ein Museum kommuniziert, um seine multiple Perspektive auf deutsche Geschichte zu präsentieren. Das JMB wird dabei besonders eingehend behandelt, da ihm auf-
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grund der spezifischen Geschichten, die die Ausstellung erzählt, eine Sonderstellung unter den Ausstellungshäusern zukommt. In Kapitel 4 kommen die Besucher der Ausstellungshäuser in Spiel: Ausgehend vom Stand der Besucherforschung (Abschnitt 4.1) werden die Stichproben sowie deren Befragungskontext beschrieben (Abschnitt 4.2). Im Anschluss lassen sich Portraits des Besuchspublikums in den vier Ausstellungshäusern zeichnen, in denen die empirische Untersuchung erhoben wurde, anhand der statistischen Ergebnisse zeichnen (Abschnitt 4.3). Zu Beginn empirischen Teils III der Arbeit, der sich dem Geschichtsverstehen und den Zeitperspektiven der Besucher widmet, werden zunächst die Entstehung und Auswertung des qualitativen Textmaterials dokumentiert. Wie die Besucher ihre Eindrücke schildern und dabei den Sinn der ausgestellten Geschichte deuten, wird in einem ersten Schritt im Kapitel 5 geklärt. Dazu wird auf Textmaterial zur ersten Vergleichsfrage zurückgegriffen. Deshalb wird zunächst geklärt, was ein Vergleich ist (Abschnitt 5.1.1). Unter welchen besonderen Bedingungen die Textprotokolle der ersten Vergleichsfrage erstellt wurde (Abschnitt 5.1.2) und wie die konkreten Schilderungen der Besucher im Textmaterial auftreten (Abschnitt 5.1.3). Die Auswertung erfolgte dann „im Durchspielen von Vergleichen“ und es lassen die vorher dargestellten Besonderheiten der Textmaterialerstellung nutzen, um die spezifischen methodischen Auswertungsregeln und schritte ausgehend vom empirischen Gegenstand zu entwickeln. Entwicklung und Anwendung der Methode muss am konkreten Textmaterial dokumentiert werden (Abschnitt 5.1.4). Dazu werden zunächst die konkreten Arbeitsschritte zu Beginn der Materialsichtung erklärt um dann am Beispiel einer Kategorie, nämlich der mit „Chronologie“ benannten zu schildern, wie bei der Kategorisierung und Kodierung konkret vorgegangen wurde. Anschließend werden dieses Vorgehen plausibilisierende theoretisch-methodische Überlegungen einbezogen. Wie denn das Geschichtsverstehen der Besucher, differenziert in Kategorien, im Textmaterial auftritt, wird dann weiter im Abschnitt 5.2 dokumentiert. Differenziert in die Kategorien Chronologie (Abschnitt 5.3.1), Narration (Abschnitt 5.3.2), Konstruktion (Abschnitt 5.3.3), Kausalität (Abschnitt 5.3.4), Alltagsgeschichte (Abschnitt 5.3.5), Strukturation (Abschnitt 5.3.6) und Leiden (Abschnitt 5.3.7) lässt sich so in einem ersten Schritt zeigen, wie die Besucher Geschichte deuten. Anhand des konkreten Textmaterials in Protokollform lässt sich die Anwendung der Auswertungsmethode veranschaulichen und abschließend lassen sich die Ergebnisse zusammenfassen. Weitergeführt und wieder aufgenommen wird die Antwort auf die Frage, wie die Besucher Geschichte verstehen, erneut in Kapitel 7. Eine deskriptive Darstellung, wie die Besucher die Museen nutzen und wie sie ihre Eindrücke von den Museen schildern erfolgt in Kapitel 6. Wie wird ein
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Museum von den befragten Besuchern wahrgenommen, wie wird es erlebt? Neben Eckdaten, die Anhaltspunkte über das Verhalten der Besucher, Verweildauern etc. geben (Abschnitt 6.1), wie sie die Museen rezipieren (Abschnitt 6.2), spielt für die Museumsrezeption der zu erwartende Zusammenhang mit Vorwissen eine wesentliche Rolle (Abschnitt 6.3). Eindrücke des Besuches und Museums (Abschnitt 6.4), wie von der sinnbildlichen Architektur im JMB (Abschnitt 6.5) und den im Museum vorgefundenen Ordnungen (Abschnitt 6.6), die anhand einer zweiten Vergleichsfrage ausgewertet wurden, erlauben es, die Sicht der Besucher auf die Ausstellungshäuser zu skizzieren. In diesem Kapitel erfolgt zudem eine Dokumentation der Auswertungsschritte des hierzu qualitativ ausgewerteten Textmaterials. Die Besucher wurden gebeten, eine Erwartung zu formulieren, was ihnen von dem Besuch noch eine Woche später in Erinnerung geblieben sein wird. Diese Erwartungen der Besucher, was sie wiederum zu erinnern antizipieren, werden als ein Indikator für persönliche Relevanzen gewertet. Auch lassen sich so Rezeptionstypen unterscheiden, die aufgrund der Zusammenhänge von Angaben über die verschiedenen Variablen (Vorwissen, Eindrücken und antizipierter Erinnerung) hinweg deutlich werden (Abschnitt 6.7). Die Ergebnisse dieses Teil werden in Abschnitt 6.8 durch eine Beschreibung der Museen aus Sicht ihres Besuchspublikums zusammengefasst. Zu der Frage, wie Geschichte und Zeit im Museum gedeutet werden, führt die Argumentation dann in Kapitel 7 zurück. Wie die Besucher Geschichte verstehen, lässt sich weiter anhand der Unterschiede zwischen den Museen ausführen (Abschnitt 7.1). Eine weitere zentrale Frage dieser Arbeit betrifft die Beziehung zwischen der Aktualisierung historischer Zeitperspektiven und ausgestellter Geschichte (Abschnitt 7.2). Es ist aufgrund theoretischer Überlegungen davon auszugehen, dass eine Beziehung zwischen Geschichtsverstehen und Zeitperspektiven nachzuweisen ist. Auf Basis einer Faktorenanalyse der Zustimmungswerte zu bestimmten Aussagen, welche Zeitperspektiven sich im Museum „lernen lassen“, wird zunächst auf die in den Museen aktualisierten historischen Zeitperspektiven der Besucher zurück geschlossen. Im Abschnitt 7.3 wird die Erwartung wieder aufgegriffen, dass in verschiedenen Museen verschiedene Besuchergruppen anzutreffen sein werden, wie bereits vorab in Abschnitt 4.3 beschrieben und ob sich die dementsprechend berechtigte Erwartung, damit würden sich auch die Zeitperspektiven zwischen den Besuchspublika unterschieden, bestätigen lässt. Aufgrund überraschender Zwischenbefunde an dieser Stelle der Ausführungen, werden Zwischenüberlegungen angestellt, um die Untersuchungsrichtung und -einstellung geringfügig abzuändern. So lassen sich in Abschnitt 7.4 abschließend die Ergebnisse zum Geschichtsverstehen und den Zeitperspektiven vorstellen und zusammenfassen.
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Der Begriff der Zeitperspektiven und die Erwartung, mit der im Fragebogen verwendeten Antwortskala historische Zeitperspektiven der Besucher erhoben zu haben, muss aufgrund der empirischen Befunde derart modifiziert werden, dass empirisch verschiedene Zeitperspektiven nachweisbar waren. In Kapitel 8 werden diese Ergebnisse entsprechend in soziale Zeitperspektiven (Abschnitt 8.1), historische Zeitperspektiven (Abschnitt 8.2) und eine prohistorische, der Chronologie als Weltzeit verhaftete, Zeitperspektive (Abschnitt 8.3) sowie das Geschichtsverstehen (Abschnitt 8.4) differenziert dargestellt. Die erhobenen Merkmale der Besucher, ihr Vorwissen und Aspekte des Rezeptionsprozesses lassen sich auf ihre Beziehungen zu dem Geschichtsverstehen und den Zeitperspektiven hin untersuchen. Zum Anderen werden die Eindrücke der Besucher von historischen Perioden, Themen, Geschichtsdarstellungen, Exponatinszenierungen sowie der musealen Ordnung auf Zusammenhänge mit Geschichtsverstehen und Zeitperspektiven der Besucher untersucht. Im Schlussteil (Kapitel 9) werden die Ergebnisse der Untersuchung im Hinblick auf ihre Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis der Gegenwart interpretiert. Dazu werden nicht nur die Ergebnisse aus Kapitel 7 und 8 gebündelt resümiert, sondern auch die Ergebnisse der vorherigen Kapitel aufgegriffen und, wo dies sinnvoll erscheint, mit einigen der theoretischen Annahmen konfrontiert.
Teil II
3
Die Museen und ihre Selbstbeschreibungen
3.1 D AS M EMORY M USEUM : JMB Der Begriff „Memory Museum“ eignet sich sehr gut, um die Besonderheiten des JMB hervorzuheben, die das Haus zu einem Memory Museum machen und ebenso, was ein Memory Museum als solches auszeichnet. Der Begriff stammt von Susan Sontag, die ihn jedoch nicht weiter füllt, weshalb diese begriffliche Wendung letztlich von Pieper (2006: 23; 314ff; vgl. Thaler Lustiger, 2008) übernommen wird, die den Begriff für dieses Ausstellungshaus prägte. Die Autorin arbeitet gezielt heraus, welche Merkmale das JMB zu einem Memory Museum machen, das kann in diesem Rahmen nicht so ausführlich dargestellt werden: Ein Memory Museum ist ein Museum, das explizit als Ort der Erinnerung konzipiert ist und versucht, eine Erinnerung lebendig zu halten, der es an „gelebten“ Erinnerungsmilieus fehle. „As institutions contributing to ‚a version of the past that constitutes a part of collective memory‘ (Zolberg 1994: 70), Jewish museums in Germany spatialize and institutionalize the most negative story-line in the German national narrative. […] As Pieper has argued (2006: 253-5), the JMB’s status as a national museum, playing a role in the constitution of a new national (or post national) narrative, was scripted in the early 1990s, just after unification and at a moment of increasing and increasingly visible attacks on minority groups, particularly in cities and towns of the former GDR, such as Rostock and Hoyerswerda“,
wie Chametzky (2008: 222f) dies fasst. Unter diesen Begriff fallen also auch weltweit diejenigen Museen, die an den Holocaust erinnern, z. B. Yad Vashem in Jerusalem oder das USHMM in Washington. Im Folgenden soll erläutert werden, in welchem Sinne das JMB als Memory Museum zu verstehen ist. Offe (2000: 15) verwendet den Begriff lieux de mémoire von Pierre Nora (1998: 11), um das kulturelle Gedächtnis des JMB begrifflich zu beschreiben. Laut Nora entstehen Gedächtnisorte, weil es keine milieux de mémoire, keine gelebte Erinnerung mehr gebe (Assmann, 1996: 16ff). Noras Paradigma sei das von Moderne,
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Traditionsbruch und Historismus (Assmann, 1996: 27). Offe hingegen betont, dass gewandelte Erinnerungsmilieus zugleich den Sinn der Orte verändern und damit erneuern und aktualisieren. Das Jüdische Museum in Berlin ist ein Memory Museum, indem es an soziale Milieus erinnert, die unwiederbringlich vergangen sind. Im Fall der HolocaustMuseen ist das museale Gedächtnis als ein „post-memoriales“ Gedächtnis zu charakterisieren (Young, 2002: 8), da nur das Gedächtnis, nicht die „gelebte“ Erinnerung selbst, das historische Ereignis überlebt hat. „‚Was wird aus der Erinnerung an die Geschichte, wenn sie nicht mehr Zeugnis ist?‘ hat Alice Yeager Kaplan gefragt. Die Antwort: Sie wird zur Erinnerung an die Erinnerung, eine Vergangenheit aus zweiter Hand. Was viele Künstler von ihrer Elterngeneration unterscheidet, ist ihre Sensibilität im Herausarbeiten dieser Erfahrung aus zweiter Hand und ihre Präzision im Ermessen des Abstands, der zwischen einer ‚Geschichte, wie sie war‘ und dem ‚postmemorialen‘ Bezug auf diese Geschichte liegt“ (Young, 2002: 7f).
Das postmemoriale Gedächtnis symbolisiert Erinnerungen kulturell überformt, die mit dem Holocaust vollständig weggeschnitten, herausgebrochen und zumeist ohne Spuren vernichtet sind, denen es dementsprechend jenseits der Gedenkstätten in den ehemaligen Lagern an Gedächtnisorten fehlte. Die Nationalsozialisten hatten systematisch den Plan verfolgt, ein jüdisches Gedächtnis umzuschreiben und dann auszulöschen. Dieser These nähert sich Rupnow (2005) an. Das Projekt des durch die Nationalsozialisten betriebenen Zentralen Jüdischen Museums in Prag, 1942 gegründet, das das Eigentum der kurz zuvor aus Böhmen und Mähren deportierten Juden aufnahm, zeigt, wie die Geschichtsschreibung im Dritten Reich im unmittelbaren Anschluss an die eigenen Taten deren Historisierung betrieb. Offe (2000: 14) nennt das Prager Museum die pervertierte Form eines Museums, da das Museum seine Sammlungsobjekte zur gleichen Zeit aufnahm, zu der die Verbrechen stattfanden. Das Museum wurde von jüdischen Wissenschaftlern betrieben und beherbergte eine Vielzahl von Judaica. Bevor die jüdischen Mitarbeiter des Museums selbst in die Lager deportiert wurden, nutzten sie alle verbliebenen Freiräume, der Intention der Nationalsozialisten entgegenzuwirken, die jüdische Kultur verfälschend als barbarisch und verabscheuungswürdig darzustellen. Die Deutschen planten, der Nachwelt das von ihnen entworfene Bild eines ausgerotteten jüdischen Volkes zu überliefern (Ernst, 1997, 2000: 25; 2003: 421ff; Young, 1988: 172ff). Memory Museums sind gegenüber den Erinnerungsmilieus Noras Versuche, ein kulturelles Gedächtnis erst zu erzeugen (Beier-de Haan, 2005: 135f). Den für die Konzeption des JMB Verantwortlichen ging es darum, ausgehend von der Vergangenheit diesem Thema wenigstens eine museale Zukunft in der wiedervereinigten Hauptstadt zu eröffnen.
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UND IHRE
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„Das Konzept eines Jüdischen Museums als Ort ‚jüdischer Erfahrung‘ will diese Öffnung des kollektiven Gedächtnisses unterstützen: Indem es die Tatsache ernst nimmt, dass ein kollektives Gedächtnis immer partikular verfasst ist, es ein universelles Gedächtnis nicht gibt. Und, indem es die Tatsache ernst nimmt, dass das Gedächtnis immer nur in der Gegenwart existiert“ (Barzel, 2000 [1995]: 216).
Auch der spätere Direktor des JMB, Blumenthal, eröffnet seinen Willkommensgruß im Katalog des Museums mit den Worten: „Das Jüdische Museum ist kein gewöhnliches Museum. Als wichtiger Ort der Erinnerung nimmt es einen herausragenden Platz in Deutschlands Hauptstadt ein“ (Blumenthal, 2002: 14). Wird jüdisches Leben in Deutschland nach dem Bruch, den die Katastrophe des Holocaust markiert, nie wieder so sein wie vorher (z. B. Rürup, 1991: 79), lässt sich die Erinnerung daran nicht unabhängig von einer möglichen Gegenwart konservieren. Mit den letzten Überlebenden stirbt alsbald die gelebte Erinnerung an diese Katastrophe. Kann individuelles Gedächtnis schon Sachverhalte nicht „abspeichern“, ohne dass deren Gehalt laufend aktualisiert würde, da sich dessen Sinn durch neue Erfahrungen verschiebt, gilt dies umso mehr für Gedächtnis ohne lebende „Erinnerungsträger“. Deshalb kann auch ein Gedächtnisort keine Kontinuität gewähren. Das kulturelle Gedächtnis repräsentiert aktuell, im spezifischen Fall des JMB, eine explizit deutsche Perspektive auf die jüdische Katastrophe. Gegenwärtig verschärft sich die Befürchtung, dass mit dem Tod der letzten Überlebenden des Holocaust ihr Zeugnis der Katastrophe verschwindet (Assmann, 1999c: 13f, Young, 2001: 46f). Die Vergegenwärtigung dieser Geschichte ist damit nur noch durch seine Historisierung zu erhalten. Und diese Historisierung steht immer in Gefahr, nachträgliche Sinngebung des Holocaust zu sein; eines historischen Ereignisses, das beinahe ein ganzes Erinnerungsmilieu vernichtete. Haben die Träger dieser Erinnerung, sechs Millionen europäische Juden, nicht nur ihre je einzeln gelebte Erinnerung mit „ins Grab“ genommen, wurde mit der Shoah zudem die kulturelle Erinnerungsgemeinschaft aus Familien und sozialen Milieus fast vollständig vernichtet. Insofern müssen sowohl das an jüdischen Gedächtnisorten Erinnerte als auch die Details des alltäglichen kulturellen Lebens dieser Vielen einmal mehr ohne die Überprüfung und den Leumund von Zeugen auskommen. Das Problem liege nicht nur im Vergessen des Holocausts, sondern ebenso in seiner Allgegenwart; würde der Holocaust zur undifferenzierten Chiffre für alles Böse per se, verschließe er sich damit zugleich einem reflektierten, angemessenen Zugang, so Huyssen (1995: 255). Das jeweilige Erinnerungsmilieu in Deutschland, das sich je nach Jahrzehnt in Abhängigkeit vom Ausmaß des Schweigens der Täter
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seit1945 immer wieder grundlegend wandelt1, würde dann die Bedeutung der jüdischen Gedächtnisorte prägen. Die Nachfahren der Täter und der öffentliche und politische Diskurs über das Verbrechen würden bestimmen, wie jüdische Geschichte in Deutschland vergegenwärtigt und repräsentiert wird. Die Debatte um die Museumsgründung war auch deshalb lang und konfliktreich.2 Auf Grund des speziellen Charakters dieser Museumsdebatte bietet es sich an, diese etwas ausführlicher darzustellen, um anhand dieses besonderen Beispiels zu veranschaulichen, unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten ein Museumskonzept diskutiert werden kann. 3.1.1 Die Konzept-Debatte Einige der Streitfragen um das JMB benennt Blumenthal im Museumskatalog (Brodersen, Dammann, 2002: 15): „Sollte es ein Geschichtsmuseum werden oder sich der jüdischen Religion und Kultur widmen? Sollte es sich auf Berlin beschränken oder alle deutschen Juden einbeziehen? Würde es eine Abteilung des Stadtmuseums oder eine ganz und gar neue und eigenständige Einrichtung sein? War ein neues Gebäude erforderlich, oder würde das Museum in einem bereits existierenden untergebracht – und wie sollte das gesamte Projekt finanziert werden?“
Die jeweils diskutierten Konzeptionen des Museums sind davon geprägt, welcher Sinn der deutsch-jüdischen Geschichte jeweils zugeschrieben wurde. Deutlich ist auch, dass jedes Jahrzehnt in Deutschland durch andere Arten der öffentlichen Rede vom Holocaust geprägt ist (Kölsch, 2000) und sich damit das öffentliche Geschichtsbild verschob. „Nationale Geschichtsmuseen und Gedenkstätten zeigen bei ihrer Initiierung, während der Realisierung und nach der Eröffnung an, welche geschichtspolitischen Debatten in einer Gesellschaft geführt werden und welche Geschichtsbilder jeweils dominieren“ (Pieper, 2006: 26). 1
Für diese Geschichte ist entscheidend, aus welcher Perspektive, der der Täter oder der der Opfer, sie erzählt wird (Heinrich, 2002: 194). Zur Kennzeichnung vereinfachend von Tätern und Opfern zu reden, bietet sich an, da dieser Unterschied grundlegend dafür ist, wie jemand diese historische Periode vergegenwärtigt, welche Ereignisse für ihn relevant sind, welche Traumata eine Darstellung beeinflussen, welche Bedeutung er der Vergangenheit gibt und welche Verlaufsform Entwicklungen für ihn nehmen (vgl. Assmann, Welzer, 2005, Welzer, Christ, 2006).
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Eine Dokumentation der Debatten um den Museumsbau findet sich bei Lackmann (2000).
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Im Folgenden soll diese Debatte nur insofern aufgegriffen werden, als sie zu verdeutlichen hilft, welche Einflüsse in der Museumskonzeption, die letztlich im JMB realisiert wurde, zu finden sind. Museumssammlungen sind zumeist geschichtet, d. h. fast immer geprägt von den zeitlich bestimmten Sammelinteressen verschiedener Kuratoren, unterschiedlichen Sammlungskonzepten und diversen Repräsentationsmoden. Aus der Erweiterung der Jüdischen Abteilung des Westberliner Stadtmuseums entstand ursprünglich die Idee der Gründung des Jüdischen Museum Berlin also nicht als eigenständiges Projekt. Das Berlin Museum entstand 1962, nach dem Mauerbau, als das Märkische Museum im Osten der Stadt nicht länger zugänglich war. Das Stadtmuseum entstand damit im Kontext der ideologisch-politisch geführten OstWest-Konfrontation und war sieben Jahre in Provisorien untergebracht, bevor es in das Gebäude des alten Kammergerichts an der Lindenstraße zog. Das Gebäude hatte Heinrich Gerlach als Hofbaumeister des preußischen Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm errichtet. Die barocke Dreiflügelanlage wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und in den 1960er Jahren wieder aufgebaut (Bolk, Schneider, 1999: 2). Programmatisch für den Auftakt der Debatte um ein jüdisches Museum war die am 10.09.1971 eröffnete Ausstellung „Leistung und Schicksal – 300 Jahre Jüdische Gemeinde zu Berlin“. Sie wurde auf Initiative Heinz Galinskis und der Jüdischen Gemeinde Westberlins gezeigt. Als typisch für diese Zeit kann die Wendung vom „Schicksal“ gelten. Bei Giesen (2004: 11ff) findet sich eine Analyse des Beschweigens der deutschen Verbrechen durch die Verwendung passiver Floskeln. Zum einen legt Schicksal nahe, es habe sich um eine unvermeidliche und zufällige Entwicklung gehandelt. Die Passivwendung spart zum anderen die Täter des Verbrechens aus, verlagert die Verantwortung auf ein totalitäres System, die Führerperson Adolf Hitler oder auf diffuse Wandlungen einer von den Menschen unabhängigen Geschichte. Die Ausstellung zeigte ausgewählte Persönlichkeiten und ihre Leistung für das kulturelle Leben Berlins. Der Ansatz, vor allem ausgewählte jüdische Bürger als repräsentativ für einen jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur zu zeigen, findet sich noch in der heutigen Ausstellungskonzeption wieder (s. u.). Kaum Berücksichtigung findet damit der Hauptanteil jüdischer Bevölkerung, die „kleinen Leute“, die das jüdische Leben Berlins historisch ebenso prägten. Durch eine solche Art der Repräsentation Einzelner lässt sich die Ermordung der Vielen eher als Verlust für die deutsche Kultur stilisieren. Die jüdische Geschichte als positive „Beitragsgeschichte“ und „Schicksalsgeschichte“ zu interpretieren, setzte sich erstmals von dem früheren Fokus auf Religiöses ab. Die Kuratorin Irmgard Wirth galt vielfach irrtümlich als Urheberin des integrativen Konzeptes, die jüdische Geschichte als Teil der Berliner Stadtgeschichte zu präsentieren und einen explizit lokalen Bezug auf Berlin herzustellen. Dass damit an den Topos von der „deutsch-jüdischen Symbiose“ angeknüpft wurde, wurde nicht kritisch in Frage gestellt (Pieper, 2006: 199).
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Schon von Beginn an gab es die Idee einer Neugründung eines jüdischen Museums. Das Stadtschloss des preußischen Hoffaktoren Veitel Heine Ephraim war 1935 für eine Straßenerweiterung abgebrochen worden; seine Fassadenteile wurden im späteren Westteil der Stadt eingelagert. Auf eine Idee von Irmgard Wirth geht es zurück, das Schloss als einen jüdischen Ort für eine Erweiterung des Berliner Museums zu nutzen. Diese Pläne scheiterten, als das Palais nicht im Westen, sondern im Ostteil der Stadt wieder aufgebaut wurde (Offe, 2000: 148). Die Jüdische Abteilung des Berlin Museums verfügte in dieser Planungsphase über drei Ausstellungsschwerpunkte: allgemeine jüdische Geschichte, jüdische Religion sowie die Darstellung der Verdienste jüdischer Persönlichkeiten (Pieper, 2006: 205). Die Idee einer Neugründung war zunächst in Kontinuität und Traditionsfortführung des ersten jüdischen Museums vor dem Krieg, das 1938 geschlossen worden war, gedacht. Angesichts der Konfiszierung der Museumsbestände bei der Jüdischen Gemeinde Berlin in der Oranienburger Straße während der NS-Zeit kann es sich aber hierbei nur um eine Idealisierung handeln. Der Holocaust macht ein bruchloses Anknüpfen an die alte Museumsgeschichte unmöglich. Der Wiederaufbau des Ephraim-Palais kam aus finanziellen und stadtplanerischen Gründen nicht zustande (Pieper, 2006: 210). Im Jahr 1975 gründete sich dann die Gesellschaft für ein Jüdisches Museum; noch Mitte der 1970er Jahre wäre in Deutschland ein eigenes jüdisches Museum nicht durchsetzbar gewesen (Pieper, 2006: 204f). Eine Akzentverschiebung von einer Ereignis- und Beitragsgeschichte zur Sozial- und Allgemeingeschichte zeichnete sich in den 1970er Jahren ab (Pieper, 2006: 209). Die für die Betreuung der Sammlung im Berlin Museum zuständige Judaistin Vera Bendt unterließ die Betonung von Einzelpersönlichkeiten und unterstrich die sozial- und kulturgeschichtliche Rolle der jüdischen Bevölkerung in Berlin. Rolf Bothe und Vera Bendt warnten vor der Präsentation eines „Exotenbildes“ oder der Vermittlung einer bloßen „Beitragsgeschichte“ oder einer „Opferrolle“ (Barzel, 2000 [1995]: 213). In der Weimarer Zeit war ein hoher Anteil von Juden in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur tätig. Die Kuratorin stellte jedoch nicht vorrangig die Leistung von Einzelpersonen heraus und schrieb damit den jüdischen Bevölkerungsteilen keine Minderheitenrolle zu. Denn die Darstellung jüdischer Leistung durch Einzelpersönlichkeiten vermittelt den Eindruck, es habe sich um isolierte, abgeschottete jüdische Bürger gehandelt und vernachlässigt den kulturellen Kontext, der zugleich ein deutscher ist. Zudem ignoriert der Blick auf einzelne Bürger, dass „jüdisch“ und „deutsch“ keine sich ausschließenden Kategorien sind. Die deutsche Kultur war ebenso jüdisch wie christlich oder atheistisch geprägt. Aber erst spät setzte eine Reflexion darüber ein, dass der Holocaust als Bruch oder Ende deutsch-jüdischer Geschichte mit der Präsentation berücksichtigt werden müsse. Gegen Ende der 1980er Jahre wurde über eine vorübergehende Unterbringung der Jüdischen Abteilung im Martin-Gropius-Bau diskutiert, die 1986 zur
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Überbrückung realisiert wurde, da das barocke Gebäude des Berlin Museums für die Sammlung zu eng wurde. Als Aufgabe der Ausstellung galt es, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass jüdische Kultur nicht exotisch und fremd, sondern ein Teil der Berliner Kultur sei. Vernachlässigt wurde in der Diskussion der Bedeutungswandel durch den Holocaust: Antisemitische Stigmatisierung, Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung haben jüdische Deutsche nicht nur zu Fremden, sondern gar zur „Gegenrasse“ gemacht. Eine Präsentation jüdischer Geschichte nach dem Holocaust muss reflektieren, was mit Juden und jüdischer Kultur durch den Zivilisationsbruch (Diner, 1988), die Verbrechen der Nationalsozialisten, geschah (Pieper, 2006: 213). Als Integrationsmodell galt die Lösung, mit der Jüdischen Abteilung ein Museum im Museum zu schaffen. Aber auch diese ersten Ideen zu einem jüdischen Museum folgten eher einer ethnologisch-judaistischen Ausrichtung, die nicht allen jüdischen Berliner Bürgern gerecht geworden wäre, da sie diejenigen vernachlässigt hätte, die in der Weimarer Zeit weitgehend emanzipiert und säkularisiert lebten. Unter der Leitung von Rolf Bothe und Vera Bendt sollte ein jüdisches Museum sich mit drei Schwerpunkten befassen: 1) der jüdischen Religion, Bräuchen und rituellen Objekten, 2) der Geschichte der Juden in Deutschland, ihrer Entstehung und der furchtbaren Zerstörung jüdischen Lebens durch die Nazis und 3) dem Leben und Wirken von Juden, die das Erscheinungsbild und die Geschichte Berlins in den Jahrhunderten prägten (Bendt, Bothe, 2000 [1987]: 205; Young, 1997: 17f). Während der Konzeptdebatte Mitte der 1990er Jahre wurde das Integrationsmodell kritischer beurteilt (Pieper, 2006: 231). Für eine Änderung der inhaltlichen Konzeption des Museums entscheidend waren letztlich auch Fragen der räumlichen Unterbringung. Der Raum für die Sammlung war zu eng, die Überbrückungslösung wurde zunehmend untragbar. Das Provisorium der Jüdischen Abteilung im Berlin Museum mündete 1988 in die Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs für einen Erweiterungsbau des Museums. Vorgegeben war, dass der Neubau das Barock-Palais und das städtebauliche Umfeld des Berlin Museums berücksichtigen müsse. Einschneidender Wendepunkt für die Museumsgeschichte war die Entscheidung im Architekturwettbewerb für Daniel Libeskind. Sein Konzept, das bestimmte Präsentationsmöglichkeiten nahe legte und andere verhinderte, thematisierte allein durch seine symbolträchtige, sinntragende Architektur den Holocaust. Auf die letztlich realisierte architektonische Umsetzung soll in einem separaten Abschnitt eingegangen werden, da der Bau selbst Geschichte materialisiert und repräsentiert und Libeskinds Ausdeutungen in seinen Konzeptpapieren „Between the lines“ als Lese- oder Interpretationsleitfäden sein Geschichtsverständnis in eine sprachliche Form gießen. Nach der Wiedervereinigung wurde das Projekt unter anderen politischen Vorzeichen diskutiert. Im Ostteil entstand das Centrum Judaicum, von dem sich das Projekt eines jüdischen Museums abgrenzen musste. Die Geschichte der jüdischen
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Gemeinde in Berlin sollte ausgespart und eher exemplarische Beispiele jüdischer Bürger im Rahmen der allgemeinen Stadtgeschichte gezeigt werden. Unter Legitimationsdruck änderte Rolf Bothe das „Integrationsmodell“ in eine „integrative Darstellung“ (Barzel, 2000 [1995]: 211; Pieper, 2006: 252ff). „Bedeutete ‚Integration‘ vormals Sichtbarmachung und Gleichberechtigung des jüdischen ‚Anteils‘, so wurden die Komponenten Integration und Eigenständigkeit mit der architektonischen Umsetzung zur unauflösbaren ‚Durchdringung‘ umgedeutet“ (Pieper, 2006: 256).
Die Autorin charakterisiert das integrative Konzept Barzels als nicht-jüdische Perspektive auf die Minderheitengeschichte und Einverleibung des jüdischen Teils in die Stadtgeschichte. Ein autonomes jüdisches Museum zu entwickeln war das Projekt des 1993 zum Direktor des Jüdischen Museums ernannten israelischen Kunsthistorikers und Kurators Amnon Barzel (2000 [1995]). Dieser interpretierte das integrative Konzept dahingehend, jüdisches Leben als Teil der Berliner und der deutschen Geschichte zu zeigen (Pieper, 2006: 263). Barzel wollte das ganze Museum, nicht nur das Untergeschoss, als jüdisches Museum bespielen. Das Museum sollte nicht länger der Präsentation der Berliner Stadtgeschichte und seiner „Jüdischen Abteilung“ gelten. Eine „Integration“ könne nicht ohne einen Blick auf die gesamte deutsche Geschichte und Kultur verstanden werden. Durch das „Brennglas“ (Barzel, 2000 [1995]: 214) der jüdischen Geschichte inklusive des Holocaust sollte die deutsche Geschichte repräsentiert werden. Barzel (2000 [1995]: 227) kritisierte, dass das integrative Konzept ansonsten in einem „unterschiedslosen Aufgehen [jüdischer Kultur und Geschichte, V.S.] in der Mehrheitskultur“ bestünde, wenn man die jüdische Perspektive ausblende oder die Ausstellung auf jüdische Ethnizität und Religion beschränke. Die Autonomie des Jüdischen Museums konnte nach langen Debatten im Juni 1995 beschlossen werden. Wenige Tage später, also fast parallel, entschied die neu gegründete Stiftung Stadtmuseum eine Darstellung der Leistungen und des Schicksals der Berliner Juden in einer jüdischen Abteilung als einer der fünf Hauptabteilungen des Museums. Der Redewendung von „Leistungen und Schicksal“ der Juden blieb der Blick auf eine Gesamtgesellschaft implizit, in die Minderheiten als Minderheiten integriert gedacht sind, lässt sich zur Kritik Barzels (2000 [1995]) anmerken. Wie integriert ist heute eine Bevölkerungsgruppe, deren eigene Perspektive auf diese Geschichte man nicht präsentieren will? Was bedeutet es, noch heute eine primär deutsche Perspektive, die die Integration der jüdischen Bevölkerung zeigt, zu pflegen? Um die Leistungen von Juden darzustellen, bedarf es zunächst eines sprachlichen Distinktions- und Signifikationsaktes. „Juden“ müssen erst einmal als solche identifiziert und damit vom Rest der Bevölkerung unterschieden werden.
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Diese Segregation wirkt wie ein Mittel zu dem Zweck, etwas über die eigene, deutsche Kultur der Gegenwart zu sagen. Heute deutsche Kultur und Gesellschaft in Absetzung von der NS-Zeit zu beschreiben und dazu die Darstellung in einem Minderheitenmuseum zu nutzen, damit also ein Bild des Anderen zur SelbstIdentifikation zu verwenden, bleibt eine mit dem Holocaust endgültig diskreditierte Geste. Und der Unterschied zwischen den Bevölkerungsgruppen ist zugleich kein rein religiöser. Der Holocaust ist eine Geschichte, die aus der Perspektive der Opfer nicht auf die gleiche Weise erzählt werden kann wie aus der Perspektive der Täter (Barzel, 2000 [1995]: 233; Frei, 2005). Eine solche deutsche Perspektive auf jüdische Kultur vereinnahmt diese, ignoriert ihre Besonderheit und legt Jüdisches dann historisch ungebrochen als Element des Deutschen aus. Eine solche Interpretation dieser Geschichte bleibt zu problematisieren. Nach dem Holocaust kann jeder Versuch als zweifelhafter Akt gelten, deutsche Identität und damit nationale „Normalität“ darüber herzustellen, eine Minderheit im Rahmen der eigenen Geschichtsrepräsentation als gut integriert darzustellen. Etwa darüber, die historische Rolle der Juden als deutsche Bürger und Soldaten im Ersten Weltkrieg hervorzuheben und den Holocaust als Schicksal zu interpretieren – ein Begriff, in dem weder Akteure noch Opfer auftreten – erscheint bereits als eine unangemessen verfälschende Darstellung. Denn vor 1933 verstanden sich viele Menschen, die der Nationalsozialismus später stigmatisierte und vernichtete, nicht als Juden: Sie waren Deutsche (Rürup, 1991: 80ff). Barzel (2000 [1995]: 226f) weist auf das Problem hin, dass man erst Segregation und Ausgrenzung betreiben muss, um die Integration von Juden im Museum zu repräsentieren: „Wie aber kann deren [Else Lasker-Schülers, Moritz Heimanns, Walter Benjamins, Carl Einsteins…, V.S.] Integration als Juden im Museum deutlich gemacht werden? Nur, indem die solcherart integrierten Juden wiederum als Juden kenntlich gemacht und sie damit museal segregiert werden“.
Integriert waren vor der NS-Zeit primär die Angehörigen der bürgerlichen Schicht, niedere Schichten, z. B. die so genannten Ostjuden, bleiben bei einer solchen Präsentation unberücksichtigt. Demnach bleibt es weiter fragwürdig, homogenisierend von „den“ Juden zu reden, weshalb es angebracht erscheint, nicht Geschichte, sondern Geschichten zu erzählen, um der Vielfalt der Perspektiven gerecht zu werden. Als anders – wenn auch ähnlich – problematisch muss die Konstruktion von Zugehörigkeiten zu anderen Nationen interpretiert werden. Young (1988: 175ff) schildert, wie in den KZ-Gedenkstätten Majdanek, Auschwitz und Treblinka die jüdischen Opfer einfach ins nationale Kollektiv vereinnahmt und unter die durch die Nazis umgebrachten Polen subsumiert werden. Die Rede ist dort einfach von Polen oder Menschen, oder die Toten werden, wie in Treblinka, nach nationaler Herkunft geordnet. In Polen lässt sich damit der polnischen Bevölkerung während der deut-
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schen Besatzung als Opfer gedenken, und damit wird deren Antisemitismus und die relativ große polnische Kooperationsbereitschaft verdeckt. Getötet wurden die Menschen nicht, weil sie Polen, Deutsche, Niederländer, Franzosen oder Angehörige anderer Staaten waren, sondern weil sie nach dem damaligen Rassenverständnis als Juden galten. Als Thema des JMB charakterisiert Barzel (2000 [1995]: 213f) die „Geschichte einer Integration“, als Gratwanderung zwischen einer Auflösung in der Mehrheitskultur und der Bewahrung von Identität und kultureller Besonderheit. Ken Gorbey, der Direktor des Projekts, beschreibt diese Prozesse mit dem Begriff der Grenze: „Das Museum erzählt von nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland und schildert, wie sich kulturelle Grenzen öffneten und schlossen, wie sie mit der Zeit verschwanden und erneut entstanden“ (Brodersen, Dammann, 2002: 18).
Der Zivilisationsbruch verhindert, jüdische Kultur in Deutschland jemals wieder unbefangen mit Kontinuitätsunterstellungen thematisieren zu können, ohne dabei zugleich etwas über sich selbst zu offenbaren. Die Rede vom Beitrag der Juden zur deutschen Kultur beinhaltet implizit die Unterstellung einer Kontinuität. Es geht in den Debatten um jüdische Geschichte in Deutschland zentral darum, eine kulturelle deutsche Identität auf der Historisierung des und den Umgang mit dem Holocaust zu gründen und die Negativität des Holocaust dergestalt in kulturelle Identität umzuwidmen (Loewy, 2002: 260).3 Zumeist besuchen nicht-jüdische Besucher jüdische Museen in Deutschland und Österreich; jüdische Museen sind mithin zumeist keine Orte der gegenwärtigen Debatten lebender Juden, sondern nur Gedächtnisorte für die jüdischen Toten (Offe, 2000: 16; 97). Die Narrative deutscher Geschichte sind als Post-Holocaust-Narrative gekennzeichnet von den Konflikten und Rivalitäten verschiedener Geschichtsversionen und den damit einhergehenden geschichtspolitischen Intentionen; je nachdem, ob historische Brüche und Kontinuitäten betont werden und je nach dem unterschiedlichen Maß, indem der Nationalsozialismus anonymisiert und externalisiert wird (Pieper, 2006: 195; 223). Auch die jüngste Welle von Zeitzeugenberichten, die gerade breiter werdende öffentliche Berücksichtigung der Geschichten jüdischer Überlebender gleichermaßen wie der von Kriegsteilnehmern, Tätern und Mitläufern, die ihren Wert durch 3
Mit dem ‚Wir‘ der Täter-Nachkommen, welche die Vergangenheit nicht verschweigen, sondern ‚aufarbeiten‘, soll ‚aus Erinnerung an eine gemeinsam begangene Tat‘ wieder ein Kollektiv geformt werden. „Was klingt wie ein Schuldbekenntnis, ist zugleich die Stilisierung des deutschen Volks als Schicksalsgemeinschaft, als ethnische Nation, als tragisches Gedächtniskollektiv“ (Loewy, 2002: 260). Die Identitätsvokabel ‚Wir‘ kann sich nun auch auf das Verhältnis der Täter zum Holocaust gründen (vgl. Rüsen, 2001: 279ff).
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ihre Authentizität erhalten, wirken enthistorisierend. Die Flut persönlicher Geschichten gleicht Perspektiven an und ebnet Differenzen ein. Der Nationalsozialismus erscheint als Summe retrospektiver Selbsterklärungen seiner (letzten) Zeitgenossen (Frei, 2005: 11). Jedem nachgeborenen Zuschauer – eine Position, die charakterisiert wird durch ein „Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte“ – steht in der Imagination jede beliebige historische Rolle zur Identifikation offen. Chametzky (2008: 217) kontrastiert dies als Versuch der Normalisierung gegenüber einem Ansatz, der die Singularität der deutsch-jüdischen Geschichte hervorheben könnte. Rüsen (2001: 172; 2001a: 243) sieht in der Anonymisierung von Tätern eine Strategie der Enttraumatisierung durch Historisierung.4 Dies kann sicher erst dann geschehen, wenn entweder die Zeitzeugen verstorben sind (Gedächtnis zu Geschichte wird) oder der Reflex der Akteure vergeht, bestimmte Erinnerungen aus dem kulturellen Gedächtnis auszuklammern (dies wäre zugleich ein Indikator dafür, dass das Thema individuell an Relevanz verliert). Bedarf es dann noch einer Enttraumatisierung? Historisierte Geschichte wäre damit „kalte“ statt „heiße Kultur“ (vgl. zu dieser Unterscheidung bei Levi-Strauss: Assmann, 1999a: 11). Heiße Kultur meint gelebte, verinnerlichte Kultur, Bedeutungen und geltende Werte, während kalte Kultur versucht, einen Ursprung als zeitlos geltend einzufrieren. Eine Anonymisierung über die Historisierung rückt den Holocaust in Distanz zum Betrachter und verringert damit die aktuelle Relevanz und den je persönlichen Sinn der Geschichte. Demnach bietet weder distanzierte Historisierung noch übermäßige Personalisierung von Geschichtsdarstellungen pauschal eine Lösung, um eine „Lehre aus der Geschichte“ zu bewahren. Eine Universalisierung der Holocaust-Erzählung erscheint jedenfalls angemessener, als allein die gegenwärtige Kakophonie der Stimmen von Zeitzeugen zu überliefern, die aktuell zu einer Implosion von Perspektiven auf diese Geschichte führt. Denn es liegt geradezu in der Sache selbst begründet, dass die Stimme der wenigen Überlebenden schwächer ausfällt als die Beteuerungen, Geständnisse und Beschreibungen der vielzähligen Täter, Mitläufer und Zuschauer. Dies nur, um kurz zu verdeutlichen, wie die in dieser Debatte strittigen Geschichten interpretiert werden können. Erwähnt sei eine Kritik des Historikers Grzywatz an Barzel, die Pieper (2006: 265) zitiert: Verfolgung, Vertreibung und Völkermord zwischen 1933 und 1945 sollten nicht zum „roten Faden“ einer Berliner Geschichte werden. Man wollte kein Holocaust-Museum bauen, sondern ein positives Signal setzen. Diese Position ist deshalb von Bedeutung, da sie die jetzige Konzeption prägte. Das JMB will kein 4
Der Blick auf den Historikerstreit, die Goldhagen-Debatte sowie frühere und spätere Geschichten und Debatten der Historisierung des Nationalsozialismus in Deutschland legt aber die Frage nahe, wer denn wohl den oder die Therapeuten therapiere.
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Holocaust-Museum sein. In der Präsentation des Museums ist allein das Untergeschoss dieser Zeit vorbehalten, die Ausstellung in den Obergeschossen übernimmt dazu nur kurz eine jüdische Geschichtsperspektive und schildert die Reaktionen deutscher Juden auf Diskriminierung und Verfolgung. Der Holocaust sollte berücksichtigt werden, aber nicht dominieren. Barzel wurde nach den Debatten zwischen Stadtmuseum, jüdischer Gemeinde und politischer Verwaltung im Juni 1997 von der Senatsverwaltung aus seinem Amt entlassen, ohne Rücksprache mit der jüdischen Gemeinde. Erst der Nachfolger Barzels, Michael Blumenthal, setzte die Ausgliederung des Jüdischen Museums aus dem Stadtmuseum durch und gründete im Januar 1999 die Stiftung Jüdisches Museum. Blumenthal verfuhr im Gegensatz zu Barzel weit diplomatischer. Im September 2001 wurde die Stiftung zu einer Bundesstiftung umgewandelt und das Jüdische Museum zu einem nationalen Projekt. Blumenthal wollte ein deutsches Geschichtsmuseum, das den Anteil jüdischer Deutscher an der Nation erzählt und den Holocaust nicht überbetont (Pieper, 2006: 284). Blumenthal entwickelte zunächst mit Jeshajahu „Shaike“ Weinberg, dem ehemaligen Direktor des USHMM (United States Holocaust Memorial Museum), das Programm für die Dauerausstellung. Nach dem Tod Weinbergs im Jahr 2000 teilten sich Ken Gorbey und Thomas Friedrich die Aufgaben des Projektdirektors und der wissenschaftlichen Leitung. Die inszenierungs- und erlebnisorientierte Ausstellungsmanier Weinbergs, geprägt von einer sparsamen Verwendung authentischer Originale (Heumann, 1995: 36), die er für den deutschen Kontext deutlich zurückschraubte, konnte die Berliner Ausstellung ebenso sehr beeinflussen wie der Ansatz Gorbeys (2001), der zuvor für das neuseeländische Nationalmuseum Te Papa Tongarewa in Wellington verantwortlich war. Gemeinsam haben beide Museen z. B. das Element des Learning Centers. Gorbey steht für einen offenen demokratischen Stil eines MinderheitenMuseums, das die Kolonialgeschichte Neuseelands aus der Perspektive der Indigenen und nicht der Zuwanderer in den Mittelpunkt stellte, kulturelle Vielfalt betont und sich dadurch auch als geeignet erweist, neue Besucher ins Museum zu locken (Beier-de Haan, 2005: 61ff). Gorbys Ansatz will Veränderungen im Denken und Handeln der Menschen bewirken; ihm geht es um einen Beitrag zu einem tieferen Verständnis von Moral (Beier-de Haan, 2005: 137). Diese Skizze der Konzeptdebatte kann zeigen: Je nach Museumskonzept wird das Verhältnis jüdischer zu deutscher Kultur und jüdischer zu deutscher Bevölkerung unterschiedlich repräsentiert, was mit Blick auf die Geschichte des Holocaust und des deutschen Umgangs mit diesem „Erbe“ bedeutsam ist. Alle diese Konzeptionsideen finden sich, in unterschiedlicher Sichtbarkeit, zeitlich geschichtet im aktuellen Konzept des Museums.
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3.1.2 Architektur und Textur Daniel Libeskinds Das Integrationsmodell, die jüdische Abteilung des Berlin Museums als Museum im Museum zu entwerfen (Heise, 1990), erfuhr spätestens mit der Entscheidung für den Architekturentwurf Daniel Libeskinds eine zentrale Umdeutung. Mit der Entscheidung für Libeskind war zum ersten Mal nicht länger von einer Abteilung und einem Erweiterungsbau des Berlin Museums, sondern vom Jüdischen Museum die Rede. Pieper (2006: 233) bezeichnet den Bau explizit als „Medium bestimmter Geschichtsbilder und Erinnerungen“. Die Libeskind-Architektur formt jüdischdeutsche Geschichte als inhärentes Paradoxon, als gleichzeitige Eigenständigkeit und Integration. Die Wettbewerbs-Jury wertete die Architektur des Museums als „Bedeutungsträgerin“ (Bothe, 1990: 55), die auf „Bedeutungslosigkeit, den Nullpunkt musealer Hermeneutik der jüdischen Geschichte in Deutschland“ (Ernst, 1997: 262) ziele und ein „Emblem“ (Libeskind, 1994 [1989]: 101), d. h. „gebaute Metapher der Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen“ sei (Pieper, 2006: 236). Die Architektur kommt nicht ohne eine Beschreibung aus, die gleichwohl nicht in der Lage sein kann, alles daran Wahrnehmbare und damit Assoziierbare zu benennen. Dies muss subjektiven Impressionen und somit den Stimmen der Besucher überlassen bleiben. Zudem besteht das Museum ebenso aus Textur wie aus Architektur, es wird nicht allein als Bau-, sondern auch als Diskursgestalt verstehbar: Daniel Libeskind schildert in seinem Text „Between the Lines“ sein Konzept auf eine nicht immer leicht zugängliche Art und Weise. „Wichtiger erscheint mir, zu versuchen, Ihnen etwas über die Zeit – über das Element Zeit mitzuteilen. Nicht nur über die historische Zeit, über die Zeit in der Architektur, sondern auch 5
Young (1988: 172ff) verwendet den Begriff ‚Textur‘, um die diskursive Form der Erinnerung an den Holocaust zu betrachten. Er beansprucht für sich, der erste zu sein, der sich damit befasst, wie Holocaust-Gedenkstätten und Museen Erinnerung formen – „Rather, it is to examine the activity itself of Holocaust memorialisation: the simultaneous preservation and limiting of memory, the types of meaning and knowledge of events that are generated, the evolution of these meanings in time, the manner in which viewers respond to memorial reification of memory, and the possible social and political consequences of holocaust memorials. If the raison d’être for Holocaust monuments is ‚never to forget’, this chapter asks precisely, what is not forgotten at Bergen Belsen, Dachau, Auschwitz. […] For what is remembered here necessarily depends on how it is remembered; and how these events are remembered depends in turn on the shape memorial icons now lend them. […] In assuming the idealized forms and meaning assigned this era by the state, memorials tend to concretize particular historical interpretations“ (Young, 1993: 2).
116 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN über die Zeit hier und jetzt […]; das Problem der Geschichte, die Kulmination der zeitgenössischen Geschichte in Berlin, bewegt sich unaufhaltsam – in Hegelscher Manier – auf die Gegenwart zu“ (Libeskind, 1994 [1989]: 100).
Der Architekt lädt mit der Textur zum Bau in eher diffusen Sätzen zur Reflexion über Zeit und Geschichte ein. Die Argumentationslinie zeichnet einen ZickzackKurs nach, der ab und an auf ein void trifft und realisiert somit in postmoderner Manier sprachlich eine analoge Form zur Architektur (Offe, 2000: 168). „‚I call it [Between the Lines] because it is a project about two lines of thinking, organization, and relationship‘, Libeskind says. ‚One is a straight line, but broken into many fragments; the other is a tortuous line, but continuing indefinitely. ’” (Young, 1997: 20).
Den Dekonstruktivisten zugehörig, spielt Libeskind mit etablierten architektonischen Stilen, Symbolen und sprachlich-literarischen Motiven in Zitatform. Libeskind wird mit der an Nietzsche erinnernden Aussage zitiert: „Das bloße Wort Architektur hat alles Ansehen verloren […] der gewöhnliche Architekt ist tot.“ (Bolk, Schneider, 1999: 5). Libeskinds Text „Between the Lines“ erschien mehrfach mit geringfügigen Variationen. Die Sätze mäandern und umkreisen das Museum eher (Offe, 2000: 165), als es zu beschreiben. Sich seiner Textur anzunähern, erscheint deshalb angebracht, weil Libeskind, ähnlich der Philosophie Derridas6, die Architektur durch das theoretisierende Formenspiel des Textes gegenüber assoziativen Sinnzuschreibungen der Zuschauer und Zuhörer öffnet. Die Beschreibung der Architektur erfordert, die Textur des Museums wiederzugeben, wenn auch etwas thematisch strukturierter als im Originaltext. Zur Darstellung bietet es sich daher an, entsprechend der dekonstruktiven Methode unterschiedliche Stimmen selektiv zu Wort kommen zu lassen. „Whatever the reaction to this museum, the expectations and anticipations of the visitors will be connected to their own view of this history. […] The Museum is open to many interpretations and many routes, just like the pages of the Talmud, where the margins are often as important as what is being commented on […] For this history is not over“,
so lautet Libeskinds (2001: 28) eigene Leseanweisung. Von außen wirken der Alt- und Neubau wie zwei unabhängige Gebäude. Am Libeskind-Anbau sind äußerlich keine Stockwerkgliederungen erkennbar, das Ge6
Der Bezug auf und die theoretische Nähe zu Derrida ist hier deshalb gegeben, weil Libeskinds Konzept auf dessen Theorie zurückgeht und auch Derrida in dem Band Between the Lines mit einem Beitrag vertreten ist.
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bäude wirkt wie ein monolithischer Block – verschlossen, kalt silbern spiegelnd und glänzend –, von Rissen, Furchen und Brüchen durchzogen. Tatsächlich gibt es drei Stockwerke gleichen Schnitts mit unterschiedlichen Geschosshöhen, wovon nur die oberste Etage mit den dem Besucher unzugänglichen Büroräumen einer gewöhnlichen Raumanordnung ähnelt. Die Fensterlinien sind asymmetrisch angeordnet und unsystematisch verteilt. Von oben betrachtet, übernimmt die Architektur den Blitz als Symbol (vgl. Abb. 1.2). In der Rückansicht ist zu sehen, dass das Gebäude durchaus das Neue, die gezackte Libeskind-Architektur, und das Alte, den barocken Bau des Kollegienhauses, miteinander verbindet. Das Kollegienhaus stellt den einzigen erhaltenen Profanbau aus der Zeit Friedrich Wilhelms I. dar (Offe, 2000: 151). Spätestens seit 2007, seit ein Glasdach, der spätere Entwurf „Sukkah“ (hebräisch für Laubhütte) von Libeskind, den Hof des 1735 erbauten Kollegienhauses der königlichen Justizverwaltung überspannt, wirken Alt- und Neubau aus der Rückansicht wie zu etwas Neuem, Anderem synthetisiert. Die Laubhütte vereinigt traditionell das jüdische Volk unter einem Dach. Das Alte und das Neue der Architektur fügen sich trotzdem und genau deshalb, weil es eines vereinenden Daches zwischen Berliner und jüdischer Geschichte bedarf, weniger harmonisch zueinander, als dies z. B. im Vergleich der I.M.-Pei-Bau mit dem Zeughaus zum Deutschen Historischen Museum tut. Pei gilt als moderner Architekt, während Libeskind als Dekonstruktivist einzuordnen ist (s.o.). Ist die zeitliche Durchdringung von Alt und Neu ein Stilelement zeitgenössischer Architektur im Allgemeinen, lässt sich bei der Libeskind-Architektur als Symbol dafür interpretieren, dass Zeit nicht immer bruchlos und konfliktfrei verläuft. Neu- und Altbau sind unterirdisch durch einen Gang verbunden. „Das ehemalige Schicksal, das Verhängnis, wenn man so will, oder die Katastrophe der deutsch-jüdischen kulturellen Symbiose vollziehen sich heute nur mehr in der Sphäre des Nicht-Sichtbaren […]. Es handelt sich um eine unterirdische Verbindung, bei der die barocke Treppe in diesem alten Gebäude in ihrer ursprünglichen Lage wiederhergestellt wird, um so die widersprüchliche zeitliche Autonomie der beiden Bauten an der Oberfläche zu bewahren, sie in der Tiefe aber umso enger aneinander zu binden“ (Libeskind, 1994 [1989]: 101f).
Im Barockbau, der heute den Eingangsbereich mit Garderobe und Museumscafé bildet, eröffnet ein erstes void die Treppe in den Neubau, in den so genannten Achsenbereich und zum Rafael Roth Learning Center. Bereits die Benennung und Anordnung der Achsen versinnbildlicht Geschichte, nämlich die Zersplitterung der jüdischen Geschichte in Deutschland in unterschiedliche Geschichten und verschiedene Zeitverläufe: Die Achse der Kontinuität führt vom Eingang zum Treppenaufgang. Sie entlässt den Besucher links auf die beiden Etagen der Dauerausstellung, führt dann geradeaus vor eine Wand. Kontinuität scheint damit als Sackgasse gedeutet. Gekreuzt wird diese Achse von der des Exils und der des Holocaust. Die
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Geschichte des jüdischen Kollektivs wirkt zersplittert in Vertreibung, Flucht und Emigration sowie Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung. Die räumliche Atmosphäre erzeugt Körpererfahrungen, die vermeintlich eine assoziative Nähe zu den historischen Erlebnissen von Juden in Deutschland herstellen. „Führt nicht das Angebot der kathartischen Einfühlung in die Opfer zu einer problematischen Vergemeinschaftung im Gedenken, die durchaus in der Tradition christlicher Leidensnachfolge gesehen werden kann, einer religiösen Tradition. […] Bleibt nicht auch die Dekonstruktion der Tradition und Semantik sakraler Museumsarchitektur in Libeskinds Museum mit Gebäude und Text im Banne eben des Opfer-Pathos, das sie dekonstruieren will? […] (Der Holocaustturm ist, V.S.) als Raum des Gedenkens vorgesehen, Besucher können ihn von der so genannten Achse des Holocaust aus betreten, eine schwere Tür fällt hinter ihnen zu, der Raum ist dunkel bis auf einen Spalt hoch über den Köpfen, durch den Tageslicht fällt, die Wände sind in rohem Beton belassen. Ich habe an anderer Stelle die Zumutung dieses Raums, die Aufforderung zur Einfühlung in die Opfer kritisiert.“ (Offe, 2004: 135).
Die Achse des Exils mündet in den Garten des Exils. Das ummauerte Feld von 49 Stelen auf einer schrägen Ebene unternimmt den Versuch, den Besucher zu desorientieren, wie es auf der Homepage des Museums heißt.7 Die Betonstelen sind je fünf Meter hoch, in einem Raster von sieben mal sieben Stelen angeordnet, die hohl bzw. mit Erde gefüllt sind, damit darauf Bäume wachsen können – eine weitere Anspielung auf das Laubhüttenfest. Die Erde von 48 Säulen stammt aus Berlin, in der 49. Säule befindet sich Jerusalemer Erdboden. Das Stelenfeld versinnbildlicht die Ambivalenz der Emigration, einerseits Rettung, Freiheit und Sicherheit darzustellen, zugleich mit Gefühlen der Unsicherheit, Zwang und Ausweglosigkeit behaftet zu sein. „Diese räumliche Erfahrung soll auf das Gefühl von Haltlosigkeit und die mangelnde Orientierung verweisen, welche Emigranten empfanden, die aus Deutschland vertrieben wurden. Aus den Stelen wachsen Ölweiden, die Hoffnung symbolisieren“, 8
ist eine vom Internetauftritt des Museums nahe gelegte Interpretation. Die dritte Achse, die Achse des Holocaust, mündet in den Holocaustturm. Bei ihm handelt es sich um einen engen, hohen, leeren Raum mit einem schmalen Licht7
http://www.juedisches-museum-berlin.de/site/DE/05-Rund-ums-Haus/03-Libeskind-Bau/
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http://www.juedisches-museum-berlin.de/site/DE/05-Rund-ums-Haus/03-Libeskind-Bau/
06-Garten-des-Exils/garten-des-exils.php (Stand vom 01.02.2009). 04-Leerraeume/leerraeume.php (Stand vom 01.02.2009).
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schlitz in der Nähe der Decke. Der Turm, dieses voided void, ist kalt und beengend. Enge und Orientierungslosigkeit bilden einen emotionalisierenden Effekt; die eigenen, persönlichen Sinneseindrücke erzeugen eine Authentizität der Geschichtsrezeption beim Besucher, der aufgefordert ist, die Leere selbst interpretierend zu füllen, legen verschiedene Beschreibungen nahe. Young (1997) benutzt den Freud’schen Begriff des Unheimlichen für etwas Vertrautes, das einem entfremdet wurde, um die Art der Berliner Erinnerung und die Atmosphäre des LibeskindGebäudes zu beschreiben. Die voids sind von Libeskind als eine sich materialisierende Leere gemeint (Libeskind, 1994 [1989]: 102; vgl. Pieper, 2006: 238, Fußnote 648). Im Inneren zeigen sie ihre Leere, nach außen erscheinen sie als versprengte Gebäudesplitter. Die voids wirken wie zufällig entstandene Ausstülpungen des Baus nach außen. Im Inneren suggeriert der Raum dem Besucher Verlassensein, Auswegund Hoffnungslosigkeit. „The Holocaust Void is a place that has to be experienced as an end, which will forever remain a dead end. For they will not return.“ (Libeskind, 2001: 27). Die „Leerstelle des Gedenkens“ ist ein weiterer dem Besucher zugänglicher void, den er über die Treppe zur Ausstellung erreicht. Wie die anderen insgesamt fünf voids ist die Leerstelle des Gedenkens ein Raum mit kahlen Betonwänden und mit Licht- und Luftschlitzen in einer gewissen Höhe unterhalb der Decke. Der unbehandelte Beton sei das Baumaterial von Adolf Hitlers Bunkern, der Staatsbauten in Nürnberg und in Berlin, so Bolk und Schneider (1999: 20), demzufolge lautet der Fachausdruck für den Baustil mit diesem Sichtbeton seit Le Corbusier brutalisme. Die Installation „Shalechet“ (Gefallenes Laub) des Künstlers Menashe Kadishman ist dort ausgestellt – unzählige, kreisrunde Eisenscheiben, die stilisierte Gesichter mit aufgerissenen Mündern zeigen.
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Abb. 3.1.2.1: Menashe Kadishman „Shalechet“ (Gefallenes Laub)
Quelle: Privatfoto © Dilshad Marolia with kind permission of Menashe Kadishman.
Die Besucher sind aufgefordert, über die Gesichter zu laufen. Unternimmt man dies, ertönt ein metallisches Klirren, das von den hohen Wänden zurückhallt und die Aufmerksamkeit auf die Suggestion lenkt, was es bedeuten kann, unbedarft über eine Fülle von Gesichtern zu laufen.9 Eine weitere Installation ist die „Gallery of the missing“ („Ordnung des Verschwindens“). Sie besteht in schwarzen, undurchsichtigen Glaskörpern an mehreren Stellen des Museumsrundgangs neben den Leerstellen. Über Kopfhörer hören die Besucher Stimmen, die verschwundene und vernichtete Kultur, Kunstwerke, Bücher und Objekte beschreiben. Die voids, die Leerräume, sind konstitutiv für die architektonische Gestalt. Sie bestehen aus hängenden Schächten und sind in der Draufsicht auf einer imaginären Geraden angeordnet, die den Zickzack-Kurs des Gebäudes schneidet. „Die Tradition der Leere als symbolischer Raum prägt das kollektive Opfergedenken auch im 20. Jahrhundert“ (Offe, 2000: 155; vgl. Libeskind, 1994 [1989]: 102). Libeskind verwendet traditionelle Symboliken, um sie zugleich zu dekonstruieren. Er setzt sich dezidiert von den Gestaltungsmerkmalen ab, die das klassische Museum, z. B. in der Idee von Etienne-Louis Boullées (Fliedl et al., 1996), kennzeich-
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http://www.kadishman.com/works/shalechet/Images/ (Stand vom 10.12.2012), http://www. youtube.com/watch?v=ha0aVRnntgY (Stand vom 10.12.2012)
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nen. Ist ein solcher klassischer Museumsbau ein transparent gehaltener, quadratisch-linearer, repräsentativer Bau einer Grande Nation im Zentrum der Stadt, organisiert nach den Prinzipien von Zentrum und Peripherie, setzte sich Libeskind vom Quadratisch-Linearen ab und entwarf ein Gebäude, das sich vor der Außenwelt verschließt. Der klassische Museumsentwurf symbolisiert hingegen das Geschichtsbild eines aufstrebenden bürgerlichen Zeitalters, orientiert am Fortschritt der Gattung Mensch. „Libeskinds Museumsbau nimmt […] Elemente traditioneller Ausdruckformen der (Museums-)Architektur auf, wendet sie und zitiert sie als Negation“, beschreibt Offe (2000: 163f) das Vorgehen des Architekten beim Entwurf seines Gegenmuseums und konfrontiert dies mit einer Beschreibung Peter Eisenmans, des Lehrers von Libeskind, an dessen Entwurf für das Holocaust-Mahnmal der Garten des Exils erinnert: „Seit dem 15. Jahrhundert war die Architektur von einer Reihe symbolischer und referentieller Vorgaben abhängig. Diese können zusammenfassend als ‚klassisch‘ bezeichnet werden […]: ‚Vernunft‘, ‚Repräsentation‘ und ‚Geschichte‘. Die ‚Vernunft‘ besteht darauf, dass die Dinge als rationale Transformationen eines aus sich selbst evidenten Ursprungs verstanden werden sollen. ‚Repräsentation‘ verlangt den Bezug der Dinge auf Werte oder Vorstellungen außerhalb ihrer selbst […] ‚Geschichte‘ geht von einer aus isolierbaren historischen Momenten zusammengesetzten Zeitvorstellung aus, deren wesentliche Eigenschaften abstrahiert und repräsentiert werden können und sollen.“
Der Bau bezieht, wie auch Lyotard, deutlich Stellung gegen Geschichte als aufklärerische Meta-Erzählung: „Über Architektur zu reden […] heißt also, über das Paradigma des Irrationalen zu reden […] während das, was in der Welt die Oberhand behält, was sich durchsetzt und dominiert und oftmals tötet, immer im Namen der Vernunft, der Ratio geschieht.“ (Libeskind, 1994 [1989]: 100) „Das Verschwinden der Idee des Fortschritts in der Rationalität und in der Freiheit erklärt einen bestimmten ‚Ton‘, einen Stil oder einen spezifischen Modus der postmodernen Architektur.“ (Lyotard, 1987: 100).
Das Museum ist mit seiner Architektur ein Ort der Erinnerung an die Opfer. Der Raum besitzt im Untergeschoss den Charakter eines Mahnmals; der Garten des Exils ist, wie gesagt, ähnlich angelegt wie das später entstandene Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Der museale Bau unternimmt den Versuch, das Unsagbare darzustellen. „Die Leerräume des Museums zeigen das durch die Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa nicht mehr Darstellbare, das Verlorene. Sie machen den Verlust sicht- und fühlbar“,
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so die Lesart des Museums.10 Tragisch bleibt, dass ein Verlust letztlich nicht sichtund fühlbar werden kann, es sich bloß um eine Suggestion handelt. Eine Katastrophe, deren Undarstellbarkeit auch durch diese Architektur, die sich einer multiplen Bedeutung des Holocaust emblematisch annähert, letztlich nicht überwunden werden kann. Eine Architektur, die möglicherweise zu sehr über die implizit bleibende Botschaft hinwegtäuscht, dass es Erlebnisse gibt, die nicht vermittelbar sind. Es bleibt etwas anderes, endgültig und für immer der Freunde und Verwandten beraubt und selbst durch einen kollektiven Vernichtungswahn bedroht zu sein, als schlicht für ein paar Minuten in einem engen Turm ohne Licht zu stehen. Der Zivilisationsbruch des Holocaust steht einer sinnhaften Aneignung von Vergangenheit entgegen. Der Raum schreibt die Unmöglichkeit einer Erlösung fest (Ernst, 1997: 268). So verdienstvoll es ist, dieser Geschichte eine gelungene mediale Präsentation zu geben: Die Perspektive der Opfer bleibt letztlich verschlossen. In den Obergeschossen tritt die Aussage der Architektur gegenüber der Ausstellung zurück. Als Textur verbindet Libeskinds Konzept „Between the Lines“ Architektur mit Text als zwei Verfahren diskursiver Sinn(de)konstruktion. Der Text und die Bauelemente spielen mit Sinn, ein Verstehen kann nur assoziativ aus den Wortgestalten entstehen. Das Konzept des Baus beruht auf zwei Linien, die symbolisch sowohl Verbindung als auch Fragmentierung und Leere schaffen, diejenigen Prinzipien, die das Miteinander der deutsch-jüdischen Geschichte prägen. Die Kulturen haben sich historisch durchdrungen, die Verbindung, die sie eingingen, war keine einseitige Integration, sondern fragmentiertes Nebeneinander. Die Fragmentierung beider Kulturen entstand demnach aus der Fortdauer und Kontinuität von Antisemitismus, Verfolgung und Vernichtung. Die Zickzacklinie schreibt laut Libeskind eine erste topographische Dimension in das Gebäude ein. Die Linie verbindet Berliner Wohnorte jüdischer und nicht-jüdischer Persönlichkeiten. Das System rechtwinkliger Dreiecke, einem Davidstern, der gleichzeitig der gelbe Stern der Nationalsozialisten war, ähnlich (Libeskind, 1989: 100f), wurde vom Architekten zerbrochen, wie die deutsch-jüdische Geschichte zerbrach. Die durch diese Struktur laufende Gerade reiht die voids des Gebäudes auf. Die Leere beschreibt den Zustand nach der Vernichtung und weder lässt sich die Leere des Holocaust im Nachhinein mit Sinn füllen – die jüdische Katastrophe entzieht sich einer sinnstiftenden Rekonstruktion –, noch lässt sich eine deutsch-jüdische Geschichte wiederbeleben. Der Architekt will durch das Gebäude die Vernichtung in das Gedächtnis der Stadt einschreiben (Pieper, 2006: 240). Libeskind verleiht diesem Konzept mit einem postmodernen Gestus, der primär eine Ausdrucksform des Denkens in Kunst, Literatur, Philosophie und Politik be10 http://www.juedisches-museum-berlin.de/site/DE/05-Rund-ums-Haus/03-Libeskind-Bau/04Leerraeume/leerraeume.php (Stand vom 01.02.2009).
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zeichnet (so Lyotard, 1987: 104), einen musikalischen Torso. Die Oper „Moses und Aron“ von Arnold Schönberg blieb Fragment. Die letzten Worte spricht Moses: „Oh Wort, du Wort, das mir fehlt.“ Dies erinnert an das Verbot, die Offenbarung Gottes durch ein Bild zu vermitteln; die Oper blieb unvollendet und diese zweite, musikalische Dimension des Architekturentwurfs gilt den deportierten Berliner Juden (Pieper, 2006: 241). Zudem bildet Walter Benjamins Werk „Einbahnstraße“ eine Grundlage für jeweils einen Abschnitt entlang der Zick-Zack-Form des Gebäudes. Für die Innengestaltung der Achsen schrieb der Architekt aus einem Gedenkbuch die Namen der jüdischen Berliner und die Orte, an denen sie ermordet wurden, ab (Libeskind, 1994: 100f). Dies macht die dritte, textuelle Dimension des Projekts aus. „Dieses Ereignis der Geschichte mit seinen Konzentrationslagern und der Ausrottung bedeutet meiner Ansicht nach die Auslöschung, schlicht und einfach die Auslöschung, einer bedeutungsvollen Entwicklung der Stadt Berlin und der Menschheit. Ich möchte nicht nur auf der materiellen Ebene zeigen, dass es eine Auslöschung gibt, sondern auch auf anderen Ebenen, denn sie zerschlägt jeden Ort, während sie zugleich etwas anderes gibt, was keiner zu geben vermag. Die Bewahrung des Opfers...“ (Libeskind, 1994 [1989]: 102).
Eine Spurensuche wird durch diese nachträglich von Libeskind konstruierten Verbindungen möglich; er schaffte dem Holocaust einen Gedächtnisort. Das Gebäude wird im Sinne einer Spurensuche „lesbar“. Die Geschichte, von der die Formensprache des Architekten erzählt, wird durch die Textur dem Gebäude eingeschrieben und leitet die Dekodierungen derselben an. „I have always believed that this Museum should represent the future, not only the past; the beginning, not only the end […]“ (Libeskind, 2001: 25). Er wendet sich gegen ein Geschichtsbild des Ursprungs: „Man könnte in der Tat behaupten, dass der Begriff von einem ursprünglichen Ausgangspunkt, der eine Vergangenheit voraussetzt, die einmal Gegenwart war, schon an sich fragwürdig ist, denn die Vergangenheit ist immer bereits vergangen; und deshalb ist das Vergangene nie als Gegenwärtiges erlebt worden. Anstatt hier also zu versuchen, hier über bestimmte Dinge von einem Anfang her zu reden, möchte ich vielmehr die Anfänge ganz übergehen“ (Libeskind, 1994 [1989]: 100).
Architektur und Textur Libeskinds stellen eine semantische Metaebene der Geschichtspräsentation selbst her, indem sie ein Medium kritischer Geschichtspräsentation sind. Die Architektur wird zum Zeichenträger der Geschichtsdarstellung.
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3.1.3 Die Umsetzung Als Ideal war gedacht, dem Bau seinen Charakter als Mahnmal für Nationalsozialismus und Holocaust zu lassen, die Ausstellung demgegenüber der Geschichte der Juden in Deutschland jenseits des Holocaust zu widmen. Der Leere als sinntragendem Darstellungselement im Untergeschoss sollte Raum zur Repräsentation des Holocaust gegeben werden. Nur die beiden Obergeschosse sollten durch die Ausstellung über 2.000 Jahre jüdische Geschichte in Deutschland bespielt werden. Letztlich entpuppte sich dies als Konkurrenzverhältnis zwischen Architektur und musealer Präsentation um die Aufmerksamkeit der Besucher, mit der Architektur galt es somit ein gelungenes Ausstellungskonzept zu inszenieren. Die Ausstellung folgt einem narrativen Ansatz und einer chronologischen Erzählweise mit thematischen Einschüben. Aus der Serie vieler offener Erzählungen, angeordnet nach Epochen, entsteht aber keine kontinuierliche Erzählung. Die Narration setzt weniger, als Weinberg dies im USHMM in Washington umsetzte, auf Empathie und Identifikation. Jeshajahu Weinberg war von 1998 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 Museumsberater für das Projekt des JMB. Ein Rest seiner Erzählweise ist noch mit dem Darstellungselement, individuelle Geschichten anhand persönlicher Überbleibsel aus Vertreibung und Verfolgung in den Achsen des Untergeschosses zu präsentieren, übrig geblieben. Das Leben der jüdischen Bevölkerung ist in der Präsentation ansonsten durch den beschwerlichen Weg zu Emanzipation und Gleichberechtigung vom Mittelalter über die Aufklärung bis zur Moderne gekennzeichnet (Rürup, 1991), eine Geschichte, die ebenso durchzogen ist von Vorurteil und Verfolgung. Eine lineare Story Line ermöglicht es, Geschichte als Folge sich stetig entwickelnder Prozesse zu fassen. Das Museum setzt sich den zeitlichen Rahmen, zweitausend Jahre jüdischer Geschichte11 in Deutschland zu zeigen. Mit der jüdischen Diaspora in einem durch römische Herrschaft geprägten Europa zu beginnen, heißt, den Zeitrahmen deutlich über die Existenz einer deutschen Nation auszudehnen. Die Präsentation setzt nicht nur beim christlichen Antijudaismus an, um die Ursprünge jüdischen Lebens in Deutschland beleuchten zu können, sie schafft es damit auch, die deutsche Geschichte mit der jüdischen parallel zu führen. Die Bespielung des Libeskind-Baus nutzt die breite Palette zeitgenössischer Präsentationstechniken zwischen historischem Original, interaktiver Installation und audiovisueller Vorführung mit der dem Thema gebührenden Zurückhaltung, um sich nicht dem Vorwurf der „Disneyfizierung“ des Holocaust auszusetzen. Das Ende hat einen offenen Charakter: Es stellt Pluralität, Heterogenität und Ambivalenz des jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 dar (Pieper, 2006: 289). 11 „Juden waren in einzelnen deutschen Landschaften schon zu Hause, ehe es eine ‚deutsche Geschichte’ oder ein Deutsches Reich gab“ (Rürup, 1991: 81).
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Nach der knapp zusammenfassenden Darstellung des Konzepts durch Michael Blumenthal (2000: 243ff) folgt das Museum drei Prinzipien: 1) dem Erzählen von Beiträgen der Juden zu Kultur, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ebenso wie vom Alltagsleben normaler Bürger sowie Verfolgung, Vernichtung und Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland, 2) dem sensiblen Umgang mit dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, 3) der Konzentration auf den Besucher. Die inhaltliche Darstellung gliedert sich in drei Hauptbereiche: die zweitausendjährige deutsch-jüdische Geschichte, Judentum und jüdisches Leben sowie die verheerenden Auswirkungen der Shoah. Diese Darstellung gliedert sich wiederum in einzelne Themensegmente: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
„Beginn/Einführung Die mittelalterliche Welt von Aschkenas (bezeichnet den jüdischen Stamm, der in Deutschland angesiedelt ist) Land- und Hofjuden Glikl bas Judah Leid Jüdisches Gemeindeleben Moses Mendelsohn und die Aufklärung (Haskalah) Tradition und Wandel Im Schoße der Familie Deutsche und Juden zugleich Die Entstehung des modernen Judentums Modernität und Urbanität Ost und West (Der Zionismus, ein Blick nach Palästina und ins osteuropäische Schtetl) Deutsche Juden und jüdische Deutsche Verfolgung, Widerstand und Vernichtung (und die Reaktion der deutschen Juden) Die Gegenwart (Juden im Nachkriegs- und wiedervereinigten Deutschland)“ (Blumenthal, 2000)
Die Ausstellung wurde vom Büro Würth & Winderoll gestaltet und von dessen Tochterunternehmen Strand Ausstellungsrealisation GmbH umgesetzt. Die Dinge, historische Objekte und Alltagsgegenstände, erfüllen im JMB primär die Funktion, Gedächtnis zu konstruieren; dabei wird das Potential von Dingen, Erinnerungsveranlassungsleistung zu sein, ins Zentrum der Präsentation (Beier-de Haan, 2005: 139) des Memory Museums gerückt. Man bedenke bei der Verwendung dieses Begriffes, dass dies auch meint, Erinnerung an Tote zu beleben, derer nicht mehr persönlich gedacht werden kann. Die Exponatinszenierung der Ausstellung ist besucherorientiert und zur Interaktion auffordernd konzipiert. So werden interaktive
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Elemente und Hands-on-Exponate integriert. Die Dauerausstellung verwendet ansonsten traditionell-museale Ausstellungsstücke, die durch Texte und Grafiken ergänzt werden. Das Rafael Roth Learning Center erleichtert dem Besucher die eigenständig-selektive Recherche von Zusatz- oder Hintergrundinformationen an Computern. Es bildet ein Angebot zur multimedialen Suche, einen digitalen Katalog und ein Lexikon. Die Computerstationen berichten von historischen Ereignissen und Persönlichkeiten, vom Alltag, von Religion und Tradition, zudem erhellen sie Hintergründe und Zusammenhänge.12 Ebenso sind Wechselausstellungen als Begleitprogramm vorgesehen. Schwerpunkt der Geschichtsdarstellung des JMB ist die retrospektive Würdigung und Rehabilitation der deutschen Juden als Mitglieder der Gesellschaft und Nation (Pieper, 2006: 309). Diese Vielfalt genannter Merkmale kennzeichnet das JMB als Memory Museum; als eine lebendig und gegenwartsbezogen konzipierte Präsentation in einem Haus, das seine Besucher in ihrer Verschiedenheit als „ganze Menschen“ mit allen Sinnen und damit mit ihrer eigenen Erinnerung aktiv involviert.
3.2 G ESCHICHTE ERLEBEN – E IN NARRATIVER I NTEGRATIONSVERSUCH VON O ST UND W EST , POLITIK UND L EBENSWELT : H D G Die Darstellung der Selbstbeschreibung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) in Bonn soll knapper erfolgen als die des JMB. Dies heißt jedoch nicht, dass die um dieses Museum geführten Debatten einen geringeren Umfang gehabt hätten. Mit dem JMB gemeinsam hat das HdG das Gestalterteam und die narrative Ausrichtung des Konzeptes (Pieper, 2006: 29). Mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin (DHM) teilt das Haus das Präsentationselement, mit einem dreigliedrigen Informationssystem zu arbeiten: dies erlaubt grobe Einordnungen in die übergreifende historische Situation, Texttafeln, die konzentriert wesentliche Inhalte von Ausstellungseinheiten vermitteln und einzelne Exponatbeschriftungen. Diejenige(n) Geschichte(n), die in diesem Haus integriert werden sollen, ist bzw. sind deutsche Geschichte(n), geprägt durch die über Jahrzehnte zwischen Ost und West unterschiedlich interpretierte Historie. Deutlich wird der Anspruch, über die Präsentation von Zeitgeschichte die gesamtdeutsche Integration zu fördern. Dies kommt auch durch die Kooperation des Hauses mit dem zeitge-
12 http://www.jmberlin.de/main/DE/01-Ausstellungen/03-RRLC/00-RRLC.php (Stand vom 11.02.2011).
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schichtlichen Forum in Leipzig zum Ausdruck, das dasselbe Anliegen im Ostteil des Landes vertritt. Das Haus ist also ebenso ein Museumsprojekt, das von der deutschen Wiedervereinigung geprägt ist und den Anspruch einer demokratischen Integration verfolgt. Die internationalen Bezüge Deutschlands werden hier als politisch-strukturelle Verknüpfungen und Kooperationen in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, der NATO und dem Warschauer Pakt sowie in Bezug auf die europäische Integration gefasst. Das HdG präsentiert, in Abhängigkeit vom jeweiligen Alter der Besucher, erlebte Zeit. Seinem Konzept entsprechend spricht das Museum von „Alltagsmenschen“ als seiner Zielgruppe (Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2002: 3). Mit dem Konzept „Geschichte erleben“ schaltet sich das Haus in die aktuellen Geschichtsdebatten und Auslegungen der Zeitgeschichte ein und möchte ein wissenschaftliches Forum für zeithistorische Themen darstellen. Zudem bietet es eine Inszenierung von Geschichte, die Exponate zeittypisch kontextualisiert, um die Atmosphäre einer historischen Periode zu suggerieren. Dies entspricht dem offenen Ende der Dauerausstellung: Zeitgeschichte befindet sich noch in einem Prozess der historisierenden Einordnung, der mit der Ausstellung noch nicht abgeschlossen sein kann. „Das Haus der Geschichte orientiert sich an einem strukturgeschichtlichen Ansatz. Die Politikgeschichte bildet den ‚roten Faden‘ der Ausstellung mit einem chronologischen Gerüst aus Bundestagswahlen und herausragenden Ereignissen, die sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben. […] Diese Zeitebene eher kurzfristiger Abläufe mit Kabinetten und Regierungsprogrammen verdeutlicht auch den Einfluss wichtiger Persönlichkeiten auf die deutsche Geschichte. Diesem ‚roten Faden‘ zugeordnet sind die sich über längere Zeiträume verändernden Themen der Wirtschafts-, Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte. Die dauerhaften Entwicklungen dieser ‚langsameren‘ Zeitebene begegnen dem Besucher mehrfach in unter13
schiedlichen zeitlichen und thematischen Umfeldern“ .
Das Museum deutet damit bereits verschiedene Arten des Geschichtsverstehens an: Auf einer Rampe, die sich zum Dach des Gebäudes hin erstreckt, präsentiert die Ausstellung eine Story Line, die den technischen Fortschritt repräsentiert, der im Weltraum, bei der Erforschung des Mondes und bei ausgestelltem Mondgestein endet. Ein schwarzer Kasten im Erdgeschoss zu Beginn der Ausstellung, die mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt, repräsentiert das Ende der Geschichte der Juden in Deutschland. Dieses Ausstellungselement arbeitet ebenso mit auditiven Einspielungen. Auf den Monitoren innerhalb des Kubus werden die Namen der ermordeten Menschen genannt. Das Ausstellungselement kehrt ein Stockwerk höher mit ande13 http://www.hdg.de/index.php?id=118 (Stand vom 01.02.2009).
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rer Bespielung innen wieder, zieht sich durch das Gebäude zur Decke und ist mit „Gegenwärtige Vergangenheit“ bezeichnet (Schäfer, 2003: 92). Die Debatten um den Nationalsozialismus kehren bis in die Gegenwart hinein wieder und ziehen sich durch die deutsche Zeitgeschichte hindurch. Die Benennung des Elements erinnert an die Formulierung, es handele sich um eine Vergangenheit, „die nicht vergehen will“, und erinnert an die deutschen Debatten um die Schuld der deutschen Täter. Der Kubus leistet im Gegensatz zum Rest der Ausstellung keine Erinnerung, sondern klammert und grenzt Erinnerung in einen schwarzen Block ein oder vom Rest der Ausstellung aus. Diese Symbolik wehrt die Erinnerung eher ab und repräsentiert damit, was mit diesem Thema der Geschichte im kollektiven Gedächtnis geschah und immer noch geschieht. In der von der Ausstellung verfolgten Interpretation ist dann von „nationalsozialistischer Gewaltherrschaft“, von „Vereinnahmung der Menschen […] durch das totalitäre Regime“ und von „Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die NS-Verbrechen“ durch die Alliierten die Rede, und mit diesen Stichworten ist das im HdG diesbezüglich verfolgte Geschichtsbild umrissen (Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2002: 9). Wenn nur einer herrscht, wie die Formulierung nahe legt, wird allein Hitler, ein abstraktes Regime oder totalitäres System als einzig Schuldiger an den Verbrechen ausgemacht. Eine solche Interpretation wirkt wie eine „Externalisierung“ des Nationalsozialismus als per se „undeutsches Kapitel“(Pieper, 2006: 221, Pieper, 2006: 202). Vor dieser Interpretation wirkt die Symbolik des Kubus, die nach der vom Museum verfolgten Lesart repräsentiert, wie die deutsche Öffentlichkeit damit verfuhr, unfreiwillig und unintendiert. Spätestens seit der Goldhagen-Debatte, den Studien von Christopher Browning über das Polizeibataillon 101 und den zwei Wehrmachtsausstellungen erscheint die Geschichtsinterpretation, dass die Bevölkerung durchweg unwissend und erst von den Alliierten aufzuklären war, fragwürdig. Mit dieser Darstellung tut das Museum zugleich, was es mit dem Sinnbild des Kubus thematisiert: Es erinnert an das Schweigen über dieses Kapitel und schweigt von der persönlichen Beteiligung der Vielen in Wehrmacht, Polizei, SS, SA und Staatsapparat. Ist der Einstieg der Ausstellung mit der Überschrift „Last der Vergangenheit“ betitelt, suggeriert dies gegenüber der Überschrift des Kubus „Gegenwärtige Vergangenheit“, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg seien 1945 bereits Vergangenheit, also abgeschlossen. Das Museum verfolgt tatsächlich zwei sich überschneidende Erzähllinien – Ost/West sowie Politik/Lebenswelt –, die an Zacharias’ Feld der Musealisierung erinnern (vgl. Abb. 2.1.6.1 f). Darauf, diese Erzähllinien zu verschmelzen und durch emotionalisierend inszenierte Exponate Empathie zu erzeugen, beruht das integrierende Präsentationskonzept des HdG. Etwas fragwürdig muss vor diesem Hintergrund die Grau-in-Grau-Darstellung der DDR erscheinen. Die Trennung von West und Ost zu Zeiten des Kalten Krieges durch graue Gitter versinnbildlicht noch stimmig den Eisernen Vorhang, die Mauer
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zwischen den deutschen Staaten. Dabei steht hinter dieser Farbgebung zur Darstellung der politischen DDR-Geschichte (z. B. bei Präsentationseinheiten graue Passepartouts zu wählen und einen Grenzübergang ganz in Grau- und Beige-Tönen zu gestalten) wiederum eine deutlich präsentierte Wertung von Geschichte, und zwar die des sozialistischen deutschen Staates aus westlicher Sicht. Die Alltagswelt von Ostdeutschen wird aus deren eigener Sicht deutlich bunter gewesen sein, und so suggeriert diese Farbgebung das Klima des Kalten Krieges aus einer etwas überzogenen West-Perspektive. Der eine oder andere mag dies eher als Exklusion denn als Integration empfinden, selbst wenn die ganze Präsentation auf diese Weise durchgehend parallel von den geteilten deutschen Staaten bis zu ihrer Wiedervereinigung 1989 erzählt. Das HdG gliedert seine Ausstellung nach folgenden Aspekten: „Last der Vergangenheit und Teilung Deutschlands 1945–1949 1 Befreiung und Besatzung 2 Gegenwärtige Vergangenheit 3 Gesellschaft der Nachkriegszeit 4 Wirtschaft in der Nachkriegszeit 5 Demokratischer und kultureller Aufbau 6 Berlin-Krise 7 Auf dem Weg zum SED-Staat 8 Auf dem Weg zum Grundgesetz 9 Verfassungstraditionen Jahre des Aufbaus in West und Ost 1949–1956 1 Bundestagswahl ’49 2 Parlamentarische Demokratie 3 SED-Staat 4 Zwei Staaten, zwei Wege 5 Bundestagswahl ’53 6 Wiederbewaffnung in West und Ost 7 Kulturelles Leben 8 Markt- oder Planwirtschaft? 9 Wiedergutmachung 10 Motorisierung Die Ära Adenauer und die innere Entwicklung der DDR 1956–1963 1 Staatsmann Adenauer 2 Bundestagswahl ’57 3 Europa 4 Deutsch-französische Beziehungen
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Deutsch-amerikanische Beziehungen Geteiltes Deutschland Innere Entwicklung der DDR Wirtschaftswunder Lebensverhältnisse Wirtschaft und Gesellschaft Wandel der SPD Bundestagswahl ’61 „Spiegel“-Affäre Rücktritt Adenauers
Kontinuität und Wandel: Aufbruch und Protest 1963–1974 1 Bundestagswahl ’65 2 Große Koalition 3 Krise an der Ruhr 4 Ausländische Arbeitnehmer 5 NS-Prozesse 6 Gesellschaft im Wandel 7 Fernsehwelt 8 Außerparlamentarische Opposition 9 Weltpolitische Rahmenbedingungen 10 Fortschrittsglaube 11 Deutsch-deutsche Annäherungen 12 Von Ulbricht zu Honecker 13 Bundestagswahl ’69 14 Neue Ostpolitik 15 Olympische Spiele 16 Bundestagswahl ’72 Neue Herausforderungen 1974–1989 1 Weltwirtschaftliche Entwicklungen 2 Bundestagswahlen ’76 und ’80 3 Wirtschaft im Wandel 4 Linksterrorismus 5 Politik in der Bewährung 6 Umwelt 7 Schatten der NS-Vergangenheit 8 Bundestagswahlen ’83 und ’87 9 Deutsch-deutsche Beziehungen 10 Wandel im Osten 11 Fall der Mauer
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Deutsche Einheit und globale Herausforderungen 1989–heute 1 Der Weg zur Einheit 2 Aufbau Ost 3 Bundestagswahlen ’90 und ’94 4 Hauptstadt Berlin 5 Rechtsextremismus 6 Stasi-Vergangenheit und Ostalgie 7 Bundestagswahl ’98 8 Heimat für Ausländer 9 Neue Außen- und Sicherheitspolitik 10 Globalisierung 11 Zeitinsel 12 Panoramawand“ (Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2002: Klappentext).
Das Lebensweltliche aus Ost und West überkreuzt sich mit der Strukturgeschichte und belebt diese Erzählung. Die „Highlights“ des Museums sind einzelne Inszenierungselemente: Adenauers Mercedes stiftet einen lebensweltlichen Bezug zu der bekannten Politikerpersönlichkeit (Hütter 2003). Die italienische Eisdiele der 1950er Jahre eröffnet der Alltags- und Populärkultur dieser Zeit eine Bühne. Die Installation eines begehbaren „Rosinenbombers“ zu Beginn der Ausstellung suggeriert, Geschichte sei im Haus tatsächlich räumlich erfahrbar. Im Untergeschoss ist der Salonwagen der Bundeskanzler aus den 1950er Jahren zu besichtigen. Zwischendrin beschwören Konsumartikel in zeittypischem Design aus Ost und West, zwischen Sandmann, Gartenzwerg, Ampel-, Heinzelmännchen, Elvis und BravoJugendkult die Alltagskultur verschiedener Jahrzehnte herauf. Das HdG nutzt die Mittel zeitgemäßer musealer Inszenierung, um Geschichte für jedermann zugänglich zu machen und gerade für Jugendliche eine Möglichkeit darzustellen, Geschichtsinteresse zu wecken. Dementsprechend ist der Eintritt in dieses Ausstellungshaus frei.
3.3 E IN N ATIONALMUSEUM IM EUROPÄISCHEN K ONTEXT : DHM Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeichnet sich dadurch aus, dass der Ausdruck „Nationalmuseum“ bei der Namensgebung bewusst vermieden wurde (Beier-de Haan, 2005: 78). Mommsen (1986: 19) verweist mit Blick auf die Planungen zum DHM darauf, dass es aus gutem Grund kein nationalhistorisches Mu-
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seum in Deutschland gegeben habe, da man diese „Veranstaltungen“ in sozialistischen Ländern und Nationalstaaten mit einer nachholenden Nationenbildung zur geschichtlichen Legitimierung ihres Daseins antreffe. Ein Nationalmuseum wird jedoch nicht allein dadurch zu einem solchen, dass man diesen Terminus verwendet. Seit 1989 scheint sich Deutschland aber, interpretiert man die seitherigen Museumsgründungen als Indikatoren, in einem nachholenden Nationenbildungsprozess mit europäischer Ausrichtung zu befinden. Man schreibt nun die deutsche Historie über eine zweitausendjährige Zeitspanne, bezieht sich zu Beginn der Ausstellung auf das Heilige Römische Reich (Deutscher Nationen) und verfestigt damit erneut, wenn auch heute indirekt durch den Bezug auf das antike Rom, einen Anspruch auf Universalherrschaft, der damals so „deutsch“ dann letztlich doch noch nicht war, im DHM aber genauso inszeniert wird, denn einzig der Fokus auf Deutschland hält in der Ausstellung des DHM latent, aber dafür sehr souverän und zugleich selbstgewiss wirkend die Vielfalt europäischer Geschichte zusammen. Erstaunlich bleibt, dass die Ausstellung sich mit ihrem Anfang vor 2000 Jahren gerade derselben, tradierten und etablierten Techniken der Demonstration nationaler Souveränität bedient, wie sie zu Zeiten des Nationalmuseums üblich waren, und diese nationale Selbstbespiegelung allein „europäisch“ umetikettiert. Das Museum soll ein „…Ort der Selbstbesinnung und der Selbsterkenntnis durch historische Erinnerung sein. […] Das Museum soll mit den ihm eigenen Mitteln den Wissens- und Erfahrungsbestand der Besucher bereichern, ihre historische Vorstellungskraft anregen und ihnen selbständige Urteile erleichtern. […] Durch die Vorgehensweise entsteht ganz bewusst keine lineare oder zielgerichtete Darstellung historischer Prozesse, wie sie in vielen Nationalmuseen des 19. und 20. Jahrhunderts dargeboten wurde, sondern eine epochenspezifisch differenzierte, historischkritische Nachzeichnung der vielfältigen Verläufe, der Kontinuitäten, aber auch der Brüche und Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte“14 (Beier-de Haan, 2005: 81; Ottomeyer, Czech, 2006: 10).
Das Museum soll eine Geschichtskultur darstellen, aus der eine kulturelle Praxis der Weltbewältigung und Selbstverständigung, eine Zukunftsperspektive und eine deutsche Identität im europäischen Kontext gewonnen werden (Rüsen, 1994). Die Sachverständigenkommission aus 14 Wissenschaftlern kam überein, dass es das Geschichtsbild in einer pluralistischen Gesellschaft nicht gebe und daher konkurrierenden Geschichtsbildern Raum zu geben sei (Beier-de Haan, 2005: 81). Die Ausstellung würde im Gegenteil gängige Geschichtsbilder in Frage stellen (Beier-de Haan, 2005: 83). Der Direktor des Museums, Ottomeyer (2006: 9), spricht von 14 http://www.dhm.de/ausstellungen/staendige-ausstellung/index.html (Stand vom 01.02.2009).
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einer Multiperspektivität der Ausstellung in Abhängigkeit von den jeweils aufgeworfenen Fragen. Das DHM wurde 1987 auf Initiative des Bundes und des Landes Berlin gegründet. Die Leitlinien der Konzeption wurden von Sachverständigen entwickelt und bildeten die Grundlage für eine eigene Sammlung. Die Wiedervereinigung 1990 führte zu einer Zusammenführung der Bestände mit denen des DDR-Museums für deutsche Geschichte (MfdG) im Zeughaus des ehemaligen Ostteils der Stadt. Das seit 1952 bestehende MfdG hatte den Auftrag, ein auf dem historischen Materialismus beruhendes Geschichtsbild zu repräsentieren, dass den Bürgern der DDR ein sozialistisch geprägtes Nationalbewusstsein vermitteln sollte (Ottomeyer, Czech, 2006: 7). Diese Bestände wurden mit der Sammlung des Museums der Deutschen Geschichte, seinem Gegenpart im Westen der Stadt, zusammengeführt. Die Sammlung des DHM beruht gegenwärtig auf verschiedenen Sammlungsbeständen, die zu einer „Schatzkammer“ zusammengeführt werden konnten. Beeindruckend an dieser Schatzkammer ist, wie laut sie schweigt. Jan und Aleida Assmann (1994: 125) schreiben, es werde oft gesagt, Geschichte werde von Siegern geschrieben, doch ebenso gut könne es heißen, Geschichte werde von den Siegern vergessen. Ernst (2000: 33) kritisiert die zu museologisch gedachte Idee, die Dinge ohne Text auskommen zu lassen, da ein Exponat erst durch narrative Einbettung und nicht kontextlos zum Dokument werden könne. Das DHM vermeidet die Interpretation der 15 jüngsten Geschichte zugunsten einer rein museologischen Orientierung. Jede dieser Sammlungen sowie das Gebäude des Zeughauses entstanden vormals, um ein spezifisches nationales Bild Preußens und Deutschlands zu spiegeln (Vorsteher, 2006: 12ff). Die europäische Orientierung des jetzigen DHM ist der erklärte Versuch, sich von all diesem überholten Geschichtsverstehen durch die Öffnung des historischen Blicks abzusetzen. Im DHM stehen diejenigen Dinge im Zentrum, auf deren eigenständige Ausdruckskraft man vertraut. Die Präsentation des DHM sei eine dokumentierend argumentierende Ausstellung mit narrativen Elementen (Pieper, 2006: 28). Dokumente sind, im Unterschied zu Zeugnissen, Motivation zu einer rationalen, systematischen und distanzierten Auseinandersetzung, während ein Zeugnis emotionalisiert und Erinnerungen evoziert (Beier-de Haan, 2005: 143). Die Exponate sollen von den Besuchern selbst als Zeugnisse gelesen und verstanden werden; der Besucher solle sich auf die Sprache der Dinge einlassen. Die Exponate seien jedoch bewusst
15 Vgl. die Kritik von Huyssen (1995: 52) am Umgang deutscher Intellektueller mit der jüngsten Geschichte. Es werde vergessen, dass auch der Faschismus ein Versuch war, Europa zu vereinen; die Wiedervereinigung verschärfe die(se) Frage nach der Nation (Huyssen, 1995: 72f).
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kontextualisiert, um sich von einer formalästhetischen Isolierung historischer Stücke abzusetzen. Das Museum bietet ein dreigliedriges Informationssystem, das unterschiedliche Vertiefungsniveaus von Informationen durch die Besucher erlaubt. Informationssäulen informieren über die Meilensteine in der Chronologie der Epochen, Texte bieten Informationen zu Ort und Zeit, Statistiken zur Sozialstruktur; Informationen zu Wirtschaft und politischer Herrschaft bieten neben den Exponaten weitere didaktisch geleitete Vertiefungsoptionen. Ein Hauptgang leitet an den Epochen entlang und eröffnet Gänge als Themen- und Vertiefungsräume (Ottomeyer, Czech, 2006: 9ff). Die Exponate sind nicht zur Illustration gedacht, sondern sollen als Indizien des Geschichtsprozesses fungieren (Ottomeyer, Czech, 2006: 11). So begegnet das DHM dem Problem, dass letztlich die jahrzehntelang nationalstaatlich geteilte europäische Geschichte nicht im Nachhinein gänzlich umgeschrieben werden sollte, um der gegenwärtig politisch gepflegten Perspektive eines gemeinsamen Europas zu entsprechen. Ist Geschichte immer konstruiert, können Museen zwar auch eine europäische Kultur und Geschichte als Rahmen erfinden, wie Hobsbawm und Ranger (1983) in „The invention of tradition“ veranschaulichen, da sich Tradition über Rituale und Symbole stabilisiert. Die Nation, oder in diesem Fall der übergeordnete Staatenbund Europa, generiert Symbole, die Legitimität schaffen (Assmann, 1999c: 86). In der Geschichtsinterpretation eindeutig einen relativ homogenen europäischen Kontext zu kreieren und dabei zu stark von einer nationalen territorialen Differenzierung zu abstrahieren, geriete allzu leicht unter Ideologieverdacht. Je stärker das DHM Dokumente und historische Originale in den Vordergrund der Präsentation rückt, um so legitimer und glaubwürdiger kann der Balanceakt erscheinen, die national separaten Geschichtsschreibungen der europäischen Moderne zu Beginn des dritten Jahrtausends wieder zu einem größeren europäischen Geschichtskontext zusammenzuziehen. Geschichte wird zu einer europäischen verdichtet, und dazu werden in der Interpretation die für die Moderne grundlegenden nationalen Differenzen überbrückt. Je stärker die historisch-wissenschaftliche Ausrichtung der Ausstellung betont wird, desto mehr tritt die generelle Interpretations- und Auslegungsbedürftigkeit der Historie zurück, und dem Besucher stellt sich die „neue“ deutsche Geschichte im europäischen Kontext umso glaubwürdiger und authentischer dar (Husband, 1992: 1f). Die dokumentarische Argumentation mit historischen Zeugnissen und Relikten scheint sich am ehesten an Tatsachen zu halten und trotzdem durch die Art der Zusammenstellung, Thematisierung und Kontextualisierung die Verwobenheit der je nationalen Geschichten innerhalb Europas herauszustellen. Die Dauerausstellung des DHM erzählt seit Mai 2006 zweitausend Jahre deutscher Geschichte als politische Verflechtung, Konstitution der europäischen Mächte und kulturelle Durchdringung. Die Ausstellung ist als Folge chronologisch angeordneter Epochenbereiche strukturiert. Aspekte der Kultur-, Mentalitäts- und Ideen-
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geschichte wurden mit den ereignisgeschichtlichen Darstellungen eng verwoben (Ottomeyer, Czech, 2006: 9ff). Der groß angesetzte Zeitrahmen der Ausstellung erlaubt hier, dem „Deutschen“ eine kulturell-sprachliche Wendung und einen territorial-politischen Sinn zu verleihen, selbst wenn ein Ausstellungselement, eine medial animierte Karte im Foyer des Zeughauses, die historischen Verschiebungen des Territoriums im Laufe der Zeit anzeigt. Das DHM stilisiert beides – Kultur und Politik – als historisches Beeinflussungs- und Durchdringungsgeflecht, was es erlaubt, die deutsche Geschichte als europäische zu erzählen. Zugleich kommt dem DHM damit die Aufgabe zu, die deutsche Teilung zu überwinden, was im Gegensatz zum zeitgeschichtlichen Fokus des HdG mit diesem Zeitrahmen einfacher gelingt. Gegenüber dem JMB verzichtet das DHM deutlich darauf, Normen oder Wertvorstellungen nahe zu legen, und setzt demgegenüber eher auf die Identitätssuche der Besucher (Beier-de Haan, 2005: 109). Im Folgenden soll versucht werden, die Dauerausstellung des DHM anhand der Darstellungen auf der Homepage des Museums nachzuerzählen, zugleich weiter zusammenzufassen und auf die Art der thematischen Präsentation hin zuzuspitzen. Die Besonderheiten der Museen erfordern, den Charakter und das Konzept der jeweiligen Dauerausstellung auf eine bestimmte Art und Weise zu beschreiben. Im Hinblick auf das DHM bietet es sich an, die thematische Darstellung hervorzuheben. Darüber hinaus die gerade um dieses zentrale deutsche Nationalmuseum umfassend geführten Debatten zu berücksichtigen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und gegen die Intention verstoßen, sich in der Beschreibung weitgehend 16 an die Selbstdarstellungen der Häuser zu halten. 1. Jh. v. Chr.–1500: Frühe Kulturen und Mittelalter Die Ausstellung beginnt mit dem Vordringen der Römer, das im 1. Jahrhundert vor Christus die politische und kulturelle Eigenständigkeit der Kelten und Germanen in Mitteleuropa beendete. Dies gründet deutsche Geschichte auf antike Wurzeln bei zeitgleicher Betonung kultureller Besonderheit aufgrund der frühen Prägung durch die deutschen Stämme. Die Durchdringung der keltischen und germanischen Kultur mit zivilisatorischen Errungenschaften, beim Übergang der Herrschaft auf die Franken dann mit Bildung, Recht und Kunst, erzählt eine politisch bestimmte Kulturgeschichte. Eine derartige Ausstellungseröffnung verspricht, Geschichten zu erzählen, die die europäische Verwobenheit der politischen Geschichte Deutschlands mit einem Fokus auf kulturgeschichtliche Einflüsse aufzeigen.
16 Vgl. http://www.dhm.de/ausstellungen/staendige-ausstellung/gliederung.html (Stand vom 01.02.2009).
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1500–1650: Reformation und Dreißigjähriger Krieg Die im Reformationskrieg politisch werdende Rolle der Religion wird in der Präsentation hervorgehoben. Das Thema des Krieges um die christlichen Konfessionen bietet die Chance, die deutsche Kulturentwicklung erneut als eine europäische einzubetten. Die Neuzeit wird als eine Periode herausgestellt, in der der Konflikt um kulturelle Werte militärisch und machtpolitisch ausgetragen wurde. 1650–1789: Vormacht und deutscher Dualismus in Europa Die Periode des Absolutismus mit der Unterteilung des Territoriums des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in viele Kleinstaaten wird u.a. als das Ringen Österreichs und Preußens um die Vormacht in Europa dargestellt. Als Ausgangspunkt des Erbfolgekrieges nach 1740 steht die Entstehung der fünf Großmächte Europas: England, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland. Diese Darstellung muss den Schwerpunkt stärker zugunsten des Militärisch-Politischen verschieben. Sie kann aufgrund der Quellenlage und Sammeltätigkeit vor allem die Relikte der Adelsgeschichte dieser Zeit präsentieren, erhält die Chance, die von Deutschland ausgehenden Konflikte in ihrem Sinn für die politische Konstitution eines Gesamteuropas hervorzuheben. 1789–1871: Französische Revolution bis zweites deutsches Kaiserreich Spätestens die Französische Revolution, die damit einhergehende Aufklärung mit ihrer Orientierung an vernunftrechtlichen Normen in Deutschland, die unter französischer Herrschaft realisierten Reformen sowie dann die Napoleonischen Kriege eignen sich thematisch, die für Europa typische Durchdringung militärischpolitischer Fragen mit kulturellen Entwicklungen hervorzuheben. Nach der Wiederherstellung der Monarchie durch konservative Kräfte auf dem Wiener Kongress ist die territoriale Ordnung Europas zunächst festgelegt. Kulturelle Einflüsse initiieren die langfristigen Veränderungen und die für die späte Neuzeit charakteristischen Prozesse der Demokratisierungen und Liberalisierungen. Zugleich beginnt die Industrialisierung. Das Bevölkerungswachstum beschleunigt die Urbanisierung, was alles in allem die Ausbreitung und Emanzipation einer bürgerlichen Schicht ermöglicht. Die Revolution von 1848/49 mündet in eine Periode, die vordringlich die nationale Bewegung stärkt. Erst nach weiteren Kriegen zwischen Preußen, Österreich und Frankreich wird in Deutschland der Nationalstaat als demokratische, aber konstitutionelle Monarchie gegründet. 1871–1918: Kaiserreich und Erster Weltkrieg Mit der Darstellung der autoritären bismarckschen Innenpolitik rückt die Sozialstruktur in Deutschland nun stärker in den Fokus der Dauerausstellung. Zugleich wird die Darstellung von Bismarcks außenpolitischer Bündnispolitik verwendet, um als Ansatzpunkt die Konfliktlage des Ersten Weltkriegs zu erläutern. Der deutsche
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Kaiser strebt nach innereuropäischer Geltung des bevölkerungsreichen Deutschlands. Der Krieg konnte sich als Stellungskrieg erstmals moderner Waffen bedienen und lässt sich als Ausdruck der neuen europäischen machtpolitischen Konkurrenz interpretieren, die im Wettrüsten mit wirtschaftlichen Mitteln ausgetragen wurde. 1918–1933: Weimarer Republik Die Zeit der Weimarer Republik wird einerseits in ihrer demokratisch-politischen Zersplitterung in Kleinstparteien, bestimmt von politischen Extremen, dargestellt. Andererseits wird diese Phase als Blütezeit von Kunst und Kultur herausgestellt. 1933–1945: NS-Regime und Zweiter Weltkrieg Der Nationalsozialismus gilt der Dauerausstellung als Staat und Diktatur unter Adolf Hitler. Die Periode von 1933 bis 1945 wird entsprechend dem Ausstellungskonzept als primär politische Entwicklung präsentiert, die in den Zweiten Weltkrieg mündet. Die Verfolgung politischer Gegner, die Vernichtung der Juden, Sinti und Roma sowie deren Ausgrenzung aus der Gesellschaft finden eher am Rande Berücksichtigung. 1945–1949: Deutschland unter alliierter Besatzung Der mit dieser Überschrift bezeichnete Gliederungspunkt beschreibt eine überraschend kurze Zeitspanne, deren Endpunkt den Beginn des Kalten Krieges markiert. Dieser wird als Scheitern der gemeinsamen alliierten Besatzungspolitik geschildert. Diese Phase als nur vier Jahre andauernde Periode auszulegen, erlaubt es, die Geschichte des geteilten Deutschlands stärker hervorzuheben. Eine Auseinandersetzung mit dem je verschiedenen kulturellen Einfluss der Besatzer wird tendenziell zugunsten einer Deutschland als Ganzes integrierenden Perspektive vermieden. Bemerkenswerterweise repräsentiert der Ausstellungskatalog, anders als die Homepage, eine Gliederung, die diese Periode von 1945 bis 1994 ansetzt, was näher liegend als diese recht kleinteilige periodische Stückelung erscheint. 1949–1994: Geteiltes Deutschland und Wiedervereinigung Die Geschichte des geteilten Deutschlands wird wesentlich als Abgrenzung des DDR-Regimes von der demokratisch-föderal verfassten Bundesrepublik geschildert, die schließlich aufgrund von Planwirtschaft, Staatsverschuldung und Einparteienherrschaft 1989 in das Ende der DDR mündete und 1990 ihren Beitritt zur 17 BRD besiegelte. Der Abschluss der Präsentation soll eine Perspektive auf die
17 Vgl. http://www.dhm.de/ausstellungen/staendige-ausstellung/gliederung.html (Stand vom 01.02.2009).
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Gegenwart eröffnen und ist geprägt von neu erworbenen Exponaten und den aktuellsten Nachrichten (Ottomeyer, Czech, 2006: 9). Die zeitlich-thematische Gliederung des DHM zeigt an, welche Prozesse als relevant erachtet werden und welche historischen Perspektiven und Entwicklungen als peripher ausgeklammert werden. Multiperspektivität der Geschichtsdarstellung meint hier vor allem, spezifische nationalstaatliche Perspektiven in Europa zu überwinden und weniger, verschiedene Bevölkerungsschichten oder soziale Klassen und ihre jeweilige Geschichte aus ihrer eigenen Sicht zu schildern. Selbst wenn die Präsentation sich der Reproduktion eines klar umrissenen Geschichtsbildes enthält, lässt sich dieser Schilderung zumindest ex negativo entnehmen, welche Geschichtsinterpretationen vermieden werden. Beispielsweise macht die Ausstellungsgliederung eine Kritik an der der deutschen Wiedervereinigung vorangehenden Besatzungspolitik der (West-)Alliierten unwahrscheinlich. Tatsächlich zeigt sich das DHM bemüht, durch seine dokumentarische Ausstellungspraxis dem Publikum die Wahl einer u. U. zusammenhängenden Geschichtsinterpretation stärker selbst zu überlassen. Was als eigene Stärke vom DHM herausgestellt wird, lässt sich jedoch zugleich als seine Schwäche kritisieren, weil der Ausstellung zwischen den Dokumenten jegliche Art der Positionierung fehlt, über die diskutiert werden könnte. Insbesondere angesichts eines „beredeten Schweigens“ aufgrund der Fülle an Dokumenten fällt es wohl den meisten Besuchern schwer, eine eigene, differenzierte Geschichtsperspektive zu konstruieren oder diese zu aktualisieren.
3.4 L OKALE ,
REGIONALE
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IN
E UROPA : MHU
Das Historische Museum am Hohen Ufer (MHU) präsentiert Bestände zur Geschichte der Stadt Hannover und des Landes Niedersachsen, des früheren Herrschaftsgebietes der Welfen. Es folgt dabei ähnlich dem DHM einem exponatzentrierten Ansatz, der weitestgehend die historischen Relikte als Dokumente des historischen Prozesses zu verwenden scheint und unterscheidet sich dahingehend von JMB und HdG, dass es weniger stark Geschichte erzählt als sie dokumentiert. Das 1901 gegründete Museum, zunächst als „Vaterländisches Museum“ verstanden, seit 1937 „Niedersächsisches Volkstumsmuseum“, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Den Wiederaufbau durchlief es unter dem Namen „Niedersächsisches Hei18 matmuseum“, um dann 1966 wiedereröffnet zu werden. Als Städtisches Museum verfügt es zunächst über keinen eigenen Internetauftritt, sondern wird auf der Website der Stadt Hannover präsentiert und beschrieben. Eine Vorstellung des Hauses 18 http://de.wikipedia.org/wiki/Historisches_Museum_Hannover (Stand vom 01.02.2009).
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findet sich auch, dort eingepflegt durch das Museum selbst, in der InternetEnzyklopädie Wikipedia. Die unterschiedlichen Namen des Hauses deuten bereits die Ausrichtung seiner Präsentation an, aber auch die unterschiedlichen Zeitschichten, die sich in der Ausstellung finden lassen. Der Dauerausstellung des Museums merkt der Besucher an, dass sich verschiedene Kuratoren und Direktoren am Aufbau der Sammlung beteiligten. Je nach Ausrichtung der Sammlung und je nach den Ausstellungsmoden der jeweiligen Jahrzehnte fanden andere historische Relikte Eingang in den Bestand des Hauses, wurden mit Beschriftungen versehen und je nach didaktischem Ansatz in die Exposition integriert. Die Sammlung des Museums gliedert sich in drei Abteilungen: Abteilung 1 – Hannover: Vom Fürstentum zum Königreich Die Abteilung Landesgeschichte zeigt die Entwicklung vom Fürstentum Calenberg (um 1600) bis zum Ende des Königreichs Hannover 1866. Abteilung 2 – Hannover: Vom Marktflecken zur Messestadt Über einen Zeitraum von 750 Jahren entwickelte sich Hannover von der Siedlung to den hogen overen zur Großstadt Hannover. Die Abteilung Stadtgeschichte zeichnet den langen Weg von der mittelalterlichen Landstadt zur Großstadt in einem zeitlich gegliederten Rundgang nach. Abteilung 3 – Hannover: Leben auf dem Lande Dargestellt wird hier, wie die Landbevölkerung der Region Hannover bzw. Niedersachsens vom 17. bis zum 20. Jahrhundert gelebt hat.19 Sonderausstellungen zu speziellen Themen (etwa ein halbes Dutzend pro Jahr) und zahlreiche Veranstaltungen ergänzen das Angebot.20 Die Exponatausstattung wird im Internet weiter folgendermaßen beschrieben: Zahlreiche Objekte, Modelle und Inszenierungen führen in chronologischer Folge durch fünf Jahrhunderte Kulturgeschichte. Kostbarkeiten aus öffentlichem und privatem Besitz, Kleidung, Wohnräume, Stadt- und Hausmodelle, Fahrzeuge vom Laufrad bis zum berühmten „Kommissbrot“ sowie eine Fülle von Alltagsgegenständen veranschaulichen die vielfältigen Facetten des städtischen Lebens. Faszinierende Objekte illustrieren die ehrgeizige Politik der Fürsten und Herzöge und das kulturelle Leben am Hannover’schen Hof. Nicht zuletzt die einzigartigen Kutschen im Erdgeschoss des Museums versetzen die Besucher in die Welt des Adels 19 http://de.wikipedia.org/wiki/Historisches_Museum_Hannover (Stand vom 11.02.2011). 20 http://www.hannover.de/de/kultur_freizeit/museen/museen/mus_all/mus_hist/hist_sta.html (Stand vom 14.12.2007).
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und in jene Zeit, in der die Königreiche Hannover und Großbritannien von den Welfen regiert wurden. Ein außergewöhnliches kulturgeschichtliches Dokument dieser Jahre ist das Gemälde „Die Revue bei Bemerode“. Es zeigt auf der beeindruckenden Breite von 8,08 m eine Militärparade mit über 2.500 Figuren. Die Abteilung Leben auf dem Lande in der zweiten Etage bietet Einblicke in das Leben der Landbevölkerung Niedersachsens vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Modelle niedersächsischer Bauernhäuser, Geräte aus Ackerbau und Viehwirtschaft sowie die vielfältige Trachtensammlung machen die Veränderungen des traditionellen Landlebens durch Technisierung und Industrialisierung deutlich.21 Bei diesem Museum steht deutlich die Exponatpräsentation im Vordergrund des Ausstellungsinteresses und durchzieht die verschiedenen thematischen Schwerpunkte. Das Museum ist architektonisch in die mittelalterliche Stadtbefestigung integriert. Es wirbt mit dem Beginenturm. Dieser ist Teil des herzoglichen Zeughauses mit seiner hohen Bruchsteinmauer zum Hohen Ufer hin, bei der es sich um Reste der Stadtmauer handelt. Gegenüber dem Museum liegt die „Traditionsinsel“ der historischen Altstadt Hannovers. Der Museumsbau wurde 1964–1967 vom Architekten Dieter Oesterlen als Neubau errichtet. Im Jahre 1991 wurde er umgebaut und 2002 erfolgte eine Neugestaltung der einzelnen Abteilungen. Dies betraf die Abteilung Landesgeschichte im Erdgeschoss und einen Teil der Stadtgeschichte in der ersten Etage. Die Werbung der Stadt für das Museum im Internet betont die Bezüge zur lokalen Geschichte und knüpft dabei an das Alte an: „Schon der Ort, an dem das Museum steht, ist eng mit der Historie Hannovers verbunden: Hier vom hohen Ufer der Leine, das dem jungen ‚honovere‘ wohl auch den Namen gab, ging um 1100 die Gründung der Stadt aus“ (Hervorh. i. Orig.).22
Das Museum profitiert touristisch von in unmittelbarer Umgebung gelegenen städtischen Fachwerkhäusern und von der Nähe des Holzmarktes mit dem rekonstruierten Leibniz-Haus. Historie erscheint in diesen Beschreibungen als etwas, das seinen Sinn durch Datierung erhält und durch die Beziehung zur Stadt. Demgegenüber verbindet die Architektur des JMB und des DHM, statt wie das MHU allein das Alte aufzuwerten, in zeitgenössischer Manier alte Architekturstile mit neuen Konzepten. Ein „Verein der Freunde des Historischen Museums“, der 2005 unter dem Motto „Mit Geschichte in die Zukunft“ sein 25-jähriges Jubiläum beging (Meschkat21 http://www.hannover.de/de/kultur_freizeit/museen/museen/mus_all/mus_hist/la_stage.html (Stand vom 14.12.2007). 22 http://www.hannover.de/de/kultur_freizeit/museen/museen/mus_all/mus_hist/hist_sta.html (Stand vom 14.12.07).
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Peters et al., 2005), unterstützt dessen Arbeit finanziell und ideell. Die inhaltliche Zielsetzung des Vereins liegt darin, das Museum bei der Sammlung und Erhaltung von Zeugnissen der Vergangenheit, bei der Forschungs- und Publikationstätigkeit sowie bei der Öffentlichkeitsarbeit finanziell und ideell zu unterstützen.23 In der Selbstdarstellung des Vereins der Freunde und Förderer erhält die Geschichte einen Bezug zur Zukunft, diese Art der Darstellung spart jedoch die Gegenwart aus. Der eigene Anspruch scheint tatsächlich Tradierung zu sein, d. h. Überlieferung von Altem, Vergangenem in die Zukunft. Die aktualisierende Vergegenwärtigung von Geschichte zu einem Nutzen in der Gegenwart taucht in diesem Konzept nicht auf. Um den Unterschied der zeitlichen Bezüge überzeichnend zu verdeutlichen, ließe sich sagen, das Museum setzt einen zweistelligen Unterschied zwischen Alt (oder Antik) und Neu. Demgegenüber sind die Konzepte des JMB, HdG und DHM deutlicher auf die Rekonstruktion von Geschichte für die Gegenwart ausgerichtet. Das JMB will als Minderheitenmuseum demokratische Orientierungen reproduzieren, das HdG einen gegenwärtigen Zugang zu Geschichte schaffen, Historie erlebbar machen und damit aktuelle Geschichtskultur fördern, und das DHM verfolgt das zeitgenössisch „neue“ Projekt, als deutsches Geschichtsmuseum nicht mehr nur gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen, sondern dies in einem europäischem Rahmen zu tun. Mit diesen drei neueren Museumspräsentationen findet somit eine dreistellige Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft statt; in den Selbstbeschreibungen des MHU wird nur zwischen Vergangenheit und Zukunft unterschieden. Dies ist ein deutlicher Unterschied. Die 2005 eröffnete Ausstellungsabteilung „Ritter, Bürger, Fürstenmacht“ führt erstmals Stadt-, Landes- und Regionalgeschichte zusammen. Dabei wird Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, denn Bürger und Bauer erlebten den Aufstieg Hannovers anders als der Landesherr. Mit dem unmittelbar vor dieser Untersuchung neu eröffneten Ausstellungsteil folgt diese Ausstellung dem Prinzip der Multiperspektivität der Geschichtsdarstellung, wie auch die anderen Museen. Zudem erzählt man die Landesgeschichte durchaus mit einem Blick nach Europa: „Das Augenmerk (liegt, V.S.) auf den glanzvollen Jahren zwischen 1714 und 1837, als das Kurfürstentum Hannover in Personalunion mit dem englischen Königreich verbunden war“24.
Darüber hinaus durchzieht der lokale Bezug das Museumskonzept durchgängig. Wie das Zitat belegt, ist es erst die europäische Verflechtung der Landesgeschichte, die familiäre Verbindung mit der englischen Monarchie, über die die Hannoveraner 23 http://www.hannover.de/de/kultur_freizeit/museen/museen/mus_all/mus_hist/histfreu.html (Stand vom 25.03.08). 24 http://webmuseen.de/Museum1659.html (Stand vom 25.03.08).
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Herrscher ein Zusätzliches an Bedeutsamkeit erhalten. An dieser Beschreibung können die Zeitschichten aus Ausstellungsmoden und dementsprechenden Konzepten deutlich werden, die die Präsentation durchziehen. Der volkskundliche Teil des Museums ist z. B. ein Ausstellungsbereich, der Geschichte „von unten“ erzählt. Der Blick thematisiert nicht nur von außen bäuerliches Leben auf dem Lande, sondern versucht sich in der Übernahme einer „Land“-Perspektive auf Geschichte. Ein dort ausgestelltes Bild stellt eine bürgerliche Städterin in der Zentralperspektive des Gemäldes dar, umrundet von Bauern. Der Blick auf das Bild fokussiert die Dame als Fremde und die Bevölkerung um sie herum ist peripher dargestellt, da aus bäuerlicher Sicht eher als alltäglich zu vernachlässigen. Die Perspektive scheint eine bäuerliche, nicht eine bürgerliche Sicht zu repräsentieren. Zum einen zeichnet sich das Museumskonzept also durch seine zeitlichen Bezüge aus: Das Museum unterscheidet zwischen Alt und Neu. Es folgt ansonsten einem chronologischen Aufbau. Die räumlichen Unterschiede, die das Museum durchziehen, bilden zunächst die soziale Differenzierung zwischen Stadt und Land und dann die Unterscheidung in der Geschichtsdarstellung zwischen politischer Landes- und Stadtgeschichte ab. Zudem werden die drei Perspektiven der sozialen Schichten, Unter-, Mittel- und Oberschicht bzw. Ritter (Bauern), Bürger, Fürstenmacht, voneinander getrennt, bzw. zeitgenössischen Ausstellungskonventionen entsprechend, im neu eröffneten Teil der Präsentation wieder zusammengeführt. Aufgrund der deutlich längeren Sammlungsgeschichte des Museums kann man der Ausstellung noch deutlich die unterschiedlichen Kriterien der Geschichtsdarstellung anmerken, wenn z. B. der Besucher im Obergeschoss einen volkskundlichen Teil vorfindet oder im Erdgeschoss den Prunk des Königshauses an den dort ausgestellten Kutschen abliest.
3.5 Z USAMMENFASSUNG
UND
A USBLICK
In den vorrangegangenen Abschnitten wurde in Bezug auf jedes einzelne der Museen der Erhebungen beschrieben, wie sie sich selbst als Geschichte ausstellend beschreiben. Dabei wurde mehr oder weniger ausführlich versucht, anhand der Selbstbeschreibung jedes Museums Merkmale herauszustellen, die sich im Sinne eines Wandels der Geschichtspräsentation im Sinne der oben skizzierten Museumsphänomene interpretieren lassen. Zeitgenössische Geschichtspräsentationen bevorzugen spezifische Zeitrahmen, die häufig vor der modernen Nationenbildung ansetzen oder aber die präsentierte historische Periode setzt, wie im HdG, erst zeitgeschichtlich mit den Folgen der modernen Brüche infolge der Nationenbildung ein. Im JMB, HdG und DHM findet der Besucher eine Darstellung der Geschichte mit offenem Ende. Alle Museen stel-
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len auf die eine oder andere Art und Weise Beziehungen zu Europa her. Variieren die jeweils behandelten Themen, wird aber auch der Holocaust, der sich in allen Präsentationen berücksichtigt findet, unterschiedlich interpretiert. Das ist ein zusätzlicher Indikator, dass die Geschichtsdarstellungen und damit sicherlich auch die Konstruktion historischer Zeit durch die museale Erzählung demzufolge voneinander abweichen. Ein weiterer Indikator liegt damit vor, dass die Ausstellungskonzepte sich verschiedener Präsentationsstile bedienen und natürlich Geschichte je abweichend mit ihren Exponaten inszenieren. Die Architektur dient in zweien der Ausstellungshäuser ebenfalls, mehr oder weniger deutlich und mit einer je anderen Textur, der Kommunikation und Repräsentation von Geschichte. Damit ist begründet davon auszugehen, dass Geschichte und historische Zeit in den Dauerausstelllungen der Museen abweichend konstruiert und unterschiedlich zu verstehen sein werden. Im Folgenden werden die Besucher der Museen eingeführt. Bei derart verschiedenen Museumskonzepten ist zu erwarten, dass auch in der Mischung der Zielgruppen, die jedes Ausstellungshaus anzieht, die je spezifischen Kommunikationsangebote jedes Ausstellungshauses spiegeln. Das nächste Kapitel wird zu einer knappen Einführung zum Stand der Besucherforschung genutzt (Abschnitt 4.1). Liegen verschiedene mehr oder weniger aktuelle und umfassende Einführungen zur Besucherforschung vor, ist eine solche in diesem Rahmen selbst nicht zu leisten. Es erfolgt aber ein Überblick, der mit der Geschichte der Besucherforschung eher deren Anfänge hervorhebt (Abschnitt 4.1.1). Da konkrete Besucherforschungsstudien zumeist nicht erscheinen, lässt sich eher Allgemeines zum Stand in den visitor studies sagen (4.1.2), Typen von Evaluationen voneinander abgrenzen (4.1.3), die dabei eingesetzten Methoden vorstellen (4.1.4) sowie auf die wenigen konkreten Untersuchungen eingehen, die auch publiziert wurden (4.1.5). Im Anschluss daran sollen in einem Abschnitt die hier vorliegende Untersuchung und ihr Erhebungsdesign vorgestellt werden (4.2). Im Anschluss lassen sich die mit standardisiert und offenen Fragen erhobenen Befunde nutzen, um Porträts des jeweiligen Besuchspublikums nachzuzeichnen (4.3).
4
Die Besucher
Sich mit dem Geschichtsverstehen der Besucher eines Museums zu befassen, erfordert zunächst einmal, sich die Zusammensetzung eines Besuchspublikums zu vergegenwärtigen und die für die differenzierten Adressatengruppen verwendeten Begriffe einzuführen.
4.1 Z UM S TAND
DER
B ESUCHERFORSCHUNG „Ask a museum professional to describe a museum, and most likely he or she will describe the collections, the educational programs, or the institutional history. Ask the visitor, and likely as not he will mention any of these. Instead, visitors will say: ‚It’s a nice place to take children to show them their heritage,’ or ‚The museum is a wonderful place to take out-of-town visitors. It’s interesting, inexpensive, and fills up a day,’ or ‚The museum is a quiet place where I can escape from the work-a-day world’“ (FALK, DIERKING, 1992: 83).
Empirische Untersuchungen zu Kulturnutzern in der Sparte Museum lassen sich grundsätzlich danach unterscheiden, ob sie a) das Publikum oder b) die Besucher eines Museums betreffen. Der Begriff der Publikumsforschung lässt sich von dem des englischsprachigen audience research ableiten: „Publikumsforschung beschäftigt sich entsprechend sowohl mit den Besuchern vor Ort als auch mit den nicht anwesenden Adressatengruppen. Der häufig zu findende Begriff Besucherforschung deckt daher nur das Teilgebiet der Publikumsforschung ab, das sich dem er-
146 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN reichten Publikum zuwendet. Die nicht erreichten Adressaten hingegen werden mittels Nichtbesucherforschung im Rahmen der Markt- und Marketingforschung näher erkundet“ (Reussner, 2010: 8).
Den Begriff des „Besuchspublikums“ werde ich weiterhin verwenden, um gegenüber dem breiten Publikumsbegriff, der sich auf die Adressaten aller Kommunikationen eines Museums (Ausstellen, Vermitteln, inklusive Öffentlichkeitsarbeit, Marketing) bezieht, einen engeren Besuchspublikumsbegriff zur Verfügung zu haben. Als Besuchspublikum fasse ich diejenige Gruppe von Besuchern, die aufgrund ihrer Anwesenheit in einem Museum nachweislich als Adressaten der Ausstellungskommunikation gelten können. Demgegenüber wäre im Einzelnen zu prüfen, ob die öffentlich-massenmediale Kommunikation eines Ausstellungshauses tatsächlich sein Publikum (inklusive der „Nichtbesucher“) erreicht. Für das Besuchspublikum als die für Besucherforschungsstudien relevante Klientel wird das Verlassen der Dauerausstellung als eindeutiges Kriterium für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gefasst. Bei der Sichtung der Fachliteratur waren keinerlei Untersuchungen mit einem ähnlichen Thema auffindbar. Die Besucherforschung beschäftigt sich weniger mit Fragen, was Museen tun, wenn sie Geschichte ausstellen, als damit, was und wie Besucher lernen, wie sie auf das Haus aufmerksam werden, was sie präsentiert vorfinden und anhand welcher soziodemographischen Merkmale und aufgrund welchen Besuchsverhaltens sich die Besucher differenzieren lassen. Dafür greifen Evaluationen auf ein Standardrepertoire etablierter Methoden der Sozialforschung zurück. Dies dient sicherlich der Vergleichbarkeit konkreter Ergebnisse für praktische und anwendungsorientierte Frage- und Problemstellungen, doch lässt ein solcher Rückgriff auf Bewährtes kaum eine innovative Erweiterung der Forschungsperspektiven zu. 4.1.1 Geschichte der Besucherforschung Ein Hauptteil der Besucherforschungsstudien der letzten Jahrzehnte wurde in den USA durchgeführt (Klein et al., 1981: 59; Shettel, 1996). Dort begann in den 1920er Jahren die erste Besucherforschung – zunächst in Anwendung behavioristischer Theorien – auf Basis einer Beobachtung von Besuchern. Reussner (2010: 11) spricht davon, dass Evaluationsstudien ihre Hochkonjunktur in den 1960er Jahren in den USA gehabt hätten. Die Art der Finanzierung der amerikanischen Museen durch private funding beförderte dort eine rasche Entwicklung der Museumsevaluation (Hooper-Greenhill, 1994: 56). Zunächst wurden die visitor studies in Großbri-
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tannien aufgegriffen, eine Entwicklung und Orientierung am Besucher, wie sie in Europa bislang immer noch fehlt. Die Stichworte „Disneyfizierung“ der Museen oder die Kritik an der „Heritage Industry“ (Molyneaux, 1994), mit denen in Deutschland Museumskonzepte kritisiert werden, können veranschaulichen, dass einige der Grundkoordinaten der jeweiligen Museumslandschaft in den USA und Großbritannien gegenüber Deutschland anders gesetzt sind. Die kulturellen und musealen „Koordinaten“, die Bedingungen, auf die die Besucherforschung in den USA und Großbritannien trifft, sind kaum mit Deutschland vergleichbar. In den USA ist Kultur nicht durch öffentliche Finanzierung gedeckt. Die Vergabe von Sponsoringgeldern ist somit gleichermaßen an zu erfüllende Erwartungen der Geldgeber bzgl. eines Marketingerfolgs oder einer Imagewirkung gekoppelt wie an die deshalb zu überprüfende Akzeptanz durch ein Publikum. Publikumsorientierung und pädagogische Angebote begleiteten dort von Beginn an in einer größeren Selbstverständlichkeit den Ausbau von Museen (Reussner, 2010: 7). Die Orientierung am Erleben des Besuchers war damit immer schon zentraler, wie insbesondere die aus den USA stammenden (neo-)institutionalistischen Ansätze und die für sie konstitutive Beziehung zwischen Institution und ihrem Organisationsumfeld belegen (DiMaggio, 1991). Das Stichwort „Disneyfizierung“ bringt demgegenüber die in Deutschland virulente Befürchtung zum Ausdruck, eine größere Orientierung an den Konsum- und Unterhaltungsinteressen der Besucher könne sich negativ auf die Bildungsorientierung der Häuser auswirken. In Großbritannien ist die Lage wiederum anders: hier haben Museen explizit kulturpolitisch die öffentliche Rolle zugewiesen bekommen, aktiv zur social inclusion und der Aufgabe des Bewahrens, des Heritage im post-kolonialen und multiethnischen United Kingdom beizutragen. Von Interesse für Besucherstudien in Großbritannien sei es somit, die soziale Identität von Museen (Loomis, 1996: 35) in einer Gesellschaft zu bestimmen, Alleinstellungsmerkmale zu identifizieren und auch der Frage nachzugehen, wie die soziale Aufgabe von Museen in der Gegenwart bewertet wird (Loomis, 1973: 22; Prince, 1990: 166). Die von diesen Studien verfolgte Frage ist, wer ins Museum kommt und wie sich die Museumsklientel von Nichtbesuchern unterscheidet. Der Anspruch ist dabei, möglichst viele Bevölkerungsgruppen und kulturelle Identitäten im Museum zu repräsentieren. Entsprechend sind hier umfangreichere Ressourcen für diverse Museen vorhanden und auch den visitor studies kommt eine große Bedeutung bei der Ausstellungsplanung, dem Qualitätsmanagement und der Erfolgskontrolle in den Häusern zu. Von der Vorreiterrolle in den USA und Großbritannien profitiert die deutschsprachige Besucherforschung. Denn die Ergebnisse der Besucherforschung gelten über gewisse Zeiträume als stabil und international recht ähnlich (McManus, 1991; Treinen, 1997: 47).
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Besucherforschung ist in Deutschland deutlich weniger verbreitet als im englischsprachigen Raum, was sicherlich auf Differenzen in kulturellen Orientierungen und institutionellen Arrangements, insbesondere auf den Einfluss von Kulturpolitik, zurückgeht. Hierzulande sind die Anfänge der Besucherforschung eng mit dem Soziologen Heiner Treinen und seinem Kollegen Hans-Joachim Klein verbunden, die in den späten 1960er bzw. 1970er Jahren dieses Thema aufgriffen sowie mit dem 1979 gründeten Institut für Museumskunde in Berlin (Hoffrichter, Noelke, 1989: 38; Kirchberg, 1996b). Dabei finden natürlich mittlerweile nicht länger wie zu Beginn in den USA behavioristische Theorien Anwendung. Vielmehr werden mit den Mitteln quantitativer empirischer Kulturforschung Erfolge bzw. Misserfolge von Museumsangeboten etc. nach bestimmten Kriterien evaluiert oder es werden, vorrangig im britischen Kontext, qualitative Daten im Hinblick auf das Verstehen der Besucher interpretiert. In einigen Fällen wird die Erweiterung an Möglichkeiten genutzt, die sich durch die Kombination beider Verfahren in einem Mehrmethodenansatz ergeben. Die meisten Besucherstudien werden nicht veröffentlicht (Hooper-Greenhill, 1988: 216; McManus, 1991: 4). Falls doch, finden sich Ergebnisse zumeist in Fachperiodika und Zeitschriften oder werden als Kongress- oder Tagungspapiere in Sammelbänden publiziert (Benefield et al., 1992). Allgemein gibt es insgesamt noch recht wenige Soziologen, Psychologen oder Kulturwissenschaftler, die sich mit Museen befassen (Hooper-Greenhill, 1988: 216). 4.1.2 Allgemeines zur Besucherforschung Eine Fülle von Literatur ist zur Besucherforschung im Allgemeinen erschienen (Klein et al., 1981; Bicknell, Farmelo, 1993; Noschka-Roos, Rösgen, 1996; Noschka-Roos, 2003; Reussner, 2010); diese im Gegensatz zu konkreten Studien veröffentlichte Literatur dient hauptsächlich der Etablierung der Besucherforschung in Deutschland.1 Klein und Almasan (1990) haben hierzu die umfassendste vergleichende Studie vorgelegt; laut Bitgood, Loomis (1993) gilt dies selbst im internationalen Kontext, also über die deutsche Museumslandschaft hinaus. Es lassen sich auch einige Publikationen finden, die in die Methoden der Besucherforschung einführen und gleichzeitig den Methodologien der Sozialwissenschaften oder Psychologie zugerechnet werden könnten (Graf, 1985b; Bitgood, 1988; Koran, Ellis, 1991; McManus, 1991; Hooper-Greenhill, 1994). Diese geben praktische Anleitungen, woran Museen selbst ihre Evaluation ausrichten können, je nachdem, welche Frage sie verfolgen. 1
Bekannte Studien zum Kulturpublikum allgemein, viele davon jüngeren Datums, sowie Studien zu Kunstmuseen, technischen Museen etc. werden hier gezielt ausgeklammert.
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Weiterhin könnte die Besucherforschungsliteratur, wie allein in Deutschland üblich, den etablierten Wissenschaftsdisziplinen entsprechend differenziert werden, entsprechend finden deren Paradigmen, Begriffe und Methoden relativ uneinheitlich Anwendung (Reussner, 2010: 8). Obwohl sich die Literatur zur Museologie in Deutschland im internationalen Vergleich noch recht übersichtlich darstellt, stellen die museum studies eine Schnittmenge zwischen Themen der Soziologie, Psychologie, Pädagogik (Meier, Reust, 2000), streckenweise auch der betriebswirtschaftlichen Marktforschung (z. B. bei Einrichtung des Auswandererhauses Ballinstadt) und der historischen Kulturwissenschaft (Borsdorf, Grütter, 1999) her. Gerade dann, wenn die Museen ihre Besucherorientierung weiter intensivieren, die zugunsten von Interessen der Kuratoren lange vernachlässigt wurde, um dann schließlich zur Bindung von Besuchern zu gelangen (Wittgens, 2005), ist Publikumsforschung entscheidend (Reussner, 2010: 2ff). Gleichzeitig liegt ein großes aktuell zu bewältigendes Problem in der Umsetzung von Ergebnissen und im Rückbezug bzw. der rekursiven Wieder-Einbindung von Ergebnissen in die Ausstellungsgestaltung, in die Entwicklung von Marketinginstrumenten und in die Praxis eines Hauses insgesamt (Reussner, 2010). Das häufige Ausbleiben des Erfolges von Besucherforschung lässt sich wesentlich auf einen Mangel an etablierten Kommunikationswegen für die Verwendung dieser Qualitätskontrolle und darauf abgestimmte Verbesserungsmaßnahmen zurückführen. Darüber hinaus verfolgen einige wenige Studien Fragestellungen hinsichtlich spezifischer Arten der Wissens- oder Sinnkonstruktion (Housen, 1987; HooperGreenhill, 2002). Dies stellt eine thematische Schnittmenge zwischen sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Forschungsinteressen dar, da Wissenserwerb zumeist auf der Interaktion eines Subjekts mit seinem sozialen Umfeld beruht und diese je nach situativen Kontexten Lernen beschränkt oder befördert (Botelho, 2006). Hooper-Greenhill (1995) präsentiert eine Reihe von Beiträgen, die mit der im ersten Teil eingeschlagenen konstruktivistischen Perspektive kompatibel sind und die Museen vor einem Hintergrund evaluieren, der von einer aktiven Sinnkonstruktion durch den Ausstellungsbesucher ausgeht. 4.1.3 Typen von Evaluationen Evaluationen setzen entweder allgemein an, um die Leistungen eines Museums zu messen (Lord, Lord, 1988; Ames, 1990) oder sie verfolgen stattdessen praktische Probleme oder konkrete Fragen der Anwendung von Evaluationsergebnissen im Ausstellungsdesign. Sie benötigen exakte Zielvorgaben, um Ergebnisse zu konkreten Problemstellungen zu erhalten (Shettel, 1996: 20). Studien der Besucherforschung lassen sich grob anhand der Fragestellungen, die sie verfolgen und hinsichtlich ihrer Perspektiven auf den Forschungsgegenstand unterscheiden.
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Gängig ist die grobe Unterscheidung zwischen • • • • • • •
Front-End bzw. Vorab-Evaluation; Formativer Evaluation; Nachbesserungsevaluation; Summativer Evaluation; Status-quo-Analysen; Potentialanalysen und Imagestudien; Besucher- und Nichtbesucheranalysen.2
Besucherforschung b
Publikumsforschung a
Bitgood und Loomis (1993: 688) entwickelten ein differenziertes Modell von Ausstellungsevaluation in den drei Phasen: Planung, Herstellung und Post-Installation (Miles, Clarke, 1993). In der ersten Phase ist demzufolge eine „Front-end-Evaluation“, also VorabEvaluation, durchzuführen. Hierbei geht es um vom Besucher mitgebrachte Erwartungen und Missverständnisse (engl.: misconcepts) sowie darum, die Ausstellung vorab darauf auszurichten, solchen verbreiteten Fehleinschätzungen zu begegnen (Borun et al., 1993). In der zweiten Phase unterstützt eine formative Evaluation durch ihre Erhebungen die Planungsphase einer Ausstellungskonzeption oder eine Ausstellungserweiterung. Vor einer endgültigen Installation werden Attrappen oder Prototypen unter gezielten Rückgriff auf besondere Besuchergruppen getestet. Dies bietet sich insbesondere bei kostenintensiven Inszenierungen, interaktiven bzw. multimedialen Installationen oder Online-Angeboten an. Ein besonderer Fokus zahlreicher Publikationen liegt hierbei auf der Gruppe von Schülern und Jugendlichen (Hoffrichter, Noelke, 1989: 39ff). Schließlich wird in der dritten Phase eine Nachher-Evaluation oder auch Nachbesserungsevaluation durchgeführt, die z. B. in der Beurteilung (engl.: critical appraisal) durch eine professionelle Besuchergruppe besteht. Summative Evaluationen werden in Ausstellungen nach ihrer Fertigstellung durchgeführt (Miles, Clarke, 1993: 699). Darüber hinaus werden viele ausstellungspraktisch relevante Details zum Museumsbesuchsverhalten erhoben (Bitgood, 1992; Bitgood, Patterson, 1993; Bitgood et al., 1992). Zu denjenigen Studien, die auch Nichtbesucher erfassen (Hood, 1983), sind ebenso Reichweiten- und Potentialanalysen und Imagestudien zu rechnen. Nichtbesucher-Studien pflegen eine Perspektive auf Museen von außen und fragen nach deren gesellschaftlichem Image, nach Besuchsmotiven und Zugangsbarrieren bei 2
Vgl. http://www.landesmuseum.de/website/Deutsch/Service/ZEB/Leistungen.htm (Stand vom 11.02.2011).
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potenziellen Besuchern (Loomis, 1973: 22; Merriman, 1989: 149ff; Prince, 1990: 150; Klein, 1997). Aus welchem Umkreis kommen Besucher angereist, wie sind sie zu einem Besuch zu motivieren, auf welche Marketingmaßnahmen oder musealen (Service-)Angebote reagieren sie und ab welcher Entfernung des Wohnorts vom Ausstellungshaus wird die Entfernung als Barriere empfunden? Als Nichtbesucher sind in diesem Zusammenhang all diejenigen Personen definiert, die außerhalb eines Museums angetroffen werden und nicht allein solche, die erwartungsgemäß niemals ein Museum besuchen werden. 4.1.4 Eingesetzte Methoden Je nach Erkenntnisinteresse werden die angewandten Methoden aus dem etablierten Repertoire der Besucherforschung gewählt. Diese begann historisch mit dem systematisches Tracking von Besuchern in Ausstellungen (Klein, 1993) und der systematischen Beobachtung. Man folgte den Besuchern und zeichnete deren Wege durch den Ausstellungsraum auf. Zunehmend werden in Fokusgruppengesprächen mit cued bzw. uncued persons interviews, gezielt Schüler, Lehrer, Senioren, Migrantengruppen, disabled persons etc. berücksichtigt, um Präsentationen gezielt an den Bedürfnissen dieser Gruppen auszurichten (z. B. Birkert, 2003; Miles, Clarke, 1993). Neue Projekte, große Museumsbauten sowie Sonderausstellungen gelten als geeignet, um neue Besuchergruppen anzuziehen (Hoffrichter, Noelke, 1989: 35). Ausgehend von der Psychologie werden häufig experimentelle Forschungsdesigns verwendet. Eine sozialpsychologisch ansetzende Besucherevaluation, die untersucht, wie sich ein Großteil der Besucher im Museum verhält (Cohen, 1977), wirkt auf die Ausgestaltung der Präsentationen zurück. Komparative Studien sind zentral, um die Aussagekraft, Repräsentativität und Validität einzelner Ergebnisse zu erhöhen (McManus, 1991: 3; Graf, HagedornSaupe et al. 1987: 22). Eine Perspektive auf das tatsächliche Besuchspublikum nehmen Studien mit Fragen danach ein, was beim Besuch geschieht (Loomis, 1973; Shettel, 1996: 13). Als behavioral studies3 gelten solche Studien mit Variablen hinsichtlich der Ziele des Besuchs (engl.: goals), zur vor einem Exponat (engl.: at displays) bzw. in der gesamten Ausstellung verbrachten Zeit (Chiozzi, Andreotti, 2001), Untersuchungen zum Umgang der Besucher mit Ausstellungsmaterialien und zur Nutzung des Ausstellungsraums (Hayward, 1988; Baumgartner, Trauner, 1996; Hein, 2000: 136f) 3
Hooper-Greenhill (2002: 10) hebt in einer Fußnote explizit hervor, dass ein Interesse an behaviour nicht notwendig eine Akzeptanz behavioristischer Lerntheorie (und deren stimulus-response-models) mit sich bringe.
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sowie Ergebnissen, die die Evaluation von konkreten Ausstellungen insgesamt ermöglichen (Beer, 1987: 207). Bei solchen Besuchsverhaltensstudien tritt das Besuchspublikum repräsentiert durch das individuelle Verhalten typischer Besucher auf, um Erwartungen über Verhalten zu gewinnen. Um zu erklären, durch welche Variablen nicht nur Verhalten (Falk et al. 1998), sondern auch die Sinnkonstruktion (McManus, 1988), die Museumsrezeption, das Lernen (Falk, Dierking, 2000) und das „Museumserlebnis“4 der Besucher (Falk, Dierking, 1992; Falk, Dierking, 1995) bestimmt sind, favorisieren Forschungsansätze unterschiedliche Erklärungen. Die Ansätze lassen sich grob aufgrund ihrer Perspektive auf Ausstellung oder Besucher unterscheiden: Früh in der Besucherforschung wurde entweder das Exponatdesign als ausschlaggebend betrachtet, holistisch das Gesamtarrangement (engl.: setting) zur Vorhersage des Verhaltens der Besucher herangezogen (Falk, 1985: 250ff) oder auf den Besucher und seine persönliche Besuchsagenda als determinierenden Faktor fokussiert. Empfohlen werden quantitative Methoden und standardisierte Interviews, wenn die Variablen klar definiert sind, konkrete Hypothesen quantitativ zu testen sind, Antworten auf ihre Evidenz überprüft werden sollen und wenn repräsentative, über die Zeit vergleichbare und reliable Ergebnisse angestrebt werden, wenn sie z. B. zu politischen, öffentlichen oder organisationsinternen Entscheidungen genutzt werden. Drei Arten der Herstellung von Vergleichbarkeit durch Quantifizierung empirischer Daten sind dabei denkbar: Erhebungen mit offenen und geschlossenen Fragen, systematisches Tracking und systematische Beobachtung, so Doering, Pekarik (2006: 2). Studien zu Nichtbesuchern treffen weiterhin Aussagen zu Bedeutungen, Funktionen und Motiven des Museumsbesuchs für bestimmte soziale Gruppen, z. B. Teilnehmern einer Reisegruppe oder Angehörigen bestimmter sozialer Milieus (Packer, Ballantyne, 2002; Kirchberg, 2005). Kirchberg verwendete als erster Modelle gesellschaftlicher Segmentierung nach Lebensstilen und Erlebnismilieus (Reussner, 2010: 9), ein Ansatz, der allerdings zirkulär und tautologisch Museumsbesuche durch vorangegangene Kulturrezeption erklärt. Kirchberg (1996a; 1996b) ist zudem einer der wenigen Autoren in Deutschland, der sich dezidiert mit der Gruppe der Nichtbesucher befasst. Qualitative Methoden sind zu verwenden, wenn die Fragen eher generellen als spezifischen Charakter haben, die Aspekte zu komplex, subtil oder persönlich sind, um in Zahlen und wenigen Worten ausgedrückt werden zu können. Sie eignen sich eher für explorative wie für deskriptive Fragestellungen. Wenn es also z. B. um subjektive Bedeutungen geht und keine Hypothesen vorliegen, man nach einem 4
Je nachdem, ob man das englischsprachige „experience“ mit Erfahrung oder Erleben übersetzt.
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neuen Verständnis, einem neuen Blick auf ein Phänomen sucht und wenn komplexe, persönliche Statements über eine große Glaubwürdigkeit verfügen, so Doering, Pekarik (2006). Als drei Arten qualitativer Erhebungen sind Interviews, Fokusgruppengespräche und offene Beobachtungen zu unterscheiden. Gemischte Methoden sind für Was- und Warum-Fragen zu verwenden, wenn verschiedene Perspektiven auf eine Frage benötigt werden, um mittels qualitativer Methoden interessante Fragen explorativ zu erschließen und anschließend quantitativ zu untersuchen oder um etwas erst systematisch zu messen und dann ergänzend ein tieferes Verständnis über qualitative Methoden zu gewinnen. Gemischte Methoden haben den Vorteil, Glaubwürdigkeit aus verschiedenen Perspektiven zu gewähren (Doering, Pekarik, 2006: 4). Es lässt sich resümieren, und das wäre für eine Entwicklung von Hypothesen zentral, dass sich auf der Ebene der Besucherforschung derjenige Unterschied in der Perspektive wiederholt, wie er bereits im Abschnitt über Museumskommunikation zum Ausdruck kam: Entweder werden die museale Inszenierung, die Exponate, die Ordnungen – das Setting – des Museums in den Blick genommen oder der Besucher selbst, seine soziodemographischen Merkmale, sein Vorwissen und sein spezifisches Rezeptionsverhalten betrachtet. Diese Faktoren beeinflussen, wie Besucher Museen erleben, was sie erinnern, wie sie die Kommunikation des Museums verstehen, was sie also möglicherweise lernen (McManus, 1987; 1988; 1989). 4.1.5 Konkrete Studien Konkrete Studien erscheinen selten, da sie dem Datenschutz und der alleinigen Verwendung der Museen und Ausstellungshäuser unterliegen. Gleichwohl lassen sich etliche Texte zu einzelnen Ausstellungsevaluationen (z. B. Graf, Knerr, 1985; Dech, 2003) und zu konkreten Museen exemplarisch für die narrative Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM): Hill, 1995; Heumann, 1995; Birkert, 2003 zum Jüdischen Museum Berlin (JMB); Schäfer, 1996 zum Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (HdG) finden. Sicherlich lassen sich auch gemäß der Gesamterhebung der Besucherstatistik in Deutschland durch das Institut für Museumskunde Studien nach einzelnen Museumstypen unterscheiden und Rückschlüsse auf die für diese Studie relevanten Häuser ziehen (Staatliche Museen zu Berlin, 2007: 15). An dieser Stelle wird der Überblick durch den Fokus auf die in dieser vorliegenden Studie von KUGL berücksichtigten konkreten Häuser beschränkt. Um gegen Ende dieses Abschnitts eine gezielte Einordnung dieser Untersuchung in den vom Allgemeinen zum Konkreten gegliederten Besucherforschungsüberblick zu leisten, ist das bereits Gesagte mit seiner Referenz auf die hier unternommene
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Erhebung zusammenzufassen. Es werden deshalb die oben jeweils gegen Ende eines Abschnitts ausgeführten Überlegungen genutzt, um die Empirie dieser Studie mit ihrer spezifischen Ausrichtung und ihren Alleinstellungsmerkmalen in das hier grob skizzierte Koordinatensystem der Besucherforschung einzuordnen. Die vorliegende Studie trägt zur Weiterentwicklung der Besucherforschung in Deutschland bei, indem sie a) sich dem Thema mit einer (wissens-)soziologischkonstruktivistischen inspirierten Perspektive annähert, b) auf die dem Sozialkonstruktivismus nahe stehenden Ansätze der Besucherforschung zurückgreift, c) nicht allein als Evaluation, sondern als Forschung zu klassifizieren ist, welche Theorie und Empirie jenseits eines zu lösenden Praxisproblems miteinander verknüpft, d) mit einer auf die Verwendung von Vergleichen zurückgehenden Methode in der empirischen Sozialforschung, die Besucherforschung um eine innovative Erhebungsart ergänzt und e) Ergebnisse zu vier konkreten Ausstellungshäusern veröffentlicht. Zu den Punkten a und b wurde oben ein theoretischer Ansatz entwickelt. Zu ergänzen ist, dass aufgrund verschiedener Besucherforschungsstudien begründet werden kann, dass die subtilen, impliziten und latenten Botschaften eines Museums ihre Spuren in den Besuchserlebnissen hinterlassen (Falk, Dierking, 1992: 85f). Zu Punkt c ist der problemzentrierte, anwendungsbezogene Fokus von Evaluationen hervorzuheben. Forschung bleibt in Museen zumeist angewandte Forschung (Graf, 1985a: 157). Entsprechenden Studien kommt dabei eine eher deskriptive oder komparative Rolle zu (McManus, 1991: 5; Klein, 1998; Dauschek, Rymarcewicz, 1998). Einzelne Ergebnisse kleinerer quantitativer Studien lassen sich auch im Verhältnis zu den Gesamtbesucherzahlen, die das Institut für Museumskunde regelmäßig erhebt, interpretieren (Graf et al., 1987: 22). Aussagen über die Repräsentativität von Ergebnissen lassen sich in Übertragung auf andere Kontexte treffen oder Vergleichsmöglichkeiten entstehen durch einen Kern an in jedem Haus gleich gestellten Interviewfragen, während die spezifischen Fragen eines Fragebogens sich auf einen spezifischen Ausstellungskontext zuschneiden lassen. Gerade in Deutschland sind Evaluation und Forschung in diesem Feld stark miteinander verwoben. Diese Studie nimmt eine über Museen hinausgehende Forschungsperspektive ein, da sie nach der Bedeutung eines Museumsbesuches für die Konstruktion von Zeitperspektiven und das Geschichtsverstehen fragt, also eine für die Soziologie allgemein interessante Fragestellung auf den Bereich der Besucherforschung überträgt. Auf Punkt d wird in Kapitel 5 zurückzukommen sein. Die Anwendung der spezifischen Methode wird unten mit der Dokumentation der konkreten Auswer-
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tungsschritte und der Darstellung der Ergebnisse verbunden. Bislang wurden als qualitative Forschungsmethoden vor allem inhaltsanalytische Verfahren zur Bildung nominaler Kategorien verwendet, die sich in weitere sich quantitativ vorgehende methodische Instrumente einbinden ließen. Diese Studie verwendet sowohl qualitativ prozessorientiert entstandenes empirisches Material als auch quantitativ erhobene Daten und stellt damit eine neuartige Anwendung von Methoden in diesem Forschungsfeld dar, die sich durch ihre besondere Eignung für die Fragestellung auszeichnet. Dazu wurden zu Punkt e) in Kapitel 3 die konkreten Ausstellungshäuser anhand ihrer Selbstbeschreibungen vorgestellt und diese Beschreibung wird nun durch systematisch gezogene empirische Stichproben zu ihrem jeweiligen Besuchspublikum ergänzt. Die Verwendung quantitativer Methoden der empirischen Sozialforschung erfolgt in der Besucherforschung zumeist mit dem Interesse, verallgemeinerbare, repräsentative und valide Annahmen über Besucher zu erhalten. Dabei ist es in der Publikumsforschung gängig, diese Ergebnisse zumeist allein deskriptiv zu verwenden (Reussner, 2010). Damit unternimmt diese Studie zudem einen Vorstoß, theoretische grundlegende Überlegungen einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Publikationen, die sich empirisch mit einer Orientierungsleistung von Museen im Hinblick auf historische Zeit und Geschichte befassen, fehlen bislang. Die Institution Museum wird aber theoretisch durchaus im Hinblick auf eine solche Orientierung gedacht (z. B. Zacharias, 1990; Beier-de Haan, 2005), wie bereits im Theorieteil oben gezeigt werden konnte.
4.2 D AS E RHEBUNGSDESIGN : VIER VERGLEICHENDE B ESUCHERSTUDIEN In den 1990er Jahren wurde in Deutschland eine Reihe von Museen neu gegründet. Ein Teil davon lässt sich als die deutsche Geschichte nach der Wiedervereinigung von 1989 anders, erweitert, ergänzt und neu erzählend fassen. Diese Ausstellungshäuser hatten die Chance, sich der breiten Palette zeitgenössischer Präsentationstechniken zu bedienen. Und nicht ganz zufällig lassen sich die kulturhistorischen Museen mit dem Anspruch, eine gesamtdeutsche Geschichte in Europa zu präsentieren, vorrangig in der neuen und alten Hauptstadt, in Berlin und Bonn, finden. In den Hauptstädten der Welt wird zumeist die offizielle Geschichtserzählung präsentiert, diejenige Historie, mit der sich eine Gesellschaft selbst beschreiben will. Mit einem Interesse an einem Wandel und an den in der Einleitung skizzierten Museumsphänomen, liegt es nahe, sich mit dem Verstehen von Geschichte in relativ
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neuen Museumsgründungen zu befassen, die sich durch ihre Größe und Bekanntheit auszeichnen und diese mit einem Museum zu vergleichen, von dem erwartet werden darf, dass es Geschichte demgegenüber in einer eher in der Republik verbreiteten Art und Weise präsentiert und aufgrund seines knapperen Budgets in geringerem Maße die Möglichkeit hat, alle Teile der Ausstellung generell auf dem „neusten Stand“ der Ausstellungstechnik zu erhalten und immer den neusten Konzepten folgend zu inszenieren. Die Besucherbefragung durch KUGL bestand in vier Teilstichproben, deren Daten und Befunde mir zur Verfügung stehen5. Dabei handelt es sich um standardisiert erhobenes statistisches Datenmaterial und in diesem Kontext entstandenem Textmaterial aus prozessorientiert geführten Gesprächen in einer Interaktionssequenz mit den Besuchern, die protokolliert wurden. Zunächst wurde eine Stichprobe von 120 Besucherinterviews im Jüdischen Museum Berlin (JMB) im März/April 2004 gezogen. Die Tage der Erhebung wurden so über unterschiedliche Wochentage und die Wochenenden verteilt, dass die Daten versprechen, einen repräsentativen Ausschnitt des Besuchspublikums wiederzugeben. Dazu konnte auf Erfahrungen dieses Museums mit Besucherbefragungen zurückgegriffen werden. Im Dezember 2004 wurden mit einer weiteren Stichprobe 125 Besucher des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (HdG) gezogen. Das Besuchspublikum dieses Museums hat eher den Charakter von ‚Laufkundschaft‘, viele Besucher sind gerade zufällig in Bonn und schauen sich zwischen anderen Programmpunkten die Ausstellung an. Da das HdG keinen Eintritt nimmt, verteilen sich die Besucher regelmäßiger über die Woche. Deshalb erschien es sinnvoll, den Erhebungszeitraum auf eine Woche zu begrenzen und alle Tage gleichmäßig zu berücksichtigen. Eine letzte Erhebung von 124 Besucherinterviews konnte aufgrund der etwas verzögert eröffneten Dauerausstellung erst im November/Dezember 2006 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin erfolgen. Um etwas über die Neuheiten dieser Museen mit ihren zeitgenössischen Geschichtspräsentationstechniken sagen zu können, bedarf es eines Vergleichs mit einem Museum, das Geschichte zumindest nicht durchweg nach den im ersten Kapitel vorgestellten Neuerungen präsentiert. Zum Vergleich mit einer Kontroll- bzw. Referenzgruppe erfolgte eine Befragung der Besucher in einem eher als konventionell zu bezeichnenden, kleineren Museum. Im regional- und landesgeschichtlichen Historischem Museum am Hohen Ufer (MHU) in Hannover wurde eine Gruppe von 123 Besuchern in drei Phasen im Herbst 2005 befragt. Die Besucher des Museums kommen zumeist am Wochenen5
Für den Empirieteil stehen mir, wie in der Vorbemerkung erläutert, Daten und Befunde aus vier Museen des Forschungsprojekts „Kulturen der Ungleichzeitigkeit“ von Prof. Dr. Hanns-Georg Brose zur Verfügung (s.o., vgl. Kapitel 1).
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de, als repräsentativ kann aber nur eine Erhebung gelten, die auch Wochentage einbezieht. Um den gewünschten Stichprobenumfang zu erhalten, waren mehrere Termine nötig. Um eine möglichst repräsentative, zufallsgesteuerte Auswahl an Interviewpartnern zu erhalten, wurde eine Regel zur Orientierung bei der Stichprobenziehung verwendet. War der Besucherandrang ausreichend groß, wählten die Interviewer systematisch jeden dritten Besucher aus. Da keines der Museen über einen stetigen Besucherandrang verfügt und anzunehmen ist, dass bestimmte Besuchergruppen an spezifischen Tagen und zu spezifischen Zeiten die Häuser besuchen, mussten die Interviewpartner zum Teil nach ihrer Bereitschaft, an einer Befragung teilzunehmen, zum Teil in der Reihenfolge ihres Eintreffens ausgewählt werden. Alle Interviews wurden beim Verlassen der jeweiligen Dauerausstellung in Abhängigkeit von den jeweiligen räumlichen Gegebenheiten geführt. Im JMB waren insgesamt fünf verschiedene Interviewer an der Erhebung beteiligt, im HdG, MHU und DHM befragten jeweils vier verschiedene Interviewer die Besucher. So ließ sich ein möglicher Interviewereffekt minimieren. Dabei wurden die Erhebungstage an die vom Museumspersonal erwartete Verteilung des Besucheraufkommens über die Wochentag angepasst, so dass z. B. deutlich mehr Interviews an den besucherreicheren Wochenenden durchgeführt wurden. Den Befragungswellen ging jeweils eine Pretest-Phase voraus, in der das Erhebungsinstrument zunächst geprüft und ggf. überarbeitet wurde. Der Fragebogen insgesamt umfasste drei Typen von Fragen: standardisierte Fragen mit vorgegebenen Antwortkategorien, eine Liste likert-skalierter Items sowie Fragen mit offenen Antworten, die auf die Rekonstruktion des Verstehens historischer Zeit im Museum zielen. Zwei der offenen Fragen fungierten gemäß der Erhebungslogik als so genannte Vergleichsfragen. Die Itemliste bestand aus 13 Aussagen zum „Lernen im Museum“, insbesondere zum Lernen historischer Zeitperspektiven in einem Museum. Die Besucher wurden gebeten, abgestuft in fünf Zustimmungsgraden anzugeben, inwiefern es für sie persönlich zutrifft, dass sie diese Resümees zu historischer Zeit und Geschichte im Museum „lernen“ könnten (vgl. Tabelle 24a; 25a im Anhang). Die Aussagen stellen so verschiedene Thesen zu verschiedenen Modellen zeitlichen In-Beziehung-Setzens historischer Ereignisse, allgemein verständlich formuliert, zur Diskussion bzw. Zustimmung. Ausgehend von diesem Erhebungsinstrument lassen sich durch eine Faktorenanalyse auf bestimmte Dimensionen reduzierte Variablen generieren, die als Indikatoren für die Zustimmung zu bzw. Ablehnung der einen oder anderen historischen Zeitperspektiven interpretiert werden (vgl. Kapitel 5). Der Fragebogen erhob zudem Angaben zu soziodemographischen Merkmalen, Museumsbesuchsgewohnheiten, Vorwissen zur ausgestellten Geschichte, Besuchsgründen, genutzten Besuchsangeboten und Bereichen des Museums, Besuchsdauer,
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Eindrücken des Besuches, erwarteten Erinnerungen und Rezeptionsmodi (vgl. Kapitel 6) sowie die Zustimmung zu verschiedenen Vergangenheitsaussagen (vgl. Tabelle 26a im Anhang). Bei den meisten der offenen sowie standardisierten Nennungen waren Mehrfachnennungen möglich. Zudem wurden bei der Auswertung der offenen Fragen einige Antworten mehrfach kodiert, um Antworten mit Mehrfachnennungen zu entsprechen, da sich die Vielfalt von Eindrücken der Besucher und verschiedene Wahrnehmungen eines Ausstellungsbesuches erwartungsgemäß nicht unbedingt auf nur einen Nenner bringen lassen. Das Design der KUGL-Besucherbefragung war außerdem jeweils auf Kompromisse zwischen den Besonderheiten jeder einzelnen Ausstellung und Überlegungen zur Vergleichbarkeit der Ergebnisse angelegt. Auf diese Weise wurde dem Problem entsprochen, dass man unterschiedliche Ausstellungen nicht eins zu eins miteinander vergleichen kann, sich aber trotzdem, bildlich gesprochen, Äpfel und Birnen als Obst miteinander ins Verhältnis setzen lassen (Dauschek, Rymarcewicz, 1998). Einem solchen Problem der Herstellung von Vergleichbarkeit muss jede Studie, die mehrere Museen einbezieht, unabhängig vom Forschungsinteresse begegnen. Die Frage, welche Zeitperspektiven das Geschichtsverstehen implizit organisieren, bedarf einer weiterführenden analytischen Aufgliederung, um empirisch analysiert werden zu können. In der weiterführenden Analyse wäre zu klären, auf welche Merkmale eines Ausstellungsbesuches es zurückgeht, wenn ein Besucher dieses oder jenes Geschichtsverstehen, diese oder jene historische Zeitperspektive aktualisiert. Dafür sind einige Annahmen zu diskutieren; auf einen systematische Hypothesenprüfung wird jedoch aufgrund des deskriptiv verwendeten statistischen Datenmaterials und des explorativen Charakters der Forschungsfragen verzichtet werden, da bislang noch keine vergleichbaren Studien vorliegen, die erlauben würden, theoretische Begründungen für die Richtung von Zusammenhängen anzubringen.
4.3 P ORTRAITS DES B ESUCHSPUBLIKUMS IM JMB, H D G, DHM UND MHU In diesem Abschnitt sollen anhand sozialstruktureller Merkmale und weiterer Kennzeichen und Charakteristika der Besucher eines Hauses Portraits des Besuchspublikums erstellt werden. Grundannahmen sind dabei folgende: Jedes Museum zeichnet sich durch seine spezifische Mischung an Zielgruppen aus, und dies liegt an den Besonderheiten eines Museums (Annahme 2/2a, vgl. Abschnitt 5.1). Darüber hinaus bestimmen die Selbstbeschreibungen der Häuser, wie diese von Besuchern verstanden werden. Dazu sollen zunächst die Besucher der Museen beschrieben werden und darüber Portraits des Besuchspublikums nachgezeichnet werden.
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Die in vier Ausstellungshäusern gezogenen Stichproben erlauben eine vergleichende Kontrastierung, die bestimmte Merkmale markanter und deutlicher hervortreten lässt. Deshalb ist Typisches und Besonderes jedes einzelnen Besuchspublikums im Vergleich und in Relation zu den anderen in beschreibender Abgrenzung zu erfassen. In der daran anschließenden Zusammenfassung wird dann in einer Synopse erneut ein auf die Spezifik der einzelnen Museen konzentriertes Portrait der Publika vorgestellt. Im Blick zu behalten bleibt, dass im JMB einige Fragen nicht gestellt und einige Variablen nicht wie in den anderen Museen erhoben wurden. Einige Fragen wurden geringfügig abweichend formuliert, um der Spezifik des JMB, seiner Architektur und seiner thematischen Ausrichtung sowie der Sensibilität und Rücksichtnahme, auf die besonders dieses Museum im Umgang mit seinen Besuchern wert legt, zu entsprechen. Nach der Stellung im Erwerbsleben (vgl. Abb. a im Anhang) zu fragen, wurde im JMB aus Diskretionsgründen unterlassen. Bei den Besuchsgründen wurde dort nach der Architektur Daniel Libeskinds gefragt, während in den anderen Ausstellungshäusern – außer dem DHM – die Architektur nicht als gesondertes Besuchsmotiv unter den standardisierten Antworten abgefragt wurde. In diesem Sinn waren die standardisierten Antwortoptionen immer den Besonderheiten der Museen angepasst. Ausstellungshäuser versuchen meist, eine hohe Anzahl auswärtiger Besucher anzuziehen (Klein, Almasan, 1990: 24). Ein Hauptteil der Besucher des MHU stammt aus Niedersachsen, während das JMB über den größten Anteil an ausländischen Besuchern verfügt. Bei Analysen eines Besuchspublikums wäre eine größere Homogenität der Ergebnisse zu erwarten, falls es sich dadurch auszeichnet, dass zumeist Herkunfts- bzw. Wohnort und Nationalität übereinstimmen. Darüber hinaus gibt es auswärtige Besucher, deren Wohnort im Ausland liegt, deren Nationalität jedoch deutsch ist, und Museen werden von in Deutschland lebenden Besuchern anderer Nationalitäten besucht. Diese Unterscheidungen sind mit den Daten nicht zuverlässig nachzuzeichnen, denn der Fragebogen lag nur in deutscher Sprache vor. Die Prozentangabe der im Ausland wohnenden Besucher in Tabelle 4.3.1 kann somit nicht als aussagekräftig gelten. Eine hohe Anzahl an Touristen anzuziehen, verweist auf eine gute Außenwirkung des Museums. Je nach Image bzw. Außenwirkung eines Museums oder, anders formuliert, je nach der Bedeutung, die einem Ausstellungshaus im öffentlichen Diskurs zukommt, kann es verschiedene Besuchersegmente anziehen. Die Annahme 2 (vgl. Abschnitt 5.1), dass es an den Besonderheiten eines Museums liegt, wenn es spezifische Zielgruppen anzieht, erscheint angesichts der Ergebnisse plausibel. Laut Tabelle 4.3.1 kommen im JMB und DHM die Besucher aus einer Vielzahl von Bundesländern angereist, auch im MHU findet sich für ein stadt- und landesgeschichtliches Museum recht heterogenes Besuchspublikum. Über alle Museen hinweg dominieren Besucher aus Nordrhein-Westfalen, da es das bevölkerungs-
160 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
stärkste Bundesland ist. Die Herkunft der Besucher scheint durch die Besonderheiten der Ausstellungshäuser, ihren Standort, ihre Öffentlichkeitswirkung und die Themen der Präsentation bedingt. Tabelle 4.3.1: Wohnort nach Bundesländern in Prozent von n MHU
HdG
JMB
DHM
Gesamt
Bayern
0,8
2,4
10,8
9,7
5,9
Berlin
2,4
0,0
12,5
26,6
10,4
Brandenburg
0,8
0,0
2,5
1,6
1,2
Bremen
0,8
0
0
1,6
0,6
MecklenburgVorpommern
0,0
0,8
0,0
1,6
0,6
Niedersachsen
79,7
8,0
8,3
8,9
26,2
Nordrhein-Westfalen
4,1
58,4
20,8
13,7
24,4
Rheinland-Pfalz
0,0
12,8
1,7
0,0
3,7
Saarland
0,0
0,8
0,0
0,8
0,4
Sachsen
0,8
0,8
2,5
1,6
1,4
Sachsen-Anhalt
0,0
0,0
2,5
4,0
1,6
Schleswig-Holstein
0,8
0,0
0,8
3,2
1,2
Thüringen
0,0
0,0
1,7
0,8
0,6
Ausland
8,1
4,0
15,8
10,5
9,6
fehlend
0,0
0,0
0,0
1,6
0,4
n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
n = 492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
In Anknüpfung an die Besucherforschung kann gefragt werden, inwiefern sich die Zusammensetzung der Besucher sowie seine Besuchspraxis auf die Sinnzuschreibungsprozesse in den Museen auswirkt. Die Besucherforschung hat festgestellt, dass sich das Besuchsverhalten von Erst- und Mehrfachbesuchern unterscheidet (Klein, 1996: 12; Treinen, 1994: 31f, 1997: 48; Falk, Dierking, 2000: 55; Fienberg, Leinhardt, 2002). Unterscheidet sich das Besuchsverhalten von Erstbesuchern und Stammbesuchern, lassen sich aber über die Besuchsfrequenz hinaus keine soziodemographisch spezifischen Merkmale von Stammbesuchern angeben (mit Ausnahme von Lehrern: Klein, Almasan, 1990). Qualitative Studien zeigen einen anderen Aspekt: Von Bedeutung für ein Verstehen sei, wie und ob sich Interaktion und Konversation angesichts der Präsentation entwickele (Fienberg, Leinhardt, 2002). Die Interaktion innerhalb von Besuchergruppen wird als ein Faktor gewertet, der Be-
D IE BESUCHER
| 161
suchsverhalten und -rezeption („the indexical character of meaning and action“) immens beeinflusst (Galani, 2005: 155). Erstbesucher sind im JMB-Publikum mit 81 Prozent die dominante Gruppe. Das Besuchspublikum scheint deutlich durch Touristen geprägt und das Museum ist zu jung, um bereits über ein dezidiertes Stammpublikum zu verfügen. Das MHU zeichnet sich demgegenüber durch ein Stammpublikum treuer Gäste aus und wird von allen Museen am häufigsten mehrfach besucht. 17 Prozent der Befragten waren sogar häufiger als zehnmal dort. Das Museum scheint den Besuchern tatsächlich als Ort lokaler Identifikation zu dienen, zumindest ist die Verbundenheit mit dem Haus recht hoch. Einige Besucher scheinen zu kommen, um geringfügige oder größere Veränderungen zu beobachten (22 Prozent der Besucher gaben an, wegen der Neueröffnung des Ausstellungsteils „Ritter, Bürger, Fürstenmacht“ gekommen zu sein). HdG und DHM werden zwar von 46 bzw. 34 Prozent der Besucher mehrfach besucht, eine Anzahl von zehn Besuchen in demselben Museum wird dabei allerdings selten überschritten. Im DHM waren Besucher zu finden, die bereits zu DDR-Zeiten das Museum besuchten; der Anteil an Mehrfachbesuchern lässt sich aufgrund dessen nicht ohne Weiteres mit denen der anderen Häuser in Relation setzen, da zu dieser Zeit im DHM Geschichte noch deutlich anders präsentiert wurde (vgl. Kreuztabelle 3a im Anhang). Viele der Mehrfachbesucher sahen bei vorherigen Besuchen jedoch auch lediglich Sonderausstellungen an. Für das HdG ist sicherlich bedeutsam, dass für den Besuch kein Eintrittsgeld verlangt wird. Klein (1990: 48) kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass der Preis keinen Einfluss auf die Besuchszahlen hat. Zudem bietet das HdG einen sehr spezifischen zeitgeschichtlichen Zuschnitt und das DHM kann nur einen recht oberflächlichen „Durchmarsch mit Siebenmeilenstiefeln“ durch zweitausend Jahre deutscher Geschichte ermöglichen – zumindest in den Dauerausstellungen, deren Besucher diese Studie ausschließlich berücksichtigt. Beide Merkmale stehen einer in die Tiefe gehenden historischen Auseinandersetzung und damit weitergehenden Identifikation mit diesen Häusern tendenziell entgegen. Vor allem MHU und HdG werden von Menschen besucht, die ansonsten kaum ins Museum gehen. Insbesondere beim HdG entspricht es dem Museumskonzept, Besucher anzuziehen, die sonst nicht in Museen gehen (vgl. Kreuztabelle a, 1a im Anhang). Dem HdG gelingt es im Vergleich also recht gut, museumsferne Schichten anzuziehen. Das DHM wird am meisten von regelmäßigen Museumsgängern frequentiert. Einen Museumsgänger als solchen zeichnen hier mehr als vier Museumsbesuche pro Jahr aus. In der Referenzliteratur gibt es verschiedene Definitionen von Museumsgängern und (Mehrfach-)Besuchern (sowie Nichtbesuchern):
162 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Festlegung einer Zeitperiode, innerhalb derer ein Besuch erfolgt ist (Kirchberg, 1996a; 1996b). b) Die subjektive Einschätzung der Befragten nach der jährlichen Frequentierung von Museen (Klein et al., 1981). c) Der zurückliegende Zeitpunkt in Monaten/Jahren des letzten erinnerbaren Museumsbesuchs. a)
Hier wurden Museumsgänger nach der Variante a operationalisiert. Wenn sich ein Besucher hingegen durch drei und weniger Besuche pro Jahr auszeichnet, gilt er als seltener Besucher. Darüber hinaus wurde hier das Kriterium, ob ein Besucher ein konkretes Museum zum ersten Mal besuchte, als ausschlaggebend dafür gefasst, ob dieser Besucher als Erst- oder Mehrfachbesucher zu verstehen ist. Viele DHM-Besucher ziehen durchaus Vergleiche mit anderen kulturhistorischen Museen und Ausstellungen, worin ein relativ routiniertes, fast professionelles Besuchsverhalten zum Ausdruck kommt. Auch darin zeigt sich der Charakter des Besuchspublikums, das am ehesten als Expertenpublikum gelten kann. In diesem Haus ist es auch am wahrscheinlichsten, professionell mit Kunst, Geschichte oder Museen befasste Besucher anzutreffen. Diejenigen Besucher des MHU, die innerhalb eines Jahres häufig ins Museum gehen, sind auch häufig in genau diesem Haus anzutreffen. Die Besucher des MHU lassen sich im Vergleich mit der DHM-Klientel als „treue Gäste“ stilisieren. Viele gehören dem Kreis der Freunde und Förderer des Museums an. Einige Besucher des Stammpublikums besuchen in einem Jahr Museen allgemein nicht häufiger als drei Mal (vgl. Kreuztabelle a im Anhang). Demgegenüber verteilen sich die Erstbesucher des JMB im Kontrast gleichmäßig über verschiedene Besuchshäufigkeiten in Museen allgemein pro Jahr (vgl. Kreuztabelle 2a im Anhang): Das Besuchspublikum des JMB erweist sich als sowohl aus regelmäßigen Museumsgängern als auch aus seltenen Ausstellungsbesuchern bestehend. Im DHM hingegen steigt die Anzahl der Besuche im Haus mit der Anzahl der Besuche von Museen und Ausstellungen im Jahr überhaupt. Je häufiger die Befragten das DHM besuchten, desto häufiger besuchten sie pro Jahr auch weitere Museen bzw. Ausstellungen. Tendenziell waren regelmäßige Museumsgänger mehrfach im DHM. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das HdG-Publikum besteht tendenziell aus seltenen Museums- und Ausstellungsbesuchern, während das MHU neben seltenen Besuchern über „treue Gäste“ verfügt, das DHM den Typus Museumsgänger anzieht und das JMB-Publikum aus heterogenen Erstbesuchern besteht, d. h. sowohl seltene Museumsbesucher als auch Museumsgänger besuchen das JMB zum ersten Mal. Diese beiden Variablen zur Besuchsfrequenz pro Jahr und die Anzahl der Besuche in einem Ausstellungshaus wurden als „Besuchertyp“ rekodiert.
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| 163
Das Generieren von Besuchertypen anhand der genannten Merkmale dient im Folgenden dazu, Besuchergruppen anhand ihrer Besuchsgewohnheiten voneinander abzugrenzen und die Besonderheiten jeder Gruppe auf einen Begriff zu bringen. Operational gilt es dabei zu beachten, nicht allein das Merkmal „Besuche in diesem Museum“ zu verwenden, sondern zugleich eine Information über „Museumsbesuche pro Jahr“ einzubeziehen, damit z. B. nicht ein 60-Jähriger als Stammbesucher gilt, der in seiner Jugend häufiger in diesem Museum war. Im Überblick ist zu sehen, dass diese aus diesen Merkmalen gebildete Variable „Besuchertyp“ zur Abgrenzung der verschiedenen Besucherprofile voneinander geeignet ist: Abb. 4.3.1: Besuchertypen nach Museen (in Prozent von n) MHU (n = 123) HdG (n =125) JMB (n = 120) DHM (n = 124) Gesamt (n = 492)
12,2
17,9
26,8 16,8
32,8
42,3 24,8 50,8
30,0 21,8 25,6
0,8 24,8
0,8
2,5 15,0 1,7
38,7
7,3
29,5
15,4
28,2 27,6
4 1,8
erstbesuchende r, seltener Besucher erstbesuchende r Museumsgänge r mehrfachbesuchender, seltener Besucher mehrfachbesuchender Museumsgänger fehlend
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Ein großer Anteil der Besucher im MHU und HdG (42 bzw. 36 Prozent) besucht das Museum, um mit Freunden und Familie etwas zu unternehmen. Dies erwies sich in der Studie Kleins (1990: 26) als dominantes Besuchsmotiv. Diese Besucher scheinen tendenziell freizeitorientierter zu sein und im Museum Unterhaltung zu suchen. Dies deckt sich zumindest im HdG mit der Zielgruppenansprache des Hauses und der öffentlichen Werbung für das Haus unter dem Motto „Geschichte erleben“. Im JMB sind als Besuchsgründe die Architektur des Gebäudes (68 Prozent) sowie die Bekanntheit des Museums dominant: Ein Anteil von etwa zwei Dritteln der Befragten gibt an, „Ich habe schon viel über das Museum gehört, jetzt wollte ich es mal selber anschauen“, gefolgt von dem bei 54 Prozent vorhandenen Motiv, etwas über deutsch-jüdische Geschichte zu erfahren. Es tritt somit ein vergleichsweise geringerer Anteil an Besuchern mit einem expliziten Interesse an der ausgestellten
164 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Geschichte an das Museum heran. Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Haus ist damit häufiger ein Motiv, das JMB zu besuchen, als die ausgestellte Geschichte. Das JMB-Publikum ist eher allgemein an Kultur interessiert, nicht nur an diesem Museum und an jüdischer Kulturgeschichte. Das Motiv eines Großteils der Besucher (38 Prozent), die das DHM zu besuchen (und im Vergleich ist das spezifisch für dies Besuchspublikum) besteht hingegen darin, sich mit der ausgestellten Geschichte zu beschäftigen (vgl. Tabelle 4a im Anhang). Wird das DHM zumeist aus Geschichtsinteresse besucht, besteht im JMB ein eher diffuseres kulturelles und breites Besuchsinteresse, das neben thematischer Neugier die Bekanntheit des Hauses und die Architektur umfasst. Die beiden weiteren Museen zeichnen sich durch ein tendenziell freizeitorientiertes Besuchspublikum aus. Erkenntnisse aus Nichtbesucher-Studien besagen, dass seltene Besucher sich von Museumsgängern mit spezifischen Besuchsmotiven häufig durch eine eher diffuse Freizeitorientierung unterscheiden (Merriman, 1989: 153). Die Prozentanteile der genannten Besuchsgründe spiegeln primär die Zusammensetzung des Besuchspublikums der einzelnen Häuser und machen typische Unterschiede deutlicher sichtbar. Hinsichtlich der Frage der Besucherforschung, wer denn überhaupt ein Museum besucht, haben soziodemographische Merkmale einen großen Einfluss (Prince, 1990: 160; Falk, Dierking, 1992: 20). Im Hinblick auf die Frage, wie ein konkretes Museum wahrgenommen wird, bieten diese Faktoren hingegen wenig Erklärungspotenzial. Ein Effekt des Geschlechts auf Museumsbesuche und -rezeption ist beispielsweise kaum nachweisbar (Treinen, 1981: 217; Graf et al., 1987: 23; Merriman, 1989: 151; Klein, Almasan, 1990: 24). Die Variable Geschlecht hingegen bestimmt ein bevorzugtes Interesse an bestimmten Museumsarten (Männer bevorzugen Technik- / Wissenschaftsmuseen; Frauen Kunstmuseen, Hooper-Greenhill, 1988: 218); und bei Schülern unterscheidet sich das Lernverhalten durch eine geschlechtsspezifisch bestimmte Neugier auf spezifische Exponate (Botelho, 2006: 988). Andere Studien zeigen abweichende, diffusere Ergebnisse für den Einfluss 6 von Geschlecht und Altersgruppenzugehörigkeit (Koran et al., 1986). Treten Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den Blick, lässt sich das Besucherprofil der Museen zunächst darüber abgrenzen, dass es im Rahmen der Erhebung nicht überall gelang, Männer und Frauen zu gleichen Teilen zu erfassen. Im HdG und DHM wurden deutlich mehr Männer befragt, dies erklärt sich damit, dass 6
Mit den vorliegenden Daten können geringe, aber dafür signifikante bis hoch signifikante bivariate Zusammenhänge von Geschlecht, Alter, Bildung und „Erwerbsgruppe“ damit, welche Themen und Exponate als eindrucksvoll beschrieben werden, bestätigt werden. Diese deskriptiven Ergebnisse werden für die Fragestellung dieser Arbeit aber vernachlässigt (vgl. Tabellen 10a-13a im Anhang).
D IE BESUCHER
| 165
tendenziell mehr Männer Museen allein besuchen (Klein, Almasan, 1990: 24, 143). Es wurden in den zwei Teilstichproben 30 bzw. 26 Prozentpunkte mehr Männer als Frauen erfasst, womit vermutet werden kann, dass die Stichproben repräsentativ für das Gesamtbesuchspublikum sein werden. Ein Vergleich mit den wohl in jedem Museum registrierten Besucherzahlen als Gesamterhebung unterblieb jedoch, da diese Angaben nicht gleichermaßen aus allen Museen vorlagen. Damit wäre zu erwarten, dass die Stichprobenzusammensetzung einem realen Männerüberhang entspricht. Bemerkenswert ist, dass im JMB und MHU mit je 53 Prozent Frauen befragt wurden. Abb. 4.3.2: Altersgruppen in den Museen, nach Geschlecht (in Prozent von n = 492)
11,2
2,5 22,6
8,9
11,2 11,7
8,1
14,6
9,6 1,6
11,4 12,2 8,9 10,6 15,4 8,2
Frauen Männer unter 29 Jahre
4
3,3
4,8 5,6
12,5 12,5
7,2
16 10,8 16,8
Frauen Männer 30–39 Jahre
40–49 Jahre
15,8
7,3 11,3
8,9
10
7,2 3,2 13,6
9,2
11,7
Frauen Männer 50–59 Jahre
4,8
10,5
12,9
11,3
Frauen Männer
über 60 Jahre
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Dafür sei ein klarer Einfluss des Alters auf die Wahrnehmung eines allgemein positiven Images von Museen zu verzeichnen (Prince, 1990: 163). Der Vergleich mit der offiziellen Bevölkerungsstatistik der statistischen Ämter (hier bzgl. des 31.12.2006) belegt, dass sich die Stichproben insbesondere im Hinblick auf besonders alte und junge Menschen von der Normalbevölkerung unterscheiden, des Weiteren sind die mittleren Altersgruppen in den vorliegenden Stichproben tendenziell überrepräsentiert. Zum Vergleich herangezogen sind hier nur die Daten aus den Herkunftsbundesländern des Großteils der Museumsbesucher (vgl. Tabelle 4.3.1).
166 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN 7
Abb. 4.3.3: Altersgruppen in Prozent der Bevölkerung und der n befragten Museumsbesucher (n = 492) Bevölkerung Berlin
14,2
16,9
15,1
17,1
13
23,7
11
13,5
16,4
12,8
25,2
20,6
11,5
13,6
16,6
12,9
24,8
19,7
11,9
13,6
16,7
13,1
25
Bevölkerung Niedersachsen
21,0
Bevölkerung NRW Bevölkerung BRD
DHM 4,8
19,4
JMB 4,3 HdG
15,3
23,4
MHU 12,2
11,4
12,9
19,2 19,5
14,5
25,0
2,5 12,8
17,6
20,2
15
16,8 23,6
18,4 9,7
bis 19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
über 70 Jahre
18,7
12,9 101,7 11,2 4 10
40–49 Jahre
Quelle: IT.NRW online, (c) Statistische Ämter des Bundes und der Länder 31.12.2010 und Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Das Publikum von Museen im Allgemeinen kommt aus den besser ausgebildeten sozialen Schichten (Hooper-Greenhill, 1988: 217). Besucher, die mit der Bildungsexpansion aus der immer umfassender gebildeten Mittelklasse stammen, sind vorrangig in Museen zu finden (Prince, 1990: 153). Jedoch sei das Vorwissen der Besucher, die „museums’ literacy“ (Landay, Bridge, 1982: 51; Falk, Dierking, 1992: 26; 2000: 27; Botelho, 2006: 988) für die Museumsrezeption entscheidend, nicht so sehr der formale Bildungsstand. Die meisten (zwei Drittel) der Museumsbesucher hätten zwar eine höhere Schulbildung, jedoch kein Hintergrundwissen, so Treinen (1997: 48). Im Durchschnitt am besten ausgebildet ist das JMB-Publikum. Hier wurde die Bildungskategorie zwar nicht nach sozial-/geisteswissenschaftlichem Studium und natur-/ingenieurwissenschaftlichem Studium differenziert abgefragt, eine Unterscheidung, die Klein (1990: 182) in die Besucherforschung einführte. Die Unterteilung ist demnach zwar üblich, führt jedoch bei den Befragten vielfach zu Irritationen, da sich z. B. Wirtschaftswissenschaftler dieser Unterscheidung nicht zuordnen 7
Bevölkerung BRD n = 81.751.602; Bevölkerung Berlin n = 3.460.725; Bevölkerung Niedersachsen n = 7.918.293; Bevölkerung NRW n = 17.845.154.
D IE BESUCHER
| 167
konnten, wodurch die Wahl der Kategorie „Sonstiges“ anstieg. Bei den sonstigen Nennungen handelt es sich ansonsten vorrangig um nicht in die Antwortkategorien einzuordnende Studiengänge wie Doppelstudium, Kunst oder verwaltungsrechtliche Studiengänge, Ausbildungen auf Fachhochschulniveau, wie z. B. Agrarwissenschaft oder Sozialpädagogik sowie ein ingenieurwissenschaftliches Studium bei der Bundeswehr oder ein Promotionsstudium. In weniger als der Hälfte der Fälle handelt es sich um Abschlüsse unterhalb des Abiturniveaus wie Grund- oder Sonderschulabschlüsse sowie die Fachoberschulreife nach der 10. Klasse. Das MHU spricht demgegenüber auch bildungsferne Schichten an. Das HdG nimmt von den Museen im Hinblick auf den Bildungsabschluss seiner Besucher eine mittlere Stellung ein. Das Besuchspublikum ist am stärksten durch Abiturienten geprägt, während der Anteil der Hochschulabsolventen zwar 40 Prozent beträgt, damit im Vergleich der Museen aber am geringsten ausfällt. Zu beachten ist hier, dass nach dem angestrebten Bildungsabschluss gefragt wurde. Abb. 4.3.4: Höchster angestrebter Bildungsabschluss nach Museen (in Prozent von MHU: n = 123; HdG: n = 125; JMB: n= 120; DHM: n = 124)
DHM 0,8
14,5
JMB 1,7
10
HdG
MHU
6,4
10,6
15,3
13,3
18,4
8,1
0,8
74,2
30,4
21,1
41,9
19,4
21,1
14,4
13,8
25,6
29,3
4,8
4,1
Hauptschule/Volksschule Realschule/Mittlere Reife/POS Abit ur/Fachabitur/EO S Natur-/ingenieurwissenschaftliches Studium
Studium
Sozial-/geisteswissenschaftliches Studium sonstiges
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Die Unterscheidung von Erwerbsgruppen bietet wenig geeignete Ansatzpunkte, um die Besucher der drei Museen für die verfolgten Fragestellungen sinnvoll voneinander abzugrenzen (vgl. Abb. a im Anhang), im JMB konnte diese Variable wie gesagt nicht erhoben werden. Das sich die Besucherstruktur des HdG aber von den anderen dadurch unterscheidet, dass es mehr Besucher mit einem insgesamt eher
168 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
geringem Zeitbudget zur Freizeitgestaltung anzieht, interpretiert man den Erwerbsstatus als Indikator für die Zeitressourcenausstattung der Besucher, spricht für sein Konzept „Geschichte erleben“. Eine Rekodierung dieser Variablen erlaubt eine Unterteilung der Besucher in berufstätige und nicht-berufstätige Besuchergruppen; eine solche Rekodierung wurde geprüft, verspricht jedoch allein im Hinblick auf das Besuchsverhalten analytisch gewinnbringende Ergebnisse. In den vorliegenden Stichproben geben zwischen 74 Prozent der Besucher beim MHU und über 95 Prozent bei HdG und DHM an, sich vorab mit der ausgestellten Geschichte beschäftigt zu haben (vgl. Tabelle 7a im Anhang). Im HdG geht diese hohe Zahl vermutlich auf den zeitgeschichtlichen Fokus der Ausstellung zurück. Aus den museum studies ist bekannt, dass Wissen nur ins Langzeitgedächtnis überführt wird, wenn dieses auf vorhandenes Wissen, Interesse, Verarbeitungs- und Assoziationskodes, also Erwartungsstrukturen trifft, welche die Inhalte semantisch organisieren (Baumgartner, Trauner, 1996: 195; vgl. Geary, 1999: 128). Assoziationskodes werden bei der Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte in größerer Breite vorliegen als bei anderen historischen Perioden. Aber einen Typ Normalbesucher gebe es für kein Haus, die Zusammensetzung der Besucher variiere für jedes einzelne Museum und hänge von den Eigenarten des Hauses ab (Treinen, 1997: 50; Hooper-Greenhill, 1988: 213). Insofern sind solcherlei Annahmen nicht zu verallgemeinern. Auch das HdG hat z. B. junge Besucher, denen selbst Zeitgeschichte fremd ist. Museen sind als Orte der Bildung allgemein um junge Besucher bemüht, u.a. als Nachwuchsklientel. Rentner verfügen hingegen zumeist über mehr disponible Zeit für Besuche, und ihr Bildungsinteresse und Vorwissen wird ausgereifter sein, wodurch sich Besucher von Museen und Ausstellungen bekanntermaßen unterscheiden (Landay, Bridge, 1982: 51; Falk, Dierking, 1992: 26; 2000: 27; Botelho, 2006: 988). Das DHM weist unter den Museen das älteste Besuchspublikum auf. Dieser Befund bleibt bestehen, selbst wenn man berücksichtigt, dass in den Erhebungen Schulklassen systematisch vernachlässigt wurden, da auf die Befragung von Gruppenbesuchern – sofern sie sichtbar als Gruppe auftraten – verzichtet wurde. Dieses Erhebungskriterium galt für alle Ausstellungen gleichermaßen. Die Argumentation mittels historischer Zeugnisse ist im DHM für junge Besucher schwerer zugänglich als z. B. in der populärer ansetzenden Inszenierung im HdG. Ein Besuch des DHM bedarf historischer Vorkenntnisse, um für Besucher interessant zu sein. Dies wäre eine mögliche Erklärung für den höheren Altersdurchschnitt im DHM. Im JMB ist der Kern der Besucher zwischen 20 und 49 Jahre alt; mittlere Altersgruppen sind hier dominierend. Im HdG und MHU dagegen sind die Altersgruppen gleichmäßiger verteilt und dort sind auch die Anteile an jungen Besuchern unter 20 Jahren am höchsten. Interessant erscheint im Vergleich, dass im MHU somit die Ansprache jüngerer Besucher ähnlich gut zu gelingen scheint wie im HdG. Bei diesem Vergleich ist zu berücksichtigen, dass im MHU an den meis-
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| 169
ten Tagen der Erhebung ein explizit an jüngeren Besuchern ausgerichtetes museumspädagogisches Programm, die Sonderausstellung für Kinder „Familie Tausendfach“, geboten wurde. In allen Stichproben wurde angestrebt, erst Besucher ab 12 Jahre zu berücksichtigen, allein im MHU wurde in vier Fällen von dieser Regel abgewichen.
4.4 Z USAMMENFASSUNG
UND
A USBLICK
Um einfache Rückbezüge innerhalb des Textes zu erlauben, werden die Charakteristika des jeweiligen Besuchspublikums noch einmal weiter aggregiert zusammenfassend in einer Synopse (Tabelle 4.4.1) dargestellt. Diese Portraits können die Besonderheiten des jeweiligen Besuchspublikums veranschaulichen. Im Vergleich treten Unterschiede besonders deutlich hervor. Die Ergebnisse bestätigen die Annahme, dass jedes Museum über ein ihm spezifisches Besuchspublikum verfügt. Aufgrund der Synopse ließe sich weiter deskriptiv von der Annahme 2 (vgl. Abschnitt 5.1) ausgehen, jedes Museum verfüge über ein ihm spezifisches Publikum.
JMB
Quelle: eigene Interpretation
seltener, vor allem mit Hannoveraner Geschichte und Politik, Militaria, Krieg
ja, mit Politik, Militaria, Krieg und der NS-Zeit, dem III. Reich von 1933–45
Besuchertyp
ambitioniertes Laienbesuchspublikum
Freizeitorientiertes Laienbesuchspublikum
private Beschäftigung über Art der Beschäftigung; spezielle Medien: Archive, private Beschäftigung; Medien Bücher und Fernsehen Vorlesungen, Auktion, Internet
vorherige Beschäftigung mit der ausgestellten Geschichte: Themen
private Beschäftigung; Bücher geschichtsinteressiertes Besuchspublikum
Zeitungen, Fernsehen
Kulturinteressiertes Besuchspublikum
ja, mit Brüchen und Konflikten der deutschja, mit Zeitgeschichte und jüdischen Geschichte und Politik, Militaria, Krieg mit der NS-Zeit, dem III. Reich von 1933–45
Vollerwerbstätige Angestellte, Beamte -
Vollerwerbstätige Angestellte, Beamte
Selbstständige und Schüler
Stellung im Erwerbsleben
am wenigstens gering qualifiziertes Publikum
am besten ausgebildetes Publikum
auch bildungsferne Schichten
Bildungsabschlüsse
Alter
Abiturienten
gleichmäßig alle Altersgruppen unter 60 Jahren
gleichmäßig alle Altersgruppen: hoher Anteil sowohl junger wie alter Besucher
mehr Männer
älteres Publikum
mehr Frauen
mehr Männer
mehr Frauen
Geschlecht
Geschichtsinteressiertes Publikum
Mehrfachbesucher; regelmäßige „Museumsgänger“
DHM
mittleres Alter von 20 bis 49 Jahre
diffuseres, breiteres kulturelles Interesse
Freizeitorientierung
Besuchsgründe
Freizeitorientierung
Besuchshäufigkeiten
HdG
treue Gäste; sowohl Erstbesucher, sowohl mittlere Besuchshäufigkeit „Museumsgänger“ wie „Museumsgänger“ wie und „seltene Museums„seltene Museumsbesu„seltene Museumsbesubesucher“ cher“ cher“
MHU
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Tabelle 4.4.1: Besucherprofile im Überblick
D IE BESUCHER
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Im Folgenden werden die Ergebnisse abschließend in Herausarbeitung der Unterschiede zwischen den Museen resümierend interpretiert. Die Besuchspublika unterscheiden sich je nach Museum, in dem sie angetroffen wurden. Das DHM bietet eine Präsentation, die eher von einem geschichtsinteressierten, eher älteren Besuchern als Kulturangebot goutiert wird, das Museum sucht eine Klientel auf, für die die Ausstellung auch ausgerichtet ist. Die Konzentration auf historische Zeugnisse mit einer zeitlich allein übergreifenden textlichen Einordnung in der Präsentation setzt ein großes Maß an Vorwissen voraus. Dementsprechend findet sich im DHM hauptsächlich ein Besuchspublikum, das diese Voraussetzungen erfüllt. Werden Museen zumeist als „Lernorte“ und Bildungsinstitutionen verstanden, ist aus dieser Perspektive zu kritisieren, dass das DHM am wenigsten gering qualifizierte Besucher anspricht. Als Qualitätsmerkmal eines Museumskonzeptes gilt es heute, Anziehungspunkt für breite Schichten zu sein; demgegenüber scheint das DHM ein Konzept zu prägen, mit dem vor allem ein professionelles Besuchspublikum etwas anfangen kann. HdG und MHU wirken demgegenüber, ausgehend von den Portraits des Besuchspublikums, integrativer und offener für breite Besuchersegmente, wenn auch insgesamt zu bestätigen ist, dass eine Museumspräsentation vor allem diejenigen Besucher anzieht, deren kulturelle Interessen es bedienen kann. Auch das HdG-Konzept „Geschichte erleben“ geht demnach auf, falls dieses Motto auf die Integration jenes freizeitorientierten Laienbesuchspublikums zielt, das sich auch in diesem Museum antreffen ließ. Dem Anspruch aller Museen entspricht es tendenziell, offen für diverse Perspektiven auf Geschichte und differenzierte Besuchergruppen zu bleiben. Bereits hier ist zu vermuten, dass sie dies trotzdem auf verschiedene Arten und durch unterschiedliche Profilbildungen tun. Der Überblick über die Merkmale der Besuchspublika zeigt, dass ein Museum seine Kommunikation an bestimmten Zielgruppen ausrichtet und seine Erwartung, dass es damit spezifische Besuchergruppen anzieht, aufgeht. Die Annahme 2 (vgl. Abschnitt 5.1) von einer wechselseitigen Konstitution von Museum und Besuchspublikum ist anhand der nachfolgenden empirischen Ergebnisse weiter zu diskutieren. Nach diesem aus den Kapiteln 3 und 4 bestehenden intermediären Teil, der die konkreten Museen und ihre Besucher als Forschungsgegenstand und -kontext vorstellt, beginnt der empirische Teil III zunächst mit den Fragen, auf die ausgehend von Theorie und Forschungskontext eine empirische Antwort gefunden werden soll (Abschnitt 5.1). Im Anschluss werden die qualitativen Erhebungsund Auswertungsmethoden dokumentiert, die dazu verwendet wurden, das Geschichtsverstehen der Museumsbesucher zu untersuchen (Abschnitt 5.2). Zu Beginn wird geschildert, wie bildhafte Vergleiche (Abschnitt 5.2.1) als Erhebungs-
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methode (Abschnitt 5.2.2) genutzt wurden. Nachdem das vorliegende aus Textmaterial generierte statistische Datenmaterial zum Geschichtsverstehen weiter beschrieben wurde (Abschnitt 5.2.3), lässt sich schließlich die Auswertungsmethode einführen (Abschnitt 5.2.4). Die Auswertung des konkreten qualitativen Materials wird ausführlich in Abschnitt 5.3 beschrieben. Damit liegen die grundlegenden Kategorien vor, die zu Begriffen verdichtet interpretierbar machen, mittels welcher Semantiken die Besucher der vier Museen Geschichte rekonstruieren. So lässt sich weiter analysieren, wie sie Geschichte und historische Zeit im Museum verstehen. Die zu Beginn des Empirieteils aufgeworfenen Fragen werden schließlich in Kapitel 6 bis 8 weiter verfolgt.
Teil III
5
Wie Geschichtsverstehen untersucht wurde
Die im Zuge dieser Arbeit dargestellten empirischen Ergebnisse beruhen auf vier Besucherbefragungen, die im Forschungsprojekt „Kulturen der Ungleichzeitigkeit“ (KUGL) unter der Leitung von Prof. Dr. Hanns-Georg Brose erhoben und ausgewertet wurden. Ich stelle nun im folgenden Kapitel 5 mit dem Textmaterial zur ersten Vergleichsfrage den Kern der im Kontext von KUGL unternommenen interpretativen Auswertungen vor. In Abschnitt 5.1 wird erläutert werden, worum es sich bei den bereits im Abschnitt 4.2 erwähnten Vergleichsfragen handelt. Die Entwicklung der Forschungsfragen ausgehend vom Forschungsstand, die Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Fragen und die insofern weiterführende Interpretation der Befunde erfolgte in meiner eigenen Verantwortung. Ausgehend von dem empirischen Textmaterial zur ersten Vergleichsfrage aus den in Abschnitt 4.2 eingeführten Besucherbefragungen soll im Teil III dieser Arbeit das in den Eindrücken der Besucher zum Ausdruck kommende Geschichtsverstehen empirisch untersucht werden. Im Projekt KUGL wurde Textmaterial zu den Eindrücken der Besucher kategorisiert und u.a. in der so entwickelten Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ kodiert. Dieses Textmaterial interpretiere ich in dieser Arbeit in den Kapiteln 7 - 9 in einer Sekundäranalyse der entwickelten Kategorien weiterführend, da ausgehend von diesem empirischen Material Rückschlüsse zunächst auf Geschichtsdeutungen und dann im nächsten Schritt auf das Geschichtsverstehen der Besucher möglich sind. Hier sollen zunächst die qualitativen Auswertungsschritte in KUGL, die Kategorisierung und Kodierung des Textmaterials mit einer ausgehend vom empirischen Gegenstand entwickelten Methode dokumentierend dargestellt werden. Zur Verwendung einer qualitativen Methode der Sozialforschung gehört die Dokumentation, wie die Textprotokolle erhoben, ausgewertet, rekonstruiert und dabei zugleich interpretiert wurden, sodass die am konkreten empirischen Gegenstand entwickelten methodischen Regeln nachvollziehbar werden. Mit dem verbleibenden qualitativen Textmaterial, also den Antworten auf die weiteren, nicht standardisiert erhobenen, offenen Fragen des Fragebogens inklusive
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der zweiten Vergleichsfrage (vgl. Abschnitt 6.6), wurde in KUGL analog verfahren; es wurde in quantitativ auszuwertendes, binär kodiertes Datenmaterial überführt. Die quantitativen Analysen wurden dann ausgehend von den Kategorisierungen und Kodierungen des Textmaterials sowie dem standardisiert erhobenen Datenmaterial im Projekt KUGL durchgeführt. Auf der Interpretation des derart generierten Datenmaterials beruht meine eigenverantwortliche empirische Arbeit. Verstehen wurde oben in Abschnitt 2.1.1 als ein unerlässliches Moment von Kommunikation eingeführt. Ausgehend davon, dass im Geschichte Ausstellen der Museen, also mit der Inszenierung von Geschichte durch die Museen, eine Geschichtserzählung vorliegt und dass diese von den Besuchern der Museen verstanden wird, indem diese Geschichte einen Sinn zuschreiben, besteht die Frage, in welchen Fällen, unter welchen Bedingungen vom Verstehen der ausgestellten Geschichte in diesem Sinne auszugehen ist? Mit dem in KUGL erhobenen Textmaterial liegen kommunikative Schilderungen der Eindrücke im Interviewgespräch vor. Wenn in der Schilderung der Eindrücke direkt oder implizit von Geschichte die Rede ist, interpretiere ich das in meiner von KUGL ausgehenden Sekundäranalyse der Kategorien (vgl. Kapitel 7-9) zunächst als Deutungen der ausgestellten Geschichte. Um zunächst intuitive, diffuse Deutungen von Geschichte wird es sich handeln, wenn Besucher ihre Eindrücke schildern und dabei Geschichte thematisieren, falls sie denn überhaupt ihre Eindrücke von Geschichte schildern. Es ist sicherlich nur bedingt möglich davon auszugehen, dass Besucher, die ihre Eindrücke einer Ausstellung schildern, zwangsläufig Geschichte auch verstehen. Es mag sein, dass selektiv allein der kalte Kaffee im Restaurant thematisiert wird, es mag sein, dass zwar Geschichte thematisiert wird, aber ohne dieselbe tatsächlich als Geschichte zu deuten, z. B. schildert eine Besucherin im JMB „Es wurden persönliche Schicksale dargestellt und Persönlichkeiten gezeigt“. Damit liegt zwar eine Deutung der ausgestellten Geschichte vor, die ausgestellte Geschichte wird aber nicht explizit als solche verstanden. So könnten die Schilderungen u. U. durchaus ohne eine Sinnzuschreibung, Erklärung oder Interpretation gegenüber der ausgestellten Geschichte auskommen. Insofern ließen sich im Sinn Webers (Weber, 1972 [1921]: 1ff) deutendes Verstehen und erklärendes Verstehen unterscheiden: „‚Verstehen‘ heißt in all diesen Fällen: deutende Erfassung: a) des im Einzelfall real gemeinten (bei historischen Betrachtungen) oder b) des durchschnittlich und annäherungsweise gemeinten (bei soziologischer Massenbetrachtung) oder c) des für den reinen Typus (Idealtypus) einer häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstruierende („idealtypischen“) Sinnes oder Sinnzusammenhangs“.
Alles Verstehen beruht demnach auf Deutungen, aber nur einiges Verstehen beruht auf aktiven Sinnzuschreibungen oder neuen Erklärungen für das zu Verstehende.
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Ein Verstehen von Geschichte, das gegenüber einem intuitiven Verständnis, einer intuitiven Deutung von Geschichte durch ein Mehr an Reflexion zu unterscheiden wäre, läge demnach weiter im Fall (c) vor, wenn bestimmten Merkmalen ein abstrakterer Begriff zugeordnet wird bzw. aufgrund dieser Merkmale ein Typus von etwas gebildet wird, den dieser Begriff benennt. Ein Begriff, der einen Typus benennt bzw. der Typus selbst erklärt dann das Auftreten dieser Merkmale. Z. B. liegt ein Verstehen von Geschichte vor, wenn die Merkmale einer ausgestellten Geschichte chronologisch geordnet zu sein, einen Anfang, ein Ende und eine Mitte zu haben und Rückbezüge zu erlauben (vgl. Abschnitt 2.1.2) als Narration bezeichnet würden. Also wenn nachweisbar ist, dass eines oder mehrere Merkmale durch eine diese interpretierende Sinnzuschreibung (z. B. Narration) erklärt wird, läge ein Verstehen vor, das über Deutungen im Sinne eines intuitiven, vorbegrifflichen Erfassens hinausginge. Ein Verstehen liegt weiter in den Fällen (b) vor, wenn mit einer gewissen Häufigkeit in einer soziologischen Massenbetrachtung einzelnen Informationen ein bestimmter, von diesen abstrahierender Sinn zugeschrieben wird oder aber die Informationen interpretierend, und insofern „neue“ idealtypische Sinnzuschreibungen konstruierend, aufeinander bezogen würden. Z. B. nach der Logik: immer oder häufig „wenn Ereignis a auftritt, ist zugleich Ereignis b der Fall“ bzw. „aus einem Merkmalskomplex a lässt sich b folgern“. Im Falle deutenden Verstehens (a), welches ich im Weiteren verkürzt allein als Deutung bezeichnen will, geht es um den subjektiv in einer gegebenen „historischen“ Situation mit einer Mitteilung konkret gemeinten Sinn in der kommunikativen Praxis. Ist allein von Verstehen die Rede, geht es um ein Verstehen im Sinne der Weberschen Begriffe im Sinne der Definition b und c, obgleich diese Definition verdeutlicht, dass sich strenggenommen auch schon eine Deutung des gemeinten Sinnes einer Mitteilung als Verstehen fassen lässt. Die zentrale erste Frage dieser empirischen Studie ist: (1) Wie verstehen die Besucher in kulturhistorischen Museen die ausgestellte Geschichte? Um Antworten auf diese Frage zu geben, soll ein methodisches Vorgehen in mehreren Schritten erfolgen. Zunächst sollen, ausgehend von dem genannten Textmaterial die Eindrücke der Besucher im Museum dargestellt werden, um dann zu dokumentieren, wie das Textmaterial zu den Eindrücken in KUGL ausgewertet wurde. An diesen Auswertungen (siehe Abschnitt 5.1) lässt sich ablesen, dass bzw. ob die Besucher mit ihren Eindrücken die ausgestellte Geschichte thematisieren oder aber thematisieren, wie sie diese Geschichte deuten. An der Art, wie die Besucher im Interviewgespräch über ihre Eindrücke kommunizieren, lässt sich demnach ablesen,
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wie sie Geschichte – ob nun ihre Schilderung der im Museum ausgestellten Geschichte entsprach oder auch nicht – in der Interviewsituation deuten. Im Folgenden wird zunächst zu erläutern sein, wie die Eindrücke der Besucher im Forschungsprojekt KUGL untersucht wurden, in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ kodiert und von mir anschließend im Rahmen dieser Arbeit in einer Sekundäranalyse der Kategorien als Geschichtsverstehen interpretiert wurden (vgl. Kapitel 7, 8, 9), um die aufgeworfenen Fragen und die davon ausgehend entwickelten Annahmen anhand von deskriptiven Ergebnissen zu diskutieren. Entsprechend der Logik qualitativer Methoden wird in diesem Kapitel die qualitative Befragungsmethode und die entsprechende Datenerhebung und auswertung im Forschungsprojekt KUGL detailliert erläutert. Es wird also die gegenstandsadäquate induktive Methodenanwendung am Textmaterial und die interpretative Rekonstruktion des Textmaterials dokumentiert. Das derart kategorisierte und schließlich kodierte und in binäre Variablen überführte Textmaterial fließt dann, wie weiter unten in Kapitel 7 dargestellt, in Berechnungen ein, um Unterschiede zwischen den Museen im Rückgriff auf quantitative Auswertungsverfahren zu analysieren. Damit wird mir eine weitergehende Interpretation des Geschichtsverstehens in Kapitel 8 möglich und es wird zu diskutieren sein, inwiefern die Museen und die in ihnen ausgestellte Geschichte mit dem Verstehen der Besucher zusammenhängen.
5.1 W IE
DIE B ESUCHER IHRE E INDRÜCKE SCHILDERN UND DABEI G ESCHICHTE DEUTEN
Der Fokus auf die empirische Beschreibung der Eindrücke der Besucher erfordert, eine dem Gegenstand angemessene Methode zu verwenden. Eine Arbeit über Geschichtsverstehen kann berücksichtigen, welche Eindrücke die Besucher im Museum gewinnen und wie sie dabei den Sinn der Geschichte individuell, also unabhängig von den begrifflichen Vorgaben Anderer, deuten. Denn Begriffe oder Semantiken sind ihrerseits nicht „unschuldig“, da sie selbst über eine Sinngeschichte verfügen; sie konstruieren bereits den Sinn der Geschichte, indem sie sie beschreiben. Jede Begriffsverwendung aktualisiert aber zugleich den Sinn einer Semantik, dieser verschiebt sich, er wird in der praktischen kommunikativen Verwendung geringfügig abweichend aktualisiert und neu gedeutet. Allein durch die kommunikative Verwendung von Begriffen, Erklärungen und Interpretationen entsteht also Sinn; bereits eine Frage nach Geschichte im Interview würde dieser ihrerseits vorab einen Sinn geben und ggf. Deutungen der Besucher vorwegnehmen und deren Zuschreibungen in eine bestimmte Richtung kanalisieren, die nicht mit den individuellen
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Sinnzuschreibungen der Besucher gegenüber der ausgestellten Geschichte gleichzusetzen oder zu verwechseln wäre. Würden Eindrücke „standardisiert“ oder in geschlossenen, expliziten Fragen abgefragt, wäre nicht länger zu unterscheiden, inwiefern das Erhebungsinstrument die Ergebnisse vorstrukturiert hat. Da zu befürchten ist, dass das Erhebungsinstrument die Ergebnisse derart beeinträchtigt, ist es insofern zuverlässiger und dem Gegenstand angemessener, Sinnzuschreibungen gegenüber Geschichte indirekt zu erheben. So lässt sich angemessen beantworten, welchen Sinn die Besucher der Geschichte zuschreiben, wenn diese relativ frei über ihre Eindrücke kommunizieren, ohne dabei explizit dazu aufgefordert zu sein, die ausgestellte Geschichte zu thematisieren. Deshalb müssen am Anfang einer Befragung offene Fragen stehen, die qualitativ, also mit ausgehend vom empirischen Material generierten Auswertungsregeln, interpretativ auszuwerten sind (Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2009: 23). Über offene Fragen lässt sich eher dem Charakter frei formulierter, subjektiver Eindrücke entsprechen. Insofern sind das Textmaterial sowie die induktiv verfahrenden Auswertungen in KUGL, die interpretativ aus dem Textmaterial entwickelten Kategorien, prinzipiell geeignet, in einem nächsten Schritt als Geschichtsdeutungen der Besucher analysiert zu werden. Selbst wenn diese Besucherbefragungen nicht primär zu dem Zweck, etwas über Geschichtsdeutungen resp. -verstehen auszusagen, erhoben wurden, ist es ausgehend von offenen Fragen möglich, den Besuchern die Wahl ihrer Themen bei der Schilderung ihrer Eindrücke selbst zu überlassen. So lässt sich in der Erhebung darauf fokussieren, was den Besuchern relevant genug erscheint, es im Interviewgespräch als Eindruck zu äußern. Qualitativ entstandenes Textmaterial lässt sich in einem mehrstufigen Auswertungsprozess erneut auswerten und ggf. reinterpretieren, ohne dass damit die Ergebnisse einer ersten Auswertung zwangsläufig zu revidieren wären. In einen anderen Kontext reinterpretiert, z. B. vor dem Hintergrund abweichender theoretischer Annahmen, lassen die Befunde, je nach Fragestellung und Forschungsinteresse, verschiedene weiterführende Interpretationen zu. Die Eindrücke der Besucher und die Ergebnisse der qualitativen Auswertungen in KUGL lassen sich so in einem nächsten Schritt, mit einer Beobachtung höherer Ordnung, als ein Ausdruck des Geschichtsverstehens der Besucher interpretieren. Eine Besonderheit der Erhebung, auf der die hier dargestellten empirischen Befunde beruhen, bestand in der Aufnahme von offenen Fragen in den dem Interviewgespräch jeweils zugrundeliegenden Fragebogen, der als „Vergleichsfragen“ bezeichnet wird1. Die erste Vergleichsfrage lautete: „Wenn Sie Ihren Besuch im XY1
Zur Verwendung dieser Vergleichsmethode vgl. Hack, Brose et al. (1979: 153ff); Brose et al. (1993: 224).
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Museum jemandem beschreiben sollten, der es noch nicht besucht hat, womit würden Sie Ihre Eindrücke am ehesten vergleichen?“ und initiierte einen interaktiven Deutungsprozess, durch den sich der im Interviewgespräch ausgelegte Sinnkonstruktionsprozess der Besucher gezielt dokumentierend festhalten ließ. Mit dieser Vergleichsfrage liegt eine für die Erhebung von Eindrücken der Besucher adäquate Erhebungsmethode vor. Im Folgenden wird zunächst erläutert werden, was ein Vergleich ist (Abschnitt 5.1.1). Dann ist zu beschreiben, wie ein Akt des Vergleichens mittels der ersten Vergleichsfrage genutzt wurde, um die im Folgenden dargestellten Eindrücke der Besucher von ihrem Museumsbesuch zu erheben (Abschnitt 5.1.2). Es wird weiter darzustellen sein, wie die Besucher mit den Vergleichsfragen umgingen und im Interview antworteten (Abschnitt 5.1.3). Nach diesen Schritten wird es möglich sein, den Umgang mit dem Textmaterial im Auswertungsprozess zu dokumentieren (Abschnitt 5.1.4). In einem weiteren Schritt wird das Kategorienschema vorgestellt und die in der Auswertungsdimension Rezeption entwickelten Kategorien eingeführt, (Abschnitt 5.1.5). Zuletzt werden die Ergebnisse des Auswertungsprozesses zur ersten Vergleichsfrage, das in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ kodierte und kategorisierte Textmaterial, differenziert in die entwickelten Kategorien zu beschreiben sein. Dieses Textmaterial wird Rückschlüsse auf die Geschichtsdeutungen der Besucher zulassen (Abschnitt 5.2). 5.1.1 Was ein Vergleich ist Wie bereits zu Beginn des Kapitels 5 erläutert, geht es in diesem Kapitel darum, die qualitativen Befragungen, die Erhebungen und Auswertungen zu der ersten Vergleichsfrage, wie sie im Forschungsprojekt „Kulturen der Ungleichzeitigkeit“ durchgeführt wurden, zu dokumentieren. Dazu ist zunächst zu klären, „was ein Vergleich ist“ und wie diese Redefigur funktioniert. In der Kommunikation können die Redefiguren Metapher oder Vergleich auftreten. Diese beiden Redefiguren haben eine ähnliche Funktion, Sinn in übertragenem Sinne zu aktualisieren und dadurch die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Für die Definition, was ein Vergleich ist, lässt sich auf ein Beispiel aus Ricœurs „Lebendige Metapher“ (1986 [1975]) zurückgreifen: Die rhetorische Wendung „Wie ein Löwe“ sei noch kein Vergleich (und auch keine Metapher), sondern der Moment der dynamischen Übertragung zwischen zwei Signifikanten sei für beides konstitutiv: „Achilles stürzte los wie ein Löwe“ ist demgegenüber ein Vergleich, argumentiert Ricœur (1986 [1975]: 31f). Durch die Übertragung bestimmter Eigenschaften vom Löwen auf Achilles, sprachlich konstituiert durch den Vergleichspartikel „wie“, kommt es zu einer bildhaften Übertragung von Charakter-
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istika bzw. Merkmalen im Hinblick auf die Art seiner Aktivität, also „seines Losstürzens“. Würde hingegen gesagt, „Achilles war ein Löwe unter den Helden der Antike“ beruht die damit gegebene Metapher auf dem impliziten Vergleich zwischen Achilles mit einem Löwen. Würde aber weiter nachgefragt, warum er, wie die Metapher besagt, unter anderen Helden der Antike heraussticht, wären denkbare Erklärungen der Metaphernwahl z. B., dass „Achilles Mut wie der eines Löwen war“ oder eben „Achilles in seinem Auftreten als einem Löwen ähnlich“ galt. „Der Vergleich sagt ‚dieses ist wie (Herv. i. Orig.) das‘; die Metapher sagt: ‚dieses ist das‘. Nicht nur die Verhältnismetapher also, sondern jede Metapher ist insofern ein implizierter Vergleich, als der Vergleich eine entfaltete Metapher ist“ (Ricœur, 1986 [1975]: 33f).
Ricœur (1986 [1975]: 31) fasst als Hauptmerkmal eines Vergleiches seinen „diskursiven Charakter“. Sind Zeichen für Semiotiker von Interesse, der Text für Literaturwissenschaftler, ist die Semantik, also die diskursive Praxis im Umgang mit gesellschaftlich vorrätigem Sinn, der für Wissens- und Kultursoziologen interessierende Gegenstandsbereich. Das Interesse des Soziologen für Semantik gilt so auch der sozialen Sinnkonstruktionspraxis zwischen Neuschöpfung und Reproduktion des Vorgefundenen; zwischen aufbewahrter Geschichte und neu verstandener Erzählung etc. In diesem Abschnitt soll daraus, wie eine Metapher diskursiv, also in der Sprachverwendung eine dynamische Übertragung leistet abgleitet werden, wie ein Vergleich als eine „entfaltete Metapher“ dies tut: Es gilt also am konkreten Textmaterial interpretativ nachzuzeichnen, wie ein Vergleich (als entfaltete Metapher) oder eine Metapher Sinn überträgt. Ausgehend von der konkreten in den Besucherbefragungen zur Erhebung von Eindrücken genutzten Frage (vgl. Abschnitt 5.1.2), wurden die Besucher durch die „Vergleichsfrage“ dazu motiviert, die Eindrücke Ihres Besuches mit etwas zu vergleichen. Mit den Vergleich(sfrag)en sollte es demnach möglich sein, den Besuchern sprachliche Werkzeuge an die Hand zu geben (vgl. Kapitel 2.2.2). Mit diesen Werkzeugen werden sie in die Lage versetzt, nicht allein auf die bekannten und bereits begrifflich vorgefassten „Sachen“ (im Museum, in der Geschichte usw.) zu sprechen zu kommen, sondern auf ihre „Sinnzuschreibungen zu verweisen. Die Besucher wurden bei den Vergleichsfragen gebeten, ihren Besuch im Spiegel eines Vergleiches zu beschreiben.
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5.1.2 Wie wurde erhoben: die Methode der Vergleichsfrage Die erste Vergleichsfrage begann mit der Frage: „Wenn Sie Ihren Besuch im XYMuseum jemandem beschreiben sollten, der es noch nicht besucht hat, womit würden Sie Ihre Eindrücke am ehesten vergleichen?“ Die Eingangsfrage des Komplexes war geeignet, die Befragten zunächst zu irritieren: Nach einem Museumsbesuch werden Besucher eher selten versuchen, ihren Besuch über Vergleiche zu beschreiben. Die Auslegungsbedürftigkeit der sozialen Situation wird so explizit gemacht. Eindrücke werden als nicht geteilter Sinn explizit; die Erklärung der subjektiven Sicht, das Mitteilen individueller Sinnzuschreibungen, wird zu einem kommunikativ zu bewältigenden Problem, das im Interviewgespräch nach einer Lösung verlangt. Dies diente zentral dazu, eine Motivation, einen Anlass, eine vertraute (Alltags-)Situation zu erzeugen, in der der Interviewte auf seine gängigen kommunikativen Kompetenzen zurückgreifen muss, sich selbst, seine Eindrücke und seine Deutungen zu erklären und zu erläutern. Im Idealfall entstand eine kleine, quasi-natürliche Gesprächssequenz. Konnten die Interviewten einen freien Vergleich finden, wurden sie gebeten, zu erläutern, inwiefern ihre Eindrücke dem gewählten Vergleich ähneln. Wussten sie keine Antwort auf die Frage zu geben, die zugleich eine Motivation zur deutenden Interaktion mit dem Interviewer bildete, wurde ihnen im Anschluss als Hilfestellung eine Liste mit Vergleichen angeboten. „Freier Vergleich“ meint hier die frei gewählte Äußerung eines Vergleiches unabhängig von der Vorlage der Liste. Auch die Besucher, die einen freien Vergleich genannt hatten, bekamen im Anschluss diese Liste vorgelegt und wurden erneut um eine Erläuterung gebeten und gefragt, wie sich die verschiedenen Vergleiche (auf der Liste) zueinander verhalten, wie sie in Beziehung stehen, worin Ähnlichkeiten mit ihren Eindrücken liegen, worin Differenzen bestehen u. ä. Die Besucher waren so weiter zum Vergleichen und zum Gespräch anzuregen und für eine Interpretation waren dadurch zusätzliche semantische Bezugspunkte zu erhalten. Hierbei war eine Mehrfachauswahl erlaubt, da diese im Gespräch das Beziehungen-Herstellen zwischen unterschiedlichen Semantiken ermöglichte und die Besucher motivierte, eigene Wahrnehmungen in Abgrenzung von verschiedenen gewählten Vergleichen zu beschreiben. Dies sollte ermöglichen, Sinnbezüge durch Verknüpfung von Inkongruentem sichtbar zu machen. Die Vergleichslisten wurden aufgrund von Überlegungen, in welcher Hinsicht und mit Blick auf welche Besonderheiten ein Museum wahrnehmbar ist und welche Aspekte einer Geschichtsdarstellung sich in Vergleichsform thematisieren lassen, zusammengestellt. Sie gehen auf Überlegungen des Forscher- und Interviewerteams zurück, womit sich die Präsentation auf eine für die Auswertungsinterpretationen aufschlussreiche Weise bildlich vergleichen lasse. Dabei waren folgende Gesichts-
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punkte für die Vergleichskonstruktion entscheidungsleitend: 1. Die Befragten sollten die angebotenen Vergleiche nicht als „abwegig“2 ablehnen. 2. Sie sollten das Vergleichsprinzip erkennen können. 3. Die Befragten sollten in ihren Vergleichen und Antworten ihre Eindrücke zugleich unter Rückgriff auf Ähnlichkeiten und in der Abgrenzung von Differentem schildern3. 4. Die Vergleiche sollten geeignet sein, dem Interviewer mit den Antworten gerade auch Latentes, nicht unmittelbar Thematisierbares zu offenbaren, das ansonsten unausgesprochen geblieben wäre. Die Vergleiche mit „ein Irrgarten“ oder „ein Besuch einer Kirche/Synagoge“ erlauben z. B. gleichermaßen Affekte, Angst oder Schuldgefühle, Traumata und Unbewusstes aufzugreifen. So kann antizipativ vorliegenden Schwellenängsten bei der Thematisierung solcher Affekte durch das Design des Befragungsinstruments begegnet werden. Insofern bieten die Vergleiche semantische Bezugspunkte an, welche ein unterschiedliches Sinnverknüpfungspotential gewähren. Die Vergleiche wurden aufgrund der Erfahrungen aus der Pretest-Phase überarbeitet und reformuliert. Diese vorbereiteten Vergleichslisten spiegeln so zwar die Unterschiede zwischen den musealen Präsentationen wider sowie sie Ähnlichkeiten beschreibbar machen, sie laden die Besucher auf bildhafte Weise, also relativ deutungsoffen, dazu ein, die Ausstellungen in Bezug auf ihre eigene Rezeption zu beschreiben. Es lässt sich davon ausgehen, dass eine Eigendynamik des Vergleichens entsteht, die auf dem diskursiven Charakter des Vergleichens im Sinne Ricœurs (1986 [1975]: 31) gründet. Diese Dynamik wurde dadurch befördert, dass die Interviewer darin geschult waren, den subjektiven Sinn von Vergleichen derart sinnbildlich kontrastierend zu erfragen, dass in den Vergleichskontrasten tendenziell auch Latenzen zum Ausdruck kommen konnten. So wurde subjektives Erleben mittels einer spezifischen Vergleichswahl zu einem bildlich aufzugreifenden Kommunikationsund insofern Auslegungsthema in der jeweiligen Interaktionssequenz. 2
Die Vergleiche sollten eine ähnliche Wahrscheinlichkeit aufweisen, von den Besuchern gewählt zu werden. Die angebotenen Vergleiche sollten die Chance des In-BeziehungSetzens von Differentem ermöglichen, andererseits aber nicht aufgrund zu großer Sinndiskrepanz (Beispiel: das Museum war für mich wie eine Zeche oder ein Bergbauschacht), politischer Inkorrektheit (Beispiel: das Museum war für mich wie ein Gefängnis), moralischer Fragwürdigkeit (Beispiel: wie ein Atombunker) eine erwartbar geringere Wahrscheinlichkeit aufweisen, gewählt zu werden. Die Vergleiche sollten weiter von den Befragten nicht aufgrund zu großer Sinndiskrepanzen mit dem eigenen Erleben Ablehnung erfahren, also z. B. als unsinnig erscheinen, sie sollten den Befragten als sinnhafte Beschreibung ihres Erlebens erscheinen können.
3
Die Besucher wurden mit Rückfragen des Typs „Geben Sie doch bitte ein Beispiel dafür, welche ihrer Eindrücke jetzt einem Irrgarten entsprachen und welche eher einem Gang durch die Geschichte ähnelten?“ um Erläuterungen gebeten.
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Durch die Anregung zum Vergleichen wird im Interview ein Sinnbildungsprozess initiiert, im Zuge dessen es mit dem Interviewer durch dessen Rückfragen zu einem interaktiven Auslegungsprozess von Deutungen, zu einer konkreten Interaktionssequenz, kommt. Damit entstand in jedem Interview eine Gesprächssituation, die bewusst als auslegungsbedürftig gerahmt war: die Verwendung des Vergleiches oder der Metapher war zu erklären. Im Akt des sinnbildlichen Verknüpfens von Ähnlichem können Differenzen deutlicher zutage treten. Bekannte Sachverhalte lassen sich aus verschiedenen, inkongruenten Perspektiven betrachten (Bleikertz, 2005: 93ff), wobei sich bei einem geregelten Gebrauch in der Interaktionssequenz die Ambiguität des Vergleiches hin zu einer Aufdeckung von Strukturen transformieren lässt. Der Prozess des Vergleichens stimulierte Gegenüberstellungen von Vergleichen und spätestens in der Interaktion wurde durch die dazugehörigen Erläuterungen eine semantische Differenz konstruiert (z. B. welche Eigenschaften von Achilles ähneln einem Löwen und worin unterscheidet er sich von dem Tier?). Diese Differenz diente im Interviewgespräch als Grundlage eines kommunikativ-interaktiv zu bewältigenden Auslegungsproblems (Soeffner, 2004: 114ff). Eine sequenzielle Interpretation aller genannten Antwortelemente erlaubte, in der Interaktion zwischen Befragtem und Interviewer durch gezielte Rückfragen die Unterschiede zwischen Vergleichen und Erläuterungen und damit die subjektiven Deutungen des Befragten hervortreten zu lassen. Dieses Vorgehen ermöglichte es, später bei der Auswertung, begriffliche Konzepte durch Differenzierung oder Analogisierung interpretativ zu erschließen. Formal betrachtet wurde demzufolge für die hier angestrebte Rekonstruktion der Eindrücke von Geschichte und der diesen impliziten Deutungen eine jeweils strukturell ähnliche Interaktionssequenz initiiert: Für die Datengenerierung wurden Vergleiche in ihrer heuristischen Funktion verwendet, um den Besuchern Gelegenheit zu geben, ihr ästhetisches Erleben, Wahrnehmen, Deuten und Verstehen durch eine Referenz auf die Vergleiche zu schildern. Dabei wurden die Besucher gebeten, ihren Besuch in bis zu vier Interaktionsstufen mit dem Interviewer zu schildern, zu beschreiben und zu erläutern. Durch diesen formalisierten Ablauf wird es möglich, die Antworten in ihrer kommunikativen Funktion im Interview als untereinander ähnliche Lösungen eines kommunikativen Auslegungsproblems zu behandeln. 1) Es sollte ein spontan gewählter, freier Vergleich gefunden werden (nicht alle Befragten konnten mit dieser Aufforderung etwas anfangen); 2) Es sollte ggf. diese Vergleichswahl anhand von gezielten Rückfragen des Interviewers erläutert werden; 3) Es sollte ein bildhafter Vergleich aus einer Liste gewählt werden (vgl. Abschnitt 5.1.3);
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4) Es sollte erneut die Vergleichswahl (sowie die semantischen Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den Vergleichen) aufgrund der Erläuterungen der Befragten zu den Eindrücken ihres Besuches verdeutlicht werden. Die Besucher bekamen also Rückfragen zu ihrer Vergleichswahl gestellt, wie z. B. „Inwiefern erleben Sie Ihren Besuch wie eine Zeitreise?“ Der Interviewer konnte durch gezieltes Nachfragen erfahren, was den Museumsbesuch z. B. von einem „Stadtbummel“ oder einem „Gang durch die Geschichte“ unterscheidet oder inwiefern beides dem Museumsbesuch ähnelt. Der Interviewer kann im Kommunikationsprozess mit den Befragten anhand dieser vergleichend hergestellten Sinnbezüge rekonstruieren, wie ein Besucher eine Ausstellung erlebt hat. So entstanden – formal gesehen – systematisch produzierte und somit vergleichbare Textprotokolle, die sich im Anschluss als Textmaterial in ihrer interaktiv konstruierten Bedeutung mit der jeweils heuristischen Funktion von Vergleichen interpretieren ließen. Die Antworten wurden von dem Interviewer in einem stichwortartigen Protokoll, das eine Rekonstruktion des Sinns der Äußerungen erlauben sollte, notiert. Der Auswertung liegen demnach allein Protokolle der Interaktion zugrunde, die nicht immer den Charakter wortwörtlicher Transkripte haben, sondern mitunter selektiv protokolliert wurden. Bei den Aussagen handelt es sich also nicht um komplette Aufzeichnungen der Gespräche, sondern um von den jeweiligen Interviewern während des Gesprächs selektiv notierte Mitschriften von Gesprächen. Diese notizenhaft protokollierten Textpassagen wurden z. T. durch die Interviewer im Anschluss an das Gespräch ergänzt. Die Interviewer waren entsprechend geschult und angehalten, nach dem Interview ihre Notizen zu ergänzen. Alle Antworten wurden dabei so originalgetreu wie möglich dokumentiert. Ein Protokoll stellt faktisch bereits eine Rekonstruktion und Komprimierung des Gesagten dar. Es kam also zentral darauf an, wie die Interviewer die jeweiligen befragten Besucher verstanden haben. Die Interviewer waren aufgefordert, ihre Gesprächskompetenz einzusetzen, Rückfragen zu stellen und zu interagieren. Wichtig ist an dieser Stelle das Argument, dass ein „hermeneutisches“, also durch Alltagsverstehen angeleitetes Verstehen eine basale Voraussetzung für dieses qualitative Befragungsart bildet, während sich die Auswertungstechnik zusätzlich weiterer und anderer Prinzipien bediente. Die Interviewer gingen zur Herstellung der Protokolle von ihrem Alltagsverstehen aus. Ein hermeneutisches Verstehen unterscheidet sich allgemein nicht erheblich von alltäglichen Verstehensprozessen, sondern allein im Hinblick auf ein höheres Niveau an Reflexivität (Soeffner, 1979: 330). Eine wissenschaftliche Interpretation ist zu größerer Reflexivität in der Lage, da Textmaterial vorliegt, auf das sich zu verschiedenen Zeitpunkten zurückkommen lässt, während für einen Interviewer ein Gespräch einfach abläuft und geschieht. Der Interviewer ist insofern gegenwartabhängiger und er kann weniger als der Wis-
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senschaftler von einer „Momentaufnahme“ abstrahieren und Interviewsequenzen untereinander vergleichen. Mit dem so vorliegenden doppelten Verstehen, dem Alltagsverstehen des Interviewers und dem zusätzlichen Verstehen des wissenschaftlichen Interpreten, ist zu rechtfertigen, dass trotz der Notiz- bzw. Protokollform des vorliegenden Textmaterials, also obwohl keine Video- oder Audiomitschnitte vorliegen, eine zureichende Datenqualität vorhanden ist. Mit einem anderen Befragungssetting wäre mit den vorliegenden Ressourcen nicht derselbe, für die spätere quantitative Analyse unverzichtbare Stichprobenumfang zu realisieren gewesen. Methoden qualitativer Sozialforschung lassen zwei Analyseeinstellungen zu: Neben einer deskriptiven Einstellung zu empirischen Daten ist es möglich, darüber hinaus danach zu fragen, wie, nach welchen Regeln, Sinn hervorgebracht wird (Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2009: 32f). Eine Fragestellung nach dem Geschichtsverstehen der Besucher lässt sich ausgehend von einem mehrstufigen Verfahren in Hinblick darauf beantworten, wie Besucher in Museen von Geschichte in Museen beeindruckt sind und wie diese gedeutet und verstanden wird (Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2009: 19). – Die aufgrund der Materialauswertung generierten Kategorien, die nicht allein die Eindrücke der Besucher in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“, sondern auch wahrgenommene museale Medien und die Rezeption der Besucher klassifizieren (vgl. Abschnitt 5.1.4), sind also nicht allein ein Nebenprodukt, sondern zentrales Ergebnis der hier gewählten Befragungsmethode. – Qualitative Methoden erlauben, interaktive Sinnbildungsprozesse teilnehmend oder begleitend zu rekonstruieren. Dabei ist die Texterzeugung bereits selbst als ein sozialer Prozess von Interesse. Ein Vorteil dieser Methode ist also, dass der Sinnkonstruktionsprozess, nicht allein dessen Ergebnis, zum Forschungsgegenstand werden und diese Methode insofern mehr und anderes leistet, als allein bereits standardisierte Daten mit quantitativen Methoden ex post zu analysieren. Der Sinnkonstruktionsprozess kann selbst reflexiv werden und z. B. durch Rückfragen des Interviewers dahingehend überprüft werden, ob sich das eigene Verstehen dem des Mitteilenden annähert (Nassehi, 1997: 143ff). Eine hermeneutische Interpretation mit den Mitteln qualitativer Sozialforschung erlaubt, eine faktische Aussage (was ist der Fall, was wurde gesagt) im Hinblick auf dahinter liegende Sinnstrukturen (was steckt dahinter, worauf lässt das Gesagte rückschließen) zu befragen (Luhmann, 1993) sowie die kommunikative Funktion einer Aussage durch die Konfrontation mit alternativen Bedeutungen abzuwägen. Demnach lässt sich daran, wie Sinnverstehen im Prozess erzeugt wird, rekonstruieren, was mit hoher Wahrscheinlichkeit gemeint sein wird. Sind die personenunabhängig geltenden und in einem Sprach- und Kulturraum geteilten und dort verwendeten Regeln der Sinnkonstruktion bekannt, kann sich ein Sozialwissenschaftler durch eine Rekonstruktion des Kommunikationsprozesses
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den gemeinten Sinn einer Mitteilung erschließen. Dieser Umstand, dass die kommunikative Praxis auf geteiltem Regelwissen beruht, ermöglicht es, auch beim Verstehen der Besucher von gängigen Deutungsmustern auszugehen. Die Befragungsmethode mittels bildhaften Vergleichens mit Nutzung der heuristischen Funktion der Redefigur „Vergleich“ (und in Ausnahmefällen der Metapher, so diese von den Befragten verwendet wurde) erlaubt in Kombination mit einer rekonstruktiven Methode (vgl. Abschnitt 5.1.4), neben den Eindrücken im Museum die Deutungen von Geschichte im Museum zu erfassen. In diesem Abschnitt wurde die strukturierte Befragungssituation zur Erstellung des qualitativen Textmaterials mittels der Vergleichsfragen beschrieben. Diese war durch eine immer gleichablaufende Interaktionssequenz gekennzeichnet, weshalb strukturell ähnliche Bedingungen der Textproduktion vorliegen. Die Antworten wurden durch ein geschultes Interviewerteam protokolliert. Damit entsteht die Eigenart des empirischen Materials, dass es einen interaktiven Situations- und Sinn-Auslegungsprozess stichwortartig wiedergibt. Dies ermöglicht seine Auswertung mit einer spezifisch für dieses qualitative Material entwickelten rekonstruktiven Interpretationsmethode (vgl. Abschnitt 5.1.4), als dem Gegenstand angemessene Auswertungsmethode. Das Textmaterial in seiner Besonderheit wird im folgenden Abschnitt vorgestellt. 5.1.3 Die Antworten der Besucher: Auszüge aus dem vorliegenden empirischen Material Im Rückgriff auf die Wahl einiger freier Vergleiche lässt sich vorab, also bevor die Entwicklung der Auswertungsmethode in Abschnitt 5.1.4 dokumentiert wird, der grundsätzliche Charakter der Antworten der Besucher illustrieren. Als frei gewählte Vergleiche (Interaktionsstufe 1) im Sinne der Befragungsmethode können folgende ausgewählten Beispiele und die dazu gehörigen Erläuterungen (Interaktionsstufe 2 oder 4) gelten, die hier zunächst dazu dienen, den Charakter des empirischen Materials zu veranschaulichen. Die in Notizform zusammengefasste Formulierung dieses frei gewählten Vergleichs einer MHU-Besucherin lautet: „Mischung aus Stadtbummel und Lexikon:(Interaktionsstufe 1; V.S.) gewisse Ordnung von Informationen, wo ich auch Neues herausfinden kann. Das Museum erlaubt auch um Ecken zu gehen und Sachen zu finden, die überraschen. So, wie andere Leute shoppen gehen, gehe ich ins Museum. (Interaktionsstufe 2, V.S.) Geschichtsunterricht nicht, eher Entdeckungsreise
188 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN (Interaktionsstufe 3; V.S.), weil man beim Unterricht etwas über sich ergehen lässt, für mich eher erforschen (Interaktionsstufe 4; V.S.4)“.
Deutlich werden soll an diesem Zitat erst einmal allein der Charakter des Textmaterials, welches auf die erste Vergleichsfrage hin entstand, dieses Zitat lässt keine eindeutigen Rückschlüsse auf Geschichtsdeutungen zu. Diese und einige andere Befragte schildern allein, wie sie persönlich das Museum rezipiert haben. Sie nennen dann ggf. Medien (museale Dinge oder das Inszenierungskonzept insgesamt etc.), auf die ihre Eindrücke zurückgehen. Im zuletzt zitierten Beispiel wird der Rezeptionsstil hervorgehoben. Das Museum wird zum Raum für eine „Entdeckungsreise“. Dies veranschaulicht: nicht immer lassen die Antworten auf die erste Vergleichsfrage Interpretationen oder Rückschlüsse auf Geschichtsdeutungen zu. In der späteren Auswertung im Projektkontext wurden anhand des Textmaterials drei Auswertungsdimensionen unterschieden, nämlich zunächst „Geschichtsvorstellung, -darstellung“, „Rezeption“ und „Medien“. Im nächsten Abschnitt 5.1.4 wird diese Unterscheidung aus der Methodenentwicklung heraus eingeführt, die am Textmaterial veranschaulicht wird und dabei verständlich werden wird. In der Analyse des Geschichtsverstehens der Besucher wird also empirisches Material verwendet, welches nicht explizit zu diesem Zweck generiert wurde, erst die Analyse der Texte nach der Befragung ergab, dass sie sich die Schilderungen zu Eindrücken vom Museumsbesuch zur empirischen Untersuchung des Verstehens von Geschichte eignen. Die folgenden Tabellen zeigen, welche der museumsspezifischen Listenvergleiche (Interaktionsstufe 3) angeboten und wie häufig diese von den Besuchern gewählt wurden:
4
In einzelnen Textprotokollen treten Kommentare des jeweiligen Interviewers auf, die Erläuterungen aus dem Kontext des Gespräches zusammenfassen, eventuell nach dem eigentlichen Gespräch nachgetragen, statt allein den O-Ton der Befragten wiederzugeben. Diese Kommentare sind in Klammern gesetzt. Mit „V.S.“ sind von mir im Nachhinein bei der Erläuterung der Methode eingefügte Kommentare gekennzeichnet.
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Tabelle 5.1.3.1: Gewählte Listenvergleiche Besuchseindrücke I (in Prozent von n; MHU, HdG; Mehrfachnennungen möglich) MHU
HdG
Ein Blättern im Buch der Geschichte
49,6
Ein Blättern im Buch der Geschichte
37,6
Eine Entdeckungsreise
30,9
Ein Besuch in einem Erlebnispark
5,6
Ein Fest in historischen Kostümen
5,7
Unser Leben: Ein Wechsel zwischen Alltag, Wochenenden und Festtagen
7,2
Eine große Erzählung
10,6
Wie in einer Fernsehsendung, z. B. TV-History
4,8
Ein Einblick in verschlossene und fremde Welten
5,7
Ein spannender Roman
8,0
Eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren
39,0
Eine Wiederbegegnung mit alten Bekannten, die man aus den Augen verloren hatte
9,6
Ein Geschichtsunterricht
19,5
Eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit
27,2
Ein riesiges Gemälde, auf dem viele verschiedene Geschichten dargestellt werden
15,4
Eine Ansammlung von Dingen, die der Strom der Geschichte ans Ufer gespült hat
18,4
sonstiges
1,6
sonstiges
2,4
fehlend
2,4
fehlend
29,6
n = 123
n = 125
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Die Vergleiche sind in dieser Darstellung im Hinblick auf ihre semantische Ähnlichkeit und nach den Häusern sortiert. Die Wahl des Vergleichs „eine große Erzählung“ bedeutet im Kontext des DHM sicher etwas anderes als im JMB (vgl. Tabelle 5.1.3.2), da die Museen andere Geschichten ausstellen bzw. Geschichte anders ausstellen. Gerade deshalb lässt sich vermuten, dass die Wahl desselben Vergleiches von den jeweiligen Besuchern der Ausstellungshäuser um ihre Eindrücke zu schildern, abweichend erläutert werden wird. So lassen sich dann ggf. die Besonderheiten der Museen aus den Erläuterungen ihrer Besucher herauslesen. Diese Unterschiede lassen sich gerade durch den Rückgriff der Besucher auf dieselben Vergleiche in unterschiedlichen Museen kontrastieren und interpretativ herausarbeiten.
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Die Vergleichslisten, die den Befragten zur Erläuterung und zum nachvollziehenden Lesen während des Interviews als Papier-Hand-out vorgelegt wurden, während ihnen der standardisierte Fragebogen ansonsten nicht vorlag, boten diese stärker gemischt an, um den Intervieweffekt, mit einer Reihenfolge von Fragen ein bestimmtes Antwortverhalten erst hervorzurufen, zu minimieren. Tabelle 5.1.3.2: Gewählte Listenvergleiche Besuchseindrücke II (in Prozent von n, JMB, DHM; Mehrfachnennungen möglich) JMB
DHM
Ein Blättern im Buch der Geschichte
28,3
Ein Blättern im Buch der Geschichte
62,9
Ein Besuch in einer Kirche/Synagoge
2,5
Eine große Erzählung
8,1
Ein Irrgarten
7,5
Ein Blick auf eine Ahnentafel
3,2
Eine Gratwanderung
8,3
Ein Besuch in einer Schatz- und Wunderkammer
10,5
Eine Suche nach verlorenen Welten
8,3
Ein Geschichtsunterricht
25,8
Ein Traumwandeln
1,7
Eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren
13,7
Eine große Erzählung
10,0
sonstiges
0,8
Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland
15,8
fehlend
3,2
Sonstige
3,3
fehlend
25,8 n = 120
n = 124
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Die Prozentverteilung der jeweils von den Befragten gewählten Vergleiche bringt die Besonderheiten der Geschichtspräsentation im jeweiligen Befragungskontext zum Ausdruck. „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ wurde in allen Museen relativ häufig gewählt. Wie die Unterschiede in den relativen Häufigkeiten der Vergleichswahl von der Liste zu interpretieren sind, lasse ich hier bewusst offen und interpretiere nur oberflächlich, dass in den Ausstellungshäusern die Vergleiche unterschiedlich häufig gewählt werden, um die Eindrücke der Besucher durch die Vergleichswahl zu beschreiben.
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Zu beachten ist, dass die hohen Prozentanteile fehlender Werte u.a. darauf zurückgehen, wie häufig in den Museen jenseits der Liste eine freie Vergleichsfindung durch die Besucher erfolgte und ob dann noch zusätzlich ein Listenvergleich gewählt wurde oder nicht. In der Erhebungspraxis der ersten beiden Stichproben im JMB und HdG wurde nach der Nennung eines freien Vergleiches um keine Auswahl von Listenvergleichen mehr gebeten; diese Praxis wurde bei der Befragung im MHU und DHM verändert, um damit mehr Informationen für die Auswertung der Textprotokolle zur ersten Vergleichsfrage zu generieren. Die Vergleichslisten wurden erst im zweiten Schritt der Interaktionssequenz den Besuchern zur Auswahl vorgegeben. Somit antworteten nicht alle Besucher der Stichprobe unter denselben Bedingungen und damit kann erst die weitere Interpretation zeigen, was denn diese Vergleichswahlen subjektiv über die Eindrücke der Besucher von Geschichte in den einzelnen Häusern aussagt. Die Vergleichswahlen dienen an dieser Stelle lediglich als ein Zwischenschritt, um etwas über die Sinnzuschreibungen der Besucher in der Interaktionssequenz insgesamt zu erfahren. Für die unternommene Interpretation sollten die in der gesamten Interaktionssequenz geschilderten Eindrücke der Besucher, inklusive der freien Vergleichswahl und mit den entsprechenden Erläuterungen zu der Vergleichswahl, nicht aber ihre Auswahl der vom Forscherteam vorgegebenen Vergleiche im Zentrum stehen. Damit ist in groben Zügen dargestellt, welchen Charakter das Textmaterial hat, das aus der ersten Vergleichsfrage entstanden ist. Es beruht generell auf sowohl frei formulierten als auch auf Listen bereit gestellten, von den Befragten auszuwählenden Vergleichen. Diese wurden gestaffelt in einer spezifischen Kombination innerhalb einer systematisch initiierten Interaktionssequenz verwendet, zu der auch die entsprechenden Erläuterungen gehörten. 5.1.4 Wie wurde im Spiegel von Vergleichen ausgewertet Die Auswertung folgte keinem vorab vorgegebenen Regelkanon, sondern die verwendeten methodischen Regeln wurden, auf die Anforderungen des Textmaterials und die Besonderheiten des Forschungsgegenstandes hin abgestimmt, erst in ihrer Anwendung generiert (Flick, 1998: 13ff). Demzufolge bediente sich diese Untersuchung ausgehend vom Textmaterial selektiv einzelner Elemente ausgearbeiteter Methodiken. Im folgenden Abschnitt soll die Anwendung der Methode ausgehend von sogenannten Problemstellungen (A-F) dargestellt werden und das angewandte methodische Vorgehen des Kategorisierens sowie offenen und selektiven Kodierens in verschiedenen Arbeitsschritten (Schritt I bis II, in den nächsten Abschnitten III bis VII) entwickelt, veranschaulicht und dokumentiert werden. Der Unterschied zwischen Problemstellungen und Arbeitsschritten liegt dabei im Charakter der zu
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begründenden methodischen Arbeit: „Arbeitsschritt“ bezeichnet konkrete Aktivitäten, die im Auswertungsprozess ausgehend vom empirischen Material unternommen wurden, während ich den Begriff der Problemstellung eher für anzuwendende Interpretationsmaximen und analytische Reflexionen verwende. Die konkreten Arbeits- und Diskussionsrunden zur Erstellung des Kategorienschemas: ein Verfahren des offenen Kodierens und Kategorisierens Wie lassen sich also die semantischen Gehalte der Antworten der Besucher zu Kategorien bündeln? Die Auswertung der Textprotokolle und die Erstellung eines Kategorienschemas erfolgten in mehreren Diskussionsrunden eines dreiköpfigen Kodierteams. Dazu wurde das Kategorienschema jeweils modifiziert und der Interpretation des empirischen Textmaterials angepasst. Jede dieser Diskussionsrunden widmete sich verschiedenen Problemstellungen in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Unter „Problemstellungen“ (A-F) sollen die sukzessiv auftretenden Probleme und die diesen entsprechenden methodischen Lösungen im Auswertungsprozess beschrieben werden, die sich ausgehend vom Textmaterial ergaben. So gelten als Problemstellungen z. B. die Fragen, wie ein dem Textmaterial angemessenes Kategorienschema zu entwickeln und zu gliedern ist, es trat eine Problemstellung bzgl. der Kodierung schwieriger Fälle („semantischer Grenzfälle“) auf und bzgl. des Umgangs mit der Semantik der Listenvergleiche. Damit liegen auf verschiedenen Ebenen des Auswertungsprozesses angesiedelte Problemstellungen und diesbezüglich entwickelte methodische Lösungen vor. Zu jeder Problemlösung erfolgten immer wieder Überarbeitungen und Veränderungen in der Kategorisierungs- und Kodierungspraxis, um dem semantischen Gehalt der Textprotokolle besser entsprechen zu können. Die Reihenfolge der angesprochenen Problemstellungen in der Dokumentation hier folgt der zeitlichen Reihenfolge der Arbeitsschritte und Diskussionsrunden, wie sie sich anhand der Sitzungsprotokolle rekonstruieren lässt. Die erste im Zuge der Auswertungen zu klärende Problemstellung A war also: Wie lässt sich ausgehend vom Material unterscheiden und gliedern, worüber das Textmaterial überhaupt Auskunft gibt? Ein Textprotokoll aus dem HdG, an dem sich die Differenzierung der verschiedenen Auswertungsdimensionen veranschaulichen lässt, lautet: „chronologisch aufgebaut (= Geschichtsvorstellung, -darstellung; VS), z. T. Sachen, an die man sich selbst erinnern kann (= Rezeption; VS sowie die Zeitgenossenschaft mit den ausgestellten, erinnerbaren „Sachen“ zugleich eine = Geschichtsvorstellung, -darstellung ist; VS). Wegen Gestaltung bzw. Inszenierung (= Medien; VS) hat man das Gefühl, man bewegt sich in der Zeit (= Rezeption; VS). Durch Requisiten (= Medien; VS) ist man in andere Zeiten zu-
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rückversetzt. Es ist ein Zeitraffer (= Rezeption; VS), in kurzer Zeit 50 Jahre durchlaufen.“, frei gewählt wird der Vergleich „Zeitreisefilm“ (= Rezeption; VS).
Ausgehend vom Textmaterial der ersten Vergleichsfrage erhält man, u.a. dem gerade vorgestellten Zitat folgend, Textpassagen, die sich in drei voneinander abgrenzbare Sinn- bzw. diesen entsprechende Auswertungsdimensionen aufteilen lassen: 1. Geschichtsvorstellung und -darstellung, eine Auswertungsdimension, die für die vorliegende Arbeit Rückschlüsse auf das Geschichtsdeutungen der Besucher erlaubt, 2. Rezeption und 3. verschiedene Medien im Museum. Die unterschiedlichen semantischen Dimensionen des Textmaterials wurden so zunächst analytisch differenziert. Entsprechend dieser empirisch vorliegenden semantischen Unterschiede wurden im Kategorienschema methodisch diese die drei Auswertungsdimensionen repräsentierende Spalten gebildet (vgl. Tabelle 5.1.5.1; Tabelle 22a; 23a im Anhang). Die Unterscheidung der drei Auswertungsdimensionen entstand in einer ersten Diskussionsrunde des dreiköpfigen Kodierteams. So wurde ein Kategorienschema mit drei Spalten generiert, das die Textprotokolle anhand dieser aus den Daten selbst gewonnenen Unterscheidung zu differenzieren hilft. „Kategorie“ bezeichnet eine Klasse von vorliegenden Textpassagen, die aufgrund der in ihnen zum Ausdruck kommenden semantischen Gemeinsamkeit gebündelt wurden. Dazu wurden Vergleiche aller Textprotokolle untereinander innerhalb des gesamten Textmaterials unternommen. Aufgrund des als Kategorisierung zu beschreibenden Vorgehens lag anschließend ein Bündel von Textmaterial vor, bei dem zugunsten von semantischen Gemeinsamkeiten von konkreten Unterschieden im Auftreten der Semantiken abstrahiert wurde. Das Gemeinsame der Textpassagen bzw. -auszüge in einer Kategorie ist so die in ihnen auftretende, bzw. in den Aussagen hervortretende implizite, gemeinsame Semantik. Ähnlich ist die Verwendung von „Kategorie“ und „Begriff“ in Bezug auf die Auswertungsschritte zu explizieren: der Begriff bringt die Textmaterialien in einer Kategorie auf einen gemeinsamen semantischen Nenner und bezeichnet das Gemeinsame des in der Kategorie gebündelten Textmaterials, dessen Sinnhorizont aber deutlich über den zur Benennung verwendeten Begriff hinausgeht; denn das einer Kategorie zugeordnete Textmaterial enthält immer mehr und andere Sinnbezüge als ein abstrakter Begriff repräsentieren kann. In einigen Fällen, die zugleich als relativ leicht zu interpretierende und mitunter prototypische gelten können, tritt ein zur Bezeichnung verwendeter Begriff bereits in den einer Kategorie zugeordneten Textpassagen auf. Die Textmaterialien in einer Kategorie sind sinnverwandt, sinnähnlich oder auch sinngleich, somit ist für jede Begriffsbildung zu reflektieren, warum sie diese Vielfalt auf einen begrifflichen Nenner bringt und diese Mehrdeutigkeit zu reduzieren geeignet ist. Am Ende des Auswertungsprozesses steht dann eine Kategorienbezeichnung, die die Nuancen zu-
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spitzt und Unschärfen der gebündelten Textmaterialien eingrenzt und damit verhindert, dass es zu einer Überinterpretation der Textmaterialien kommt. Erfolgt eine Kategorienbildung ausgehend vom empirischen Textmaterial, abstrahiert die Begriffsvergabe gegen Ende des Auswertungsprozesses wiederum entgegen den Besonderheiten und Ambivalenzen der einzelnen Antworten und ihrer Mehrdeutigkeit von diesen Unterschieden zugunsten einer gemeinsamen Repräsentation der Antworten durch einen Begriff. Diese weitere Problemstellung betraf die Kategorisierung (B) sowie die Vorläufigkeit verschiedener Kategorien, die sich in zweierlei Hinsicht im Auswertungsprozess zu bewähren hatten: Sie sollten allen im Textmaterial auftretenden und im Vergleich des Textmaterials untereinander als relevant zu erachtenden Sinnbezügen entsprechen und sie sollten sich zugleich insofern bewähren, als es eine gewisse Sparsamkeit in der Anzahl der gebildeten Kategorien erstrebenswert war. Dazu wurden zunächst Zitate und Textpassagen so zusammengestellt, dass eine semantische Konfiguration entstand. Unter einer semantischen Konfiguration verstehe ich eine Sammlung semantisch ähnlicher, sinnverwandter oder sinngleicher Textelemente, aus denen dann im Zuge des voranschreitenden Interpretationsprozesses schließlich eine "Kategorie" entwickelt wurde. Mit dem ersten Entwurf eines Kategorienschemas lag dann ein vorläufiges „Schubladen-Raster“ für das Textmaterial vor, bei dem es zwar noch an Begriffen für die jeweiligen Kategorien fehlt, wobei die „Schubladen“ stattdessen von wortwörtlichen Zitaten aus dem Textmaterial „auf ihren semantischen Nenner“ gebracht wurden. Die Problemstellung des Kategorisierens wurde also mit der Erstellung eines Kategorienrasters ausgehend vom Textmaterial gelöst. Mit dieser Problemstellung wurde auf dreierlei Art im Umgang mit dem Textmaterial verfahren: Einesteils wurde eine große Container- oder Pool-Kategorie gebildet, die erst einmal alles Textmaterial zur ersten Vergleichsfrage undifferenziert umfasste. Das geschah z. B. im Falle der Rezeption von Geschichte über Erinnerung. Es galt dann zweitens, eine methodische Regel für die Entscheidung anzuwenden, wann man eine Kategorie ‚schließt‘, weil sie zu umfassend wird, eine zu große Anzahl an Fällen umfasst und damit nicht länger trennscharf ist, die über das Gemeinsame der Textmaterialien „hinausragen“, weshalb zu überdenken war, ob diese Kategorie nicht weiter aufzugliedern sei. Dann lagen aber einige Kategorien provisorisch sehr kleinteilig untergliedert in Subkategorien vor, wie im Fall „Alltagsgeschichte“ in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung und -darstellung“. Dabei galt es später im Auswertungsprozess die Problemstellung zu bewältigen, die Zahl der Kategorien mit Blick auf die angestrebte quantitative Auswertung gering zu halten (eine Sparsamkeitsregel) und zugleich der Sinnaffinität der gebündelten Textmateriale zu entsprechen. Dabei war also zu vermeiden, nicht sinnverwandtes allein aufgrund geringer Zellenbelegung
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zusammenzufassen. Deshalb wurde z. B. die Kategorie „Alltagsgeschichte“ zunächst mit vier Subkategorien mit den diesen entsprechenden semantischen Feldern, „Exemplarische Geschichte“, „Zeitgenossenschaft, Generationen- und Familiengeschichte“, „Fremde Vergangenheit“ und „räumlich-territoriale Geschichte“ entwickelt. Für die statistische Auswertung und Ergebnisdarstellung wurden die ersten drei Subkategorien zu „Alltagsgeschichte“ zusammengezogen und allein „Räumlich-territoriale Geschichte“ aufgrund ihrer zu geringen Sinnaffinität zur Alltagsgeschichte als eigenständige Kategorie aufrechterhalten. Jedes der Gruppenmitglieder erarbeitete, jeweils nach dem Abschluss einer Feldphase in einem Museum, zunächst seine eigene Interpretation der erhobenen Textprotokolle unabhängig voneinander und separat. So entstanden allein für die erste Vergleichsfrage verschiedene Kodierprotokolle, die im Vergleich miteinander in einer Synopse die z. T. voneinander abweichenden Interpretationen bzw. Kodierungen der beteiligten Diskussionsteilnehmer zeigen und die Entwicklung hin zu einer geteilten Interpretation dokumentieren. Durch den Diskussionsprozess im Kodierteam kam es zu einer diskursiven Validierung dieser Interpretationen. Eine weitere Problemstellung (C) lag demnach in der analytischen Differenzierung und Überarbeitung des vorläufigen Kategorienrasters bis hin zu einer feineren Kategoriengliederung vor. (Zum Charakter der Vorläufigkeit der Kategorien vgl. die Ausführungen zum Morphing im folgenden Abschnitt. Zusätzlich wird die Entwicklung der Rezeptionskategorien darüber hinaus an einzelnen Textprotokollen in Abschnitt 5.1.5 dokumentiert werden.) Im Auswertungsprozess galt es zunächst weiter, allen Sinngehalten zu entsprechen, die aufgrund ihrer Häufung als relevant erschienen, um in eine eigene Kategorie gefasst zu werden. Das Kategorienraster sollte alle in einer Stichprobe vorhandenen Deutungsmuster umfassen, wonach aber die Kategorienanzahl sowie die Aufgliederung in Subkategorien perspektivisch und erwartbar irgendwann weiter zu reduzieren war. Ein Arbeitsschritt, der aber erst dann sinnvoll einzuplanen ist, sobald alles Textmaterial aus allen Stichproben vorliegt und die endgültige Bedeutung einer Kategorie zu ermessen ist. Ein Binnenvergleich im Textmaterial (also innerhalb einer Museumsteilstichprobe) erlaubte eine zuordnende Interpretation von Textpassagen, für die kein Kode für „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ vergeben wurde, sondern z. B. allein für Rezeption. Der interpretative Prozess der Kategorienbildung war dabei geprägt von den Bemühungen, Ähnliches zusammenzufassen und Besonderes angemessen einzuordnen. Im Zuge der Auswertung galt es weiter, die Problemstellung zu lösen, dass die Wahl eines Vergleiches von einer vorgegebenen Liste nicht unbedingt mit den Eindrücken der Besucher gleichzusetzen ist; der mit der Vergleichswahl gemeinte, subjektive Sinn lässt sich nicht zweifelsfrei erschließen (D), sie also keinesfalls als eins-zu-eins-Übernahme einer Formulierung interpretiert werden darf, da diese Listenvergleiche strenggenommen ja nur als Einladung zu weiteren Erläuterungen dienen sollten. Damit ist gemeint, dass die Wahl eines angebotenen Vergleiches noch
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keine hinreichenden Rückschlüsse auf die Eindrücke, die mit Hilfe des Vergleichs zum Ausdruck gebracht werden sollten, zulässt. Die angebotenen Vergleiche dienten als Projektionsfläche für die Schilderung der Eindrücke der Besucher. Die Vergleichsformulierungen von der Liste wurden den Besuchern gewissermaßen „in den Mund gelegt“, was es bei der Interpretation zu berücksichtigen galt. Dabei wurde jedoch präventiv bei der Zusammenstellung der Liste darauf geachtet, dass sich keine Vergleiche aufdrängten oder sich aus sich selbst heraus normativ „verboten“. Dabei war zudem aus mehreren Vergleichen zu wählen, insofern lässt sich die Auswahl als eine Entscheidung zwischen Alternativen interpretieren. Da die Vergleichswahl methodisch betrachtet in möglichst geringem Maße „in den Mund gelegt“ sein sollte, galt es diese Orientierung auch weiter in der Interpretation der Textmaterialien im Blick zu behalten. Insofern musste eine Regel gefunden werden, wie bei der Auswertung mit dem Problem zu verfahren ist, dass durch die Vergleichsliste den Befragten zwar ein „Werkzeug“ an die Hand gegeben wird, dessen Gebrauch (d. h. die Wahl eines angebotenen Vergleichs und deren Erläuterung) aber wiederum „Spielräume“ für das Antwortverhalten eröffnete. Die so entstehenden Texte (auch die Wahl eines Vergleichs und ggf. deren Erläuterung, sind ein Text) sind also, im Unterschied zu den „frei gewählten“ Vergleichen, zwar stimuliert, aber doch nicht ohne Sinngebung, die durch die Befragten selbst vorgenommen wird. Eine methodische Lösung für dieses Problem gibt es eigentlich nicht, von der methodischen Regel abgesehen, dass jedes der Mitglieder im Kodierteam sich an einen kontextsensitiven Umgang mit den Textmaterialien zu halten hatte. Es war bei jeder Einzelformulierung genau darauf zu achten, was in einem Textprotokoll denn jeweils subjektiv gemeint war und was insofern von den Aussagen konkret empirisch belegt werden konnte. Die jeweiligen Begriffe aus den Vergleichen sowie ihre Wahl und Sinnverwendung waren die kommunikativen Praktiken, die es zu interpretieren galt. Als Kontext der Interpretation sollte dabei der Sinnkontext, der sich jeweils aus dem Interview (zu entnehmen aus den Notierungen der Interviewer) ergab, berücksichtigt werden; der Kontext des Museums ist so nur vermittelt durch die Eindrücke der Besucher in der Interpretation des Textmaterials enthalten. Denn es galt, den gemeinten Sinn interpretativ zu erschließen. Also liegt erneut eine interpretative Problemstellung vor, über die zu reflektieren vor einer Überinterpretation des empirischen Textmaterial schützen sollte. Als das Textmaterial der Stichprobe aus dem MHU in den Auswertungsprozess einfloss, lag eine ausreichend große Anzahl an Fällen vor, um neben den Kategorisierungen erste Kodierungen im Rückgriff auf das neue Textmaterial zu unternehmen. Es ist zu vermuten, dass es sich mit dem MHU um ein typisches und insofern klassisches Museum handelt, das MHU hat eine für lokale und regionale, landesgeschichtliche Museen typische Geschichtsdarstellung, insofern lässt sich vermu-
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ten, dass seine Besucher auch Eindrücke gewinnen, wie sie strukturell für ein Verstehen von Geschichte in diesem häufiger auftretenden Typ von Ausstellungshäusern gängig ist. Mit diesem Museumstyp wurde die Varianz der Ausstellungstypen von Geschichte somit wesentlich erweitert, so dass auch eine entsprechende Erweiterung der Varianz von Besuchereindrücken erwartet werden konnte. In dieser Zeitphase wurde deshalb eine erste Diskussionsrunde in der Genese der Auswertungsmethode auf die vorläufige Benennung der Kategorien verwendet (E). Zu beachten ist dabei, dass mit diesem Akt der Benennung eine weitreichende Interpretation des Materials vorliegt, die wiederum selbst sinngebend ist. Insofern ist darauf zu achten, inwiefern der zur Benennung gewählte Begriff geeignet erscheint. Die in den Kategorien gebündelten Textmateriale sollten dabei auf einen Begriff gebracht werden, der in der Lage zu sein versprach, dem Gemeinsamen an der Fülle und Vielfalt der Sinngehalte gerecht zu werden und dennoch nicht zu Verwechslungen und Überschneidungen mit anderen Kategorien zu führen und damit eine empirisch wie theoretisch schlüssige Repräsentation des Textmaterials zu erlauben. In der empirischen Interpretation und der damit zusammenhängenden Kategorisierungs- und Kodierarbeit war der Charakter der Textmaterials zu berücksichtigen, die Option zu bieten, somit auf relativ gängige Deutungen von Geschichte sowie gängige Rezeptionsweisen zurück schließen zu lassen. Lag mit der Stichprobe aus dem MHU also Textmaterial vor, welches nahelegte von typischen Besucherbeschreibungen auszugehen, war der Zeitpunkt der Begriffsbildung in Abhängigkeit vom empirischen Gegenstand gewählt. Eine Problemstellung betraf so die Begriffsbildung und Benennung von Kategorien. Wie im Theorieteil deutlich werden konnte, ist bereits Geschichtssemantik mehrdeutig, trifft diese Mehrdeutigkeit erst recht auf die Eindrücke der Besucher von der in einem Museum ausgestellten Geschichte zu (F). Ausgehend von den Problemstellungen im Auswertungsprozess zeigt sich dies in Textmaterialien, anhand derer unentscheidbar ist, welcher Kategorie diese zuzuordnen sind, da der „gemeinte“ Sinn des Material mehrdimensional ist und nicht auf eine Kategorie reduziert werden kann. Eine Besucherin des MHU formuliert z. B. frei „gelungene Zusammenfassung der Hannoveraner Geschichte“; sie wählt von der Liste „Ein Fest in historischen Kostüm“, „ein Blättern im Buch der Geschichte“, „ein riesiges Gemälde, auf dem viele verschiedene Geschichten dargestellt werden“ und erläutert ihre Auswahl mit: „Fest; Gemälde: Weil ich mich gern durch sinnliche Inszenierungen anregen lasse. Nicht nur isolierte Kostüme, sondern mit Schmuck u.ä. ergänzt. Jetzt wirkt es stimmiger, kompletter, nicht nur Stücke in einer Vitrine. Lebenswelten werden geschlossener dargestellt. Buch der Geschichte: Chronologischer Weg“.
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In diesem Textprotokoll wird die Geschichtsdarstellung nicht nur als „chronologischer Weg“ verstanden; die Besucherin sieht auch „Lebenswelten“ im Museum dargestellt, sie nimmt also die historischen Lebensbedingungen der Menschen präsentiert wahr – etwas, das auf die ausgestellte Volkskunde und Alltagsgeschichte verweisen könnte. Die Besucherin nimmt zugleich den exemplarischen Charakter der musealen Präsentation wahr, weil sie hervorhebt, es könne sich potentiell um „isolierte Kostüme“ handeln, die sie aber mit Schmuck ergänzt sieht, wodurch es stimmiger für sie wirkt. Dadurch, dass die Kostüme nicht isoliert dargestellt, sondern durch „Schmuck“ ergänzt werden, werden ganze Lebenswelten evoziert: Die einzelnen Stücke werden also in einem Kontext (Kostüm + Schmuck) präsentiert, der aus den einzelnen Stücken etwas für diese Lebenswelt Exemplarisches werden lässt. Durch den freien Vergleich realisiert die Besucherin zudem einen räumlichterritorialen Bezug zur Hannoveraner Geschichte. Insofern war diese Textpassage in mehreren Kategorien der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, darstellung“ zu verorten und mehrfach zu kodieren (räumlich-territoriale Geschichte, exemplarische Geschichte, Alltagsgeschichte und Chronologie). Die Charakterisierung der Eindrücke eines Befragten durch bildhafte Vergleiche kann selbst in ein und demselben Museum zugleich mehrere Bezüge zu seinen Eindrücken, Rezeptionsweisen sowohl der diesem Textprotokoll zugrundeliegenden subjektiven Geschichtsvorstellung als auch der musealen Geschichtsdarstellung enthalten. Dieser Problemstellung des multiplen Sinns und dem Vorliegen von Mehrfachnennungen wurde damit entsprochen, Mehrfachkodierungen vorzunehmen. Es liegt also ein „doppeltes“ Problem mit den Mehrfachkodierungen vor: Es war in den drei verschiedenen Auswertungsdimensionen (Geschichtsvorstellung, darstellung, Rezeption; Medien) zu kodieren und auch innerhalb einer Auswertungsdimension wurden mehrfach Kodes vergeben (in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“: Alltagsgeschichte, exemplarische Geschichte und räumlich-territoriale Geschichte). Somit wurde diesem Problem doppelt entsprochen. Einige Äußerungssequenzen der Besucher sind in mehreren Kategorien einer Auswertungsdimension zugleich zu verorten, also auch mehrfach zu kodieren (a). Natürlich fanden ebenso Mehrfachkodierungen statt, indem Kodes in den verschiedenen Auswertungsdimensionen zugleich vergeben wurden (b). Deshalb werden im Folgenden mitunter auch verschiedene Textpassagen mehrfach zitiert, um die Auswertungsmethode zu veranschaulichen, obschon ich zugleich versucht habe, solche Doppelungen möglichst zu vermeiden. Diese Problemstellung betraf jedoch im Wesentlichen den Umgang mit multiplen Sinnbezügen im empirischen Material in einer Auswertungsdimension und wurde durch die Vergabe von Mehrfachkodierungen in dieser Dimension gelöst. Die letzte Feldphase im DHM fand im November/Dezember 2006 statt. Mit dem Vorliegen dieses Textmaterials war abschließend zu prüfen, ob das vorliegen-
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de Kategorienraster in der Lage ist, den Antworten der Besucher dieses Museums ebenso gerecht zu werden und diese zu berücksichtigen, wie dem Textmaterial aus den anderen drei Museen. Als ein endgültiges Kategorienschema kann so erst die Version gelten, nachdem das Textmaterial aus dem DHM vorlag. Mit diesem Schritt konnte geprüft werden, ob das Kategorienschema für alle vier Museumsstichproben gleichermaßen geeignet erscheint, die Textmateriale aus den protokollierten Antworten der Besucher im Umgang mit der ersten Vergleichsfrage in Kategorien zu bündeln und die unternommenen Kodierungen zu berücksichtigen. Erst nach letzten Änderungen im Januar 2007 konnte das Kategorienschema als endgültig gelten. Das gesamte Textmaterial zur ersten Vergleichsfrage wurde nach und nach bis in den März 2007 hinein kodiert. Es wurden bei der Erstellung des Kategorienschemas verschiedene Interpretationen erwogen, verglichen und überdacht. Bei diesem „Hin- und Herpendeln zwischen induktivem und deduktivem Denken“ (Strauss, Corbin, 1999: 89), werden Kategorien und Subkategorien in ihrem Verhältnis zueinander abgewogen, verglichen und in Beziehung gesetzt. Systematische Vergleiche von zwei und mehr Phänomenen sowie Binnenvergleiche anzustellen, ist im Zuge der Kategorienbildung zentral (Strauss, Corbin, 1999: 66f). Insofern wurde zunächst innerhalb der Stichproben kodiert, dann die Stichproben untereinander verglichen und dabei wurden in sich wiederholenden Schleifen die Kategorien weiter verfeinert. Die vorliegende Publikation bekommt es mit dem Klärungsbedarf zu tun, dass sie von Kategorien ausgeht, die in KUGL abweichend interpretiert wurden. Diese Interpretation ist mit der weiteren Interpretation der Kategorien in der vorliegenden Publikation zu ergänzen. Die in KUGL als Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ entwickelten Kategorien lassen sich zugleich zur Analyse der Geschichtsdeutungen der Besucher verwenden. Denn um die für diese Publikation relevanten Typen von Geschichtsdeutungen in der im Forschungskontext entwickelten Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ voneinander abzugrenzen, lässt sich ein empirisches Beispiel heranziehen, das den Unterschied veranschaulicht. Ein Besucher des HdG konstruiert den Sinn seiner Eindrücke im freien Vergleich: „Chronologischer Weg, der objektiv ist, keine einseitige Darstellung, DDR/BRD ausgewogen dargestellt.“ und fährt mit Referenz auf den Listenvergleich „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit seiner Erläuterung fort, „Einige Teile selbst erlebt, Prager Frühling, nicht nur Dinge, chronologisch, interessante und wesentliche Ereignisse, sinnvolle Reihenfolge“.
Anhand dieses Beispiels lässt sich also der Unterschied zwischen der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ und den Geschichtsdeu-
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tungen resp. in diesem Einzelfall auch dem Geschichtsverstehens des Besuchers erläutern: Der Besucher ist „Zeitzeuge“ und scheint von daher – jenseits der ausgestellten Geschichte – eine Vorstellung von (einigen, selbst erlebten Teilen) der Geschichte zu haben, die ausgestellt sind. Deshalb glaubt er, die Objektivität und Ausgewogenheit der ausgestellten Geschichte beurteilen zu können. Der chronologischen Geschichtsdarstellung wird Objektivität zugeschrieben. Der Besucher selbst versteht zudem die Darstellung (ausgehend von selbst Erlebtem, deshalb) als eine sinnvolle Reihenfolge. Dieses Textprotokoll erlaubt durch seine zweiteilige Struktur – der Befragte beschreibt einerseits die Geschichtsdarstellung und erläutert dann andererseits, wie er sie subjektiv versteht –, eindeutig die Geschichtsdarstellung vom Verstehen des Besuchers derselben zu differenzieren. Zwar liegt bei diesem Beispiel aufgrund der Zeitzeugenschaft des Besuchers ein besonderer Fall vor; ein Abgleich mit eigenen Wissensquellen wie Schule oder eigenes Geschichtsstudium o. ä. erscheint aber als denkbarer anderer Fall, in dem Besucher explizit zwischen Geschichtsvorstellung und -darstellung unterscheiden können, bei dem „Geschichte“ sich dann nicht allein in (selbst erinnerbarer) Zeitgeschichte erschöpfen würde. Demgegenüber gibt es ebenso einen Besucher des DHM, der eine chronologisch geordnete Geschichtsdarstellung erwähnt, das aber gerade zum Anlass nimmt, in seinem Geschichtsverstehen etwas in der chronologischen Darstellung zu vermissen: Ein Besucher vergleicht frei mit „ehr Bilder als Text; entspannt durchschlendern“, wählt den Vergleich „ein Besuch in einer Schatz- und Wunderkammer“ von der Liste und erläutert: „Historische Gegebenheiten sind grob bekannt. Exponate schön und ungewöhnlich. Chronologisch geordnet. Man kann vom napoleonischen Zeitalter zum Ende des I. Weltkriegs rutschen. Habe die Industrialisierung vermisst. Ritterrüstung ist soo schwer, das hätte ich nicht gedacht. Es ist was zum Anfassen.“
Das Gemeinsame dieser beiden Zitate liegt darin, dass in beiden Fällen die ausgestellte Geschichte mit einer eigenen Vorstellung von Geschichte verglichen wird. Im letzteren Zitat ermöglicht die chronologische Ordnung dem Besucher, die Industrialisierung (zwischen dem „napoleonischen Zeitalter“ und dem „I. Weltkrieg“) zu vermissen. Zugleich rekurriert der Besucher mit „chronologisch geordnet“ auf Chronologie, während im vorletzten Zitat abweichend Chronologie als „objektiver Weg“, „sinnvolle Reihenfolge“ gilt und Chronologie damit nicht als Ordnung, sondern als Sequenz gedeutet zu werden scheint. Da es sich bei der gerade dokumentierten Methode um eine qualitative Methode handelt, deren Entwicklung insofern allein ausgehend vom empirischen Gegenstand geleitet erfolgte, stelle ich nun erst gegen Ende diese Abschnittes die methodischen Grundsätze vor, die dabei ex-post betrachtet Anwendung gefunden haben. So soll
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auch in der Darstellung der Methode vermieden werden, Theorien von „außen“ an den Forschungsgegenstand heranzutragen und stattdessen erfolgt die Methodenentwicklung in Auseinandersetzung mit dem empirischen Gegenstand. Um zu veranschaulichen, welche methodischen Grundsätze berücksichtigt wurden, lässt sich im Nachhinein auf entsprechende Methodenliteratur zurückgreifen, um das Vorgehen im Vergleich mit anderer Methodenanwendung weiter zu plausibilisieren. Es wurde ein an die Grounded Theory angelehntes methodisches Verfahren angewendet (Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2009: 183ff). Allein ausgehend vom Textmaterial wurden in mehreren Auswertungsschritten die Regeln aufgestellt und das Kategorienschema angelegt, das gemäß eines Verfahrens offenen, selektiven und theoretisch angereicherten Kodierens generiert wurde (Strauss, Corbin, 1999: 44ff). Die durchgeführten Befragungen und das daraus gewonnene Textmaterial wurde nach dem Interpretations- und Auswertungsprozess, der sich der Auswertungstechnik des Kodierens gemäß der Grounded Theory bediente (Strauss, Corbin, 1999; Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2009: 195ff), in binäre Variablen überführt, derer sich die weitere quantitativ verfahrende Analyse des Materials bedient.5 Offenes Kodieren bedeutet, anhand von Indikatoren (z. B. Wörter, Satzteile oder Sätze) hinter diesen liegende Semantiken im Textmaterial aufzuspüren. Die Kodierungen der Textprotokolle wurden im Kodierteam abgestimmt sowie im Zuge der Kodierung zugleich das Kategorienschema den damit vorliegenden Interpretationen angepasst werden musste. Formal an methodischer Regelfindung orientiert, lässt sich im Nachhinein sagen, dass einer Abweichung in den Interpretationen auf drei Weisen entsprochen werden kann: Die Diskussion kann a) dazu führen, dass sich Interpretationen durch Verständigung angleichen und befördert damit, dass ein oder mehrere Mitglieder des Teams die Kodierung abändert. Sie kann b) befördern, dass das Kategorienschema modifiziert wird oder c) dazu führen, dass Mehrfachkodierungen erfolgen. Zuletzt war demnach die Problemstellung zu lösen, dass nicht nur mehrere Kodes pro Textpassage zu finden waren, die die Sinngehalte des Textmaterials wiedergeben; als Endergebnis zu bestimmen war auch eine interaktiv ausgehandelte Interpretation aller Textmaterialien und eine dieser entsprechende einheitliche Kodierung. Über dieses gemäß der Grounded Theory zirkuläre Vorgehen in verschiedenen Arbeitsschritten (Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2008: 206) des miteinander verwobenen Kodierens und Kategorisierens lassen sich Charakteristika einer Kategorie von Textmaterialien in einem Kodierverfahren herausarbeiten. So wurden verschiedene Interpretationen, Kategorisierungen und Kodierungen der Daten mehrfach reflek5
Zum Vergleich: Das zu den Auswertungen von Csikszentmihalyi, Rochberg-Halton (1989) entwickelte Kodierschema findet sich in Csikszentmihalyi, Rochberg-Halton (1994) publiziert. Heinrich, 2002: 125 beschreibt ebenfalls seine Kategorisierungsarbeit.
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tiert, diskutiert und so die Tragfähigkeit eines in Entstehung begriffenen Kategorienschemas am Textmaterial nach und nach erprobt. Die gedankenexperimentelle Konstruktion von Lesarten, wie sie für eine Sinnrekonstruktion nötig ist, kann kaum von einer Person bewältigt werden, da jeder Interpret dazu tendiert, bestimmte Interpretationen zu forcieren und andere auszublenden (Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2008: 255). Durch die Diskussionsrunden verdichten sich spezifische Interpretationen, die geeignet scheinen, der kritischen Reflexion und Prüfung durch die Teilnehmer zu genügen. Die endgültige Entscheidung über eine einheitliche und endgültige Kodierung angesichts der von drei Mitgliedern z. T. auch am Ende noch verschieden kodierten Textmateriale in allen Museen oblag dem Leiter des Forschungsprojektes. Während der durch das Prinzip der Gegenstandsangemessenheit geleiteten Methodenentwicklung konnten die ausgehend vom empirischen Material angewandten Regeln protokollarisch festgehalten und der Auswertungsprozess dokumentiert werden. Dieser Prozess wird in Notizen während der Auswertung dokumentiert, um Interpretationsregeln und ihre Anwendung nachvollziehbar erläutern. In dem mehrstufigen Verfahren wurde also, so lässt sich ex-post die methodische Praxis als zirkulär konstruierte und angewandte Regeln beschreiben, in einem ersten Schritt (Durchsicht I) jeweils die Stichprobe eines Museums gesichtet und im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Differenzen durchsucht und geordnet. Im Zuge der Auswertung wurden in einem ersten Schritt Textpassagen gebündelt. Semantisch Ähnliches wurde also in übertragenem Sinne „zu einem Haufen zusammengefasst“ oder einer Schublade hinzu sortiert. Dabei wurde rekonstruktiv vorgegangen und die begriffliche Benennung stand erst am Ende des Interpretationsprozesses fest; d. h. nicht immer tritt dabei der Begriff, der später eine Kategorie von Antworten bezeichnete (z. B. Strukturation, komplexes Geschehen oder Reflexion, Identifikation etc.), tatsächlich in den Textprotokollen auf. Ausgehend von der Wortwörtlichkeit des Textmaterials wurde versucht, dem gemeinten Sinn zu entsprechen. Dabei war zudem ein subsumptionslogisches Verfahren, das in der empirischen Interpretation bereits vorab von einem theoretischen Begriff ausgeht, zu vermeiden. Erst später wurden in einigen Fällen theoretische Begriffe zur Kategorienbenennung hinzugezogen. In einem zweiten Schritt ist das nach Ähnlichkeit gruppierte Textmaterial zu einer Kategorie zu bündeln, um es zukünftig mit einem Begriff zu benennen (Bündelung zur Kategorie II). In einem letzten, die Kategorisierung abschließenden Arbeitsschritt wurde allen Antworten auf die Vergleichsfrage mindestens ein Kode zugeordnet, der diese als zu einer Kategorie zugehörig identifizierbar machte und sich schließlich in Dum-
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my-Variablen überführen ließ. Die Kategorienbildung soll im Folgenden aber zunächst allein6 an einer Beispielkategorie in der Auswertungsdimension „Geschichtsdarstellung/-vorstellung“, nämlich Chronologie, am entsprechenden Textmaterial vorgeführt werden. Gegen Ende des Abschnitts wird auch anderes Textmaterial zur Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ einbezogen (im Gegenzug zur auf „Chronologie“ beschränkten Darstellung der Methode zu Beginn des Kapitels), um die Entwicklung der Rezeptionskategorien an vollständigen Textpassagen vorzuführen. Exemplarische Demonstration der Kategorienbildung am Beispiel Chronologie An dieser Stelle folge ich weiter der im vorherigen Abschnitt gegen Ende der Kodierung und Kategorisierung aus dem Auswertungsprozess des Materials generierten methodischen Regeln. Wie gerade als Schritt I und Schritt II der Auswertung dargestellt, wurden zunächst in einer Durchsicht und Bündelung alle leicht interpretierbaren Textpassagen aufgrund von Ähnlichkeiten und Unterschieden einer semantischen Kategorie in einer Synopse zusammengestellt. Bei diesem Arbeitsschritt war zu berücksichtigen, dass u. U. nicht alle Textprotokolle, in denen Chronologie oder chronologisch wortwörtlich auftritt, auch die hinter diesem Wort liegende Semantik thematisieren. Zur Vereinfachung wurden aber zunächst alle Textpassagen, in denen „Chronologie“ wortwörtlich genannt wurde, gebündelt, um dann erneut zu überprüfen, um welche Semantik es sich handelt, wie die Befragten in den der Kategorie zugeordneten Textprotokollen ihre Eindrücke deuten, ob sie dabei vielleicht auch Geschichte deuten und wie dies in den Protokollen festgehalten ist. In diesem Abschnitt bei der Einführung der konkreten Arbeitsschritte zur Auswertung des Textmaterials gehe ich bewusst so vor, die Auswertungsschritte zunächst ausgehend von Textpassagen der Kategorie Chronologie einzuführen. Zu dieser von mir präferierten Darstellungsweise der Auswertungspraxis sind potentiell zwei alternative Strategien denkbar. Der induktiven Auswertungsmethode angemessen wäre es, die Auswertungsmethode, also die Kategorienbildung und Kodierung, ausgehend vom Pool aller Textmaterialien aus allen Museen zu veranschaulichen, denn nur ausgehend vom gesamten Pool ließe sich die analytische Differenzierung der Auswertungsdimensionen und Kategorien plausibel demonstrieren und so wurde faktisch im Auswertungsprozess mit dem Material verfahren. Nur so ist es möglich, 6
Abgesehen von einer Ausnahme: bei der Darstellung des spezifischen Umgang mit der Einordnung semantischer Grenzfälle veranschauliche ich diese mangels passenden Textmaterials für dieses Problem in der Kategorie Chronologie am Beispiel der Kategorie Narration.
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mit den Kategorien museumsübergreifende Gemeinsamkeiten in den Eindrücken der Besucher aufzuspüren, diese interpretativ herauszuarbeiten und somit analytisch ein Kategorienschema zu entwickeln, welches in der Lage ist, ausgehend von diesen in Kategorien gefassten Gemeinsamkeiten empirisch auftretende Unterschiede, z. B. der Häufigkeit der Eindrücke der Besucher, zwischen den Museen zu berücksichtigen. Diese „Best-Practice“-Variante lässt sich aber darstellungspraktisch aufgrund der Komplexität und Fülle des Textmaterials nicht realisieren, weshalb ich z. T., je nach Textmaterial, selektiv darauf zurückgreife und dies entsprechend kennzeichne bzw. so darstelle. Dabei werde ich die Auswertungen zugleich z. T. nach den Museen differenziert darstellen, da ich glaube, durch diese Art der Argumentationsgliederung die Methode einem Leser besser veranschaulichen zu können. Diese Unterteilung des Materials nach Museen wurde bei der Auswertung bewusst vermieden, da sich nur so die Unterschiede zwischen den Museen ausgehend vom empirischen Material herausarbeiten lassen. Wie lassen sich ausgehend vom Textmaterial die Eindrücke der Besucher interpretieren? Wie lässt sich ausgehend von der kommunikativen Schilderung der Eindrücke der Besucher ausgehend vom Textmaterial ein Begriff von Chronologie entwickeln, mit dem sich die Semantik im Textmaterial identifizieren lässt, selbst wenn der Begriff selbst keine Verwendung findet? Das Vorgehen induktiver Begriffsbildung lässt sich am Beispiel „Chronologie“ veranschaulichen. Manche Besucher verwenden einen Begriff, der später die Kategorie benennt, gar nicht. Andere Besucher verwenden einen Begriff so, dass diese Verwendung nicht einer wissenschaftlichen Definition entspricht. Diese Besucher schildern etwas und verwenden einen Begriff in einem Sinne, der nicht einer wissenschaftlich-theoretischen Definition entspräche. Sie thematisieren in ihren Schilderungen z. B. Chronologie in einem kommunikativen Zusammenhang, der verdeutlicht, dass sie eigentlich die Gliederung einer Erzählung meinen. Weiterhin lässt sich am Textmaterial ablesen, dass einige Besucher auch den Sinn schildern, der einem empirisch entwickelten Begriff von Chronologie entspräche, sie verwenden diesen Begriff aber nicht explizit. Zudem gibt es strenggenommen auch noch einen im öffentlichen Diskurs häufig verwendeten oder wissenschaftlichen Begriff von Chronologie. Dier empirisch-induktive Begriffsentwicklung bedient sich dabei der Auswertungstechniken einer Kategorisierung, einer abgrenzenden Präzisierung und Bestimmung bedeutungstragender Merkmale eines derart entwickelten Begriffes. In einem ersten Durchlauf am Material (s.o.; Schritt I) wurden Textpassagen aufgegriffen, die nahelegten, auf die bereits in einem vorherigen Arbeitsschritt differenzierte Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ zu verweisen, welche im Laufe der Auswertungsarbeit in kleiner semantische Konfigurationen
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und Subkategorien untergliedert wurde. So war z. B. zunächst ein Bündel von Textbeispielen zu finden (s.o.; Schritt II), die für sich selbst sprechen und der Geschichte selbst nur ganz basal Sinn zuschreiben, indem sie allein ihre Darstellung als geordnet beschreiben: „gut gegliedert, von Jahr zu Jahr“, „Unter einer Überschrift ‚von dann bis dann‘“ „es geht von Zeit zu Zeit“. Die Besucher nehmen demnach ausgehend von ihren Eindrücken die ausgestellte Geschichte als etwas wahr, das man zeitlich gliedern kann, indem man einen Kalender zu Hilfe nimmt und nach vorher oder nachher unterscheidet oder ein Andauern von etwas (von dann bis dann) beobachtet. Jenseits der physikalischen Weltzeit und ihrer Messung in Jahren, Uhrzeit, Chronologie und Datum wird Geschichte dabei als eine Gliederung oder Ordnung thematisiert. Diese Ordnung verleiht ihr laut diesen Äußerungen Sinn. Eine plausible Interpretation wäre demnach, von der Verwendung des Begriffes Chronologie durch die Besucher im Sinne einer Geschichte in temporaler Ordnung auszugehen. An dieser Stelle soll eine Notation für die Darstellung der Auswertung eingeführt werden, die ich verwende und die es erlaubt, Ähnliches und Differentes, zu einer semantischen Konfiguration gehöriges oder anderes, im Textmaterial aufzuspüren. Wird im Zuge der Kategorienbildung Ähnliches, Sinnverwandtes oder -gleiches gesucht, bietet es sich an, das Material (in einer ersten Suchbewegung) schematisch nach ähnlichen Textmaterialien zu durchsuchen. Wie im folgenden Beispiel in Bezug auf „Erzählung“ deutlich werden konnte, lassen sich so schnell Textpassagen finden, die über eine rein formale Gestaltung von Geschichte hinausweisen und mehr und anderes mit Geschichte in Verbindung bringen. An dieser Stelle lässt sich das Symbol eines Pfeiles „ĺ“ verwenden, um auf über ein Textbündel hinausgehenden Sinn im Textmaterial zu verweisen. Über die Zugehörigkeit und NichtZugehörigkeit der Textmateriale zu einer Kategorie galt es, wie gesagt, im Zuge der Kategorisierungsarbeit zu entschieden. Das Zitat „aufgrund des chronologischen Aufbaus/der Abfolge“, womit der Besucher seine Vergleichswahl „ein Blättern im Buch der Geschichte“ begründet, plausibilisiert die Interpretation dieser Sinnzuschreibungen, die wie die anderen soeben genannten (z. B. von Jahr zu Jahr, von dann bis dann), allein formale Merkmale einer Geschichtssemantik nennt, die mit Chronologie in Verbindung zu bringen sind. Es lassen sich bei einer Durchsicht im Textmaterial eine Reihe von Textprotokollen ausfindig machen, die eine temporale Ordnung auf die eine oder andere Weise mit dem Begriff „Chronologie“ in Verbindung bringen: „Der Ablauf orientiert sich an der Chronologie der Ereignisse...“, „chronologische Reihenfolge, bei Erzählung“ „Erzählt eine Abfolge...“ ĺ Erzählung. Die hier ausgewählten Zitate führen den Interpreten demnach zu Textpassagen, die nicht allein die formale temporale Ordnung der Geschichte aufgreifen und insofern einen über eine Deutung von „Geschichte als temporale Ordnung“ hinausge-
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henden Sinn aktualisieren. Diese Fälle wurden vorrübergehend durch das Pfeilsymbol ĺ gekennzeichnet. Im Auswertungsprozess entstehen gewissermaßen Kategorien, die sich in einer Art Prozess des „Morphings“ befinden7. Zur abstrakten, aber visuellen Veranschaulichung, was ein Morphing-Prozess ist, lässt sich an den Spezialeffekt bei Fotos und Filmen denken: Drei oder mehr Bilder werden so aufeinander gelegt oder in einer Sequenz gezeigt, dass sich über den Zwischenschritt vermittelt, die Form und der Inhalt des Bildes transformiert. Für die Auswertung zentral ist aber der Begriff des „Morphing“, der in verschiedenen Naturwissenschaften einen Umgang mit empirischen Messungen im Hinblick auf theoretische Modellannahmen bezeichnet: Aufgrund neuerer empirischer Ergebnisse ist ein theoretisches Modell zu finden und empirisch geleitet zu modifizieren, dass mit möglichst vielen der empirischen Einzelergebnisse in Übereinstimmung zu bringen ist. Ein ähnliches Morphing-Prinzip wurde in diesem Auswertungsprozess für die induktive Kategorienbildung angewandt: Eine vorläufige Kategorie stellt gewissermaßen eine theoretische Hypothese über eine Gemeinsamkeit aller in der Kategorie gebündelten Fällen dar, die gemäß der Hinzunahme oder dem Ausschluss von empirischen Fällen entsprechend zu modifizieren ist, um das theoretische Modell den empirischen Messungen oder Einzelergebnissen anzupassen. Im Zuge des Auswertungsprozesses liegen somit allein in einem Morphingprozess befindliche, also noch nicht fixe Kategorien vor und der Interpret muss jeweils anhand des empirischen Textmaterials entscheiden, ob er die Kategorie verändert oder den über die Kategorie hinausweisenden Sinn in einer anderen Kategorie, die durch ein anderes theoretisches Modell zu erklären wäre, unterbringt. Bei dem Zitat „Schilder mit chronologischer Erzählung“ handelt es sich sogar um ein Adjektiv, das die Erzählung spezifiziert. Damit wird ein Übergang zwischen verschiedenen semantischen Feldern empirisch eröffnet: Das Auftreten solcher Deutungen von Geschichte, die Chronologie und Erzählung verknüpfen, ist nicht allein durch das „theoretische Modell“, dieser Besucher verstünde Geschichte als temporale Ordnung, zu erklären. Im Falle von „ĺ Erzählung“ liegen damit hinreichend plausible Gründe vor, entsprechende, über die im Morphing befindliche Kategorie hinausgehende Textpassagen in einer anderen Kategorie zu kodieren. Alternativ wurde eine Kategorie mit Deutungen von „Geschichte als Erzählung“ gebildet. Es gibt also Textprotokolle, die Geschichte zugleich verschiedenen Sinn zuschreiben, der derart über eine (im Morphing befindliche) Kategorie Chronologie hinausgehen kann. Insofern ist hier eine Mehrfachkodierung nötig. Geschichte verfügt in diesen zuletzt genannten Beispielen über einen über Merkmale von Chronologie hinausgehenden Sinn, nämlich als Erzählung erzählt oder verstanden zu wer7
http://de.wikipedia.org/wiki/Morphing (Stand vom 05.3.2013)
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den. Ebenso wird bei dem Textbeispiel „Schilder mit chronologischer Erzählung“ Chronologie mit Erzählung zusammen genannt. An diesen beiden Zitaten, die aus der JMB und DHM-Stichprobe stammen, lässt sich weiter veranschaulichen, dass museumsübergreifend ähnliche Semantiken miteinander zu verknüpfen sind und die Besucher, obschon sie verschiedene Ausstellungshäuser besuchen, die ausgestellte Geschichte dennoch ähnlich verstehen. Bei diesem Fall von „Morphing“ ist auf die Besonderheit der Kategorie Chronologie hinzuweisen: in kaum einem anderen Fall enthielt das Bündel der zugeordneten Textpassagen den später zur Kategorienbildung verwendeten Begriff. Bei der Bildung der Kategorien „Konstruktion“, „Kausalität“, „Alltagsgeschichte“, „Strukturation“ und auch „Leiden“ musste deutlich stärker von den konkreten Aussagen aus den Textprotokollen abstrahiert werden. Insofern ist der Auswertungsprozess in Bezug auf Chronologie gerade nicht prototypisch, selbst wenn sich die Auswertungsmethode damit einfacher explizieren lässt. Wie die anderen Kategorien gebildet wurden, soll unten (Abschnitt 5.2) aber weiterführend mit einer abweichenden Darstellungslogik, die die Kategorienbildung nicht in ihrem Entstehungsprozess, sondern ausgehend von einem bereits zusammengestellten Bündel von Textbeispielen veranschaulicht, deutlich werden. Im Auge zu behalten ist, dass es sich bei den Kategorien um Textbündel oder Schubladen handelt, die zeitgleich mit der Interpretation des Textmaterials entstanden. Zugunsten einer Vereinfachung in der Darstellung dieses vielschichtigen Auswertungsprozesses habe ich oben und unten für diese verschiedenen Arten der Darstellung entschieden. Geht man mit dem Anliegen an das Material heran, Kategorien zu bilden und insofern nach semantischer Ähnlichkeit zu suchen, wurde nach diesem ersten Zugang zur semantischen Konfiguration durch die Textprotokolle, die Geschichte als temporale Ordnung oder zeitliche Gliederung beschreiben, der Begriff „Chronologie“ selbst im Material ausfindig gemacht. Dieser ist als eine spezifische Semantik aus dem öffentlichen Diskurs bekannt und ganz naheliegend ist es insofern, auf der Suche nach semantisch Ähnlichem, sich zunächst an diesen Begriff zu halten und weiter danach zu suchen, wie der Begriff im Textmaterial weiter auftritt. Bei der Kategorisierung gilt es jedoch, sich zunächst vom Textmaterial, von den Besuchern und ihren Antworten, sagen zu lassen, wie sie den Begriff „Chronologie“ deuten. Falls das vorliegende Textmaterial keine weiteren Anhaltspunkte zu den Deutungen von Geschichte durch die Besucher mehr liefert, können im Einzelfall auch theoretische Überlegungen in die Auswertung einbezogen werden, das ist aber nicht generell zu praktizieren und eine Besonderheit der Kategorie Chronologie. Damit soll verhindert werden, dass die Vielfalt vorliegenden Sinnes bereits zu Beginn der Auswertung durch theoretische Vorannahmen des Interpreten subsumiert und insofern möglicherweise falsch ausgelegt wird.
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Es lassen sich dann im Textmaterial sechs Formulierungen als denkbare Deutungen von Chronologie finden. Dreimal wurde schlicht der Begriff „Chronologie“ im Protokoll notiert. Einmal ist von „hat eine Chronologie“ die Rede und schließlich „Der Ablauf orientiert sich an der Chronologie der Ereignisse“. An dieser Stelle kommt also die hinter dem Begriff Chronologie liegende Semantik eines zeitlichen Ablaufes zum Ausdruck. Die oben begonnene Interpretation, Chronologie sei eine temporale Ordnung, die ein Minimalkriterium darstellt, um etwas als Geschichte zu verstehen, erscheint so weiter belegt. Nun lässt sich nach ähnlichen Begriffen im Textmaterial suchen. Allein zweimal tritt das Wort „chronologisch“ im Textmaterial auf, einmal die Formulierung, „es scheint chronologisch“. Bei der Formulierung „chronologisch geordnet“ verweist wiederum der über die Semantik hinausgehende Sinn auf ĺ Ordnung. Des Weiteren lässt sich in einem weiteren Durchgang durch das Textmaterial nach Textpassagen suchen, die Chronologie bzw. das Adjektiv chronologisch mit einer Geschichtsdarstellung oder Museumskonzeption in Verbindung bringen. Die „Museumskonzeption ist chronologisch“, die „chronologische Darstellung dominiert im Gebäude“, die „Ausstellung chronologisch“, „chronologisch aufgeschichtet“, „chronologisch aufgebaut“ „chronologischer Weg, der objektiv ist“. Jenseits einer redundanten Bestätigung der Interpretation, dass Chronologie ein temporales Ordnungsprinzip meint, dies also nach mehrmaliger Bestätigung als ein empirischer Befund gelten kann, taucht hier eine neue Semantik im Textmaterial auf ĺ Objektivität. Die weitere Suche nach dem Begriff führt zu einem anderen Sinnzusammenhang, in dessen Kontext „chronologisch“ verwendet wird: es ist eine Art ein „Thema strukturiert und chronologisch nahezubringen“, es ist „chronologisch und nach einzelnen Themen (Buch)“ geordnet und „chronologisch mit vielen Beispielen“ sowie eine negative Verwendung von „chronologisch“ mit der Wahl eines der auf der Liste angebotenen Vergleiche: der „Geschichtsunterricht hat keinen chronologischen Aufbau“, alle diese Beispiele führen gewissermaßen auf die erste Interpretation zurück, was als ein rudimentäres Merkmal von Geschichte gelten kann. ĺ Ordnung. Ein weiteres, oben schon verwendetes Beispiel für die Verwendung von „chronologisch“ ist z. B. „chronologische Reihenfolge“. Die Semantik, dass Chronologie wohl den Antworten der Besucher folgend, eine (temporale) Ordnung von Geschichte bezeichnet, lässt sich die weiter am Material zu überprüfende Hypothese hinzufügen, dass es sich um eine spezifische, nämlich sequenzielle Ordnung handeln müsse ĺ Reihenfolge. Parallel bzw. im Zuge der weiteren Auswertungen wurden, derselben Regel folgend, natürlich andere Textbelege aus dem Material gebündelt und daraufhin überprüft, inwiefern sich Argumente dafür finden lassen, dass es sich um semantisch ähnliche, sinnverwandte oder -gleiche Textmaterialien handelt. Oben bereits trat
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über die im Morphing befindliche Kategorie, bzw. den semantischen Kern dieses kategorialen Bündels aus Textpassagen, hinausweisender Sinn auf, der eine Mehrfachkodierung in mehreren Kategorien nahelegte. Interessant ist die folgende Textpassage, die nicht nur die Semantiken „chronologisch“ und „geordnet“ in sich vereinigt, sondern auch hervorhebt, es sei von „Anfang an“ chronologisch geordnet: „Von Anfang bis Ende eine fortführende Geschichte (Vergleich: eine große Erzählung)“ „weil es von Anfang an chronologisch geordnet ist“ ĺ bringt Chronologie mit Merkmalen der Erzählung zusammen. Sinnverwandt erscheinen natürlich auch Textpassagen, die den Begriff der „Chronik“ aufweisen: „Buch hat was meist mit Chronik und Festhalten zu tun“, „Chronik in Bildern“. Chroniken entstanden ausgehend vom Mittelalter und stellten Narrative darüber, dar, was während des Jahres passiert war (vgl. Abschnitt 2.1.4, 5.2.1), reihten also sachliche Informationen in der Folge der Ereignisse ĺ Themen in temporaler Ordnung. Chroniken zeichneten grundsätzlich alles auf. Insofern bringt die hinter dem Begriff Chronik liegende Semantik zum Ausdruck, dass mit der chronologischen, temporalen Ordnung auch ein alle Zeiten umfassender zeitlicher Zusammenhang vorliegt ĺ umfassender zeitlicher Zusammenhang. Mit „Chronologie“ lag dann eine Kategorie mit einer hinreichend großen Anzahl von Textmaterial vor, die auf einen gemeinsamen semantischen Nenner zu bringen waren. Aus dem Kontext der Verwendung dieses Wortes ließ sich in einem dritten Schritt (vorläufige Benennung III) rekonstruieren, welchen Sinn die Besucher bei ihrer eigenen Verwendung des Begriffs mit „Chronologie“ verbinden. Wurde mit der Notation „ĺ“ oben ein Symbol dafür verwendet, um über eine vorläufige Kategorisierung hinausweisenden Sinn anzuzeigen, muss nun noch das Vorgehen im Auswertungsprozess dargestellt werden, welches zu erläutern diese Notation eingeführt wurde. Im Prozess der Kategorisierung werden bildlich gesprochen die Grenzen des semantischen Feldes ausgelotet und abgesteckt. Im zirkulär verfahrenden Interpretationsprozess des Textmaterials werden demnach theoretische Überlegungen zu einem Zeitpunkt mit einbezogen, zu dem der erste Kategorisierungsdurchlauf nur noch schwer in Kategorien einzuordnende Textpassagen übrig lässt. Für die Darstellung des Auswertungsprozesses wurde das Pfeil-Symbol verwendet, um zu veranschaulichen, an welcher Stelle im Interpretationsprozess und im Textmaterial über die sich entwickelnde, im Morphing befindliche Kategorie zu einem bestimmten Zeitpunkt des Prozesses hinausweisender Sinn auftritt. Aber natürlich handelt es sich dabei um einen vorläufigen Befund, da es „überschießenden“ Sinn ja nur im Hinblick auf eine fixe Kategorie geben kann, sich diese Kategorie aber zum Zeitpunkt der Auswertung noch in Entwicklung befindet. Bei jedem einzelnen dieser „Textpassagen mit Pfeil“ war zu entscheiden, ob er ein Sinnelement
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von Chronologie behandelt oder Anlass zu einer neuen Kategorienbildung bietet. In einem weiteren Schritt lassen sich die derart markierten Semantiken wieder aufgreifen und über deren Sinnverwandtheit mit der Kategorie entscheiden. So lassen sich die im Zuge der Auswertung im Material aufgespürten Semantiken, die aber z. T. bereits auf eine Abstraktionsleistung ausgehend vom Material beruhen, weiterführend interpretieren. ĺ ĺ ĺ ĺ ĺ ĺ ĺ
Erzählung bringt Chronologie mit Merkmalen von Erzählung zusammen Ordnung Reihenfolge Themen in temporaler Ordnung Objektivität umfassender zeitlicher Zusammenhang
Es lassen sich so semantische Konfigurationen voneinander abgrenzen, die sich ausgehend von der Kategorie aufspannen. Geht man diese kurze Liste der mit einem Pfeil gekennzeichneten Semantiken durch, lässt sich über die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit von Textpassagen und deren Semantik zu einer im Morphing befindlichen Kategorie entscheiden und eine entsprechende Regel generieren, die Semantiken aufgrund ihrer Nähe zu dem semantischen Feld, einer (vorläufigen) Kategorie zuordnet oder sie von dieser ausschließt. So lassen sich Textpassagen, die Geschichte als temporale Ordnung oder Chronologie interpretieren, von anderen, darüber hinausgehenden Sinnzuschreibungen unterscheiden. Der über die Kategorie hinausgehende Sinn lässt sich also a) durch eine Mehrfachkodierung einfangen. Merkmale einer Erzählung, die zugleich mit Chronologie in Verbindung gebracht werden, lassen sich demnach, der gerade aufgestellten methodischen Regel a folgend, mehrfach kodieren. Im Falle von „Ordnung“ liegt eine Sinnähnlichkeit oder -gleichheit mit der Semantik temporaler Ordnung nahe. Der über die Kategorie hinausgehende Sinn lässt sich also b) der Kategorie zuordnen. Auch die Semantik einer Reihenfolge im Museum oder in der Geschichte wäre dieser Kodierregel folgend der Kategorie zuzurechnen, deren Entstehung im Zuge des Auswertungsprozesses hier gerade beschrieben wird. Ähnlich war mit anderem über die im Morphing befindliche Kategorie hinausweisen Sinn, z. B. im Hinblick auf die Semantik „Themen in temporaler Ordnung“, zu verfahren. Aufgrund einer Erweiterung der Kategorie durch sinnverwandte Semantiken ließ sich die semantische Konfiguration, der in dieser Kategorie gebündelten Textpassagen, erweitern. Bei „Chronologie“ im Sinne einer temporalen Ordnung im Sinne des anfänglichen Verständnisses der Kategorie zu Beginn des Auswertungsprozesses scheint Geschichte, bzw. die mit diesem Begriff bezeichneten Geschehensabläufe, am deutlichsten allein aufgrund der Geschichte selbst äußerlich bleibender, mehr oder we-
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niger formaler Merkmale gedeutet und verstanden zu werden. Dies wäre dann bei einem später „entfalteten“ Konzept dieses Begriffes nicht länger der Fall. Dies mag als ein derart simples Vorgehen erscheinen, dass es den Verdacht erweckt, ex-post konstruiert zu sein. Der Verdacht entsteht, dass dieses Vorgehen insofern durch theoretische Überlegungen, die nicht aus dem empirischen Material stammen, inspiriert erscheint. Dem ist zu entgegnen, dass es legitim ist, ausgehend vom Material selektiv aufgrund ihrer Sinnverwandtheit untereinander interpretierbare Textpassagen herauszugreifen, diese zu interpretieren und sich von diesem Schritt ausgehend schwierigeren Interpretationen und den dazugehörigen Textpassagen zuzuwenden. Zugleich ist nicht einsichtig, wie ein „natürlicheres gegenstandsadäquates“ Vorgehen aussehen könnte, das stärker vom Textmaterial nahegelegt würde. Die Darstellung der Interpretation des Textmaterials wurde hier ausgehend von „Geschichte als temporale Ordnung“ begonnen, da diese Semantik für einen ersten Schritt als besonders griffig erscheint und sich so das Textmaterial in Betrachtung verschiedener Sinnschichten aufgliedern lässt. Inhaltlich betrachtet lassen sich am Textmaterial verschiedene Sinnschichten ausmachen, die sich je nachdem welches Ausmaß an subjektiver Relevanz und qualitativer Differenzen in den verschiedenen Geschichtsvorstellungen, -darstellungen von den Besuchern berücksichtigt werden, gliedern lassen (vgl. Tabelle 5.1.5.1). Auswertungspraktisch entstanden alle Kategorien der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ quasi synchron in vielen kleinen Interpretations- und Auswertungsschritten, die in sich netzartig über den Pool des gesamten Textmaterials erstreckenden Beobachtungen bestanden und in von diesem Textmaterial ausgehenden, diesem entsprechenden Interpretationsbemühungen. Im Falle von „Objektivität“ ist über eine Zuordnung zur Kategorie „Chronologie“ nicht unabhängig vom empirischen Material zu entscheiden. Die Frage der Zuordnung dieses Textprotokolls ist also erneut am Textmaterial zu überprüfen. Die Semantik eines „umfassenden zeitlichen Zusammenhangs“ ist ebenfalls erneut im Hinblick auf das empirische Material zu untersuchen. Dies wird im nun folgenden Abschnitt dargestellt. Weiter lassen sich demnach Grenzfälle des semantischen Feldes dieser Kategorie in einem weiteren Schritt zuordnen. Zur Einordnung semantischer Grenzfälle ausgehend von vollständigen Protokollen Wie gerade als Schritt I und Schritt II der Auswertung dargestellt, wurden zunächst in einer Durchsicht und Bündelung alle zweifelsfrei interpretierbaren Textpassagen zu einer Kategorie zusammengefasst. Dann erfolgt in Schritt III die vorläufige Benennung der Kategorie. Im Zuge eines nächsten Durchgangs durch das Textmaterial, eines vierten Auswertungsschrittes (semantische Erschließung des Materials IV),
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wurde nach Formulierungen gesucht, die auf eine der Kategorie ähnliche, implizit bleibende Semantik rückschließen ließen, ohne dass der Begriff wortwörtlich auftrat. Als ein semantischer Grenzfall gelten also Textpassagen, die nicht wortwörtlich auf Chronologie rekurrieren, aber Aussagen mit einer ähnlichen Semantik enthalten, wie sie oben unter Rückgriff auf die Pfeil-Notation dargestellt wurden, wodurch verschiedene Deutungen von Chronologie der Kategorie zugeordnet wurden. Zur Bildung der Kategorien wurden also in mehreren Suchdurchläufen im Textmaterial sinnhafte Verknüpfungen zu „Chronologie“ semantisch Ähnlichem hergestellt und die semantische Konfiguration einer Kategorie derart erweitert. Es wurde also zu einem Zeitpunkt, als ein grobes Vorverständnis darüber vorlag, welches Textmaterial zu einer Kategorie dazu gehört und welches nicht, angrenzendes, semantisch Ähnliches „aufgesammelt“ und so Verknüpfungen zu semantischen Konfigurationen, wie z. B. Objektivität, wie Entwicklung, wie einer geordneten Sammlung (Chronik), hergestellt. Diese semantisch ähnlichen Textpassagen wurden ebenfalls dem „Bündel“ an Textmaterial in dieser Kategorie hinzugefügt und ab diesem Zeitpunkt als der Kategorie zugehörig betrachtet. Ein semantischer Grenzfall lässt sich als solcher nur in Abgrenzung zu Standardfällen, z. B. durch die oben verwendeten Pfeil-Notationen, bestimmen: „Ist doch die Wahrheit die hier ausgestellt ist“ ĺ Objektivität; „Geschichtliche Abläufe bis jetzt komplett dargestellt“ ĺ umfassender zeitlicher Zusammenhang; „Aufgrund der didaktischen Mittel, des linearen Verlaufs“ ĺ Linearität.
Ausgehend von diesen ersten Analyseschritten, die zunächst von Textfragmenten, also Teilen von Textprotokollen, zur Beschreibung einer semantischen Konfiguration ausgingen, lassen sich in einem nächsten Durchlauf am empirischen Material die Textprotokolle als Ganzes betrachten und weiter kodieren. In einem fünften Schritt (Kategorienbenennung V) wurde ein Begriff zur Benennung der Kategorie gefunden. Natürlich bedurfte es vorläufiger Bezeichnungen des Bündels von Textmaterialien (Schritt III), die im Auswertungsprozess als hypothetische Annahmen über das Gemeinsame der derart interpretierten Textpassagen behandelt wurden. Diese Hypothesen wurden aber permanent als vorläufige Annahmen an das empirische Material zurückgebunden und galten bis zu diesem Schritt als nicht zureichend abgesichert und empirisch belegt. Die Benennung der Kategorie erfolgte dann entweder ausgehend von Formulierungen aus dem Textmaterial (wie z. B. bei Chronologie geschehen, wie aber an der erst unten eingeführten Rezeptionskategorie „Zeitraffer“ noch deutlicher wird) oder in Auseinandersetzung mit der Fachliteratur. Die dargestellten Arbeitsschritte berücksichtigen zunächst in Schritt III die vorläufige Benennung der Kategorie und in Schritt V die Benennung
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der Kategorie: dies Verfahren entspricht der zirkulären Arbeit am Textmaterial und der Begriffsentwicklung ausgehend davon. Ausgehend von theoretischen Überlegungen war es im fünften Schritt zudem dann noch einmal abschließend möglich, übrig gebliebene, schwer einzuordnende restliche Textpassagen als „Grenzfälle des semantischen Feldes“ dieser Kategorie zuzuordnen. Insofern beinhaltet die Kategorie „Chronologie“ im Zuge der Interpretation des Textmaterials rekonstruierte Semantiken. Den konkreten Textmaterialien wurde so eine derart abstrakter ansetzende Deutung der Semantik – im Folgenden als kursiv gesetzte Stichworte markiert – zugeordnet und semantische Grenzfälle als solche bestimmt. Dieses Vorgehen entspricht in Ansätzen bereits vorher unternommenen Auswertungsschritten, so mag ihre Darstellung und Ausführung hier als Doppelung erscheinen. Da die Kategorienbildung und Kodierung des Textmaterials, wie gesagt, zirkulär erfolgte, ist diese Dopplung somit der Ausführlichkeit der Dokumentation der Methodenanwendung geschuldet. Nach einem Morphing der Kategorie war erneut zu überprüfen, inwiefern diese, hier mit diesem Begriff bezeichneten Änderungen in Form und Inhalt einer Kategorie auch eine Veränderung im Umgang mit anderen Textpassagen bzw. deren Kategorisierung und Kodierung nach sich ziehen sollte. Zur Einordnung semantischer Grenzfälle ausgehend von vollständig zu zitierenden Passagen wurden verschiedene Strategien verfolgt: Es wurde a) nach theoretisch definierten Begriffen außerhalb des empirischen Materials gesucht und diese Erläuterungen verwendet, um mehr und anderes, weiterführendes über die bereits aufgetretenen Sinndimensionen einer Kategorie (z. B. Objektivität) erschließen zu können. Oder es wurde b) in Ausnahmefällen auch Textmaterial berücksichtigt, welches sich negativ abgrenzend auf einen Begriff bezieht, welches sich aber aufgrund seiner Ähnlichkeiten zu anderem Material in der Stichprobe ebenfalls der Kategorie zuordnen lässt (im Sinne einer Auswertungstechnik der gedankenexperimentellen Kontextvariation bzw. des Binnenvergleichs im Material). Ein Beispiel dafür lässt sich am besten aus der Kategorie „Narration“ anführen: Eine Besucherin des DHM formuliert frei: „Eindruck eines anschaulichen Bilderbuchs, sehr informativ, aber zu textlastig“ und wählt den Listenvergleich „Wie ein Geschichtsunterricht“ und erläutert: „keine Schatz- und Wunderkammer, Grund: zu wenig Exponate, Blättern im Buch der Geschichte trifft nicht zu, Grund: zu trocken, keine Erzählung (Herv.: V.S.), denn es ist nicht märchenhaft, sondern an der Realität orientiert. Besucherin wählt den Vergleich: ein Geschichtsunterricht aufgrund der Schautafeln und des Lehrbuchcharakters (sehr widersprüchlich zu Frage 18, Anmerkung: Interviewer)“.
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Die Besucherin schildert explizit, „keine Erzählung“ im Museum sehen zu wollen, aber wie bereits die Anmerkung des Interviewers im Textmaterial zeigt: interpretiert man das Protokoll vollständig, insbesondere den frei formulierten Vergleich, zeigt sich, dass sie Merkmale („anschauliches Bilderbuch“, „informativ“, „Lehrbuchcharakter“) nennt, die mit der Verwendung des Begriffes Erzählung im Sinne der in Abschnitt 5.2.2 dokumentierten Entwicklung der Kategorie „Erzählung“ durchaus übereinstimmen. Sind die oben beschriebenen vier Schritte der Kategorisierung ausgehend vom Textmaterial rein empirisch geleistet, lassen sich dann spätestens bei Schritt V für die Benennung auch theoretische Erkenntnisse in die Interpretation mit einbeziehen, soweit dieser Interpretationsschritt anschließend die empirische Untersuchung wieder zurück zum Material führt. So lässt sich das Verhältnis der empirisch erstellten semantischen Konfiguration zu bereits in der Wissenschaft theoretisch etablierter Semantik klären. Chronologie ist für die Geschichtswissenschaft ein derart konstitutiver Begriff, dass eine Definition nur selten und unsystematisch in der Literatur zu finden ist, da Zeitrechnung gewissermaßen eine selten hinterfragte, dafür aber kulturell latente, selbstverständliche Hintergrundannahme der modernen Geschichtsschreibung darstellt. Sie ist gewissermaßen der potentiell objektivierbare Maßstab, der aus Geschichten eine zeitlich synchronisierte (Welt-)Geschichte machen kann. Lässt sich über die Deutung von Geschichte zweifellos streiten, ist es sicherlich eher möglich, sich auf die Datierung eines Ereignisses, auf den Rahmen einer Zeitphase zu verständigen. Geschichte wird gemeinhin zeitlich geordnet und in der quantitativen Weltzeit (Datum, Uhrzeit) liegt ein Maß dafür vor, das als Maß objektiv zu sein verspricht (die Zuordnung von Inhalten zu diesem Maß ist wiederum weniger objektiv) und die aufgrund dieser Messbarkeit, in Anlehnung und Ähnlichkeit zu Naturgesetzen, auf weithin geteilten gemeinsamen Annahmen zu beruhen verspricht. Chronologie wird in der Fachliteratur zumeist als Lehre von der Zeit oder Zeitrechnung verstanden (vgl. Abschnitt 2.2.2); alltagssprachlich meint dies häufig die Abfolge von Ereignissen. Die Chronologie von Geschichte verweist auf die verbindliche zeitliche Ordnung mittels der standardisierten Weltzeit, die Datierungen ermöglicht (Tag, Monat, Jahr, Kalender). Eine zeitliche Ordnung von Ereignissen wird im Abgleich mit einem physikalisch gemessenen und insofern objektiven Datum gewonnen. Die Chronologie der Geschichte bildet insofern ein Kriterium, mit dem sich Ereignisse In-Beziehung-setzen lassen. Chronologie ist als Maßstab objektiv gegeben, während zu Ereignissen nur mehr oder weniger verlässliche Dokumente oder Zeugnisse vorliegen, die insofern durch die Referenz auf Chronologie zugeordnet und darüber validiert werden können. Ereignisse lassen sich so datieren und nötigenfalls noch Uhrzeiten angeben. Es lassen sich qualitative Zeitdimensionen, z. B. Phasen relativ
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langer oder kurzer Dauer, nur mit Referenz auf quantitative Zeit als solche beschreiben. Ein Rückgriff auf Weltzeit ermöglicht eine soziale Synchronisation qualitativ verschiedener Zeiten (Luhmann, 2005 [1990]). So lässt sich die Semantik, die diese empirisch entwickelte Kategorie umfasst, potentiell auch theoretisch begründet erweitern und diese Deutungen können so in der weiterführenden Interpretation in einem sechsten Schritt des Auswertungsprozesses (Anreicherung der Kategorie mit Grenzfällen VI) der im Morphingprozess befindlichen Kategorie zugerechnet werden und damit letzte unkodierte semantische Grenzfälle zugeordnet werden. An dieser Stelle werden die zu Beginn dieses Abschnittes zur Einordnung semantischer Grenzfälle eingeführten Pfeil-Notationen zur weiteren Interpretation wieder aufgegriffen: Die Chronologie galt in der Geschichtswissenschaft immer wieder als ein Mittel der Objektivierung der dieser Wissenschaftsdisziplin eigenen Methoden in einem Annäherungsversuch an ein naturwissenschaftlich-technisches Wissenschaftsverständnis. Diese theoretische Einsicht lässt sich für die Auswertung fruchtbar machen, geht man mit dieser theoretischen Interpretationsfolie erneut an das vollständige empirische Material heran. Ein Besucher des DHM wählt von der Liste „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ und erläutert: „Die Deutsche Geschichte wird hier dargestellt wie sie stattgefunden hat. Es war nur ein Blättern, das heißt für mich war das Anschauen nicht komplett, sondern auf einzelne Begebenheiten beschränkt“.
Dass „ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt wurde, lässt sich als Grund für diese Kodierung angeben, denn Geschichtsbücher implizieren in der Regel eine temporale Ordnung; und es wird erwähnt, dass die Rezeption nicht „komplett“ erfolgte, was ein Bewusstsein von einer kompletten (alle Zeiten umfassenden) Ausstellung der Geschichte impliziert. Das sind zwei tragfähige Argumente für diese Kodierung, zudem lässt sich ein weiteres Argument anführen: Die Darstellung von Geschichte „wie sie stattgefunden hat“ lässt sich ausgehend von einer theoretischen Semantik und der Bedeutung von Chronologie für eine Objektivierung wie gerade dargestellt als ein empirischer Indikator für eine von diesem Besucher als chronologisch wahrgenommene Geschichtsdarstellung lesen (entsprechend der Strategie a zur Einordnung semantischer Grenzfälle). Dieses Vorgehen lässt sich weiterhin mit der Strategie b zur Einordnung semantischer Grenzfälle durch gedankenexperimentielle Kontextvariation rechtfertigen (Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2008: 250): „Die gedankenexperimentelle Konstruktion von Lesarten dient dem Zweck, vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten gerade das Spezifische […] erkennen zu können und sich dabei nicht vorschnell durch das eigene Vorverständnis leiten zu lassen“.
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Wie im vorherigen Abschnitt zur exemplarischen Demonstration der Kategorienbildung bereits gezeigt wurde, wird Chronologie empirisch häufig mit „objektiv“ assoziiert. Für eine gedankenexperimentelle Konstruktion von Lesarten wird die Frage an das empirische Material herangetragen, wie eine Äußerung in einer Interaktionssequenz motiviert sein könnte. Wie kann es also gemeint sein, wenn ein Besucher sagt, dass er die Geschichte ausgestellt sieht, „wie sie stattgefunden hat“? Dafür wird an dieser Stelle zudem die Strategie des Binnenvergleichs im Textmaterial herangezogen, um zugleich eine Plausibilisierung der eigenen Lesart zu leisten. Faktisch lässt sich eine Geschichte nicht ausstellen, wie sie stattgefunden hat; denn es werden ja immer nur Ausschnitte und ausgewählte Zeitphasen aus dem Stattgefundenen gezeigt. Der Besucher wird auch sicherlich nicht alle ausgestellten Zeiten im DHM selber erlebt haben und kann die Objektivität der Geschichtsdarstellung also nicht selbst bezeugen, wie viele Besucher des HdG das z. B. im vorliegenden Textmaterial im gleichzeitigen Rekurs auf Chronologie und selbst erlebte Zeit tun. Der Besucher könnte, denn natürlich erläutert er in der Interaktion primär seine Vergleichswahl von der Liste, ein „Buch der Geschichte“ damit verbinden, Geschichte so dargestellt vorzufinden, wie sie stattgefunden hat. In dem Textprotokoll scheint weiterhin eine Kontrastierung der eigenen Rezeption mit der Geschichtsdarstellung im Hinblick auf „Blättern“ stattzufinden, „das heißt für mich war das Anschauen nicht komplett“. Damit wird, wie schon bei vielen anderen Erläuterungen zu dieser Vergleichswahl im Binnenvergleich des Textmaterials beobachtet werden konnte, die Geschichtsdarstellung, „wie sie stattgefunden hat“, kontrastiert mit der eigenen selektiven Rezeption. Dieser Fall ähnelt demnach sinngemäß anderen Beispielen, die in die Kategorie Chronologie aufgenommen wurden, weil sie explizite oder implizite Hinweise auf Chronologie und, oder Objektivität und Wahrheit enthielten. So lässt sich die Kodierung dieses semantischen Grenzfalls durch Anwendung der Strategien a und b rechtfertigen. Solche Interpretationen sollte nur in Ausnahmefällen über derartige Umwege unternommen werden und mit ihrer Interpretation ist vorsichtig zu verfahren. Ein alle Zeiten als Ganzes synchronisierendes Prinzip wäre ebenfalls durch „Chronologie“ gegeben, lässt sich einer im vorangegangenen Abschnitt ausgeführten Interpretation entnehmen, woraufhin sich weitere Deutungen zuordnen lassen: Als „alle Stationen der deutschen Geschichte“ umfassend, bzw. insofern – ähnlich wie andere Besucher – als umfassenden zeitlichen Zusammenhang, versteht ein Besucher des DHM Geschichte: Mit dem freien Vergleich wird die Architektur des Museums hervorgehoben: „Kombination Zeughaus-Pei-Bau: Gelungene Kombination von Altem und Neuem, Modernem“, die Vergleiche „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“, „ein Geschichtsunterricht“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ werden dann so erläutert: „Die zwei bis drei letzten Generatio-
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nen der Vorfahren. Spektrum der Ausstellung, man kann fast alle wesentlichen Stationen der deutschen Geschichte erfassen. Ist distanzierter Umgang mit der Geschichte. Ab 1900 wird es konkreter. Da kann man sich Vaters, Großvatersleben konkreter vorstellen. Punktuell detailliert und eindrücklich über Exponate ‚ausgemalt‘. Geschichte, nicht bloß Zahlen, Fakten, Zeiträume erfassbar über Exponate“.
Es wird vermutlich als Erläuterung von „Geschichtsunterricht“, auf „alle Stationen der Deutschen Geschichte“ verwiesen, zudem wird eine konkrete Jahreszahl genannt; dies rechtfertigt die Vergabe einer Kodierung „Chronologie“. Die Aussagen erläutern offenbar die Vergleichswahlen von der Liste, die gewissermaßen das illustrieren, was der Befragte im Museum dargestellt vorfindet: Exponate machen die Welt der Vorfahren greifbar und (ab 1900) konkreter vorstellbar. Ein Geschichtsunterricht bzw. ein Buch der Geschichte ist für den Besucher vollständig, bzw. enthält „alle wesentlichen Stationen“. Der Besucher beschreibt das breite Spektrum des Museums und der Besucher sieht im DHM mehr als – aber eben wohl auch doch – Zahlen und Fakten. Der Sinn der ausgestellten Geschichte liegt für den Besucher demnach wohl darin, das Leben der Vorfahren konkret vorzustellbar zu machen und das ist über Zahlen und Fakten hinaus, die dem Gast als „distanzierter Umgang mit Geschichte“ gelten, im Museum möglich. Die Kodierung als Chronologie ist durch den Hinweis auf „alle wesentlichen Stationen der deutschen Geschichte“ zu rechtfertigen. Im Vergleich mit den Ausführungen zu Chronik oben, dass Chroniken alle wesentlichen Geschehnisse aufzeichneten und erfassten, die sich das Jahr über ereigneten, kann die Ähnlichkeit der Aussagen (Stationen der Geschichte; Zeiträume) mit dem semantischen Feld der „Chronologie“ hier nachvollzogen werden. Zugleich ist die Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ bei diesem Beispiel eng an die museale Inszenierung, also die Geschichtsdarstellung und ihre Medien gekoppelt. Im JMB wird vielfach auf den größeren zeitlichen Zusammenhang, der in der Ausstellung über den Holocaust hinausgeht, hingewiesen. Da in einer vollständig zitierten Textpassage mit dem freien Vergleich „Geschichtliche Katastrophe dargestellt in Architektur“ von einer Besucherin auf den Holocaust Bezug genommen wird, bringt die Erklärung zur Vergleichswahl „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit „Es sind nicht nur die Ursprünge. Es ist nicht reduziert auf den Holocaust, sondern umfasst die ganze Zeit“ zum Ausdruck, was die Ausstellung gemäß der Wahrnehmung der Besucherin repräsentiert. Der Rekurs auf die „ganze Zeit“ erscheint in diese Aussage eine gewisse Relevanz zu haben und rechtfertigt insofern die Kodierung Chronologie. Eine andere Besucherin erläutert zu „ein Blättern im Buch der Geschichte“ in einem hier vollständig zitierten Protokoll allein: „Viele Informationen, Hintergründe und neue Sachen, die man in der deutsch-jüdischen. Geschichte noch nicht kannte – alle Sachen außerhalb des Holocaust“. Dieses „außerhalb“ ist der einzige In-
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dikator in den Aussagen für eine Kodevergabe in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“. Ein „außerhalb“ gibt es jedoch nur mit Blick auf eine Ordnung anderer Zeiten (Frage: außerhalb von was?) und deren zeitlichen Zusammenhang (Frage: Was konstituiert ein „außerhalb“? Was verbindet den Holocaust mit einem „außerhalb“, was bildet einen Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und anderen?). Diesen nicht explizit genannten Zusammenhang gibt es nur im Rückgriff auf das Prinzip Weltzeit, andere Zeiten oder Chronologie. Die Befragte spricht aber von den „Sachen“ außerhalb des Holocaust; sie verweist streng genommen nicht auf „andere Zeiten“. Es scheint vertretbar, zu interpretieren, dass diese Befragte die Ausstellung der jüdischen Geschichte im JMB insofern „würdigt“, als sie darin eine Darstellung erkennt, die von der Fokussierung auf die Singularität des Holocaust (die gewissermaßen die Geschichte vor und nach dem Holocaust verdunkelt; deshalb auch „neue Sachen, die man noch nicht kannte“) abweicht. Es ist gerade interessant, dass die Besucherin nicht auf „andere Zeiten“, sondern andere „Sachen außerhalb des Holocaust“ verweist. Sie weicht in die Sachdimension aus; auf Themen also, die jenseits des „singulären Ereignisses“ Geltung hatten und haben. Das entspricht ja durchaus der Intention der Kuratoren, die in den anderen „Achsen“ Themen behandeln, die das jüdische Leben vor und nach dem Holocaust vorstellbar machen und insofern auch zeitlich transzendieren. Im Übrigen wird in der (älteren) Zeitsemantik der Flüchtigkeit der Zeit die Dauerhaftigkeit der Sachen entgegengestellt. Der Rückgriff auf die „Sachen“ außerhalb des Holocaust würde in diesem Sinne, also in Zeitkategorien übersetzt, ein Überdauern bedeuten können. In der Interpretation ist nicht abschließend zu entscheiden, ob wirklich der weiter gefasste zeitliche Zusammenhang mit den „Sachen außerhalb des Holocaust“ gemeint ist, oder dieser Passus allein neue Informationen thematisch verortet. Zugunsten der Interpretation, diese Aussage der Kategorie „Chronologie“ zu zuordnen, lässt sich jedoch anführen, dass ansonsten keine Referenz zur ausgestellten Geschichte erfolgt. Zweifellos handelt es sich bei dieser Textpassage um einen Fall an der Grenze des semantischen Feldes hin zur Überinterpretation. Es gibt zudem, also zusätzlich zu einem impliziten Auftreten einer Semantik, Grenzfälle des semantischen Feldes, deren Beziehung zu „Chronologie“ sich allein indirekt rekonstruieren lässt: In einigen der Protokolle kommt zum Ausdruck: Chronologie markiere die Stationen der imaginären Zeitreise, die Museumsbesucher bei ihrem Besuch unternehmen. Die „imaginäre Zeitreise“ ist sicherlich als eine dem Besucher selbst zurechenbare Sinnkonstruktion zu interpretieren (deshalb wurde ein in der Auswertungsdimension „Rezeption“ der Kode für Beschleunigung, Komprimierung, Zeitraffer vergeben). Der Vergleich „Zeitreise“ wurde von sehr vielen Befragten unabhängig vom Museum genannt. Die Rezeption der Ausstellung als Zeitreise scheint eines ordnenden Hilfsmittels, der Chronologie als Geschichtsvorstellung/-darstellung zu bedürfen.
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Die Stationen der Zeitreise und ihr Aufbau scheinen aber gemäß den folgenden Textpassagen durch Chronologie geprägt. Eine MHU-Besucherin findet frei nur die Worte „informativ, gut erklärt, interessant dargestellt“ und sie erläutert „eine große Erzählung“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit „Es war wie ein Zeitgang, eine Zeitreise – viele Erklärungen = Erzählung. Bilder, es geht von Zeit zu Zeit, wie in der Ausstellung“.
In dieser Aussage scheint die zeitliche Organisation ein zentrales Merkmal der Darstellung von Geschichte zu sein. Bei einem Besucher des HdG klingt die Beschreibung einer individuellen Zeitreise, als die er seinen Besuch rezipiert, ähnlich, wenn er sagt: „Chronologisch aufgebaut, z. T. Sachen, an die man sich selbst erinnern kann, wegen Gestaltung bzw. Inszenierung hat man das Gefühl, man bewegt sich in der Zeit. Durch Requisiten ist man in andere Zeiten zurückversetzt. Es ist ein Zeitraffer, in kurzer Zeit 50 Jahre durchlaufen“.
Das an diesem Zitat Spannende ist der Gegensatz von dem durch den Rezeptionsmodus „Zeitraffer“ hervorgerufenen „Gefühl, man bewegt sich in der Zeit“ und dem „in andere Zeiten (zurück)versetzt“ werden, also als virtuell erkannten Bewegungen in der Zeit, die durch die Inszenierung und Gestaltung ermöglicht werden, und der Bezugnahme auf Chronologie und konkrete Zeitabschnitte (50 Jahre). Eine Zeitreise versetzt „in andere Zeiten“, die nur aufgrund des alles synchronisierenden Prinzips der Chronologie gegliedert und nur durch die Rezeption in einem Museum in einer Gegenwart „zusammengerafft“ werden können. Ganz im Sinne des eingangs aufgeführten Verständnisses von Chronologie, dass quantitative Weltzeit etwas messbares und objektivierbares ist, das qualitative Veränderungen darüber erklärbar macht, dass sie dem Verstreichen von Weltzeit zurechenbar sind; in diesem Sinne erscheint auch dieses Zitat der Kategorie Chronologie zuzuordnen zu sein. Zuletzt ist noch die semantische Nähe der Kategorien Chronologie und Entwicklung zueinander hervorzuheben. Viele der Textpassagen waren in beiden semantischen Feldern zugleich zu verorten. Linearität wird gerade vom Besuchspublikum des DHM vorzugsweise als Verknüpfung zwischen Chronologie und Entwicklung rekonstruiert, wie sich am nun folgenden Beispiel zeigen lässt. Theoretisch betrachtet bezeichnet Chronologie gewissermaßen die quantifizierbare Seite einer Entwicklung und betrifft ihre Messbarkeit aufgrund der ihr zugrundeliegenden linear konstruierten, zeitlichen Abfolge. Zugleich beinhaltet die Semantik „Entwicklung“ aber auch noch deren qualitative Deutung, die angibt, worin denn die Entwicklung besteht oder auf welchen Sinnzuschreibungen oder Deutungen eine Entwicklung beruht (z. B. Fortschritt oder Rückschritt). Warum Chronologie und Entwicklung häu-
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fig verknüpft auftraten und deshalb auch mehrfach zu kodieren waren, beleuchtet der von einem Besucher zunächst frei gewählte Vergleich: „Großes Carré. Eine große Dose mit einem Innenhof. Die Form des Gebäudes zeichnet Museum aus“, erklärt ein Besucher, wählt weiter von der Liste „ein Geschichtsunterricht“: „Ich kenne deutsche Geschichte nicht so gut und jetzt kann ich sie platzieren im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern. Kein Lehrer (im Unterricht, Interviewer), sondern Schilder mit chronologischer Erzählung“.
Die implizite Verknüpfung der einer linearen Symbolik verpflichteten Architektur des Zeughauses mit der Chronologie der Geschichtserzählung erfolgt hier nicht explizit. Doch im klassischen, chronologisch erzählten Entwicklungsroman, z. B. Thomas Manns Der Zauberberg oder Max Frischs Homo Faber, werden Entwicklung und chronologische Erzählung verknüpft. Der Entwicklungsroman ist als kulturelles Phänomen eine literarische „Begleitmusik“ zur Verbreitung des prototypisch modernen Museums und seiner Architektur: Es lässt sich argumentieren, dass das Museum einen Entwicklungsroman im Kollektivsingular der Historie erzählt. Insofern ist Chronologie häufig ein Merkmal von Erzählungen und tritt darin mit einer Entwicklungslogik auf. Im Museum sind es für diesen Besucher die „Schilder“, also vermutlich auch zeitliche Einordnung der Exponate, die erzählen und dies im DHM eben chronologisch: Die Chronologie erlaubt Datierungen nach vorher und nachher und gibt insofern gewissermaßen eine zeitliche Richtung vor. Chronologie hat für die Interviewte die Funktion, ihre Wahl des Vergleichs Geschichtsunterricht zu erläutern und sie verweist damit implizit auf die Bedeutung der standardisierten Weltzeit zur Synchronisation verschiedener Geschichten zu dienen. Chronologie dient dieser ausländischen Besucherin zur Platzierung von unterschiedlichen europäischen Geschichten im Verhältnis zueinander. Durch diesen Vergleich mit anderen deutschen Ländern mag man implizit einen Abgleich zwischen der Entwicklung verschiedener europäischer Länder und ihres Verhältnisses zueinander sehen: Denn bis hin zu einer europäischen Perspektive auf Geschichte, wie sie das DHM in die Ausstellung hineinzulegen geneigt ist, ist das Verhältnis verschiedener europäischer Länder durch unterschiedliche Geschwindigkeiten der Entwicklung bestimmt. Entwicklungsgeschichten potentiell, die sich bis hin zu einem gemeinsamen Europa immer weiter angeleichen. Insofern mag man in diesem Beleg einen impliziten Bezug zu Entwicklung erkennen. Der sechste Arbeitsschritt (Einordnung von Grenzfällen VI) diente also dazu, semantische Grenzfälle in einem letzten Schritt, der Verfahrensweisen der Kategorisierung und Kodierung erneut aufgreift und miteinander kombiniert, einzuordnen, indem ausgehend von der Binnenstichprobe (der Stichprobe im Binnenvergleich sowie der Stichproben untereinander) latent in Textprotokollen liegende oder in
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diesen als implizit erkennbare Semantiken kodiert wurden. Dieser Abschnitt diente der Verdeutlichung, worin das rekursive Verfahren der Interpretation aufgrund der am Material entwickelten Arbeitsschritte besteht: Einige Fälle sind klar als Aussagen zu Chronologie auszumachen. Eine klare Zuordnung gelingt nicht bei allen Textpassagen. Die klaren Fälle verdeutlichen die Spannweite der Sinnbezüge der in der Bezeichnung Chronologie liegenden Semantik. Chronologie tritt nicht allein wortwörtlich als Chronologie, sondern als Datum, Jahreszahl, sinnvolle Reihenfolge, objektive, sinnvolle Ordnung, Weltzeit, großer Zusammenhang, Indikator für Wahrheit etc. auf. Daraufhin lassen sich die zunächst schwieriger zu interpretierenden Aussagen mittels dieses derart generierten „Wörterbuches“ einfach dieser Kategorie zuordnen. Ähnliche Vergleiche fanden nicht nur innerhalb der Binnenstichproben statt, sondern es wurden auch nach und nach die verschiedenen Stichproben untereinander verglichen. Das Verfahren ähnelt insofern der Arbeitsweise eines Archäologen, der die Bedeutung von Fundstücken rekonstruiert. Das Verfahren eines sich der Disziplin „Archäologie“ zurechnenden Wissenschaftlers (womit explizit nicht das Verfahren Foucault gemeint ist) könnte den Sinn von etwas rekonstruierbar machen, indem er sich der Reste und Spuren bedient, die sich als Puzzlestücke interpretieren lassen: Dieser Wissenschaftler ergänzt unvollständig erhaltene Mauerfunde im Binnenvergleich, z. B. aufgrund seines Wissens über den Umriss eines Nachbarhauses. Angewendet auf das Verfahren, Binnenvergleiche anzustellen, läge das am Ende des Puzzelns stehende Gesamtbild in Form einer soziologischen Massenbetrachtung im Sinne Webers vor. Ähnlich lässt sich im Vergleich die Bedeutung von Symboliken rekonstruieren und die kulturelle Funktion von Kultgegenständen aufschlüsseln, indem ein Fund in Relation zu in dieser Region zu einer Zeit gängigen kulturellen Praktiken interpretiert wird. Ähnlich lassen sich in den Textprotokollen implizit sichtbar werdende kommunikative Spuren und unvollständig überlieferte Aussagen rekonstruieren: ebenso wie der Archäologe seine Funde als Indizien für frühere Kulturen wie einen Text „liest“, interpretiert ein soziologischer Forscher seine Protokolle. Insofern ähnelt die hermeneutische Arbeit des Archäologen der „rekonstruktiven Schürfarbeit“ des Soziologen. In der Entwicklung der Auswertungsmethode wurde auf Annahmen der Objektiven Hermeneutik zurückgegriffen, um daraus erst anschließend spezifische, dem empirischen Gegenstand angemessene Regeln zu formulieren, die die Praxis ex post rechtfertigen (Wernet, 2000; Bohnsack, 2003; Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2009). Der Objektiven Hermeneutik entstammen zwei Grundprinzipien: die sequentielle Interpretation und die gedankenexperimentelle Explikation von Lesarten (Bohnsack, 2003: 73).
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Zu Beginn einer Interpretation wird eine Fülle von Lesarten entwickelt, in welchem denkbaren, möglichen äußeren Kontexten eine konkrete Äußerung sinnvoll sein kann; es werden Geschichten entwickelt, die helfen Sinnstrukturen als solche zu erkennen und Lesarten zu entwickeln. Klassisch lassen sich damit Interaktionen analysieren. Ein Sprecher äußert „Mutti, wann krieg ich denn endlich mal was zu essen, ich hab so Hunger“ (Oevermann et al. zitiert nach Bohnsack, 2003: 73). Der äußere Kontext, in dem diese Äußerung sinnvoll ist, sind die Interaktionen einer Familie beim Abendessen. „Man kann fragen, in welchen unterschiedlichen Kontexten eine bestimmte Äußerung oder Handlung sinnvoll wäre. Oevermann spricht hier von Kontextvariation. Immer geht es also darum, sich der Spezifik des zu erklärenden Sachverhalts dadurch zu nähern, dass man ihn zu anderen möglichen Sachverhalten oder Situationen in Bezug setzt“ (Przyborski, WohlrabSahr, 2009: 251).
Ausgehend von einer Analyse der Interaktionssequenz, die zweite Grundannahme, lässt sich erschließen, dass diese kommunikative Äußerung – „Mutti, wann krieg ich denn endlich mal was zu essen, ich hab so Hunger“ – ihren Sinn darüber erhält, dass der Vater bzw. Ehemann, nicht ein Kind, am Esstisch den Satz äußert. Der innere Kontext, in dem sich der Sinn der Äußerung rekonstruieren lässt, liegt als mit dem spezifischen, konkreten Gespräch beim Abendessen vor. Aus der Sequenz dieser Äußerung vor dem Horizont anderer Möglichkeiten resp. Lesarten lässt sich das Spezifische der konkreten Protokolle ablesen. „Interpretation ist grundsätzlich deutende Simulierung der Texterzeugung...“ (Soeffner, 1979: 347). Überträgt man nun diese Grundannahmen der Objektiven Hermeneutik auf das vorliegende Textmaterial zeigt sich, dass es in diesem Fall die Besucher selbst sind, die zur Deutung ihrer Eindrücke verschiedene Kontexte variieren, in denen ihre Äußerungen einen Sinn ergeben: entweder durch Wahl eines freien Vergleiches oder durch die Auswahl eines oder mehrere Vergleiche von der angebotenen Liste. Die Besucher versinnbildlichen und verdichten durch die Vergleichswahl ihre Besuchseindrücke. Die Vergleiche fungieren wie „Rahmen“ (wie in der frame analysis Goffmans), die den Sinn der einzelnen Äußerung erschließbar machen. Die Sequenz der Äußerungen dient als innerer Kontext. Da wir es nur mit verkürzten Textprotokollen im Stichwortstil zu tun haben, muss der Sinn der Äußerungen anschließend rekonstruiert werden können, das ist anhand der prinzipiell als gleich unterstellbaren Interaktionssequenz im Interview möglich (und den gewissermaßen „objektiv“ geltenden Regeln der interaktiven Textproduktion). Das heißt weiter, dass die Besucher im Interviewgespräch aufgefordert wurden, den Rahmen, in denen eine einzelne Äußerung oder die Schilderung eines „Eindrucks“ (z. B. im JMB „interessante Erfahrung“; „informativ“, „ist
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nicht langweilig“; „surreale Welt, durch den räumlichen Eindruck“) „Sinn macht“ selbst zu wählen und zu variieren. In der interpretativen Auswertung der Textprotokolle – als simulierende Rekonstruktion des gemeinten Sinns der Texterzeugung – lassen sich dann diese Annahmen nutzen, um dann die einzeln Äußerungen (die die Vergleiche erläutern) in diesem gewählten und variierten Kontext als Deutungen des gewählten Vergleichs „verstehen“. In Bezug auf Geschichtsdeutungen ist ein rekonstruktives Vorgehen nicht ganz einfach, Geschichtsverstehen ist in den seltensten Fällen unmittelbar aus Äußerungen zu entnehmen. Viele Sinnzuschreibungen lassen sich nicht einfach abfragen, da sie als Konstruktionen zweiter Ordnung sowie Deutungsschemata ihre kulturelle Geltung erst im Zuge ihrer praktischen Anwendung in Sinnzuschreibungsprozessen erhalten. Insofern muss ausgehend von den empirischen Deutungen der Besucher und gerade nicht ausgehend von theoretisch etablierten Begriffen und Semantiken herausgearbeitet werden, wie die Besucher ihre Eindrücke von der ausgestellten Geschichte deuten. Deshalb ist es günstig, mit dem vorliegenden Textmaterial zunächst von den Eindrücken der Besucher auszugehen und mit den in diesem Verfahren rekonstruierbaren Deutungen dieser Eindrücke in der Sequenz der Interviewgespräche als geeignetem Textmaterial für eine Analyse der Geschichtsdeutungen der Besucher auszugehen. Als siebter und letzter Schritt im Auswertungsprozess (Endergebnis Kodierungen VII), also nachdem ein Begriff für eine Kategorie vergeben wurde, haben sich die Mitglieder des Kodierteams separat das empirische Textmaterial erneut angesehen. In diesem letzten Schritt sollten ausgehend von den beschriebenen Arbeitsschritten zunächst jeweils unabhängig voneinander Kodevergaben erfolgen und erneut in einem abschließenden Konsensbildungsprozess diskutiert werden. Es galt, eine endgültige Entscheidung über verbliebene Zweifelfälle zu treffen. Denn letztendlich sollten ganze Textprotokolle eindeutig kodiert und museumsübergreifend eingeordnet werden. Mit dem „verabschiedeten“ Kodierschema lagen als Endergebnis Kodierungen für alle Sinngehalte in den Textprotokollen aller Museen vor. In diesem Abschnitt wurden mit den Arbeitsschritten I-VII die im Auswertungsprozess generierten methodischen Regeln vorgestellt. Die entsprechende Auswertungspraxis wäre nun erneut anhand ausgewählter Beispiele als siebter Arbeitsschritt anhand von Textprotokollen darzustellen und damit die Kodierung des gesamten Materials abschließend dokumentierend vorzuführen.
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5.1.5 Die verschiedenen Rezeptionsweisen der Besucher Nach Einführung der Methode, gemäß derer aus den Textpassagen die Kategorien entwickelt und Kodierungen vergeben wurden, lassen sich ausgehend von diesen Arbeitsschritten analog zur Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ Kategorien für die Auswertungsdimension „Rezeption“ der Besucher erstellen. Nach Einführung der Methode steht in diesem Abschnitt zugleich weniger die Kategorienbildung im Zentrum, als Arbeitsschritt VII, als die Kodevergabe in der Auswertungsdimension Rezeption. Das Anliegen der Ergebnisdarstellung ist bestimmt davon, die Kodierungen in der Auswertungsdimension Rezeption nachvollziehbar zu machen und ggf. zu rechtfertigen. Diese Rezeptionskategorien (und die ihnen entsprechenden Kodes) entstanden zwar zeitgleich mit den Kategorien der anderen Auswertungsdimensionen und das Kategorienschema kann allein als Ergebnis der vollständigen Interpretation aller Textprotokolle gelten. Da die Auswertungstechnik im vorherigen Abschnitt bereits eingeführt ist, lässt sich hier zur Darstellung der Auswertungspraxis sofort das Kategorienschema einführen, noch bevor die Bedeutung der Kategorien in der Auswertungsdimension „Rezeption“ ausreichend expliziert und damit beschrieben ist. Mit Blick auf das Kategorienschema kann im Zuge dieses Abschnitts auffallen, dass ich in diesem Abschnitt einer Reihenfolge folge, die sich nicht mit der Ordnung des Schemas deckt.
Quelle: Besucherbefragung KUGL Irritation Emotionalität Verantwortung
Entwicklung, Kontinuität;
Kausalität
Geschichte als Geschichten, Alltagsgeschichte
Exemplarische Geschichte
Räumlich-territoriale Geschichte
Strukturation
Geschichte als komplexes Geschehen
Leiden in und an eratischer Diskontinuität
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Bildung; Reflexion
(Retrospektive) Konstruktion;
3
Verlusterfahrung, Verlorene Welten
Kontextuierung, Identifikation Geschichtserlebnis, kulturelles Window-Shopping
Erinnerung
Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung Beglaubigung, Abgleichendes Wiedererkennen
Selektive Rezeption
Geschichtserzählung, Narration
2
Thematische Felder Ästhetik, Architektur
Bilder; Fotos
Inszenierung; Installation
Dokumente, Artefakte und Originale
Museumsdinge:
(Präsentations-) Konzept
Audiovisuelles, Multimedia
Daten und Fakten
Kognitiv distanziert, emotional indifferent
Chronologie
Medium
Besucher/Rezeption
1
Geschichtsvorstellung, -darstellung
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Tabelle 5.1.5.1: Kodierschema Vergleichsfrage 1
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Es sollen nun verschiedene Textpassagen als Beispiele aus der mit Abschluss der Kodierarbeit mit Geschichtserlebnis, kulturelles Window-Shopping benannten Kategorie zitiert werden. Es werden hier mehrere Beispiele herausgegriffen, um einen Überblick über das typische Textmaterial in dieser Kategorie zu geben. Dabei wird anhand der Textpassagen zu erläutern sein, was ein Geschichtserlebnis vom kulturellen Window-Shopping unterscheidet und was beide Rezeptionsweisen in den Eindrücken der Besucher möglicherweise gemeinsam haben. Im JMB liegt eine Textpassage vor, die lautet: „Wie ein Sightseeing“, diese Antwort findet leider keinerlei weitere Erläuterung und es wird auch kein Listenvergleich gewählt. Um den Sinn dieser Antwort rekonstruieren zu können, gilt es sich zu vergegenwärtigen, welche Bedeutung der Vergleich eines Museumsbesuchs mit einem „Sightseeing“ für einen Besucher haben kann? Die Technik analogisierenden Schließens kommt dabei an Stellen zur Interpretation des Textmaterials zum Einsatz, wo dieses zu kurz und knapp zu einer ausführlichen Interpretation erscheint. In der Interpretation werden dabei implizite Gemeinsamkeiten der Kommunikationssituation unterstellt, die die Vermutung begründen, Besucher der Museen könnten untereinander ähnliche Eindrücke schildern. So lassen sich Textprotokolle im Vergleich mit ähnlichen Passagen erhellen. Um für andere Fälle einer Kategorie zu ermitteln, welche anderen Möglichkeiten ein Besucher gehabt hätte, seine Eindrücke zu formulieren, bietet sich ein Vergleich im Textmaterial an, um Besucher aufzuspüren, die ein semantisch ähnlich gelagertes Antwortverhalten zeigten. Das lässt sich, nachdem das Kategorienschema entwickelt und eingeführt wurde, am wahrscheinlichsten im Vergleich mit Textmaterial erreichen, welches bereits aufgrund seiner semantischen Konfiguration in derselben Kategorie verortet wurde. Bereits mit der Verortung des Sightseeings als Geschichtserlebnis, kulturelles Window-Shopping liegt natürlich eine plausible Interpretation vor. Der Sinn dieses Vergleiches von Texten, die derselben Kategorie zugeordnet wurden, also derselben semantischen Konfiguration entstammen, liegt darin, die semantische Spannbreite der gebildeten Kategorie zu erläutern. Im MHU wird „Spaziergang durch die Geschichte“ frei gewählt und ausschließlich erläutert: „auf engem Raum ist der Verlauf der Stadtentwicklung dargestellt“. Insofern lässt sich auch dieses Textprotokoll aufgrund seiner Kürze nicht zur weiteren Interpretation heranziehen. Der subjektive Sinn des freien Vergleiches wird also nur bedingt erläutert, weshalb man sich seinem Sinn wiederum durch einen Abgleich mit ähnlichen Textpassagen in derselben semantischen Konfiguration erschließen kann. Im HdG lautet ein freier Vergleich „netter Spaziergang“ und die Erläuterung des Besuchers: „eher zufällig“. Ob die Erläuterung „eher zufällig“ sich auf die Zufälligkeit seines Wegs in das Museum oder die Zufälligkeit des Wegs im Museum bezieht, lässt sich schwer sagen. „Spazierengehen“ folgt in der Regel einer absehbaren Wegeführung, der nette Spaziergang in das oder im Museum aber in diesem
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Falle nicht. Dabei ist ein „Spaziergang“ wohl als der Muße, der Zerstreuung und der Kurzweil dienend zu interpretieren, während die Erläuterung darauf zu verweisen scheint, dass er „eher zufällig“ beim Spaziergang seinen Weg ins Museum gefunden zu haben scheint. Es ist demnach mit semantisch ähnlichen Antworten zu vergleichen, um dem Sinn dieser Art von Rezeption näher auf die Spur zu kommen. In einer anderen MHU-Textpassage wird der freie Vergleich: „Kurzweilige Wanderung durch die Geschichte“ formuliert, die „Wanderung“ wird mit „Unterhaltsam, kurzer Besuch. Ein Blick ins Haus, um zu entscheiden, was später zu vertiefen ist.“ kommentiert. Beide Textpassagen bilden einen Beleg für Eindrücke vom Museumsbesuch, die in Muße dem Zeitvertreib und der Unterhaltung dienen, das Museum wird als Unterhaltungs- oder Kulturangebot rezipiert. Eine „Wanderung“ scheint der Semantik „Spaziergang“ ähnlich und wird als „unterhaltsam“ beschrieben. Wiederum ein Indiz für eine auf Unternehmungen in der Freizeit, ausgerichtete Rezeption. Laut dieser Textpassage erfolgt die Rezeption auch hier eher oberflächlich („was später zu vertiefen ist“). Eine andere Textpassage greift den freien Vergleich „Erlebnistrip durch das 17./18. Jahrhundert“ auf und es wird erläutert „über Bilder, Porträts. Hat alles Erlebnischarakter – besser als über Karten, Pläne etc.“. Das Erlebnis dieses Besuchers, von ihm als „Erlebnistrip“ ausgelegt, erinnert an die Semantik der vorher zitierten Textpassagen: Auf einem Erlebnistrip wird man im Allgemeinen wohl eher oberflächlich rezipieren, da das primäre Interesse bei einem solchen Trip im Erlebnis liegt. Diese Art der Vermittlung wird jedoch von dem Besucher bevorzugt, da er die von ihm erwähnten visuellen Medien vorzieht (und er „Bilder, Portraits“ als „besser“ empfindet als „Karten, Pläne etc.“). Dieses letzte Textprotokoll bringt das Kulturangebot des Museums mit dem 17./18. Jahrhundert in Verbindung, es scheint dem Besucher demnach zwar einerseits um Freizeitgestaltung zu gehen, andererseits geht es um eine Rezeption von Geschichte, die das Unterhaltungsangebot mit Wissensvermittlung über Geschichte verknüpft und dies aus eine Art und Weise, die „Erlebnischarakter“ 8 hat: Ein Geschichtserlebnis ist demnach etwas, dass sich durch ein Mehr auszeichnet, gegenüber reiner Freizeitgestaltung und Unterhaltung. Ein Geschichtserlebnis ist, dem empirischen Text8
Der dieser Interpretation zugrundeliegende Erlebnisbegriff weist eine gewisse Nähe zu dem von Schulze (1992: 35) in seiner Erlebnisgesellschaft eingeführten auf: „Die zunehmende Verschiedenartigkeit der Menschen ist Indiz für eine neue grundlegende Gemeinsamkeit. Innenorientierte Lebensauffassungen, die das Subjekt selbst ins Zentrum des Denkens und Handelns stellen, haben außenorientierte Lebensauffassungen verdrängt. […] Doch es gibt einen gemeinsamen Nenner: Erlebnisrationalität, die Funktionalisierung der äußeren Umstände für das Innenleben.“ Für eine solche Art von Museumserlebnis gibt es im empirischen Material gerade keinerlei Beleg, da ein Erlebnis in diesem Sinne gerade nicht im Zentrum der Eindrücke der Besucher steht.
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material folgend zudem lehrreich, bietet Vertiefungen und Informationen über die Stadtentwicklung und Geschichte. In einem anderen Textprotokoll des JMB heißt es im frei gewählten Vergleich: „wie ein Kaufhaus“ und die Erläuterung lautet: „durch populäre Vermittlungsmethoden/Kommunikationsmittel wird mir etwas ‚eingeflößt‘; sehr viele Menschenmassen im Museum“. Der Eindruck der Besucherin legt nahe, dass sie beobachtet, wie eine Masse von Menschen, im Museum Kultur – wie in einem Kaufhaus – konsumiert. Sie empfindet die Ausstellung als auf Kommunikationsmittel zurückgreifend, die sie vermutlich an populäre Kommunikationsmedien erinnert. Diese Art der Vermittlung ist ihr wenig angenehm und erscheint ihr als Zumutung, wie sie explizit sagt; wenn sie diese wahrnimmt, als werde ihr etwas „eingeflößt“, begrüßt sie diese populären Vermittlungsmethoden nicht. Dennoch ist davon auszugehen, dass sie selbst das Museum, vermutlich weil sie aufgrund der Menschenmassen keine Rezeptionsweise als für sie verfügbare Alternative sieht, und das Museum deshalb wie ein „kulturelles Window-Shopping“ rezipiert. Der (eigene) Kulturkonsum ist in dieser Passage nicht das Wesentliche. Es geht um die Unterstellung dieser Besucherin, dass mit der Menschenmasse etwas Manipulatives geschehe. (Massen lassen sich ja „bekanntlich“ lenken und insofern nährt die Existenz von Massen den Verdacht der Fremdsteuerung, Außenlenkung) Eine individuelle Rezeption wird dadurch erschwert, wenn nicht verhindert. Diese Besucherin scheint sich von der als Manipulationsversuch wahrgenommenen Präsentation distanzieren zu wollen: Sie rezipiert das Museum aber wie eine Aufforderung zum Kulturkonsum. In einem anderen HdG-Beispiel wird der freie Vergleich „Disneyland für Erwachsene“ von einer Besucherin mit „abwechslungsreich, informativ, bildend, lebendig ‚rübergebracht‘“ erläutert. Es zeigen sich semantische Ähnlichkeiten mit bereits erwähnten Textpassagen: Die Besucherin fühlt sich von der Vielfalt unterhalten („abwechslungsreich“; „lebendig“), obschon sie das Museum zugleich als „bildend“ wahrnimmt. Die Kommunikationsmittel des Museums werden so von ihr deutlich positiver bewertet als von der Besucherin, die es mit einem „Kaufhaus“ vergleicht. In einem „Disneyland“ wird gemeinhin Unterhaltung allein der Unterhaltung wegen konsumiert und rezipiert, eine ähnliche Einschätzung teilt wohl auch eine Besucherin, die ihre Wahl des Listenvergleichs „ein Besuch in einem Erlebnispark“ mit „mehr spannend (Frage was für ein Erlebnispark: Phantasialand, Interviewer): wo man was machen kann“ erläutert. Das Unterhaltungsangebot besteht für den Besucher zwar aus der angebotenen Informationsvermittlung, während die Besucherin „was machen“ will. Die Kombination von Abwechslung, Lebendigkeit und Information /Bildung im nächsten Fall spricht für einen Rezeptionsstil, den man als Kombination von Unterhaltung und Bildung beschreiben kann. Für Kinder würde man von „spielerischem Lernen“ sprechen.
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Der frei gewählte Vergleich eröffnet im JMB eine Textpassage mit: „Der obere Teil ist wie ein Basar, im UG ist wie eine Gedenkstätte“. In dieser Passage erläutert ein Besucher: „Basar: vielfältig, nicht langweilig. Man kann viel gucken und entdecken. Gedenkstätte: zurückgeworfen auf sich selbst, ist ein Blick nach innen“. Die Vergleiche Basar und Gedenkstätte bilden in diesem Beispiel sehr anschaulich einen Interpretationskontext, in dem der eine Vergleich den subjektiv gemeinten Sinn des anderen Vergleiches erhellen kann und diesen entsprechend rekonstruieren hilft. Der Vergleich „Basar“ beschreibt eine Aufforderung zum Kulturkonsum – auf einem Basar wird gemeinhin eingekauft – deutlich positiver als die Besucherin der vorherigen Textpassage den Vergleich „Kaufhaus“ konnotiert. Die Rezeption des Museums als Konsumaufforderung wie „auf einem Basar“ besteht für den Besucher darin, sich nicht zu langweilen, weil sich dort Dinge ansehen und entdecken lassen. Die Gedenkstätte motiviert den Besucher demgegenüber zu einem Blick nach innen. Den Textbeispielen gemeinsam scheint eine Analogisierung von Konsumangebot und Museumsbesuch zu sein. Im Hinblick auf diese Kategorie Geschichtserlebnis, kulturelles Window-Shopping in der Dimension Rezeption ist weiter ein vollständiges Textprotokoll aus dem MHU und vorrangig der von einer Besucherin frei gewählte Vergleich instruktiv: Der gewählte, freie Vergleich lautet: „Wie Altstadtbesuch: Man ist von Historischem umgeben. Es ist ein gemütliches Museum. In der Altstadt geht man bummeln und hört sich ein Konzert an.“, von der Liste gewählt wird von ihr „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ und sie erläutert „Es ist veranschaulicht, detaillierter dargestellt. Man kann sich eher ein Bild machen, als wenn man es trocken liest. Wie das Leben früher war. Unter einer Überschrift ‚von dann bis dann‘. Wie die Leute gelebt haben, was sie anhatten, was geschehen ist“. Durch den freien Vergleich mit einem „Altstadtbesuch“ kommt gut zum Ausdruck, dass in der Wahrnehmung dieser Besucherin ein Altstadtbummel einem Museumsbesuch ähnelt oder umgekehrt. Zugleich ähnelt ein Altstadtbummel den Vergleichen anderer Besucher, die ihre Eindrücke als „Spaziergang“ oder „Wanderung“ beschreiben. Es ist davon auszugehen, dass ein Stadtbummel (mit anschließendem Konzertbesuch) der Unterhaltung dient, diese Interpretation legt dies empirische Textprotokoll nahe und insofern ist davon auszugehen, dass auch das Museumsangebot der Befragten als Unterhaltung, Erlebnis und dem Kulturkonsum gilt. Im Rückgriff auf die Forschungsliteratur, um den Sinn der Kategorie, ihre Benennung weiter herauszuarbeiten, fällt diese Rezeptionspraxis als verwandt mit einem Phänomen auf, für welches Treinen (1981: 216) und Klein (1985: 115) den Begriff des „kulturellen Window-Shoppings“ als „aktive(s) Dösen“ prägten. Ausgehend von den Textbeispielen geht es wohl um eine Rezeption „im Vorübergehen“. Ein Wahrnehmen, ohne das wirklich „konsumiert“ wird, i.S. einer Aneignung. Die vielen Hinweise auf Bummeln, Spazierengehen, Wandern usw. sind ein
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möglicher Schlüssel für den hiermit angedeuteten Rezeptionsmodus. Wenn es sich also um Kulturkonsum handelt, dann im Modus des spielerisch Flüchtigen, gewissermaßen Unverbindlichen und deshalb gleichwohl genussvoll, gemütlichen: „etwas Information und Bildung darf auch dabei sein“. Ein „aktives Dösen“ klingt nach einem spezifischen Mischverhältnis aus spielerischer Auseinandersetzung und oberflächlicher Aneignung, wie sie auch in den gerade ausgeführten Textbeispielen angeklungen ist. Insofern lässt sich begründet vermuten, dass es sich bei der entwickelten Kategorie und ihrer Semantik sowie dem Begriff aus der Literatur um ein ähnliches spezifisches Museumsbesuchsverhalten handeln könnte. Deshalb wurde im Auswertungsprozess (Schritt V) der Begriff „kulturelles Window-Shopping“ zusätzlich zur Benennung der Kategorie übernommen. Es liegt weiter eine Gruppe von Textprotokollen vor, die gemeinsam haben, dass Besucher ihre Besuchseindrücke als diffuse, unsystematische, zerstreute oder unsortierte Wahrnehmungen bis hin zu Formen der Desorientierung beschreiben. Eine auf Desorientierung zurückgehende Rezeptionsweise lässt sich als Irritation charakterisieren. Einige Befragte erläutern die Listenvergleichswahl „ein Irrgarten“: Ein Textprotokoll im JMB dokumentiert die Auswahl einer Besucherin, die mit „ein Irrgarten“ und „ein Besuch in einer Kirche/Synagoge“ vergleicht und erläutert: „In der Kirche fühlt man sich sicher (Licht orientiert), man weiß was Recht und Unrecht ist. Im Irrgarten fühlt man sich allein“. Im semantischen Spannungsfeld der beiden gewählten Vergleiche kommt zum Ausdruck, dass das Museum den Eindrücken der Besucherin zufolge einem Irrgarten ähnelt, der gerade nicht, wie eine Kirche oder Licht, orientiert. Es liegen Eindrücke vom Besuch vor, sich dort sowohl wie in einer Kirche orientiert zu fühlen, als auch zugleich das Museum als Irritation und einen Mangel an Orientierung zu rezipieren. Die Erläuterung einer anderen JMB-Besucherin erfolgt auf den Listenvergleich „eine Gratwanderung“: „Weil man nicht weiß, wohin es geht, es kann der Abgrund sein, es kann etwas Schönes sein.“. Die Wahl des Vergleiches „Gratwanderung“ suggeriert auch hier ein Wechselspiel aus Schönem und Abgründigem und legt nahe, dass die Eindrücke, die das Museum bietet, für die Befragte eben gerade nicht erwartbar sind und insofern Irritationen auslösen können. Die hinter der Kategorie „Irritation“ hervortretende semantische Konfiguration kommt als Verwirrung bei einem Besucher des HdG zum Ausdruck. Dieser vergleicht frei mit „Zeitreise, Zeittunnel wie geschlossener Raum, Verwirrung“. Bei „Verwirrung“ liegt deutlich eine sinnverwandte Rezeptionsweise vor. Der Besucher erläutert: „fliegende Eindrücke, Jahreszahlen fliegen an mir vorbei, schnell, überwältigend, man kann es gar nicht erfassen, muss noch mal kommen“. Diese Textpassage wurde zwei Mal in der Auswertungsdimension Rezeption (als „Irritation“ und „Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung“) kodiert. Eine berechtigte Kodierung, wie im Folgenden in Bezug auf die Kategorie „Zeitraffer: Beschleunigung,
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Komprimierung“ deutlich werden soll. In der Kategorie Irritation wurden demnach Textpassagen gebündelt, die auf eine vom Museumskonzept initiierte, verwirrende oder irritierende Rezeption verweisen. Eine Besucherin des JMB wählt den Vergleich „ein Irrgarten“ vorab frei und erläutert wird: „weil ich kein wirkliches System darin erkennen konnte. Zusammensetzung der Themen durcheinander.“ Auch diese Befragte konnte vorab keine Erwartungen entwickeln – „kein wirkliches System darin erkennen“ – und es ist begründet zu vermuten, dass sie der von ihr so empfundene Mangel an einer klaren Präsentationsstruktur im Museum irritiert haben wird, da sie ihn vor dem Horizont anderer Möglichkeiten explizit thematisiert. Die Wahl des Listenvergleiches „ein Blättern im Buch der Geschichte“ wird kommentiert mit: „Es gab keinen roten Faden, wie beim Blättern in einem Buch konnte man Seiten überschlagen“. Auch dieser Besucher stellt einen Mangel an Orientierung – „es gab keinen roten Faden“ – fest und seine Rezeption zeichnet sich so zwar nicht dadurch aus, irritiert zu sein, dafür hebt er aber im Gegenteil hervor, nicht geleitet, gelenkt oder orientiert worden zu sein. Letzteres rechtfertigt diesen semantischen Grenzfall der Kategorie „Irritation“ zuzuschlagen. Instruktiv ist zudem der von einer JMB-Besucherin frei gewählte Vergleich „Höhlenwanderung“, der von ihr erläutert wird mit „weil man sich nicht richtig zurecht fand; Steinmaterialien, die verarbeitet wurden“. Auch hier handelt es sich also um eine Rezeptionsweise, in der vorrangig Desorientierung – „weil man sich nicht richtig zurecht fand“ – vorherrscht. Die vorherrschende Desorientierung berechtigt, die Textpassage unter „Irritation“ zu kodieren. In diesem letzten Beispiel entsteht die Irritation offensichtlich aufgrund der besonderen Architektur („Steinmaterialien“) des JMB. Wie kommt die Rezeptionsweise „Irritation“ in den anderen Ausstellungshäusern zum Ausdruck? Einem Textprotokoll des DHM zufolge formuliert ein Besucher frei: „LEGO spielen: Unheimlich viele Einzelteile, die man selber zusammenbaut“ und von der Liste wählt er „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und erläutert: „Relativ diffuses Gehen durch die Räume im Sinne von unaufdringlich. Es war nur begeisternd, wenn ich es wollte“.
Das Gehen durch das Museum wird von dem Besucher als „diffus“ charakterisiert, er findet offensichtlich keine Orientierung im Museum, sondern findet „Einzelteile, die man selber zusammenbaut“. Er nimmt offensichtlich einen Mangel an Orientierung wahr, da er sich nicht durchweg begeistert zeigt. Zum einen mag das daran liegen, dass er das Museum selektiv rezipiert. Er baut sich beim „Lego“ die „Einzelteile“ selber zusammen und ist „nur begeistert, wenn“ er „es wollte“. Somit wurde in der Auswertungsdimension Rezeption der Kode „selektive Rezeption“ vergeben.
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Aber seine Rezeption erscheint nicht allein vom Besucher selbst motiviert zu sein, denn seine Aussage „diffuses Gehen durch die Räume im Sinne von unaufdringlich“ macht diese Rezeptionsweise zugleich an den Räumen des Museums fest. Die Ausstellung im DHM wird, wie andere Variablen zeigen (vgl. Kapitel 6) ähnlich wie die im JMB, als den Besuchern wenig Orientierung bietend, also als Mangel an Orientierung rezipiert, insofern lässt sich mit einer derartigen Vergleichsstrategie die Kodevergabe „Irritation“ bei diesem Beispiel rechtfertigen. Die von Textpassagen, denen ein wahrgenommener Mangel an Orientierung implizit ist, konstituierte Auswertungskategorie wurde als „Irritation“ benannt. An den zitierten Textprotokollen wurde deutlich, dass die Rezeptionspraxis Irritation sowohl die Rezeption der Besucher umfasst, die die Ausstellung und Raumführung als auch Themen und Informationsbestandteile nicht einordnen konnten. In anderer Hinsicht informativ darüber, welche besonderen Eindrücke Museen hervorrufen, sind diejenigen Textprotokolle, die die Rezeption der Besucher als Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung kategorisierbar machen. Die im Folgenden zitierten Textpassagen werden empirisch die semantische Spannweite der Kategorie illustrieren sowie begründen, dass sich den Eindrücken der Besucher entnehmen lässt, dass es sich bei diesen Rezeptionen um ein häufig in Kombination (Zeitreise/Zeitraffer, Beschleunigung und Komprimierung) auftretendes Phänomen handelt. Die Eindrücke im MHU werden mehrfach mit „Reise in die Vergangenheit“ verglichen. In einem Textbeispiel ist frei von „Zeitsprung nach früher: 1970-1980er, schöne Sachen“ die Rede. Im Anschluss wird die Vergleichswahl „eine Entdeckungsreise“ erläutert: „alles Neuland; wie die Menschen gelebt und viel gearbeitet haben; Reise: als Zurücklehnen; 19701980er; Entdeckung war davor; aber Entdeckung neuer Sachen; kein neues Bild der eigenen Zeit“.
In dieser Textpassage ist von Entdeckungen und Neuland, also Unerwartetem, das die Besucherin unterhält, da von „schöne Sachen“ die Rede ist. Anders als bei den in der Kategorie „Geschichtserlebnis, kulturelles Window-Shopping“ kodierten Textpassagen werden von der Besucherin gerade explizit diese Differenzen rezipiert, die als vom Verstreichen der Zeit verursacht verstanden werden („1970-80; Entdeckung war davor“). Die Besucherin rekonstruiert eine zeitliche Distanz, über die eigene Zeit erfährt sie nichts Neues, aber über die Zeit davor schon. Die zeitliche Distanz wird also als verantwortlich für die Konfrontation mit Neuem ausgemacht. Ein Besucher des MHU unternimmt beim freien Vergleichen einen „Ausflug: in eine Zeit, die zurückliegt“. Als Erläuterung für eine Vergleichswahl, die das Wort „Zeitreise“ in diesem Fall nicht enthält, findet sich die Erläuterung eines Besuchers
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„wie wenn man mit einem Fernglas guckt und sieht wie es war, statt in die Ferne guckt man in die Vergangenheit“. Auch dieser Textpassage ist eigen, dass die zeitliche Distanz, die im Museum überwunden wird, die Vergangenheit, die „mit einem Fernglas“ herangeholt wird, wesentlich die Schilderungen des Besuchers prägt. Ein Besucher des HdG vergleicht, frei formuliert, mit einem „virtuellen Spaziergang durch die Geschichte“ und erläutert: „Man hat das selber erlebt bis in die 1960er Jahre hinein ist das Realität, auf eine komprimierte (Herv.: V.S.) Art und Weise. Es ist virtuell über die Zeitschiene, ich kann in zwei Stunden die ganzen 50 Jahre durchlaufen“. Die zeitliche Differenz, die „Zeitschiene“ im Museum, wird von diesem Besucher als komprimiert rezipiert. Demnach ist nicht er selbst es, der wie im vorherigen Beispiel Geschichte in übertragenem Sinne „mit einem Fernglas“ rezipiert, sondern dieser Besucher versteht Zeit als vom Museum komprimiert dargestellt. Er schreibt also die Raffung von Zeit nicht sich selbst und seiner Rezeption zu, sondern versteht das Museum als für diese Zeitraffung verantwortlich. Im Vergleich der beiden Beispiele tritt hervor, inwiefern die Überbrückung zeitlicher Differenzen von den Befragten verschieden, auf sich selbst oder auf das Museum, zugerechnet werden. In einem anderen Textprotokoll des HdG-Textmaterials wird frei mit „Zeitreise“ verglichen und erläutert „Beschleunigung, schnell zurückspulen“. Gemäß dieser Textpassage sieht der Besucher sich im Museum durch einen technischen Effekt („zurückspulen“), die Vorführtechnik oder Inszenierung, in der Zeit beschleunigt, während er seine Zeitreise unternimmt. Eine HdG-Besucherin formuliert frei „wie wenn Du 60 Jahre in zwei Stunden verpackst“ und erläutert „viele Sachen, die prägnant waren werden wieder aufgewühlt, gerade diese wurden herausgepickt, es sind die wichtigsten Sachen, die wie durch Kleber am Ufer festgehalten werden“.
Gemäß dieser Textpassage wird deutlich, dass die Besucherin den Zeitraffer als solchen rezipiert, denn die eigene Erregung rechnet sie sich selber zu. Diese Erregung könnte auch als Intensivierung der Gefühle interpretiert werden. Sie macht als Anlass dafür scheinbar aus, dass die „wichtigsten Sachen“ (ihres Lebens oder der genannten 60 Jahre) im Museum ausgestellt sind. Der Zeitraffer, den verschiedene Besucher im Museum durchlaufen, scheint demnach ein Effekt zu sein, der zum einem auf der zeitlichen Komprimierung der dargestellten Zeit und Geschichte im Museum besteht. Zum anderen wird die derart komprimierte Geschichte als ein Zeitraffer, durch den eine subjektiv empfundene Beschleunigung entsteht, rezipiert. Die Bezeichnung Zeitraffer trat im Abschnitt 5.1.4 unter den Textpassagen, die als semantische Grenzfälle der Kategorie Chronologie behandelt wurden, bereits auf. Diese Passage wurde in der Auswertungsdimension Rezeption als „Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung“ kodiert. Dieser Begriff scheint eine geeignete,
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aus dem empirischen Material übernommene Benennung für eine Rezeptionsweise zu sein, die sowohl die im Museum wahrgenommene, also rezipierte Beschleunigung als auch die Rezeption des Museums als zeitliche Komprimierung unter einen Oberbegriff zusammenzufassen verspricht. Die drei Bezeichnungen „Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung“ verweisen auf Rezeptionsweisen, die einen spezifischen Umgang mit zeitlichen Differenzen beschreiben. Gerade in einem historischen Museum ist die Frage, wie Besucher zeitliche Unterschiede rezipieren, so sie diese denn als explizit subjektiv erwähnenswert empfinden, sicherlich zentral. Eine rein deduktiv verfahrende Auswertungspraxis hätte diese Rezeptionspraxis u. U. gar nicht ermitteln können. Textpassagen, die belegen, dass Besucher insbesondere den zeitlichen Differenzen im Museum ihre Aufmerksamkeit schenken, wurden als „Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung“ kodiert. Analog möchte ich zwei in dieser Kategorie kodierte Textpassagen im DHM darstellen: Ein Unterschied zwischen der Rezeption des Besuchers und der Komprimierung im Museum kommt auch in der folgenden Textpassage zum Ausdruck: Der DHM-Besucher formuliert frei „eher Bilder als Text. Entspannt durchschlendern“, er wählt „Ein Besuch in einer Schatz- und Wunderkammer“ von der Vergleichsliste und erläutert: „Historische Gegebenheiten sind grob bekannt. Exponate schön und ungewöhnlich. Chronologisch geordnet. Man kann vom napoleonischen Zeitalter zum Ende des I. Weltkriegs rutschen. (Herv.: V.S.) Habe Industrialisierung vermisst. Ritterrüstung ist sooo schwer, das hätte ich nicht gedacht […] Es ist was zum Anfassen“. Ein Besucher formuliert frei „Nach eigenem Geschmack durch die Zeit bewegen. Ausstellung chronologisch, aber man kann selbst die Geschwindigkeit bestimmen.“, wählt die Vergleiche „ein Blick auf eine Ahnentafel“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ von der Liste und erläutert diese Wahl mit „Heilige römische Reich: Auflistung der Erbfolge; Geschichtsunterricht hat keinen chronologischen Aufbau. Blättern im Buch: Eigene Geschwindigkeit. Geschichte kann man nicht rückwärts; sondern nur in einer Richtung anschauen. Aber in einer vorherigen Gegenwart diverse, vielfältige Zusammenhänge. Ich überlege, was gewesen wäre, wenn sich etwas anders entwickelt hätte“.
Zusammenfassen lässt sich, dass die Besucher den Eindruck haben, Zeitphasen im Museum komprimiert zu durchlaufen und sie sehen sich zugleich im Ausstellungshaus einer beschleunigten Geschichte gegenüber, da etwa der Ablauf von 60 Jahren im Museum auch nicht ansatzweise der „realen“ Besuchszeit entspricht. In dem weiter oben bereits zitierten Textprotokoll wird das Wort „Zeitraffer“ für diese Art der Rezeption geprägt, für die eine durch das Museum betriebene Beschleunigung auf der einen und eine Komprimierung der dargestellten Zeiträume auf der anderen Seite charakteristisch ist. Textpassagen, die auf eine solche Art der Rezeption verweisen, wurden als Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung, kodiert.
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Mit den Kategorien „Geschichtserlebnis, kulturelles Window-Shopping“, „Irritation“ und „Zeitraffer: Beschleunigung, Komprimierung“ lagen gegen Ende des Auswertungsprozesses in der Auswertungsdimension Rezeption drei Kategorien vor, die ein Licht auf für kulturhistorische Museumsbesucher besondere und typische Rezeptionsweisen werfen. In der Kategorie Bildung, Reflexion sind Textpassagen gebündelt, die sich als einer klassischen Art von Museumsrezeption dienend verstehen lassen. Zur Dokumentation der in dieser Kategorie vorgenommenen Kodierungen möchte ich allein verschiedene Belege aufführen, die die semantische Spannweite der Kategorie verdeutlichen und belegen. In allen Museen lassen sich gewissermaßen zwei Bündel der Textprotokolle innerhalb dieser Kategorie bilden: zum einen liegt Textmaterial vor, indem die Besucher ihre Eindrücke im Museum als Bildung, Schulbildung, Informations- oder Wissenserwerb charakterisieren, das ist beim Museum, von dem erwartet wird ein „Lernort“ zu sein, nicht verwunderlich. Aufschlussreicher im Hinblick auf den Sinn, der der Geschichte jeweils subjektiv von den Besuchern zugeschrieben wird, sind da zum anderen die je individuellen Reflexionen. Deshalb möchte ich so vorgehen, dass ich für „Bildung“ allein Ausschnitte aus dem Textmaterial unkommentiert zitiere und für „Reflexion“ einzelne Textpassagen jedoch vollständig zitiere und weiterführend kommentiere. Museen und auch das MHU gelten gemeinhin als Orte der Bildung und Reflexion: Unter den freien Vergleichen findet sich die Formulierung „man bekommt Anregungen“, die Vergleichswahl „ein Geschichtsunterricht“ wird mit „man kann was daraus lernen“ erläutert. Ein DHM-Besucher formuliert frei „Vermittlung von allgemeinem Wissen“ und erläutert die Wahl „ein Besuch in einer Schatz- und Wunderkammer“, „ein Geschichtsunterricht“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit: „Unterricht und Blättern im Buch der Geschichte: weil man sich das raussuchen kann, was einen interessiert, Schatzkammer: weil es auch Schätze unserer Vergangenheit sind“.
Die Spannweite, die verschiedene Reflexionen über Geschichte haben können, erscheint weiter von besonderem Interesse. Eine Besucherin, die im MHU die Sonderausstellung über Sterben und Begräbnis ansah, reflektiert verschiedene Facetten und Aspekte ihres Ausstellungsbesuches: sie formuliert frei „offener Raum, der eine eigene Welt ist und sich in Hannover befindet. Das bezieht sich auf die Architektur.“ Weiter wählt sie „Ein Einblick in verschlossene und fremde Welten“ und „ein Blättern Buch der Geschichte“ von der Liste und erläutert: „Blättern im Buch der Geschichte: Das sind ja auch verschlossene und fremde Welten. Ein Begräbnis ist ja sehr nah und trotzdem immer für einen verschlossen. Historisches eher kurios – Begräbnis wird als
236 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN verschlüsselt gehandelt. Blättern: Oben die Ausstellung; Einblicke unten. Aber auch gemischt, auch Verschlossenes in der Geschichte“.
Eine JMB-Besucherin sieht sich zu ethischen Reflexionen veranlasst: Sie wählt die Listenvergleiche „Ein Besuch in einer Kirche/Synagoge“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte und erläutert: „Kirche: habe darüber nachgedacht, wie hätte ich mich verhalten, selber in mich hineinschauen ohne Antwort zu bekommen – ist das was ich mich Kirche verbinde bzw. was ich in einer Kirche mache, Blättern im Buch der Geschichte: allgemeine Geschichte wird präsentiert“.
Offensichtlich wird aus dem Unterschied zwischen den beiden gewählten Vergleichen, dass in einer Kirche eine spezifische Art der Rezeption („in mich hineinschauen“) erfolgen könnte. Die Kategorie „Bildung, Reflexion“ kann demnach Reflexionen im Museum umfassen, die sich auf verschiedene Aspekte und Eindrücke richten. Im HdG tritt Reflexion noch einmal anders auf, in Abgrenzung zu „Bildung“ werden die Besucher bei „Reflexion“ selber aktiv und reden über den subjektiven Sinn, den sie der ausgestellten Geschichte zuschreiben. Eine Besucherin beschreibt frei: „Es ist als ob Du noch einmal groß wirst“ und erläutert dazu, sie sei „geboren 1947: es ist das eigene Erleben, man kann Lücken schließen, die nicht mehr präsent waren, viele Erinnerungen an einzelne persönliche Erlebnisse“.
Ihre Reflexion beruht angesichts der Zeitgeschichte nun darin, dass sie das Museum als „Noch einmal groß“-Werden empfindet und bestimmte (Wissens-)Lücken dabei schließt. Die Besucher reflektieren demnach auch ihre eigene Rezeption und die Probleme, die damit für eine zeitgeschichtliche Museumsdidaktik („Problem des unkritischen emotionalen Zugangs“) auftreten können. Im Textmaterial des JMB liegen in dieser Kategorie viele Beispiele vor, die mehr oder weniger Reflexionen auf die Ausstellungsdidaktik sind. So reflektiert ein Besucher im freien Vergleich die Wirkung des Untergeschosses: „provokativ: im UG werden bewusst Gefühle hervorgerufen: erdrückend“ und erläutert seine Wahl des Listenvergleiches „ein Blättern im Buch der Geschichte mit: „(oben die Ausstellung) Museumskonzeption ist chronologisch“. Ähnlich wird die Architektur hervorgehoben, wenn ein anderer Besucher im freien Vergleich formuliert: „Mit einer Felslandschaft, einem Felssturz / Dauerausstellung mit einem Lehrpfad“ und erläutert: „Das Gebäude ist einem Felssturz ähnlich. Lehrpfad: man wird von vorne bis zum Ende durchgeführt. War zum Teil explorativ, nicht besonders gradlinig, man musste sich Einzelerlebnisse erarbeiten, auch wenn man durch die Ausstellung durchgeführt wurde“.
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Die Reflexion gilt insofern der Art, wie die Ausstellung einem Besucher Wissen vermittelt, der Befragte wird sich im Interviewgespräch über die genutzten Kommunikationsstrategien des Museums bewusst. Ein DHM-Besucher reflektiert, indem er die Vergleichswahl „ein Blick auf eine Ahnentafel“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ erläutert: „Bilder und Texte. Epochen – Menschen zu diesen Epochen interessieren schon. Die Rolle Metternichs in der Geschichtsschreibung werde anders gesehen, als Besucher sie sieht: ‚offizielle Sicht: Polizeistaat und Unterdrückung. Aber: lange kein Krieg“.
Die Besucher beschreiben in ihren Eindrücken insofern in verschiedener Hinsicht, wie sie sich gebildet sehen, wie und was sie gelernt haben und worüber im Museum sie reflektiert haben. Mit der Kategorie Selektive Rezeption möchte ich ebenfalls selektiv verfahren und nur Ausschnitte aus Textpassagen vorstellen, da sich jeder unter der semantischen Konfiguration der Kategorie, also einem „Akt des Auswählens“ Sinnverwandtem wie Herausgreifen, Überspringen, Zusammenfassen etc. etwas vorstellen kann. Diese Rezeption ist natürlich unter Museumsbesuchern stark verbreitet, da faktisch wohl fast jeder Besucher auf die eine oder andere Art auswählt. Worin kommt diese im Material zum Ausdruck? Im MHU beschreibt eine Besucherin „Ich muss nicht von A-Z lesen, sondern kann mir etwas heraussuchen“. Im HdG wählt ein Besucher „ein Blättern im Buch der Geschichte“ laut Textprotokoll von der Liste, „weil man wählen kann, was man sehen will“. Im Textmaterial des DHM zeigt sich eine andere Sinnnuance „Es gibt Text und man baut sich was zusammen“, diese Erläuterung der Besucherin geht mit der Wahl des Vergleiches „ein Geschichtsunterricht“ einher. Ein Besucher erläutert „Ich blättere eher, um Langweiliges zu überspringen“. Aus diesen Beispielen kann deutlich werden, inwiefern selektive Rezeption eine gängige Rezeptionsweise in Museen darstellt. Gerade im HdG aber auch in den anderen Museen wird Geschichte vielfach über Erinnerungen rezipiert. Eine Besucherin des HdG vergleicht mit der „eigenen Vergangenheit“ und „Eine Wiederbegegnung mit alten Bekannten, die man aus den Augen verloren hatte“ sowie „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und beschreibt u.a. aus ihrer eigenen Erinnerung: „Man erkennt Vieles wieder, was man zu Hause hatte. Es geht tiefer als ein Erlebnispark. Personen, Gesichter, was man selbst erlebt hat. Wie in einem Buch wird man geführt. Durch die Ausstellung begegnet man Vergangenem“.
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Bei Erinnerungen handelt es sich um eine gängige Museumsrezeption und insofern wird eine Darstellung hinreichen, die sich darauf beschränkt, die Beschreibung von Erinnerung jeweils im Textmaterial zu identifizieren. Teilweise liegt eine Erinnerung an selbsterlebte Zeit vor, teilweise erinnern sich die Besucher aber auch an erworbenes Wissen: Ein freier Vergleich im DHM lautet „Anschauliche Präsentation der Geschichte – Man hat noch Ahnung (Interviewerin: vom Geschichtswissen) und bekommt Überblick“ und erläutert die Wahl der Listenvergleiche „ein Geschichtsunterricht“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit „Die restlichen Vergleiche nicht: zu speziell. Keine Fiktion (Erzählung), nicht meine Ahnen – geschichtliche Information, thematisch gegliedert: Bebilderter Geschichtsunterricht. Das so wahrzunehmen scheint Intention der Ausstellungsmacher zu sein“.
Im MHU liegt Erinnerung vor, wenn zwar auch mit „ein Geschichtsunterricht“ verglichen, aber erläutert wird: „auch Erinnerungen an Unterricht/Jugend wiederentdeckt, eigene Vergangenheit“. Eine andere Besucherin des MHU kommentiert: „bin als Kind viel im Museum gewesen“. Auch im DHM findet sich ein freier Vergleich, der eine Erinnerung an die Biographie des Besuchers thematisiert: „Bilder, die Erinnerungen hervorrufen: 1970er Jahre selbst erlebt, 1980er Jahre. Schild der Passkontrolle ruft Assoziationen zur eigenen Biographie hervor“ und er erläutert die Vergleichswahl „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit: „Es sind Impressionen. Man kann keinen Überblick bekommen, wenn man die Geschichte nicht kennt. Urgroßmutter hat über I. Weltkrieg erzählt. Man setzt das in Bezug zu Dingen, die man hier sieht. Man findet Erzählungen in größeren Zusammenhang eingeordnet. Bestätigung und Widersprüche suche ich hier zwischen Beidem“.
Die Erzählweise im Museum ermöglicht auch, über Geschichte analog zur eigenen Erinnerung zu sprechen. Eine Besucherin des HdG spricht z. B. frei von „Erleben der früheren Zeit“ und sie erläutert die Wahl des Listenvergleiches „Unser Leben: Ein Wechsel zwischen Alltag, Wochenenden und Festtagen“ mit: „Alltag und Fortschritt, Gleichberechtigung, aber kein zyklischere Rhythmus, ein Feiertag ist der 9.11.1989 oder das Ende des Krieges, als Wochenende wird das Kino empfunden“.
Im JMB treten Erinnerungen thematisch bedingt anders auf als in den anderen Museen. Die Besucherin wählt „Eine Suche nach verlorenen Welten“ von der Vergleichsliste und erläutert „weil viel verloren gegangen ist, das man nicht zurückholen kann; durch die Eindrücke findet man wieder, was in einem vergraben ist“.
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Ein unmittelbares Wiederaufflammen von Erinnerungen im HdG soll hier abschließend zitiert werden: „Eine Zeitreise und eine Vision; Abfolge der bildlichen Eindrücke; nicht fragmentarisch aber multimedial. Ich hatte eine Bonner Kindheit; bis 1958. Nähe von Stadion und Sportakademie; Bonn erwachte erst. Die 1980er und 1990 er Jahre nicht so sehr (nicht lesbare Transkription, V.S) schon schwieriger. Je näher die Zeit kommt, desto verwirrender ist sie.“ und erläutert dann die Vergleichswahl „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit: „Ein Bilderbuch der Geschichte; mentale Ordnungen; Das Bewusstsein erzeugt einen (nicht lesbare Transkription, V.S) Eindruck. Flash-backs in der Interaktion“.
Vor allem „Flash-backs“ sprechen für eine Kodierung von (unbewusster) Erinnerung. Alle diese Textpassagen wurden in der Kategorie Erinnerung gebündelt. Eine Rezeptionsweise, für die der Kode „Beglaubigung, abgleichendes Wiedererkennen“ vergeben wurde, ist in vielen Ausstellungshäusern anzutreffen. Ich werde mit Rücksicht auf den Charakter des Textmaterials in dieser Kategorie erneut zu einer stärker am Textmaterial ausgerichteten Argumentationsweise zurückkehren und zunächst verschiedene Passagen unkommentiert zitieren, um dann später ausgewählte Textpassagen ausführlich und vollständig zu interpretieren. Viele Besucher sehen in der dinglichen Darstellung im Museum einen materiellen Beleg für Geschichtserzählungen. Im MHU wählt ein Besucher die Vergleiche „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ und „ein Fest in Kostümen“ sowie „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und kommentiert: „Damit kann man das Museum am besten beschreiben: Kostüme kann man darstellen, Geschichte beschreiben. Das kann man am ehesten mit dem Museum in Verbindung bringen. Viel auch durch Erzählungen aus dem privaten Bereich, hier kann ich das wiederfinden (Herv. V.S.)“.
Im HdG vergleicht ein Besucher frei mit „Geschichtsunterricht in der Schule“ und erläutert: „Ich hatte Leistungskurs-Geschichte in der Schule und hier habe ich Vieles wiedergesehen. (Herv. V.S.) Man kann Gelesenes hier anfassen.“, ein anderes Beispiel lautet „Gegenstände vertiefen das Geschichtsbewusstsein“. Für eine ausführlichere Kommentierung lässt sich ein Beispiel aus dem MHU heranziehen: Der frei gewählte Vergleich einer Besucherin lautet „wie wenn man in die Geschichte reist und das alles einmal miterlebt.“. Sie kommentiert diese Wahl mit „Eltern haben mir viel vom Mittelalter und von ihrer Kindheit erzählt, das konnte ich mir schlecht vorstellen; jetzt durch
240 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN die Ausstellungsstücke konnte ich mir das vorstellen - man schlüpft in die Rollen der Eltern und erlebt das so ein bisschen mit“.
Dieser Textpassage zufolge waren es ihre Eltern, die über Geschichte erzählten, etwas das sie im Museum wiedererkannt zu haben scheint und das für die Befragte im Abgleich mit dem Museum besser vorstellbar wurde. Im DHM belegt eine weitere Textpassage anders den Kern der in dieser Kategorie gebündelten Nennungen, nämlich den Unterschied zwischen Geschichtsunterricht und Geschichtsrezeption im Museum: Frei erläutert die Befragte: „Ich würde eine Beschreibung vom Gebäude her anfangen: Es ist ein Gebäude der Geschichte und man begibt sich durch Betreten in die Geschichte hinein. ‚Haus der Geschichte‘ wäre ein passender Name. DHM-Name klingt ‚gestelzt‘. Ausstellung spricht eher alle an. Wäre schön, Kinder hier hinein zu holen. Deutsches Historisches Museum klingt elitär.“, dann wählt sie „ein Geschichtsunterricht“ von der Vergleichsliste und sie erklärt: „Habe mich gefragt, was von meinem Geschichtswissen geblieben ist: Bloß Sprüche: ‚Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will‘“.
Diese Besucherin vergleicht offensichtlich ihr eigenes Geschichtswissen, das ihr im Unterricht vermittelt wurde, mit dem im Ausstellungshaus Ausgestellten und im Abgleich kommt sie zu dem Resümee, dass die Sprüche, die ihr „bloß“ erinnerbar sind, sie deutlich weniger zufrieden stellen als dieses oder ein Museum, das sie gern in „Haus der Geschichte“ umbenannt sehen würde. Der Kontrast, den die Besucherin zwischen ihrem Geschichtswissen, das sie vermutlich in der DDR erlernt hat, eröffnet, lässt sich in dieser Interaktionssequenz als den Unterschied zwischen Haus der Geschichte und Museum erläuternd interpretieren: Museum klingt ihr zu elitär, ein Haus der Geschichte scheint ihr aber geeignet, mehr und anderes zu bieten, als ihr früherer Geschichtsunterricht. Und da sie offensichtlich die „Sprüche“ aus ihrem Geschichtsunterricht in Frage stellt, lässt sich sagen, dass das DHM (als ein Haus der Geschichte, wie die Besucherin es wohl wahrnimmt) gerade das in ihm ausgestellte Wissen legitimiert und insofern die Informationen beglaubigt (stärker als dies der Geschichtsunterricht der Besucherin tat). Geschichte gilt ihr als etwas für „alle“ und „Kinder“, denen sie offensichtlich diese Art von Geschichtswissen vermittelt sehen will. Ihr gilt demnach das Wissen im DHM als beglaubigtes, legitimes Geschichtswissen, im Kontrast zu den Sprüchen ihrer eigenen Jugend. An diesen Zitaten insgesamt wird nicht allein ein abgleichende Wiedererkennen – die Besucher sehen Elemente einer Geschichtserzählung im Museum dinglich dargestellt wieder – deutlich, sondern auch die „Beglaubigung“, die stattfindet. Wenn Besucher im Museum Geschichte mit eigenen Augen sehen können, erfüllt das Museum eine Beglaubigungsfunktion; nicht allein für die in ihnen ausgestellten Geschichtserzählungen im Allgemeinen, die sie wissenschaftliche legitimieren und
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insofern bewahrheiten, sondern auch z. B. im Abgleich mit (von den Eltern erzählten) Erinnerungen oder einem DDR-Geschichtswissen. Erneut sollen verschiedene Textbeispiele unkommentiert belegen, was Kontextuierung und was Identifikation ausgehend vom Textmaterial bedeutet: Frei formuliert eine MHU-Besucherin „Hineinversetzen in die gute, alte Zeit: wie der Tagesablauf war, weniger hektisch. Kultur: Lebensweise, Lebensumstände“ und sie wählt „eine Entdeckungsreise“, „eine große Erzählung“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ sowie „ein Geschichtsunterricht“ von der Liste und sie erläutert: „Entdecken, wie es früher war. Erzählung: Bilder sprechen. Geschichte: Habe mich an die Schulzeit erinnert und das ist dann wieder wach geworden. Nationale Gefühle verbinde ich damit“.
In einer Textpassage im Textmaterial des DHM wird eine Gleichzeitigkeit der Rezeption der Besucherin als Kontextuierung sowie Identifikation noch deutlicher: „Höhepunkt der Tage in Berlin. Gefühl, ich erlebe deutsche Geschichte als Teil von jedem“ lautet der von ihr frei gewählte Vergleich und die Wahl „ein Blättern im Buch der Geschichte“ wird von ihr kommentiert mit „Gefühle spielen hier mit eine Rolle wie in Büchern. Ich habe das Gefühl, ich nehme etwas mit. Die Darstellung ist kein Lexikon und keine Erzählung, sondern ein Sachbuch mit eingestreuten Erzählungen.“
Gegenüber der Identifikation in diesem Beispiel findet im HdG häufiger eine Kontextuierung in der Form statt, dass die eigene Erinnerung dabei in Kontext der Geschichte eingebettet wird. Ein Besucher vergleicht frei mit „Kindheitserlebnisse in Schrift und Bild, bzw. die bis heute erlebte Geschichte“ und er erläutert seine Vergleichswahl „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit „Wiedererinnerung bestätigt eigene Sicht. Parallelität der Epochen, das eigene Leben. Interessant ab dem 18. Lebensjahr“.
Das eigene Leben wird bei einer Rezeption der „Kontextuierung“ in den Kontext der Geschichte eingeordnet. Das Museum wird als kulturelles Gedächtnis genutzt, als ein Rahmen, in den die individuelle Erinnerung eingehängt wird (Halbwachs, 1985 [1966]). Im JMB meint die Rezeptionsweise „Identifikation“ sicherlich seltener eine Identifikation mit den eigenen Vorfahren, sondern tendenziell eher mit dem Alltag von zunächst fremden Menschen:
242 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN Eine Besucherin vergleicht frei mit dem „KZ-Museum – Buchenwald“ und sie wählt „eine Gratwanderung“ von der Liste und erläutert „Museum bietet Identifikationspotentiale, emotionale Gratwanderung“.
Im DHM lässt sich im Anschluss daran eine Kommentierung eines Textbeispiels unternehmen, welches in der Kategorie Kontextuierung und Identifikation kodiert wurde. Eine Besucherin wählt frei den Vergleich mit einem „Stammbaum“ und sie erläutert: „Komplette Geschichte bis heute dargestellt, Wurzeln und Verwurzelungen vermitteln einem das Gefühl des Eingebunden-Sein in die Geschichte. Geschichte auch Teil unserer eigenen Wurzeln.“. Von der Liste wählt die Befragte „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ und erklärt diese Wahl mit „Fragen beim Besuch: Wo kommt man her? Welche Einflussfaktoren haben eine Rolle gespielt? Fragen wurden hier beantwortet. Es ist für mich eine Darstellung des Kreislaufs des Lebens, das heißt die Themen wiederholen sich in allen Epochen“.
An diesem Zitat lassen sich verschiedene Formen der Geschichtsdeutung festmachen. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang allein auf die spezifische Rezeption der Besucherin, und vorrangig die Kontextuierung ihres eigenen Lebens in der Geschichte und ihre Identifikation damit, beschränken. Der Vergleich mit einem „Stammbaum“, die Rede von „Wurzeln“ und einem „Gefühl des EingebundenSeins“ in die Geschichte, veranschaulichen sehr deutlich die Identifikation dieser Befragten mit ihrer Identität, die sie über ihre Herkunft und die Abfolge der Generationen bestimmt. Auch diese Befragte nutzt das Museum zur „Bildung, Reflexion“, während sie Fragen an das Museum heranträgt und über verschiedene Einflussfaktoren reflektiert. Die Aussagen in den Textmaterialien, die zur Kategorie „kognitiv distanziert, emotional indifferent“ gebündelt wurden, zeichnen sich zumeist durch einen etwas lakonisch wirkenden Unterton und eine sich analytisch gebende Distanzwahrung aus. Auf die eigene Interpretationskompetenz eines Lesers vertrauend, wird diese Kategorie erneut anhand von unkommentierten Zitaten eingeführt, deren Sinn in den für sich selbst sprechenden Beispielen sehr explizit deutlich wird. Ein Besucher des MHU vergleicht von der Liste mit „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und im Protokoll erläutert er: „Spezielles Themeninteresse Mittelalter: Kleider etc. Kein emotionaler Zugang. (Herv. V.S.) Ausstellung allgemein gehalten. Keine Überraschungen (Herv. V.S.)“. Auch für einen anderen Besucher gilt: „Löst also keine Emotionen aus, eher sachliche Darstellung“. Im JMB lässt sich kognitive Distanz und emotionale Indifferenz aus einem Protokoll herauslesen, wenn „ein Blättern im Buch der Geschichte“ mit: „deutsch-
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jüdische Geschichte sagt mir nicht viel, ich habe eher eine Herangehensweise mit dem Verstand an die Geschichte (Herv. V.S.)“ erläutert wird. Im DHM zeigt sich ein geringfügig aktiverer Besucher durch eine lakonischen Zug im Textprotokoll, das allein knappe Sätze auflistet, als emotional indifferent und kognitiv distanziert: Im Textprotokoll steht der freie Vergleich „Ein guter Ablauf. Informationen sammeln. Eindruck: farblich“ und der Besucher wählt „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und die Erläuterung „Kapitelweise. Wie die Geschichte abläuft. Kapitel Soziales, politische Verwaltung, Kultur, Kunst, Militaria. Erzählen wäre romantisierend. (Herv. V.S.) Eher eine kleindeutsche Lösung, ohne Österreich“.
Ebenfalls in der JMB-Stichprobe stößt man weiter auf die knappe Erläuterung eines Besuchers zum Vergleich „ein Blättern im Buch der Geschichte“: „weil wieder (Herv. V.S.) deutlich die 2000 jährige Geschichte der Juden in Deutschland beschrieben wird – das Positive und Negative, das damit zusammenhängt“. In dem kleinen Satzpartikel „wieder“ kommt eine Rezeption zum Ausdruck, die so wirkt, als sei der Besucher dieser Geschichtserzählung überdrüssig und er lässt sich insofern nur sehr kognitiv distanziert und emotional eher indifferent darauf ein, das „Positive und Negative“ hervorzuheben. Ein ähnlich kognitiv-distanzierter Rezeptionsgestus lässt sich auch in den anderen Museen finden, gerade im JMB ist er aber im Kontrast zu andersgelagerten Rezeptionsweisen besonders groß. Gegenüber sich derart kognitiv distanziert und emotional indifferent kommunikativ verhaltenden Befragten treten im Textmaterial des JMB, seltener auch in den anderen Museen, Rezeptionsweisen auf, die auf eine deutlich emotionalere und moralischere Rezeption der Geschichte verweisen. Die drei Kategorien Emotionalität, Verantwortung und Verlusterfahrungen lassen sich so zusammenfassen, aufgrund ihrer Verbreitung im JMB werde ich Textpassagen für dies museum nahezu unkommentiert zitieren, die Textprotokolle aus den anderen Museen jedoch dann ausführlicher kommentieren. Eine emotionale Rezeption oder Emotionalität kommt in verschiedenen Textpassagen zum Ausdruck. Im HdG kommt dann eine emotionale Rezeption wortwörtlich zum Ausdruck, wenn eine Besucherin statt eines Vergleiches beschreibt: „Z. T. werden durch das Dargestellte Gefühle geweckt; Anschaulichkeit (nicht in Deutschland aufgewachsen)“, aus der Liste wird „ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert, warum ein anderer Vergleich, der nicht gewählt wurde, nicht in Frage kommt: „Begegnung ja, aber nicht mit der eigenen Vergangenheit; nicht alles interessiert gleich stark“.
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Ihre Gefühle werden, laut ihrer Erläuterung, durch die Anschaulichkeit der Rezeption geweckt. Eine Besucherin des MHU wählt „Ein Geschichtsunterricht“ und „Ein riesiges Gemälde, auf dem viele verschiedene Geschichten dargestellt werden“ aus der Liste aus und erklärt: „Beruflich selbst Geschichtsunterricht gegeben, hier ist es dinglicher, materieller. Unterricht: Meine eigene Sprache. Maler berühren mich (Herv. V.S.): Darstellungen von Weiblichkeit“.
Eine Kodierung von „Emotionalität“ ist deshalb berechtigt, da die Besucherin ihre Emotionen, „Maler berühren mich“, unmittelbar beschreibt. Eine Rezeption, die von einem Gefühl der Verantwortung zeugt, lässt sich im JMB am Beispiel einer Textpassage herauslesen: Die Besucherin beschreibt frei „wie mit der Wahrheit konfrontiert. Man wird festgehalten, kommt nicht raus. Wie in einem Raum, wo es nur einen Weg gibt, den muss man gehen“, sie wählt keinen Vergleich von der Liste und erläutert „Erst oben, dann unten und dann wusste ich, dass das Erschreckende, Furchtbare kommt“.
In der Redewendung vom Weg, „den muss man gehen“, kommt die nicht ganz freiwillig übernommene Verantwortung zum Ausdruck, die die Besucherin für die Geschichte des Holocaust, der im JMB unten dargestellt ist, empfindet („unten“ ist im JMB die Zeitspanne 1933-45 und ihre Folgen präsentiert). Weiterhin sieht sich die Besucherin „mit der Wahrheit konfrontiert“. Und um dieses historische Ereignis dreht sich diese Beschreibung hauptsächlich, da mit der Erläuterung implizit beschrieben ist, dass sie das Museum erst oben und dann unten durchlaufen. Wie tritt aber eine Rezeption von Geschichte im Textmaterial, welche in der Kategorie Verantwortung gebündelt wurde, in den anderen Museumsstichproben jenseits des JMB auf? Im HdG wählte ein Besucher „eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit“, „Unser Leben: Ein Wechsel zwischen Alltag, Wochenenden und Festtagen“, „ein spannender Roman“, „Eine Wiederbegegnung mit alten Bekannten, die man aus den Augen verloren hatte“ und „Eine Ansammlung von Dingen, die der Strom der Geschichte ans Ufer gespült hat“ aus. Instruktiv erscheint also primär, welche Vergleiche er nicht wählt: Das ist „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und „ein Besuch in einem Erlebnispark“. Aus Sicht dieses Befragten handelt es sich im HdG demzufolge wohl eher weniger um Geschichte, etwa als Geschichtsschreibung, sondern um als Zeitgenosse erlebte historische Zeit. „Die Verbindungen, die da sind. Ältere Menschen denken immer mehr an die Vergangenheit, ein Vergleich zwischen heute und früher. Resümee: das Negative überwiegt in der Bilanz
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(Interviewer: denn der Befragte empfindet sich als kritischen Geist), aber man begegnet der Vergangenheit gerne. Es ist keine Pflicht, man sollte die Beziehung zur Vergangenheit nie aufgeben (Herv. V.S.), und vor allem nicht aus Bequemlichkeit wie es meist geschieht“.
Dieser Besucher sieht demnach eine gewisse Verantwortung darin, eine Beziehung zur Vergangenheit zu pflegen. Sie sagt zwar wortwörtlich, dass es „keine Pflicht“ sei, an die Vergangenheit zu denken, sie thematisiert den Museumsbesuch dennoch, vor dem Horizont anderer Möglichkeiten, implizit als Pflicht. Zwischen der Aussage „Es ist keine Pflicht“ und dem darauffolgenden Satz, „man sollte die Beziehung zur Vergangenheit nie aufgeben“ entsteht ein logischer Widerspruch, der in seinem Auftreten allein durch die normative Funktion dieser kommunikativen Geste zu erklären ist. Zudem ordnet der Befragte (im HdG) sein Leben in den Kontext der Geschichte ein und identifiziert sich mit der ausgestellten Vergangenheit: Verbindungen sind da, es wird zwischen heute und früher verglichen (mehrfache Kodevergabe in der Dimension Rezeption: Kontextuierung, Identifikation). Die Rezeptionskategorie Verlusterfahrungen liegt nur im JMB vor, häufig wählen die Befragten dazu den Vergleich „verlorene Welten“ von der Liste. Ein Besucher wählt den Vergleich „ein Irrgarten“ und „eine Suche nach verlorenen Welten“ aus der Liste und erläutert: „Irrgarten: Vielzahl von Objekten in der Ausstellung; Suche nach verlorenen Welten: Verlust einer sehr großen Bevölkerungsgruppe, die ja doch jüdisch/ deutsche Geschichte auf dem Buckel trägt“.
Die fast wortwörtliche Rede vom „Verlust einer sehr großen Bevölkerungsgruppe“ belegt das Vorliegen einer Semantik, die der Kategorie Verlusterfahrungen zugerechnet wurden. Eine ähnlich gelagerte Rezeptionsweise eines Besuchers kommt in anderem Textmaterial zum Ausdruck. Angesichts der Vergleichsliste wird von ihm ein sonstiger, frei gewählter Vergleich genannt: Es wird „eine Begegnung mit verlorenen Welten“ von ihm gewählt und er erläutert „durch den Verlust der Künstler und Wirtschaftler/jüdische Bürger – davon hat sich Deutschland bis heute nicht erholt“. Die Erfahrung des Verlustes und die entsprechende beinah wortwörtliche Thematisierung von Verlust in den Textpassagen macht sie zu klaren Fällen der Kodevergabe Verlusterfahrungen. Wurde in diesem Abschnitt 5.1 erläutert, wie das Textmaterial der ersten Vergleichsfrage entstand, und wie ausgehend vom Material methodische Regeln für dessen Auswertung angewendet wurden, wird im folgenden Abschnitt 5.2 der Fokus von der Forschungslogik zu einer Darstellungslogik verschoben. Es ist demnach darzustellen, wie die Besucher der vier Museen Geschichte deuten und wie
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dies mit den eingeführten Auswertungsregeln aus dem vorliegenden Textmaterial zu entnehmen war. Damit werden dann erste Ergebnisse zu der zu Beginn dieses Kapitels als Frage 1 eingeführten Frage vorliegen, wie die Besucher in kulturhistorischen Museen die ausgestellte Geschichte verstehen.
5.2 W IE DIE B ESUCHER DIE G ESCHICHTE DEUTEN
MUSEAL INSZENIERTE
Es erfolgt eine in der Ergebnisdarstellung für Chronologie eine bewusste Aufgliederung der in zwei Abschnitte, um dem Unterschied zwischen Forschungslogik (Abschnitt 5.1) – dem Generieren von Kategorien und Kodierungen in KUGL – und Darstellungslogik (Abschnitt 5.2.1), also der Art wie ich die Ergebnisse im Folgenden im Hinblick auf das Geschichtsdeutungen interpretiere, zu entsprechen. Mit dem Wechsel von der Forschungs- zur Darstellungslogik ist es mir möglich zwischen der Darstellung der Auswertungsarbeit, an der ich als Mitarbeiterin des Forschungsprojektes „Kulturen der Ungleichzeitigkeit“ beteiligt war, langsam und schrittweise mehr in Richtung zu den Fragen und Ergebnissen meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu kommen. Dies ermöglicht es mir, die qualitativen Auswertungen, die empirisch entwickelten Kategorien weiter im Rückgriff auf die Theorie und Forschungsliteratur zu interpretieren. Im vorherigen Abschnitt wurden als „Auswertungsdimension Geschichtsvorstellung, -darstellung“ diejenigen Kategorien eingeführt, die mir in den Anschlusskapiteln für Rückschlüsse auf das Geschichtsverstehen der Besucher dienen sollen. Die Bezeichnung der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, darstellung“ differenziert zwischen einer eher dem Besucher zuzurechnenden Vorstellung von Geschichte und der dem Museum zuzurechnenden Darstellung von Geschichte. Analytisch ist ausgehend vom Textmaterial in der empirischen Auswertung nicht immer klar zu unterscheiden, wie die Eindrücke der Besucher den im Textprotokoll gemeinten Sinn entsprechend zuzurechnen sind. Auf diese Differenzierung verzichte ich deshalb zugunsten von „Geschichtsdeutungen“. Vor diesem theoretischen Hintergrund ist es legitim, die empirischen Ergebnisse in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“, deren Auswertung und methodische Entwicklung in den nun folgenden weiteren Abschnitten des Kapitels 5 weiter dargestellt werden wird, als Indikatoren für spezifische Geschichtsdeutungen zu interpretieren. Zudem beschränke ich mich an dieser Stelle aus Platzgründen darauf, in diesem Kapitel 5 nur die qualitative Entwicklung derjenigen Kategorien vorzustellen, die in der weiteren Analyse relevant sein werden. Damit nehme ich bereits einen Befund vorweg, der als quantitativer Befund erst systematisch in Kapitel 7 offensichtlich
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werden wird: Nicht alle Kategorien der Auswertungsdimension Geschichtsvorstellung, -darstellung hatten eine ausreichend große Zellenbelegung, um weiter mit statistischen Methoden analysiert zu werden. Drei Kategorien, nämlich Entwicklung, Exemplarische Geschichte sowie Geschichte als komplexes Geschehen, werden entfallen. Eine Schwierigkeit dabei, empirisch beschreibend zu erfassen, wie Museumsbesucher Geschichte rekonstruieren, liegt darin, dass Semantiken, also etablierte Beschreibungen von Geschichte überhaupt erst erzeugen, was sie benennend beschreiben. Als abstraktes Konstrukt gibt es Geschichte nicht jenseits des Begriffes. Mitunter wird von den Besuchern Geschichte jenseits von Begrifflichkeiten mit Aussagen charakterisiert, die eine, den Textprotokollen implizite, dahinter liegende Semantik erst rekonstruierbar machen. In der entsprechenden Verknüpfung einer Begrifflichkeit mit Beschreibungen und Aussagen liegt bereits ein recht voraussetzungsvoller Interpretationsakt vor. Denn bezeichnend für das Geschichtsverstehen des Besuchspublikums kulturhistorischer Museen ist bereits, dass Besucher zwar in ein und dasselbe Museum gehen, dass das, was sie dort beobachten, aber durchaus etwas jeweils ganz Verschiedenes sein kann. Diese Überlegungen sind entscheidend, um weiter über die Eignung einer empirischen Methode zu reflektieren und ihre Anwendung am Textmaterial zu dokumentieren, denn diese muss sowohl zwischen Begriffen und dem, was die der Semantik zugrundliegenden konkreten Deutungen in der Praxis ihrer Verwendung beschreiben und benennen, wofür sie verwendet werden, zwischen gängiger Bedeutung und subjektiv gemeintem Sinn differenzieren können. 5.2.1 Chronologie Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, die Kategorie „Chronologie“ erneut oder weiterführend durch verschiedene Textpassagen und eine diese zusammenfassend charakterisierende Überschrift einzuführen Im MHU: Semantik: Zeitrechnung „Es war wie ein Zeitgang, eine Zeitreise […] es geht von Zeit zu Zeit […]“. „Wie das Leben früher war. Unter einer Überschrift, von dann bis dann“. „Buch hat was meist mit Chronik und Festhalten zu tun ĺ Museen sind eigentlich nichts anderes, nur mit Gegenständen“.
An den Grenzen des semantischen Feldes: „Weil es alle Zeiten darstellt, die man selber nicht erlebt hat“.
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Dies Textprotokoll an der Grenze des semantischen Feldes ist der Kategorie zuzuordnen, da diese Textpassage zu Chronik verdeutlicht, dass ein „Festhalten aller Zeiten in chronologischer Ordnung“ eine durchaus diesen Textpassagen gemeinsame Semantik ist. Im HdG: Semantik: Zeitrechnung Freier Vergleich: „Bilder der letzten 50 Jahre, eine Chronik in Bildern“. Erläuterung: „Wie ein Blättern in einem Buch, einzelne Facetten werden aus der Schublade gezogen oder aus dem Kapitel rausgegriffen“. Freier Vergleich: „Zeitreise: gut gegliedert, von Jahr zu Jahr, unten einsteigen, aufsteigen zum Jetzt.“ Ergänzend gewählter Listenvergleich: „eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit“, allerdings keine weiterführende Erläuterung.
Semantik: Gliederung, Aufbau Freier Vergleich: „Wanderung durch die Zeit“. Erläuterung: „chronologisch aufgeschichtet; die Themen kann man sich aussuchen“. Die Listenvergleiche „ein Blättern im Buch der Geschichte“, „Eine Ansammlung von Dingen, die der Strom der Geschichte ans Ufer gespült hat“ werden gewählt und erläutert: „Blättern ĺ einzelne Kapitel auswählen; Strom der Geschichte ĺ Viele Sinneseindrücke“.
Semantik: Kontinuität Freier Vergleich und Erläuterung: „Zeitreise. Chronologie, automatische Führung, kontinuierlich“.
Semantik: Objektivität durch Distanz zum Geschehen Freier Vergleich: „Reise in die eigene Vergangenheit“. Erläuterung: „Chronologie, Erinnerung von eigenen Meinungen, andere Perspektive durch Abstand, dadurch aber nicht objektiver allerdings gereifter“. Freier Vergleich: „Chronologischer Weg, der objektiv ist. Keine einseitige Darstellung, DDR/BRD ausgewogen dargestellt“. Der Listenvergleich „Buch der Geschichte“ wurde gewählt und erläutert: „Einige Teile selbst erlebt, Prager Frühling, nicht nur Dinge, chronologisch, interessante und wesentliche Ereignisse, sinnvolle Reihenfolge“.
An den Grenzen des semantischen Feldes: Die Listenvergleiche „Unser Leben: Ein Wechsel zwischen Alltag, Wochenenden und Festtagen“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“: „Das Leben von Arbeitern und Filmschauspielern; Das Buch der Geschichte von vorne bis hinten“. Diese Befragte arbeitet mit ihren Erläuterungen die Vergleichsliste ab, die aber nur stichwortartig protokolliert wurden, wie diese Sequenz verdeutlicht:
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„Erlebnispark: ist aber kein Vergnügen/TV: besser und intensiver; Roman: ist doch die Wahrheit, die hier ausgestellt ist; Bekannte: kann man so nicht sagen; Blättern: intensiver; Ufer: ist keine Tourismusveranstaltung – Konfrontation und Diskussion hilft bei der Verarbeitung, Reflektion und Aufarbeitung, Vertiefung aber nichts Neues“.
Auch bei den hier an der Grenze des semantischen Feldes verorteten Textpassagen ist eine Zuordnung im vergleichenden Rückgriff mit den leichter zu interpretierenden Fällen möglich. Die Art, wie im vorletzten Textprotokoll zwischen Chronologie und Erinnerung unterschieden wird, verdeutlicht, dass Chronologie als offizielle Geschichtserzählung im Museum einer Objektivierung „eigener Meinungen“ dient (Bourdieu, 1995: 228f)9. Insofern sind die Aussagen mit ihrem Rekurs auf „Wahrheit“ des letzten Textprotokolls an der Grenze des Feldes dieser Kategorie zuzuordnen. Im JMB: Semantik: Zeitrechnung Von der Vergleichsliste wird „eine große Erzählung“ gewählt und erläutert: „Von Anfang bis Ende eine fortführende Geschichte“. „Museumskonzeption ist chronologisch“. Von der Vergleichsliste wird „eine große Erzählung“ gewählt und erläutert: „Erzählt eine Abfolge, geht aber weniger um eine Wertung – angenehm“.
Semantik: Gliederung, (chronologischer) Aufbau Von der Vergleichsliste wird „ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Weil es so unendlich viel ist. Von Anfang an, viele Dinge werden dargestellt. Geschichte der Juden von A-Z“. Von der Vergleichsliste wird „Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland“ gewählt und erläutert: „Weil es empirisch geführt/aufgearbeitet wird von den Anfängen bis heute – sehr umfangreich in allen Bereichen“. Von der Vergleichsliste wird „ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Bin nach der Ausstellung gegangen. Und die Ausstellung oben ist wie ein Geschichtsbuch aufgebaut, chronologisch und nach einzelnen Themen“. 9
„Die Kodifizierung steht in enger Verbindung zu Disziplinierung und Normierung der Praktiken. Quine sagt irgendwo einmal, dass Symbolsysteme 'reglementieren', was sie zusammenfassen. Kodifizierung ist ein Verfahren des symbolischen In-OrdnungBringens oder des Erhalts der symbolischen Ordnung, eine Aufgabe, die in der Regel den großen Staatsbürokratien zukommt. […] Einige der zentralen Effekte der Kodifizierung sind an die Objektivierung und an den besonderen Gebrauch der Schrift gebunden“ (Bourdieu, 1995: 228f).
250 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN Von der Vergleichsliste wird „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und „Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland“ gewählt und erläutert: „historischer Aufbau – Historie“.
Semantik: kontinuierliche Erzählweise Von der Vergleichsliste wird „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und erläutert: „Es ging bei Ursprüngen los bis Vergangenheit“.
Die Aussagen am Rande des semantischen Feldes im JMB wurden zunächst unter der Bezeichnung „Geschichte als umfassender zeitlicher Zusammenhang“ konzeptualisiert. Erst im Abgleich mit anderen Textmaterialien in dieser Teilstichprobe (Binnenvergleich) sowie im Vergleich mit der Gesamtstichprobe lässt sich die Interpretation begründen, dass hier eine ähnliche Semantik vorliegt: Erst Chronologie als Weltzeit integriert heterogene Geschichten aus 2.000 Jahren zu einem umfassenden Zusammenhang: An den Grenzen des semantischen Feldes: Semantik: Umfassender Zusammenhang Von der Vergleichsliste wird „Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland“ gewählt und erläutert: „Es ist die gesamte Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Deutschland“. Von der Vergleichsliste wird „ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Weil wieder deutlich die 2000-jährige Geschichte der Juden in Deutschland beschrieben wird – das Positive und Negative, das damit zusammenhängt“. Freier Vergleich: „Geschichtliche Katastrophe dargestellt in Architektur“. Von der Vergleichsliste wird „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Es sind nicht nur die Ursprünge. Es ist nicht reduziert auf den Holocaust, sondern umfasst die ganze Zeit.“ Von der Vergleichsliste wird „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Sehr vielfältig. Nicht nur Holocaust. viele Aspekte, die sonst nicht so bekannt sind“. Von der Vergleichsliste wird „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Viele Informationen, Hintergründe und neue Sachen, die man in der deutsch-jüdischen Geschichte noch nicht kannte – alle Sachen außerhalb des Holocaust“. Von der Vergleichsliste wird „Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland“ gewählt und erläutert: „Gefühl des Führens und alles mit Deutschland verbunden. Nicht nur Holocaust“. Von der Vergleichsliste wird „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Es ist ganz viel und kompakt, was man erfährt. Man bekommt einen großen Einblick in die Lebensverhältnisse der Juden“. Von der Vergleichsliste wird „eine große Erzählung“ gewählt und erläutert: „Weil es nicht nur der II. Weltkrieg ist der erzählt wird, sondern I. Weltkrieg, Weimarer Republik, Mittelalter, vielfältig“.
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Auf die komplette Darstellung der Textpassagen aus dem DHM wird an dieser Stelle verzichtet, da das Interpretationsverfahren deutlich geworden sein dürfte. Im DHM spielte über die bereits eingeführten Semantiken hinaus die Deutung „ein Geschichtsunterricht“ in verschiedener Hinsicht eine große Rolle, vermutlich u.a., da diese Formulierung als Listenvergleich angeboten wurde: „Informativ. Selbsterfahrung, Kopf gesteuert, rational. Illustrierter Überblick über die deutsche Geschichte. Informationssäulen, Karten. Ein persönlicher Bezug ist möglicherweise eher unten vorhanden“. Von der Vergleichsliste wird „Ein Blättern im Buch der Geschichte“ gewählt und erläutert: „Wie Buch aufbaut ist. 5. Klasse bis 10. Klasse hat man alles Jahrzehnte durch“.
Im DHM-Textmaterial wird deutlich, dass Chronologie wie ein Geschichtsunterricht der Orientierung in einer zeitlich fremden und z. T. europäischen, Geschichte dienen kann. Im Rückbezug auf das Textmaterial aus dem JMB mit der in ihm zum Ausdruck kommenden Parallelität der eher fremden, jüdischen mit der deutschen Geschichte fällt auf, dass hierin eine Ähnlichkeit der Semantiken innerhalb des empirischen Materials besteht, wenn im DHM der Chronologie für ausländische Besucher eine ähnliche Funktion zu kommt: Von der Vergleichsliste wird „ein Geschichtsunterricht“ gewählt und erläutert: „Ich kenne deutsche Geschichte nicht so gut und jetzt kann ich sie platzieren im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern. Kein Lehrer (im Unterricht), sondern Schilder mit chronologischer Erzählung“.
5.2.2 Narration Interessant an den Textprotokollen in dieser möglichst allein induktiv qualifizierten Kategorie „Narration“ ist, dass diese empirisch zu rekonstruieren erlauben, welche Merkmale eine Narration oder Erzählung als solche auszeichnen. Denn Narration oder Erzählung wurde, im Teil I dieser Publikation, bereits theoretisch definiert, insofern lässt sich kontrastieren, inwiefern sich Empirie und Theorie decken. Aber nicht immer taucht „Erzählung“ in den faktischen Aussagen wortwörtlich auf, andere Textpassagen verknüpfen gerade den Begriff „Erzählung“ mit einigen für diese solche Kategorie typischen Aussagen. Die hinter den Äußerungen liegende semantische Konfiguration von „Erzählung“ oder „Narration“ derart mit typischen, aber nur in Ausschnitten zitierten Aussagen empirisch zu bestimmen, dient dazu, Aussagen unter Stichworten zu bündeln, die belegen, inwiefern Befragte jeweils die Geschichte als erzählt erlebt haben. Anschließend lassen sich ganze Textpassagen interpretieren, nachdem die semantische Konfiguration derart empirisch bestimmt
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und abgegrenzt wurde. Dies wird in diesem Abschnitt geleitet, indem gewissermaßen zusammenfassende Überschriften, als Benennung sowie Charakterisierung, für die verschiedenen Semantiken zur Konfiguration dieser Kategorie gefunden und am Textmaterial belegt und begründet wurden. Narration wird als ein spezifischer Aufbau, ein nach erzählerischen Kriterien gebildetes Ordnungsmuster der Geschichte verstanden. Im HdG wurde z. B. der Vergleich „ein spannender Roman“ gewählt, weil eine Befragte von Kapitel zu Kapitel lese: „die Kapitel gehen ineinander über, zusammenhängend. Es gibt Höhepunkte, einen Spannungsverlauf, Personen treten häufiger auf, klarer Aufbau“. Der Vergleich „eine große Erzählung“ wird von der Befragten also aufgrund der Darstellungsmittel einer musealen Inszenierung gewählt, die sie offensichtlich an poetisch-rhetorische Mittel erinnern, die besonders eingängig zu sein scheinen. Ein weiteres Merkmal von Erzählung liegt für die Besucherin darin, dass eine Ausstellung über Anfang und Ende verfügt. „Es ist spannend dargestellt [...] Man will das Ende sehen, aber es gibt ja kein Ende [...]“. Das Darstellungselement des offenen Endes, macht die in dieser Textpassage auftretende „Geschichtsvorstellung, darstellung“ als Narration qualifizierbar. Im JMB trifft im Gegenzug ein Anfang auf ein größeres Interesse, obschon gerade hier die Redewendung vom „Anfang“ über die angebotenen Vergleiche nahe gelegt wurde. Ein Befragter wählt nicht diesen Vergleich, sondern vergleicht stattdessen mit „Ein Blättern im Buch der Geschichte“: „Weil der Aufbau die Geschichte von Anfang an erzählt...“.
Eine Narration zeichnet sich demnach durch ein Ordnungsmuster, Kapitel und Anfang und Ende aus. Häufig wird mit Erzählung die Anordnung in einem Museum, der Erzählfluss, assoziiert: Eine Besucherin im MHU äußert „Der Fluss der Erzählung ist hier sehr gut gelungen“, oder in anderen Textprotokollen wird eine spezifische Art der Aneinanderreihung darunter verstanden, wie im Weiteren gezeigt werden kann. Erzählung scheint semantisch von anderen Befragten auch wieder aufgrund formaler Aufbaumerkmale teilweise in Distanz zur eigenen Erinnerung verortet zu werden. In beiden Fällen gilt Geschichte als eine perspektivisch bestimmte Erzählung. „Erzählung von A-Z, offenes Ende. Man muss sich immer solches Wissen aneignen. Bedeutung entsteht erst im Rückblick, es sollten sich mehr Leute damit beschäftigen. Rückblicke verändern die Wahrnehmung. Objektiv, wenig Emotion. Verschiedene Perspektiven auf die Geschichte kommen durch eigene Erlebnisse und den Geschichten der Eltern“, erklärt eine Besucherin des HdG.
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Diese Textpassage macht demnach im Unterschied zu den Erläuterungen, die eine Erzählung in größerer Nähe zu dem eigenen Erinnern konstruieren, einen Gegensatz zwischen Erzählung und einer eigenen Perspektive auf Geschichte auf. Trotzdem wird „Erzählung“ in dieser Beschreibung als etwas mit einer spezifischen Perspektive verstanden, wenn auch die Perspektive als nicht kongruent mit eigenen oder familiären Perspektiven auf Geschichte gilt. Ein DHM-Besucher bezieht sich zwecks Abgrenzung und Unterscheidung zu dem von ihm gewählten Vergleich kein „Geschichtsunterricht“ auf Erzählung, um hervorzuheben: „Kein Lehrer im Unterricht, sondern Schilder mit [...] Erzählung“. Eine Erzählung ist, laut der Textpassage wird diese positiv gewendet, nicht frontal vermittelt, wie es im Schulunterricht der Fall ist. Spätestens im JMB hat das Darstellungselement, Geschichte durch Geschichten zu erzählen, eine andere Bedeutung. Das lässt sich daran erkennen, dass das Darstellungselement es vermutlich tatsächlich leistet, soziale Nähe selbst zu solcher Geschichte herzustellen, die tendenziell nicht selbst erlebt wurde. Auch im JMB wird Erzählung mit persönlichen Geschichten assoziiert, wobei eine große Erzählung hier auf die Größe des ausgestellten Zeitrahmens bezogen zu sein scheint, wenn die Aussagen einer Befragten protokolliert werden mit: „Ein großer Komplex, wie Erzählung durch persönliche Geschichten.“ Ein Besucher des DHM erläutert seine Vergleichswahl „ein große Erzählung“ mit „Roter Faden war vorhanden. Es ist eine Aneinanderreihung von Sachen, so dass man folgen kann. Man erfährt die Dinge nach und nach. Der Spannungsbogen bleibt die ganze Zeit erhalten.“
Die Erwähnung des Spannungsbogens verdeutlicht, dass Narration bzw. Erzählung einem spezifischen Erlebnisbedürfnis zu entsprechen scheint: Dabei zu berücksichtigen ist, dass in JMB, DHM und MHU „eine große Erzählung“, im HdG „ein spannender Roman“ als vorgegebener Vergleich auf der Liste angeboten wurde. Aber auch der von einer Besucherin des DHM frei gewählte Vergleich „Der Besuch war wie ein Geschichtsbuch: Es war interessanter als die meisten Bücher wegen der vielen Bilder. Man wurde nicht geführt, sondern man konnte selber wählen. Es gab viel Zusätzliches zum eigenen Wissen. Ein Überspringen war möglich“, legt nahe, eine Rekonstruktion von Geschichte als Narration als eine diesen Aussagen implizite Semantik zu sehen.
Das Geschichtsbuch wird als interessanter als andere Bücher gesehen und mit Bildern verbunden. Was hat diese Textpassage mit anderen dieser Kategorie gemeinsam? Welche faktischen, wortwörtlichen Indizien bieten sich dafür an, bestimmte Aussagen als durch ein dahinter liegendes Prinzip von Narration oder Erzählung bestimmt zu interpretieren?
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Die meisten der Textprotokolle machen deutlich, welche Bedeutungen und Konnotationen beim Besuchspublikum mitschwingen, wenn die Befragten ihre Eindrücke als durch eine Semantik von Erzählung organisiert beschreiben. Ein Befragter vergleicht das DHM mit „Ein Besuch in einer Schatz- und Wunderkammer“ und er erläutert, um die Bedeutung dieser Auswahl aus der Vergleichsliste zu charakterisieren, es sei wie „ein Märchenbuch. Faszination des Gesehenen. Präsentation. Wundern gehört zum Wunder“. Zum Prinzip Erzählung scheint ein Moment emotionaler Betroffenheit zu gehören, dass hier die Ausstellung mit Neugier, Spannung oder eben Verwunderung zusammenbringt. Dies deckt sich mit theoretischen Ansätzen zu Narration, die eine solche Geschichtsdarstellung gerade deshalb favorisieren, weil sie als individuell zugänglicher gilt. Erzählbarkeit wird als Prinzip gesehen, das die eigene Lebensgeschichte formt (Kraus, 2000). Für einen anderen DHM-Besucher liegt der Unterschied zwischen Erzählung und Unterricht in der Plastizität und Anschaulichkeit einer Ausstellung, was die Darstellung „bewegter“ mache: „...Die Geschichte wird erzählt und dargestellt. Im Unterschied zum Unterricht ist es hier so, dass alles plastisch, also anschaulich gezeigt wird und nicht nur durch Worte. Das Buch stelle ich mir inhaltlich so vor, dass es einen Überblick über Wichtiges gibt. In seiner Darstellung stelle ich mir vor, dass es solche Aufklappbilder enthält, in denen sich manchmal auch etwas bewegt, die alles kurz aber plastisch erklären“.
Solcherlei Eindrücke lassen sich mit den Aussagen einer anderen Besucherin des DHM zusammenfassen, die Erzählung zeichne sich im Unterschied zu Geschichtsbüchern oder Unterricht dadurch aus, dass sie interessanter ist: „Es war interessanter als die meisten Bücher, wegen der vielen Bilder.“ Die Medien des Museums werden als unterhaltsamer empfunden als ein „reines“ Geschichtsbuch; die Ausstellung im DHM erzeugt wohl, dieser Textpassage folgend, über ihre Inszenierung Neugier und Aufmerksamkeiten. Die theoretische Annahme, die Narration eigene sich besonders für eine persönliche Ansprache der Besucher, weil Erzählen der Modus sei, in dem die eigene Lebensgeschichte vergegenwärtigt werde, lässt sich durch diese Passage bestätigen. Ein Befragter erläutert: „Es ist wie eine große Erzählung, weil es so detailliert und auch persönlich ist, ein schöner Erzählfluss“. Es gibt andere Fälle, wo die wortwörtliche Rede von „Erzählung“ auf eine abweichende Semantik verweist, welche gerade weniger mit persönlicher Relevanz einhergeht. Der Gegenpol zu der sozialen, lebensweltlichen Nähe, die mit der musealen Darstellung verbunden wird, und eine andere Deutung, die eine Grenze dieses semantischen Feldes zu illustrieren hilft, findet sich bei Beschreibungen, die den Vergleich
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mit einer Großen Erzählung ernst nehmen. Auf den Umstand, dass in der Vergleichsliste von einer Großen Erzählung die Rede ist und dass damit eine Art der Geschichtsdarstellung, die u.a. Lyotard als Meta-Erzählung kritisierte – vielfach ist auch von Meister-Erzählung bzw. „master-narrative“ die Rede –, gemeint sein kann, gehen nur wenige der Befragten ein. Zur begrifflichen Unterscheidung ist im Folgenden von einer Großen Erzählung die Rede, wenn eine Geschichtsdarstellung „von oben“, eine Geschichte im Kollektivsingular beschrieben wird, und von großer Erzählung, wenn sich ein Besucher auf ein „Erzählt-Sein“ von Geschichte bezieht. Am nächsten an einer Großen Erzählung scheint eine Textpassage im JMB zu liegen, die vor allem hervorhebt, dass sich Geschichtsdarstellungen unterscheiden, je nachdem, welche Personen in der Geschichte auftreten und aus welcher Erzählperspektive Geschichte dargestellt wird. „Immer wieder tauchen Persönlichkeiten auf, neue Charaktere in der Geschichte. Geschichte ist für mich eine Große Erzählung, je nachdem von wem sie erzählt wird“ erläutert ein JMBBesucher.
Als frei gewählter Vergleich wurde hier „Museum mit vielen interaktiven Elementen“ genannt, insofern handelt es sich vermutlich um einen Besucher, der im JMB insbesondere die zeitgenössische Präsentationstechnik hervorhebt, und insofern wäre diese Wendung tatsächlich im Sinne Lyotards zu verstehen. Neben dem Stilmittel, Spannungsbögen zu erzeugen, wird die Herstellung von Höhepunkten als Eigenart einer Erzählung gefasst. Das DHM präsentiert Höhe- und Tiefpunkte, wobei eine Große Erzählung als diejenige Darstellungskonvention gilt, mit der Geschichte insbesondere im DHM, erzählt wird. „Große Erzählung = Methode es zu präsentieren. Geschichte = Texte. Die Periode zu 1740 Höhepunkt 1871. ‚Höhepunkt‘ kann auch ein negativer (Tiefpunkt) sein. Wiedervereinigung. Friedrich der Große“.
Da der Befragte Geschichte als Text fasst, Große Erzählung als Präsentationsmethode, erscheint retrospektiv die Entscheidung angemessen, zwischen Kommunikation und Erzählung insofern analytisch zu unterscheiden, als man Erzählung als einen Spezialfall von Kommunikation definiert. Von diesem Besucher wird das Museum nämlich eben nicht als Kommunikation, welche ein multiples Geschichtsverstehen zulässt, gedeutet, sondern als Große Erzählung von einem deutschen Kulturraum. Vom Besuchspublikum wird wahrgenommen, dass eine Ausstellung kommunizieren oder erzählen kann. Entscheidend ist vermutlich, ob sich die Museumspräsentation Symboliken bedient, die in stärkerem Maße eine individualisierte Sinnkonstruktion befördern. Dokumentarischer Text tendiert gegenüber narrati-
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ven Elementen stärker dazu, Bedeutung zu fixieren; Text bildet gegenüber der Erzählung eine geschlossenere Form der Sinnrepräsentation. An dieser Stelle muss die Empirie damit ergänzt werden wie Lyotard in „Das postmoderne Wissen“ (1994: 13f) zum „Ende der Großen Erzählungen“ theoretisch argumentiert: „Die Wissenschaft ist von Beginn an in Konflikt mit den Erzählungen. Gemessen an ihren eigenen Kriterien, erweisen sich die meisten als Fabeln. Aber insofern sie sich nicht darauf beschränkt, die nützlichen Regelmäßigkeiten aufzuzeigen und wenn sie das Wahre sucht, muss sie ihre Spielregeln legitimieren. So führt sie über ihr eigenes Statut einen Legitimierungsdiskurs, der sich Philosophie genannt hat. Wenn dieser Metadiskurs explizit auf diese oder jene große Erzählung zurückgreift wie die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts, so beschließt man ‚modern‘ jene Wissenschaft zu nennen, die sich auf ihn bezieht, um sich zu legitimieren“.
Es sei dementsprechend kein zentrales und einheitliches Prinzip, keine Geschichtsphilosophie mehr zu finden, die Geschichten zu einer Großen Erzählung synthetisieren. Lyotard kritisiert an der Großen Erzählung, dass sie das Heterogene unter eine einheitliche Beobachtungsweise zwinge, was hegemonial und gewaltsam eine Unterordnung des Besonderen unter ein allgemeines Prinzip erfordere. „…zunächst ist das wissenschaftliche Wissen nicht das ganze Wissen, es war immer ein Überschuss, immer im Wettstreit und Konflikt mit einer anderen Art des Wissens, die wir vereinfachend narrativ nennen […]. Das heißt nicht, dass letzteres über das wissenschaftliche Wissen den Sieg davontragen könnte, sondern dass sein Modell mit den Ideen des inneren Gleichgewichts und der Selbstbegrenzung (convivialité) verbunden ist ...“ (Lyotard, 1994: 32).
Lyotard war insofern einer derjenigen, die die Debatte um eine „Ende der Geschichte“ initiierten, die um 1989 herum noch einmal Aufwind bekam. Zu narrativen Ansätzen von Geschichte zu gelangen, entspricht einem postmodernen Gestus. Dieser Argumentationsweg wurde aufgrund des empirischen Gegenstandes gewählt, da das JMB und das HdG ihr Konzept als „narrativ“ oder „Geschichten“ beschreiben und sich narrative Elemente auch in den anderen Museen finden lassen, wie sie oben mit den Museumsphänomen skizziert wurden. Diese Ansätze veranschaulichen allein die beiden gegenüberliegenden Sinnhorizonte des semantischen Feldes Narration, das sich zwischen Großer Erzählung und erzählter Geschichte aufspannt.
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Diese Art von Geschichtsdarstellung ist auch anderen Museumsbesuchern bekannt, die auf diese Semantik abgrenzend zu „alltäglichen Objekten“ und der „eigenen Meinung“ zurückgreifen: „Große Erzählung: Es war eine zusammenhängende Darstellung der deutschen und europäischen Geschichte. Ein Zusammenbinden war anhand dessen möglich. [...] Das liegt daran, dass man alltägliche Objekte hier interpretieren kann, die Fragestellung im Gegensatz zu einem Buch offen ist und man dazu aufgefordert wird, sich eine eigene Meinung zu bilden“ erläutert ein DHM-Besucher.
Ein weiteres Textprotokoll aus dem HdG verdeutlicht, dass der Unterschied zwischen Geschichtserzählung und Lebensgeschichte durch eine spezifische Art der Teilhabe an Geschichte im Museum entsteht: Der Befragte tritt laut seiner eigenen Beschreibung der Geschichte mit der Distanz eines auktorialen Erzählers entgegen, also als Erzähler, dem die Geschichte äußerlich bleibt. „Letzten 20 Jahre bewusst miterlebt (Sport, Fernsehen); spannender Roman: Personen haben entschieden, der Besucher ist auktorialer Erzähler, weise und entschlussfreudige Personen, einzelnen Kapitel sind z. B. Aufbau nach dem Krieg oder Beitritt zur NATO (die Bedeutung dieser Entscheidung ist früher nicht so in ihrer Tragweite gesehen worden, d. h. der Beitrag zur Wiedervereinigung)“ erklärt der HdG-Besucher.
Diese Distanz zur Geschichte, die ein allwissender Erzähler einnimmt, entsteht auch, weil ein Ausstellungsbesucher vor- und zurückblicken kann, d. h. im Nachhinein einen Zusammenhang zwischen der Gründung der NATO und der Wiedervereinigung herstellen kann. Die Position eines auktorialen Erzählers erlaubt es so, Kausalitäten in die Geschichte hineinzulesen und Zusammenhänge zu konstruieren. Für eine andere Art von Aussagen, die der Kategorie „Erzählung/Narration“ zugeordnet wurden, gilt, dass Besucher Bestätigung für etwas im Museum suchen und finden, das ihnen privat erzählt worden ist. Das gilt nicht nur für das HdG, wo dies aufgrund der ausgestellten Zeitgeschichte nahe liegt, sondern ebenso im MHU: „...Viel auch durch Erzählungen aus dem privaten Bereich, hier kann ich das wiederfinden“. Hier findet eine Parallelführung zwischen musealer Geschichtserzählung und Lebensgeschichtlichem statt. Ebenso, wenn mit dem HdG Erinnerungen an Romane verbunden werden: „Erinnerung an selbst gelesene Romane aus der Jugend (Mauersegler), hier in Ausstellung passende Bebilderung zu dieser Erinnerung“ erläutert ein MHU-Besucher. Dieses Textprotokoll legt zudem die Interpretation nahe, eine Unterscheidung zwischen dem Fiktivem im Roman und dem Objektivitätsanspruch im Museum sei für
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diesen Befragten weniger zentral als ein Authentifizierung durch die eigene Erinnerung, die die Darstellung in den Augen der Besucher noch stärker als wahrhaftig legitimiert, als dies wissenschaftliche Objektivität, im Sinne von methodischer Regelhaftigkeit und Überprüfbarkeit, gewährleisten würde. Ein Besucher gebraucht die Redewendung „Tatsachenroman“, um das besondere Mischverhältnis aus eigener Erinnerung und Geschichte zu benennen. Im HdG bringt ein Befragter die Lebendigkeit der Ausstellung mit einem Zugang zu Geschichte, einer bestimmten Erkenntnisweise von Geschichte in Verbindung: „Es ist anschaulich wie ein Buch, man hat nicht nur ein Bild im Buch, schön gemacht, erzählende, lebhafte Führung. [...] Fundstücke sind hier zufällig gelandet, und dies gibt tiefere Einblicke, private Gegenstände sagen mehr über Lebensumstände, da kann man sich besser reinversetzen“.
Beim Geschichtserlebnis, wie es die Kategorie Narration hier repräsentiert, findet ein Einfühlen in die Lebensumstände anderer Zeiten statt. In den stärker exponatzentrierten Ausstellungshäusern MHU und DHM lassen sich auch Besucher finden, die explizit auf die vielen Geschichten eingehen, die ein einzelnes Objekt erzählen kann. Es lassen sich demnach auch narrative Medien in den empirischen Beschreibungen finden. Die Medien im Museum werden dann auch von Seiten einer MHU Besucherin als narrative Medien verstanden: „...Gegenstände haben viele Benutzer und deshalb viele Geschichten. Heute ist alles schnell kaputt und alte Sachen haben längere Zeitspanne“. Diese Befragte begegnet der Welt ihrer Vorfahren durch die Geschichten, die die Objekte im Museum erzählen. Ein anderer Besucher, der der Erzählung der Objekte lauscht, vergleicht den Besuch im HdG mit einem „Geschichtsbuch, wo man Geschichte hautnah erleben kann“ und er erläutert dann: „...Kino, da erinnert man sich wieder an die Zeit. Hier wird man tiefer berührt, weil die Gegenstände erzählen. Man fühlt sich zurückversetzt, man muss aber bereits einen Hintergrund haben“. Dies unterstreicht die empirische Plausibilität der obigen Theoretisierung von Museumskommunikation (vgl. Abschnitt 2.1.3). Demgegenüber wählt ein Besucher des JMB frei den Vergleich „Raumerlebnis“, bezieht sich damit auf die Architektur Libeskinds, ergänzt dies auf der Vergleichsliste durch die Wahl „eine große Erzählung“ und erläutert: „...läuft oft in der Phantasie ab – erzählender Charakter im Museum“. Es sind die musealen Objekte und architektonischen Symboliken, die eine Kommunikation zur poetischer geprägten Erzählung machen: „Es, das Exponat, veranschaulicht die Erzählung, wie Metaphern“. Insofern werden die Stilmittel der musealen Inszenierung mit denen der Erzählung verglichen. Und es wirkt, als sei es gerade diese Poetik, die Elemente, die die museale Präsentation als Erzählung in Szene setzten, die Geschichte nachvollzieh-
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bar und für Besucher zugänglich machen. Zu guter Letzt lässt sich an einer Erklärung zur Wahl des Vergleiches „ein spannender Roman“ im HdG veranschaulichen, wie die Auseinandersetzung mit Geschichte, im Museum zumindest, bei diesem Besucher mit einer Zukunftsperspektive verbunden ist: „Fesselnd. Themen, die interessieren. [...] Aktive Teilnahme, in der Rückschau werden viele Sachen von Früher in ihrem Sinn aufgelöst. Man weiß, was passiert ist, und kann nun besser einschränken, was in der Zukunft passieren wird, aber trotzdem ist das Ende offen“.
Eine theoretische Definition von Narration wurde bereits oben in Teil I eingeführt. Zusammenfassend lässt sich Narration empirisch bestimmen als: -
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nach erzählerischen Kriterien gebildetes Ordnungsmuster der Geschichte; große Erzählung als Größe des ausgestellten Zeitrahmens; Darstellungsmittel einer musealen Inszenierung: - Anfang und Ende; - Erzählfluss; - nicht frontal vermittelt; - Spannungsbogen ĺ Neugier, Spannung; - Plastizität und Anschaulichkeit; - Herstellung von Höhepunkten; - Authentizität durch die eigene Erinnerung; - narrative Medien; - Stilmittel der musealen Inszenierung. Oder als perspektivisch bestimmte Erzählung charakterisiert; „Große Erzählung“ ist eine Methode Geschichte zu präsentieren: - Distanz eines auktorialen Erzählers; - Besucher, die Bestätigung für etwas im Museum suchen und finden, das ihnen privat erzählt worden ist
Im Weiteren wird von den konkreten Textpassagen und den in ihnen enthaltenen faktischen Aussagen dahingehend abstrahiert, dass sie auf die Interpretation, in ihnen komme ein als Erzählung oder Narration in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ kodierte Geschichtsdeutung zum Ausdruck, reduziert werden. Diejenigen Fälle in denen Besucher sich ihren Reim auf Geschichte dahingehend machen, diese als Narration zu verstehen, wurden der Kategorie „Narration, Erzählung“ zugeordnet.
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5.2.3 Konstruktion Eine museale Inszenierung muss, wie bereits im ersten Teil der Arbeit deutlich wurde, in vielerlei Hinsicht als eine Konstruktion gelten. Die museale Präsentation ist hergestellt, und das Museum repräsentiert letztlich bloß eine Inszenierung von Geschichte – wenn auch mit originalen Stücken, die die Zuschreibungen von Objektivität und Authentizität auf sich ziehen. Natürlich nimmt ein Teil des Besuchspublikums die ausgestellte Geschichte entsprechend wahr und Besucher formulieren in der Beschreibung ihrer Eindrücke, in welcher Hinsicht die Präsentation ihnen als Konstruktion erscheint. Die semantische Konfiguration dieser Kategorie öffnet und schließt sich gewissermaßen mit der kulturellen Wertung, mit der eine Inszenierung von Geschichte als solche beschrieben wird. Einige der Besucher verweisen in kritischer Absicht darauf, wie Geschichte und Ausstellungen konstruiert sind, andere erkennen einfach eine konstruierte Dramaturgie in der Inszenierung. Da oben wie selbstverständlich davon ausgegangen wurde, sozialer Sinn sei konstruiert, muss hier erläutert werden, dass „Konstruktion“ aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen heraus durchaus Unterschiedliches meint. Wenn ein Soziologe das Wort „Konstruktion“ benutzt, heißt dies erfahrungsgemäß etwas ganz anderes, als wenn ein Historiker oder Naturwissenschaftler es verwendet. „Zu sagen, dass etwas ‚konstruiert‘ war, klang in ihren Ohren wie, dass es nicht wahr sei.“ (Latour, 2010: 155). Bei einem Künstler kann etwas erfunden und gut gemacht sein, bei einem Historiker gilt dies als Vorwurf. Die Narrative des „TatsachenVerfertigens“ (Latour, 2010: 156) verfahren jedoch zumeist tautologisch: Tatsachen sind Tatsachen, weil sie als Tatsachen verfertigt waren und dabei gerade aus artifiziellen Situationen entstanden, beispielsweise im Labor oder im psychologischen Experiment konstruiert wurden. Gerade die Geschichtswissenschaft hat lange versucht, sich an naturwissenschaftlichen Kriterien zu orientieren, um ihren Wahrheitsanspruch einzulösen. Wird erwartet, im Museum wissenschaftlich objektivierte Wahrheit vorzufinden, liegt mitunter ein kritischer Anspruch darin, eine Geschichtserzählung als Konstruktion zu beschreiben. Latour spielt gezielt mit spezifischen Gegensatzpaaren: Artifizialität vs. Objektivität; gut vs. schlecht konstruiert; konstruktiv vs. objektiv; Relativismus vs. Absolutismus; Konstruktivist vs. Fundamentalist; konstruktivistisch vs. rationalistisch, um schließlich zu erläutern: „Wenn wir sagen, dass eine Tatsache konstruiert ist, meinen wir einfach, dass wir die solide objektive Realität erklären, indem wir verschiedene Entitäten mobilisieren, deren Zusammensetzung auch scheitern könnte ...“ (Latour, 2010: 158).
Ein Soziologe erklärt objektive Realitäten also darüber, dass er die sozialen Phänomene und Konstruktionsmechanismen in ihrer Zusammensetzung, ihrem Zusam-
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menwirken beschreibt, die in einer Gegenwart dazu führen, dass wir uns selbst, andere und unser Zusammenleben so verstehen und beschreiben, wie wir es jeweils verstehen und beschreiben. Auch die Museumsbesucher beschreiben Museen als Konstruktion, was sowohl eine „gute“ Tatsachenkonstruktion meinen kann als auch einen „kritischen“ Bezug zu Konstruktionen zum Ausdruck bringen kann, wie jeweils aus ihrer Vergleichswahl und deren Erläuterung hervorgeht. Die Selektivität, die in der von den Kuratoren getroffenen Auswahl an Dingen und Objekten liegt, thematisieren viele Erläuterungen. Dieser Besucher des HdG formuliert frei den Vergleich „Internet“ und erläutert: „Man kann sich die Sachen raussuchen, Interaktivität und Selektivität. Eklektisch.“ Eklektizismus bezeichnet die philosophische Methode, sich Elemente unterschiedlicher Schulen, Religionen und Denksysteme herauszusuchen und neu zu kombinieren, oder in der Kunst das Verfahren, Stilelemente unterschiedlicher Epochen zu verwenden. Demzufolge geht es in dieser Textpassage nicht allein um die selektive Rezeption (!) des Besuchers (das wäre demnach in der Auswertungsdimension „Rezeption“ zu kodieren), sondern um die Selektivität des Museums und des davon ausgehenden Geschichtsverstehens des Besuchers. Nicht nur der Besucher sucht sich selbst laut dieser Textpassage Relevantes heraus, sondern dies tut auch das Museum „eklektisch“. In Absetzung von den Listenvergleichen erläutert ein anderer HdG-Besucher ohne sich für einen spezifischen Vergleich zu entscheiden allein: „Vor allem eine Ansammlung, weil hier alle bekannten Dinge stehen, die einem ein Begriff sein müssten. Die sind hier zusammengetragen“.
Dieses Textprotokoll spiegelt die Vorstellung wider, dass im Museum nur diejenigen Objekte zu finden seien, „die einem ein Begriff sein müssten“. In dieser Äußerung liegt die Erwartung der kulturellen Bedeutsamkeit, die das Museum herstellt. Die Objekte sind diesem Besucher zufolge exemplarisch, nach ihrer Bekanntheit ausgewählt. Objekte werden hier als aufgrund ihrer Fähigkeit, als Zeichen für abstraktere Zusammenhänge zu stehen, gesammelt gedacht. In dieser Textpassage ist nicht nur die Auswahl an Objekten, die ein Museumskonzept vornimmt, semantisch implizit enthalten, sondern auch eine Annahme über Sammlungskriterien: Bedeutsamkeit entsteht über die Potenz, etwas auf einen Begriff zu bringen. Damit lässt sich empirisch die Einschätzung über narrative Medien bestätigen, dass diese in der Lage sind, etwas auf einen Blick zu thematisieren. Vielen anderen Textpassagen geht es dann darum, dasjenige zu beschreiben, was eine Konstruktion der musealen Präsentation subjektiv ausmacht: „Das Bemühen um eine moderne Präsentation, es gibt moderne Medien.“, formuliert ein MHUBesucher frei und erläutert: „Kurzurlaub: ein paar Gänge runterschalten, vom All-
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tag abschalten, Gedanken ausweiten...“. Medien und Präsentation sind Wörter, denen die Beschreibung dessen, was sie benennen, als Konstruktion implizit ist. Präsentieren lässt sich nur etwas, dessen Informationswert oder Sinn nicht mit ihm selbst identisch ist, sondern der Darstellung von etwas anderem dient. Die Dinge im Museum dienen der Konstruktion von etwas anderem, welches Geschichte heißt, d. h. sie dienen der Repräsentation von Ideen oder noch abstrakterem Sinn. Ein anderer Aspekt des semantischen Feldes der Kategorie „Konstruktion“ ist die Anordnung oder Gliederung, die das Präsentationskonzept realisiert, also die Strukturierung eines Ausstellungsthemas in Bereiche und die diesem Konzept entsprechende Einordnung von Exponaten. Eine Besucherin des HdG beschreibt das Museum frei mit „Zeitreise“ und dem Listenvergleich „eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit“ und sie erklärt: „Zeitreise: gut gegliedert, von Jahr zu Jahr, unten einsteigen, aufsteigen zum Jetzt“. Die Gliederung tritt hier als (künstliche, fiktionale) Konstruktion hervor, und diese Inszenierung erscheint in diesem Zitat als derjenige Aspekt, der im HdG eine Reise „Zurück in die Vergangenheit“ ermöglicht. Eine Anspielung auf den Kinofilm gleichen Namens könnte damit gemeint sein und die Fernsehserie Anfang der 1990er Jahre, die in der Populärkultur häufig mit Zeitreisen assoziiert werden, und deshalb bei breiten Bevölkerungsschichten vermutlich eine Vorstellung, ein Bild oder einen Begriff von „Zeitreise“ prägen konnten.10 Im DHM vergleicht ein Besucher das DHM mit dem „Deutschen Museum in München: Aufgrund des geschichtlichen Aufbaus durch Architektur, Gliederung ähnlich“ und erläutert seine Listenvergleichswahl „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“: „Bild davon [...] wie die Geschichte dargestellt wird. Geschichte [...] illustriertes Buch der Geschichte. Historisch gestaffelter Rundgang. Erster Überblick“. Der Befragte thematisiert eine „Staffelung“, also Ordnung nach historischen Gesichtspunkten oder aufgrund der Architektur. Ordnung, Struktur, Gliederung sind erneut etwas, worin die Semantik Konstruktion zum Ausdruck kommen kann. Weiterhin beschreiben viele Besucher, wie sie die Pädagogik einer Ausstellung wahrnehmen. Ein Besucher des HdG vergleicht seinen Besuch im Museum frei mit „Reden und Vorträgen“, wählt aus der Liste „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und deutet damit seine Rolle eines passiven Rezipienten an, der sich in der Rolle eines Zuhörers befindet:
10 http://de.wikipedia.org/wiki/Zur%C3%BCck_in_die_Vergangenheit (Stand vom 11.02.2011).
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„Die Art der Darstellung. Es hat alles Modellcharakter. Kombination von Medien, Musik und anderes. Erinnerungen im Buch der Geschichte. Anfang der Ausstellung Überbetonung des Negativen: Ausschwitzkeule. Zu Beginn bekommt man das schlechte Gewissen eingeredet“.
Dieser Besucher schreibt dem Museum eine strafende Autorität zu, gegen die er zugleich mit seiner Äußerung rebelliert. Indem er das Hergestelltsein desjenigen Gewissens hervorhebt, das er selbst angesichts der wahrgenommenen Pädagogik entwickelt, und dieses damit externalisiert, projiziert er eine Autorität auf das Museum zurück, schreibt ihm diese Autorität zu, die es ansonsten nicht ohne Weiteres hätte. Der Befragte zeigt an dieser Stelle Anzeichen einer autoritären Persönlichkeit (Adorno, 1975 [1950]: 475ff): Indem er den Ausdruck „Auschwitzkeule“ für seine Wirklichkeitskonstruktion verwendet, lässt sich seine Aussage so interpretieren, als schriebe er dem Museum eine Autorität zu, gegen die er zugleich rebelliert, d. h. diese Sinnkonstruktion geht auf einen sekundären Antisemitismus zurück, das ist in diesem Fall die Unterstellung, hinter der Thematisierung des Holocausts irgendwelche „jüdischen“ Interessen oder andere, diffus abzuwehrende Intentionen zu vermuten. Autoritäre Persönlichkeiten sind Adorno zufolge vor allem Angehörige der unteren Mittelschicht (Adorno, 1975 [1950]: 476), wie sie den Besuchspublikumsportraits zufolge vor allem im HdG anzutreffen sind. Für eine solche Person bleibt die Konstruktion des Museums allein abzuwehrende Pädagogik. Demgegenüber gibt es im Textmaterial eine Reihe von Aussagen, die die Pädagogik eines Museums weniger als Zwang wahrnehmen und das Lernen kulturell anerkannter Werte mittels Museumspädagogik eher als Angebot, Chance oder Hilfe verstehen: Eine Besucherin des JMB wählt den Vergleich „Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland“ und sie erklärt: „Es ist für mich ein typisch modernes Museum – die pädagogischen Mittel sind erkennbar und man versteht es dem Besucher das Thema strukturiert und chronologisch nahezubringen und die Ausstellungsarchitektur ist auch eine gute Hilfe dafür“.
Ein anderes Textprotokoll beschreibt das JMB als Ort der Reflexion über eigene Werte, die wiederum durch das Gebäude in seinem spezifischen Charakter bestimmt sei. Das Untergeschoss des Museums wird von einer Besucherin mit „Ein Besuch in einer Kirche/Synagoge“ verglichen, die Obergeschosse mit „ein Blättern im Buch der Geschichte“: „Kirche: ich habe darüber nachgedacht, wie hätte ich mich verhalten. Selber in mich hineinschauen ohne Antwort zu bekommen. Das ist das, was ich mit Kirche verbinde bzw. was ich in einer Kirche mache. Blättern im Buch der Geschichte: allgemeine Geschichte wird präsentiert“.
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Geschichte wird hier als präsentiert, also als inszeniert, hergestellt oder konzipiert wahrgenommen. Die Frage stellt sich, ob das Untergeschoss ähnlich wahrgenommen wird. Diese Beschreibung der Museumspädagogik des JMB zeigt, dass das Konzept eines Minderheitenmuseums, demokratische Werte zu vermitteln, hier durchaus aufgeht. Subjektive Wahrnehmung und Internalisierung kultureller Werte fallen hier zusammen, wie es von der Libeskind-Architektur gewollt ist und mit den räumlichen Erlebnissen, z. B. im Betonschacht des Holocaustturms, demnach auch erreicht wird. Aber auch Kirchen oder Synagogen können als konstruierte, hergestellte Orte für eine moralisch-religiöse Reflexion gelten. Also tritt laut dieser Beschreibung auch im JMB Pädagogik auf, wenn auch subtiler und von Besuchern nicht explizit als externe moralische Belehrung verstanden. Dann gibt es Beschreibungen von Pädagogik, die einfach die Erwartung widerspiegeln, dass Museen konstruiert sind, damit Besucher dort lernen können. Ein Besucher beschreibt anstelle eines freien Vergleiches: „Ist ergänzend zur Schule...“. Die Erwartung, die über das Stichwort Schule thematisiert wird, bestätigt, dass die Eindrücke von Museen tatsächlich zentral durch die Erwartung „Lernort“ bestimmt ist, die einige Besucher mitbringen. Des Weiteren wählt der Besucher des MHU den Listenvergleich „ein Geschichtsunterricht“ und erklärt, warum er diesen Vergleich auswählt: „... Man lernt etwas und hat pädagogischen Effekt. Ist greifbar. Erfassen in der Räumlichkeit. Früher waren Gegenstände wertvoll, warum werden Objekte ausgestellt und wie kommt es dazu, dass wir heute so leben?“
Dasjenige, was der Besucher angesichts der pädagogischen Konstruktion des Museums zu lernen meint, hat sehr viel mit kulturellen Werten zu tun, aus der Sicht dieses Befragten nicht der Gegenwart, sondern der Vergangenheit. Und die Pädagogik wird mit der Bereitschaft zu lernen beobachtet. Die Inszenierung des Museums wird von einem Besucher im HdG als lehrreich beschrieben, was von ihm dann geringfügig relativiert wird, da das Museum an der Oberfläche verbleibe. Der Charakter einer Inszenierung, nicht allein zwecks Bildung oder Erziehung (Pädagogik), sondern zur Unterhaltung des Besuchspublikums konzipiert zu sein, rückt in den Vordergrund, wenn ein Befragter des HdG seinen Besuch mit einem „lehrreichen Spaziergang durch die Zeitgeschichte“ vergleicht und dazu erklärt: „Man schreitet an der Geschichte entlang, kommt nicht richtig in die Tiefe hinein. Nur Option der Vertiefung ist präsent. Wie eine Landschaft, die vorbeizieht, aber kein Jogging. Keine Vertiefung im Museum: gemütlicher Spaziergang im Urlaub mit Zeit und Muße“.
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Auf eine poetischere Art werden die Konstruktion des Museumskonzepts im HdG und seine Ordnungsgesichtspunkte von einem Besucher im Vergleich mit einem „Zoo“ beschrieben: „Auch wenn keine räumliche Trennung da war, gab es Sprünge zwischen den Jahrzehnten und Themen. In einem Zoo sind mehrere Tiergehege, man geht und wird mit eingebunden, man ist oder wird selber Teil davon. Einiges kennt man schon und erlebt es ausführlicher und anschaulicher. Geschichte zum Anfassen wichtig, was hier noch zu wenig ist“.
Ein spielerischer Zugang zur im Museum gezeigten Geschichte führt in anderer Hinsicht dennoch zur Rekonstruktion eines tendenziell fragmentarisch produzierten Geschichtsdeutung. Das Museum wird mit einem Puzzle oder Kaleidoskop assoziiert. Im MHU verwendet eine Besucherin die Vergleiche Spiegel und Kaleidoskop. „Spiegel: Sie hat das Leben gespiegelt, was sie jetzt lebt und die Vorherigen. Ich schaue in den Spiegel. Eher aber Kaleidoskop: Bei jeder Bewegung andere Einstellung, jeder sieht was anderes und andere Bezüge. Immer neue Sachen entdecken. Beobachtung aller Perspektiven: Der Besucher und die Zeit, keine einzig Richtige. Wissen würde eine Beurteilung liefern“.
Das Museum tritt in den Textpassagen als Ort der Beobachtung zweiter Ordnung hervor: Die Besucherin sieht, wie andere Geschichte beobachten. Eine andere Art, den fragmentarischen Charakter des Ausstellungskonzeptes im JMB hervorzuheben, stellen die freien Vergleiche „Bahnhof“ und „Brettspiel“ her. Die Befragte im JMB geht auf den Charakter der Museumsräume und ihre Symbolik einzeln ein: „Bahnhof: Achsen, Ausstellung wie begehbare Geschichte. Brettspiel: man würfelt sich da durch und erlebt da alles. Weg ist vorgezeichnet und man wird dadurch gezogen. Katharsis: Keller, Holocaustturm: Man gibt sich der Hilflosigkeit hin. Garten des Exils: Unsicherheit. Obergeschoss: Wenn man was wissen will, muss man sich nach oben arbeiten, dann wie Garten Eden – Granatapfelbaum. Achsen: Je mehr Leute – Lagersituation. Bahnhof: Wo man sich durchwühlen musste, um sich zu Recht zu finden, desto mehr bekommt man Gefühl von Bahnhof“.
In dieser Äußerung tritt die Dramaturgie der musealen Szenen im JMB hervor. Im HdG wiederum vergleicht ein Besucher sein Museumserlebnis mit einem Puzzle. Es wird nicht eindeutig erkennbar, ob es das Museumskonzept ist, das in übertragenem Sinne Geschichte in Puzzleteile zerschneidet, oder ob es die Rezeption des Besuchers selbst ist, wenn er erläutert: „Als ein Puzzle: Das Puzzle („Geschichtsvorstellung, -darstellung“) wird zerstört (Krieg/Kriegsende) und ‚angereichert‘ neu zusammengesetzt“. Dieses Textprotokoll scheint jedoch den in der Ausstellung dokumentierten historischen Wandel in der Museumsdarstellung zu bezeichnen und
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zu schildern, wie sich die (museale) Selbstbeschreibung der Deutschen nach dem Krieg wandelte. Der konstruierte Charakter von Geschichte kann darin zum Ausdruck kommen, wie die Darstellung im Museum mit anderen Geschichtsinterpretationen kontrastiert wird. Eine Besucherin des DHM wählt „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und „ein Geschichtsunterricht“ als Vergleiche und sie thematisiert dadurch den Konstruktionscharakter von Geschichtserzählungen: „Die Darstellung hier war für mich wie meine Wunschvorstellung eines Geschichtsunterrichts. Als Kind war mein Unterricht zu isoliert. Hier wurden Themen aufgegriffen, die in meinem Unterricht früher fehlten, zum Beispiel die DDR und die NS-Zeit. Da haben sich die Lehrer selber nicht dran getraut. Hier habe ich das Gefühl, das Ost und West eine gemeinsame Geschichte haben. Dadurch, dass der erlebte Unterricht nicht so toll war, hat man das Gefühl, nur lückenhaftes Wissen zu haben. Hier kam es zu Zusammenfügungen und Ergänzungen meines Wissens“.
Ein Besucher des DHM bedauert, es mit einer multiperspektivischen Ausstellung zu tun zu haben und vergleicht das Haus nicht nur nach Liste mit „Ein Besuch in einer Schatz- und Wunderkammer“, sondern zunächst frei mit einer „Gulaschsuppe“: „Fleischstückchen (Exponate, Interviewer) mit fader historischer Soße (fade, weil kein Standpunkt bezogen wird, es wird keine Diskussion im Betrachter angeregt. Historische Soße meint: alles in den Schleier der Geschichte gewickelt, Fleischstücke gehören alle zur Geschichte, Interviewer). Schatz- und Wunderkammer, da die Exponate alle außerhalb von Zeit und Raum stehen, ohne Zusammenhang“.
Ein demokratisches Geschichtsbild in seinem pluralistischen Charakter gilt diesem Besucher als fade, da es eben keine klare zeitliche Ordnung, keinen eindeutigen Standpunkt, keinen Zusammenhang anbietet. Der Konstruktionscharakter von Geschichtserzählungen kommt empirisch darin zum Ausdruck das diese • • • • • •
Selektiv/Eklektisch sind und eine Auswahl an Dingen und Objekten bieten; Exemplarisch ausstellen: Objekte und Themen nach ihrer Bekanntheit auswählen; Es sich um Medien und Präsentation handelt. Es eine Inszenierung des Museums gibt; eine Dramaturgie; eine Ordnung nach historischen Gesichtspunkten;
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eine Pädagogik oder eine Vermischung von Unterhaltung und Pädagogik.
Im Folgenden wird davon die Rede sein, dass jemand, der Geschichte als Konstruktion versteht, damit einer solchen Geschichtsdeutung verfolgt. Es ließe sich z. B. als explizites Anliegen analytisch argumentierender Ausstellungskonzepte beschreiben, ein Bewusstsein für den Inszenierungscharakter der musealen Geschichte zu schaffen. 5.2.4 Kausalität Einige Besucher der Museen beschreiben als Eindrücke ihres Besuches ihr Erkenntnisinteresse, Zusammenhänge in der Zeit zu verstehen. Ein In-BeziehungSetzen von Ereignissen zu anderen, vorangehenden Ereignissen, erfolgt bei dem in dieser Kategorie gebündelten Textmaterial in der Absicht, Erklärungen zu finden. Bei der Zuschreibung von Kausalität geht es darum, eine Gliederung der Welt in Ursache-Wirkungs-Ketten zu konstruieren und einen Zusammenhang als Kausalität zu beschreiben (Schwietring, 2005: 55). Einige Besucher rekonstruieren Gründe in der Zeit. Ein Befragter vergleicht in einer mehrfach kodierten Textpassage seinen Besuch im HdG frei mit einem „Gespräch mit Freunden aus der gleichen Generation, die beginnen mit ‚Weißt Du noch...‘“ und erläutert: „Prägnante Ereignisse des Lebens, die in Erinnerung gebracht werden, was man sich individuell im Leben gemerkt hat. Entscheidende historische Ereignisse werden bewusst gemacht. Gründe, warum was passiert ist. (Herv. VS) Das, was man im Familienkreis gehört hat, wird in Erinnerung gebracht und prägnante Erfahrungen werden wieder gelebt“.
Bei den meisten Textprotokollen, die der Kategorie Kausalität, Anfänge, Ursprünge zugeordnet wurden, wird Kausalität museumsübergreifend in Zusammenhängen in der Zeit gesucht. Also inhaltliche Zusammenhänge, die sich offenkundig nicht in Chronologie oder Weltzeit erschöpfen, denn solche Textprotokolle wurden ja oben bereits der Kategorie Chronologie zugeordnet. Ein Besucher sagt anstelle eines freien Vergleichs: „Würde empfehlen, viel Zeit mitzubringen und sich das Museum aufzuteilen“, wählt anschließend die Listenvergleiche „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und „ein Geschichtsunterricht“ und erläutert: „Ich beschäftige mich mit Geschichte. Man blättert und erkennt: ‚Ach ja, so hängt das zusammen.‘ Darstellung der europäischen Geschichte“.
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Wenn der Befragte – vermutlich auf eine Rückfrage des Interviewers – expliziert, dass es um die Darstellung der europäischen Geschichte handele, sind damit wohl nicht allein Zusammenhänge in der Zeit, sondern – genereller – Sinnbezüge verschiedener Art gemeint. Vor allem im HdG bleiben die Zusammenhänge, die in den Schilderungen der Eindrücke des Besuchs auftreten, sehr viel impliziter. Eine Besucherin berichtet: „Erinnerungen, erlebte Geschichten werden wieder gefunden“, sie wählt vorrangig den Listenvergleich „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und erklärt, „Geschichte und Hintergrund muss schon vorher gewusst werden. Mehr Blättern als durchgehendes Lesen, es wird aber trotzdem die Kontinuität sichtbar, es werden Anstöße gegeben“.
Dieser Aussage bleibt eine Kausalität eher implizit: Wenn von Geschichte und einem „Hintergrund“ die Rede ist und dem Befragten weiterhin „Anstöße“ gegeben werden, lässt sich latent ein Interesse an der Konstruktion von Kausalität aus dem Textprotokoll rekonstruieren. Diese Textpassage stellt wiederum einen semantischen Grenzfall der Kategorie dar. Es wäre demnach als gedankenexperimentielle Kontextvariation zu überlegen, um welch eine Geschichtsvorstellung, -darstellung es sich denn alternativ handeln könnte, wenn ein Befragter von Hintergrundwissen spricht und von Anstößen, die gegeben werden? Im Prinzip beschreibt diese Befragte zunächst ihre eigene Rezeption der Ausstellung und das Verständnis von Geschichte als Kontinuität; ein zeitlicher Zusammenhang wird eher marginal an dieser Textpassage erkennbar. Dies spricht dafür, die Textpassage der Kategorie Kausalität, nicht Entwicklung und Kontinuität zuzuordnen. Hier trotzdem einen Verweis auf die inhaltlich-kausale Konstruktion von Zusammenhängen zu erkennen, lässt sich damit rechtfertigen, dass der Befragte gerade nach einem beschreibendem Vergleichen seiner Eindrücken befragt wurde, also tendenziell eher danach, was er im Museum wahrgenommen hat, nicht danach, wie er es wahrgenommen hat. Weitere Textprotokolle belegen eindeutiger, dass Geschichte vielfach als erklärender Zusammenhang verstanden wird: Ausgehend von den Vergleichen „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ und „ein Geschichtsunterricht“ erklärt ein Besucher im DHM, „Interessiert an Geschichte. Der Palast der Republik sagt einem nichts, wenn man Geschichte nicht versteht. Man versteht Gegenwart nicht, wenn man Geschichte nicht kennt“.
Oder ein Besucher des DHM entdeckt zeitliche Zusammenhänge im Museum, die es, so die kontrastierende Erläuterung, gerade inhaltlich-kausal zu verstehen gelte. Die Textpassage wurde entsprechend doppelt als Chronologie und Kausalität kodiert:
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„Lässt sich nicht systematisch sagen, Vorkenntnisse und Geschichtsinteresse nötig […] dann ist es eine gute Illustration der eigenen Kenntnisse“, beschreibt er in Annäherung an einen freien Vergleich, wählt „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und erläutert: „Was ich gesagt habe: Illustration. Da gibt es ‚Aha-Erlebnisse‘, Kleinigkeiten, die korrigieren oder Erkenntnisse verschärfen (Herv. VS). Chronologisch geordnet, als zeitliche Einordnung. Versuche, zeitliche Zusammenhänge zu verstehen (Herv. VS)“.
Im MHU gibt es Textpassagen, die veranschaulichen, dass es sich bei der Vorstellung von Geschichte als kausaler Zusammenhang nicht allein um einzelne Zuschreibungen handelt, sondern ganz explizit der im Museum dargestellte zeitliche Zusammenhang von einer Besucherin zur Herstellung eines inhaltlich-kausalen Zusammenhanges genutzt wird. Solche Sinnzuschreibungen sind als semantische Kontrastierungen der Vergleiche den Textpassagen zu entnehmen. Verglichen werden von einer Besucherin Eindrücke aus dem MHU mit „Eine Reise in die Vergangenheit, gehobenes Heimatmuseum“, dann werden die Listenvergleiche „eine große Erzählung“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ von ihr herangezogen, um zu erläutern: „Erzählt von dem Leben der Vergangenheit. So gestaltet, dass die Zusammenhänge zusammengefügt werden (Herv. VS), thematisch relativ geschlossen, der Fluss (der Erzählung) ist hier sehr gut gelungen“.
Aus dieser mehrfach kodierten Textpassage (Narration und Kausalität) treten relativ klar im Kontrast die Eindrücke der Besucherin von der Geschichtserzählung im Museum hervor: Geschichte lässt sich als ein Akt des Erzählens über Vergangenheit verstehen, der zeitliche Bezüge herstellt und damit Zusammenhänge produziert oder konstruiert. Auf ähnliche Art und Weise wird die Geschichtsrepräsentation im JMB von den Besuchern gelesen. Nachdem ein Befragter (aus den Niederlanden) das JMB mit einer Gedenkstätte vergleicht: „Ich würde es mit dem KZ Westerborg in den Niederlanden vergleichen“, wird nach der Wahl des Vergleichs „Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland“ erklärt: „Ich bin historisch und an der Menschheit interessiert und die aktuellen Spannungen zwischen jüdischen und deutschen Gefühlen kann man besser begreifen, begreifen, wie es dazu gekommen ist“.
Der Befragte sucht nach mehr oder weniger kausalen Erklärungen für „aktuelle Spannungen“ und „Gefühle“ in der ausgestellten Geschichte. Eine Art, nach Gründen oder Kausalitäten in der historischen Zeit zu suchen und stärker die Verbindung zur Gegenwart herzustellen, liegt vor, falls ein Besucher im
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Museum etwas lernen will und an eine Ausstellung bestimmte „Warum-Fragen“ heranträgt. Dieser Besucher, der diese Fragen an eine Geschichtsrepräsentation heranträgt, erhofft sich Anhaltspunkte zur Beantwortung der Fragen und wird höchstwahrscheinlich Geschichte entsprechend kausal deuten. Geschichte tritt dann als etwas auf, dem sich Kausalität zuschreiben lässt. „Ist ergänzend zur Schule. Man ist hier im Museum aber nicht in alten Räumen, sondern in einem modernen Gebäude“ wird durch einen Besucher im MHU als freier Vergleich formuliert und von der Liste dann „ ein Geschichtsunterricht“ gewählt und er erklärt: „Sind nicht meine Vorfahren. Habe nichts Neues entdeckt. Keine große Geschichten: das meint Sinn und Erfüllung der Geschichte. Man lernt etwas und hat pädagogischen Effekt, ist greifbar. Erfassen in der Räumlichkeit. Früher waren Gegenstände wertvoll. Warum werden die Objekte ausgestellt und wie kommt es dazu, dass wir heute so leben?“
Diese Warum-Fragen richten sich nicht auf eine Erklärung von Zusammenhängen in der Zeit, sondern darauf, warum Gegenstände in einem Museum zu sehen sind. Wenn die Antwort darauf lauten mag, dass sie wertvoll oder dass sie alt und wertvoll sind oder auch diesen rhetorisch formulierten Fragen andere Gründe zugeschrieben werden, läge damit eine Kausalitätszuschreibung vor. Auch das JMB stellt in der Wahrnehmung einer Besucherin Zusammenhänge zwischen verschiedenen thematischen Zusammenhängen her und führt zugleich zu den zeitlichen Ursprüngen. Eine Befragte wählt die Listenvergleiche „eine große Erzählung“, „ein Irrgarten“ und „Eine Führung an die Ursprünge jüdischer Kultur in Deutschland“ aus der Vergleichsliste aus und sie sagt: „Breiter Bogen geschlagen (Wissenschaft, Kultur, Politik), durch Architektur und Führung. Ursprünge werden aufgezeigt“.
In dieser konkreten Formulierung wirkt es so, als werde „Ursprüngen“ ein kausal zu interpretierender Sinn zugeschrieben, als würde durch „Ursprünge“ etwas verstehbar. Nun ist in der Interpretation dieser Textpassage nicht ganz zu entscheiden, ob nur deshalb von „Ursprüngen“ die Rede ist, weil die vorgegebenen Vergleiche diese Formulierung nahe legen, oder inwiefern ein solcher Sinn nur aufgrund der Besonderheit der Befragungssituation konstruiert wird. Potenziell hatte aber jeder Besucher die Chance, trotz der vorgegebenen Vergleiche eigene Worte zur Beschreibung der eigenen Eindrücke jenseits der Vergleichsliste zu finden. Und die Formulierung „breiter Bogen“ impliziert die Herstellung eines Zusammenhangs im Museum.
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Im JMB lassen sich viele Textprotokolle finden, die auf die Rede von Anfängen oder Ursprüngen zurückgreifen. Eine Befragte wählt „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und sie erläutert: „Weil man von den biblischen Anfängen bis zur Jetztzeit einen Einblick gewinnt. Sonderausstellung ‚Selbstbildnisse‘ passt sich gut ein“.
Bemerkenswert ist hier, dass sie von Anfängen spricht und dabei zwar die Vergleichsliste vorgelegt bekommt, aber diesen Vergleich (laut Fragebogen) gar nicht auswählt. Die Rede von Anfängen ist insofern als Konstruktion von Kausalität zu verstehen, als die Ausstellung einen Zusammenhang zwischen den biblischen Anfängen und der Jetztzeit darstellend erlebt wird. Wenn dies so wahrgenommen wird, wird damit die Annahme impliziert, dass die biblischen Anfänge etwas zu einem Verständnis der Jetzt-Zeit beitragen, etwa zum Verständnis eines religiös fundierten Antisemitismus oder kultureller Unterschiede. Dies ist aber nur der Fall, falls die Befragte der ausgestellten Geschichte nicht allein Sinn, sondern von ihr selbst kausal interpretierten Sinn zuschreibt. Einigen Besuchern geht es darum, ein Verständnis von den Anfängen oder Ursprüngen von etwas zu entwickeln. Geschichte erscheint als überindividueller Zusammenhang, der das eigene Leben mit dem der Vorfahren verbindet. Wenn der Besuch im DHM von einer Besucherin mit einem „Stammbaum: komplette Geschichte bis heute dargestellt. Wurzeln und Verwurzelungen vermitteln einem das Gefühl“ verglichen wird, liegt in dieser Wahrnehmung vordringlich eine Sinnzuschreibung der Befragten vor, die auf den umfassenden Zeitrahmen des DHM zurückgeht und von der „kompletten Geschichte“ motiviert ist. Der zusätzlich von ihr gewählte Listenvergleich „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ bestätigt diese Interpretation des freien Vergleiches: „Fragen beim Besuch: Wo kommt man her? Welche Einflussfaktoren haben eine Rolle gespielt? Fragen wurden hier beantwortet. Es ist für mich eine Darstellung des Kreislaufs des Lebens, das heißt die Themen wiederholen sich in allen Epochen“.
Oben wurde bereits argumentiert, dass wer Warum-Fragen stelle, nach Gründen für etwas suchen müsse. Die Fragen nach einem zeitlichen Ursprung, die diese Besucherin an das Museum heranträgt, werden, so sagt sie implizit, aufgrund des großen zeitlichen Zusammenhangs, den das Museum produziert, zu beantworten. Die Darstellung eines derart großen Zeitraums, wie ihn das DHM präsentiert, legt eine solche Logik der Konstruktion einer auf „Ursprung“ zurückgehenden „Geschichtsvorstellung“, nahe; selbst wenn das Museum selbst einen Anfang oder ein Ende insze-
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nierungstechnisch offen lässt, liegen solche Sinnkonstruktionen potentiell bei seinen Besucher nahe.11 Schaut man sich das Ausstellungskonzept des MHU im Unterschied zu den anderen Museen an, fällt auf, dass dieses Museum am wenigsten darauf bedacht zu sein scheint, Zusammenhänge in der Zeit bis in die Gegenwart hinein durchgängig nachzuzeichnen. Eine befragte Besucherin vergleicht ihren Besuch im Museum frei mit „Kleine Reise: Reise in entferntere Geschichte und andere Gesellschaftsstrukturen. Die Schicht, der es gut ging. Man ist zwar nicht in anderem Land, sondern im eigenen. Zeitsprünge. Wo man über die Eltern nachdenken kann. Wurzeln des Bodens, in dem man gründet und später auch des eigenen Bodens“.
Diese Besucherin wählt dann noch den Listenvergleich „ein Blättern im Buch der Geschichte“, den sie nicht weiter erläutert. Gemäß diesem Zitat tritt die Geschichtsdarstellung im Museum mit Zeitsprüngen auf, implizit ist dieser Textpassage somit die Erwartung, Zusammenhänge nachvollziehen zu können, etwas, das sie offensichtlich auch tut, bei der Rezeption, die sie beschreibt. Die Geschichte im Museum scheint mit „Zeitsprünge“ nicht als kontinuierlich dargestellt empfunden zu werden. Was könnte es bedeuten, wozu könnte es dienen, über Gesellschaftsstrukturen und die Eltern nachzudenken? Diese Kategorie und ihre semantische Konfiguration, in der Aussagen zusammengefasst sind, die nicht allein durch eine Semantik von Chronologie erklärbar wären und über Chronologie hinaus auch qualitative Unterschiede in der Geschichte berücksichtigen, die aber gerade nicht durch eine Entwicklung miteinander verknüpft gedacht werden, lässt sich über ein hinter den Aussagen liegende Semantik „Kausalität“ rekonstruieren. In das Museum wird offensichtlich ein Zusammenhang hineingelesen, der etwas an der Gegenwart beleuchtet. Für die Besucherin liegt eine persönliche und damit gegenwartsbezogene Ansprache in der Möglichkeit, „Wurzeln“ zu entdecken. Sich von der Vergleichswahl „eine Entdeckungsreise“ und „eine große Erzählung“ sowie „ein Blättern im Buch der Geschichte“ abhebend, beschreibt eine Besucherin des MHU: 11 Crang (1994: 39) referiert in seinem Aufsatz die zentrale Kritik an Narration und Heritage. Narrative Strukturen sind nicht unschuldig, sie heben gewisse originäre Ereignisse und Gründungsmythen hervor und präsentieren Geschichte häufig mit einem Endpunkt in der Gegenwart. Die Verhältnisse der Gegenwart erscheinen so als notwendige Folgerung aus der Vergangenheit (Hewison, 1987). Geschichte verkommt so zu einer Letztbegründung, suggeriert Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit der Gegenwart, wie sie ist, und bildet damit eine Rechtfertigung des Bestehenden gegenüber anderen Möglichkeiten und Veränderung.
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„Persönlicher Bezug, nichts Totes. Man sieht, dass man seine Wurzeln hat. Entdeckungsreise: Man findet bekannte Objekte“.
Bei dieser Kategorie von Textprotokollen geht es um Herkunft, also lokal, generational-familiär bestimmte „Wurzeln“. Herkunft gilt wohl als Kriterium, das Personen erst interessant macht: „Muss man gesehen haben. So wichtig wie das Opernhaus“ – freier Vergleich: „Verschiedene Bereiche. Schon gehört. Man erinnert sich wieder daran. Personen sind interessant, weil man nun weiß, wo sie herkamen. (Herv. VS) Blättern im Rahmen der Ausstellung: Chronologisch, aber auch hin und her“ (ein Blättern im Buch der Geschichte).
Herkunft gilt dem Besucher in dieser Textpassage als etwas, das wissenswert, interessant ist und insofern als instruktive Information rekonstruiert zu werden verdient. Dies ist nur der Fall, falls er einen Zusammenhang zur eigenen Person rekonstruiert; auch hier scheint hinter den Aussagen eine Semantik von Kausalität zu liegen. In Stichworten zusammenfassen lässt sich die semantische Konfiguration dieser Kategorie mit: - Gründe in der Zeit suchen/finden; - Zusammenhängen in der Zeit und Geschichte als diese erklärender Zusammenhang; - Geschichte als kausaler Zusammenhang; - „Ursprüngen“ wird ein kausal zu interpretierender Sinn zugeschrieben; - Antworten auf Warum-Fragen; - „Wurzeln“, Herkunft. Damit sind die zentralen Komponenten der semantischen Konfiguration, „Kausalität“ umrissen. Im Folgenden wird zusammenfassend und von den konkreten Textpassagen abstrahierend von eine auf Kausalität zurückgehende Geschichtsdeutung die Rede sein, wenn jemand über Kausalitätszuschreibungen Geschichte rekonstruiert, sich also seinen „Reim“ auf Geschichte macht, indem er Geschichte als kausalen Zusammenhang versteht 5.2.5 Alltagsgeschichte, Geschichte als Geschichten Die am häufigsten belegte Kategorie umfasst die semantische Konfiguration „Alltagsgeschichte, Geschichte als Geschichten (Volkskunde)“. Diese lässt sich optional in verschiedene Subkategorien differenzieren, je nachdem wie präzise sich aus den
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Textpassagen herauslesen lässt, um welche besondere Art von Alltagsgeschichte es geht, wenn die Besucher ihre Eindrücke schildern. Alle Museen verfügen über Ausstellungselemente, die den Besuchern verschiedene persönliche Bezüge nahe legen, indem alltägliche Gegenstände an die Lebenswelten vergangener Zeiten erinnern. Allein „Volkskunde“ beschränkt, vornehmlich im MHU anzutreffen, begrifflich den jeweils relevanten Ausschnitt der Alltagsgeschichte durch einen Fokus auf die unteren sozialen Schichten. Alltagsgeschichte „Neugierig, wie früher Menschen gelebt haben, wie ist der Alltag. (Herv. VS). In der Ausstellung: Springen hin und her, ist bezogen auf das Objekt und nicht auf die Zeit, starke Verbindung mit Filmen, da man dann besser Verbindungen herstellen kann, versetzt einen in kleinen Jungen, als man Filme gesehen hat“, sagt ein MHU-Besucher. „Mich interessiert, wie Leute früher gelebt haben (Herv. VS), ihre Weltsicht“, schildert eine andere Besucherin.
Ein Interesse „wie Leute früher gelebt haben“ richtet sich offensichtlich auf den Lebensalltag von Menschen, diesen Textprotokollen sind demnach offensichtlich im Museum erlangte Eindrücke von Alltagsgeschichte implizit. Geschichte als Geschichten Wie ein Befragter seine Eindrücke vom Ausstellungskonzept des JMB wahrnimmt, belegt, dass Geschichte dort als Geschichten verstanden wird: „Ein großer Komplex, wie Erzählung durch persönliche Geschichten“, die große Erzählung setzt sich in diesem Museum durch die vielen persönlichen Geschichten zusammen, obwohl der Besucher gemäß diesem Textprotokoll „eine große Erzählung“ von der Liste wählt. Dem Konzept des JMB entspricht es, Geschichte als Geschichten zu erzählen; mit dem Erzählen mehrerer Geschichten im JMB wird bewusst die Synthese derselben zur deutschen Geschichte (im Sinne einer „Großen Erzählung“) vermieden. Der gemeinte Sinn des Textprotokolls hebt an der Semantik des Vergleiches demnach wohl mehr das Erzählt-Sein, als eine „Große Erzählung“ hervor. Eine Besucherin vergleicht ihren Besuch im JMB mit „Großes Familienalbum“ und erklärt: „Es wurden persönliche Schicksale dargestellt und Persönlichkeiten gezeigt“. Auch die „Beitragsgeschichte (vgl. Abschnitt 3.1.1) wird durchaus von den Besuchern entsprechend verstanden und aus der Präsentation herausgelesen wird: „Informativ: Erfährt was über jüdische Kultur, wie wichtig die Juden für die deutsche Gesellschaft waren (Herv. VS)“, erklärt ein Besucher frei und setzt sich vom Vergleich „ein Blättern im Buch der Geschichte“ beschreibend mit „Weil der ganze Aufbau die Geschichte von Anfang an erzählt, es war geschichtlich orientiert“ ab.
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Dementsprechend wird das JMB von einer Besucherin gerade wegen der Integration von Geschichten (über das „Leben“ von „Menschen“) zu einer Geschichte als „Schicksal“ wahrgenommen: Frei formuliert sie: „Wie endlich das Leben ist bzw. sein kann“ und sie erläutert „Durch Fotos und Gegenstände von Menschen, die friedfertig leben und wie schnell es passieren konnte, dass sie da herausgerissen wurden. Schicksal von Überlebenden ist grausam“.
Die allgemeine Geschichte scheint diesem Textprotokoll zufolge als „Schicksal“ gedeutet zu sein, welches Menschen aus ihrem Lebenszusammenhang hinausreißt, insofern versteht die Besucherin wohl Geschichte primär als „Leben“ der Menschen. Im Folgenden wird „Alltagsgeschichte“ als übergeordneter Begriff gebraucht, der u.a. das Verstehen von Geschichten als Geschichte umfasst, so dies nicht separat als zusätzliche Benennung der Kategorie aufgeführt wird. Selbst erlebte Zeit/Erinnerungen Im HdG tritt Zeitgeschichte zumeist als selbst erlebte Zeit in den Blick: „Man erkennt vieles wieder, was man zu Hause hatte. Es geht tiefer als ein Erlebnispark. Personen, Gesichter, was man selbst erlebt hat (Herv. VS). Wie in einem Buch wird man geführt. Durch die Ausstellung begegnet man Vergangenem“,
erklärt eine Besucherin anhand der Vergleichsliste. Die Gegenstände, „was man zu Hause hatte“, machen Vergangenheit zu etwas, dem man in der Ausstellung „begegnet“. Ein anderer Besucher des HdG sagt allein frei und ohne Erläuterung „Ich habe das aktiv erlebt, ich war in die Studentenunruhen involviert.“ Der Rezeptionsmodus von Geschichte ist hier die Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Erinnerung (Kodierung in der Auswertungsdimension „Rezeption“). Bei der so vergegenwärtigten Geschichte handelt sich demnach wohl um selbst erlebte Zeit, die im Museum erinnert wird. Die Vergleichswahl „Eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit“ und „ein blättern im Buch der Geschichte“ werden erläutert mit „Die eigenen Erinnerungen spielten eine Rolle. Es war wie Lesen, das unmittelbare Wiederhervortreten von Vergangenheit. Was man aus Büchern kennt, ist sehr gut dargestellt“. Die Befragte im HdG unterscheidet gemäß diesem Textprotokoll gar nicht erst zwischen der eigenen Erinnerung (selbst erlebte Zeit) und dem Lesen einer Geschichtserzählung oder eines Geschichtsbuchs (im Museum ausgestellte Zeitgeschichte). Im MHU tritt dann die Besonderheit dieses Museums zutage, dass Geschichte durch ihren lokalen, territorial-räumlichen Bezug Nähe schafft. Eine Besucherin beschreibt frei: „Das Museum als Teil der alten Stadtmauer: Es ist doppelt einbezogen, es verbindet mich als Hannoveranerin mit der Stadt“. Die Symbolik der Mu-
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seumsarchitektur dient der Befragten gewissermaßen als Bindung an Stadt, Mauer und Museum. Dann fährt die Befragte mit dem Vergleich „ein Blättern im Buch der Geschichte“ fort „Ich bin Hannoveranerin: Geschichte meiner Stadt wird dokumentiert“. Vielfach ist entsprechend der selbst erlebten Zeit, die das Museum als Geschichte präsentiert, der Verweis auf die eigene Person implizit. Diese Befragte geht kommunikativ umgekehrt vor, um von ihren Eindrücken zu berichten und formuliert: „Ich bin Hannoveranerin“. Dieser Formulierung ist dann der Verweis auf (auch) selbst erlebte Geschichte und eigene Erinnerungen im Museum implizit (neben dem ebenfalls kodierten Bezug zu lokaler Geschichte), selbst wenn die Zeitgeschichte in der Textpassage nicht als explizit ausgestellt hervorgehoben wird. Das HdG steht für die Besucher anderer Museen exemplarisch für das Konzept „Geschichte erleben“. Eine Befragte im MHU bezieht sich genau auf dieses Ausstellungskonzept, wenn sie zunächst frei mit „Geschichte des Hauses Hannover“ vergleicht und sich dann mit ihren Erläuterungen an den von ihm gewählten Listenvergleichen entlang hangelt: „Begegnung mit Vorfahren: Ich habe versucht, mich in die Situationen hineinzuversetzen. Große Erzählung: Es geht vom Mittelalter in die Neuzeit, ein großer Bogen wird geschlagen. Geschichtsunterricht: Neuzeitliche Themen. Erinnerung wird geweckt – erlebte Geschichte (Herv. VS), wie im HdG Bonn; Gemälde: Man sieht Kleidung, Gebrauchsgegenstände, Silber, Geschirr, Einrichtungen und kann auch den Hintergrund betrachten“.
Dem HdG-Konzept entsprechend erlaubt die Erinnerung an selbst erlebte Zeit immer wieder eine Verknüpfung der individuellen Ebene mit der kollektiven, die das Individuum dann zum sozialen Subjekt macht: „Als wenn mein Leben / meine Kindheit an mir vorbeigeht: Film, ‚Eisenhower‘, ich seh’ mich, wie ich dem damals zuwinkte. Habe viele Dinge selbst besessen, könnten von mir sein, Adenauer – als Bonnerin [sei er] quasi ein Bekannter von ihr“.
Als „Bonnerin“ verfügt diese HdG-Besucherin über eigene Erlebnisse mit den Größen der Politik, Erinnerungen, in denen die Politik in ihre eigenen Lebenszusammenhänge eindringt und ihre eigenen Erinnerungen kulturell verfestigt. Der Selbstthematisierung über eine Ortangabe ist, wie gerade in Bezug auf die „Hannoveranerin“ argumentiert, der Hinweis auf „selbst erlebte Zeit“ implizit. Die Besucherin ordnet so ihre individuelle Erinnerung in das soziale Gedächtnis ein und reproduziert in diesem Museum mit diesem Akt das kulturelle Gedächtnis. Wie es früher wirklich war „Hineinversetzen in die gute, alte Zeit: Wie der Tagesablauf war, weniger hektisch. Kultur: Lebensweise, Lebensumstände“, vergleicht eine MHU-Besucherin frei und sie erklärt „Ent-
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decken, wie es früher war (Herv. VS). Erzählung: Bilder sprechen. Geschichte: Habe mich an die Schulzeit erinnert und das ist dann wieder wach“.
Diese Textpassage enthält verschiedene Hinweise, denen zufolge sie in verschiedenen Subkategorien von Alltagsgeschichte zu verorten wäre. Es ist von „Lebensweise, Lebensumstände“ die Rede = Alltagsgeschichte. Der Rezeptionsmodus der Besucherin liegt in der Erinnerung, insofern könnte es sich um selbst erlebte Zeit handeln, wovon sie spricht. Dann aber wüsste die Befragte aus der eigenen Erinnerung, „wie es früher war“; dies ist laut diesem Textprotokoll aber gerade nicht der Fall. Sie entdeckt erst im Museum, wie es früher war, die Darstellung im Museum scheint ihr als authentischer oder umfangreicher zu gelten als die eigene Erinnerung („an die Schulzeit“). Die Schulzeit liefert ihr im Gegensatz zu dem Wissen, wie es früher war, anscheinend Erinnerungen aus zweiter Hand bzw. „höherer Ordnung“ (siehe den folgenden Abschnitt). Die kulturelle Semantik erscheint dann mitunter natürlicher als die eigene Erinnerung. Oder wie die Erläuterung des Vergleichs „Wie in einer Fernsehsendung, z. B. TV-History“ zeigt, gilt einem HdG-Besucher diese als „Ähnliche Darstellungsform – wie es war (Herv. VS). Ein Film, wo alles nacheinander ablief. Heimatfilme sind wie Wochenende, Krieg ist wie Bilder vom Alltag. Unser Leben ist in seinen Veränderungen dargestellt. Durch die Ansammlung von Dingen“.
Die spezifische Erläuterung entsteht darüber, dass sich der Befragte an den Vergleichen „Unser Leben: Ein Wechsel zwischen Alltag, Wochenenden und Festtagen“, „Wie in einer Fernsehsendung, z. B. TV-History“ und „Eine Ansammlung von Dingen, die der Strom der Geschichte ans Ufer gespült hat“ orientiert und erläuternd abarbeitet, um den Sinn dieser Äußerung zu konstruieren. Dem Besucher gilt die Darstellungsform im Museum als „wie es war“, interessanterweise in Abgrenzung dazu, dass er den Vergleich mit einer Fernsehsendung wählt. Im Kontrast der durch Vergleichswahl und Erläuterung im Textprotokoll entsteht lässt sich interpretativ herausarbeiten, dass er Geschichte gerade als nicht fiktiv versteht und seine Eindrücke im Museum als Darstellung „wie es war“ schätzt. Für andere Besucher ist die Authentizität und Originalität ihrer Aktualisierungen von Geschichte für ein Verstehen weniger wichtig, sie aktualisieren im Museum „Geschichtserinnerungen höherer Ordnung“. Geschichtserinnerungen höherer Ordnung Geschichte tritt häufig als Erinnerung an Erzählungen aus dem eigenen Leben auf (Geschichtsfilme und Familienerzählungen), dies lässt sich systemtheoretisch je nach Nähe des Beobachters zum Geschehen als Beobachtungen bzw. Erinnerungen höherer Ordnung benennen. Geschichte besteht solchen Eindrücken zufolge aus Er-
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innerungen höherer Ordnung: also Erinnerung an erzählte Erinnerungen an erzählte Erinnerungen. Angehörige jüngerer Generation erinnern sich nicht länger an die NS-Zeit selbst, sondern an ein „Ansehen von Dokumentationen“ oder an die Geschichtserzählungen der eigenen Mutter. In jeder Aktualisierung einer Erinnerung tritt neu Interpretiertes hinzu und dies verfestigt weiter eine erinnernde Vergegenwärtigung eines ursprünglichen Geschehens und aktualisiert diese zugleich. Der sachliche Gehalt des Begriffes „Geschichte“ ist dabei nicht länger von den Arten ihrer gängigen Präsentation zu trennen, insofern erscheint es nahe liegend hervorzuheben, dass Geschichte immer nur repräsentiert, also erzählt, auftritt. In diesem Sinne tritt in einer Textpassage im MHU (Lebens-)Geschichte geprägt von verschiedenen Repräsentationsarten auf: „Ein Film: Ich habe mich in die Schulzeit und ‚NS-Dokumentationen-Ansehen‘ zurückversetzt gefühlt“, wird frei von der Besucherin verglichen, um dann die Listenvergleiche „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“, „eine Entdeckungsreise“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ als Ausgangspunkt für die Beschreibung gewählt: „Wir haben uns mit meiner Mutter unterhalten, die über Erinnerung erzählt hat. Entdeckungsreise: Sie hat auch Neues erzählt. Blättern im Buch der Geschichte: Ich habe Vieles wieder erkannt“.
Familiengeschichte Eine Besucherin des MHU verbindet mit einer „Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ „halt diese historischen Sachen. Ich habe die Oma in diesem Kleid vor Augen...“ Historie wird im Museum derart als eigene Familiengeschichte aktualisiert, wenn die eigene Oma mit „diese historischen Sachen“ assoziiert oder gleichgesetzt wird, wie in diesem Textprotokoll. Selbst im DHM mit seinem großen historischen Zeitrahmen konstruieren die Besucher Erinnerungen, die einen Bezug zur eigenen Lebensgeschichte ermöglichen. Ein Besucher vergleicht seine Eindrücke frei mit „Bildern, die Erinnerungen hervorrufen: 1970er Jahre selbst erlebt, 1980er Jahre. Schild der Passkontrolle ruft Assoziationen zur eigenen Biographie hervor“. Der freie Vergleich würde eine Kodierung als selbst erlebte Zeit nahelegen, doch auch diese Textpassage hat verschiedene Sinndimensionen. Denn er wählt weiter „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“ als Listenvergleiche und stellt konträr dazu zugleich unmittelbar Bezüge zur eigenen Familiengeschichte her: „Blättern: Es sind Impressionen. Man kann keinen Überblick bekommen, wenn man die Geschichte nicht kennt. Urgroßmutter hat über I. Weltkrieg erzählt. Man setzt das in Beziehung zu Dingen, die man hier sieht. Man findet Erzählungen in größeren Zusammenhang eingeordnet. Bestätigung und Widersprüche suche ich hier zwischen beidem“.
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In dieser Textpassage wird deutlich, dass vielfach verschiedene Aktualisierungen von Erinnerung zugleich vorliegen müssen: Wenn die Urgroßmutter erzählt liegt natürlich eine Erinnerung höherer Ordnung an Familiengeschichte vor. Ist dieser Abgleich zwischen musealer Geschichtsrepräsentation und eigener Erinnerung allein als spezifische Art der Museumsrezeption in der entsprechenden Auswertungsdimension zu kodieren, kommt in dieser Äußerung zugleich zum Ausdruck, dass die eigene Familiengeschichte im Museum rekonstruiert wird. Jene Aussage, die die Nähe zur eigenen Familiengeschichte ausdrückt – „die Urgroßmutter hat erzählt“ – geht zugleich auf eine „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ von Erzählung zurück und wurde entsprechend mehrfach kodiert. Bei einem anderen DHM-Besucher wird an seiner Aussage ablesbar, dass er mit Geschichte sein eigenes Leben assoziiert, indem er beginnt, dem Interviewer Stationen seiner Lebens- oder Familiengeschichte zu erzählen, statt Eindrücke im Museum zu beschreiben: „III. Reich selber gut in Erinnerung geblieben: Vater (Herv. VS) von Gütersloh nach Eilsleben gewandert […] 1945 gefallen als Soldat. Verantwortung der Mutter (Herv. VS) […]Blick in die Geschichte zurück, woher kommen wir, warum sind wir so, wie wir geworden sind […] Wir sind mit der DDR verwandt (Herv. VS) und haben unsere Beziehungen. Rückblick auf vierzig Jahre Geschichte“.
Generationengeschichte ...ist eine weitere Art der Geschichtserzählung, wie sie vorrangig im HdG beobachtet wird. Ein Befragter vergleicht den Besuch im Museum in einer mehrfach kodierten Aussagen frei mit einem „Gespräch mit Freunden aus der gleichen Generation, die beginnen mit ‚Weißt Du noch...‘“ und er erläutert: „Prägnante Ereignisse des Lebens, die in Erinnerung gebracht werden, was man sich individuell im Leben gemerkt hat. Entscheidende historische Ereignisse werden bewusst gemacht. Gründe, warum was passiert ist. Das, was man im Familienkreis gehört hat, wird in Erinnerung gebracht und prägnante Erfahrungen werden wieder gelebt“.
In diesem Textprotokoll kommt genau das zum Ausdruck, was Mannheim der Definition seines Generationenbegriffes zugrunde legt. Eine Generation wird ihm zufolge als alle dreißig Jahre wechselnd angesetzt (Mannheim, 1970: 512). Zeitgenossenschaft ist geprägt durch ähnliche Erlebnisse; historische Konstellationen und synchron wahrgenommene Gegenwarten realisieren miteinander ins Verhältnis setzbare Perspektiven auf ein Geschehen in der historischen Zeit. Die in generationaler Zeitgenossenschaft realisierte soziale Nähe unterscheidet sich von der familiären, da sie weniger von einer erfahrungsgestärkten Vertrautheit als durch das synchrone Erleben derselben Geschehnisse in denselben Lebensphasen bestimmt wird:
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Ähnliche Ereignisse, z. B. die Studentenunruhen, prägten das Leben in ähnlicher Weise. Zudem ist anzumerken, dass Angehörige unterschiedlicher Altersgruppen demgegenüber zumeist eine abweichende Perspektive auf Geschichte zu haben scheinen (Heinrich, 2002). Ein Rentner erzählt im HdG: „Wir sind aus der Generation, mit der die Ausstellung beginnt, als Rentner kommt man mehr zum Nachdenken. Das finde ich wichtig, weil mich die gegenwärtige Politik beunruhigt. Es gibt so wenig charismatische Politiker. Man kann froh sein, dass es Dinge gibt, die sich in der Vergangenheit gelöst haben. Andererseits verstörend, dass es Beunruhigendes immer gegeben hat. Dinge, die man vergessen hatte. Wichtig, Raum zum Reflektieren zu haben“.
Dann wählt der ältere Herr „Eine Wiederbegegnung mit alten Bekannten, die man aus den Augen verloren hatte“ als Vergleich aus der Liste. Der Befragte thematisiert unmittelbar seinen spezifischen Blick auf die Geschichte, die er selbst als von seiner Generationenzugehörigkeit bestimmt sieht. Dies zeigt sich auch darin, wie er Geschichte thematisiert: In der Interpretation drängt sich dem Soziologen die Frage auf, was der Besucher denn mit charismatischen Politikern meint? Denkt man an Max Webers Begriff charismatischer Herrschaft, fällt einem sogleich mit Blick auf die Zeitgeschichte gerade Hitler als Charismatiker ein (z. B. Wehler, 2011: 2, 7, 11, 14; Kershaw, 2011: 13, 398, 400). Ein Führungsträger mit Autorität und Befehlsgewalt, der eben nicht einer rationalen Legitimation bedarf, sondern auf Vertrauen und Glauben beruht (Weber, 1972 [1921]: 122ff). Vielleicht bezieht sich der Befragte jedoch auf Adenauer oder Willy Brandt, über die die Ausstellung berichtet, zeigt er sich doch von der gegenwärtigen, nicht vergangenen Politik beunruhigt. Ein Angehöriger jüngerer Altersgruppen würde vielleicht in gesellschaftlichen Krisenzeiten nicht nach einer Führerfigur mit Charisma und entsprechender Autorität suchen; er würde vielleicht thematisieren, dass er sich einen Politiker wünsche, der bestimmte Probleme gelöst bekommt oder er würde über die Globalisierung klagen, die Politikern ihre Handlungsspielräume nehme oder ähnliches, statt wie der ältere Mann seine Sorge über aktuelle Entwicklungen an der Rede über Charismatiker aufzuhängen. Die Auswahl dessen, was der Rentner selektiv thematisiert, macht ihn als Angehörigen einer Generation, oder zumindest einer höheren Altersgruppe identifizierbar. Ein jüngerer Besucher hätte seine Besorgnis über politische Entwicklungen wohl anders formuliert. Dies rechtfertigt eine Kodierung als Generationengeschichte bzw. später in der Oberkategorie Alltagsgeschichte. Alltag versus Geschichte Der Unterschied zwischen Geschichte und Alltagsgeschichte wird von einigen Besuchern desselben Museums als Gegensatz oder Differenz verstanden. In einem
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Textprotokoll findet sich explizit die Abgrenzung zwischen Geschichte und Alltagsgeschichte eines MHU-Besuchers: „Durch Bilder von vergangenen Epochen. Durch den regionalen Bezug anders als Buch der Geschichte. Geschichtsbuch: Chronologische Auflistung historischer Ereignisse, während es im Museum anschaulicher ist und andere Assoziationen weckt. Wohnzimmer der 1950er Jahre, z. B.“.
Diese Erläuterung verwendet der Besucher, um die Vergleiche „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren von „ein Blättern im Buch der Geschichte“ voneinander abzugrenzen, die Erläuterung beruht demnach auf dem semantischen Unterschied der beiden Vergleiche. Durch den regionalen Bezug, so scheint diese Textpassage zu interpretieren, ist es anschaulicher, weckt, z. B. durch die Wohninstallationen, andere Assoziationen. Insofern ist im Museum „Alltag“ ausgestellt, der für den Besucher gerade etwas anderes als Geschichte ist. Im HdG erfolgt eine begriffliche Differenzierung zwischen Geschichte und dem im Museum Ausgestellten durch die Besucher noch auf eine andere Art und Weise. Geschichte ist das im Museum Dargestellte, Typische an der Historie, während Alltagsgeschichte mit den eigenen Erinnerungen gleichgesetzt wird: Gewählt wurde von dem Besucher in einem Fall der Vergleich „Unser Leben: Ein Wechsel zwischen Alltag, Wochenenden und Festtagen“ und er beschreibt daraufhin: „Auch Alltagsgeschichte, soviel Erinnerungen habe ich nicht. Politik hat Einfluss auf Alltag und Lebensverhältnisse. Typische Bilder aus Geschichtsbüchern bekannt“.
Auf diese Art und Weise wird die Präsentationstechnik, im Museum Typisches und Exemplarisches zur Veranschaulichung größerer Zusammenhänge auszuwählen, in ein Geschichtsverstehen integriert. Alltag bzw. Alltagsgeschichte ist insofern, den Eindrücken der Museumsbesucher zufolge, etwas über Lebensverhältnisse und nicht über Politik, die durch typische Bilder in Geschichtsbüchern bekannt ist. An dieser Passage ist zudem die Doppelkodierung als Alltagsgeschichte und Strukturation hervorzuheben. Menschen Historie wird im Weiteren von Besuchern als Erzählung des menschlichen Lebens verstanden. Der Besucher wählt: „eine Entdeckungsreise“ und „ein Geschichtsunterricht“: „Das ist ja fast das Gleiche. Einfach mal Sachen zu sehen, wie es damals war. Von den Menschen her (Herv. VS), einfach die Vergangenheit mal zu erleben“. Im Unterschied zum Geschichtsunterricht, so scheint die Erläuterung beider vergleiche zu interpretieren, wird die Geschichte im Museum „von den Menschen
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her“ erzählt. Die Bezüge zum Alltag leisten es, das die Museumsthemen zur Informationsverarbeitung auf Assoziationskodes (Treinen, 1981: 214f) treffen, die dem Ausgestellten jeweils persönliche Relevanz verleihen und zugleich zum Museumserlebnis beitragen. Dies scheint das Verstehen von Geschichte laut verschiedener Textpassagen zu prägen, die Alltagsgeschichte als „von den Menschen her“ erzählt charakterisieren. Das Konzept des HdG bietet explizit einen Zugang zu Geschichte, wie es ein Besucher auf den Punkt bringt, es sei „kein normales Museum, es geht um die Menschen – Gefühle. Mitgefühl mit den Menschen“. Ein emotionales Erleben von Geschichte wird dadurch möglich, dass Ausstellungselemente „Geschichten vom Alltag“ erzählt werden, wie sie dem eigenen Leben ähneln. Das HdG wird von einer Besucherin wahrgenommen als „ein dickes Buch, durch das man selbst geht“ wahrgenommen, was bedeutet, „Geschichte leibhaftig zu erleben, nicht zu Hause vor dem Buch zu sitzen, sondern selbst die Geschichte zu durchlaufen“. In dieser Äußerung geht es insofern um Menschen resp. selbst erlebte Zeit, als dass Geschichte im museum zu aktuell zu erlebenden Zeit wird. Die Besucherin erinnert sich jedoch nicht selbst, insofern geht es ihr um die eigene Person, das eigene Erleben von Geschichte. Es ließe sich sagen: es geht ihr um sie selbst als etwas Menschliches im Gegensatz oder semantischen Spannungsfeld zum Vergleich Buch. Die Pluralität von Perspektiven: Sozialer Rollentausch und Perspektivwechsel Mit dem Ausstellen von Alltagsgeschichte können Museen ihre Besucher in sozialem Rollentausch und Perspektivwechsel trainieren, dies wäre in der Auswertungsdimension „Rezeption“ zu kodieren. Mit dieser Rezeption korrespondiert jedoch eine Art des Ausstellens von Alltagsgeschichte, die eine solche Rezeption nahelegt. Dass es sich um eine Intention der Museen handeln wird, Geschichte so zu präsentieren, möchte ich mit Verweis auf die entsprechende Literatur plausibilisieren: Die Geschichtsdarstellung der Museen soll potenziell als Katalysator sozialer Transformationen dienen, wie in der Literatur zu Pädagogik und Ausrichtung der Häuser nachzulesen ist (z. B. Dodd, 2002: 32; Deetz, 1987, Kinard, 1985): Ein Besucher kann in Museen trainieren, sich potenziell in jeden Anderen in der Geschichte einzufühlen, insofern würden Museen die local community und die Integration Einzelner stärken. Die Eindrücke der Besucher belegen, dass die Besucher Geschichte mitunter in eben diesem Sinne als Option zum sozialen Rollentausch verstehen. Die ausgestellten Liebesbriefe der Sophie von Ahlen im MHU z. B. rücken die historischen Lebenswelten des Herrscherhauses in die Nähe zum Erleben des Besuchers, der vermutlich aus einer anderen sozialen Schicht stammt. Durch alltagsgeschichtliche Bezüge bekommt die Ausstellung Relevanz, und Geschichte hört auf, abstrakt, bloß Historie, zu sein. Ein Besucher des DHM betont, die „Reise durch die deutsche Geschichte“ werde im Museum „praktisch im Gegen-
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satz zu theoretisch“ und er kontrastiert sein Verständnis von Geschichte als Entwicklung mit dem Zusatz „das waren ja Menschen, also unsere Vorfahren“. In dieser Redewendung klingt aus dieser Äußerung beinahe Erstaunen heraus, dass Geschichte etwas mit Menschen zu tun hat. In dieser Erläuterung steht aber „Menschen“ für ihm erst einmal zeitlich fremde Personen, deren Perspektive er im Museum zu übernehmen lernt, wie die bemerkenswerte Formulierung „das waren ja Menschen“ plausibel heraus zu interpretieren erlaubt. Die Besonderheit der Formulierung verweist auf ein Erstaunen, dass es sich bei Geschichte um Menschen handelt, dass es bei Geschichte um Menschen geht gilt dem Sprecher gerade nicht als selbstverständlich. Ein befragter Besucher des DHM formuliert frei: „Empfehlung: Abschnitte anschauen, thematische Schwerpunktbildung vorab nötig. Feld, auf dem unterschiedliche Blumen sind: sehr farbenfrohes Bild. Im Kontext von bunt, vielfältig, ausdrucksstark…“. Zugleich ist für diesen Besucher entscheidend, dass „auch einfaches Leben […] dargestellt wurde, nicht nur die der ‚Großen Persönlichkeiten‘“.
Die Interpretation, dass die Darstellung von Geschichte als (einfaches) Leben der Geschichtsrepräsentation Lebendigkeit verleiht, erscheint aufgrund dieser Aussage angemessen. Die Kontrastierung von „einfaches Leben“ und große Persönlichkeiten in der Textpassage legt die Interpretation nahe, dass es diesem Befragten nicht allein um Geschichte als „Leben“ geht, sondern um Geschichte als Option zum sozialen Rollentausch aufgrund einer Pluralität von Perspektiven. Der von ihm formulierte freie Vergleich mit dem Blumenfeld zeigt aber, dass es sich um im Museum dargestellte Perspektiven handelt, die den Besucher beeindrucken. Auch im MHU tritt deutlich hervor, dass Museen vielfach im Hinblick auf die in der Geschichtserzählung enthaltenen sozialen Unterschiede hin gelesen werden und die Sympathien und Identifikationen über einen alltagsgeschichtlichen Bezug entstehen. In einer bereits oben zitierten, mehrfach kodierten Textpassage tritt dieser Unterschied der Geschichtsdarstellung über die Wendung auf: „Ernst August als Despot hin zur Demokratie […]. Ich fühle mich mehr den hörigen Bauern zugehörig“. Eine Besucherin des MHU ist es, die diesen sozialen Unterschied im Museum als eine Pluralität von Perspektiven präsentiert zusammenfasst: „Es ist vielfältig hier, die unterschiedlichen zeitlichen Epochen – vom Mittelalter bis zur Neuzeit – sind ausgestellt. Vielfalt der Lebensformen, Pluralität, Entwicklung, geistig-materiell.“
Sie fasst damit das Gesehene im Sinne der Ausstellungsintention zusammen. In diesem Sinne stiften die Museen über ihre Geschichten ebenso einen Zugang zu einer kollektiven, da zumindest im Museum geteilten Geschichte des kulturellen Gedächtnisses. Eine Besucherin unternimmt im MHU eine
284 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN „Kleine Reise: Reise in entferntere Geschichte und andere Gesellschaftsstrukturen. Die Schicht, der es gut ging. Man ist zwar nicht in anderem Land, sondern im eigenen. Zeitsprünge, wo man über die Eltern nachdenken kann. Wurzeln des Bodens, in dem man gründet und später auch der eigene Boden.“
Die Museen leisten es insofern, soziale Unterschiede durch eine „Reise in [...] andere Gesellschaftsstrukturen“ zugunsten einer Zusammenführung einzelner Geschichten zu einer dann geteilten kollektiven Geschichte zusammenzuführen. Insofern lässt sich am Textmaterial empirisch die Rolle, die Museen für soziale Integration spielen, nachzeichnen. Ein Befragter erläutert, was vermutlich für viele Besucher im JMB gilt: „Ich kenne Juden nicht besonders gut und durch den Besuch habe ich es verstehen gelernt“. Musen rücken das zeitlich und kulturell Fremde näher heran. Im JMB bleibt dabei empirisch oft unsicher, wie „Betroffenheit“ konstruiert wird und wer „wir“ sind, wenn ein anderer Besucher beschreibt: „Viel Vergangenheit und es hat uns in der Geschichte sehr betroffen. Es wird im Museum etwas präsentiert, es werden dafür unterschiedliche Medien genutzt“. Allein im JMB bleibt in der Rekonstruktion der Textmaterialien unklar, entlang welcher Scheidelinien sich ein „Wir“ herausschält. Ein Museum bindet seine Besucher ein, und sie nehmen dann ihren Eindrücken zufolge selbst teil an der Geschichte. Dafür nutzt ein Besucher des HdG den freien Vergleich „Zoo“, wie bereits oben zitiert und dementsprechend mehrfach kodiert: „Zoo: auch wenn keine räumliche Trennung da war, gab es Sprünge zwischen den Jahrzehnten und Themen. Zoo: In einem Zoo sind mehrere Tiergehege, man geht und wird mit eingebunden, man ist oder wird selber Teil davon. Einiges kennt man schon und erlebt es ausführlicher und anschaulicher. Geschichte zum Anfassen wichtig, was hier noch zu wenig ist“.
Der Zoo bringt in übertragenem Sinne die verschiedenen sozialen „Tierchen“ unter ein Dach, das Museum vereinigt die verschiedenen Geschichten der Vielen zu der einen deutschen Geschichte. „was man im Alltag vergisst und verdrängt“ Mit einem weiteren an der Grenze des semantischen Feldes „Alltagsgeschichte“ zu verortenden Textprotokoll zum frei gewählten Vergleich „Erinnerungen an unsere Vergangenheit, die man nicht vergessen sollte“ reflektiert eine Besucherin: „Es dürfte keinen Krieg mehr geben, es ist viel Leid entstanden. Eher negative Erinnerungen. Armut, es wurde einem hier bewusst, was man im Alltag vergisst oder verdrängt“. „Unsere Vergangenheit“ ist sicherlich ein Indikator für die selbst erlebte Zeit der Besucherin. Als negative Erinnerung an ein Vergessen im Alltag kann diese
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Textpassage ebenfalls der Kategorie zugeordnet werden, da hier zudem ein Verständnis von Geschichte als Erinnerung an das eigene Leben auftritt. „Alltag“ scheint in dieser Aussage anders, nicht als Alltagsgeschichte, gemeint zu sein. Als eine Beschreibung von Lebenspraxis, nicht als Begriff verweist „Alltag“ dennoch auf eine spezifische Geschichtsdeutung. Kontrapräsentische Alterität/(zeitliche) Fremdheit „...wie wenn man mit einem Fernglas guckt...“. Mitunter wird die erzählte Alltagsgeschichte als fremd oder befremdend empfunden, und der Eindruck entsteht, die zeitliche Fremdheit schaffe erst das Interesse für Geschichte – die museale Erinnerung ist dann kontrapräsentisch (Assmann, 1999c: 30) und erzeugt Neugier über ihr schlichtes „Anders-Sein“: „Interessant und schöner früher, wie die Leute sich gekleidet haben. Früher war es vielseitiger, ist überwältigend“, erläutert eine MHU-Besucherin zu „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“, „ein Fest in historischen Kostümen“ und „Ein riesiges Gemälde, auf dem viele verschiedene Geschichten dargestellt werden“. Ein anderer Besucher beschreibt dies bildhafter, ausgehend von den Listenvergleichen „eine Entdeckungsreise“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“: „Wie wenn man mit einem Fernglas guckt und sieht, wie es war, statt in die Ferne guckt man in die Vergangenheit.“
Fremdheit lässt sich, wie man an dieser Äußerung sieht, sowohl räumlich als auch zeitlich konstruieren. Und in diesem Sinne beschreiben einige Besucher (im MHU, aber auch in den anderen Häusern) ihren Museumsbesuch wie eine Zeitreise: „Ausflug: In eine Zeit, die zurückliegt, man versetzt sich in die Zeit, wie würde ich es heute machen, in der Freizeit in eine andere Rolle schlüpfen“. Fremdes wird im Museum zum Vertrauten: „Spaziergang: Man kann sich vorstellen, durch den Rittersaal zu gehen, hineinversetzen. Assoziationen, obwohl man es nicht erlebt hat. Puzzle: in Zusammenhang bringen, in ‚Reihung‘ bringen“.
In der Äußerung einer anderen Besucherin scheint es so, als wenn gerade eine Spannung zwischen Nähe und Fremdheit für sie ein Kuriosum schafft, welches für sie die im Museum ausgestellte Geschichte prägt: „Offener Raum, der eine eigene Welt ist und sich in Hannover befindet. Das bezieht sich auf die Architektur. Hat nichts Miefiges“, formuliert sie im freien Vergleich und wählt „Ein Einblick in verschlossene und fremde Welten“ sowie „ein Blättern im Buch der Geschichte“ von der Liste:
286 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN „Das sind ja auch verschlossene und fremde Welten. Ein Begräbnis ist ja sehr nah und trotzdem immer für einen verschlossen. Historisches eher kurios – Begräbnis wird als verschlüsselt gehandelt.“
Damit bezieht sich die Befragte auf die Wechselausstellung zur Totenkultur, die zur Zeit der Befragung im MHU lief. „Blättern im Buch der Geschichte: Oben die Ausstellung. Einblicke unten. Aber auch gemischt, auch Verschlossenes in der Geschichte“. Diese Beschreibung rechtfertigt, nebenbei gesagt, unter kuriosen Exponaten Objekte zu verstehen, die Befremden und Neugier erzeugen, indem sie widersprüchliche Sinnbezüge gleichzeitig erlauben (siehe Abschnitt 6.3). Bei einer HdG-Besucherin klingt „Reisen in der Zeit“ nach einer aktiven Tätigkeit: „Wie wenn man die Zeit zurückdreht und durch’s Leben marschiert. Reise in die Vergangenheit / Zukunft, langsam kommt alles wieder hoch, wird wieder an Land gespült. Dinge, die weggespült waren“.
Allgemein ist ein breites Interesse an Menschen und ihrem Leben in vergangenen Zeiten vorhanden. Der Alltag dieser Menschen wird den in den Textprotokollen formulierten Eindrücken zufolge in einem unterschiedlichen Maße in sozialer Nähe oder zeitlicher, räumlicher oder kultureller Ferne bzw. Fremdheit von den Besuchern gesehen. Insofern erscheint der Wandel hin zu einer stärker subjektiv ansetzenden Museologie immer noch aussichtsreich, um mehr Besucher anzuziehen. Diese Kategorie war zunächst, da sich sehr viele Textprotokolle auf diese semantische Konfiguration bezogen, in einige Subkategorien differenzierter gefasst. Die übergreifende Kategorie Alltagsgeschichte, Geschichte als Geschichten wurde dann mit sinnverwandten Textpassagen, die zunächst in einer als „Zeitgenossenschaft, Familien- und Generationengeschichte“ benannten Subkategorie gebündelt waren, zusammengefasst. Diese beinhaltete auch „selbst erlebte Geschichte“ sowie Aussagen, die zunächst als „Fremde Vergangenheit“ (vor allem im JMB) interpretiert und eingeordnet wurden. Die Stichworte über die sich die semantische Konfiguration dieser Kategorie zusammenfassen lässt dienten im Zuge des Auswertungsprozesses zwischenzeitlich z. T. als Subkategorien, die aber letztendlich unter der Überschrift Alltagsgeschichte zusammengefasst wurden. Diese sind: • • • • •
Alltagsgeschichte; Geschichte als Geschichten; Selbst erlebte Zeit/Erinnerungen; Wie es früher wirklich war...; Geschichtserinnerungen höherer Ordnung;
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Familiengeschichte; Generationengeschichte; Alltag versus Geschichte; Menschen; Die Pluralität von Perspektiven: Sozialer Rollentausch und Perspektivwechsel; „...was man im Alltag vergisst und verdrängt“; Kontrapräsentische Alterität/(zeitliche) Fremdheit.
All diese Sinndimensionen als Facetten einer Geschichtserzählung als Alltagsgeschichte lassen sich aber unter dieser Bezeichnung zusammenfassen. Dem vorgestellten Textmaterial ist semantisch Gemeinsam, auf die eine oder andere Art, synchron oder diachron, durch Bezug auf Eigenes und Fremdes soziale und lebensweltliche Nähe herzustellen. Geschichte wird dabei aufgrund ihres Themas, von Menschen, ihrem Leben und ihren jeweiligen Perspektiven zu handeln, von den Besuchern verstanden. Geschichte als Geschichten ist als das Darstellungselement gemeint, Alltagsgeschichte als spezifische Vorstellung von Geschichte gefasst. Im Weiteren wird, ausgehend von der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“, von einer Geschichtsdeutung, die auf „Alltagsgeschichte, Geschichte als Geschichten“ zurückgeht, die Rede sein. 5.2.6 Räumlich-territoriale Geschichte Räumlich-territoriale Geschichte wurde weniger im Vergleich innerhalb des Textmaterials rekonstruiert, sondern zumeist schlicht den Textprotokollen entnommen: allein die Nennungen eines räumlich-territorialen Bezugs reichte aus, um eine Aussage als auf eine solche Geschichtsdeutung rekurrierend zu kodieren. Diese Kategorie enthält sowohl Textpassagen mit Bezügen zu Europa, zu Deutschland wie zu Regionen, Städten und Lokalitäten. Um diese Kategorie einzuführen zitiere ich allein die für eine derartige Kategorisierung und Kodierung relevanten Textauszüge, gegliedert nach Museen: Im MHU tritt handelt es sich seltener um Deutschland, als um das Hannoveraner (z. B. die Grafschaft, aber auch die Stadt) und niedersächsische Territorium und Namen anderer Städte wie Braunschweig und Länder (z. B. Bayern, Brandenburg) werden genannt, oder abstrakter ist von einem regionalen Bezug und nationalen Gefühlen die Rede: „...Abriss der Geschichte Deutschlands oder Hannovers...“; „freier Vergleich: Stadtgeschichte […] Erläuterung: […] Ich komme aus Braunschweig“; „...Facetten der Geschichte Hannovers dargestellt...“; „...es ist Hannover...“; Durch den regionalen Bezug ...“; „...nicht nur die brandenburgische Geschichte (=Heimat); […] Geschichte ehemaliger Grafschaften etc.“;
288 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN „... Großeltern waren in Hannover...“; „...wie […] Hannover gewesen ist...“; „alles ist neu für mich in Hannover“; „...woher wir kommen, das umfasst nicht nur die Familie, sondern auch die Region...“, „...Abriss der Hannoveraner Historie...“; „...das Café Kröpke, den Einigplatz kenne ich nur als Ruine...“.
Als freier Vergleich: „gelungene Zusammenfassung der Hannoveraner Geschichte“, „Abriss über das Leben in Hannover“, „Geschichte des Landes“; „Die Geschichte dieser Stadt im Vergleich zu Bremen“; „offener Raum, der eine eigene Welt ist & sich in Hannover befindet“; „Sparziergang durch die Geschichte Hannovers“; „Stadtgeschichte“; „Durch die Geschichte von Hannover gehen“; „...Verlauf der Stadtentwicklung...“; „...verbindet mich als Hannoveranerin mit der Stadt...“; „Spiegel der unterschiedlichen Zeiten Hannovers“.
Im HdG werden räumlich-territoriale Bezüge kaum genannt: Dabei wird häufig auf deutsche Geschichte Bezug genommen, aber auch Holland und Polen tauchen in einem Vergleichen in den Nennungen auf, eine Besucherin bezeichnet sich als Auslandsdeutsche, Bonn wird als Bezug auf die Stadt genannt: „...habe mich für deutsche Geschichte interessiert...“; „...wie Deutschland gelernt hat, auf eigenen Füßen zu stehen...“; „Deutschland ist wichtig, alter Feind (von Holland, der Interviewer.)...“; „...Adenauer – als Bonnerin [sei er] quasi ein Bekannter von ihr...“; „...Auslandsdeutsche: deutsche Geschichte mit geographischem und zeitlichem Abstand...“; „..der Befragte ist oft beruflich im Osten (Polen) und hier finden Entwicklung die in Deutschland vor 10 oder 20 Jahren stattgefunden haben jetzt statt...“.
Als freier Vergleich: „...Zusammenfassung der deutschen Geschichte...“; „...Parcours durch deutsch-deutsche Geschichte...“; „Zeitreise mit der BRD...“; „...Bonner Kindheit...“; „...Geschichte von zwei Deutschlands...“.
Im JMB erfolgt z. B. 12 Mal der Bezug auf jüdische Geschichte in Deutschland und deutsch-jüdische Geschichte oder Kultur. „Jüdische Geschichte in Deutschland...“; „...Mit dem Holocaust ist viel verloren gegangen an jüdischem Leben in Deutschland...“; „...neuer Zugang zur deutsch/jüdischen Geschichte...“; „...heißt 2000 Jahre deutsch-jüdische Geschichte, aber fängt im Mittelalter an..“; „...Gefühl des Führens und alles mit Deutschland verbunden...“; „...Verlust der Künstler und Wirtschaftler/jüdische Bürger – davon hat sich Deutschland bis heute nicht erholt...“; „...viele Juden
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gingen aus Deutschland weg...“; „...weil wieder deutlich die 2000 jährige Geschichte der Juden in Deutschland beschrieben wird“.
Als freier Vergleich: „...Erfährt was über jüdische Kultur, wie wichtig die Juden für die dt. Gesellschaft waren...“; „Ich würde es mit dem KZ Westerborg in den Niederlanden vergleichen“; „...viele Völker aus anderen Ländern interessieren sich für deutsch/jüdische Geschichte...“.
Im DHM werden räumlich-territoriale Bezüge konstruiert: Europäische Geschichte wird mehrfach genannt, deutsche Geschichte mehrfach erwähnt, von einer „kleindeutschen Lösung“ ist die Rede; auf die Entstehung des Nationalstaates wird Bezug genommen, die DDR und das Heilige römische Reich deutscher Nationen erwähnt: „...Europäische Geschichte...“; „...Darstellung der europäischen Geschichte.“; „...Heilige römische Reich...“; „...im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern...“; „...zum Beispiel die DDR...“; „...zusammenhängende Darstellung über die deutsche und europäische Geschichte...“; „... Die Deutsche Geschichte wird hier dargestellt...“; „...der deutschen und europäischen Geschichte...“; „...Eher eine kleindeutsche Lösung, ohne Österreich...“; „...kurz durch die deutsche Geschichte...“; „...Einblick in die deutsche Geschichte...“; „...Führung durch Europa...“.
Als freier Vergleich: „...europäischer Kontext: Deutschland verwoben mit Europa.“; „...Reise durch die deutsche Geschichte...“; „...Rundgang durch die deutsche Geschichte...“; „...Rundblick über die europäische Geschichte ab dem 13. Jahrhundert“; „...Reise durch Deutschland...“.
Räumlich-territoriale Geschichte meint also Geschichte mit Bezügen zu Lokalitäten, Städten, Regionen, Deutschland, anderen Nationen oder auch zu Europa. Da dies trotzdem auch einfach inhaltsanalytisch auszuwerten gewesen wäre und keiner komplexeren Auswertungsmethode bedarf, wurde dieser Arbeitsschritt durch Textauszüge, also verkürzt und knapp dargestellt. 5.2.7 Strukturation Der Begriff der „Strukturation“ wurde von Giddens entwickelt, um gängige Gegensätze in der soziologischen Theorie zu überwinden, insbesondere die zwischen subjektivistischen, objektivistischen (und voluntaristischen) Ansätzen. Strukturation bezeichnet die Beziehung konkreter Handlungen zu Institutionen:
290 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN „According to the notion of duality of structure, the structural properties of social systems are both medium and outcome of the practices they recursively organize. Structure is not ‘external’ to individuals: as memory traces, and as instantiated in social practices, it is in a certain sense more ‘internal’ than exterior to their activities ...“ (Giddens, 1984: 25).
Soziale Strukturen, soziale Systeme oder soziale Ordnung ermöglichen konkretes Handeln, das andererseits rekursiv wiederum diese Strukturen reproduziert. Dynamisch erzeugt sich die Dualität von Struktur und Handlung durch soziale Praxis rekursiv: „In and through their activities agents reproduce the constitutions that make these activities possible“(Giddens, 1984: 2).
Auch Geschichte wird in verschiedener Hinsicht von den Besuchern laut dem Textmaterial als sich wechselseitig reproduzierende Dualität verstanden. Mit dieser Definition lässt sich das im Textmaterial auftretende empirische Phänomene fassen, dass Geschichte von den Besuchern semantisch als rekursive Wechselwirkung zwischen sozialer Struktur und individuellem Leben, Politik und Lebenswelt, Ost und West, Strukturgeschichte und Ereignisgeschichte gefasst wird. In diesem Abschnitt werde ich so vorgehen, erst Beispiele aus dem Textmaterial des HdG zur Konstitution der Kategorie zu zitieren und diese dann in einem zweiten Schritt unter derselben Überschrift mit Ausschnitten aus dem Textmaterial aus den anderen Museen zu kontrastieren, um die Breite der semantischen Konfiguration in der Kategorie „Strukturation“ zu illustrieren. Denn insbesondere das Ausstellungskonzept des HdG vereinigt in sich einige Dualitäten, um darüber eine Integration verschiedener Perspektiven – z. B. Ost und West – darzustellen. Zugleich nutzt die Ausstellung Bezüge zu Politik und Lebenswelt, um deutsche Zeitgeschichte zu erzählen. Insofern legte gerade das Textmaterial der ersten Vergleichsfrage im HdG empirisch nahe, einige Textpassagen als auf eine Semantik von Strukturation zurückgehend zu interpretieren. Es finden sich dabei die folgenden Grundmuster: Strukturgeschichte – Ereignisgeschichte „Grundmuster: Die Dinge vertiefen die historischen Eindrücke. Anordnung wie ein Buch, nur eine Auswahl von Dingen zusätzlich zur Struktur der Geschichte (Herv. VS). Man kann Exkurse machen, Kleinigkeiten berücksichtigen. Die Grundstruktur ist wie im Geschichtsbuch und über die Dinge lässt sich das Bild von Geschichte vertiefen“, erläutert ein Besucher des HdG. Der freie Vergleich „Das man alles selber erlebt hat: Zeitreise“ wird von einem Besucher mit „... eigene Erlebnisse des Befragten, […] die politische Geschichte und die Konsumgüter werden vom Befragten wahrgenommen, Ausstellung erlaubt den Vergleich mit anderen Län-
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dern: […] Entwicklungen, die in Deutschland vor 10 oder 20 Jahren stattgefunden haben“ erläutert.
Zur theoretischen Begründung des Begriffspaares Struktur- und Ereignisgeschichte, das der historischen Semantik entstammt, ist zu sagen, dass Ereignisse dadurch definiert sind, dass sie als einmalig gelten, während sich Strukturen wiederholen: „Die historische Semantologie zeigt, dass jeder Begriff, der in eine Erzählung oder Darstellung eingeht – etwa Staat, Demokratie, Armee, Partei, um nur Allgemeinbegriffe zu nennen –, Zusammenhänge einsichtig macht, indem sie gerade nicht auf ihre Einmaligkeit heruntergestimmt werden“ (Koselleck, 1973: 568).
Auf die Zeitlichkeit der Historie im Hinblick auf Einmaligkeit und Wiederholbarkeit bezogen bedeutet dies Verhältnis von Ereignis und Struktur: „So zeigt die Historie die Grenzen möglicher Andersartigkeit unserer Zukunft, ohne deshalb auf die strukturalen Bedingungen möglicher Wiederholbarkeit verzichten zu können“ (Koselleck, 1973: 571).
Politik – Lebenswelt Allein durch Auszüge aus dem HdG-Textmaterial lässt sich zeigen, wie die Eindrücke von der Dualität aus Politik und Lebenswelt im Museum sich in den Schilderungen der Eindrücke der Besucher niederschlagen: „...Politik hat Einfluss auf Alltag und Lebensverhältnisse (Herv. VS)...“, frei gewählter Vergleich „...Mischung aus Alltag und Politik (Herv. VS): Adenauerzeit – Privates und Politisches steht ohne Wertung nebeneinander...“, „Geschichte hat mich interessiert, auch das, was um die Politik herum passiert ist.“, „...so viel, aus Politik und alles Mögliche zusammen. […] wie Menschen gelebt haben, ist dargestellt“. „Erinnerung aus der Kindheit, Haushaltsgeräte, Politiker werden erkannt, eigene Geschichte wird mit der Politik verbunden (Herv. VS)“.
Ost – West „Zusammenfassung wichtiger Eckpunkte in der Geschichte von Gesamtdeutschland […] Teilung war grundsätzlich, hat alle Lebensbereiche und Sprachgewohnheiten durchdrungen Änderung nach Wiedervereinigung“.
Historische Entwicklung – (eigenes) Leben „das eigene Leben wird durch die Ausstellung wiedergegeben, Schwimmen mit der Entwicklung“, „...Erleben der früheren Zeit: Alltag und Fortschritt...“, „Im Fluss ist unterschwellig und nicht sichtbar der Aufruhr enthalten, Flussbiegungen sind die Entscheidungen, Quelle sind Staatsgründungen, Gegenstände die angespült werden sind nicht notwendig angespült worden, hätten auch andere sein können...“.
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Auch im MHU finden sich ähnliche kommunikative Antwortmuster in den Textprotokollen, auch wenn die Besucher nicht ähnlich klar wie im HdG diejenigen Begriffe verwenden, die ihr Geschichtsdeutung in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ leicht als Strukturation kategorisieren lassen. Die bereits erfolgten Auswertungen vereinfachten die Zuordnung: Historische Entwicklung – (eigenes) Leben „Streifzug durch die Geschichte; Entwicklung vom Ackerbau zur Residenzstadt: Früher hatte man den Schweinestall noch direkt in der Stadt – hin zum König von England. […] Ich fühle mich mehr den hörigen Bauern zugehörig […]“, „Vorfahren: Das ist Geschichte, was war; wie die Menschen gelebt haben. Geschichte: […] Wenn man alles Revue passieren lässt, ist es ein großes Gemälde. Wenn man die Augen schließt und es sich vorstellt. Gärten als Beherrschung“.
Politik – Lebenswelt „Welfenhaus, hier kann man Geräte sehen, wie man früher gelebt hat, dass kann die Schwester in Ostfriesland nicht. Rückblende für mich selbst, zuhause Wasser aus Torfbrunnen geholt, in Zinkbadewanne gebadet, Wäschewaschen mit Regenwasser, geschlafen in Butzen, einem Schlafschrank mit Stroh und Bettlaken“, „Leute haben viel erlebt, haben viel erreicht im Leben, das ist Geschichte, das bleibt für mich Geschichte, […] keine Schlacht hat etwas gebracht“, „Zusammenhang zwischen NS und meiner Familiengeschichte“.
Der Vergleich „Geschichtsunterricht“ wird vielfach genutzt, um eine Dualität aus Geschichte und eigenem Leben herzustellen. Eine Textpassage aus dem MHUTextmaterial nimmt explizit Rekurs auf das HdG: „Geschichte des Hauses Hannover, Begegnung mit Vorfahren: Ich habe versucht, mich in die Situationen hineinzuversetzen, große Erzählung: Es geht vom Mittelalter in die Neuzeit, ein großer Bogen wird geschlagen; Geschichtsunterricht: Neuzeitliche Themen […] Erlebte Geschichte, wie im HdG Bonn. Gemälde: Man sieht Kleidung, Gebrauchsgegenstände, Silber, Geschirr, Einrichtungen und kann auch den Hintergrund betrachten“.
Strukturgeschichte – Ereignisgeschichte „‚Geschichtsbild‘ ist wie im Netz, in den Ereignissen drin hängen, das wird ergänzt wie ein Puzzle“.
Neu an den Textprotokollen im MHU erscheint, dass eine Dualität aus menschlichem Leben und Chronologie benannt wird, eine weitere Variante, Geschichte als Strukturation zu thematisieren. Geschichte entsteht durch die Einbettung der Erzählung über menschliches Leben in eine chronologische Struktur.
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„Vorfahren: Das ist Geschichte, was war; wie die Menschen gelebt haben. Geschichte: Durch die Teile der Ausstellung kann man eintauchen in die Geschichte: Wer, Was war, wann und wie sie gelebt haben“.
Auch im DHM lässt sich eine soziale Praxis der Strukturation zwischen Politik und Lebenswelt rekonstruieren: „...Buch von Honecker liegt unten im Regal. Bin leidenschaftlicher Leser von Büchern...“, „...auch einfaches Leben wurde dargestellt; nicht nur die der ‚Großen Persönlichkeiten‘“, „Für diese Weltgeschehnisse, Menschen und deren Alltag habe ich mich immer interessiert.“, „...es ist wie eine große Erzählung, weil es so detailliert und auch persönlich ist […]“, „Wie die Geschichte abläuft: Kapitel Soziales, Politische Verwaltung, Kultur, Kunst, Militaria“, „es ist keine Ahnentafel, weil es mehrere Ebenen sind und viele Parallelen“, „... Bauern, Friedrich der Große, Napoleon (Herv. VS) ...“, „...(Menschen) zu diesen Epochen interessieren schon. Die Rolle Metternichs werde in der Geschichtsschreibung anders gesehen, als Befragter sie sieht: ‚offizielle Sicht: Polizeistaat und Unterdrückung‘“.
Zudem findet hier eine Integration zwischen Ost- und West-Deutschland statt: „Als Kind war mein Unterricht zu isoliert. Hier wurden Themen aufgegriffen, die in meinem Unterricht früher fehlten, zum Beispiel die DDR und die NS-Zeit. Da haben sich die Lehrer selber nicht drangetraut. Hier habe ich das Gefühl, dass Ost und West eine gemeinsame Geschichte (Herv. VS) habe“.
Auch hier finden sich Aussagen, die eine Dualität aus Ereignissen und Geschichte bzw. Chronologie aufgreifen oder Geschichte und Lebenswelt: „Geschichtsbuch in Epochen gegliedert; Ereignisse“, „... Epochen und Personen ...“, „chronologische Reihenfolge, bei Erzählung“, „man schaut durch die Fenster in die Geschichte (politische Geschichte): ‚Eine große Erzählung‘, da eine gewisse Dramaturgie vorliegt, jedes Ereignis läuft auf einen Schlusspunkt zu“.
Bemerkenswert im DHM ist, dass die Besucher, entsprechend dem Konzept des Hauses, eine Strukturation darin sehen, wie die Ausstellung die deutsche Geschichte zu einer europäischen „umschreibt“: „Ich beschäftige mich mit der Geschichte. Man blättert und erkennt: ‚Ach ja, so hängt das zusammen.‘ Darstellung der europäischen Geschichte.“, „Politik, Lebensumstände, europäischer Kontext: Deutschland verwoben mit Europa (Herv. VS)“, „...Es war eine zusammenhängende Darstellung über die deutsche und europäische Geschichte. Ein Zusammenbinden war anhand dessen möglich ...“.
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In einer historischen Ausstellung gelingt generell, und insbesondere im Nationalmuseum DHM, durch die Objekte persönliche Erlebnisse bzw. Geschichtserleben mit Bezügen zu Politik und Nationalstaat zu strukturieren: „Sinnliches Erlebnis hier im Gegensatz zum Buch: Eher Geschichtsbuch zum Anfassen. Entstehung des Nationalstaats und dessen Ausbildung wird erzählt“, „Darstellung der deutschen Geschichte, der Inhalt bzw. das Ziel. Was hinzukam, war die bildliche Darstellung“, „anschauliches Bildmaterial, Gegenstände […] aufgrund des chronologischen Aufbaus der Abfolge“.
Auch im JMB zeigen sich analoge kommunikative Antwortmuster im Textmaterial. Das JMB-Besuchspublikum zeichnet sich besonders dadurch aus, wie der Unterschied zwischen Architektur und Bespielung der Ausstellung benutzt wird, um ein Strukturmuster in Geschichte aufzuzeigen: „Auf eine architektonisch einmalige Weise wird ein historisch einmaliger Vorgang sehr eindrücklich vermittelt. Ich spüre die Kluft zwischen der musealen Darstellung der Geschichte einerseits und der eigenen Verwicklung in diese Geschichte. […] Glückliche Generation der Spätgeborenen oder politische Verantwortung“.
So kommt es im JMB dazu, dass die Unterschiede zwischen „Ereignis-/Strukturgeschichte“ und „Politik und Lebenswelt“ ineinander verschwimmen. In den faktischen Aussagen wird deutlich, dass die hier angestrebte rekonstruktive Interpretation plausibel ist, die Aussagen durch das Vorliegen einer hinter den konkreten Aussagen stehenden Strukturationsbegriff zu erklären. Zeit resp. Chronologie wird in dem schon für Chronologie angeführten, also mehrfachkodierten Zitat mit Geschichte gleichgesetzt und mit dem Holocaust als Ereignis kontrastiert: „... Es ist nicht reduziert auf den Holocaust, sondern umfasst die ganze Zeit ...“, „... nicht nur Holocaust; viele Aspekte...“.
Die semantische Konfiguration der in der Kategorie Strukturation gebündelten Textpassagen erstreckt sich demnach über verschiedene Dualitäten: • • • •
Strukturgeschichte – Ereignisgeschichte; Politik – Lebenswelt; Ost – West; Historische Entwicklung – (eigenes) Leben.
Geschichte wird, so die weiterführende Interpretation, von den Besuchern semantisch als sich wechselseitig reproduzierende Dualität gedeutet.
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Angesichts der Textprotokolle, die diese Geschichtsdeutung in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ als soziale Praxis der Strukturation rekonstruierbar machen, wird deutlich, dass das museumspädagogische Inszenierungskonzept von Museen, Politik und Lebenswelt zu verknüpfen (vgl. Abb. 2.3.6.1), durch einige Besucher entsprechend gelesen wird. Es zeigt sich, dass Museen, zumindest der Deutungspraxis der hier zitierten Textpassage folgend, einer sozialen Praxis der Strukturation dienen. 5.2.8 Leiden in und an erratischer Diskontinuität Einige Zeiten der Geschichte werden als leidvoll empfunden. Das gilt insbesondere für Phasen, die durch Krieg oder die Vernichtung der Juden geprägt sind: Geschichte thematisiert hier das Leiden, das in einer bestimmten Zeit stattfand. Es kann in einer Geschichte über Verluste und Schicksale erzählt werden. Die Geschichte von Kriegen, den großen gesellschaftlichen Umwälzungen der Moderne, die Geschichte der historischen Katastrophe des Holocaust sind Erzählungen vom Leid. In Abgrenzung dazu kann ein Besucher am Verlauf von Zeit leiden. Die gesellschaftliche Entwicklung kann Abgründe und Aufruhr enthalten, welche Menschen abrupt aus einem als sicher und vertraut wahrgenommenen Alltag reißen können. Das Leiden ist dann abstrakter als ein Leiden an Diskontinuität in Form von Kontingenz zu bezeichnen, ein Leiden an der Unsicherheit, dass Brüche möglich sind und Katastrophen geschehen. In dem ersten Fall wird der Blick auf Zerstörung gerichtet, im anderen Fall ist es die historische Erzählung selbst, die nicht nur nicht der Orientierung dient, sondern verunsichert und irritiert. In diesen Fällen ist es der Verlauf der Geschichte, der Befürchtungen weckt. Ein Leiden an historischer Zeit kann auftreten, wenn Veränderungen als zu rasant erlebt werden. Gurvitch (1964: 341ff) prägte für diese Art der Zeiterfahrung den Begriff der erratischen Zeit: Die Gegenwart scheint gegenüber Vergangenheit und Zukunft zu dominieren, und die beiden Zeithorizonte erscheinen schwierig. Erratische Zeit bezeichnet eine Zeit des Übergangs, die unsicher und unstrukturiert ist. Gerade die Umwälzungen hin zur Moderne lassen sich als erratisch wahrnehmen. Im MHU finden sich vorrangig Befragte, die ein Leiden in der Geschichte thematisieren. Ein Befragter formuliert frei: „Lebenserinnerungen, teilweise […] an einzelne Situationen, an die schlimme Zeit (Herv. VS)“. Für eine andere Befragte des MHU ist Geschichte mit Schrecken und Beherrschung verbunden, Geschichte wird als Leben und Leiden verstanden. Verglichen wird zunächst von einer Besucherin frei die Hannoveraner Historie mit derjenigen der Stadt Bremen; anschließend werden „eine Begegnung mit der Welt der Vorfahren“, „ein Blättern im Buch der Geschichte“ sowie ein „Ein riesiges Gemälde, auf
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dem viele verschiedene Geschichten dargestellt werden“ aus der Liste ausgesucht und sie erläutert: „Vorfahren: Das ist Geschichte, was war, wie die Menschen gelebt haben. Geschichte: Durch die Teile der Ausstellung kann man eintauchen in die Geschichte: Wer was war und wie sie gelebt haben. Vieles ist erschreckend: Sophie in der Verbannung (Herv. VS). Wenn man alles Revue passieren lässt, ist es ein großes Gemälde. Wenn man die Augen schließt und es sich vorstellt: Gärten der Beherrschung“.
In diesem Textprotokoll klingt heraus, dass von Geschichte vornehmlich das Leiden in der Geschichte als hervorstechend wahrgenommen wird; es findet eine empathische Übernahme der Perspektive von Sophie von Ahlen statt. Ein anderer Besucher des DHM vergleicht frei mit einer „Reise in die Vergangenheit“ und wählt als Listenvergleich „ein Geschichtsunterricht“, der für diesen Besucher mit einem Lernen aus dem Leidvollem in der Historie verbunden scheint, „…weil wie im Geschichtsunterricht besonders die bittere Geschichte (Herv. VS) ausgestellt wurde. Es ist keine Erzählung, weil es hier eher um die Ausstellung von Fakten geht und weniger um die malerische Ausgestaltung von Inhalten, Fakten und Fiktionen“.
Auch hier wird hervorgehoben, es handele sich nicht um eine Erzählung. Mit „Erzählung“ wird hier vor allem auf die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen referiert, Erzählung wird gegenüber Geschichte als fiktives Genre verstanden. In diese Kategorie gehört diese Textpassage aufgrund der als bitter beschriebenen Geschichte, die semantische Kontrastierung durch die Vergleichswahl zwischen Vergangenheit und Geschichte wird dadurch erläutert, dass diesem Besucher Geschichte vorrangig als bitter gilt. Im HdG findet sich in einem Textprotokoll ein weiteres Beispiel für ein Leiden am Verlauf historischer Zeit dieses Besuchers: „Zeitreise mit der BRD, anschaulich, Erinnerung wird angestoßen. Zurückversetzt in die Vergangenheit und dann geht es weiter bis in die Gegenwart“. Formuliert der Besucher frei und erläutert seine Vergleichswahl „eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit“ und „ein Blättern im Buch der Geschichte“: „Manches mitgekriegt, Erinnerungen, Aufbau des Landes, Entwicklung, Umbruch, Befürchtung, dass es sich im Kreise dreht und nicht ein Aufstieg oder Fortschritt ist. (Herv. VS) Man lernt nicht immer aus den Fehlern und man stellt sich nicht den Fehlern, die gemacht wurden, das HdG konfrontiert und stellt einen vor die Geschichte“.
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Dieser Besucher entwickelt angesichts des Verlaufs der Geschichte, nicht aber aufgrund historischen Geschehens, Befürchtungen und leidet offensichtlich an einem wahrgenommenen Mangel an Fortschritt. Ansonsten sind Äußerungen zu finden, in denen ein Mangel an Struktur Diskontinuitätserleben erzeugt. Eine HdG-Besucherin wählt „ein Blättern im Buch der Geschichte“ und „Eine Ansammlung von Dingen, die der Strom der Geschichte ans Ufer gespült hat“, um weiter zu erläutern: „Dinge am Ufer sind die Dinge, die erhalten gebliebene Dinge sind. Im Fluss ist unterschwellig und nicht sichtbar der Aufruhr enthalten (Herv. VS). Flussbiegungen sind die Entscheidungen. Quelle sind Staatsgründungen. Gegenstände, die angespült werden, sind nicht notwendig angespült worden, hätten auch andere sein können“.
Aus diesem Vergleich spricht ein Geschichtsverstehen zwischen Erratik und Kontingenz und der Zufälligkeit des historischen Zeitverlaufes. Theoretisch rahmen und zusammenfassen lassen sich diese empirischen Aussagen mit einem auf Bruch/Brüche zurückgehenden erratischen Geschichtsbild, wie bei Schulz und Sonne (1999: 10f) beschrieben: „Die Vorstellung des Bruchs kann in unterschiedlicher Weise das Geschichtsbild bestimmen: sieht man in ihm das prägende Moment, besteht Geschichte aus zusammenhangslosen Ereignissen; sie ist nur als Chaos begreifbar, das sich einer stringenten Schilderung entzieht. […] Darüber hinaus ist das Konzept einer von nur partiellen Entwicklungen geprägten Geschichte bedeutsam. Diese sind immer wieder von Brüchen getroffen, die ihrerseits keiner erkennbaren Logik folgen. Diese Auffassung liegt meist der heutigen Geschichtsschreibung zugrunde und kann mit der Theorie des Paradigmenwechsels von Thomas Kuhn (1996) umschrieben werden.“
Im JMB: Architektonisch symbolisierte Diskontinuität, Erratik Eine Geschichte, die sich thematisch als Wechsel zwischen Leben und Leiden verstehen lässt, kommt besonders in den Textprotokollen im JMB zum Ausdruck. Frei wird von einer Besucherin das Museum mit einer Ausstellung in Graz verglichen und von der Liste „eine Gratwanderung“ gewählt: „Weil man nicht weiß, wohin es geht. Es kann der Abgrund (Herv. VS) sein, es kann etwas Schönes sein“. Angesichts der jüdischen Geschichte scheint jede Zukunftsprognose zu versagen. Ausschlaggebend für die Geschichtsdarstellung des JMB ist die räumliche Atmosphäre, die Architektur Daniel Libeskinds. Die jüdische Geschichte in Deutschland folgt keiner ungebrochenen Linie oder ist durch Abwesenheit von Kontinuität geprägt: „Es gab keinen roten Faden, wie beim Blättern in einem Buch konnte man Seiten überschlagen“, erläutert jemand durch Rückgriff auf „ein Blättern im Buch der Geschichte“, ein anderer Besucher vergleicht frei mit „Gang durch die Ge-
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schichte“: „Abschreiten, durchgehen, vor- und zurückgehen können durch Geschichte. Keine kontinuierliche Linie“. Ein weiterer Besucher kontrastiert den Mangel an einer linearen Darstellung mit der Konzentration auf das Einzelne, Singuläre: „Keine direkte Linie, Einzelschicksale wurden symbolisiert“. Weitere Textpassagen berücksichtigen die Architektur anders: Ein Besucher erläutert seine Listenvergleichswahl „eine Gratwanderung“ mit einem Rekurs auf die Aussagekraft des Gebäudes: „Eine gelungene Gratwanderung: Versuch, das Unaussprechliche zu zeigen durch Architektur im Besonderen und auch Ausstellung, nicht nur bedrückend, sondern auch Hoffnung, ‚Licht am Ende des Tunnels‘“.
Andere Aussagen nehmen den historischen Verlauf als Pendelbewegung wahr. Eine Befragte nutzt den Vergleich „eine Gratwanderung“ für ihre Beschreibung: „Ausstellung geht von einem Extrem (Herv. VS) zum anderen, von der geschichtlichen Verfolgung vor 1000 Jahren hin und her, mal ruhig, mal extrem“. Diesen Ausführungen ist anzumerken, dass die Verräumlichung einer Vorstellung von Zeit hier der Qualifizierung und Bewertung von Zeitphasen dient. Dies kann auch mit abweichenden Aussagen geschehen: „Verbindung von Architektur und Geschichte“ wird frei von einem Besucher formuliert, „ein Irrgarten“ von der Liste ausgesucht, „jüdische Geschichte in Deutschland: vor, zurück, links, rechts verlaufend – jüdische Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen“. Es bedarf demnach aller räumlichen Richtungen, um die erratischen Verlaufsformen jüdischer Geschichte in Deutschland zu benennen. Im JMB: Leiden an Geschichte Das Leiden an der jüdischen Geschichte hat in den Wahrnehmungen der Besucher vielfach etwas Schicksalhaftes, eine Befragte schildert frei: „… wie mit der Wahrheit konfrontiert. Man wird festgehalten, kommt nicht raus. Wie in einem Raum, wo es nur einen Weg gibt, den muss man gehen. Erst oben, dann unten und dann wusste ich, dass das Erschreckende, Furchtbare (Herv. VS) kommt“.
Jemand vergleicht den Besuch im JMB mit dem „Besuch auf einem Friedhof“: „Beklemmende und bedrückende Atmosphäre (Herv. VS), stark emotionalisierend. Unwiederbringlichkeit“. Oder „eine Gratwanderung“ wird von einem Besucher interpretiert mit: „Ist auch ein Blick auf Abgründe und das Gefühl, auch abstürzen zu können.“ In einigen Textpassagen klingen nach dem Museumsbesuch indirekt antisemitische Stereotypen an –„eine Gratwanderung“ sieht ein Befragter darin:
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„Es ist zwischen drin Faszination von bestimmten Dingen, die entstanden sind, und wie schnell so etwas wertlos gemacht werden kann. Faszination von Wissen und Macht – Unvermögen, damit umzugehen (mit Wissen durch Juden)“.
Entsprechend der gängigen Stereotype werden Juden mit Macht, Wissen und Geld assoziiert; nahe gelegt ist diese Interpretation gerade durch das museale Darstellungselement einer „Beitragsgeschichte“. Im JMB: Verlust und Ende jüdischen Lebens in Deutschland Anders sieht es mit Geschichte als Verlust, mit dem Ende und der Leere aus, die u.a. durch die voids der Architektur zwar nicht konstruiert und repräsentiert, aber dekonstruiert wird (vgl. Abschnitt 3.1.2). Die Befragte bezieht sich markanter Weise auf die Architektur, wenn sie das Museum frei mit dem Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück, dass ebenfalls auf ein architektonisches Konzept von Libeskind zurückgeht, oder dem Varusschlacht-Museum in Kalkriese vergleicht, dann den Listenvergleich „Verlorene Welten“ wählt und sie konstatiert: „Ich halte das Jüdische in Deutschland für verloren. Es wird nie wieder in vergleichbarer Weise jüdische Kultur in Deutschland geben“. Eine andere Besucherin schildert en détail ihre Wahrnehmungen der Geschichtspräsentation und wählt die Vergleiche „ein Besuch in einer Kirche/Synagoge“ und „eine Gratwanderung“: „Achsen/Untergeschoss: Abstieg in eine Begegnung, durch die Reduzierung auf die Sinne, auf das Wesentliche, auf Verlust (Herv. VS). […] Gratwanderung: Berührend, aber es waren auch Brüche wahrnehmbar ...“.
Die jüdische Geschichte in Deutschland tritt in diesen Aussagen als durch Brüche und Verlust gekennzeichnet hervor. Die meisten Textprotokolle, die auf den Verlust oder das Ende jüdischer Geschichte, also die Ermordung der Juden in Deutschland verweisen, beziehen sich auf die Architektur und den Listenvergleich „Verlorene Welten“: „Besonders in den Achsen deutlich, weil Lebenswelten verloren sind, endgültig“ und „Trifft am besten zu, weil das alles so nicht mehr existiert“. Eine andere Variante greift auf die Redewendung vom Schicksal zurück, um zu erläutern: „Schicksal der Juden ist negativ verlaufen, eine Welt ist endgültig vorbei“. Insofern tritt der Topos vom Schicksal nicht allein in der Konzeptdebatte auf, sondern auch im Erleben der Besucher. Die Geschichtsdarstellung im JMB legt die interpretative Wendung nahe, die Welten seien verloren gegangen, so wie sich etwa schicksalhaft Sternenkonstellationen ändern: Akteure und Täter kommen in dieser Geschichtsvorstellung, -darstellung nicht vor. Und ein letztes hier anzuführendes Textprotokoll interpretiert das Geschichtsbild des Museums tatsächlich im Sinne der Ausstellungsintention und der Besucher
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deklariert den Holocaust als Verlust des Beitrages jüdischer Bürger für den „deutschen Kollektivsingular“: „Durch den Verlust der Künstler und Wirtschaftler, jüdischen Bürger – davon hat sich Deutschland bis heute nicht erholt“. Die semantische Konfiguration, für die die in dieser Kategorie gebündelten Textpassagen stehen, interpretiert Geschichte als: • • • • • •
Leiden in einer erratischen Zeit, Leiden in der Geschichte; Leiden an einer erratischen Zeit, Leiden an der Geschichte; Diskontinuität, Erratik, Kontingenz; Leiden am Verlauf historischer Zeit; Leiden an Geschichte; Verlust und Ende jüdischen Lebens in Deutschland.
Im Weiteren wird von einer Geschichtsdeutung die Rede sein, die in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ als ein „Leiden in und an erratischer Diskontinuität“ kodiert wurde, wenn es um diejenigen Besucher geht, die Geschichte als ein Leiden deuten. In sprachlicher Verkürzung wird für diese Geschichtsdeutung mitunter auch allein von „Leiden“ die Rede sein.
5.3 Z USAMMENFASSUNG
UND
A USBLICK
In diesem Kapitel wurde ausführlich die Methode zur Berücksichtigung, Kategorisierung und Kodierung, der Eindrücke vom Museumsbesuch beschrieben, die für diese Publikation die Untersuchung des Geschichtsverstehens der Besucher in einer Sekundäranalyse der Kategorien erlaubt. Die Besucher der Museen kommunizieren zwar nicht zwangsläufig über die ausgestellte Geschichte, wenn sie ihre Eindrücke im Museum beschreiben. Insofern konnte Geschichtsverstehen für diese Analyse nicht direkt erhoben werden. Allerdings gehe ich davon aus, dass sich in einer Sekundäranalyse der Kategorien des von KUGL jeweils in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ kodierte Textmaterial als eine spezifische Deutung der Besucher und dieser entsprechendes Geschichtsverstehen (vgl. Kapitel 7, 8, 9) interpretieren lässt. Das methodische Vorgehen wurde im Zuge der qualitativen Befragungs-, Erhebungs- und Auswertungsmethode ausgehend vom Textmaterial dokumentiert. Das dargestellte komplexere methodische Vorgehen wurde bei den Vergleichsfragen des Fragebogens angewandt, bei den verbleibenden offenen Fragen ist hingegen ein deskriptiver Umgang mit den Textprotokollen völlig zureichend. Das Besondere der kodierten Daten aus diesen Fragen liegt darin, dass sie durch eine spezifische Erhebungsmethode generiert wurden, die sich der Aufforderung an die Befragten be-
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UNTERSUCHT WURDE
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diente, ihre Eindrücke vom Museumsbesuch auf einen bildhaften Vergleich zu bringen und beschreibend zu erläutern. Deshalb wurde diese Art der Erhebung als „Vergleichsfragen“ bezeichnet. Unter durch die Abfolge der Interaktionssequenz ähnlichen Bedingungen wurden die Befragten im Gespräch zu einer Auslegung ihrer Vergleichswahl motiviert. Da aufgrund der Annahmen einer Alltagshermeneutik davon auszugehen ist, dass Interviewer und Interviewte sich dabei derselben sprachlichen Regeln bedienen, können die daraufhin entstandenen Textprotokolle, trotz des Verzichts auf Aufzeichnung der Gespräche, als empirisches Textmaterial von angemessener Qualität gelten. Das Textmaterial wurde in einem aufwendigen Prozess des offenen Kategorisierens und Kodierens ausgewertet. Dazu wurde zunächst induktiv, also ausgehend vom empirischen Material, ein Kategorienschema entwickelt, das in der Lage war, die semantischen Gehalte der Textprotokolle zu repräsentieren und diese über die verschiedenen sozialen Kontexte hinweg und auf einem höheren Abstraktionsniveau vergleichbar zu machen. Charakteristisch für qualitative Sozialforschung ist ein induktives methodisches Vorgehen, das seine Regeln aufgrund von Überlegungen zur Gegenstandsangemessenheit aus der sozialen Situation und dem empirischen Material heraus gewinnt. Nach der Kategorisierung wurden theoretische Überlegungen einbezogen, um die so entstandene semantische Konfiguration von Textprotokollen weiter zu qualifizieren, zu verdichten und auf einen Begriff zur Benennung zu bringen. Damit liegen mit der Dokumentation der Auswertungen bereits umfassende Interpretationen vor. Diese veranschaulichen, was es meint wenn (a) Geschichtsdeutungen zu einer Kategorie gebündelt werden, welche Semantiken „dahinter stehen“ und welche Deutungen den Textprotokollen implizit sind (b) und wie Geschichte dabei konkret durch die Besucher verstanden wird. Das empirische Material der Kategorien wurde als auf Chronologie, Narration, Konstruktion, Kausalität, Alltagsgeschichte, räumlich-territorial Geschichte und Strukturation oder Leiden zurückgehende Deutungen von Geschichte bzw. als „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ kodiert und wird im Folgenden unter diesen Benennungen zusammengefasst (c). Für die weitere quantitative Analyse stehen damit binäre Variablen zur Verfügung, die geeignet sind, die Deutungen von Geschichte der Besucher auf einen Begriff zu bringen. Somit wird es möglich, mit den weiteren Variablen die Kontextbedingungen des Geschichtsverstehens beim Museumsbesuch zu beleuchten. Dabei soll die unterschiedliche Sicht der Besucher auf das von ihnen besuchte Museum herausgearbeitet werden (Kapitel 6). So lassen sich dann in Kapitel 7 die Unterschiede in den Geschichtsdeutungen der Besucher im Hinblick auf ihre Varianz zwischen den Museen betrachten. Dann ist eine Antwort auf die Frage 2
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zu geben, welche Zeitperspektiven dem jeweiligen Geschichtsverstehen implizit sind. Variiert das Geschichtsverstehen und die Rekonstruktion historischer Zeit zwischen den Ausstellungshäusern (Frage 3)? In einem abschließenden Schritt lässt sich dann das empirische Material darauf untersuchen, ob sich erhellen lässt, ob und wie die Unterschiede im Verstehen von Geschichte zu erklären sind (Kapitel 8).
6
Wie die Besucher die Museen nutzen
In diesem Kapitel wird thematisiert, wie die Besucher die Museen nutzen und wie die Museen aus Sicht ihrer Besucher zu beschreiben wären. Zunächst die Eindrücke der Besucher von den Museen zu analysieren, erlaubt, sich schrittweise der Frage anzunähern, ob die Besucher in den Ausstellungshäusern Geschichte unterschiedlich rekonstruieren (Frage 3) und dabei Merkmale einzuführen, die es ermöglichen, zu rekonstruieren, womit ihr Geschichtsverstehen in Zusammenhang steht. Deshalb erscheint es angebracht darzustellen, wie die Besucher diese Museen beobachten und nutzen. Diese Merkmale lassen sich anschließend in eine weiterführende Interpretation einbeziehen und sie erlauben perspektivisch eine Plausibilisierung verschiedener Erklärungsvarianten des Geschichtsverstehens. Das folgende Kapitel 6 soll darüber hinaus, beruhend auf Methoden der Besucherforschung zur Museumsnutzung, Kontextinformationen zum jeweiligen Besuch liefern. Das leitende Erkenntnisinteresse dieses Kapitels wird sein, was die Besucher im Museum wie beobachtet haben. Als „Eindrücke der Besucher“ werden in diesem Abschnitt kategorisierte und kodierte Beschreibungen der Besucher auf verschiedene offene Fragen des Fragebogens verstanden (vgl. Fragebogen im Anhang). Die Wahrnehmung einer Ausstellung ist immer selektiv, niemand sieht alles. Aber auch für die Besucher, die dasselbe sehen, hat das, was sie beobachten, nicht denselben Sinn. Zudem sprechen die Besucher unterschiedlich auf das im Museum Präsentierte an: dem einen gefällt dies, einem anderen etwas anderes; ein Besucher kann sich von verschiedenen Inszenierungselementen positiv oder negativ „angesprochen“ sehen. Aufmerksamkeitserzeugung hängt zumeist von der Intensität und Relevanz des Beobachteten für den Besucher ab. All diese Aspekte können einen Einfluss auf das Geschichtsverstehen haben. Über das, was unter dem Stichwort „Besuchs(nutz)verhalten“ in der Besucherforschung en détail beschrieben und empirisch nachvollzogen wird, soll hier allerdings weniger gesagt werden als über die Merkmale, die ihre Rezeption und demnach ihr Geschichtsverstehen geprägt haben könnten. Spätestens das Erkenntnis-
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interesse der „behavioral studies“ der Besucherforschung ist hier weniger relevant; diese interessieren sich für Ziele des Besuchs (goals), die vor einem Exponat bzw. in der Ausstellung (at displays) verbrachte Zeit, Effekte von bestimmten Ausstellungsmaterialien, den Umgang mit dem Ausstellungsraum sowie die Evaluation von Präsentationen (vgl. Abschnitt 4.1; Beer, 1987: 207). Sind diese Variablen für die vorliegende Studie nicht relevant, ist es trotzdem wichtig, einen Eindruck davon zu geben, wer denn überhaupt wie viel von den Museen gesehen hat und wie viel Zeit er oder sie für den Besuch verwendet hat u. ä. Es wird in diesem Kapitel darum gehen, einige gemeinhin in der Besucherforschung erhobene und aus diesem Kontext vertraute Variablen zu nutzen und Merkmale zu erheben, die die Museen möglichst detailliert aus der Sicht ihrer Besucher zu beschreiben erlauben. Qualitative Methoden folgen, wie in Kapitel 5 gezeigt wurde, einer vom empirischen Material ausgehenden induktiven Logik, die über den Vorzug verfügt, der Ambivalenz und Sperrigkeit sozialen Sinns besser entsprechen zu können. Stattdessen ließen sich auch quantitative Methoden verwenden, die auf standardisierten Erhebungsverfahren beruhen, damit eindeutige Ergebnisse anstreben und dabei etablierte Annahmen auf ihre Generalisierbarkeit und Geltung hin überprüfen. Dafür wäre einer deduktiven Logik zu folgen, die auf verallgemeinerbare Aussagen abzielt, diese überprüft und dabei aber über einige Besonderheiten und Singularitäten des Gegenstandes hinwegsehen muss. Ein Mehrmethodenansatz (Reussner, 2010: 118) konstituiert ein zirkuläres Ergänzungsverhältnis zwischen beiden Methoden in bestem Sinne, die oft grob mit den Bezeichnungen qualitativ und quantitativ kontrastiert werden. Die Vorteile qualitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden liegen in ihrer Offenheit dem empirischen Material gegenüber, sie sind geeigneter, explorative und deskriptive Fragestellungen zu verfolgen. Beim Beschreiben des empirischen Gegenstandes zu beginnen, bietet sich gerade in Bezug auf Kultur an. Kultur und ihre Geschichte beruht bereits selbst auf dem Nach- oder Nebeneinander verschiedener Semantiken, dem Vergleich subjektiv oder kulturell verschiedener Sichtweisen und Sinnzuschreibungen, um vielleicht zur Durchsetzung bestimmter Deutungen zu führen. Die Geschichtsschreibung ist davon geprägt, dass es permanent Debatten um verschiedene Interpretationen, Perspektiven und Darstellungsweisen gibt. Vor diesem Hintergrund, aufgrund der Relevanz heterogener Deutungen für das Verstehen von Geschichte, ist in Bezug auf Kultur, Kunst und Geschichte die Verwendung qualitativer Methoden zu empfehlen, da der Forschungskontext noch wenig theoretisch durchdrungen ist und sich so keine bereits in diesem Forschungsfeld theoretisch entwickelten und wie empirisch bewährten Hypothesen testen lassen. Weiterhin sind subjektive Sichtweisen nur bedingt zu verallgemeinern, wodurch es sinnvoll ist, auch methodisch offen für neue oder abweichende und wenig etablierte Sinnzuschreibungen zu bleiben.
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Der Vorteil quantitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden liegt in der Qualität und Güte der zu generierenden Ergebnisse begründet: Es lassen sich ausgehend von Studienergebnissen repräsentative Aussagen machen, die Verallgemeinerungen erlauben und die eventuell von einem Kontext auf einen anderen übertragbar sind. Mit den Stichworten Validität und Verlässlichkeit sowie Reliabilität und Wiederholbarkeit sind Gütekriterien genannt, die derart allein auf quantitative Daten anwendbar sind. Demgegenüber setzt die Anwendung qualitativer Methoden für die Güte ihrer Ergebnisse weniger auf standardisierte Daten als auf verbindliche Verfahrensregeln: Ist z. B. die strukturelle Vergleichbarkeit der Befragungssituation gewährleistet und werden Strategien der intersubjektiven Validierung etc. genutzt, lässt sich auch in der Anwendung qualitativer Methoden eine adäquate Güte erreichen. Diese erscheint auf den ersten Blick jedoch nicht als in gleichem Maße kontrollierbar, da diese Güte nicht ex-post messbar erscheint. Allerdings sind sowohl qualitative wie auch quantitative Methoden nicht für jede Fragestellung gleichermaßen geeignet. Im Längsschnitt verwendet oder beim Vergleich verschiedener Zeitpunkte miteinander, um Entwicklungen und Trends herauszuarbeiten, bieten quantitative Daten die Option, als Planungsinstrument verwendet zu werden. Verwendet man quantitative Erhebungen in einem Mehrmethodenansatz, besteht zugleich die Chance, die Vorteile qualitativer Erhebungs- und Auswertungsverfahren mit denen statistischer Erhebungen zu kombinieren. Ein Ziel der Kulturnutzerforschung ist es, Beurteilungskriterien für Kulturangebote zu entwickeln, die sowohl dem Evaluationsbedürfnis nach Messbarkeit und Standardisierung zugunsten von Entscheidungsorientierung und Planungssicherheit entsprechen sowie der Einzigartigkeit und notwendigen Ambiguität des Kulturangebots sowie der Subjektivität jeder Kulturbeobachtung gerecht werden. Kombinationen aus quantitativer und qualitativer Methodik, als Mehrmethodenansatz zu verwenden, gehört mittlerweile zu den Standards empirischer Sozialforschung. Ebenso wie bei der Triangulation verschiedener Datenquellen entsteht derart eine Kombination verschiedener Validierungsstrategien (Kelle, Erzberger, 1999; Reussner, 2010: 121). Die Möglichkeit, im Rahmen standardisierter Auswertungsverfahren offene Nennungen zu berücksichtigen, ermöglicht es die Verwendung qualitativer Interpretationsverfahren, stärker die Eigenheiten des Forschungsgegenstandes, z. B. des Erlebens der Museumsbesucher, berücksichtigen zu können und die Ergebnisse mit verschiedenen Validierungsstrategien zu optimieren. Deshalb sollen die in Kapitel 5 rekonstruierten Textmaterialien als Kategorien in quantitativ auszuwertende binäre Variablen überführt werden. Anschließend lassen sich dergestalt die qualitativen Ergebnisse in der weiterführenden quantitativen Analyse berücksichtigen. Es lassen sich darüber hinaus weitere, der Besucherforschung nahe Annahmen formulieren und prüfen: Die zu den aufgeworfenen Fragen quer laufende Annahme
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(2.1), dass es an den Besonderheiten eines Museums liegt, wenn es eine ihm spezifische Mischung an Zielgruppen anzieht. Jeder Besucher wird erst zu einem Museumsbesucher, da er sich mit spezifischen Erwartungen an den Besuch oder ein Ausstellungshaus für seinen Besuch entschieden hat. So lässt sich – abstrakter ansetzend – vermuten, dass sich Museen und ihr Besuchspublikum wechselseitig konstituieren, indem sie sich z. B. jeweils an Erwartungserwartungen ausrichten (Luhmann, 1984: 396ff, 411, 413; Baraldi, Corsi, et al. 1998: 47ff). Den Begriff der Erwartungserwartung prägt die Systemtheorie für Erwartungen, die die Komplexität doppelter Kontingenz reduzieren. So erwarten z. B. Museumsbesucher, von ihnen werde in Museen ein spezifisches Verhalten oder vielleicht auch ein spezifisches Verstehen erwartet. Diese recht abstrakte gefasste Definition lässt sich an zwei Beispielen veranschaulichen: Die Erwartung des „Don’t Touch“ als angemessener Umgang mit „klassischen musealen Exponaten“ entspricht z. B., genauso wie der Umgang mit explizit als solchen gerahmten „Hands-ons“ einem durch soziale Erwartungen gesteuerten Besuchsverhalten. Museen müssen vielfach Schilder aufhängen, um Hands-on-Exponate mit dem Hinweis „Bitte anfassen!“ zu markieren, damit Besucher diese Präsentationselemente entsprechend nutzen. Hier konstituiert sich die museale Praxis, ein Hinweisschild anzubringen, wechselseitig interdependent mit der Erwartungserwartung der Besucher, im Kontext Museum werde von ihnen erwartet, die Exponate gerade nicht zu berühren. Anhand des HdG und seines Mottos Geschichte erleben lässt sich veranschaulichen, dass vermutlich die öffentliche Selbstpräsentation der Häuser die Erwartungen der Besucher vorformatiert, wie diese wohl zu besuchen, zu nutzen und zu verstehen sein werden. Die Selbstbeschreibungen der Häuser prägen demnach wohl Erwartungserwartungen, gemäß welcher diese von Besuchern verstanden werden, so die zu den Fragen quer laufende, der Besucherforschung nahe Annahme 2.2. Die Annahmen (2.1 und 2.2) laufen insofern „quer“ zu den Fragen dieser Arbeit, als dass sich die Annahmen darauf richten, ob es einen Zusammenhang zwischen der Kommunikation des Museums und der Zusammensetzung seiner Zielgruppen gibt. Die Argumentationslogik richtet sich in dieser Arbeit ansonsten primär auf das Geschichtsverstehen und die Zeitperspektiven der Besucher. Um den Zusammenhang zwischen beidem zu klären, wäre allerdings streng genommen zu kontrollieren, ob die Museen vielleicht nur deshalb von den Besuchern ausgewählt werden, weil sie ein bestimmtes Geschichtsverstehen und die Rekonstruktion einer spezifischen Zeitperspektive befördern (Selektionseffekt). Da nicht identische Besuchergruppen in den Häusern befragt wurden, ist ein Selektionseffekt, dass die Besucher die Museen (nur deshalb) auswählen, weil sie Geschichte auf eine spezifische Art und Weise verstehen wollen, nicht auszuschließen. Sind die Zielgruppen wegen seiner besonderen Kommunikation in einem Ausstellungshaus oder kommuniziert etwa dieses Ausstellungshaus auf eine spezifische Art und Weise, um diese Zielgruppen mit seiner Kommunikation anzusprechen?
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Wäre die Annahme einer wechselseitigen Konstitution von Kommunikation und Zielgruppen bis auf Weiteres zu bestätigen, lassen sich immerhin analog funktionierende Selektionsmechanismen bei der Wahl des Museums durch die Besucher unterstellen. Damit wären immerhin ähnliche Bedingungen des Verstehens von Geschichte anzunehmen, auch wenn sich diese Annahme mit den vorliegenden empirischen Ergebnissen leider nicht kontrollieren lässt. Denn dafür wäre es nötig, entweder zusätzliche Bevölkerungsstudien einzubeziehen oder aber auf das Experiment zurückzugreifen, einen ausgesuchten, identisch bleibenden Besucherkreis in alle Museen zu schicken und allein dessen Geschichtsverstehen zu erheben. Damit lägen aber nicht länger repräsentative Stichproben und „natürliche“ Museumsbesuchsbedingungen vor und die Erhebungssituation sowie die „künstliche“ Selektion der befragten Besuchergruppe hätten einen großen verzerrenden Einfluss auf die empirischen Ergebnisse. Mit Blick auf das HdG lassen sich weitere Argumente für Annahme 2.2 anführen, dass von einer wechselseitigen Konstitution von Kommunikation und Verstehen des Besuchspublikums auszugehen ist: Das HdG verzichtet bewusst auf die Erhebung von Eintrittsgeld1, bindet populäre Unterhaltungsmedien in die Ausstellung ein, setzt bei der Lebenswelt der Besucher an und folgt seinem Motto Geschichte erleben, um damit breite, auch museumsferne Zielgruppen anzuziehen. Diese Intention mag zwar nicht immer aufgehen. Jedoch ist das in jedem Fall ein Beleg dafür, dass sich die Kommunikation eines Museums auch umgekehrt an Erwartungserwartungen gegenüber seinem spezifischen Publikum ausgerichtet, also daran, welche Zielgruppen sich mit welcher Art Kommunikation erreichen lassen. Einige Museen, wie insbesondere das HdG versuchen, eher museumsferne Zielgruppen zu erreichen. Aufgrund der Überlegung, dass sich Museumskommunikation zugleich an die vorhandenen Besucher, Stammgäste, potentielle Besucher sowie auch an Nichtbesucher als Zielgruppen wenden kann, bleibt es sinnvoll, wie Reussner (2010: 3, 8), auch potentielle sowie Nichtbesucher in den Publikumsbegriff mit einzuschließen. 1
Volker Kirchberg wies mich auf der Tagung „Zukunft Publikum“ im Februar 2012 an der Universität Lüneburg auf das Studienergebnis hin, dass die Bevölkerungsstudien zum HdG zeigen konnten, dass das Publikum von dem freien Eintritt vor dem Besuch zumeist gar nichts weiß. Dies kann also nicht zur Besuchsmotivation beitragen. Etwas anderes ist es jedoch, wenn jenseits der Kulturnutzerforschung die Selbstbeschreibungen des Museums als das Verstehen der Besucher beeinflussend angenommen werden. Zugleich ist bereits das Vorliegen dieser Studien ein Argument für meine Annahme 2.2, dass Museen sich gezielt Erwartungen über ihr Publikum bilden und diese Erwartungen ihre Kommunikation beeinflussen können.
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Das Publikum ist definiert als alle durch Marketing und Öffentlichkeitsarbeit erreichbare Adressatengruppen (vgl. Kapitel 4.1) und umfasst also nicht allein die aktuell erreichten Zielgruppen. Museen richten ihre Kommunikation an den verschiedenen Zielgruppen in einer breiten Öffentlichkeit aus, und die Kommunikation des Museums bzw. die einer konkreten Ausstellung wendet sich demnach auch an die Gruppe der potentiellen Besucher und Nichtbesucher. Die Kommunikation ist demnach an Erwartungen, also sowohl anhand von durch Evaluation geprüften wie ungeprüften Erwartungen, gegenüber den spezifischen Rezeptionsgewohnheiten und Sinnzuschreibungen verschiedener Bevölkerungs- und Besuchergruppen ausgerichtet. Dennoch kann mit den vorliegenden Erhebungen allein etwas über das Besuchspublikum ausgesagt werden (vgl. Kapitel 4.1).
6.1 E CKDATEN
DER
B ESUCHE
Als Eckdaten der Besuche gelten diejenigen Angaben der Befragten, welche Ausstellungen oder Ausstellungsbereiche sie sahen und wie lange sie in der Ausstellung verweilten (Klein, 1996: 14). Im JMB und DHM gibt es mehrere verschiedene Sonderausstellungbereiche und andere hervorzuhebende Räume, während die beiden anderen Ausstellungshäuser etwas übersichtlicher sind und nur eine Wechselausstellung anbieten. So wurden die Besucher des MHU und HdG zusätzlich danach befragt, ob sie neben dem Besuch der Dauerausstellung, bei deren Verlassen sie angesprochen wurden, auch noch die Wechselausstellung sahen oder sich diese anschauen werden. •
•
• •
•
Das MHU bot im Erhebungszeitraum die Wechselausstellungen „Familie Tausendfach“ sowie die Präsentation „Weinet nicht, wir sehen uns wieder. Trauerkultur in Hannover von 1600 bis heute“. Im Erhebungszeitraum fand im MHU zusätzlich zu den Wechselausstellungen eine museumspädagogische Kinderaktion statt, in deren Rahmen zusätzlich zu den Ausstellungsangeboten noch Sonderaktionen gab – z. B. konnten von Kindern Kostüme, ein Kettenhemd u. ä. anprobiert werden. Im Erhebungszeitraum liefen im HdG die Wechselausstellungen „Nähe und Ferne. Deutsche, Tschechen und Slowaken“ sowie „Elvis in Deutschland“. Im Befragungszeitraum im JMB waren vier Sonderausstellungen zu sehen: „Jakob Steinhardt“, „Eine Schachtel voller Schicksale“; „Selbstbildnisse der 20er Jahre“; „Lindenstraße“ sowie „10+5=Gott. Die Macht der Zeichen“. Zur Zeit der Erhebungen im DHM waren die Wechselausstellungen „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962-1806; Altes Reich und neue Staaten
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1495–1806“; „Robert Häuser: Aus dem photographischen Werk“ (Erhebung nur am 26.11.06) und „Lackwarenmanufaktur Stobwasser“ zu sehen. Ausgewählt wurden die Befragten dieser Untersuchung nach dem Kriterium, die Dauerausstellung besucht zu haben. Etwa zwei Fünftel der Befragten im MHU und HdG sahen sich nur die Dauerausstellung an, ohne die Wechselausstellungen zu besuchen. Die Besuchergruppen im JMB und DHM sind demgegenüber gezielter danach zu differenzieren, welche Ausstellungsbereiche sie besuchten. Diese beiden Museen sind größer und vor allem räumlich verschachtelter als das MHU und das HdG. Insbesondere das JMB verfügt durch seine Architektur über eine gewisse Anzahl zusätzlich bespielbarer Räumlichkeiten: Neben dem Raum für Sonderausstellungen im barocken Altbau gibt es eine Sonderausstellungsfläche im ersten Obergeschoss sowie im Erdgeschoss des Neubaus; die Dauerausstellung selbst nimmt zwei Stockwerke des Gebäudes ein. Tabelle 6.1.1: Besuchte Ausstellungsbereiche JMB (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) JMB Learning Center Ausstellung
30
Learning Center Computer Terminals
31,7
Achsen im Untergeschoss
96,7
Holocaustturm
87,5
Garten des Exils
72,5
Leerstelle des Gedenkens
61,7
Sonderausstellung im EG
25
Ständige Ausstellung im 2. OG
95,8
Ständige Ausstellung im 1. OG
94,2
Sonderausstellung (im Altbau 1. OG)
7,5
Sonderausstellung im 1. OG
10,8
Garten
8,3
Sonstiges
0,8 n = 120
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
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Für das JMB zeigt der Blick auf Tabelle 6.1.1, dass die Primärbereiche, die dadurch bestimmt sind, in der Nähe der gängigen Laufrouten durch das Museum zu liegen, von einem hohen Prozentsatz der Besucher gesehen werden. Dass die Zahlen im Hinblick auf die Dauerausstellung nicht 100 Prozent erreichen, deutet darauf hin, dass ein kleiner Anteil an Befragten den Besuch für das Interview unterbrach oder sich bewusst bei einem Besuch auf einen Teil der Dauerausstellung beschränkte. Ein Hauptteil der befragten Besucher sah die Achsen im Untergeschoss des JMB sowie die ständige Ausstellung im ersten und zweiten Obergeschoss. Die besonderen, durch ihre ästhetische Symbolik und Atmosphäre charakteristischen Räume des Hauses, werden hier im Folgenden als „architektonische Erlebnisräume“ zusammengefasst: den Holocaustturm und den Garten des Exils besuchten mehr als drei Viertel der Befragten. Das Geschichtsverstehen kann dennoch bei fast allen Besuchern der Stichprobe als durch die Architektur und die Erlebnisräume bestimmt gelten: Wenn auch die Leerstelle des Gedenkens, derjenige der voids des Hauses, in dem die Installation „Gefallenes Laub“ gezeigt wird, nur von 62 Prozent der Besucher betrachtet wurde. Dies wird darauf zurückzuführen sein, dass sie etwas abseits der gängigen Museumsroute, im Anschluss an eine SonderausstellungsRaumflucht liegt, die wiederum vom Museum während der Befragungsdauer nicht durchgängig bespielt wurde. Ein Drittel der Besucher nahm das Rafael Roth Learning Center mit seinen Computerterminals als Ausstellungsbereich wahr – ein beachtenswert geringer Anteil. Dabei gilt das Center durchaus als ein hervorgehobenes Darstellungselement des Hauses (Birkert, 2003). Es erzählt im Untergeschoss, rechts vom Eingangsbereich etwas abseits einer geradlinigen Laufroute liegend, persönliche Geschichten non-linear auf multimedialen Computerinterfaces. Die relativ geringe Aufmerksamkeit, die die Sonderausstellungen durch die Besucher erfuhren, geht vermutlich auf die nicht durchgängigen Bespielungszeiten der Sonderausstellungsräume zurück. Zu bedenken ist ferner die hohe Zahl der Erstbesucher im JMB in der vorliegenden Stichprobe. Gemeinhin ist davon auszugehen, dass sich insbesondere Mehrfachbesucher gezielt für Wechselausstellungen interessieren. Die Räumlichkeiten des DHM unterscheiden sich von der komplex verschachtelten JMB-Architektur dadurch, dass das Ausstellungshaupthaus, erbaut laut Inschrift 2 unter dem Brustbild Friedrich des I. im Jahre 1706 , eine klare Ausstellungsgliederung und architektonisch eine symmetrische, quadratische Form nach klassischem Vorbild aufweist. Das Museum ist dabei gerade durch seinen modernen Anbau sehr
2
http://www.dhm.de/magazine/zeughaus/Architektur.html (Stand vom 11.02.2011).
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weitläufig. Das DHM verfügt neben den zwei Etagen, über die sich die Dauerausstellung erstreckt, über drei Etagen für Wechselausstellungen im I.M.-Pei-Bau. Die Erhebung im DHM sah die gesonderte Rückfrage nach zukünftigen Besuchsabsichten in weiteren Ausstellungsteilen vor (vgl. Tabellen 5a; 6a im Anhang). Die Besucher wurden danach gefragt, welche Ausstellungsbereiche sie zukünftig zu sehen wünschten. Die lange Zeitdauer, die man benötigt, um sich alle Ausstellungsdetails aufmerksam anzuschauen, macht bei fast allen Gästen mehrfache Besuche erforderlich, falls ein Interesse daran vorliegt. Die Befragten der DHM-Stichprobe sahen zu 85 Prozent den ersten Ausstellungsteil (bis 1918), 60 Prozent den zweiten (ab 1918), 15 Prozent besuchten auch Wechselausstellungen. Beide Teile der Dauerausstellung besuchten weniger als die Hälfte der Befragten. Es wurden demnach verhältnismäßig viele Besucher des ersten Ausstellungsteils befragt. Während der Erhebung waren je zwei Interviewer durchgängig gegen Ende des ersten und des zweiten Ausstellungsteils positioniert. Die Ablehnungsquote am Ende der Ausstellung kann jedoch insgesamt höher gewesen sein. Dabei setzten einige der Befragten ihren Rundgang nach dem Interview am Ende des ersten Ausstellungsteils noch fort. Kaum mehr als ein Zehntel des Besuchspublikums besichtigte beide Teile und mindestens eine der Wechselausstellungen im I.M.-Pei-Anbau des Museums. Die umfang- und detailreiche Architektur der Dauerausstellung droht möglicherweise die Bedeutung der jeweiligen Wechselausstellungen zu schmälern, die mit ihrer höheren Exponatdichte zu einem Thema und/oder einer historischen Phase die Atmosphäre einer Zeit detailreicher zu dokumentieren in der Lage sind. Das DHM ist von den vier Museen dasjenige mit den längsten Wegstrecken und dem umfassendsten Exponatangebot. Es weist die durchschnittlich längsten Besuchszeiten auf: Etwas mehr als die Hälfte der Besucher blieben zwischen zwei bis vier Stunden, selbst wenn sich nur ein geringer Prozentsatz beide Dauerausstellungsteile ansieht. Zum Vergleich: Der Durchschnitt der befragten Besucher aller Museen verbringt 2,4 Stunden im Museum (Standardabweichung 1,02). Bei den Besuchern des MHU sind die Besuchszeiten am geringsten: 88 Prozent des Besuchspublikums blieb weniger als zwei Stunden im Haus, was die geringere Größe des Museums widerspiegelt. Die Besuchszeiten im HdG sind demgegenüber beim Kern der Besucher etwas länger und liegen zwischen einer und drei Stunden: Dort besuchte ein Anteil von etwa zwei Dritteln Dauer- und Wechselausstellung, während das verbleibende Drittel der Besucher zum Zeitpunkt des Interviews nur die Dauerausstellung gesehen hatte. Im JMB sind die Besuchszeiten von 72 Prozent des Besuchspublikums ähnlich gelagert wie im HdG (vgl. Abb. 1a im Anhang). Eine Annäherung an die Frage, auf welche Rezeption das Verstehen der Besucher zurückgeht, erlauben Antworten der Besucher auf mehrere Fragen des Fragebogens. Rezeption wurde 1) standardisiert als Rezeptionsmodus erhoben, 2) als Merkmal
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eines spezifischen Geschichtsverstehens (aus der 1. Vergleichsfrage generierte Kategorien) und 3) als Merkmal „ordnender Rezeption“ operationalisiert (aus der 2. Vergleichsfrage generierte Kategorien). Zudem wurden Rezeptionstypen aufgrund der Antwortmuster auf die Fragen nach Vorwissen, Eindrücken und antizipierter Erinnerung gebildet (vgl. Kapitel 6.7). Im nächsten Abschnitt werden nur die standardisiert erhobenen Antworten, wie sich die Befragten denn „angesprochen gefühlt“ hätten (also 1) berücksichtigt, die „ordnende Rezeption“ findet in Abschnitt 6.6 Berücksichtigung, für die weiteren Kategorien vgl. die Tabellen 6.6.3 und 22a im Anhang.
6.2 R EZEPTIONSMODI „Rezeption“ verweist auf verschiedene Informationsverarbeitungsprozesse, auf die sich ein Verstehen der Besucher gründen kann. Wahrnehmungen setzen z. B. unmittelbarer an und entziehen sich zu einem gewissen Anteil einer ex post Rekonstruktion. Während kognitive Anteile des Verstehens, also Sinnkonstruktionen über den Verstand, auf differenzierbare semantische Informationen aufbauen, spricht ein emotionales Verstehen auf ästhetische Information an (Aisthesis-Urteile), deren Wertungen stark vom Wahrnehmenden und äußeren Umständen abhängen (Baumgartner, Trauner, 1996: 192). Die Sinnzuschreibungen lassen sich nicht klar den Informations- oder den Mitteilungsakten zurechnen (vgl. Abschnitt 2.1.1).
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Tabelle 6.2.1: Rezeptionsmodi nach Museen (in Prozent von n Mehrfachnennungen möglich)
Über den Verstand Durch Gefühle, die ausgelöst wurden Sinnliche Wahrnehmungen (z. B. Bilder)
MHU
HdG
JMB
DHM
Gesamt
42,3
49,6
59,2
63,7
53,7
36,4
57,6
68,3
46,0
52
62,0
68,0
70,0
37,1
59,2
49,6
60,0
----
27,4
45,7
5,8
1,6
0,8
1,6
2,4
n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
n =492
Über die Erinnerungen, die ausgelöst wurden Sonstiges
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Das DHM-Besuchspublikum setzt sich von den Besuchern anderer Museen deutlich durch eine stärker verstandesgeprägte Rezeption ab. Das DHM ist das einzige Museum, in dem nur 37 Prozent der Befragten „sinnliche Wahrnehmungen“ wählten. Das überrascht angesichts des – wenn auch dokumentarischen – so doch exponatreichen Ansatzes der Ausstellung. Die anderen drei Museumspräsentationen werden vom Hauptteil der Besucher (zwischen 62 und 70 Prozent) durch sinnliche Wahrnehmungen rezipiert. Im JMB nehmen ausgelöste Gefühle bei 68 Prozent der Besucher den zweiten Rang ein. Insbesondere die Architektur des Hauses wird demnach wohl emotional rezipiert und nicht allein über die für Museen besonderen sinnlichen Wahrnehmungen. Dabei bildeten Erinnerungen im HdG und MHU den zweitwichtigsten Rezeptionsmodus. Die letzte Antwortkategorie fehlte im JMB, denn es erschien dort unangebracht, nach ausgelösten persönlichen Erinnerungen zu fragen.
6.3 V ORWISSEN : D IE D OKUMENTATION
DER
A RBEITSSCHRITTE
Bisherige Studien zu Museen und ihren Besuchern kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Vorwissen diejenige Größe sei, die einen signifikanten Unterschied beim Besuchsverhalten und beim Verstehen der Besucher ausmache. Ist
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Vorwissen vorhanden, trifft das Ausgestellte bei den Besuchern auf Assoziationscodes, also Schemata der Informationsverarbeitung (Treinen, 2001: 16). Erst Vorwissen erzeugt demzufolge Aufmerksamkeit für Objekte, Ausstellungselemente und Themen. Vorwissen erlaubt auch, das im Museum zu Sehende einzuordnen. Insbesondere die De-Kodierung komplexerer, visueller Botschaften beruht auf einem Wissen über Darstellungskonventionen, geprägt von gängigen Texturen und kulturellen Semantiken (Vergo, 1989: 50). Weiterhin beruht die kommunikative Funktionsweise von Objekten vielfach darauf, Erinnerungsveranlassungsleistung zu sein, also als Auslöser für Emotionen und Erinnerung zu dienen. Nur dann, wenn die ausgestellten Objekte bereits eine Bedeutung und subjektive Relevanz für einen Besucher haben, können sie überhaupt ihren medialen Charakter, polysemisches Signal oder Symbol zu sein, entfalten (Kavanagh, 1989: 130). Dies stellt ein Argument dafür dar, dass es für Geschichtsverstehen mehr auf den Einzelbesucher ankommt als auf ein Museum und sein spezifisches Besuchspublikum. Bei Vorwissen wiederum handelt es sich um stark individualisierte Faktoren (Treinen, 1981: 217), die sich nur schwer mittels standardisierter Fragen ohne experimentelles Design erheben lassen. Durch die Abhängigkeit des Verstehens vom Vorwissen entsteht das für die Museumspädagogik charakteristische Dilemma, dass zumeist nur ins Museum kommt, wer sich bereits für Geschichte interessiert, und zugleich das vorherige Geschichtsinteresse bestimmt, welche Informationen wie verarbeitet werden. Gerade die Rezeption von Objekten, wie sie historische Museen präsentieren, wäre damit in hohem Maße von bereits vorhandenen Vorannahmen geprägt. Die Besucherforschung widmet sich umfassend der Überprüfung einer Lernhypothese; untersucht wird in Länge und Breite, ob, was und wie Besucher im Museum lernen. Dies geschieht auch deshalb, weil nicht einfach zu bestimmen ist, ob Besucher denn überhaupt im Museum lernen und was sie lernen. Man kommt mittlerweile überein, dass Besucher im Museum lernen, aber dass das, was sie im Museum lernen, nicht unbedingt etwas Neues ist (Falk, Dierking, 1992; 2000). Dennoch geht man davon aus, dass die in Ausstellungshäusern erlernbare museum literacy, also das Wissen darum, wie Museen zu lesen sind (Falk, Dierking, 1992: 80), gerade darin besteht, Beobachtungsschemata zu erlernen, sich kulturelles Wissen durch Erfahrung anzueignen und zu wissen, wie sich einzelne Informationen durch Verwendung kulturell gängiger Semantiken entschlüsseln und in Beziehung zueinander stellen lassen. Der Besucher lernt demnach im Museum, gängige Abstraktionsleistungen nachzuvollziehen. Mittlerweile geht die Besucherforschung von einem aktiv-Sinn-zuschreibenden Besucher aus, der wenig gezielt auf die Ausstellung „reagiert“, wenn er es überhaupt tut, und nicht allein „kulturelles WindowShopping“ (Treinen, 1981: 216; Klein, 1993: 798) betreibt. Es kann aber in dieser Untersuchung nichts darüber ausgesagt werden, welche Kenntnisse die Besucher im Hinblick auf ihre Abstraktionsfähigkeit vom Konkreten
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mitbringen oder ob sie etwa Konzepte als solche sehen können (z. B. McManus, 1988: 72; Dech, 2003: 119), ob sie z. B. klassifizieren und interpretieren können oder kreativ-rekonstruktive Vergleiche anstellen (Housen, 1987). So ist die Frage, wie Vorwissen zu erheben ist, nicht einfach zu beantworten. Eine Lösung bietet ein typisierendes Vorgehen, das aufgrund von Gemeinsamkeit bestimmte Besuchergruppen differenziert; ein Vorgehen also, das Besuchertypen aufgrund von Merkmalen ihres Vorwissens generiert. Gemeinsam ist verschiedenen Besuchern z. B. die Beschäftigung mit bestimmten Themen beim Ausstellungsbesuch oder ein gewisses Vorwissen. Dabei mag das Ausmaß, in dem Vorwissen die Eindrücke im Museum bei dem einen Typ vorstrukturiert, größer sein als bei anderen Besuchern. Als Indikatoren für Vorwissen sollen für diese Untersuchung vor allem die Themen der vorherigen Beschäftigung mit der ausgestellten Geschichte gelten. Die Besucher wurden gefragt, ob sie sich bereits vorab mit der jeweils ausgestellten Geschichte beschäftigt hätten und sie hatten die Möglichkeit, dies mit ja oder nein zu beantworten. Daran schloss die Frage an, welche Informationsquellen – Zeitungen, Bücher, Fernsehen, Radio oder sonstige – sie dabei genutzt hätten. Nach dem Durchlaufen der ersten Filterfrage („Haben Sie sich bereits vorher mit XY-Geschichte beschäftigt?“: ja/nein) war dann ein zweiter Filter gesetzt: die mit ja oder nein zu beantwortende Frage, ob sich der Befragte dabei für bestimmte Themen besonders interessiert hätten. Diese Angaben zum Interesse an Themen werden als semantisch artikuliertes Vorwissen verstanden. So ist zu rechtfertigen, dass bei der ersten Erhebung im JMB die Fragestellung etwas anders formuliert war, jedoch die Auswertungskategorien gleichermaßen als Indikatoren für Vorwissen zu interpretieren sind. Die Filter-Frage lautete dort: „In den Medien wird immer wieder über jüdisches Leben und Juden in Deutschland berichtet. Haben Sie solche Berichte wahrgenommen?“ Die Frage, in welchen Informationsquellen und Medien solche Berichte wahrgenommen wurden, umfasste im Gegensatz zu den anderen Museen noch die standardisierte Antwortmöglichkeit „Gespräche mit Freunden, Bekannten, Familie“. Dann erfolgte die in allen Museen gleich gestellte Frage: „Haben Sie sich dabei für bestimmte Themen besonders interessiert?“ Die Stichprobe im JMB unterscheidet sich also von den anderen nur durch die erste, wenn auch zentrale der Filterfragen. Die von den Befragten anschließend genannten Themen erscheinen jedoch unter diesem Vorbehalt zwischen den Museen vergleichbar. Die Angaben, wie eine vorherige Beschäftigung mit der ausgestellten Geschichte stattfand, geben Aufschluss darüber, dass sich die verschiedenen Publika nicht wesentlich darin unterscheiden, wie sie sich Geschichtswissen angeeignet haben. Die dann auftretenden kleineren Unterschiede scheinen auf die je verschiedenen Besu-
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cherprofile der Museen zurückzugehen oder etwas auf eine abweichende Platzierung von Themen in den Massenmedien. Diese Ergebnisse stützen die bereits diskutierte Annahme 2.1, dass sich Museum und Besuchspublikum wechselseitig konstituieren. In allen Museen haben sich die Besucher vorab mit der ausgestellten Geschichte befasst, jeweils über 95 Prozent der Befragten in HdG und DHM geben an, sich vorab mit der ausgestellten Geschichte beschäftigt zu haben. Im MHU hingegen fällt die vorherige Beschäftigung von nur etwa drei Viertel des Besuchspublikums mit Hannoveraner bzw. niedersächsischer Geschichte am geringsten aus (vgl. Tabelle 7a im Anhang). Dies ist vermutlich auf den lokal bzw. regional begrenzten Themenbezug der Ausstellung zurückzuführen, über die wohl weniger in Massenmedien berichtet und in der Schule gelernt wird. Im JMB nahm ein mit den beiden Nationalmuseen vergleichbarer Anteil von 93 Prozent der Befragten vorab Medienberichte zum Thema der Ausstellung wahr. Auch im Hinblick auf die Informationsquellen, die Mediennutzung, ähnelt sich die Prozentverteilung im HdG und DHM, wovon die vorherige Beschäftigung mit der ausgestellten Geschichte des MHU- und JMB-Besuchspublikums dann wiederum nach unten hin abweicht. Dies scheint lediglich zu zeigen, dass die verschiedenen Ausstellungsinhalte in unterschiedlichen Mediendiskursen in unterschiedlichem Ausmaß präsent sind: In allen Museen dominieren Fernsehen und Bücher als Informationsquellen für eine vorherige Beschäftigung mit Geschichte (vgl. Tabelle 8a; 9a im Anhang). Im JMB sind es 86 Prozent der Besucher, die Medienberichte zum jüdischen Leben in Deutschland im Fernsehen sahen. Diese Themen werden bevorzugt in den Printmedien verfolgt: Im JMB werden Themen deutsch-jüdischer Geschichte und Kultur von 87 Prozent der Besucher in Zeitungen wahrgenommen. Im Hinblick auf Hannoveraner bzw. niedersächsische Geschichte hat das Fernsehen eine geringere Bedeutung. Für die Beschäftigung mit Stadt- und Landesgeschichte in Hannover werden spezifische andere, sonstige Informationsquellen genutzt: Zu nennen sind hier vor allem Museen, Archive, Vorlesungen und das Internet. Diese Geschichte verfügt über eine weniger große Präsenz in gängigen Medien. Dies bestätigt zugleich, dass sich das Besuchspublikum des MHU durch sehr geschichtsinteressierte Besucher auszeichnet, da sie auf vielfältige Quellen zurückgreifen: Die Besucher zeigen viel Eigeninitiative, um sich Informationen zu beschaffen. Die Nutzung von Informationsquellen scheint der Streuung der spezifischen Ausstellungsthemen über Medien und Publikationen zu entsprechen. Das Antwortverhalten dazu, mit welchen Themen der ausgestellten Geschichte sich die Besucher vorab beschäftigt haben, ist durch die Frageformulierung eng an den jeweiligen Ausstellungskontext geknüpft (vgl. Tabelle 6.3.1, 6.3.2). Die in allen Museen identisch gestellte zweite Filterfrage, ob sich die Interviewten bei der vorherigen Beschäftigung für bestimmte Themen besonders interessiert hätten, wird im JMB von 57 Prozent, also vom geringstem Prozentsatz der Befragten bejaht, während diese Frage im DHM mit 86 Prozent der Besucher am meisten
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Zustimmung findet (vgl. Tabelle 10a im Anhang). Durch die Filter kommen also zwischen den Stichproben variierende Fallzahlen zustande. Die Prozentangaben beziehen sich auf die Gruppe derjenigen Befragten, die mit dem ersten Filter bereits angaben, sich vorab mit dem Thema der Ausstellung beschäftigt zu haben. Das spezifische Themeninteresse der Gruppen von Besuchern, die sich überhaupt vorab mit Geschichte beschäftigten, erscheint demnach im JMB am geringsten und im DHM am stärksten ausgeprägt. Die Darstellung des Vorwissens der Befragten wird an dieser Stelle mit einer Dokumentation der Auswertungsschritte verknüpft. Die Frage, für welche Themen sich die Besucher vorab interessiert haben, wurde als offene Frage gestellt und einem Verfahren offenen Kodierens (vgl. Abschnitt 5.1.4) folgend ausgewertet. Zur Auswertung wurde ein Kategorienschema verwendet, das in der Lage war, nicht allein das Vorwissen in Kategorien zu erfassen, sondern ebenso die Nennungen zu Eindrücken sowie die „antizipierte Erinnerung“ an die Eindrücke vom Besuch in denselben Kategorien zu analysieren (vgl. Kapitel 6.7). Der gemeinsame Nenner aller Antworten ist, dass sie sich auf die jeweils ausgestellte Geschichte beziehen. Da sich somit die Auswertungskategorien für diese Fragen gleichen, ist es so möglich, Bezüge innerhalb des Textmaterials herzustellen. Somit wurde in der Darstellung zugunsten dieser Vergleichbarkeit und der Verständlichkeit der Ausführungen hier die erwähnten kleineren Unterschiede in der Erhebung zwischen den einzelnen Fragen, die der Bildung binärer Variablen zugrunde lagen, vernachlässigt. Im JMB lautete die konkrete Frage nach Eindrücken „Welche Teile des Museums, welche Themen der Ausstellung fanden Sie besonders eindrucksvoll?“, in den anderen Museen wurde differenziert gefragt „Gibt es Ausstellungstücke, die Sie besonders eindrucksvoll fanden? Wenn ja, welche?“ sowie „Welche der historischen Ereignisse bzw. Themen fanden Sie besonders eindrucksvoll dargestellt?“. Die Antworten im JMB weisen dennoch dieselbe Bandbreite auf wie die Nennungen in den anderen Museen. Im JMB wurde auch mit der Nennung von Exponaten geantwortet, obschon nicht separat danach gefragt wurde. Die Erfahrungen mit dieser Erhebung führten dann dazu, die Frage für die anderen Stichproben zu differenzieren. So lässt sich beschreiben, was die Besucher in den Ausstellungen sahen und was damit eine Chance erhielt, sich auf ihr Geschichtsverstehen auszuwirken. Zunächst wurde im so erhobenen Textmaterial nach grundsätzlichen Differenzen gesucht. Es zeigt sich allgemein, dass Besucher, nach ihren Eindrücken befragt, auf unterschiedliche Arten und Weisen antworten: Einige rekurrieren auf historische Perioden, andere nennen ein Thema, viele berücksichtigen Themenbereiche sowie Einzelthemen, genannt werden Arten der Geschichtsdarstellung oder Ausstellungsteile, auch das Ausstellungskonzept und die Exponatinszenierung werden bezeichnet. Die Kategorie „Einzelthemen“ wurde als Restkategorie verwendet, die extrem
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individuellen Nennungen vorbehalten war, wie z. B. der „Herzog-Film über jüdische Boxer“ im JMB. Wieder andere verweisen auf spezifische Arten der Geschichtsdarstellung, wenn, wie im JMB, Geschichte über Einzelschicksale erzählt wird oder mehrere Besucher des DHM Geschichte offenbar als bürgerliche Emanzipation lesen. Eine weitere allgemeine Restkategorie wurde für Beschreibungen vorbehalten, die das Konzept ganz allgemein nennen, was als eine Unterkategorie von Exponatinszenierung verstanden wurde. Die Kategorienbildung hatte es mit dem Problem der Mehrdimensionalität von Sinn zu tun: Gerade die schillernde Person Napoleons, der als historische Figur zeitgleich für Aufklärung und Befreiung wie für Unterdrückung, Absolutheitsanspruch und Krieg steht, verdeutlicht, wie die Art der Geschichtspräsentation für viele Befragte zugleich multiple Sinnbezüge aufweisen kann. Napoleons Hut steht demzufolge für unterschiedliche Bedeutungen; der Sinn einer solchen Nennung ist nur kontextabhängig zu rekonstruieren (Hooper-Greenhill, 2000: 49). Der Hut Napoleons kann beim Besucher die Aktualisierung vielfältiger Themenbezüge veranlassen, je nach zeitlichem Referenzhorizont die semantischen Felder Aufklärung oder Krieg berücksichtigen. Wird im Kontext einer entsprechenden Nennung (im DHM) der Vormärz oder die Verfassung genannt, verweist sie erwartbar auf Aufklärung, während sie auf Krieg zu verweisen scheint, wenn sie zusammen mit militärischen Objekten oder „dem Alten Fritz“ genannt wird. Dies verdeutlicht exemplarisch, warum Nennungen kontextsensitiv zu interpretieren sind. Dem Problem multipler Sinnbezüge wurde dadurch begegnet, dass Nennungen mit mehreren Sinnbezügen auch mehrfach zugeordnet wurden. Nennt ein Besucher z. B. im HdG die „Hinterlassenschaften der Kriegsheimkehrer und KZ-Häftlinge“, erscheint es gerechtfertigt, diese Nennung dreifach, nämlich als Exponatbezug in der Kategorie „historische Originale“ und thematisch sowohl als „Krieg“ und als „Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte“ zu kodieren. Die in der Auswertung zunächst angestrebte Regel, „nur eine Zuordnung zu einer Kategorie pro Nennung“ vorzunehmen, wurde transformiert in „eine Zuordnung pro Wort oder Begriff der Antwort“ und behielt so eingeschränkt ihre Geltung. Als ein Beispiel für das semantische Feld „Exponatinszenierung“ lassen sich Hands-on-Exponate aufführen, z. B. die Wohnungseinrichtung der Familie Tausendfach, die einige MHU-Besucher nennen. Die „Familie Tausendfach“ war eine Sonderausstellung des MHU, die nur während eines Teils der Erhebungen in Hannover Kindern museumspädagogisch-spielerische Grundsätze musealer Sinnbezüge und des Vergleichens näher brachte. Es besuchten nicht nur Kinder diesen Teil der Ausstellung. Diese musealen Dinge waren „zum Anfassen“ und sollten gerade durch Tasten und taktiles Erspüren sinnlich erfahren werden. Bezieht sich ein Besucher also auf die Familie Tausendfach, ist damit sicher kein thematischer oder historischer Sinnbezug gemeint, sondern einer zur Exponatinszenierung. Im JMB gibt es ein ähnliches Element der Exponatinszenierung: In einer Ecke der Ausstellung wer-
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den Besucher aufgefordert, ein Exponat, eine jüdische Menora, in einem blickdichten Kasten mit einem Eingriffsschlitz für die Hände nur mit ihrem Tast-Sinn zu erfahren. So waren, inklusive einer Kategorie für sonstige Angaben nach einer Auswertung fünf grobe Antwortklassen zu unterscheiden: • • • • •
Historische Perioden; Themen(-bereiche); Arten der Geschichtsschreibung, -darstellung; Museumskonstruktion/Exponatinszenierung; Gesamteindruck, Geschichte allgemein, Reflexionen, Sonstiges.
Diese groben Antwortklassen wurden in „entfalteten“, d. h. kleinteiliger differenzierten Tabellen dargestellt. Insofern besteht ein Unterschied zwischen „komprimierten“ und „entfalteten“ Tabellen, je nach Abstraktionsgrad oder Feingliederung der Kategorien. Im Folgenden ist von „entfalteten“ Tabellen die Rede, wenn eine analytische Unterteilung in Subkategorien inhaltlich und deskriptiv vom „qualitativen Standpunkt“ her betrachtet sinnvoll ist, aber aufgrund zu geringer Zellenbelegung für eine statistische Analyse Kategorien zusammengefasst werden müssen. Vom Gegenbegriff „komprimierte“ Tabellen ist die Rede, werden diese Subkategorien zu einem Oberbegriff bzw. in eine Oberkategorie zusammengefasst. Für eine kleinteiligere Differenzierung der Nennungen zu „Historischen Perioden“ bot es sich aufgrund der geringeren Zellenbelegung an, die Perioden „Frühgeschichtliches, Antike und Mittelalter“ zu einer Kategorie zusammenzufassen. Weiterhin wurden Nennungen unterschieden, die sich auf die Periode „Neuzeit“, also grob ab 1500 bis ca. 1870, bezogen sowie auf die über den Zeitraum von 1871 bis 1933 gehende Moderne. Diese Periode wurde als durch die deutsche Reichsgründung und den Beginn der NS-Zeit begrenzt interpretiert. Sicherlich gab es in Deutschland etliche moderne Entwicklungen vor dieser Zeitmarke und sicherlich auch nach 1933. Die Gründung des deutschen Staates als konstitutiv für diese Periodisierung zu nehmen, erschien empirisch plausibel und wurde durch die erhobenen Nennungen nahe gelegt, in denen sowohl ohne Jahresangaben von „Moderne“ die Rede war, oder Äußerungen, die eine Zeitangabe wie „ab 1871“ beinhalteten. Zudem lässt sich diese Interpretation negativ darüber begründen, was empirisch im Material gerade nicht auftrat: Eine Nennung einer Jahreszahl vor 1871, aus deren Kontext zu entnehmen war,
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dass andere „moderne“ historische Ereignisse gemeint sind, trat nicht auf; es gab al3 so keinen Anlass zu einer abweichenden Zusammenfassung. Weiterhin war den Nennungen zu entnehmen, dass die „NS-Zeit von 1933 bis 1945“ den Befragten als eine Periode sui generis, ohne Vorbild oder Vergleichbarkeit mit vorherigen Phasen, gilt. Die Periode ab 1945 wurde als Zeitgeschichte gefasst und umfasst auch Bezüge auf Aktuelles und die Gegenwart. Die erste Klasse von Antworten wurde demnach unterteilt in: • • • • •
Frühgeschichtliches, Antike, Mittelalter; Neuzeit, ab 1500 bis 19. Jahrhundert; Moderne, ab 1871 bis 1933; NS, Drittes Reich, 1933-1945; Zeitgeschichte, Aktuelles, Gegenwart.
Die Feingliederung der Antworten zu „Themen“ unterschied fünf Bereiche. Einige Befragte äußerten sich abstrakter und benannten ganze Themenbereiche, und wieder andere waren in ihren Aussagen sehr viel konkreter. Die konkreten Nennungen lassen sich in einem Interpretationsakt den verschiedenen Bereichen zuordnen. Z. B. nennt ein Befragter im HdG „politische Geschichte“ und legt damit die Benennung einer Kategorie mit „Politik“ nahe, während andere Besucher des Museums konkreter von „Bundestagswahlen“, dem „Zweiten Weltkrieg“, der Politik der FDP oder „dem Kniefall von Willy Brandt“ sprechen. Zunächst erhielt die gebildete Kategorie „Politik, Militaria, Krieg“ noch spezifischere Unterkategorien wie „Israel“, „Teilung Ost/West, DDR, Wiedervereinigung, Mauerfall“ sowie „Reichsgründung, Reichsgeschichte“, die nur in spezifischen Museen eine diese Kategorienbildung rechtfertigende Häufigkeit erreichten und gebildet wurden, um den Besonderheiten der Politikdarstellung im JMB, HdG und DHM zu entsprechen. Diese Ergebnisdarstellung erfolgte also im Hinblick auf diese Kategorien mit entfalteten Tabellen. Unter den Oberbegriff „Politik“ wurden in den einzelnen Museumsstichproben zunächst nur solche Nennungen gefasst, die so allgemein formuliert waren, dass sie keinen Rückschluss darauf zuließen, welche Politik gemeint war, und solche, die Politik oder Krieg in einer von den genannten Unterkategorien abweichenden Hinsicht thematisierten: Die Antwort eines Befragten „Schlesische Kriege“ im DHM etwa und ein Besucher, der sein Themeninteresse im DHM über „Veränderungen der politischen Struktur“ bezeichnet sowie Nennungen zu den Napoleonischen Kriegen im MHU oder die Antwort eines Besuchers „Gerichtsbarkeit“ eben dort. 3
War in einer Nennung von Industrialisierung die Rede, einem weiteren Kennzeichen der Moderne jenseits der Nationenbildung, wurde dies unter das Thema Wirtschaft und Arbeit gefasst.
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Für statistische Auswertungen sind generell größere Zellenbelegungen wünschenswert und der Sinn einer Kategorisierung liegt generell darin, vom Einzelfall abstrahierend Häufungen und quantitativ vorherrschende Tendenzen darzustellen. Deshalb wurde diese Differenzierung in Unterpunkte wieder aufgegeben und die Feingliederung der Kategorie „Politik, Militaria, Krieg“ wieder aufgelöst. Die Themenkategorie „Wirtschaft, Arbeit, Wissenschaft, Technik“ wurde nach einem analogen Verfahren gebildet. Es gab hier keine feinere Untergliederung. Wie bereits die Kategorienbenennung nahe legt, handelt es sich bei diesem semantischen Feld um eine Zusammenlegung der beiden Themenbereiche, „Wirtschaft“ und „Wissenschaft“. Dies geschah, da zu beiden Themenbereichen Nennungen eher selten auftraten. Die Kategorie „Religion, Tradition, Kunst, Kultur und Architektur(geschichte)“ umfasst alle Antworten, die sich unter einen sehr breiten Alltagsbegriff von Kultur fassen lassen. Das zu einer Kategorienbildung führende Verfahren bestand hier darin, den von den Befragten genannten abstrakten Begriffen, wie „Religion“, „Tradition“, „Kunst“, „Kultur“ und „Architektur“, andere konkretere Äußerungen wie „christlich-jüdische Tradition“, „Jesus als Jude“, „Kunst und Gemälde“, „Reformation“, „Luther“, aber auch „Kindersachen: 60er Jahre“ im HdG, als zeitgeschichtliche Phänomene der Populärkultur zuzuordnen und so das durch die Kategorie bezeichnete semantische Feld auszudeuten, zu erweitern und zugleich gegenüber anderen Felder bzw. Kategorien abzugrenzen. Eine weitere Kategorie ist mit „Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte“ überschrieben und fasst damit bewusst auf einem hohen Niveau der Verallgemeinerung graduell sehr verschiedenartige Äußerungen zusammen, wie etwa die eines Besuchers „Warum Juden immer so auf Widerstand gestoßen sind interessiert mich: was dahinter steckt.“, die neben abstrakten Begriffen wie Antisemitismus, Diskriminierung, Verfolgung, Deportation, Vernichtung, Holocaust und Auschwitz diese Kategorie bilden. Bezüge auf diesen Themenbereich der deutschen Geschichte finden sich nicht nur im JMB, sondern auch in den anderen Museen. Die letzte Kategorie, „Einzelthemen“, bündelt Nennungen individuellen Charakters, d. h. solche, die nicht weiter zuzuordnen oder zusammenzufassen waren und die trotzdem einen thematischen Bezug aufweisen. Die Themen sind demnach untergliedert in: • • • • •
Politik, Militaria, Krieg; Wirtschaft, Technik, Arbeit, Wissenschaft; Religion, Tradition, Kunst, Kultur, Architektur(-geschichte); Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte; Einzelthemen.
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Bei den „Arten der Geschichtsdarstellung“ sind in den Nennungen der Befragten drei bzw. vier unterschiedliche Geschichtsdarstellungen bzw. Erzählweisen von Geschichte zu differenzieren: „Räumlich-territorial erzählte Geschichte“, „Etappen einer Emanzipations- und Befreiungsgeschichte“, „Geschichte als Geschichten, Alltagsgeschichte, Volkskunde“ sowie „Personengeschichte, Adelsgeschichte, Geschichte sozialer Unterschiede“. Diese sind z. T. in den musealen Präsentationen und Konzepten angelegt: Das JMB erzählt explizit „Geschichten“ jüdischen Lebens in Deutschland; das MHU nimmt sich der Hannoveraner Geschichte als räumlichterritorial begrenzten Gegenstand der Ausstellung an; das DHM zeigt bereits mit der in der Eingangshalle ausgestellten multimedialen Landkarte, die die zeitlichen Verschiebungen der deutschen Grenzen je nach Zeitbezug darstellt, wie sich der lokal-räumliche Bezug „deutsch“ über die Zeit verändert und das HdG und DHM stellen bewusst persönliche Habseligkeiten historischer Personen, z. B. von Adeligen und von Politikern aus (Adenauers Mercedes, Hitlers und Honeckers Schreibtische, die lila Latzhose einer Grünen). Eine derartige Verknüpfung der Kategorie zu „Personengeschichte, Adelsgeschichte, Geschichte sozialer Unterschiede“ rechtfertigt sich durch eine Äußerung im DHM: Dort interessiert sich dann eine Besucherin explizit für „Könige und Kaiser / Das Volk hat zu blechen; das ist und bleibt so“. Also wird ebenso eine Geschichtsdarstellung in eine Präsentation durch die Besucher hineingelesen, die sich solcher Vorgaben eher enthält – wenn z. B. ein JMB-Besucher das Thema „Wie lange die Emanzipation gebraucht hat“ als eindrucksvoll wahrgenommen genannt wird oder Befragte des DHM verschiedene historische „Etappen“ der Befreiung des bürgerlichen Individuums aus der ständischen Gesellschaftsstruktur auflisten (z. B. „.Vormärz, Reichseinigung, Holocaust, 68er-Bewegung“ oder „Bauernkriege, Revolution, 1919-1933, 1970-1991“). Diese Nennungen sind gleichwohl sehr selten; die Kategorie taucht nicht im Hinblick auf jede der Fragen auf und wo sie auftritt, ist sie eher dünn belegt. Diese Art von Antworten war nicht ohne weiteres in anderen Kategorien zu fassen. Die Herstellung lokal-räumlicher Bezüge, wie z. B. „Die Geschichte Hannovers“, „Stadtgeschichte“, „regionale Geschichte, Niedersachsen, Hamburg“ oder einfach deutsche Geschichte ist eine verbreitete Art der Thematisierung von Geschichte. Im DHM heißt das entsprechend der Ausstellungsgestaltung, dass ein Besucher, der die „2. Hälfte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen: Erstarken der Stände. Idee des Reiches, Fortschreibung des dt. Reiches in Form der EU“ als eindrucksvoll benennt, damit mehrere lokale Bezüge zugleich realisiert. Es ist durchaus vielsagend, wenn ein Befragter es für nötig hält, in seinen Antworten den Raumbezug zu betonen und zu sagen, er habe sich für die Beziehungen des Hannoveraner Königshauses zu England, für jüdisches Leben in Hamburg oder auch in der quantitativ sehr verbreiteten, indifferenten Form, sich für deutsche Geschichte allgemein zu interessieren.
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Eine Art der Geschichtsdarstellung, die in allen Museen verbreitet und bei den Besuchern anscheinend sehr beliebt ist, besteht darin, die Präsentation mit einem Bezug zur Lebenswelt der Besucher zu konzipieren. Im JMB wird „Geschichte als Geschichten“ dargestellt, die anderen Museen präsentieren „Alltagsgeschichte“ oder „Volkskunde“. Gerade das MHU ist durch einen großflächigen volkskundlichen Ausstellungsteil geprägt, welcher die historischen Bedingungen des „Lebens auf dem Lande“ präsentiert; daneben findet sich das Interieur bürgerlicher Wohnzimmer und anderer Wohneinrichtungen im Spiegel der Zeit ausgestellt, wobei das MHU die historische Vergangenheit anhand von Modellen und Puppenstuben zu präsentieren weiß. Hier ist also dargestellt, wie in einer bürgerlichen Kindheit das Vertrautmachen mit alltäglichen kulturellen Werten und die spielerische Visualisierung und Repräsentation „normalen Lebens“ über die Zeiten hinweg stattfand. Es wird also ein Mischverhältnis von Alltagskultur und Repräsentationen von Alltäglichkeit über verschiedene soziale Schichten hinweg hergestellt. Dies findet bei den Besuchern deutlich Gefallen, was sich in der großen Anzahl an Nennungen zeigt, die auf diese Art der Geschichtsdarstellung verweisen. Im DHM spielt sie eine geringere Rolle und tritt vorrangig gegen Ende der Präsentation in der Nähe zur Gegenwart auf, z. B. durch die dort gezeigte lila Latzhose der Grünen-Politikerin. Im HdG rücken vielfältige Konsumartikel, Geschirr in zeittypischem Design, die Jukebox und eine 1950er-Jahre-Eisdiele, Geschichte näher an die Lebenswelt der Besucher heran. Die Präsentation zeichnet sich durch viele Bezüge zur Populärkultur des Westens und viele Alltagsgegenstände aus der Zeitgeschichte der DDR aus. Eine letzte Art der Geschichtsdarstellung, „Personen-/Adelsgeschichte, Geschichte sozialer Unterschiede“, auf die die Befragten Rekurs nehmen, fasst zwei unterschiedliche semantische Konfigurationen zusammen: Vorrangig die Ausstellung im HdG macht Politiker darüber „greifbarer“, dass Gegenstände präsentiert werden, die auf bekannte Persönlichkeiten referieren, Adenauers Mercedes z. B., oder der Hut Napoleons im DHM wären in diesem semantischen Feld anzusiedeln. Die Geschichte der eher lebensweltlich fernen Persönlichkeiten wird für den Besucher „herangeholt“, indem diese über Alltagsgegenstände repräsentiert sind, die er so ähnlich vielleicht selbst schon einmal verwendet hat. Die Gebrauchsgegenstände rücken die prominenten Persönlichkeiten für den Besucher näher heran, während ihnen zugleich der Kontext des Museums die Aura einer Reliquie, kontagiöse Magie, verleiht: sie können demnach durch diese Beziehung, durch den Kontakt zu einer herausragenden Person als mythisch aufgeladen gelten. Im DHM antwortet ein Befragter, „Les Empereurs: Die Darstellung der allgemeinen Geschichte durch die Darstellung exemplarischer Personen/Empereurs“ sei eindrucksvoll gewesen. Diese Nennung kann u.a. in der Interpretation zeigen, dass die Referenz auf Herrschaft immer auch diejenigen meint, über die geherrscht wird. Der Gegensatz zwischen allgemeiner Geschichte und exemplarischen Personen, den
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diese Formulierung aufmacht, stützt die Interpretation, dass die Besucher durchaus das in der Präsentation nicht Berücksichtigte – z. B. hier die Bevölkerung, die Beherrschten – mit sehen. Die die Ausstellung im DHM dominierende Berücksichtigung der Adelsgeschichte durch Portraits zu Beginn der Präsentation, die dadurch bestimmt wird, dass die Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit oft durch herausragende Adelspersonen dargestellt und allein dementsprechend überliefert wurde, bringt die Besucher dazu, Geschichte als eine sozialer Ungleichheiten zu thematisieren. Von einer Besucherin wird der Eindruck „Die Darstellung der Unterschiede zwischen den Herrschenden und dem Fußvolk“ genannt, das „Verhältnis StadtLand bis zum Barock“ oder soziale „Unterschiede zwischen Ost und West (Alltagsleben, Produkte)“ thematisiert. Diese Nennungen im DHM lassen es gerechtfertigt erscheinen, sie als Bezugnahme auf eine Art von Geschichtsdarstellung zu werten, die soziale Unterschiede unterstreicht; ob dies durch die museale Konzeption intendiert ist, bleibt eine andere Frage. Auch in anderen Museen thematisieren Besucher soziale Unterschiede. Im MHU nennt ein Besucher „ständische Unterschiede“ als Thema seines vorherigen Geschichtsinteresses, eine Besucherin bekundet Interesse für „Frauengeschichte“ – ein Thema, das nur als Erzählung einer Veränderung geschlechtlicher Unterschiede historisierbar, also überhaupt zum Thema wird. Unterschieden werden die Unterkategorien • • • •
Räumlich-territorial bestimmte Geschichte: lokal, regional, national, europäisch; Etappen einer Emanzipations- und Befreiungsgeschichte; Geschichte als Geschichten, Alltagsgeschichte, Volkskunde; Personengeschichte, Adelsgeschichte sowie Geschichte sozialer Ungleichheiten.
Erst im Hinblick auf die Eindrücke bzw. die antizipierte Erinnerung an den Besuch erfolgten natürlich Nennungen zur „Museumskonstruktion/Exponatinszenierung“, nicht bereits auf eine Frage nach dem Vorwissen. Diese Auswertungen sind dennoch hier vorzustellen, da die gewonnen Kategorien alle semantischen Ebenen berücksichtigen sollen, die in Aussagen vorkommen können, wenn Besucher ihre Eindrücke schildern. Die Kategorien, die unterschiedliche Merkmale der Exponatinszenierung differenzieren, müssen zuallererst diejenigen Objektqualitäten berücksichtigen, die die Besonderheit der Museen prägen. Das Museum erhält für viele Besucher seine Attraktivität darüber, historische Originale zu präsentieren, „Dokumente“ oder „Artefakte, Dingliches oder Bildliches“, die eine bestimmte Zeit konkret und anschaulich bzw. handgreiflich werden zu lassen versprechen. An dieser Stelle musste eine Regel gefunden werden, die Kategorie „Kuriose Exponate“ mit den „personal belongings“ wie dem Mercedes Adenauers, und den „Originalen mit Spuren“ von der Kategorie der historisch-Originale (Dokumente und
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Artefakte) abzugrenzen. Als Ausstellungsstück „mit Spuren“ wird ein historisches Original nur dann verstanden, wenn z. B. ein DHM-Besucher explizit die Spuren an den Dingen nennt. Wenn also dieses Merkmal als dasjenige zu vermuten ist, das den Befragten dazu motiviert, auf die Frage nach eindrucksvollen Exponaten gerade diese historischen Spuren zu nennen, so z. B. der Besucher, der „die mit Schüssen durchschlagenen Helme aus dem I. Weltkrieg “ im DHM nennt. Werden die Spuren genannt, machen diese das Objekt zum Kuriosum, während die Nennung eines Originals ohne Spuren auf dessen Bezeugungs- und Veranschaulichungsfunktion zu verweisen scheint. Napoleons Hut erhält seine Bedeutung für die Präsentation darüber, dass er als „personal belonging“ einer historischen Persönlichkeit dort ausgestellt ist. Das semantische Feld der Kategorie, der die „personal belongings“ angehören, ist mit „kuriose Exponate“ bezeichnet und umfasst zudem historische Originale „mit Spu4 ren“, wie z. B. „Hitlers Globus mit Einschussloch“ im DHM. Im MHU erweckten das ausgestellte Folterinstrument, die Ritterrüstung und eine Brunnenwandung aus Holz das Erstaunen und die Überraschung der Besucher, viele zeigten sich von den Prunkkutschen der Fürsten fasziniert. Handelt es sich bei diesen Objekten strenggenommen nicht um „kuriose Exponate“ im strengen Sinne, erfolgt die Ansprache des Besuchspublikums durch diese Medien über das Erzeugen von Aufmerksamkeit durch Gefühlsregungen wie Befremden, Erstaunen, Verwunderung, Überraschung, Faszination. Die als Kuriositäten eingeordneten Exponate im MHU sind differenzierter betrachtet eher „Admirabilia“. Über die beim Emotionalen ansetzende Ansprache der Kuriosa wird ähnlich wie bei den „personal belongings“ Nähe zu (zeitlich) Fremdem/Befremdendem, hergestellt. Aufmerksamkeit wird vielfach durch eine Kopräsenz von Diskrepantem, Widersprüchlichem erzeugt. Die erwähnten Einschusslöcher in dem Soldatenhelm leisten das Widersprüchliche: Sie geben dem Tod ein materielles Nachleben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, aufgrund welcher Überlegungen sich diese unterschiedlichen Medien in der Kategorie „kuriose Exponate“ zusammenfassen lassen. „Kurios“ bezeichnet in diesem Zusammenhang eine Palette von Arten emotionaler Aufmerksamkeitserzeugung, die ein Objekt leisten kann. Eine andere, stärker abstrahierende Art der Veranschaulichung tritt vor allem im MHU durch „Modelle, Karten oder Miniaturen“ auf. Diese Exponate wurden explizit angefertigt, um als Modell, als Veranschaulichung, zur Vereinfachung und Verkleinerung eine Art von Orientierung in der Gegenwart zu geben. Eine mittelalterliche Karte zu Beginn der Ausstellung im MHU veranschaulicht eine kulturelle Weltsicht dieser Zeit als Tableau, das einem Betrachter mit heutigem Weltver4
Korff (2002: 140) beschreibt als Ausstellungsprinzip des Deutschen Historischen Museums, „things with dirt on them“ auszustellen.
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ständnis sehr fremd erscheint. Modelle und Karten sind Nachbildungen mit einer explizit veranschaulichenden Funktion; demzufolge sind sie von historischen Originalen und Kuriosa zu unterscheiden. Museale Inszenierungen im besten Sinne sind „Installationen und Arrangements“, die tatsächlich ein „Betreten“ historischer Räume erlauben, bzw. suggerieren, man könne vergangene (Zeit-)Räume mit ihrer historischen Atmosphäre auch heute noch betreten. Im HdG sind solche Ausstellungselemente z. B. der „Rosinenbomber“ oder die Installation des alten Plenarsaals des Bundestages. Im MHU findet der Besucher im Stil der 1950er und 1960er Jahre arrangierte Wohnzimmer, die ein authentisches Zeiterleben suggerieren. Inszenierung bleiben diese Installationen immer, selbst wenn sie sich verstärkt – ein Widerspruch in sich – um die Herstellung von Authentizität bemühen. Ein Befragter im MHU machte darauf aufmerksam: In den 1950er Jahren nach dem Krieg hätte niemand genügend Geld gehabt, sich zugleich einen Radioempfänger, ein Sofa und die Plüschsessel zu leisten, wie ein Wohnzimmerarrangement diese Gebrauchsgegenstände in der musealen Präsentation zusammenführt. Die Menschen hatten zumeist entweder das eine oder das andere, und solche Gebrauchsgegenstände wurden im Laufe der Zeit nach und nach angeschafft. Die museale Inszenierung kann retrospektiv das Design der 1950er überbieten, da sich im Nachhinein ein Wohnzimmer vollständig im Stile der Zeit dekorieren lässt, was aber gerade nicht „authentisch“ ist. Eine weitere Kategorie der Exponatinszenierung wird durch Medien gebildet, die als zeitgemäße Mittel musealer Inszenierung gelten können: „Multimedia: Filme, Audio-Installationen, interaktive Exponate und Hands-ons“ machen gegenwärtig jede Ausstellung zu einer den zeitgenössischen Standards der Museumspädagogik folgenden Präsentation. Dies rechtfertigt, diese Vielfalt an Medien in einer Kategorie zusammenzufassen. Die Architektur im JMB hat ihre eigene mediale Qualität; sie wird von den Befragten durchaus als sinntragend bzw. -konstruierend wahrgenommen. Analog zur Exponatinszenierung stellt sie eine Sinnproduktion des Museums dar. Das erlaubt, Nennungen zur räumlichen Atmosphäre und Architektur als eine weitere Kategorie der Ausstellungskonzeption zu fassen. Die Benennung der einzelnen, spezifisch durch die Libeskind-Konzeption bestimmten Räume des JMB ist als eine davon zu differenzierende Kategorie zu fassen. Ein letzter Typ von Nennungen umfasst Äußerungen, die undifferenziert die ganze Präsentation als eindrucksvoll bezeichnen. Dabei ist nicht immer zu entscheiden, ob dieses Antwortverhalten auf das umfassende Gelingen einer Museumspräsentation zurückgeht oder auf einen Mangel an Motivation der Befragten, differenzierter zu antworten. Die Inszenierung von Geschichte lässt sich demnach in folgende Kategorien differenzieren:
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• • • • • • • •
DIE
M USEEN
NUTZEN
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Historisch Originale: Dokumente und Artefakte, Dingliches, Bildliches; Modelle, Karten, Miniaturen; Installationen, Wohnarrangements; Multimedia: Filme, Interaktives, Audiovisuelles, Hands-on-Exponate; Kuriose Exponate, Originale mit historischen Spuren: „personal belongings“ historischer Persönlichkeiten; Museumsarchitektur, Atmosphäre: Gesamtkonzept (Untergeschoss JMB); Präsentationskonzept (Obergeschosse JMB); Architektonische Erlebnisräume: Holocaustturm, Garten des Exils, Leerstelle des Gedenkens, Installation „Gefallenes Laub“.
In einem abschließenden Interpretationsschritt wurden den Nennungen Kodes zugeordnet, die sie als Typus der einen oder anderen semantischen Kategorie ausweisen. Die offenen Nennungen wurden in binäre „Dummy“-Variablen mit den Werten 1/0 für „genannt“ oder „nicht genannt“ transformiert. Da die Befragten mit bis zu zehn Nennungen auf eine Frage antworteten, häufig einer Aufzählung von Themen und Exponaten, konnte dem Charakter dieses Textmaterials ohnehin nur durch Mehrfachkodierungen entsprochen werden. Nannte ein Besucher mehrere zu einer semantischen Kategorie gehörige Wörter, konnte dem Text nur durch Vergabe eines entsprechenden Kodes entsprochen werden. Im Folgenden wird mitunter die Bezeichnung der Kategorien zur Vereinfachung verkürzt, es wird also nur ein Element der kompletten Kategorienbezeichnung stellvertretend genannt: im Hinblick auf das MHU ist z. B. nur von „Alltagsgeschichte“, in Bezug auf das JMB nur „Geschichte als Geschichten“ die Rede.
328 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Tabelle 6.3.1: Vorwissen – Themen nach Museen (in Prozent von n 5, Mehrfachnennungen möglich) MHU
HdG
JMB
DHM
Gesamt
Historische Perioden
21,7
46,3
36,7
65,7
45,4
Themen
49,3
70,7
78,3
56,9
62,9
47,8
13,4
10
23,5
23,6
7,2
3,7
16,7
5,8
7,6
(n = 69)
(n = 82)
(n = 60)
(n=102)
(n=313)
Arten der Geschichtsschreibung, -darstellung Geschichte allgemein, Sonstiges
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Der Überblick über das Antwortverhalten zeigt eine Charakteristik des DHMBesuchspublikums: Dieses gibt sein Vorwissen zu einem Großteil (66 Prozent) durch Referenz auf eine historische Periode an. Dieses Antwortverhalten erscheint nahe liegend, weil es ermöglicht, den breiten historischen Zeitraum, den die Ausstellung abdeckt, grob zu gliedern. Dennoch überrascht, dass die meisten Befragten im DHM ausgerechnet „Zeitgeschichte“ berücksichtigen, also die historische Periode nach 1945. Von 13,4 Prozent der Befragten wurden im HdG zeitliche Einordnungen des Interesses in die „Moderne“, also dem Zeitraum ab 1871 bis 1933 vorgenommen (vgl. Tabelle 11a im Anhang). Charakteristisch ist, dass im MHU das Vorwissen von 48 Prozent der Befragten durch Referenz auf verschiedene Geschichtsdarstellungen artikuliert wird. Etwas weniger als ein Drittel der Befragten bezog sich damit auf räumlich-territorial bestimmte Geschichte. Zumeist beschränkt sich dies auf ein Themeninteresse, das allein mit Hannoveraner oder niedersächsische Geschichte spezifiziert wurde. Die Besucher rekonstruierten in ihrem Antwortverhalten damit nur den Themenausschnitt des stadt- und landesgeschichtlichen Museums. Formulierte der diese Frage einleitende Filter bereits explizit eine Be-
5
Bei den in der Tabelle aufgeführten Kategorien handelt es sich um Kapitelüberschriften, die in den darauf folgenden „entfalteten“ Tabellen mit linksbündig gesetzten Prozentangaben von ihren inhaltlichen Differenzierungen in Subkategorien (rechtsbündig) abgesetzt werden.
W IE DIE B ESUCHER
DIE
M USEEN
NUTZEN
| 329
schränkung auf die im jeweiligen Museum gezeigte Geschichte, ist eine Antwort, die lediglich die Stadt- und Landesgeschichte nennt, redundant. Tabelle 6.3.2: Vorwissen – Themen differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU Themen
49,3
Politik, Militaria, Krieg
HdG 70,7
JMB 78,3
DHM 56,9
Gesamt 62,9
21,7
43,9
8,3
29,4
27,5
----
----
11,7
----
2,2
----
----
20,0
----
3,8
----
14,6
----
9,8
7,0
----
----
----
8,8
2,9
Wirtschaft, Wissenschaft
4,3
15,9
----
1,0
5,4
Religion, Kunst, Kultur
17,4
4,9
20,0
6,9
11,2
----
----
45,0
3,9
9,9
14,5
14,6
10,0
12,7
13,1
Vergangenheitspolitik, -bewältigung Israel Teilung Ost/West, DDR; Wiedervereinigung, Mauerfall Reichsgründung, Reichsgeschichte
Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte Einzelthemen
(n = 69)
(n = 82)
(n = 60)
(n=102)
(n=313)
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Zeigte Tabelle 6.3.1, dass Angaben zum Vorwissen über die Museen hinweg am häufigsten durch den Rekurs der Befragten auf Themen erfolgten, lässt sich in der entfalteten Tabelle 6.3.2 zeigen, um welche Themen es sich jeweils handelte: Am häufigsten werden Themen der Kategorie „Politik, Militaria und Krieg“ genannt. Im JMB geht es hingegen um das Themenspektrum, das als „Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte“ zusammengefasst wurde. Im MHU sind es nur 22 Prozent der Befragten, für die das Themenspektrum „Politik, Militaria und Krieg“ vorab relevant war; mit auf „Politik, Militaria und Krieg“ bezogenem Themenwis-
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sen befasst sich ein Geschichtsinteressierter naheliegender Weise eher auf nationaler Ebene: Im HdG liegt bei 44 Prozent der Besucher ein Vorwissen über Kriegsund Militärthemen vor. Im DHM hingegen beschäftigten sich 15 Prozentpunkte weniger mit diesem Themenschwerpunkt. Demzufolge ist das Interesse der Museumsbesucher am Zweiten Weltkrieg, ein Thema, das vorrangig im HdG ausgestellt ist, größer als das an anderen Kriegen. Trägt man die Frage an das Material heran, ob sich im Hinblick auf das im JMB dominierende Thema, die „Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte“, das Antwortverhalten zwischen den beiden Museen, die die Zeit des Nationalsozialismus zentral berücksichtigen, unterscheidet, zeigen sich die folgenden Ergebnisse: Im JMB und HdG sind es 23 bzw. 32 Prozent der Besucher, die sich mit der „Periode des Nationalsozialismus“, dem Dritten Reich bzw. der Periode zwischen 1933 und 1945 befassten bzw. ihr Vorwissen in entsprechenden Kategorien der historischen Periodisierung ausdrückten. Ein historisches Vorwissen zu dieser Periode wäre demnach im JMB insgesamt um 9 Prozentpunkte geringer. Bei dieser Interpretation ist anzunehmen, es handele sich bei diesem Fünftel der Nennungen einer historischen Periode vermutlich um Befragte, die in diesem Haus explizit vermeiden, sich wörtlich auf die in dieser Zeit anzusiedelnde deutsch-jüdische Katastrophe, den Holocaust, zu beziehen. Denn zudem nannten im JMB 45 Prozent der Befragten solche Themen, die wie der Holocaust als „Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte“ kodiert wurden. Im JMB liegt die explizite Referenz auf „Holocaust“ näher als der allgemeiner bleibende Bezug auf die Periode des Nationalsozialismus. Dies stützt die These, dass das Museum, trotz abweichender Präsentationsintentionen, als Holocaustmuseum wahrgenommen wird (22 Befragte verwenden wortwörtlich den Begriff Holocaust). Im HdG dominiert dagegen die Darstellung der Folgen des Zweiten Weltkriegs, der wiederum von 44 Prozent der Befragten genannt wird. Daneben gibt es in der museumsspezifisch entfalteten Tabelle 6.3.2 im JMB ein spezifisches Vorwissen, das sich mit einer Neugier auf das Thema „Israel“ benennen lässt. Dies tritt zu gleichen Anteilen mit dem Themeninteresse auf, das als „Religion, Kunst, Kultur“ gefasst wurde. Ein Vorwissen zu „Religion, Kunst, Kultur“ ist im MHU-Besuchspublikum am zweithäufigsten anzutreffen. Im HdG konkurriert der Themenbereich „Kultur“ mit Vorwissen zur „deutschen Teilung“ bzw. „Wiedervereinigung und Mauerfall“ um den zweiten Rang beim als Vorwissen artikulierten Themeninteresse der Besucher. Spezifische „Einzelthemen“ stellen im DHM die am zweithäufigsten belegte Themenkategorie dar. Als Einzelthema galt, was sich nicht weiter mit anderen Aussagen zu einer Kategorie bündeln ließ. Betrachtet man die Variationsbreite der jeweiligen Antworten zwischen unterschiedlichen Kategorien, wird deutlich, dass das Antwortverhalten die Diversität der jeweiligen Ausstellungen widerzuspiegeln scheint.
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In der Gesamtstichprobe lassen sich signifikante Zusammenhänge zwischen dem Vorwissen der Besucher, mit dem Geschlecht, Alter, Bildungsabschluss und der Erwerbsgruppe finden (vgl. Tabelle 13a, 14a, 15a, 16a im Anhang). Hier bestätigt sich, dass das Interesse für Themen in der Stichprobe geschlechtsspezifisch verteilt ist6.
6.4 E INDRÜCKE DES B ESUCHES : H ISTORISCHE P ERIODEN , T HEMEN , G ESCHICHTSDARSTELLUNG E XPONATINSZENIERUNG
UND
Im JMB wurde sehr breit formuliert und offen danach gefragt, welche Teile des Museums, welche Themen der Ausstellung die Befragten besonders eindrucksvoll fanden (vgl. Fragebogen im Anhang). In den anderen Häusern wurde aufgrund der ersten Erhebungserfahrungen mit dem Antwortverhalten im JMB die Frage nach den Eindrücken des Besuches differenzierter gestellt (vgl. Fragebogen im Anhang). Die Antworten in der JMB-Stichprobe weisen jedoch semantisch dieselbe Bandbreite auf wie die Antworten auf die zwei differenzierteren Fragen in den anderen Häusern. Auch in den drei anderen Museen wurde auf die Frage nach Themen mit Nennungen zu Exponaten geantwortet, so wie umgekehrt bei der Frage nach Exponaten Themenbereiche beschrieben wurden. Im JMB variiert das Antwortspektrum zwischen architektonischen Teilen des Museumsbaus sowie anderen Merkmalen der Exponatinszenierung, es reicht von der Referenz auf historische Perioden bis zu den Themen der Ausstellung. Selbst wenn im MHU, HdG und DHM diese Frage dann in zwei Teilfragen als „eindrucksvoll empfundenen Exponaten“ und „eindrucksvoll dargestellten Themen“ gestellt wurde, erfolgten die Antworten der Befragten dort nicht unbedingt gezielter. In diesen drei Museen nimmt allein die Architektur eine die Eindrücke weniger prägende Rolle ein. Die Filterfrage „Gibt es Ausstellungstücke, die Sie besonders eindrucksvoll fanden?“ leitete in den im Anschluss an das JMB erhobenen drei Stichproben zur Nennung dieser Exponate über. Dann wurde ohne Einleitungsfilter danach gefragt, welche Themen als eindrucksvoll dargestellt empfunden wurden. Den Effekt durch diese unterschiedliche Art des Fragens eigentlich keine klar vergleichbaren Befunde
6
Assoziations- und Korrelationsmaße dürfen jedoch nicht im Sinne kausaler Zusammenhänge interpretiert werden, insofern können diese Maße nichts erklären (Benninghaus, 2005: 275ff). Sie bilden lediglich ein Maß für die Stärke der Abweichung von der statistischen Unabhängigkeit, ausgehend von einer Verteilung in einer Stichprobe. Signifikanzen können dabei als Maß für die Stärke der Abweichung interpretiert werden.
332 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
vorliegen zu haben, gleicht u. U. zugunsten einer dennoch legitimen Vergleichbarkeit unter Vorbehalt aus, dass im JMB gar nicht explizit nach Exponaten gefragt wurde, obwohl auch dort von den Befragten Ausstellungsstücke genannt wurden. Aufgrund des Filters vor der Frage nach Exponaten traten durch diese „opt-outoption“ letztendlich insgesamt weniger Nennungen zu Exponaten auf. In der Ergebnisdarstellung erscheint es sinnvoll, trotz der unterschiedlichen Ausgangsfragen und trotz der durch die eingebaute Filterfrage nur bedingt gegebenen Vergleichbarkeit von diesen Unterschieden zwischen den Stichproben und der Fragestellung zu abstrahieren und die Ergebnisse gemeinsam in einer Tabelle darzustellen. Zunächst einmal lässt sich die komprimierte Tabelle daraufhin ansehen und diskutieren, inwiefern die genannten Unterschiede in der Erhebung die Ergebnisse bestimmen könnten. Es fällt auf, dass im JMB die Prozentangaben gegenüber den anderen Museen insgesamt geringer ausfallen. Von der Verteilung her gibt es wenig Unterschiede, was darauf zurückzuführen sein wird, dass die architektonischen Besonderheiten des JMB in der Kategorie „Museumskonstruktion, Exponatinszenierung“ zusammengezogen wurden. Dies erscheint im Hinblick auf den Konstruktionscharakter der musealen Inszenierung mit verschiedenen medialen Mitteln berechtigt und plausibel. Die Architektur des JMB kann auf eine ähnliche Art und Weise als Sinn produzierend wahrgenommen werden wie etwa die begehbare Exponatinstallation des „Rosinenbombers“ im HdG. Ein Befragter, der in einer Äußerung z. B. sowohl den Holocaustturm als auch den Garten des Exils nennt, wurde nur einmal berücksichtigt, während ein Befragter, der von Krieg und der Zeit des Nationalsozialismus spricht, mit dieser Nennung zwei Kodierungen erhalten würde.
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DIE
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| 333
Tabelle 6.4.1: Eindrücke nach Museen (in Prozent von n7, Mehrfachnennungen möglich) MHU
HdG
JMB
DHM
Gesamt
27,6
23,2
25,0
39,5
28,9
50,4
85,6
30,0
61,3
57,1
63,4
29,6
15,8
27,4
34,1
70,7
50,4
60,8
54,8
59,1
10,6
12,8
16,7
16,9
14,2
Historische Perioden & Exponate historischer Perioden Themen und Exponate zu Themen Arten der Geschichtsschreibung, -darstellung Exponatinszenierung Gesamteindruck, Geschichte allgemein, Reflexionen n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
n = 492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
In allen Museen wurden überwiegend Aspekte der Exponatinszenierung genannt, wegen der die Museen besucht werden; dies überrascht wenig. Den zweiten Rang unter den von den Besuchern formulierten Eindrücken nehmen Themen ein. Im MHU überrascht, dass der volkskundlich-alltagsgeschichtlichen Geschichtsschreibung eine sehr große Bedeutung zukommt. Im DHM werden, analog zum Vorwissen, vorrangig historische Perioden genannt, was in diesem Fall vor allem die NSZeit und Frühgeschichtliches meint.
7
Bei den in der Tabelle aufgeführten Kategorien handelt es sich um Kapitelüberschriften, die in den darauf folgenden „entfalteten“ Tabellen mit linksbündig gesetzten Prozentangaben von ihren inhaltlichen Differenzierungen abgesetzt werden.
334 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Tabelle 6.4.2: Eindrücke – Historische Perioden differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU
HdG
JMB
DHM
Gesamt
Historische Perioden & Exponate historischer
27,6
23,2
25,0
39,5
28,9
Perioden Frühgeschichtliches,
6,5
0,0
0,0
17,7
6,1
3,3
0,0
3,3
3,2
2,4
Moderne, ab 1871–1933
4,1
0,0
5,8
13,7
5,9
NS; III. Reich, 1933–45
11,4
4,8
10,0
19,4
11,4
7,3
18,4
10,0
4,8
10,2
Antike, Mittelalter Neuzeit, ab 1500 bis 19. Jahrhundert
Zeitgeschichte, Aktuelles, Gegenwart
n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
n =492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Feine Unterschiede der Wahrnehmung der Besucher lassen sich der entfalteten Tabelle 6.4.2, differenziert nach historischen Perioden, entnehmen. Der Durchschnitt der Besucher des DHM sieht sich im Vergleich von einer größeren Vielfalt historischer Zeiten beeindruckt, während HdG-Besucher sich naheliegender Weise im Schnitt eher von Zeitgeschichtlichem angesprochen fühlen. In der entfalteten Aufgliederung wird deutlicher, dass vor allem im DHM thematische Bezüge auf Frühgeschichtliches oder das Mittelalter sowie auf Neuzeit und Moderne sinnvoll sind. In den anderen Häusern kommt diese Zeit gar nicht vor oder nimmt schlicht weniger Raum in den Dauerausstellungen ein. Hohe Prozentwerte im Hinblick auf die „NS-Zeit von 1933–45“ sind allen Museen gemeinsam. Im HdG ist die Zahl geringer, da sich die Dauerausstellung eher auf den Zweiten Weltkrieg bezieht, im JMB entfallen an dieser Stelle diejenigen Nennungen, die sich auf diese Zeit als die des Holocaust beziehen. Zu bedenken ist der Unterschied, den es in Abhängigkeit vom Museumskontext macht, diese Zeit als „NS, III. Reich oder 1933–45“ zu bezeichnen oder im HdG den Krieg und alternativ im JMB den Holocaust zu thematisieren. Diese Prozentangaben lassen sich als Bestätigung dessen lesen, dass Museen und ihre Zielgruppen sich wechselseitig konstituieren: Es finden sich kaum Besucher, die von historischen Perioden beeindruckt sind, die im Museum eine Nebenrolle in der Präsentation einnehmen, wie z. B. im HdG durch die Periode von 1933-45.
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Im HdG entfallen wesentlich mehr Nennungen auf „Politik, Militaria und Krieg“ als im JMB auf die „Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte“; hier spielt dafür wiederum die Kategorie „NS-Zeit“ eine geringere Rolle in den Nennungen der Befragten. Es überrascht, dass im HdG beinahe so viele Befragte wie im JMB Judenverfolgung oder Holocaust thematisieren. Tabelle 6.4.3: Eindrücke – Themen differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU Themen und Exponate zu Themen Politik, Militaria, Krieg Wirtschaft, Wissenschaft Religion, Kunst, Kultur
50,4
HdG 85,6
JMB 30,0
DHM 61,3
Gesamt 57,1
22,0
48,0
2,5
23,4
24,2
18,7
19,2
0,0
7,3
11,4
8,1
0,0
7,5
14,5
7,5
1,6
14,4
16,7
4,0
9,1
13,8
22,4
8,3
10,5
13,8
Brüche und Konflikte der deutschjüdischen Geschichte Einzelthemen
n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
n =492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Anhand der entfalteten Tabelle 6.4.3 erscheint bemerkenswert, dass man sich vor allem im HdG von „Einzelthemen“ der Historie beeindruckt zeigt. Thematisiert werden in den in dieser Kategorie zusammengefassten Nennungen so verschiedene Eindrücke wie z. B. „Geschichte des Roten Kreuzes“, der „Währungsreform“, das „Grundgesetz von 1945“ o. Ä. Zeitgeschichte scheint sich durch die zeitliche Nähe den Besuchern in stärker differenzierten Themenbezügen zu erschließen. In HdG und DHM befasst man sich dann weiter mit deutscher Politik, Kriegen und Militaria. Zu beachten ist, dass dies im DHM den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie die historisch früheren Kriege der deutschen Geschichte meint, im HdG dagegen nur den Zweiten Weltkrieg und die Politik der jüngsten Zeitgeschichte. Ins DHM geht man auch, um sich von Kultur und ihrer Geschichte beeindrucken zu lassen. Religion, Kunst, Kultur sind Themenbereiche, für die sich auch Besucher im MHU interessieren. Dem Interesse an Kultur entspricht auch das JMB, Kultur wird dennoch
336 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
nur von einem kleineren Anteil der Befragten als im Museum eindrucksvoll dargestellt angegeben. Tabelle 6.4.4: Eindrücke – Geschichtsschreibung, -darstellung differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU Arten der Geschichtsschreibung, -darstellung
63,4
HdG 29,6
JMB 15,8
DHM 27,4
Gesamt 34,1
Räumlich-territorial bestimmte Geschichte: lokal, regional, national,
13,0
1,6
0,8
4,8
5,1
0,0
0,0
5,0
6,5
2,8
46,3
28,0
13,3
10,5
24,6
16,3
0,0
0,0
9,7
6,5
europäisch Etappen einer Emanzipations- und Befreiungsgeschichte Geschichte als Geschichten, Alltagsgeschichte, Volkskunde Personengeschichte, Adelsgeschichte, sowie Geschichte sozialer Ungleichheiten n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
n =492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Vor allem bei den Besuchern des MHU werden Eindrücke durch den thematischen Bezug auf eine spezifische Art von Geschichtsschreibung oder Darstellung formuliert. Hier sind es vor allem diejenigen Aspekte der Ausstellung, die entweder Historie als „Volkskunde“ erzählen oder einer alltagsgeschichtlichen Darstellung folgen. Im MHU bringt beispielsweise das Kinderspielzeug den Besuchern die Lebenswelt vergangener Zeiten nahe, im Obergeschoss wird das frühere Leben auf dem Lande vergegenwärtigt. Ein territorialer Bezug der Geschichtserzählung wird explizit nur im MHU herausgestellt und entsprechend vom Besuchspublikum gesehen. Im DHM scheint eine breite Palette von Arten der Geschichtsschreibung in das Museum hineingelesen zu werden: Auch hier wird der Bezug zu Themen und Exponaten der Alltagsgeschichte hergestellt, wie in den anderen drei Museen. Der Ansatz des Museums, sich einer spezifischen Geschichtsinterpretation zugunsten plu-
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raler Bezüge zu enthalten, führt dazu, dass die Besucher dieses Museums nach der je eigenen Vorliebe Zusammenhänge in die Ausstellung hineinlesen. Tabelle 6.4.5: Eindrücke – Exponatinszenierung, Museumskonstruktion differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU Exponatinszenierung, Museumskonstruktion Historisch Originale Modelle, Karten, Miniaturen Installationen, Wohnarrangements Multimedia
70,7
HdG 50,4
JMB 60,8
DHM 54,8
Gesamt 59,1
22,0
20,0
2,5
32,3
19,3
26,0
0,0
0,0
8,1
8,5
15,4
21,6
0,8
2,4
10,2
5,7
15,2
10,8
9,7
10,4
30,1
10,4
0,0
12,9
13,4
0,8
0,8
34,2
0,0
8,7
1,6
0,8
11,7
2,4
4,1
0,0
0,0
28,3
0,0
6,9
Kuriose Exponate, Originale mit historischen Spuren Museumsarchitektur / Atmosphäre / Gesamtkonzept (Untergeschoss JMB) Präsentationskonzept (Obergeschosse JMB) Architektonische Erlebnisräume
n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
n =492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Die entfaltete Tabelle 6.4.5 zu Eindrücken von der Exponatinszenierung spiegelt erneut die Stärken der Inszenierung in den jeweiligen Museen aus der Sicht ihrer Besucher wider: Im JMB sind es die besonderen Räume der Libeskind-Architektur, die Atmosphäre im Untergeschoss, die das Besuchspublikum ansprechen. Die Besucher des MHU zeigen sich von der breiten Vielfalt klassisch musealer Exponate beeindruckt, die von historischen Originalen bis zum kuriosen Prunk der Kutschen, von der „Kuriosität“ des ausgestellten Folterinstrumentes bis hin zu den Modellen
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und Miniaturen des Museums reicht. Im DHM sind es eher die historischen Originale als das Kuriose und die Objekte mit historischen Spuren, die die Besucher faszinieren. Und im HdG ziehen neben den Originalen die Installationen, der „Rosinenbomber“, der Bundestag, das 1950er-Jahre-Eiscafé die Aufmerksamkeit des Besuchspublikums auf sich. Alles in allem zeigt der Überblick über die Eindrücke der Besucher erneut, dass das jeweilige Ausstellungskonzept insofern aufgeht, dass das Besuchspublikum dasjenige als herausgehoben wahrnimmt, was die Dauerausstellungen vorrangig präsentieren. Die Beschreibungen der Eindrücke der Besucher lassen sich analog zu den Portraits des Museumspublikums oben als durch die Kommunikation des Museums mit seinen Besuchern konstituiert fassen. Die Annahme 2a (vgl. Abschnitt 5.1), dass der Durchschnitt des Besuchspublikums die Museen so wahrnimmt, wie diese sich selbst mit ihren Selbstbeschreibung präsentieren, scheint ausgehend von diesen Ergebnissen tendenziell zu bestätigen.
6.5 A RCHITEKTONISCHE S INNBILDER : D IE A RCHITEKTURBESCHREIBUNGEN
IM
JMB
Eine Besonderheit des JMB liegt in seiner herausragenden Museumsarchitektur. Selbst wenn das DHM mit dem Zeughaus und dem Anbau des Architekten I.M. Pei ebenfalls über einen markanten Museumsbau verfügt, zieht die Architektur im JMB stärker die Aufmerksamkeit des Besuchspublikums auf sich. Besonders die Libeskind-Architektur zeichnet sich dadurch aus, als Sinnbild für Geschichte zu funktionieren. Folgt man der Textur des Libeskind-Baus (vgl. Kapitel 3.1.2), lässt sich davon sprechen, dass die Architektur mehrere Sinnbilder für Geschichten zur Rekonstruktion anbietet. Die topographische, die musikalische und die textuelle Dimension ebenso wie z. B. die voids lassen sich als differente Sinnbilder für den „Charakter“ jüdischer Geschichten in Deutschland fassen. Ob die Besucher dies entsprechend wahrnehmen, ist Gegenstand des folgenden Exkurses. Die entfaltete Tabelle 6.4.5 zur Exponatinszenierung spiegelt erneut die Stärken der Inszenierung. Die Besucher werden sich vermutlich individuell sehr unterscheiden, wenn sie ausgehend von Wahrnehmungen Sinn rekonstruieren, da u.a. körperliches Erleben das Verstehen prägen mag. Durch das methodische Vorgehen lässt sich hier nur das an den Beobachtungen der Besucher Vergleichbare herausstellen. Von Interesse ist also, welches Sinnbild von Geschichte die Architektur aus Sicht der Museumsbesucher auf einer von konkreten Unterschieden abstrahierenden Ebene konstruiert. Um sich der Wirkweise des sinnträchtigen Baus anzunähern, war eine erste Filterfrage gesetzt, ob die Besucher überhaupt Unterschiede zwischen den Stock-
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werken wahrnahmen. Im JMB sind die Obergeschosse mit der Dauerausstellung bespielt, während die Untergeschosse ihre mediale Botschaft primär visuell-atmosphärisch durch die Libeskind-Architektur entfalten. An dieser Stelle sollen deshalb allein die Beschreibungen der Besucher zeigen, wie das Medium „Architektur“ als Sinnbild für Geschichte wahrgenommen wird. Ganz allgemeine Unterschiede zwischen den Stockwerken sehen knapp drei Viertel der befragten Besucher. Für einen Anteil von immerhin 20 Prozent der Befragten gibt es keine Unterschiede zwischen den Etagen (vgl. Tabelle 17a im Anhang). So zielte die auf den Filter aufbauende offene Frage darauf, zu ergründen, worin diese Unterschiede, wenn sie denn wahrgenommen werden, für einen Besucher bestehen. Die Darstellung der Auswertung mit ausgewählten Beispielen dient hier erneut dazu, zu dokumentieren, was die in der Auswertung generierten Kategorien inhaltlich bedeuten. Einige wenige der Nennungen bezogen sich nur auf das Untergeschoss (eine Besucherin sagt z. B. „Ich konnte mit dem UG nichts anfangen, das war mir zu abstrakt. Mich hat der Zusammenhang zwischen den beiden Gebäuden irritiert und das bedrückende Gefühl im UG. Ich mag die Fensterschlitze nicht“) oder nur auf die Obergeschosse (ein Besucher z. B. „Im OG muss man mehr lesen“), oder die Befragten nannten einen Unterschied, ohne dabei explizit eine Differenz zu formulieren (eine Besucherin z. B. „nicht nur Thema, auch Architektur und Gefühle“). Ein Hauptteil der Besucher formulierte jedoch frei einen Unterschied als Kontrast zwischen den Geschossen, sie schilderten einerseits ihr Erleben des Untergeschosses und andererseits das der Obergeschosse. Die kommunikative Wirkung der Architektur lässt sich aufgrund von Binnenvergleichen im Textmaterial in Abstraktion von den konkreten Nennungen wiederum ausgehend von einem qualitativen Verfahren des offenen Kodierens (vgl. Abschnitt 5.1.4) rekonstruieren. Im Hinblick auf den Kommunikationsprozess im Museum lässt sich festhalten, mit welchem Problem-, resp. Sinnbezug die Museumsarchitektur von den Befragten wahrgenommen wird. Hier kam in Ansätzen, wie oben in Kapitel 5 dargestellt, eine interpretative Rekonstruktion des zu dieser Frage vorliegenden Textmaterials zustande, aus der Kategorien generiert wurden. Diese Kategorien fassen zusammen, in welcher kommunikativen Funktion die Besucher die Architektur des JMB wahrnehmen. Eine Besucherin benennt z. B. den „Aufbau“ des UG als „emotional“ und sieht im OG eine „vertrautere Art der Ausstellungskonzeption“. Die Formulierung dieses Vergleichs ist insofern asymmetrisch, als dass sie für das UG eine Art der Rezeption benennt und sich zur Beschreibung des OG auf die Präsentationskonzeption bezieht. Der Vergleich wird hier insofern als asymmetrisch bezeichnet, da er nicht in übertragenem Sinne Tulpen und Nelken als Blumen miteinander vergleicht, sondern derart heterogene semantische Gehalte
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aufeinander bezieht, dass diese sich nicht auf einer Sinnebene zueinander ins Verhältnis setzen lassen. Demgegenüber bleibt eine Besucherin mit ihrer Kontrastierung „Achsen: ungewöhnlicher, moderner. Ausstellung eher klassisch“ auf derselben semantischen Ebene. Sie wählt eine symmetrische Bezeichnung des Unterschieds, indem sie die Stile des Ausstellens vergleichend auf derselben Sinnebene (modern vs. klassisch) formuliert. Andere Äußerungen benennen den Unterschied zwischen den Stockwerken mit der Art der Geschichtsdarstellung oder den Themen und Inhalten. Ein Befragter beschreibt „Ein Weg durch die Geschichte im OG, eine Zeitlinie; das UG passt in die Zeitlinie nicht rein“ oder eine Besucherin sieht in den „Achsen persönliche Gegenstände; sehr berührend, Einzelschicksale“ gegenüber der „Ausstellung: eher allgemein (Geschichte)“. Es lassen sich Unterschiede über die Art der Sinnvermittlung thematisieren: Ein Besucher beobachtet „Im OG mehr Fakten …“ und er sieht im „UG: mehr Symbolik, weniger Information, das Erleben des Gebäudes steht im Vordergrund“. So tritt hervor, dass das Ausstellungskonzept im Ganzen eine für das Geschichtsverstehen der Besucher relevante Ordnung darstellt. Die Besucher nehmen verschiedene Arten der Geschichtsdarstellung als solche wahr. An dieser Stelle wirkt es, als könne das JMB als analytisches Ausstellungskonzept (vgl. Abschnitt 2.1.6) fungieren, indem die Prinzipien, die seine eigene Geschichtsdarstellung organisieren, selbst zum Thema der Ausstellung werden (Einzelschicksale, das Fehlen einer Zeitlinie, allgemeine Geschichte etc.). Das JMB wird von seinen Besuchern im Hinblick auf die Elemente seiner Geschichtsdarstellung wahrgenommen und kann somit durchaus, wie hier angenommen, als Sinnbild für Geschichte gelesen werden. Das Medium Architektur scheint geeignet, um Geschichte konzeptionell zu organisieren. Das Museum kommuniziert nicht allein Geschichte, sondern es kommuniziert mögliche Geschichtsdarstellungen, so die aus dem Theorieteil (Abschnitt 2.1.1) abzuleitende Annahme, die durch diese Ergebnisse bestätigt wird. Das letzte Zitat, „Im OG mehr Fakten…“ und im „UG: mehr Symbolik, weniger Information, das Erleben des Gebäudes steht im Vordergrund“, veranschaulicht, dass sich ein Unterschied zwischen den Geschossen auf zwei Arten bezeichnen lässt. Genannt werden hier sowohl Unterschiede der Sinnvermittlung („Symbolik, weniger Informationen“) als auch Differenzen in der Rezeption („Erleben“). In der Auswertung der Nennungen wurde damit so verfahren, dass einerseits Kategorien entwickelt wurden, die sich abstrahierend berücksichtigen, auf welcher semantischen Ebene der Unterschied zwischen den Geschossen durch die Befragten angesiedelt ist. Dabei wurden Mehrfachzuordnungen nötig und Textmaterial war zwei Kategorien zugleich zuzuordnen, denn zumeist wurden, wie gesagt, die Unterschiede von den Besuchern asymmetrisch beschrieben. Wenn eine Nennung z. B. einen Unterschied zwischen dem Präsentationskonzept in den Obergeschossen und der Art der Rezeption im Untergeschoss benennt, wurde sie sowohl in der Kategorie
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„Konzeption“ als auch in der Kategorie „Rezeption“ berücksichtigt. Eine symmetrische Nennung, die wie im Beispiel oben die Art der Konzeption mit klassisch vs. modern thematisiert, wird demgegenüber nur einmal in der Auszählung berücksichtigt. Das Ergebnis des interpretativen Rekonstruktionsprozesses, dessen sich die Textinterpretation bediente, liegt demnach darin, dass sich Gruppen von Besuchern danach unterscheiden lassen, welcher kommunikativen Mitteilung des Museums sie ihr Verstehen der Unterschiede zwischen den Geschossen zuschreiben. In Abstraktion von den konkreten Textpassagen und den Besuchern lässt sich verallgemeinernd sagen, dass diejenigen, die Unterschiede zwischen den Geschossen des JMB wahrnehmen, deren Sinn dahingehend rekonstruieren, dass es sich um Unterschiede im Inhalt, Thema oder in der Art der Geschichtsschreibung handelt, es um Unterschiede der Konzeption oder in der Art der Sinnvermittlung geht oder um Unterschiede, die in der je persönlichen Rezeption begründet liegen. Diese Typen von Verstehensakten verdeutlichen auch, und für die Fragestellung ist dies zentraler, die Funktionsweise der sinnbildlichen Architektur im Kommunikationsprozess. Sie wird als Medium der Sinnvermittlung wahrgenommen, als ein Konzept oder als Inhalt, Thema oder Art der Geschichtsschreibung durch die Besucher rekonstruiert und sie motiviert zu einer bestimmten Art der Rezeption. Nachdem die Bedeutung der Kategorien anhand der Beispiele erläutert wurde, lassen sich die prozentualen Verteilungen darstellen:
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Tabelle 6.5.1: Architektonische Unterschiede zwischen Obergeschossen/ Untergeschoss des JMB (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) JMB Unterschiede Inhalt/Thema/ Art der Geschichtsschreibung: Geschichte als Geschichten gegen-
27,9
über „allgemeiner“ Geschichte Unterschiede Konzeption: Kunst, Architektur, „Denkmal“ vs.
44,2
„klassisches“ Museum Unterschiede Sinnvermittlung: Symbolik gegenüber Fakten Unterschiede persönliche Rezeption: emotional vs. rational Sonstiges
46,5
40,7 2,3 n = 120
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Unterschiede zwischen den Stockwerken werden von den Befragten primär bezüglich der Art der Sinnvermittlung gesehen. Kontrastiert wird dabei z. B. eine symbolische Sinnkonstruktion gegenüber einer, die auf Fakten rekurriert. Das Antwortverhalten erwies sich insofern als uneinheitlich, da es im Hinblick auf qualifizierende Wertungen nicht konsistent erfolgte. Einigen Besuchern liegt die Darstellung im UG näher, andere begrüßen die Darstellungsweise in den Obergeschossen. Es lassen sich Befragte finden, die das UG „systematischer“ finden und solche, denen die Darstellung im OG „präziser“ erscheint. Die Differenzen zwischen den Geschossen werden derart unterschiedlich bewertet, dass diese Vielzahl kleiner Unterschiede in den Wertungen und Qualifizierungen über die Kategorien hinweg nicht dargestellt werden kann, ohne auf den Vorteil einer begrenzten Anzahl von Kategorien zu verzichten, die erst eine quantitative Auswertung möglich und sinnvoll macht. Differenzen zwischen den Geschossen werden von den meisten derjenigen Besucher benannt, für die es überhaupt Unterschiede zwischen den Geschossen gab: Diese Differenzen sind vor allem Unterschiede in der Sinnvermittlung geschuldet, werden auf die Konzeption und in die je persönliche Rezeption zugeschreiben. Die
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Unterschiede werden somit von einem geringeren – wenn auch mit 28 Prozent nicht zu vernachlässigenden – Anteil als inhaltliche, thematische bzw. solche der Geschichtsschreibung wahrgenommen. Die meisten Besucher benennen die Inhalte oder die Darstellung der kulturellen Semantiken als Unterschied oder referieren auf die eigene Rezeption. Die Architektur wird somit als Medium der Geschichtserzählung verstanden. Für ein Forschungsinteresse, das sich dem Verstehen von Geschichte widmet, ist zentral, inwiefern die Botschaften der Geschosse als zueinander widersprüchlich erachtet werden. Dann nämlich würden die architektonischen Sinnbilder des Untergeschosses und die Bespielung der Ausstellungspräsentation in den Obergeschossen nicht nur ein abweichendes, sondern sogar zugespitzt formuliert, ein mit diesem im Konflikt stehendes Geschichtsverstehen produzieren. Alle Befragten bekamen daher die Frage vorgelegt, in welcher Beziehung, ihrem Eindruck nach, die Ausstellung in den Obergeschossen und die anderen Teile des Jüdischen Museums (z. B. die Achsen im Untergeschoss und die architektonische Erlebnisräume) zueinander stehen. Tabelle 6.5.2: Beziehung zwischen den Obergeschossen und den anderen Teilen des JMB (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) JMB Sie stehen zueinander im Widerspruch Sie ergänzen einander Sie stehen in einem Spannungsverhältnis Sie stehen in keinem Verhältnis
2,5 58,3 21,7
1,7
Sonstige Beziehung
0,0
Weiß nicht, fehlend
15,8 n = 120
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Das Verhältnis der Achsen zueinander wurde hier von einem hohen Prozentsatz der Befragten als Ergänzung benannt. Insofern unterstreichen diese empirischen Befun-
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de die Annahme, dass die architektonisch-symbolische Geschichtserzählung im JMB die Darstellung der Historie durch die Exponatpräsentation ergänzt. Damit können beide Darstellungen als potentiell das Geschichtsverstehen der Besucher motivierende Inszenierung gelten. Fast drei Fünftel der Befragten nehmen diese Teile des Museums als sich ergänzend wahr, d. h. selbst dann, wenn das Verhältnis als ein gespanntes rezipiert wird, werden die Teile von kaum jemandem als unabhängige Darstellungselemente gefasst. Der Anteil der Befragten, der einen Widerspruch oder überhaupt kein Verhältnis sieht, ist mit 2,5 bzw. 1,7 Prozent zu vernachlässigen – zwei der entsprechenden Nennungen formulieren den Unterschied zwischen den Geschossen zudem thematisch, in Bezug auf die Art der Geschichtsdarstellung. Die anderen Befragten verorten den Unterschied auf der Ebene der Sinnvermittlung oder in der Rezeption. Insofern erscheint es gerechtfertigt, das im JMB reproduzierte Geschichtsverstehen als vom Museum motiviert zu fassen, ohne noch zwischen angesichts der Architektur oder der Präsentation aktualisiertem Geschichtsverstehen zu differenzieren. Auch in der Rezeption der Besucher kommt der Libeskind-Architektur der Stellenwert zu, komplementär bzw. ergänzend zur Ausstellung Sinn produzierend zu sein.
6.6 O RDNUNGEN
IM
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Eine weitere Vergleichsfrage des Fragebogens zielte darauf ab, etwas über die Art der von den Besuchern im Museum beobachteten Ordnung zu erfahren (zur Auswertungstechnik über Vergleiche vgl. Kapitel 5.1). Würde man einen Besucher direkt fragen, welche Ordnung sein Museumserlebnis bestimmt, wäre selten eine verwendbare Antwort zu erhalten. Ordnungen, die das Verstehen organisieren, werden wohl zumeist latent vorliegen und implizit zum Ausdruck kommen. Um dennoch etwas über die im Museum wahrgenommen Ordnungen sagen zu können, wurde für die Datenerhebung erneut ein spezifischer Vergleichsfragekomplex konzipiert. Im Anschluss an eine erste Vergleichsfrage, die die Befragten mit dieser Art des Fragens vertraut machen konnte, wurde den Besuchern ein lebensweltnaher Vergleich für ihren Museumsbesuch als Liste mit Vergleichen angeboten, die alle unterschiedliche Ordnungsformen sowie unterschiedliche Arten ordnender Rezeption bildhaft beschreiben. Verschiedene Ordnungen und Ordnungsleistungen wurden damit zwar nicht auf einen Begriff, so doch „auf einen Vergleich gebracht“. Nach dem Akt des Vergleichens waren die Befragten in einer Interaktionssequenz gefordert, ihre Vergleichswahl zu erläutern. Die Vergleiche zeichnen sich alle durch die Besonderheit aus, mehrere semantische Dimensionen zugleich zu enthalten, über die sich sowohl eine individuell über Rezeption hergestellte als auch eine bereits vorgegebene Ordnung
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thematisieren lässt. Dabei wurden die Befragten explizit aufgefordert, die Erinnerungspraxis in einem Museum mit der eigenen zu vergleichen, also das Museum als kulturelles Gedächtnis mit dem individuell autobiographischen Gedächtnis (Markowitsch, Welzer, 2006). „Man kann ja den Besuch in diesem Museum auch mit einer Zeitreise in die gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte vergleichen. So etwas machen wir ja manchmal auch mit unserer eigenen Lebensgeschichte. Wir blättern in alten Fotoalben, manchmal ist es auch ein Schuhkarton, in dem die Fotos ungeordnet herumliegen; wir lesen in unseren Tagebüchern oder stöbern auf dem Speicher in alten Sachen herum. Wenn Sie ihren Besuch im XY-Museum einmal damit vergleichen, wie war das?“
Die Erläuterungen wurden in Relation zu den gewählten Vergleichen interpretiert und auf diese Art und Weise konnten Kategorien gebildet werden. Wie die Interpretation, die zur Kategorienbildung führte, im Einzelnen erfolgte, wird hier exemplarisch anhand von Beispielen dokumentiert. Möglich war sowohl eine Mehrfachauswahl von Vergleichen, damit die Erläuterungen sich u. U. auf die Abgrenzung zwischen mehreren Vergleichen gründen konnten sowie eine mehrfache Kodevergabe bei der Überführung in binäre Variablen während der Auswertung erfolgte; denn einige Nennungen wiesen gleichzeitig unterschiedliche Sinnbezüge auf. Die folgende Tabelle 6.6.1 dient zur Veranschaulichung der bei diesem Fragekomplex erfolgten Vergleichswahl.
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Tabelle 6.6.1: Gewählte Listenvergleiche: Ordnungen nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU
HdG
JMB
DHM
Gesamt
Blättern in Fotoalben
45,5
40,0
35,8
30,6
38,1
Lesen von Tagebüchern
16,5
29,6
40,7
21,0
26,8
3,3
8,0
----
4,0
3,9
12,4
16,8
----
20,2
16,5
14,0
20,8
----
15,3
16,8
31,4
28,0
20,3
16,1
24,0
5,8
10,4
15,3
5,6
9,2
3,3
4,0
10,2
8,9
6,6
n = 121
n = 125
n = 118
n = 124
n =488
wie wenn man aus einem ungeordneten Haufen alter Fotografien ein Fotoalbum machen möchte wie wenn man an einem Jubiläum sein ganzes Leben Revue passieren lässt Sortieren von Erinnerungsstücken / unserer Briefmarkensammlung Kramen auf dem Speicher Schuhkarton mit ungeordneten Fotos Sonstiges
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Bemerkenswert erscheint die Vergleichswahl knapp eines Drittels der Befragten im MHU, der Besuch sei mit einem „Kramen auf dem Speicher“ vergleichbar. Im HdG wählten die Befragten ein recht breites Spektrum von Vergleichen, wohingegen die Aktivität, an „einem Jubiläum das Leben Revue passieren zu lassen“, am häufigsten unter den Museen mit dem DHM assoziiert wird. Eine Interpretation, das DHM werde entsprechend dem „Jubiläum“ mit einer offiziellen, sozial legitimierten und vielleicht etwas förmlichen Geschichtserzählung verbunden, während das HdG sich mehr den subjektiven Erinnerungen öffne, erscheint berechtigt. Im JMB werden die erzählten Geschichten noch einmal anders wahrgenommen, wie die Vergleichswahlen veranschaulichen: Die Geschichten sind erzählt, aufgezeichnet oder gesammelt und größtenteils nicht selbst erlebt. Allerdings gilt auch hier, wie in Abschnitt 5.1.2
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dargestellt, dass die Wahl eines Vergleiches lediglich ein Hilfsmittel war, um die Besucher dazu zu motivieren, ihre Eindrücke zu schildern und zu erläutern. Die Kategorisierung erfolgte in drei grob zu unterscheidenden semantischen Feldern: museale Ordnung, ordnende Rezeption und Präsentationsmedien und diese entsprechenden Auswertungsdimensionen (vgl. Abschnitt 5.1.4). Einige der Befragten referieren mit ihren Äußerungen auf die Art von Präsentationsaspekten bzw. Medien, die das Museum bietet (vgl. Tabelle 18a im Anhang). Viele entschieden sich z. B. zwischen den Vergleichen „Blättern im Fotoalbum“ und „Lesen im Tagebuch“ aufgrund der Tatsache, dass sie im Museum bevorzugt Bilder oder Texte wahrnahmen. Diese Art Textmaterial, die auf das semantische Feld der Präsentationsmedien Bezug nehmen, wird mit Beschränkung auf die Tabellen 6.6.2 und 6.6.3 bewusst vernachlässigt. Bezüge auf museale Medien wurden an anderer Stelle erhoben, waren dort freier gewählt und nicht durch die Vorgabe von Vergleichen kanalisiert. Im Kontext dieser Untersuchung interessant erscheinen die beiden anderen semantischen Felder, mit „Ordnungen im Museum“ und „ordnende Rezeption“ benannt, die die Äußerungen der Besucher auf diese Frage abdecken. „Ordnende Rezeption“ ist ein Begriff, der in dieser Untersuchung für diejenigen Sinnkonstruktionen der Besucher geprägt werden soll, die darauf beruhen, Informationen in Zusammenhänge einzuordnen. Der Begriff meint hier zugleich einen unterschiedlichen, selektiven Umgang der Besucher mit der vorgegebenen Ordnung einer Ausstellung. Auch umfasst „ordnende Rezeption“ verschiedene Modi der Einordnung, des Abgleichs subjektiver Erinnerungen mit dem Kontext des kulturellen Gedächtnisses, wie ihn Museen repräsentieren. Ordnende Rezeption meint also die eigenen Beobachtungen so zu organisieren, dass Verstehen konstruiert wird. Unter dem Stichwort „Ordnungen im Museum“ lässt sich mindestens zweierlei verstehen. Zum einen kann sich „Ordnung“ auf die museale Ordnung beziehen, also verschiedene Ausstellungskonzepte und ihre Wissensordnungen meinen, wie der Begriff „Ordnung“ oben theoretisch mit der Geschichte der Institution Museum eingeführt wurde. An dieser Stelle geht es jedoch um museale Ordnungen, wie die Besucher sie beschreiben. Besucher ordnen selbst mit ihren Vergegenwärtigungen von Geschichte Informationen auf eine spezifische Art und Weise. Sie nutzen dabei vermutlich kulturell etablierte Semantiken wie z. B. Kausalitätszuschreibungen, Sequenzierungen etc. Da es die Besucher sind, die die Ordnung des Museums beschreiben, lässt sich das Stichwort „Ordnungen im Museum“ auch als einem Haus durch seine Besucher zugeschriebene Ordnung verstehen. Ein Besucher, der eine Museumspräsentation als geordnet erlebt, kann weiterhin diese Ordnung für sich selbst übernehmen oder auch nicht. Ein anderer Besucher kann zugleich dieselbe Ausstellung, die ein anderer geordnet sieht, als relativ ungeordnet wahrnehmen. Während der eine Besucher stärker von Ordnung angeregt
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wird, Sinn für sich selbst neu zu ordnen, wird ein anderer dazu vielleicht durch eine eher ungeordnete Präsentation angeregt. Dann wiederum gibt es Besucher, die ein unsystematisches Stöbern anregender finden und auf eigene Ordnungsleistungen verzichten. Die gebildeten Kategorien, die Aufschluss darüber geben, wie die eigene Rezeption, wie die museale Ordnung wahrgenommen wurde, können hingegen die Wertungen der Besucher, das was sie jeweils gut oder schlecht finden, was sie für gelungen oder für sie persönlich weniger geeignet halten, nicht repräsentieren. Eine Besucherin im DHM wählt z. B. den Vergleich „Aus einem ungeordneten Haufen Fotos ein Fotoalbum machen“ und sie erläutert: „Meine Art ist die ungeordnete Aufbewahrung, aber hier ist es systematisch geordnet. Bei der Aufnahme von Themen ist Systematik wichtig für den intellektuellen Zugang“. An dieser Textpassage tritt zunächst die Besonderheit hervor, dass die Äußerung eine Gegenüberstellung von „meine Art“ und „hier“ konstruiert. Das Museum ist es, im Auge dieser Betrachterin, das eine Ordnung herstellt, die sie für ihren persönlichen Zugang zur Geschichte im Museum übernimmt. Diese Befragte stellt die Ordnung also nicht selbst durch ihre Sinnkonstruktion her. Im Spannungsverhältnis zwischen Vergleich und Erläuterung tritt in der Sinnrekonstruktion deutlich das als Ordnung und Systematik verstandene Museum hervor. Diese Ordnung wird von der Befragten als Beitrag wahrgenommen, um einen Zugang zu den Themen zu finden. Ein anderer Besucher im MHU wählt den Vergleich „Kramen auf dem Speicher“ und erläutert: „Es ist angenehm, etwas entdecken. Nicht wie auf einer Schnur geordnet, umfassend“. Dieser Museumsbesucher findet seinen Zugang eher über einen Modus des Entdeckens, wenn aufgrund seines persönlichen Rezeptionsmodus das Museum nicht linear geordnet erscheint, sondern stattdessen „umfassend“ ist, also als großer Speicher mit einer zufälligen oder typischen Auswahl erscheint. In der sequenziellen Anordnung der kommunikativen Äußerungen, in der Abfolge „Speicher – entdecken – nicht auf Schnur geordnet“ kommt die Wahrnehmung, eine Ordnung sei nicht vorhanden, zum Ausdruck. Fragt man weiter, welche Art von Nicht-Ordnung denn in der Nennung zum Ausdruck kommt, findet sich in den Stichworten „Speicher“ und „umfassend“ ein Anhaltspunkt. Andere Besucher thematisieren, dass sie das Museum selbst als zufällige oder typische Auswahl verstehen und dies mit dem Vergleich „Speicher“ verbinden. Geht man also von allen Befragten der Stichprobe aus, lässt sich eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür finden, dass auch hier die Ordnung des Museums analog zu einem „umfassenden“ Speicher rekonstruiert wird und entsprechende Textpassagen lassen sich der Kategorie zuordnen. Im JMB gibt es einen Typ von Besucher, der dieses Museum genau gegenläufig erlebt, indem er das Museum gerade nicht als Ordnung, die er übernimmt, sondern als ein Angebot an ungeordneten Dingen sieht, die er dann selbst „in Ordnung bringen“ kann. Ein Besucher wählt den Vergleich mit einem „ungeordneten Schuhkar-
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ton voll Fotos“ und äußert: „Aus dem Angebot von Dingen kann man sich welche aussuchen, die einen interessieren. Man kann sich die Reihenfolge selber bestimmen“. Dieser Besucher bringt durch seine Reflexion Ordnung in dieses Museum. Andere Besucher beklagen explizit einen Mangel an Ordnung. Der Vergleich „Wie wenn man an einem Jubiläum sein ganzes Leben Revue passieren lässt“, motiviert eine Interviewte im HdG dazu zu erzählen: „…ich habe in der Hitlerzeit alles von dem geglaubt, was einem erzählt wurde. Es ist sehr viel, es müsste sinnvoller strukturiert und geleitet werden. Es fehlt eine klare Themenstruktur, man muss suchen, was man zusammenfügt. Ohne Vorkenntnis ist es schwierig, ich jedoch habe es erlebt. Das, was war“.
Diese „Ausstellungskritik“ der Befragten beruht auf der Vermutung, für Jugendliche sei es schwierig, ohne Vorkenntnisse einen Eindruck von der Geschichte zu bekommen, während ihr das persönliche Erleben einen authentischeren Zugang zu Zeitgeschichte ermögliche. Glauben oder Vorkenntnis stellen in dieser Äußerung etwas dar, das laut der Aussage eine zu einer klaren Themenstruktur analoge Leistung im Museum zu erfüllen scheint. „Struktur“ ist hier gewissermaßen ein Schlüssel, um sich einen Reim auf deutsche Geschichte zu machen. Geschichte gilt in dieser Aussage als ein Begriff für „Das, was war“, wobei zugleich eine Reflexion darüber erfolgt, was gerade nicht so war, wie es damals erzählt wurde. Zugleich beruht dieser Ansatz zur Erzählung einer Lebensgeschichte durch die Befragte auf dem Widerspruch, zugleich zu behaupten, sie, die Rednerin, habe früher – irrtümlich? – alles geglaubt, was erzählt wurde. Sie scheint dabei zugleich zu implizieren, dass ein Glauben an die Propaganda des Führers leichter Vorkenntnisse dafür liefere, um zu verstehen „was war“. Die Rednerin meint zu wissen, was war: „ich jedoch habe es erlebt“. Das Spannungsverhältnis in dieser Aussage – zwischen Geschichte „wie sie wirklich war“ und wie sie erzählt wurde – würde eine der Objektiven Hermeneutik angelehnte Auswertungsmethode dann im Folgenden zum Anlass nehmen, zu ergründen, worauf diese Besonderheit des Textprotokolls zurückgeht, um zu einer plausiblen Interpretation zu gelangen, was denn der „objektiv gemeinte Sinn“ des Gesagten sein könnte. Im MHU findet sich ein Typ von Besuchern, der selbst ordnet und reflektiert und deshalb die Ordnung des Museums schätzt. Eine Besucherin wählte im MHU den Vergleich „Blättern in Fotoalben“ und sie erläutert: „Weil das auch bei mir im persönlichen Bereich so geordnet – ordentlich – ist. Fotoalben sind auch vom Jahrgang her geordnet, die habe ich immer ordentlich auf dem Laufenden“. Dieser Befragte sieht in demselben Museum, in dem ein anderer sich freut, Informationen nicht auf einer Schnur aufgereiht zu finden, eine chronologische Ordnung und begrüßt diese, da sie ihrer eigenen Erinnerungspraxis entspreche.
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Diese Beispiele veranschaulichen im Wesentlichen, wie sich die offenen Nennungen der Besucher zwischen den Extrempolen rigider Ordnung und Unordnung positionieren und wie die Arten ordnender Rezeption zwischen reflexiver Einordnung und einer Rezeption, die auf zufälligem Entdecken beruht, einzuordnen sind. Oben wurde bereits ein Beispiel aus der Kategorie (Re-)Konstruktion musealer Ordnung als großer, zufällig erhalten gebliebener Speicher (vgl. Tabelle 6.6.2) genannt. Eine weitere Kategorie von Nennungen beschreibt eine „Überlagerung von Ordnungsprinzipien“: Ein Interviewter im MHU sagte: „Die Ausstellung ist nicht gradlinig, ein roter Faden fehlte, Teilbereiche sind geordnet wie auf dem Speicher.“ Und eine Besucherin erläutert, sie habe „Nicht nur Fotos oder Text gesehen, es ist in verschiedene Themen eingeteilt […] Es ist nicht nach Objektklassen sortiert und deshalb schwerer nachzuvollziehen“. Einige Besucher wählen eigene Vergleiche. In der Stichprobe des DHM findet sich eine paraphrasierte Nennung; die „Besucherin vergleicht es mit einem Gang durch verschiedene Epochen, die jeweils eine bestimmte Überschrift tragen, manchmal ist es schwer, den roten Faden zu finden und ihm zu folgen, es gibt Brüche, es ist halt keine Pappelallee, wo alles gleich und aneinander gereiht ist“.
So herrschen unterschiedliche Wertungen vor, ob eine museale Ordnung zu begrüßen ist oder nicht. Tabelle 6.6.2: Ordnungen im Museum nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen und -kodierungen möglich) MHU Ordnungsleistung des
52,0
Museums Ordnung, Struktur, Systematik Überlagerung von Ordnungsprinzipien Museum als großer Speicher; zufällige oder typische Auswahl Unordnung
HdG 53,6
JMB 46,7
DHM 67,7
42,3
38,4
30,8
43,5
5,7
6,4
5,8
12,1
1,6
4,8
6,7
9,7
2,4
4,0
4,2
4,8
n = 123
n = 125
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
n = 120
n = 124
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Die Prozentverteilung in Tabelle 6.6.2 zeigt, dass die Museen von ihren Besuchern als sehr ähnlich geordnet wahrgenommen werden. Eine Ordnung von Bildern, Texten und Objekten zu bieten, wird nicht nur gemeinhin von Museen erwartet, sondern die vier Museen werden alle als geordnet beschrieben. Die Einschätzung, dass Museen als verantwortlich für eine Ordnung (der Zeiten) gesehen werden, scheint sich zu bestätigen. Dabei wird das JMB nur von etwa einem Drittel des Besuchspublikums als geordnet wahrgenommen und das DHM demgegenüber von etwa 44 Prozent der Besucher. In diesen Prozentwerten spiegeln sich die vorhandenen Unterschiede zwischen den Museumspräsentationen und -konzepten wieder. Allerdings scheinen die Differenzen derart gering, dass die Einschätzung, es komme eher auf die (vorab mitgebrachten) Erwartungen der Besucher gegenüber der Institution Museum an als auf die konkreten Präsentation, eine gewisse empirische Plausibilität erhält (siehe Annahme 2.2). Im DHM treten die größten Besuchspublikumsanteile auf, die eine „Überlagerung von Ordnungsprinzipien“ oder das Haus als „großen Speicher, zufällige oder typische Auswahl“ betrachten. Dies wird auf die Größe des Museums und die Weitläufigkeit seiner Dauerausstellung zurückzuführen sein. Im MHU nehmen demgegenüber prozentual weniger Besucher Unordnung oder die zufällige oder typische Auswahl eines „großen Speichers“ wahr. Die Beobachtungen der musealen Ordnung durch die Besucher wirken so, abgesehen von den augenfälligen Unterschieden in der Größe der Häuser, insgesamt sehr ähnlich. Tabelle 6.6.3: Ordnende Rezeption nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen und -kodierungen möglich) MHU Ordnende Rezeption des Besuchers Reflexion
64,2
HdG 81,6
JMB 50,8
DHM 65,3
10,6
11,2
5,8
11,3
5,7
11,2
5,0
12,9
10,6
14,4
9,2
13,7
Erinnerung, Erlebnis, Emotionales
33,3
43,2
27,5
20,2
Entdecken und Stöbern
22,0
10,4
10,0
8,1
Kontextuierung und Rekonstruktion Selektive Rezeption (Blättern), eigene Reihenfolge wählen
n = 123
n = 125
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
n = 120
n = 124
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Vielen Besuchern geht es bei ihrem Museumsbesuch um eine konzeptualisierende Rekonstruktion. Eigene subjektive Erinnerungen werden auf einen historischen Kontext bezogen und mit ihm abgeglichen. Ein Besucher des DHM erläutert, das Museum diene zur „Illustration und Korrektur des Wissens […] Ich habe NS-Zeit, Nachkriegszeit und DDR-Zeit miterlebt. Das sehe ich, wenn ich die Fotoalben aufschlage. Man sieht Lebensgeschichte in größere Zusammenhänge eingeordnet.“
In einem solchen Fall dient das Museum dazu, die subjektive Erinnerung zu überprüfen und kulturell zu überformen, die eigene Erinnerung mithin in einen sozialen Gedächtnisrahmen einzubetten. Das eigene Gedächtnis wird im Kontext des kulturellen Gedächtnisses verortet und die eigene Lebensgeschichte dergestalt kontextualisiert. Der Begriff „Kontextuierung und Rekonstruktion“ kann einen Typ von Textpassagen bezeichnen; die in der zugrundeliegenden Kategorie gebündelten Beispiele erläutern, die Gemeinsamkeit der Aussagen, die als „ordnende Rezeption“ zusammengefasst wurden. Viele andere Besucher heben die Selektivität ihres eigenen Verhaltens hervor: „Ich selbst bin unvorbereitet hineingegangen, ich schlendere so durch, werfe einen Blick auf die Sachen, erkenne kurz Sachen wieder“, beschreibt ein HdG-Besucher seine Art der ordnenden Rezeption. „Selektion“ ist ein wichtiger Typ (ordnender) Rezeption, der dazu beiträgt, Informationen sinnvoll zu organisieren. Die Benennung der Kategorie als Selektivität bzw. selektive Rezeption kann die Besonderheit und gemeinsame Semantik der damit bezeichneten semantischen Konfiguration (vgl. Abschnitt 5.1.4) beschreiben. Ein anderer Typ von Rezeption der Besucher tritt auf, wenn eine noch größere Nähe zur eigenen Erinnerung thematisiert wird. Eine Interviewte im JMB merkt an, „das Ausstellungskonzept ist an Menschen angebunden – Familienfilme schaffen Intimität“. Das Museum wird von der Besucherin beschrieben, wie es Nähe zum eigenen Erleben schafft. Dem Konzept geht der Aussage zufolge um Menschen, weil die Familienfilme erst die Intimität herstellen müssen, wie sie gegenüber realen Brüdern und Schwestern selbstverständlich wäre. Das Museumserlebnis wird damit in relativ unmittelbarer Nähe zum eigenen Erleben, der eigenen Erinnerung verortet. Die Kategorienbezeichnung „Erinnerung, Erleben, Emotionalität“ charakterisiert einen Rezeptionstyp, der durch emotionale Nähe gekennzeichnet ist und das eigene Erleben in unmittelbarer Nähe zu dem im Museum Gesehenen einordnet. Erinnerungen, (Museums-)Erlebnisse oder emotionale Rezeptionsarten sind bei einem Großteil der Besucher der am stärksten vertretene ordnende Rezeptionsmodus. Neuere Ausstellungskonzepte motivieren die Besucher tatsächlich in diesem Sinne zu Museumserlebnissen. Der spezifische Museumsansatz des HdG mit sei-
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nem Motto „Geschichte erleben“ geht insofern auf, als in diesem Haus die eigene Rezeption vom höchsten Anteil der Befragten als eigenes Erleben, Erinnerung oder persönliche Emotionen beschrieben wird. Das HdG motiviert zu vielfältigen Arten der Rezeption. Dies ist im DHM ähnlich. Im MHU thematisieren mit 22 Prozent die meisten Besucher ihre Museumsrezeption als „Entdecken, Stöbern“. Dies ist ein Rezeptionsmodus, der an den Begriff des kulturellen Window-Shoppings erinnert, also an dasjenige Besuchsverhalten, durch das sich Museumspublikum heute häufig auszeichnet (vgl. Tabelle 22a im Anhang).
6.7 A NTIZIPIERTE E RINNERUNG
AN DEN
B ESUCH
Wenn auch ohne experimentelles Erhebungsdesign nicht zu messen ist, was von den Dingen, Ausstellungsstücken und Themen die Eindrücke beim Besuch am meisten prägte und den Besuchern tatsächlich in Erinnerung bleiben wird, lassen sich immerhin die Befragten bitten, Vermutungen darüber anzustellen. Diese wurden gefragt, wovon sie denn ausgehen, was ihnen in Erinnerung bleiben wird. Die Antworten lassen sich als antizipierte Erinnerung interpretieren. Von einer Gegenwart aus werden Vermutungen über eine Zukunft angestellt und antizipiert, was noch erinnerbar sein wird. Der Umstand, dass keine Vorher-Nachher-Befragung erfolgen konnte, sollte zunächst über diese Frage ansatzweise kompensiert werden. In einer weiteren offenen Frage wurden die Besucher gebeten, sich zugleich in die Zukunft zu versetzen und von dort aus zu vergegenwärtigen, woran sie sich erinnern werden: „Wenn Sie sich eine Woche in die Zukunft versetzen: Was, glauben Sie, wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?“ Rezeption ist immer selektiv, oftmals bleiben Aspekte in Erinnerung, die besondere Aufmerksamkeit auf sich zogen und von denen ein Besucher positiv beeindruckt war. Ein anderes Mal heftet sich die Erinnerung an diejenigen Details, die als scheußlich, unbequem oder unästhetisch wahrgenommen wurden. Etwas extrem Positives sowie extrem Negatives kann gleichermaßen die langfristige Erinnerung prägen. Auch vorab nicht ganz Unbekanntes erfährt oftmals mehr Aufmerksamkeit als völlig unverständlich Fremdes. Manchmal hingegen fasziniert gerade das Fremde. Vielfach sind Verlaufsformen von Erinnerungsprozessen schwer zu prognostizieren. Ganz selten bleibt alles in Erinnerung, die Museumsbesucher antworten aber häufig, sie würden sich an „alles“ erinnern. Selektivität bestimmt nicht nur den Besuch, sondern ebenso die Erinnerung daran. Zugleich brachte die Museumsforschung immer wieder die Enttäuschung mit sich, dass Besucher beinahe grundsätzlich anderes lernten als vom Museumspersonal intendiert. Mittlerweile gilt lediglich als erwiesen, dass Besucher im Museum lernen (z. B. Falk, Dierking, 2000: 174). Dieses Lernen erfolgt aber derart in-
354 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
dividuell spezifisch, dass keine Regelmäßigkeiten gefunden werden konnten, die erwartbar machen, was welcher Typ von Besucher lernt (Falk, Dierking, 2000: 7). Die Sinngebung im Museum hat laut Besucherforschung privaten Charakter. In der Fachliteratur der Besucherforschung finden sich zumeist nur relativierende Hinweise, wie Kategorien zur antizipierten Erinnerung vor diesem Hintergrund zu werten oder im Sinne eines Lernens zu interpretieren sein werden. Die konkreten Ergebnisse der hier unternommenen Befragungen zeigen jedoch noch etwas anderes: Museen gelten immer noch als Lernort. Der Besucher pflegt Erwartungserwartungen und geht konkret davon aus, von ihm oder ihr werde erwartet, im Museum zu lernen. Der normativ institutionalisierte Kontext des Museums legt den Befragten in sehr vielen Fällen die Erwartung nahe, er oder sie solle sich „an alles“(!) von seinem/ihrem Museumsbesuch erinnern. Die Befragten zeigten dementsprechend ein sozial erwünschtes Antwortverhalten und behaupteten zu einem großen Teil, sich in einer Woche noch an alles erinnern zu können. Aber zunächst zu den analog zum Vorwissen gebildeten Antwortkategorien, den Eindrücken und der „Antizipierten Erinnerung“: Die Antworten mit der Behauptung, sich pauschal an alles erinnern zu können, wurden mit denjenigen Nennungen zusammengefasst, die einen Gesamteindruck, sehr persönliche Eindrücke oder Reflexionen beschrieben. Dies erscheint insofern als eine Restkategorie, die für weitere Interpretationen viel zu undifferenziert und somit untauglich ist. Am häufigsten werden im DHM solche Gesamteindrücke sowie sehr persönliche Resümees zum Museum, die erwartbar in Erinnerung bleiben, genannt.
W IE DIE B ESUCHER
DIE
M USEEN
NUTZEN
| 355
Tabelle 6.7.1: Antizipierte Erinnerung nach Museen (in Prozent von n8, Mehrfachnennungen möglich) MHU
HdG
JMB
DHM
Gesamt
12,0
16,2
6,7
15,7
12,6
27,4
50,5
27,7
33,0
34,4
30,8
16,2
12,6
7,8
16,9
54,7
30,6
79,8
46,1
53,2
----
1,8
0,8
6,1
2,2
15,4
23,4
18,5
28,7
21,4
n = 117
n = 111
n = 119
n = 115
n =462
Historische Perioden und Exponate historischer Perioden Themen und Exponate zu Themen Arten der Geschichtsschreibung, -darstellung Exponatinszenierung, Museumskonstruktion Kritik Besucherservice: Eintritt, Personal, Orientierungsprobleme etc. Gesamteindruck, Geschichte allgemein, Reflexionen
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Der Abgleich mit den Eindrücken beim Museumsbesuch in Tabelle 6.4.1 zeigt ein ähnliches Antwortmuster, wenn auch mit deutlich größeren Zellenbelegungen als in dieser Tabelle 6.7.1. Insofern lässt sich davon ausgehen, dass tendenziell wohl in Erinnerung bleibt, was die Besucher beeindruckt hat. Der Exponatinszenierung kommt in fast allen Museen eine große Bedeutung in der antizipierten Erinnerung der Besucher zu. Am größten ist die Bedeutung im JMB, im HdG werden Themen als dasjenige wahrgenommen, das vermutlich erinnert werden wird. Im JMB zählt zur Exponatinszenierung die durch die Architektur bestimmte Bespielung der Untergeschosse. Im JMB prägt das architektonisch bestimmte Museumskonzept die (antizipierte) Erinnerung.
8
Bei den in der Tabelle aufgeführten Kategorien handelt es sich um Kapitelüberschriften, die in den darauf folgenden „entfalteten“ Tabellen mit linksbündig gesetzten Prozentangaben von ihren inhaltlichen Differenzierungen abgesetzt werden.
356 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Denn glaubt man den Selbsteinschätzungen der Besucher, sind vor allem die Exponate dasjenige, das nach dem Besuch erinnert wird. Mit Blick auf das Geschichtsverstehen in verschiedenen Ausstellungen bzw. im Hinblick auf Unterschiede zwischen den Museen wäre dann zu klären, ob die Architektur für die Besucher tatsächlich nur im JMB zum Sinnbild für Geschichte wird. Im Exkurs oben konnte bereits belegt werden, dass die JMB Architektur von einem hohen Prozentsatz des Besuchspublikums als eine spezifische Art der Geschichtsdarstellung gelesen wird. Die Ergebnisse in Tabelle 6.7.2 zeigen vor allem, wie sich die konzeptionellen Unterschiede der Museen in der Wahrnehmung ihrer Besucher niederschlagen. Die differenzierten antizipierten Erinnerungen zu historischen Perioden sind, da quantitativ weniger bedeutsam, in Tabelle 15a im Anhang aufgeführt. Im MHU werden als in Erinnerung bleibend vor allem Eindrücke erwähnt, die die Exponatinszenierung berücksichtigen – am häufigsten gehen diese auf einzelne Exponate zurück –, während im DHM aufgrund der Fülle an Themen und Exponaten schlicht vom Präsentationskonzept insgesamt die Rede ist (vgl. Tabelle 21a im Anhang).
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DIE
M USEEN
NUTZEN
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Tabelle 6.7.2: Antizipierte Erinnerung – Exponatinszenierung, Museumskonstruktion differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU Exponatinszenierung, Museumskonstruktion
54,7
HdG 30,6
JMB 79,8
DHM 46,1
Gesamt 53,2
Historische Originale
15,4
10,8
5,9
11,3
10,8
Modelle, Karten, Miniaturen
18,8
0,9
----
0,9
5,2
6,0
7,2
----
1,7
3,7
8,5
12,6
19,3
7,0
11,9
17,1
1,8
----
6,1
6,3
----
0,9
49,6
8,7
15,2
6,0
4,5
10,9
18,3
10,0
Holocaustturm
----
----
21,8
----
5,6
Garten des Exils
----
----
9,2
----
2,4
----
----
16,0
----
4,1
Installationen, Wohnarrangements Multimedia Kuriose Exponate, Originale mit historischen Spuren Museumsarchitektur / Atmosphäre / Gesamtkonzept (Untergeschoss JMB) Präsentationskonzept (Obergeschosse JMB)
Leerstelle des Gedenkens, Installation „Gefallenes Laub“
n = 117
n = 111
n = 119
n = 115
n =462
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Im HdG zieht das multimediale Angebot am meisten Aufmerksamkeit auf sich. In diesem Museum wird jedoch zugleich die thematische Ausrichtung am häufigsten antizipativ erinnert (vgl. Tabelle 6.7.1). Neben dem Zweiten Weltkrieg und Politik sind dies für einen großen Anteil die deutsche Teilung bzw. die historischen Ereignisse des Mauerfalls und der Wiedervereinigung. Erinnert werden hier also zumeist selbst erlebte Ereignisse der Zeitgeschichte.
358 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Tabelle 6.7.3: Antizipierte Erinnerung – Themen differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU Themen und Exponate zu Themen Politik, Militaria, Krieg
27,4
HdG 50,5
JMB 27,7
DHM 33,0
Gesamt 34,4
11,1
24,3
2,5
10,4
11,9
----
----
2,5
----
0,6
----
18,0
----
7,0
6,1
----
----
----
1,7
0,4
Wirtschaft, Wissenschaft
6,8
5,4
----
1,7
3,5
Religion, Kunst, Kultur
5,1
----
5,9
4,3
3,9
----
5,4
12,6
1,7
5,0
8,5
8,1
9,2
8,7
8,7
Vergangenheitspolitik, -bewältigung Teilung Ost/West, DDR; Wiedervereinigung, Mauerfall Reichsgründung, Reichsgeschichte
Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte Einzelthemen
n = 117
n = 111
n = 119
n = 115
n =462
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Die Art der Geschichtsschreibung bzw. -darstellung wird am ehesten den Besuchern im MHU in Erinnerung bleiben. In allen Museen werden, wenn überhaupt, Elemente einer spezifischen Geschichtsschreibung als antizipierte Erinnerung hervorgehoben werden, gleichermaßen von einem Hauptanteil der Befragten Eindrücke genannt, die auf „Alltagsgeschichte, Geschichte als Geschichten“ zurückgehen. Wenn also die spezifische Perspektive des Museums auf Geschichte an dieser Stelle der Befragung thematisiert wird, handelt es sich zumeist um das Darstellungsmerkmal aller Museen, an verschiedenen Stellen ihrer Präsentationen gezielt lebensweltliche Bezüge, u.a. zu Angehörigen der gesellschaftlichen Mittel- und Unterschicht, zu produzieren.
W IE DIE B ESUCHER
DIE
M USEEN
NUTZEN
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Tabelle 6.7.4: Antizipierte Erinnerung – Arten der Geschichtsschreibung, -darstellung differenziert, nach Museen (in Prozent von n, Mehrfachnennungen möglich) MHU Arten der Geschichtsschreibung, -darstellung
30,8
HdG 16,2
JMB 12,6
DHM 7,8
Gesamt 16,9
Räumlich-territorial bestimmte Geschichte: lokal, regional,
8,5
----
0,8
0,9
2,6
----
----
----
0,9
0,2
19,7
16,2
11,8
1,7
12,3
2,6
----
----
5,2
1,8
national, europäisch Etappen einer Emanzipations- und Befreiungsgeschichte Geschichte als Geschichten, Alltagsgeschichte, Volkskunde Personengeschichte, Adelsgeschichte sowie Geschichte sozialer Ungleichheiten n = 117
n = 111
n = 119
n = 115
n =462
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Im Anschluss an diesen Überblick darüber, was die Besucher glauben, was ihnen in Erinnerung bleiben wird, besteht noch immer die interessante Frage, inwiefern sich dabei ein Zusammenhang zwischen Vorwissen, Eindrücken und antizipierter Erinnerung ergibt und die Befragten ein Antwortmuster über die Fragen durchhalten. So ließe sich von verschiedenen Rezeptionstypen ausgehen. Um zu beleuchten, welche Übereinstimmungen es zwischen dem Antwortverhalten der Besucher über diese verschiedenen offenen Fragen hinweg ergibt, wurden Rezeptionstypen gebildet. Diese Typenbildung soll im Folgenden kurz beschrieben werden: Es lassen sich fünf Rezeptionstypen unterscheiden, je nachdem, welche Antwortkombination auftritt. Es ist zu vermuten, dass diese Rezeptionstypen das spezifische Museumserlebnis und Geschichtsverstehen bestimmen, da theoretisch davon auszugehen ist, dass Vorwissen bzw. Assoziationskodes die Rezeption und ergo die antizipierte Erinnerung an das Museumserlebnis prägen.
360 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Zunächst ist analytisch ein Rezeptionstyp 5 zu bilden für den Fall, dass kein Zusammenhang über die drei bzw. vier Fragen zu Vorwissen, Eindrücken und antizipierter Erinnerung hinweg bestehen sollte. Für eine Interpretation der Ergebnisse und für inhaltliche Schlussfolgerungen bezüglich der Museumsrezeption ist diese Variante allerdings, jenseits einer logisch-analytischen Vollständigkeit, nicht von Interesse. Es erscheint hier nur sinnvoll, ein Vorliegen von Zusammenhängen zu betrachten, nicht aber das Ausbleiben eines Antwortverhaltens zu quantifizieren. Vier weitere Antwortkombinationen sind darüber hinaus denkbar: •
•
•
•
Rezeptionstyp 1: Die Besucher, die sich vorab mit bestimmten Themenbereichen (historischen Perioden, Themen, Arten der Geschichtsdarstellung) beschäftigt haben, werden genau diese Themenbereiche im Museum eindrucksvoll dargestellt empfinden. Rezeptionstyp 2: Die Besucher, die sich vorab mit bestimmten Themenbereichen (historischen Perioden, Themen, Arten der Geschichtsdarstellung) beschäftigt haben, werden auch vermuten, sich an die Darstellung dieser Themenbereiche nach einer Woche noch zu erinnern. Rezeptionstyp 3: Die Besucher, die bestimmte Themenbereiche (historische Perioden, Themen, Arten der Geschichtsdarstellung oder die Exponatinszenierung) als besonders eindrucksvoll dargestellt empfinden, werden auch vermuten, sich an die Darstellung dieser Themenbereiche nach einer Woche noch zu erinnern. Rezeptionstyp 4: Die Besucher, die sich vorab mit bestimmten Themenbereichen (historischen Perioden, Themen, Arten der Geschichtsdarstellung) beschäftigt haben, empfinden genau diese Themenbereiche im Museum eindrucksvoll dargestellt und werden vermuten, sich an die Darstellung dieser Themenbereiche nach einer Woche noch zu erinnern.
Es wird also darum gehen, darzustellen, wie viel Prozent der Befragten mit Vorwissen über ein Thema dies im Museum eindrucksvoll dargestellt empfinden und sich in einer Woche noch daran zu erinnern vermuten. Je nach Antwortverhalten lassen sich wiederum entsprechend vier Antwortmuster unterscheiden. Die denkbaren Kombinationen von Antworten sollen als Indikatoren für spezifische Arten der Wissensaneignung stehen.
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DIE
M USEEN
NUTZEN
| 361
Tabelle 6.7.5: Rezeptionstypen nach Museen (in Prozent von n und absoluten Häufigkeiten, Mehrfachnennungen möglich)
Typ 1 Vorwissen – Eindrücke Typ 2 Vorwissen – Erinnerung Typ 3 Eindrücke – Erinnerung
MHU
HdG
JMB
DHM
38,2 (47)
44,8 (56)
24,2 (29)
46,8 (58)
18,7 (23)
30,4 (38)
15,0 (18)
21,0 (26)
43,9 (54)
46,4 (58)
17,5 (21)
25,8 (32)
13,0 (16)
8,0 (10)
3,3 (4)
7,3 (9)
n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
Typ 4 Vorwissen – Eindrücke – Erinnerung
Gesamt 38,6 (190) 21,3 (105) 33,5 (165) 7,9 (39) n =492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
Zusammenfassend zu Tabelle 6.7.5 ist festzustellen, dass die Besuchspublika sich dahingehend unterscheiden, wie eindeutig sich ein Zusammenhang zwischen Vorwissen, Eindrücken und Erinnerung anhand der Daten rekonstruieren lässt. Das DHM ist dasjenige unter den Museen, das am stärksten auf jeweiligen Selektionen seiner Besucher beruhend rezipiert wird, z. B. variiert die Aufmerksamkeit (indiziert durch die antizipierte Erinnerung) verschiedener Besuchergruppen für verschiedene historische Perioden in diesem Museum am stärksten (vgl. Tabelle 19a im Anhang). Im DHM bestimmt das Vorwissen, wovon die Besucher sich ex-post beeindruckt zeigen. Im HdG überwiegt ein Typ von Besuchern, der das Museum als die antizipierte Erinnerung prägend wahrnimmt: Geschichte beim Besuch zu erleben, steht hier im Vordergrund. Das MHU wird unter den Museen am ehesten von seinen Besuchern aufgrund einer spezifischen Rezeption, die einen Zusammenhang zwischen ihrem Vorwissen – den Eindrücken – ihrer Erinnerung herstellt, wahrgenommen. Im JMB finden sich im Vergleich zu den anderen Museen die geringsten Prozentsätze an allen Rezeptionstypen, die einen Zusammenhang zwischen den Antworten auf die drei Fragen nach Vorwissen, Eindrücken und antizipierter Erinnerung aufweisen. Möglicherweise ist die auf Gefühlsregungen setzende Museumsgestaltung (Architektur plus spezifische Präsentation) dafür verantwortlich, da Erleben den Sinnzuschreibungen der Besucher am meisten Freiheitsspielräume lässt und so das Vorwissen weniger das Verstehen bestimmen kann und die Besucher eher neue Eindrücke gewinnen.
362 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
6.8 Z USAMMENFASSUNG : D IE M USEEN AUS DER S ICHT
IHRER
B ESUCHER
Aus der Sicht der Besucher ist erneut zusammenfassend eine für die jeweilige Mischung an Zielgruppen dominante, typische Sicht auf das jeweilige Museum zu formulieren. Dies dient dazu, abschließend festzuhalten, wovon sich ein Großteil des Besuchspublikums beeindruckt zeigt, wenn es die jeweiligen Ausstellungshäuser besucht. Die Besucher des MHU Etwa zwei Fünftel der Befragten sehen in diesem Museum nur die Dauerausstellung. Die Besuchszeiten in diesem Museum sind im Vergleich am geringsten. Das MHU wird von seinen Besuchern neben sinnlichen Wahrnehmungen über jeweils ausgelöste Erinnerungen rezipiert. Dies deckt sich damit, dass sich die Besucher insbesondere durch den lokalen bzw. regionalen Bezug des Museums angesprochen fühlen. Die Vorab-Beschäftigung mit der Geschichte fällt im MHU unter den Museen am geringsten aus: Dies ist über eine Besonderheit der ausgestellten Geschichte zu erklären, nämlich die Einschränkung des territorialen Bezugs auf Hannover. Als Informationsquellen für eine solche Beschäftigung werden vor allem Bücher genutzt; eine Besonderheit des Besuchspublikums im MHU liegt darin, auch Archive, Museen, Vorlesungen oder das Internet jenseits gängiger Informationsquellen für die Auseinandersetzung mit dieser spezifischen Geschichte zu nutzen. Im MHU handelt es sich um ein ambitioniertes Laienbesuchspublikum (vgl. Abschnitt 4.4). Das MHU ist aus Sicht der Besucher wesentlich durch seine Fülle an klassischmusealen Exponaten bestimmt. Besondere Aufmerksamkeit erfuhren die Hands-onExponate der Sonderausstellung „Familie Tausendfach“. Von der Exponatinszenierung des MHU finden vorrangig die Modelle und Miniaturen die Aufmerksamkeit der Besucher und das Museum wird als eine Mischung aus Volkskunde und Alltagskultur wahrgenommen. Einige kuriose Exponate wie ein Folterinstrument, Prunkkutschen, eine Ritterrüstung sowie eine hölzerne Brunnenwandung sind in diesem Museum zu bestaunen. Als Installationen beeindrucken die alltagsgeschichtlichen, im zeittypischen Stil der 1950er und 1960er Jahre arrangierten Wohnzimmer. Die Besucher schätzen die klassische Exponatinszenierung, lassen sich durch sinnliche Wahrnehmungen und Erinnerungen ansprechen; der Zugang zu Geschichte erfolgt in diesem Haus im Vergleich am wenigsten über den Verstand bestimmt. Soziale Unterschiede in der Geschichtsdarstellung treten in der Ausstellung als solche zwischen Stadt und Land hervor. Ansonsten wird die Geschichtsdarstellung überwiegend als räumlich und territorial auf Hannover und Niedersachsen beschränkte Darstellung beschrieben. Das MHU wird von seinem Besuchspublikum tendenziell über verschiedene Arten der Geschichtsdarstellung thematisiert, etwas
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M USEEN
NUTZEN
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das zum einen „Alltagsgeschichte“, zum anderen den lokalen Bezug der Ausstellung meint. Im MHU finden, neben der Referenz auf die Themen „Politik, Militaria und Krieg“, besonders Themen der „Religion, Kunst, Kultur“ die Aufmerksamkeit der Besucher. Das Museum lädt sie zum Stöbern ein, was einer besonderen Art der ordnenden Rezeption dieses Museums entspricht. Das MHU wird am häufigsten als „Ordnung, Struktur, Gliederung“ wahrgenommen. Unter den Besuchern, die Museen gemäß demjenigen Rezeptionstyp „lesen“, der Vorwissen, Eindrücke und Erinnerung in analogen Kategorien fasst, dominiert das Besuchspublikum des MHU. Die Besucher des HdG Wie im MHU, so besuchen auch im HdG etwa zwei Fünftel der Befragten nur die Dauerausstellung. Seinem Ansatz „Geschichte erleben“ und der ausgestellten Zeitgeschichte entsprechend, wird das Haus unter den Museen am stärksten über Erinnerungen rezipiert, sinnliche Wahrnehmungen bilden den hauptsächlich anzutreffenden Rezeptionsmodus. Das HdG zeichnet sich gegenüber den anderen Museen durch ein Laienbesuchspublikum aus. Die Beschäftigung mit der Zeitgeschichte erfolgte bei diesen Besuchern zumeist über den Schulunterricht; es handelt sich um eine freizeitorientierte, weniger museumsaffine Besucherklientel (vgl. Abschnitt 4.4). Das HdG beeindruckt durch seine Ausstellung von Alltags- und Popkultur und durch seine zeittypischen Installationen wie eine Jukebox bzw. eine Eisdiele aus den 1950er Jahren. Zugleich rücken persönliche Besitztümer herausragender Personen, wie z. B. Adenauers Mercedes, Politisches in lebensweltliche Nähe. Von den Besuchern als bemerkenswert eingestufte Inszenierungselemente sind darüber hinaus der Salonwagen im Kellergeschoss des Hauses sowie der „Rosinenbomber“ zu Beginn der Ausstellung. Im HdG treten vor allem die politische Entwicklung, der Zweite Weltkrieg sowie Wiedervereinigung und Mauerfall in das Blickfeld der Besucher. Dieses Museum wird von seinem Besuchspublikum typisch über die ausgestellten Themen beschrieben. Die Periode zwischen 1933 und 1945 wird in diesem Museum zumeist durch Referenz auf den Zweiten Weltkrieg charakterisiert, wie dies die Ausstellung auch nahe legt. Erinnerungen kommt in diesem Museum eine große Bedeutung als (ein-)ordnender Rezeption zu. Im HdG bestimmen vor allem die Eindrücke, die von den Besuchern als „antizipierte Erinnerung“ angegeben wird. Die Besucher des JMB Die Besucher bewegen sich überwiegend in den Primärbereichen, in der Nähe der gängigen Laufroute und werden dabei nicht allein durch die Architektur des Hauses angesprochen, sondern auch durch die Präsentation. Neben sinnlichen Wahrnehmungen wird dieses Museum in der Gesamtstichprobe am stärksten über ausgelöste Gefühle rezipiert, etwas, das wiederum für die herausragende Bedeutung der Mu-
364 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
seumsarchitektur für die Geschichtsrezeption spricht. Im JMB wurde nicht nach einer Vorab-Beschäftigung mit den Themen der Ausstellung, sondern nach der Wahrnehmung von Medienberichten zu Themen der Ausstellung gefragt. Solche Medienberichte wahrgenommen zu haben, wurde analog zu den anderen Häusern von einem sehr hohen Prozentsatz der Besucher bejaht. Für eine Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Geschichte werden vorrangig Printmedien genutzt, die Besucher beschreiben sich selbst als ein kulturinteressiertes Besuchspublikum (vgl. Abschnitt 4.4). Im JMB bestimmen die medialen Qualitäten der Libeskind-Architektur deutlich die Eindrücke der Besucher. Geschichte wird im JMB als „Geschichten“ dargestellt, indem explizit Geschichten aus dem jüdischen Leben in Deutschland erzählt werden. In diesem Museum bekunden die Besucher z. T. ein Interesse an dem Themenkontext „Israel“, wenn es um politische Themen geht. Ansonsten sind hier jedoch stärker Tradition, Kultur und Kunst von Interesse und werden in der Ausstellung als herausgehoben wahrgenommen. Eine andere in diesem Museum zentrale Narration betrifft Antisemitismus, Diskriminierung, Verfolgung, Deportation, Flucht und Vernichtung jüdischer Bevölkerungsanteile; diese thematischen Elemente wurden zur Kategorie „Brüche und Konflikte der deutsch-jüdischen Geschichte“ zusammengefasst. Diesbezüglich wird zumeist der Holocaust thematisiert bzw. auf die „Periode von 1933-45“, das „III. Reich“ oder „die NS-Zeit“ referiert. Die Besucher dieses Museums nehmen die Ausstellung im Vergleich als am wenigsten geordnet wahr. Im JMB lassen sich im Vergleich bei den geringsten Anteilen von Besuchern Zusammenhänge zwischen Vorwissen, Eindrücken und antizipierter Erinnerung finden. Die Besucher des DHM Die Stichprobe im DHM erfasst zu 85 Prozent Besucher des ersten Teils der Dauerausstellung und nur 60 Prozent Besucher des zweiten Teils; weniger als die Hälfte der Besucher sahen beide Teile. Die Eindrücke und das Verstehen von Geschichte werden somit eher mit dem ersten Teil der Dauerausstellung in Beziehung gesetzt und sind davon geprägt, dass sich dieses Museum im Vergleich durch die längsten Besuchszeiten – zwischen zwei und vier Stunden – auszeichnet. Die Besucher neigen zu einer Rezeption über den Verstand. Zu vermuten ist, dass die Fülle an Dingen, Ausstellungselementen und Themen einer differenzierten Rezeption entgegensteht. In diesem Museum werden Eindrücke am wenigsten differenziert geschildert, obschon sich das Museum durch ein überwiegend ambitioniertes, historisch interessiertes und professionelles Besuchspublikum auszeichnet (vgl. Abschnitt 4.4). Für die Beschäftigung mit der im DHM ausgestellten Geschichte spielt das Fernsehen als Informationsquelle eine wichtige Rolle. Im DHM machen Besitztümer herausragender Persönlichkeiten wie Napoleons Dreispitz oder die Schreibtische Hitlers und Honeckers Geschichte greifbarer. Als
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DIE
M USEEN
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Art der Geschichtsschreibung wird hervorgehoben, dass „Personen- oder Adelsgeschichte“ erzählt wird, sowie dass damit soziale Unterschiede (z. B. zwischen Volk, Bürgertum und Adel oder Stadt und Land) thematisiert werden. Insgesamt beeindrucken in diesem Haus „historische Originale“ und „Dinge mit Spuren“, die diese in dem hier vertretenden Sinne zu Kuriositäten machen. Den Beginn der Ausstellung in diesem Museum prägt die Darstellung sozialer Unterschiede sowie solcher zwischen Stadt und Land mittels einer Fülle von Portraits Adeliger. Aufgrund der Fülle an Exponaten und Themen werden Eindrücke in diesem Museum häufig durch Angabe einer groben zeitlichen Einordnung, einer historischen Periode, beschrieben. Das Besuchspublikum interessiert sich für eine breite Palette sehr spezifischer Einzelthemen, etwas, das jedoch nicht unbedingt mit einer breiten thematischen Streuung von Eindrücken aus der Ausstellung einhergeht. Das Besuchspublikum erhält in der Ausstellung zumeist Eindrücke von „Politik, Militaria“ oder den dort präsentierten Kriegen. Der Besuchsgrund der Besucher des DHM liegt überwiegend darin, etwas über Kultur und ihre Geschichte zu erfahren. Das Themeninteresse richtet sich zumeist auf den Bereich „Religion, Kultur und Kunst“. Das Museum wird unter den vier Häusern am ehesten als „Überlagerung von Ordnungsprinzipien“ wahrgenommen, obschon die meisten Besucher im Vergleich der Häuser hier eine klare Ordnung sehen. In diesem Museum werden vielfach diverse Arten der Geschichtsdarstellung in das Museum hineingelesen.
7
Deutungen von Geschichte und Zeit
In Kapitel 5 wurde das empirische Textmaterial eingeführt, von welchem ausgehend ich das Geschichtsverstehen der Besucher in einer Sekundäranalyse der entwickelten Kategorien behandeln will. Als Deutungen von Geschichte fasse ich dasjenige intuitive Geschichtsverständnis, das die Besucher wie in Kapitel 5 dargestellt, mit ihren Eindrücken schildern. In einem mehrstufigen Verfahren wurden insofern in KUGL zunächst Eindrücke erhoben (vgl. Kapitel 5), in den Schilderungen der Eindrücke kommen verschiedene Deutungen zum Ausdruck. Bei einigen dieser Deutungen handelt es sich um Deutungen von Geschichte. Damit liegen für die Analyse hier nun mit den in der Auswertungsdimension „Geschichtsvorstellung, -darstellung“ kodierten Variablen Daten vor, die sich in einem weiterführenden Analyseschritt als Geschichtsverstehen der Besucher interpretieren lassen. Ein Verstehen von Geschichte oder Geschichtsverstehen liegt dann vor (vgl. Kapitel 5), wenn die im Museum gewonnenen Eindrücke und intuitiven Deutungen der Besucher der Geschichte durch dieselben weitergehend interpretiert werden, in abstrakteren Begriffen gefasst oder aber durch ein Bezüge-Herstellen zwischen verschiedenen Informationen durch „neue“ Sinnzuschreibungen erklärt werden.
7.1 W IE WIRD G ESCHICHTE GEDEUTET ? – U NTERSCHIEDE IM G ESCHICHTSVERSTEHEN ZWISCHEN DEN M USEEN In den vier Museen formulieren die Besucher ihre Eindrücke von der ausgestellten Geschichte primär, indem sie diese als Chronologie, Narration, Konstruktion, Alltagsgeschichte, räumlich-territoriale Geschichte, Strukturation und Leiden deuten. In Kapitel 5 wurde die Frage 1, wie die Besucher in kulturhistorischen Museen die ausgestellte Geschichte verstehen, aufgeworfen und die induktiv vorgehende Auswertungstechnik beschrieben, aufgrund derer das empirische Textmaterial zu spezifischen Eindrücken der Besucher in den genannten Kategorien verdichtet wurde.
368 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
Diese Kategorien ermöglichen zunächst z. T. Rückschlüsse auf die Deutungen der Besucher von Geschichte und in einem nächsten Analyseschritt auf ihr Geschichtsverstehen, also darauf, wie die im Museum ausgestellte Geschichte von den Besuchern als Informations- und Mitteilungsakte verstanden werden (vgl. Abschnitt 2.1.1). Für die weitere Betrachtung wurden allein die Kategorien berücksichtigt, die dazu bereits in ihrer Interpretation oben (Anschnitt 5.3) dargestellt wurden: Chronologie, Narration, Konstruktion, Kausalität, Alltagsgeschichte, Räumlich-territoriale Geschichte, Strukturation und Leiden. Für die Zusammenfassung wurde nicht nur deren semantischer Gehalt berücksichtigt, sondern es wurden anschließend statistisch die Korrelationsmaße zwischen den Kategorien als quantitative empirische Entscheidungsgrundlage zur Zusammenfassung von Subkategorien geprüft. Tabelle 7.1: Geschichtsverstehen (in Prozent von n und absolute Häufigkeiten f, Mehrfachnennungen und -kodierungen möglich) MHU
HdG
%
f
%
Chronologie
10,6
13
Entwicklung
4,9
6
Narration, Geschichtserzählung
5,7
(Retrospektive) Konstruktion
JMB
DHM
Gesamt
f
%
f
%
f
%
7,2
9
17,5
21
34,7
43
17,5
86
8
10
4,2
5
2,4
3
4,9
24
7
8,8
11
9,2
11
8,9
11
8,1
40
9,8
12
18,4
23
11,7
14
22,6
28
15,7
77
Kausalität
7,3
9
3,2
4
6,7
8
8,9
11
6,5
32
Alltagsgeschichte
62,6
77
51,2
64
15,8
19
18,5
23
37,2
183
Exemplarische Geschichte
6,5
8
4,8
6
2,5
3
8,9
23
5,7
28
Räumlich-territoriale Geschichte
19,5
24
9,6
12
10
12
14,5
18
13,4
66
Strukturation
5,7
7
9,6
12
7,5
9
13,7
17
9,1
45
Geschichte als komplexes Geschehen
2,4
3
0
0
0,8
1
5,6
7
2,2
11
Leiden in und an erratischer Diskontinuität
1,6
2
5,6
7
24,2
29
2,4
3
8,3
41
n = 123
n = 125
n = 120
n = 124
f
n =492
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
In der Auswertungspraxis ist die Faustregel zu beachten, dass Zellenhäufigkeiten unter etwa 30 Fällen keine verlässlichen Ergebnisse liefern, da derart auftretende
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| 369
Antwortmuster rein zufällig zustande gekommen sein könnten. Das heißt, diese letzte Auswahlentscheidung, welches Geschichtsverstehen weiter zu berücksichtigen war, wurde aufgrund der Fallzahl getroffen und schloss demnach „Entwicklung“, „exemplarische Geschichte“ sowie „Geschichte als komplexes Geschehen“ für eine weitere quantitative Auswertung aus. Aufgrund dieser methodischen Überlegungen gehe ich, ausgehend von Webers Begriff des Verstehens (b) als durchschnittlich und annäherungsweise gemeintem Sinnverstehen im Sinne einer soziologischen Massenbetrachtung (vgl. Kapitel 5), davon aus, aufgrund einer Fallzahl > 30 Geschichtsverstehen vorliegen zu haben, welches ich weitergehend analysiere. Das ist insofern nicht ganz zuverlässig, da oben bereits erläutert wurde, dass einige Textprotokolle allein Aufschluss auf Geschichtsdeutungen zuließen. Im Übergang zu einer quantitativen Analyse des Geschichtsverstehens, ist es allerdings zu rechtfertigen, ausgehend von diesen quantifizierten und insofern massenhaft betrachteten Geschichtsdeutungen vom Vorliegen von Geschichtsverstehen auszugehen. Zusammenhänge und Aussagen für die einzelnen Museen separat treffen zu wollen, lässt sich dementsprechend nur mit Einschränkungen leisten, da nur in wenigen Fällen die Zellenbelegungen groß genug sind. Deswegen ist es für diese Untersuchung von Vorteil, vier Besucherstichproben im Vergleich miteinander analysieren zu können (Klein, 1998). Mit Blick auf die relativen Häufigkeiten und die Verteilung des Geschichtsverstehens zwischen den Museen erscheint Verschiedenes bemerkenswert: Der Vergleich der Museen untereinander erlaubt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszustellen. Im MHU thematisieren die Besucher Geschichte am seltensten als konstruiert, die Prüfung des Umkehrschluss, dass sie dort vermutlich am häufigsten als authentisch verstanden wird, wäre eine interessante Hypothese, die allerdings mit dem vorliegenden empirischen Material nicht geprüft werden kann. Am häufigsten wird die Geschichte von den Besuchern dieses Museums natürlich mit einem lokalen Bezug thematisiert. Geschichte gilt hier zugleich am wenigsten als erzählt. Die Besucher nehmen im Museum vor allem die ausgestellte Alltagsgeschichte bzw. Volkskunde wahr. Im HdG rückt demgegenüber neben der Alltagsgeschichte gerade der konstruierte Charakter von Geschichte in den Blick der Besucher. Hier ließe sich die vorläufige Interpretation wagen, dass, gerade weil die präsentierte historische Zeit größtenteils selbst erlebte Zeitgeschichte ist, vielen Besuchern der Unterschied zur musealen Präsentation besonders bewusst wird. Insofern ist auch das Geschichtsverstehen „Strukturation“ gerade bei diesem Besuchspublikum vorherrschend. Gerade das Konzept „Geschichte erleben“ fordert zu einer Kontrastierung der eigenen Erinnerung, als dem vermeintlich authentischeren Zugang zur Vergangenheit, mit der ausgestellten Geschichte, einer Deutung von Geschichte als Dualität, als Struk-
370 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
turation zwischen Politik und Lebenswelt heraus. Dies erklärt zugleich die relativ geringe Anzahl an Antworten, die in diesem Kontext auf Chronologie referieren: Eine Datierung erscheint vergleichsweise bedeutungslos, wenn man sich an die Abfolge selbst zu erinnern meint. Ob eine Korrektur tendenziell nostalgisch „verzerrter“ Erinnerungen durch die Ausstellung erfolgen kann, muss trotzdem fraglich bleiben. Besteht doch gerade in diesem Kontext ein Spannungsverhältnis zwischen Erinnerung und Historisierung. Insbesondere im HdG verwenden die Besucher am wenigsten lokale Bezüge, um ihr Geschichtserlebnis zu beschreiben. Gerade im JMB kommt dem Leiden in und an der erratischen Diskontinuität in der Geschichte sowohl zwischen den Museen und innerhalb dieses Besuchspublikums die größte Bedeutung zu. Angesichts der historischen Verfolgung und Ermordung der Juden in Deutschland, angesichts des im JMB primär durch die LibeskindArchitektur repräsentierten Holocausts, erscheint dies wenig überraschend. Bemerkenswerter ist demgegenüber, dass das Konzept, Geschichte als Geschichten darzustellen, unter den Museen im JMB am wenigsten die Eindrücke der Besucher prägt. In den anderen Museen finden diejenigen Ausstellungselemente, denen es gelingt, Geschichte in den Aufmerksamkeitsfokus von Besuchern zu rücken, indem sie persönliche Bezüge auf das Ausstellungsthema erlauben, deutlich größere Beachtung. Dies ist darüber zu erklären, dass es im JMB näher liegt, Geschichte als Leiden denn als menschliches Leben zu thematisieren, und damit, dass jüdische Geschichte in Deutschland immer noch die Geschichte „der Anderen“, die Geschichte einer Bevölkerungsminderheit und kulturellen Minderheit bleibt. Selbst wenn dieser Aspekt der Ausstellung sehr im Zentrum der Präsentation steht, werden die Wahrnehmungen der Besucher nicht in ähnlichem Maße von diesem Element der Geschichtspräsentation geprägt. Dies liegt vielleicht auch darin begründet, dass das Verhältnis zwischen Architektur und Ausstellung tendenziell eher das Ende jüdischer Geschichte in Deutschland, die Diskontinuität und Erratik ihres Verlaufs und das Leiden der Menschen betont. Erstaunlich ist weiterhin, wie viele Aussagen die Chronologie der Darstellung berücksichtigen. Dies scheint sich vor dem Hintergrund zu erschließen, dass die Ausstellungsarchitektur des JMB gerade am wenigsten unter den Museen eine lineare Symbolik reproduziert, wie sie ansonsten zur Repräsentation einer chronologischen Abfolge gebräuchlich ist. Hier scheint es, als hätten die Besucher, auf die historische Zeit in der Präsentation angesprochen, bekräftigend bekundet, sie hätten trotzdem die chronologische Abfolge in der Ausstellung wahrgenommen. Vielleicht gilt Chronologie als das Mittel der Wahl zu einer Orientierung in dieser „fremden“ Geschichte, um sich zu vergegenwärtigen, inwiefern jüdische Geschichte trotz des Holocaust deutsche Geschichte ist. Vermutlich dient aber die Historisierung im Rückgriff auf Weltzeit dazu, eine kognitive Distanz zum Dargestellten aufzubauen. Erlaubt Datierung und chronologische Ordnung tatsächlich eine Synchronisation
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VON
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UND
ZEIT
| 371
unterschiedlicher Geschichten, mag die recht häufige Nennung von Chronologie hier möglicherweise auf diese Funktion verweisen. Im DHM überwiegt sogar der Anteil an Besuchern, die die Chronologie berücksichtigen. Ähnlich wie im JMB dient in einem Haus, das einen sehr breiten Zeitrahmen präsentiert, die chronologische Ordnung tatsächlich der Gliederung und Orientierung in der Ausstellung. Darauf verweist auch der hohe Anteil an Besuchern, die Geschichte in diesem Haus als „Strukturation“ verstehen. Sind gerade im DHM viele Befragte auf der Suche nach kausalen Zusammenhängen in der Zeit, erscheint Chronologie als ein Hilfsmittel, das es erlaubt, Eindrücke zeitlich zu ordnen und zu überprüfen, ob sich kausale Interpretationen als tragfähig erweisen. In diesem Museum gilt Geschichte in hohem Maße als konstruiert. In Kapitel 5 ging es deskriptiv darum, was die Besucher beeindruckt, wenn sie Geschichte deuten. In diesem Abschnitt wurde ergänzend dazu beschrieben, wie sich das Geschichtsverstehen zwischen den Museen verteilt und damit ist strenggenommen bereits ein Teil der Frage 3 (vgl. Abschnitt 7.3) beantwortet, ob sie sich die Besucher in ihrem Geschichtsverstehen je nach Ausstellungshaus voneinander unterscheiden. Ja, die ausgestellte Geschichte wird in den Museen unterschiedlich gedeutet. Beschrieben wurde in diesem Abschnitt, worin sich die Unterschiede zwischen den Museen quantitativ zeigen, nun wird es im Folgenden darum gehen, die Frage 2 (vgl. Abschnitt 7.2) zu klären, ob historische Zeitperspektiven das Geschichtsverstehen der Besucher implizit organisieren. Es gilt demnach, sich intensiver den Bedingungen des Geschichtsverstehens im Museum zuzuwenden. Damit verbleibt weiterhin ein Teilaspekt der Frage 1 noch unbeantwortet: nämlich wie zu erklären ist, dass die Besucher in den Museen die ausgestellte Geschichte unterschiedlich verstehen, diese Frage bzw. dieser Teilaspekt der Frage soll in Kapitel 8 wieder aufgegriffen und beantwortet werden.
7.2 A NDERES G ESCHICHTSVERSTEHEN , ANDERE IMPLIZITE Z EITPERSPEKTIVE ? Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurde ausgeführt, warum davon auszugehend ist, dass einer Geschichtserzählung des kulturellen Gedächtnisses mindestens eine historische Zeitperspektive implizit ist, die diese zeitlich organisiert. Denn einerseits ist generell allen Sinnkonstruktionen eine Zeitdimension implizit, sie rekurrieren immer auf die Zeitdimension. Eine Eigenart von Zeit besteht darin, dass sie sich nicht ohne einen inhaltlich-thematischen Bezug denken lässt (Luhmann, 2005
372 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
[1990]: 92). Dies ist auf zweierlei Art möglich: Durch die binäre Zuschreibung des Unterschieds von jetzt und nicht-jetzt bzw. später (Nassehi, 1993: 64ff), oder dreistellig aufgrund der Konstruktion einer Zeitperspektive, die einen Zusammenhang zwischen dem Vergangenheitshorizont, der Gegenwart und dem Zukunftshorizont ausgehend von einer Gegenwart konstruiert (Bergmann, 1981: 162ff). Die Gegenwart ist relevant für die Konstruktion einer Zeitperspektive, sowohl in den Horizont der Vergangenheit wie in den der Zukunft hinein. Zeit wird so durch einen Beobachter konstruiert, um Veränderungen in der Zeit Sinn zuzuschreiben. Die theoretischen Ausführungen zum Charakter von Zeitkonstruktionen oben sind weiter in anderer Hinsicht ernst zu nehmen: Nicht ganz zufällig weisen die Überschriften der Abschnitte 2.2.1 und 2.2.2 darauf hin, dass subjektives Zeitbewusstsein im Rekurs auf Datum und Uhrzeit konstruiert wird und die (Re-) Konstruktion von Geschichte im Rekurs auf Chronologie erfolgt. Aus den theoretisch zu differenzierenden Besonderheiten des Begriffes Zeit resultiert weiter, dass zwischen einer a priori vor jeder Sinnzuschreibung vorliegenden Weltzeit (gemessen in Uhrzeit, Datum oder Chronologie) und der Temporalität einer Geschichtserzählung zu unterscheiden ist. Ich gehe davon aus und habe das im Abschnitt 2.2 begründet, dass es nicht nur eine soziale Zeitperspektive gibt, sondern eine historische, also eine Zeitperspektive, die insbesondere aufgrund von Geschichte rekonstruiert wird. Es wird also eine historische Zeitperspektive geben, die als Sinnkonstruktion gemäß der Ausrichtung der Frage 2 insbesondere als das Geschichtsverstehen der Besucher organisierend angenommen wird. Frage und Annahmen Dies soll empirisch analysiert werden und dazu ist danach zu fragen, wie die Besucher historische Zeit ausgehend von ihrem Geschichtsverstehen rekonstruieren bzw. andersherum, wie das Geschichtsverstehen durch historische Zeitperspektiven organisiert wird. Die Frage lässt sich allein zirkulär stellen, da wie gesagt eine Konstruktion von Zeit generell mit einer jeden Sinnkonstruktion einhergeht. (2) Welche historischen Zeitperspektiven organisieren das Geschichtsverstehen der Besucher implizit? Um diese Frage angemessen beantworten zu können, sind weiterhin vier verschiedene theoretisch denkbare Annahmen zu unterscheiden, die ich im Folgenden als Annahmen 1.1-1.4 differenzieren möchte. Annahmen dienen mir hier dazu, die Fragen „kleinzuarbeiten“: Kann im Rahmen der empirischen Untersuchung hier allein explorativ und deskriptiv vorgegangen werden, da keine Theorien vorliegen, die Hypothesen plausibilisieren würden sowie abhängige und unabhängige Variablen
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ZEIT
| 373
vorab als solche definieren könnten, um die aufgeworfenen Fragen zu beantworten, sind auch keine Hypothesentests im strengen Sinne möglich. Zugleich lässt sich unter Rückgriff auf Annahmen die Argumentation und Ergebnisdarstellung besser gliedern. Der Frage 2 liegt die Annahme (1.1) zugrunde, dass jedes Geschichtsverstehen die (Re-)Konstruktion einer demselben impliziten historischen Zeitperspektive befördere. Aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden statistischen Datenmaterials ist es aber auch alternativ denkbar, dass sich im Ergebnis zeigt, dass es sich letztlich nicht um historische Zeitperspektiven handelt, die mit den vorliegenden Besucherbefragungen erhoben wurden. Demnach könnte sich auch die Annahme (1.2) bestätigt finden, dass das Geschichtsverstehen durch soziale Zeitperspektiven organisiert erfolgt. Den Zusatz „sozial“ verwende ich hier, um den Unterschied zu einer „historischen“ Zeitperspektive sprachlich deutlich zu machen (vgl. Abschnitt 2.2): Es ist davon auszugehen, dass Zeitperspektiven generell intersubjektiv geprägt sind, aber nicht immer historisch, d. h. ausgehend von einer Geschichtserzählung, konstruiert werden. Selbst eine biographische Zeitperspektive – als Ausnahme von dieser Regel könnte vielleicht jemand gelten, der wie ein Kaspar Hauser aufwächst –, durch welche ein Subjekt Zeit durchaus sehr individuell konstruiert, ist durch seinen zwischenmenschlichen Kontakt, durch kulturelles Wissen überformt. Dieser Überlegung liegt die Annahme zugrunde, dass es eine Zeitperspektive überhaupt erst gibt, sobald Zeit für ein Subjekt sprachlich behandelbar, thematisier- und mitteilbar ist. Für ein Kind ohne einen entsprechenden Sozialisationsprozess mag diese Thematisierbarkeit vielleicht nicht gegeben sein. Es mag also sein, dass es auch Zeitperspektiven eines psychischen Systems gibt, die für einen Soziologen, der auf Kommunikation angewiesen ist, um empirische Befunde zu erhalten, nicht zu ermitteln sind. Denn es ist Sprache, die erst erlaubt, so die Hintergrundannahme, von einer Gegenwart zu abstrahieren und auf Zeit zurückzukommen bzw. vorzugreifen, die nicht mehr oder noch nicht ist. Dies, das Vorliegen einer aus einem sozial geteilten Wissensvorrat resultierenden Zeitperspektiven, ist vorstellbar, falls die museale Kommunikation und das Geschichtsverstehen der Besucher ihre Konstruktion einer Zeitperspektive nachweislich nicht tangiert. Es ist nicht vorab und in Vorwegnahme der Ergebnisse zu differenzieren, ob es sich bei dem Geschichtsverstehen um eine Größe handelt, die aus einer erst einmal sozial geteilten Zeitperspektive der Besucher historische Zeitperspektive macht. Zu bedenken bleibt hier, dass, wären die Begriffe trennscharf, eine soziale Zeitperspektive nicht durch Bezüge auf Historie entstünde. Das stimmt insofern nicht, als dass in eine soziale Zeitperspektive durchaus nicht nur individuelle Lebensgeschichte einfließt, sondern auch der Geschichtsunterricht, ggf. ein Geschichtsstudium, in der Familie erzählte Geschichte etc. die Konstruktion einer sozialen Zeitperspektive beeinflusst. Es ist natürlich auch bei sozialen Zeitperspektiven der Fall, dass in Sie Historisches oder Geschichte einfließt, insofern indiziert der Begriff
374 | G ESCHICHTE AUSSTELLEN – G ESCHICHTE VERSTEHEN
„soziale Zeitperspektive“ hier nicht, dass das so Bezeichnete völlig ohne historische Einflüsse auskäme. Zur Darstellung hier folgt die Begriffsdefinition einer umgekehrten Logik und den empirischen Ergebnissen: Diejenigen Zeitperspektiven, die hier als historische Zeitperspektiven gelten, sind solche, die empirisch nachweisbar, in dem situativ und zeitlich begrenzten Kontext der Erhebung Korrelationen mit Eindrücken der Besucher von der konkreten Geschichts- und Exponatinszenierung in einem Museum zeigen. Der Begriff „sozial geteilte Zeitperspektive“ bezeichnet also schlicht andere als die in diesem Kontext nachweisbaren historischen Zeitperspektiven, die auf Eindrücke von der ausgestellten Geschichte zurückgehen. Die Konstitutionsbedingungen einer sozialen Zeitperspektive und inwiefern diese auch historisch ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter geklärt werden. Gängige Konzepte historischer Zeit können theoretisch betrachtet in Wechselwirkung auf die Interpretation subjektiver Vergangenheit zurückwirken, also auf die Ausbildung einer persönlichen Zeitperspektive und umgekehrt. Die Frage, inwiefern Museen und das kulturelle Gedächtnis dazu beitragen, Orientierungen in der Zeit zu vermitteln, erhält ihre Relevanz aus Geschichtswissenschaft und soziologischer Theorie. In der Geschichtswissenschaft wird vielfach gefragt: Inwiefern vermittelt Geschichte eine Perspektive auf die Zukunft? (Historisches Museum der Stadt Frankfurt a.M. (Hg.), 1982; Jeismann, 1997; Rüsen, 1999: 84). Demnach kann aber mit den empirisch zu beantwortenden Fragen dieser Untersuchung der zentrale Fokus nicht darauf liegen, welche Zukunftsperspektive ein Besucher im Museum tatsächlich rekonstruiert, sondern beantwortet werden kann nur, welche Zeitperspektiven er rekonstruieren würde oder könnte, würde er aus der im Museum präsentierten Geschichte lernen. Es geht also um eine kulturelle Ermöglichung der Übernahme von Zeitperspektiven, denn es sind Gedächtnis und Zeitperspektiven, die Subjekten ihre Handlungsfähigkeit verleihen. Es ist außerdem denkbar, dass sich mit den empirischen Befunden die Annahme 1.3 bestätigt findet, dass jedes Geschichtsverstehen einen Rekurs auf Chronologie erlaubt. Oder auch, so Annahme 1.4, dass im Antwortverhalten der Besucher ihre lebensgeschichtlich sozial konstituierten Sinnzuschreibungen gegenüber Uhrzeit und Datum zum Ausdruck kommen. Denn a priori sind das Vorliegen einer Weltzeit bzw. die Zeitlichkeit des Seins überhaupt wiederum generell Bedingungen der Möglichkeit von Sinnkonstruktionen jeglicher Art. So ist es theoretisch denkbar, dass im Verstehen von Geschichte verschiedene Zeitkonstruktionen zugleich – als a priori gegebene Weltzeit (Uhrzeit, Datum oder Chronologie) oder als die Geschichtserzählung organisierende Temporalität einer historischen Zeitperspektive oder als soziale Zeitperspektive der Besucher – zum Ausdruck kommen.
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Methodische Umsetzung Zur empirischen Beantwortung der Frage, wie historische Zeitperspektiven das Verständnis von Geschichte implizit organisieren, wurde eine Erhebungsmethode angewendet, die vorsah, den Besuchern eine Liste likert-skalierter Items vorzulegen. Bei der Mehrzahl der Items handelte es sich um Aussagen, in denen ein „Verstehen“ von Geschichte1 in der Form unterschiedlicher Einsichten in die temporale Struktur von Geschichte ausgedrückt war. Z. B. „Sieht man, dass die Geschichte nicht kontinuierlich verläuft“ oder „Erweist sich, dass die Geschichte Sprünge macht“. Die Befragten sollten ihre Bewertungen einer Aussage auf einer LikertSkala mit fünf Ausprägungen zwischen „trifft zu“ und „trifft nicht zu“ bekunden (vgl. die Tabellen 25a; 26a im Anhang). Die Besucher wurden anhand der Itemskala gefragt, ob für sie subjektiv die jeweiligen Einschätzungen in dem jeweiligen Museum aus der ausgestellten Geschichte zu „lernen“ seien. Quantitative Forschung zum Geschichtsverstehen und historischen Zeitperspektiven wurde bislang noch nicht unternommen, weshalb nicht auf etablierte Erhebungsinstrumente zur Operationalisierung von historischen Zeitperspektiven zurückgegriffen werden konnte. Mit dem vorliegenden statistischen Datenmaterial wurde eine explorative Faktorenanalyse unternommen und es wurden verschiedene latente Faktoren extrahiert, die sich als historische Zeitperspektiven interpretieren lassen. Die Liste mit Einschätzungen, die es für die Befragten zu bewerten galt, wurde mit der Frage eingeleitet „Hier sind einige Einschätzungen darüber, was man in einem historischen Museum „lernen“ kann.“ Da damit jedoch trotzdem nicht zu ermitteln ist, ob die Besucher wirklich „lernten“, da nicht gesagt werden kann, mit welcher Zeitperspektive die Besucher ins Museum hineingingen und mit welcher Zeitperspektive sie wieder heraus kamen, kann so nichts über auf das Museum zurückgehende Veränderungen in den Sinnkonstruktionen der Besucher ausgesagt werden. Die Aussage der Besucher, sie hätten gelernt, ist natürlich nicht mit nachweisbaren Lerneffekten zu verwechseln. Insofern kann allein ausgehend von den bivariaten Zusammenhängen der Ergebnisse untereinander im Nachhinein interpretativ erschlossen werden, inwiefern es sich tatsächlich um von der ausgestellten Geschichte geprägte historische Zeitperspektiven der Besucher handelt, die mit diesem Erhebungsdesign zu erfassen waren. Theoretisch denkbar erscheint durchaus, dass das Geschichtsverstehen der Besucher ihre Zeitperspektiven gar nicht verändert hat. Im Antwortverhalten kämen demnach Zeitperspektiven der Besucher zum Ausdruck, mit denen sie bereits ins
1
Im Interview wurde die Frage nach dem „Verstehen von Geschichte“ als Frage nach dem, was man im Museum über Geschichte gelernt habe, formuliert.
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Museum hineingingen und welche dann schlicht als lebensgeschichtlich erworbenes Wissen zu gelten hätten. Gerechnet wurde eine Hauptkomponentenanalyse, die Antworten auf die Frage liefert, wie sich eine Antwortskala zu dahinter liegenden Erklärungsfaktoren für das Antwortverhalten zusammenfassen lassen. Ein Faktor reduziert die Aussagen auf eine in ihm latent vorliegende Dimension; durch die diese sich interpretativ auf einen Begriff bringen lässt. Der Faktor erklärt die empirisch auftretenden Zusammenhänge und Varianzen im Zustimmungsverhalten, die Bedeutung eines Faktors ergibt sich aus der Interpretation der Ergebnisse. Diejenigen Items ohne Zusammenhang mit anderen Items, also diejenigen mit geringen oder nicht-signifikanten 2 Korrelationen mit den anderen Variablen, wurden aus der Analyse ausgeschlossen. Die im Folgenden mit Hilfe einer explorativen Faktorenanalyse analysierten Items haben gemeinsam, auf unterschiedliche Arten Zusammenhänge in der historischen Zeit zu konstruieren und wurden deshalb als historische Zeitperspektiven interpretiert:
2
Kleinbaum et al. (1988: 608) votieren dafür, für getrennte Gruppen – also die separaten Publika der Museen – jeweils eine eigene Faktorenanalyse durchzuführen. Wenn Faktoren für unterschiedliche Gruppen anderes bedeuten, ist dies sinnvoller. Aufgrund der geringen Stichprobengröße ist dies trotzdem nicht möglich. Das impliziert die methodische Unterstellung, dass die durch die Faktoren repräsentierten historischen Zeitperspektiven resp. das Antwortverhalten der Befragten auf die Items in allen Museen dasselbe bedeuten, im DHM z. B. Vergangenheitsorientierung dasselbe meine wie im JMB.
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ZEIT
| 377
Tabelle 7.2.1: Zustimmung der Befragten zu Einschätzungen3 (Hauptkomponentenanalyse einer 5er-Likert-Skala mit Oblim-Rotation, n = 492) A - Diskontinuierliche Zeitperspektive
Faktorladungsmatrix
B - Vergangenheitsorientierte Zeitperspektive A
B
C
a
0,805
.
.
0,687
0,674
.
.
0,456
0,566
.
.
0,335
.
0,805
.
0,662
.
0,602
.
0,366
.
0,597
.
0,366
.
.
0,983
0,969
25,7%
18,8%
14,6%
59,0%
C - Zyklische Zeitperspektive a - Kommunalität
4
Wird klar, dass es eigentlich keine Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung gibt Sieht man, dass die Geschichte nicht kontinuierlich verläuft Erweist sich, dass die Geschichte Sprünge macht Sieht man, dass vieles früher ganz ähnlich war wie heute Wird deutlich, wie sehr die Vergangenheit unsere Gegenwart bestimmt Wird spürbar, wie lebendig die Vergangenheit ist Erkennt man, dass auf eine Epoche des Aufschwungs immer eine Epoche des Niedergangs folgt Varianzaufklärung
5
Quelle: Besucherbefragung KUGL; eigene Berechnungen
3
Die Faktorladungen