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German Pages 336 Year 2023
Julian Genten DDR im Museum
Edition Museum Band 80
Editorial Das Museum zwischen Vergangenheit und Zukunft Die gesellschaftlichen Funktionen des Museums sind vielfältig: Als kuratierter Ausstellungsraum spiegelt es unser kulturelles Selbstverständnis wider und stellt es gleichzeitig in Frage. Als pädagogischer Raum ergänzt es schulische Lernorte um wichtige Kapazitäten. Als Raum des Sammelns und Bewahrens leistet es zentrale Beiträge zur Ausformung unseres kulturellen Gedächtnisses. In dieser Weise exponiert, bietet das Museum einzigartige Möglichkeiten, die Themen und Probleme unserer Zeit erfahrbar zu machen. In der Edition Museum werden all diese Dimensionen verhandelt und auf dieser Basis Weichen für die Zukunft gestellt. Im Zentrum stehen Fragen der Nachhaltigkeit, der Digitalisierung, der Postkolonialität, der Inklusion sowie der kulturellen Repräsentation. Daneben widmet sich die Reihe auch ganz praktischen Fragen des Museumsbetriebs sowie seiner Organisation und seines Managements. Das Spektrum an Publikationen reicht von multiperspektivischen Textsammlungen über monografische Studien bis hin zu Praxisleitfäden und anderen Lernmedien.
Julian Genten, geb. 1991, arbeitet als Historiker am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte der DDR, Public History und empirische Geschichtskulturforschung.
Julian Genten
DDR im Museum Wie Besucher*innen sich Ausstellungen zur ostdeutschen Geschichte aneignen
D188 Dieses Werk entstand als Dissertation im Rahmen des BMBF-Forschungsverbunds »Das mediale Erbe der DDR«.
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Inhalt
Vorwort ...................................................................................7 Abstract.................................................................................. 11 1.
Einleitung............................................................................13
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Die Musealisierung der DDR ........................................................ 35 Das Museum als gesellschaftliches Speicher- und Funktionsgedächtnis? .............. 35 Das Museum als hegemonialer Ort.................................................... 43 Das diskursive Feld der musealen DDR-Erinnerung .................................... 52 Rekursive Sinngebungsstrukturen im Museum ........................................ 62
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Ausstellungsanalysen .............................................................. 67 Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt ................... 67 DDR-Museum Pforzheim – Lernort Demokratie ........................................ 74 DDR-Museum Berlin .................................................................. 84 Die Dauerausstellung »Alltag in der DDR« im Museum in der Kulturbrauerei ........... 97 Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig ............................................... 103 Zwischenfazit ....................................................................... 113
4. Lernen, nutzen, aneignen. Zum Stand der Besucher*innenforschung in Museen .. 119 4.1 Von Grashüpfern und ihren Lebensstilen. Behavioristische Ansätze der Besucher*innenforschung ....................................................... 121 4.2 Potenziale, Grenzen und normativistische Fehlschlüsse der konstruktivistischen Besucher*innenforschung................................... 131 4.3 Die Ausstellungsrezeption als Aneignung .............................................145 5. Codieren und decodieren von Bedeutung im Museum. Zur Operationalisierung des Aneignungsbegriffs ............................................................ 151 5.1 Medienaneignung als Akt des Entschlüsselns ........................................ 155 5.2 Ausstellungsmedien als Zeichen..................................................... 160
5.3 Die Ausstellung als Drama und Bedeutungsfabrik .....................................162 5.4 Ausstellungslesarten und das Phänomen der Missverständnisse.......................167 6. 6.1 6.2 6.3 6.4
Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung .................. 177 »Selbstreflexivität als Methode« .....................................................178 Die »Wiedereinführung des Beobachters« ........................................... 183 Inhaltsanalyse als Dialoganalyse .................................................... 186 Zur Konzeption der Interviewstudie ................................................. 193
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen ...................... 203 7.1 Erinnern, abhaken, entdecken, lernen. Gründe für den Museumsbesuch .............. 203 7.2 »Ich bin ja nunmal Wessi, in Anführungsstrichen«. Rollenaushandlung und der soziale Kontext der Ausstellungsaneignung ............... 211 7.3 »Ein richtiger Eye-Opener«. Orientieren und Vergleichen in Ausstellungen.............221 7.4 »Aber es war schon so«. Eingangsnarrative und deren Bestätigung .................. 236 7.5 »Ah yeah, I remember that!« Die Ausstellung als Erinnerungsanlass.................. 248 7.6 »Dieses Versöhnliche zu zeigen«. Identitätsarbeit im Museum ....................... 278 7.7 »Von wem wurde das geschrieben?« Ausstellungslesarten, DDR-Gedächtnisse und ein Metabesuch im DOK Eisenhüttenstadt..................... 285 7.8 »Geschichtliches war viel«. Funktionen von Museen in den Augen ihrer Besucher*innen ............................................................... 297 8. Fazit ............................................................................... 307 9. Literaturverzeichnis................................................................317 Interviews .............................................................................. 333
Vorwort
In Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten zitiert Sigmund Freud folgendes »Sophisma«: A hat von B einen kupfernen Kessel entlehnt und wird nach der Rückgabe von B verklagt, weil der Kessel nun ein großes Loch zeigt, das ihn unverwendbar macht. Seine Verteidigung lautet: »Erstens habe ich von B überhaupt keinen Kessel entlehnt; zweitens hatte der Kessel bereits ein Loch, als ich ihn von B übernahm; drittens habe ich den Kessel ganz zurückgegeben.«1 In diesem Sinne können wir uns eine Person vorstellen, die sich nach dem Besuch eines zeithistorischen Museums beschwert, dass sie dort nichts gelernt habe. Und die Antwort des Museums könnte lauten: »Erstens solltest du hier gar nichts lernen, denn ich bin vor allem dafür da, nationale Identitäten zu konstruieren und bestehende Hegemonien abzusichern. Zweitens bin ich ein hervorragender Lernort und habe deinen Lernerfolg exakt gemessen. Und drittens hast du mich nur zur Unterhaltung besucht und wolltest überhaupt nicht lernen.« Für sich genommen hat jede dieser Antworten ihre Berechtigung; zusammen betrachtet schließen sie einander aus. Und doch charakterisiert jede von ihnen einen wichtigen Aspekt des Museums und seines Besuchs. Für mich entspringt die Faszination des Museums gerade aus dieser widersprüchlichen Vielgestaltigkeit – Museen sind Produktionsstätten von Hegemonie und Identität, Akteure und Objekte geschichtspolitischer Auseinandersetzungen, Orte der Bildung und sozialen Distinktion, der emotional-normativen Rückversicherung und Unterhaltung. Nicht minder faszinierend sind die Besucher*innen dieser Orte, für die sich in Forschung und Praxis gleichfalls vielfältige Charakterisierungen etabliert haben: Friedfertige »Schafe« und randalierende »Hooligans« bevölkern die Museumslandschaft ebenso wie »Ameisen«, »Forscher*innen« und »Cafeteria-Typen«.2 Doch was tun all diese Besucher*innen dort? Wofür sind sie gekommen? Was nehmen sie mit? Und wie korrespondiert ihr
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Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Leipzig/Wien 1905, S. 61. Für Angaben zu diesen und weiteren Besucher*innen-Typen vgl. Kapitel 4.
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DDR im Museum
Verhalten mit den unterschiedlichen Funktionen zeitgenössischer Museen? Diese Fragen zu ergründen, war das Ziel meiner Untersuchung. Begonnen habe ich meine Arbeit im Dezember 2018 im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes Das mediale Erbe der DDR. Ihre Entstehungszeit fällt somit zu einem bedeutenden Teil mit der Covid-19-Pandemie zusammen und wurde zweifellos auch durch damit verbundene Einschränkungen geprägt: Vorübergehende Museumsschließungen und Zugangsbeschränkungen trugen dazu bei, dass die von mir geführten Besucher*innen-Interviews sich über einen ungewöhnlich langen Zeitraum erstrecken und teils sehr weit auseinander liegen. Unklare Perspektiven hinsichtlich der Projektlaufzeit und Förderung seitens des BMBF erschwerten die Planung und Durchführung notwendiger Untersuchungsschritte. Meine Arbeit ist dadurch möglicherweise theorielastiger geworden, als es unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. Andererseits sind die Daten geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung immer soziale Daten, zustande gekommen unter ganz bestimmten, kontingenten sozialen Umständen. So gesehen gibt es keinen Normalzustand, von dem der Entstehungskontext meiner Untersuchung auf die eine oder andere Weise abweichen würde. Und dennoch (oder gerade deshalb) ist es erforderlich, diesen Kontext zu beleuchten. Angesiedelt war mein Forschungsprojekt am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin. Es ist allerdings kaum als genuin geschichtsdidaktisches Unterfangen zu charakterisieren und eher auf dem Feld der empirischen Geschichtskultur- und qualitativen Sozialforschung zu verorten, wenngleich sie auf Konzepte und Modelle aus all diesen (und weiteren) Disziplinen zurückgreift. Die interdisziplinäre Konzeption meiner Untersuchung bringt es allerdings auch mit sich, dass in ihr unterschiedliche Konventionen, Forschungspraktiken und Erkenntnisinteressen aufeinandertreffen, die teils nur schwer miteinander zu vereinbaren sind und mit denen ich (als jemand, der Public History und Philosophie studiert hat) zuvor kaum in Berührung gekommen war. So irritierte mich beispielsweise an der geschichtsdidaktischen Besucher*innenforschung der überaus starke – und meines Erachtens oftmals wenig reflektierte – Fokus auf Prozesse historischen Lernens im Museum. Und an Ansätzen der Besucher*innenforschung, die eher den Sozialwissenschaften entsprangen, war mir der Drang nach Typenbildung, Quantifizierung der Ergebnisse und die Orientierung an naturwissenschaftlichen Gütestandards ausgesprochen fremd. Auch stilistisch waren Abwägungen zu treffen, mit denen ich rückblickend nicht gänzlich zufrieden bin. Beispielsweise habe ich meinen Interviewpartner*innen Pseudonyme wie Frau Bogner oder Herr Murray – und nicht etwa P12 und P17 oder Leni und Robert. Einerseits trägt dies hoffentlich zu einem angenehmeren Lesefluss und einer leichteren Wiedererkennung bereits zitierter Personen bei, reproduziert aber u.a. auch eine binäre, heteronormative Geschlechterordnung. Die Pseudonymisierung hätte in dieser Hinsicht zweifellos sensibler gestaltet werden können – etwa dadurch, dass
Vorwort
Interviewte sich ihr eigenes Pseudonym geben. Schließlich handelt es sich bei qualitativen Interviews ohnehin um von Interviewer*in und Interviewten gemeinsam produzierte Texte. In diesem Sinne gilt mein Dank zuvorderst all jenen Menschen, die sich nach ihrem Museumsbesuch die Zeit genommen haben, sich von mir zu ihrem Ausstellungsrundgang befragen zu lassen. Von großem Wert war dabei auch die Unterstützung durch die untersuchten Museen, die mir auf unkomplizierte Weise Räume für Interviews zur Verfügung stellten und sich auch darüber hinaus sehr offen für meine Forschung zeigten. Herzlichen Dank an das Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR Eisenhüttenstadt, das DDR-Museum Pforzheim, das DDR-Museum Berlin, das Museum in der Kulturbrauerei und das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig. Ganz besonders verbunden bin ich meinen Kolleginnen Lotte Thaa und Luise Fakler für die zahlreichen produktiven Diskussionen über museologische Fachliteratur, ausstellungstheoretische Konzepte und eigene Kapitelentwürfe – und Luise Fakler insbesondere für ihre Mitwirkung an der Transkription, Codierung und Analyse des Interviewmaterials. Für die unterstützende und überaus wertschätzende Betreuung meines Forschungsprojekts danke ich Martin Lücke und Juliane Brauer und für die sicherlich oft nervenaufreibende organisatorische Arbeit im Hintergrund Martin Lücke, Andrea Ladányi und der Verbundkoordinatorin Daria Gordeeva. Von großem Wert war für mich auch die Möglichkeit, Teile meiner Arbeit in den vergangenen Jahren immer wieder bei Treffen des Forschungsverbundes und im Kolloquium unseres Arbeitsbereiches diskutieren und dabei Anregungen aus vielen unterschiedlichen Perspektiven erhalten zu können. Vielen Dank an all die darin involvierten Kolleg*innen und Kommiliton*innen! Und ohne die vielen hilfreichen Anmerkungen und kritischen Kommentare von Kai, Michalina Golinczak, Andrea und Wolfgang Genten und ihre sorgfältige sprachliche Überprüfung meiner Arbeit wäre diese heute in einem ganz anderen Zustand – herzlichen Dank Euch!
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Abstract
Diese Studie beleuchtet die Frage, wie sich Museumsbesucher*innen mit Ausstellungen zur Geschichte der DDR auseinandersetzen. Dazu untersucht sie den Museumsbesuch als ein durch vielfältige Kontexte gerahmtes Ereignis, mit dem verschiedene Ziele, Motivationen, Handlungs- und Kommunikationsweisen verbunden sein können. Ausgangspunkt meiner Analyse ist eine Kritik am engen Fokus eines Großteils der bestehenden Besucher*innenforschung auf historisches Lernen als normativ gesetzten Zweck des Museumsbesuchs. Anhand qualitativer Interviews mit Besucher*innen von fünf ausgewählten DDR-Museen zeige ich auf, dass zeithistorische Ausstellungen für ihre Besucher*innen noch viele weitere Funktionen erfüllen. Und ich argumentiere, dass der Einfluss des Museums auf die Sinnbildungsprozesse seiner Besucher*innen äußerst beschränkt ist. Die eigene Lebenswelt, Erinnerungen und biografische Bezüge bestimmen die Ausstellungsrezeption. Kurz gesagt: Menschen finden in Ausstellungen, wonach sie suchen – auch dann, wenn ihre Deutungsabsichten konträr zu denen des Museums sind. Anstatt diesen Umstand als bedauerliches Missverständnis oder verbesserungsbedürftigen Mangel aufzufassen, nehme ich ihn zum Ausgangspunkt, um eigensinnige Umgangsweisen mit zeithistorischen Ausstellungen in den Blick zu nehmen und nach deren theoretischen Implikationen zu fragen. Im Ergebnis plädiert meine Untersuchung für eine Rezeptionsforschung, die ihren Untersuchungsgegenstand von den Besucher*innen her denkt und diese als handelnde Akteure im Museum ernst nimmt. Auf einer methodologischen Ebene zeige ich dabei auf, dass qualitative Forschungsansätze und ein breiter Analysefokus zu einer solchen Perspektivenverschiebung entscheidende Beiträge leisten können. Darüber hinaus argumentiere ich für eine deutlich stärkere Verzahnung von Ausstellungs- und Rezeptionsanalyse, um Prozesse der musealen Bedeutungsproduktion adäquater und machtkritischer beschreiben zu können. This study deals with the question of how museum visitors engage with exhibitions on the history of the German Democratic Republic (GDR). To this end, it examines the museum visit as an event framed by multiple contexts, which can relate to different goals, motivations and modes of action and communication. The starting point
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DDR im Museum
of my analysis is a critique of the narrow focus of much of the existing visitor research on historical learning as the normative purpose of the museum visit. Based on qualitative interviews with visitors of five selected GDR-museums, I show that contemporary history exhibitions serve many other functions for their visitors. In addition, I argue that the influence of the museum on the meaning-making processes of its visitors is very limited. One’s own lifeworld, memories, and biographical connections often influence the reception of an exhibition far more than the exhibition itself. In short, people find what they are looking for in exhibitions – even if their interpretive intentions are contrary to those of the museum. Rather than regarding this as a regrettable misunderstanding or a shortcoming in need of improvement, I take it as a starting point to examine obstinate ways of dealing with contemporary historical exhibitions and to explore their theoretical implications. As a result, my study is a plea to visitor studies to take visitors’ perspectives as a starting point for research and to take museum visitors seriously as acting subjects in museums. On a methodological level, I show that qualitative research approaches and a broad analytical focus can contribute a lot to this change of perspective. Furthermore, I argue for a much stronger entanglement of exhibition and reception analysis in order to describe processes of meaning-making in museums in a more adequate and power-critical way.
1. Einleitung »La historia es nuestra y la hacen los pueblos! S. Allende @[Instagram-Name]«1
Wenn ich meinen ersten Besuch im Berliner DDR-Museum im Dezember 2018 mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen: Verwirrung. Das Museum war voll. Im Wohnzimmer einer nachgestellten Plattenbauwohnung schauten Schulklassen DDR-Fernsehen, englisch- und französischsprachige Tourist*innen probierten im Schlafzimmer vor einem digitalen Spiegel verschiedene Outfits an (von der Jeansjacke über ein geblümtes Kleid bis zum Trainingsanzug), in der DDR aufgewachsene Besucher*innen durchstöberten das Kinderzimmer nach Spielzeug und Büchern aus ihrer Jugend, während ich im Trabi-Simulator durch eine imaginäre Plattenbausiedlung fuhr. Was mich verwirrte, war aber nicht das Gedränge an sich, sondern der Umstand, dass ich mir zunächst keinen Reim auf die Ausstellung und ihre Besucher*innen machen konnte. Einerseits fand ich mich in einer nahezu perfekten musealen Umsetzung dessen wieder, was Lutz Niethammer einmal die »Ostvariante der Spaßgesellschaft« genannt hat,2 in welcher der vermeintlich »ostalgische« Bezug auf die DDR das »Ironische, Zitierende« sei: Im ersten Teil der Ausstellung schwenkte ich rote Wimpel am Foto einer Erster-Mai-Demonstration, druckte mir in der Küche der nachgebauten Wohnung ein Rezept für Blumenkohl im Weinteig aus, schaute auf dem Sofa im Wohnzimmer Westfernsehen und Der schwarze Kanal und stellte mir im Ausstellungsbereich »Partei und Staat« meinen eigenen »Neuen Menschen« zusammen – mit Badetuch, Flip-Flops und Nikolai Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde im Gepäck.
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Besucher*innen-Kommentar in einem Diskussionsheft mit dem Titel »Krippenkinder. Vorbildliches Angebot oder Zwangserziehung?« im Ausstellungsbereich »Bildung« des Berliner DDR-Museums. Fotografiert am 10.08.2022. Übersetzung: »Die Geschichte ist unser und es sind die Völker, die sie machen.« Das Zitat stammt aus der letzten Rede Salvador Allendes am 11.09.1973. Stefan Reinecke: »Ostpartys glorifizieren nichts«. Die Jüngeren sind neugierig auf DDRAlltagskultur, meint Historiker Lutz Niethammer (Interview), in: taz. die tageszeitung, 12.05.2006.
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DDR im Museum
Eine von circa 500 Millionen erstellbaren Variationen des sozialistischen »neuen Menschen« im Berliner DDR-Museum.3
Andererseits stand ich immer wieder sprachlos vor Texttafeln, die in ihrem platten Antikommunismus und der Absurdität ihrer Aussagen nur schwer zu übertreffen sind. In einem Bereichstext zum Thema Wirtschaft etwa werden die »Ökonomen in der DDR« mit »Alchimisten an mittelalterlichen Fürstenhöfen« verglichen, die zwar zum Teil geahnt hätten, dass ihre theoretische »Grundannahme falsch war«, wovon jedoch »die sozialistischen Fürsten wie ihre feudalen Vorgänger nichts hören« wollten.4 Und über ein Miniatur-Diorama zur Freikörperkultur in der DDR 3
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An der Medienstation kann eine Person mit verschiedenen Körpermerkmalen, Kleidungsstücken und Objekten ausgestattet werden. Die Kreation wird am Ende bepunktet – je nachdem, wie nah sie dem vermeintlichen Idealbild des »neuen sozialistischen Menschen« der DDR gekommen ist. Wirtschaft. Falscher Plan, Bereichstext im Raum »Partei und Staat«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 10.08.2022). Man könnte diesen Text als Ausdruck einer Art diachronen Hufeisentheorie deuten: Analog zur vermeintlichen Bedrohung der bürgerlichen Mitte durch Linke und Rechte, die sich in ihrem »Extremismus« an beiden Enden des Hufeisens wiederbegegnen, imaginiert der Autor des Bereichstextes die kapitalistische Wirtschaftsordnung eingeengt zwischen Feudalismus und Sozialismus, die falsche Grundannahmen und einen absolutistischen Herrschaftsanspruch miteinander teilen würden. Allerdings kommt diese Deutung auch nicht von ungefähr, denn die Beschreibung der sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts mit Vokabular aus dem Feudalismus ist selbst in jenen Teilen der Geschichtswissenschaften weit verbreitet, die der Totalitarismustheorie kritisch bis ablehnend gegen-
1. Einleitung
heißt es, diese sei als »Widerstand gegen die ewige Angepasstheit der DDR und die Nacktheit als Zeichen von wahrer Klassenlosigkeit« zu interpretieren – was immer das auch heißen soll.5 Hinzu kam, dass den allermeisten Besucher*innen die Texttafeln offenbar herzlich egal waren. Tatsächlich erwähnte in den zwölf Interviews, die ich später am DDR-Museum mit insgesamt 23 Besucher*innen durchführte, überhaupt nur ein älteres Paar aus Jena explizit die Ausstellungstexte und kritisierte, dass dort manches »übertrieben« sei und die »DDR-Bürger ein bisschen doof hingestellt« würden.6 In was für einem Museum befand ich mich also? In was für einem Museum befanden sich die Besucher*innen, die ihren Enkelkindern »mal zeigen [wollten], wie wir zu Ost-Zeiten gelebt haben«, wie ein Ostberliner Rentner sich im Interview ausdrückte?7 Und in was für einem jene, die in einem als Verhörzimmer inszenierten Raum in die Rolle eines Gefangenen schlüpften und Stasi-Verhör spielten? In einer »autobiografischen Spiegelung« von Stefan Wolles »heiler Welt der Diktatur«?8 In einer Ausstellung über ein »weit entferntes Kuriositätenland«?9 Im »Gruselkabinett« der »SED-Diktatur«?10 Die Liste ließe sich fortsetzen. Und schon diese stark divergierenden Charakterisierungen des DDR-Museums in geschichtswissenschaftlichen Ausstellungsanalysen weisen auf die grundsätzliche Ambivalenz historischer Ausstellungen hin. Analytisch können wir uns dieser Ambivalenz aus (mindestens) zwei Richtungen nähern. Auf der einen Seite steht die klassische Ausstellungsanalyse, die – um einen besonders populären Ansatz herauszugreifen – Ausstellungen als komplexe Zeichensysteme auffasst, die mit semiotischen und semantischen Forschungsmethoden entschlüsselt werden können. Hierbei resultiert die Ambivalenz der Ausstellungsnarrative unmittelbar aus dem Zeichencharakter ihrer Objekte, die als »Träger von Bedeutungen« in viele unterschiedliche Verweisungszusammenhänge ein-
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überstehen. Vgl. paradigmatisch hierfür Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York 1999, zit.n.: http://gbv.eblib.co m/patron/FullRecord.aspx?p=271425. Politik ohne Badehose, Objekttext im Raum »Öffentliches Leben«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 10.08.2022). Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Interview 11, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. So die These von Langwagen, Kerstin: Die DDR im Vitrinenformat. Zur Problematik musealer Annäherungen an ein kollektives Gedächtnis, Berlin 2016. Wolle ist seit 2005 Wissenschaftlicher Leiter des 2006 eröffneten Berliner DDR-Museums. Zündorf, Irmgard: DDR-Geschichte – ausgestellt in Berlin, in: Fröhlich, Claudia et al. (Hg.): Geschichte ausstellen. Jahrbuch für Politik und Geschichte (Band 4), Stuttgart 2014, S. 139–158, hier: S. 151. Gaubert, Christian: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände? Der DDR-Alltag im Museum, Berlin 2019, S. 145.
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gebettet werden können.11 Auf der anderen Seite steht die Rezeptionsanalyse, also die Frage danach, welche Erfahrungen Besucher*innen in einer historischen Ausstellung machen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet erscheint Bedeutung erst als das Produkt der Interaktion von Besucher*innen mit einer Ausstellung, wobei Form und Inhalt dieses Produkts nicht allein von kuratorischen Mitteln (Objektarrangements, Wegeführung, Lichtgebung, Begleittexte usw.) abhängig sind, sondern mehr noch von kontingenten Faktoren wie der Besuchssituation oder Sozialisation, Vorwissen, Erwartungen und Interessen der Besucher*innen. Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung und stehen auch nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander. Doch für sich genommen liefert keine von beiden eine hinreichende Erklärung der Vieldeutigkeit historischer Ausstellungen, da beide einer einseitigen Perspektive verhaftet bleiben. Erst ihre Kombination miteinander ermöglicht es, die multiplen Prozesse der Sinngenerierung in Museen adäquat nachzuzeichnen.12 Dies ist, allgemein gesprochen, das Ziel meiner Untersuchung. Denn auch wenn im Zuge der anhaltenden Hochkonjunktur der DDR-Forschung in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von geschichtswissenschaftlichen Monografien und Sammelbänden zur Musealisierung der DDR erschienen ist,13 tut sich bei genauerer Betrachtung ein eigentümliches Forschungsdesiderat auf: Was die in der letzten Fußnote angegebenen Werke allesamt gemein haben, ist, dass sie ausnahmslos der kuratorischen Perspektive auf ihren Untersuchungsgegenstand verhaftet bleiben. Anders ausgedrückt: Im Gegensatz zum Gedränge im Berliner DDR-Museum, sind die Museen in den Analysen Göschls, Gauberts, Langwagens etc. auffallend unbelebte Orte. Ihre Besucher*innen und deren lebensweltliche Hintergründe, Motivationen,
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Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004, S. 271. Ich folge hier im Wesentlichen Falk, John: Identity and the Museum Visitor Experience, Walnut Creek 2009. Ein Großteil dieser Studien widmet sich den großen und/oder namhaften Ausstellungshäusern in Berlin, Leipzig und Eisenhüttenstadt, einige jedoch auch kleineren und weniger bekannten DDR-Museen in den neuen Bundesländern. Mit dem Berliner DDR-Museum, dem Museum in der Kulturbrauerei und dem Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt (DOK) befassen sich beispielsweise gleich zwei 2019 erschienene Dissertationen: Vgl. Göschl, Regina: DDR-Alltag im Museum. Geschichtskulturelle Diskurse, Funktionen und Fallbeispiele im vereinten Deutschland, Berlin, Münster 2019. Außerdem: Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände? Und bereits drei Jahre zuvor hatte Kerstin Langwagen in ihrer Dissertation das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig sowie ebenfalls das DOK und das Berliner DDR-Museum untersucht. Vgl. Langwagen: Die DDR im Vitrinenformat. Erwähnt sei ferner Gigerenzer, Thalia: Gedächtnislabore. Wie Heimatmuseen in Ostdeutschland an die DDR erinnern, Berlin 2013. Zudem existieren zahlreiche Sammelbände zum Thema. Vgl. exemplarisch Hammerstein, Katrin & Scheunemann, Jan (Hg.): Die Musealisierung der DDR. Wege, Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschichtlichen Museen, Berlin 2012.
1. Einleitung
Deutungsabsichten und Ausstellungslesarten kommen nirgends zur Sprache. Dies ist für Ausstellungsanalysen keineswegs ungewöhnlich, wenn auch in gewisser Hinsicht merkwürdig. Denn: »Museums are more than just places with things: they are places with things and people, that is, social spaces«, so der Historiker Steven Lubar in Inside the Lost Museum ebenso banal wie treffend.14 Doch wenn, wie ich im Folgenden illustrieren werde, jede historische Ausstellung eine »Produktionsstätte von Bedeutung« (Joachim Baur) oder ein »Drama« (Werner Hanak-Lettner) ist, worin die Besucher*innen Bedeutung produzieren oder umherwandernd die Handlung vorantreiben, dann wird die Museumsfabrik gerade bestreikt, alle Vorstellungen sind abgesagt.15 Das erste konkrete Ziel meiner Arbeit besteht daher darin, eine Perspektivenerweiterung vorzunehmen und die Besucher*innen zurück in die Museen zu bringen.16 Dies scheint mir gerade bei einem erinnerungskulturell so umstrittenen Feld wie der Geschichte der DDR besonders relevant zu sein. Denn nicht nur ist das Museum generell ein »sozial umkämpfte[r] Raum«, in dem darum gerungen wird, »wer spricht, wer gehört wird, wer die Bühne betreten und sich auf ihr sicher fühlen darf.«17 Darüber hinaus ist speziell die DDR ein noch immer aktueller »Kampfplatz der Erinnerungen«18 , auf dem widerstreitende Geschichtsnarrative gegeneinander antreten, die von unterschiedlichen Macht- bzw. Sprecher*innenpositionen aus artikuliert werden. »Die meisten ehemaligen DDR-Bürger finden sich in der offiziellen Erinnerungspolitik nicht wieder«, schrieb etwa der Historiker Karsten Krampitz 2018 in einem Beitrag für den Deutschlandfunk, in dem er eine »kollektive Gedächtnisspaltung der Gesellschaft« konstatierte.19 Auf ähnliche Weise schreibt Daniela Dahn über eine »getrennte Erinnerungskultur«, die »zum Verdruss vieler Ostdeutscher« von diesen als »durchgehend ideologisiert« wahrgenommen
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Lubar, Steven D.: Inside the Lost Museum. Curating, Past and Present, Cambridge, Massachusetts, London, England 2017, S. 157. Baur, Joachim: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld 2009, S. 27. Hanak-Lettner, Werner: Die Ausstellung als Drama. Wie das Museum aus dem Theater entstand, Berlin 2010. Mehr dazu in Kapitel 5. Auf analytischer Ebene, denn praktisch sind sie ja schon da. Reitstätter, Luise: Die Ausstellung verhandeln. Von Interaktionen im musealen Raum, Bielefeld 2015, S. 8. Sabrow, Martin: Die DDR erinnern, in: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27, hier: S. 16. Krampitz, Karsten: DDR neu erzählen, in: Deutschlandfunk (03.10.2018), URL: https:// www.deutschlandfunk.de/erinnerungspolitik-ddr-neu-erzaehlen-100.html (letzter Zugriff: 16.02.2022).
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werde.20 Und folgt man Michael Meyen,21 dann würden »sich sowohl Ostdeutsche als auch Westdeutsche« mit ihren alltagsgeschichtlichen Erinnerungen in den »Medienberichten über Unterdrückung und Revolution kaum wiederfinden. […] Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis […] klaffen in gar nicht so wenigen Fällen erheblich auseinander«, so der Kommunikationswissenschaftler.22 Zwar ist die Zweiteilung des diskursiven Raums in eine staatlich und medial getragene Verurteilung der DDR einerseits und eine vor allem in Ostdeutschland verbreitete nostalgische Erinnerung andererseits sicherlich zu undifferenziert (und wird in dieser Eindeutigkeit auch weder von Krampitz noch von Meyen behauptet), sollte jedoch in ihren Grundzügen bei der Analyse von Ausstellungsaneignungen in DDR-Museen nicht außer Acht gelassen werden. Schließlich treffen gerade hier wirkmächtige und institutionell verankerte »Geschichtsbilder«23 auf eine Vielzahl an Deutungsabsichten der Besucher*innen, die sich mit ersteren teils im Einklang, andernteils im Widerspruch und häufig auch einfach losgelöst von diesen befinden. Wenn also die DDR tatsächlich ein »Kampfplatz der Erinnerungen« ist, dann zählen Museen zweifellos zu den konkreten »Schauplätzen« oder »Bühnen«24 dieses Kampfes – um noch einmal Hanak-Lettners Drama-Metapher aufzugreifen. Diese ist nicht nur amüsantes Wortspiel, sie ist auch in analytischer Hinsicht aufschlussreich: Auf den Museumsbühnen spielen die Besucher*innen. Sie bewegen sich »durch den Raum«, um sich »dabei selbst eine gute Geschichte zu erzählen.«25 Sie sind es, »die durch ihre Bewegung im Raum die Handlung in Gang setzen und auch selbstständig wieder beenden«; die Ausstellung dient ihnen dabei lediglich als »Script«, das man ihnen »zu performen anbietet«.26 Dabei ist offensichtlich, dass ihre Auseinandersetzung mit dem »Script« nicht nur kognitive, sondern auch affektive, körperliche und soziale Komponenten beinhaltet (ansonsten könnten sie auch bequem zu Hause Ausstellungskataloge lesen). Auf der Bühne sieht man und wird gesehen; »visiting a museum can simultaneously serve both the construction and signaling of identity. Museums […] provide opportunities to both confirm existing identities and explore alternative selves; they are spaces of identity enactments«, so
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Dahn, Daniela: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung, Hamburg 2019, zit.n.: https://portal.dnb.de/opac/mvb/cover?isbn=978-3-499-00104-8. … wovon ich im Allgemeinen jedoch eher abraten würde. Meyen, Michael: »Wir haben freier gelebt«. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, Bielefeld 2014, S. 231, zit.n.: http://lib.myilibrary.com/detail.asp?id=630932. Ich folge hier der These Regina Göschls, die in Anlehnung an Karl-Ernst Jeismann »Geschichtsbilder« als »geschlossene Konzeptionen begreift«, die charakteristisch für die Präsentationsweise historischer Museen seien. Vgl. Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 26. Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 81. Ebd., S. 180. Ebd., 189, 180.
1. Einleitung
Robert Kozinets et al.27 Die Kampfplatz- und Bühnenmetaphern werden uns daher in Kapitel 5 (Codieren und decodieren von Bedeutung im Museum) noch einmal beschäftigen. An dieser Stelle sollen sie als erster Hinweis auf die Vielgestaltigkeit des Museumsbesuchs genügen. Das zweite Ziel meiner Arbeit besteht denn auch darin, diese Vielgestaltigkeit angemessen zu konzeptualisieren – und zwar durch eine Perspektivenverschiebung innerhalb des Feldes der Besucher*innenforschung. Dafür schaue ich mir zunächst ein Phänomen an, das die Museumswissenschaftlerin Sharon Macdonald »virtual visitors« nennt – vermeintlich typische Besucher*innen, die in den Konzeptionen von Ausstellungsmacher*innen und den Hypothesen von Forscher*innen die Museen bevölkern.28 Wie ich in Kapitel 4 (Lernen, nutzen, aneignen) argumentiere, werden diese virtuellen Besucher*innen bis heute fast ausschließlich als Lernende konzipiert, was eine Orientierung der Forschung auf die Generierung von leicht quantifizierbaren Ergebnissen und unmittelbar verwertbarem Expertenwissen begünstigt. Selbst in der geschichtsdidaktisch orientierten Besucher*innenforschung, der es an theoretischen Modellen wahrlich nicht mangelt, herrscht eine Praxisorientierung vor, deren theoretische Grundlagen nur selten reflektiert werden. Daraus resultiert nicht nur eine eigentümliche Form normativistischer Fehlschlüsse, sondern auch eine fatale Verengung von Forschungsperspektiven. Denn innerhalb des Lernparadigmas ist die Antwort auf die Frage, was Besucher*innen in Ausstellungen tun, bereits normativ vorweggenommen: Sie lernen – oder sollen dies zumindest tun.29 Dabei ist die Rezeptionsforschung immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass Besucher*innen historische Ausstellung nicht in der von ihr antizipierten Weise als Lernorte nutzen und sich erhoffte Wissenszuwächse u.Ä. statistisch meist kaum nachweisen lassen.30 Anstatt nun immer ausgefeiltere Methoden zu entwickeln, um möglichen Lernerfolgen doch noch auf die Schliche zu kommen oder den Lernbegriff einfach auf immer größere Erfahrungsfelder auszudehnen,31 halte ich es für notwendig, sich einzugestehen, dass die ausschließliche Frage nach dem Lernen der Komplexität des Untersuchungsgegenstands Museum grundsätzlich nicht gerecht wird. Ich möchte daher zunächst einen Schritt zurücktreten und grundsätzlich danach fragen, was Menschen in historischen Ausstellungen warum tun und
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Kozinets, Robert, et al.: Self in Art/Self As Art: Museum Selfies As Identity Work, in: Frontiers in psychology/2017), S. 1–12, hier: S. 4. Macdonald, Sharon: Behind the Scenes at the Science Museum, New York 2002, S. 157. Charakteristisch für diesen Ansatz ist etwa der Sammelband von Popp, Susanne & Schönemann, Bernd (Hg.): Historische Kompetenzen und Museen, Idstein 2009. Vgl. grundlegend hierzu Treinen, Heiner: Ist Geschichte in Museen lehrbar?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (23/1994), S. 31–38. Beide Ansätze werde ich in Kapitel 4 weiter erörtern.
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welche persönlichen, sozialen, materiellen und institutionellen Rahmenbedingungen ihr Tun beeinflussen (genaueres dazu s.u.). Hierzu habe ich von 2019 bis 2021 leitfadengestützte qualitative Interviews mit Besucher*innen der jeweiligen Dauerausstellung des Berliner DDR-Museums, des Berliner Museums in der Kulturbrauerei, des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig (ZFL), des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR Eisenhüttenstadt (DOK) sowie des DDRMuseums Pforzheim geführt und mit Hilfe der maßgeblich von Harald Welzer entwickelten Hermeneutischen Dialoganalyse ausgewertet.32 Mein Forschungsansatz ist also ein genuin qualitativer, angesiedelt in einem Feld zwischen empirischer Geschichtskulturforschung, qualitativer Sozialforschung, Geschichtsdidaktik und Besucher*innenforschung. Bevor ich nun aber auf die theoretischen Grundlagen meiner Untersuchung, die Auswahl der Museen und die Methodik der Interviewführung eingehe, scheint es mir geboten, zwei Implikationen meiner Fragestellung näher zu betrachten, die beide über die Vorstellung von Lernen als vornehmlichen Zweck und Inhalt des Museumsbesuchs hinausweisen: Zum einen begreife ich die Ausstellungsrezeption als einen Vorgang, bei dem nicht zwangsläufig die Museumsobjekte im Zentrum des Interesses stehen müssen, sondern es ebenso gut um eine Beschäftigung mit dem eigenen Selbst, um eigensinnige Interaktionsformen zwischen Selbst und Objekt, um zwischenmenschliche Kommunikation und noch einiges mehr gehen kann.33 In Anlehnung an Sharon Macdonald und die Geschichtsdidaktikerin Julia Thyroff schlage ich daher vor, die Ausstellungsrezeption grundsätzlich als einen Akt der Aneignung zu untersuchen. Niemand kommt als unbeschriebenes Blatt – als »blank slate«34 – in eine Ausstellung, sondern immer mit spezifischen Ausgangsbedingungen, Erfahrungen, Erwartungen und vor dem Hintergrund all jener »diffuse[n] Normen«,35 die den Museumsbesuch als soziale Praxis strukturieren. Thyroff verweist daher auf die »Gegenwart und Lebenswelt« der Besucher*innen als dem »Ausgangs-, Ziel- oder Referenzpunkt« ihres Handelns.36 Zugleich stellt sie den »Begriffsbestandteil des
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Vgl. etwa Welzer, Harald: Hermeneutische Dialoganalyse. Psychoanalytische Epistemologie in sozialwissenschaftlichen Fallanalysen, in: Kimmerle, Gerd (Hg.): Zur Theorie der psychoanalytischen Fallgeschichte, Tübingen 1998, S. 111–137. Eine ebenso simple wie anschauliche Schematisierung dieser unterschiedlichen Zugangsweisen findet sich bei Garner, Joanna, et al.: Museums as Contexts for Transformative Experiences and Identity Development, in: Journal of Museum Education (04/2016), S. 341–352, hier: S. 342. Vgl. auch Kapitel 7.6, S. 284. Rounds, Jay: Doing Identity Work in Museums, in: Curator: The Museum Journal (02/2006), S. 133–150, hier: S. 138. Bourdieu, Pierre & Darbel, Alain: Die Liebe zur Kunst. Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher, Konstanz 2006, S. 47. Thyroff, Julia: Facetten des Denkens im Museum. Methodischer Zugang, empirische Befunde, in: Didactica Historica (3/2017), URL: https://www.alphil.com/freedownload.php?sku=Did
1. Einleitung
Eigenen« im Wort »Aneignung« heraus, der kenntlich mache, dass es »darum geht, einen Gegenstand auf die eigene Person zu beziehen, Bezüge zur eigenen Person herzustellen, sich einen Gegenstand eben anzueignen, und dabei durchaus auf individuelle, aktive, kreative, konstruktive Weise.«37 Der Begriff beschreibt also nicht das Sich-zu-eigen-machen einer Ausstellungsnarration im Sinne einer einfachen Wissensaufnahme oder Übernahme ihrer Botschaften, sondern vielmehr eigensinnige Sinnbildungsprozesse auf Grundlage der Ausstellung.38 Schon in diesen wenigen Zeilen deutet sich an, wie theoretisch voraussetzungsvoll der Aneignungsbegriff ist: In ihm lässt sich das von Alfred Schütz in die Soziologie getragene Konzept der Lebenswelt ebenso aufspüren wie der von Alf Lüdtke geprägte Begriff des Eigensinns;39 er ist anschlussfähig an ein narrativistischkonstruktivistisches Geschichtsverständnis und weist über rein kognitivistische Perspektiven hinaus, was ihn etwa für Emotionen- und Körpergeschichte attraktiv macht. Diese Theoriegeladenheit und Vielgestaltigkeit des Aneignungsbegriffs birgt einerseits große Potentiale für die (geschichtskulturelle) Rezeptionsforschung, bringt andererseits aber auch ein hohes Maß an Unbestimmtheit bis hin zur Beliebigkeit mit sich. Geimer kritisiert zu Recht, dass »die Aneignung zwar mittlerweile zu einem Schlüsselbegriff der […] Medienforschung avancieren« konnte, jedoch »häufig alltagssprachlich« und »ohne definierte Bedeutung« verwendet werde.40 Kein Wunder also, dass der Aneignungsbegriff in der Geschichtsdidaktik sowohl synonym zu historischem Lernen als auch in Abgrenzung zu diesem und nicht selten lediglich rein illustrativ verwendet wird.41 Ich nehme daher in
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actica%20Historica%203,%20Le%20documentaire%20en%20histoire,%20article%207), S. 1–11, hier: S. 1. Thyroff, Julia: Aneignen in einer historischen Ausstellung. Eine Bestandsaufnahme von Elementen historischen Denkens bei Besuchenden der Ausstellung »14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg«, Bern 2020, S. 103. Zur Genese des Aneignungsbegriffs in den Film- und Kulturwissenschaften sowie zu seiner Operationalisierung für die Untersuchung der Ausstellungsrezeption s. Kapitel 4 und 5 sowie Geimer, Alexander: Das Konzept der Aneignung in der qualitativen Rezeptionsforschung. Eine wissenssoziologische Präzisierung im Anschluss an die und in Abgrenzung von den Cultural Studies, in: Zeitschrift für Soziologie (4/2011), URL: https://www.degruyter.com/view /j/zfsoz.2011.40.issue-4/zfsoz-2011-0404/zfsoz-2011-0404.xml (letzter Zugriff: 06.01.2020), S. 191–207. Vgl. Schütz, Alfred & Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Neuwied 1975; Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. Geimer: Das Konzept der Aneignung, S. 195–196. Die erste Art der Begriffsverwendung findet sich etwa bei Brüning, Christina & Lücke, Martin: Nationalsozialismus und Holocaust als Themen historischen Lernens in der Sekundarstufe I. Produktive eigen-sinnige Aneignungen, in: Rathenow, Hanns-Fred et al. (Hg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung, Schwalbach/Ts. 2013, S. 149–165; die zweite bei Thyroff: An-
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Kapitel 5 eine Präzisierung und Operationalisierung des Aneignungsbegriffs vor, die sich zum einen an dem für die Medienrezeptionsforschung wegweisenden Codieren/Decodieren-Modell Stuart Halls und zum anderen am Contextual Model of Learning (CML) der Museumswissenschaftler*innen Lynn Dierking und John Falk orientiert.42 Die zweite Implikation meiner Fragestellung ist die Konzeption des Museumsbesuchs als ein multikontextuales Ereignis. Ich begreife die Ausstellungsaneignung nicht als einen individuellen Austauschprozess zwischen Besucher*in und Ausstellung, der mit dem Betreten des Museums beginnt und mit seinem Verlassen endet. Sie vollzieht sich vielmehr innerhalb einer Vielzahl schwer fassbarer äußerer Rahmenbedingungen, die etwa sozialer, situativer, ökonomischer oder politischer Natur sein können. Ich spreche dabei bewusst vom Aneignen einer Ausstellung und nicht vom Aneignen von Geschichte in einer Ausstellung, denn letzteres würde die Rezeptionspraxis in unzulässigerweise auf eine (individuelle) Interaktion zwischen Besucher*in und Ausstellungsinhalten verkürzen. Dass der Museumsbesuch auch eine soziale Praxis ist, die bestimmten Verhaltensregeln unterworfen ist und der sozialen Distinktion und Reproduktion kulturellen Kapitals (oder auch profaner dem gemeinsamen Zeitvertreib und der Pflege sozialer Kontakte) dienen kann, dürfte seit den demografischen Studien Pierre Bourdieus und Alain Darbels zum Publikum von Kunstmuseen Common Sense sein.43 Zugleich liegt es auf der Hand, dass derartigen Nutzungsarten des Museums mit rein quantitativen Untersuchungsmethoden kaum beizukommen ist und sie zugleich außerhalb des Erkenntnisinteresses einer auf Fragen des Lernens fokussierten qualitativen Besucher*innenforschung liegen. Angesichts der Komplexität des Museumsbesuchs konstatieren die beiden Museumswissenschaftlerinnen Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch denn auch: Wie die Rezeption, die Aneignung von Ausstellungen tatsächlich erfolgt, darüber können kaum Aussagen getroffen werden, da die BetrachterInnen in einer schwer nachvollziehbaren Weise in den Prozess der Bedeutungskonstruktion involviert sind.44
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eignen in einer historischen Ausstellung. Als Beispiel für eine Verwendung des Begriffs als modisches Schlagwort vgl. Schmieding, Leonhard & Sturm, Michael: Vermitteln und Aneignen in Museen und Ausstellungen, in: Behrens, Heidi (Hg.): Lernfeld DDR-Geschichte. Ein Handbuch für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung, Schwalbach am Taunus 2009, S. 241–252, wo der Aneignungsbegriff lediglich den Titel ziert, ohne im Text wieder aufgegriffen zu werden. Beide Modelle werden unten kurz vorgestellt. Für eine ausführlichere Erörterung s. Kapitel 4 und 5. Vgl. Bourdieu; Darbel: Die Liebe zur Kunst. Muttenthaler, Roswitha & Wonisch, Regina: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006, S. 40.
1. Einleitung
Ich möchte demgegenüber den Nachweis antreten, dass über den Vorgang der Ausstellungsaneignung sehr wohl belastbare Aussagen getroffen werden können (es wäre ja auch recht unbefriedigend, wenn meine Untersuchung der Aneignung von DDR-Ausstellungen an dieser Stelle bereits enden würde). Und tatsächlich sind in jüngerer Vergangenheit einige methodisch recht ausgefeilte Studien erschienen, die sich diesem Fragenkomplex über eine technikgestützte Beobachtung der Bewegungsabläufe und Interaktionen von Besucher*innen mit Ausstellungsmedien annähern. Entsprechende Ansätze stelle ich in Kapitel 4 vor. Dabei argumentiere ich jedoch, dass sie einerseits häufig Gefahr laufen, die Ausstellungsaneignung implizit auf eine Auseinandersetzung mit den Inhalten einer Ausstellung zu reduzieren und andererseits mit einigen typischen Problemen veralteter behavioristischer Forschungsmethoden konfrontiert und daher nur unzureichend dazu in der Lage sind, die vielfältigen sozialen Rahmungen des Ausstellungsbesuchs zu erfassen. Um dieser Problematik Rechnung zu tragen, habe ich mich dazu entschieden, den Komplex der Ausstellungsaneignung mithilfe eines klassischen Instruments der qualitativen Sozialforschung aufzuschlüsseln – dem qualitativen, leitfadengestützten Interview. Die Basis meiner Arbeit bilden 37 Interviews mit insgesamt 69 Besucher*innen, geführt in den bereits genannten DDR-Museen in Berlin, Leipzig, Eisenhüttenstadt und Pforzheim. Um die Identität meiner Gesprächspartner*innen zu schützen, habe ich ihre Namen pseudonymisiert und weitere Erkennungsmerkmale (Wohnsitz, Alter usw.) ggf. leicht abgeändert. Die Interviews fanden stets unmittelbar im Anschluss an den Museumsbesuch statt und dauerten in der Regel etwa 10–15 Minuten, selten deutlich kürzer oder länger. Nach einer kurzen gegenseitigen Vorstellung fragte ich die Interviewten nach ihrer Besuchsmotivation und bat sie anschließend darum, mir detailliert von ihren Eindrücken aus der besuchten Ausstellung zu erzählen.45 Obwohl meine Fragen vor allem auf gesehene Ausstellungsinhalte abzielten, nahmen diese in den Gesprächen dann jedoch meist überraschend wenig Raum ein. Stattdessen ging es häufig um persönliche Erinnerungen und Identitätskonstruktionen, um historische Vergleiche, Medienbezüge, aktuelle Geschichtspolitik oder (auf einer Metaebene) auch um kommunikative Dynamiken zwischen den Beteiligten. Exponaten und sonstigen Ausstellungsmedien kam dabei im Großteil der Fälle die Rolle von Impulsgebern zu, die etwa eine Erinnerung auslösten und dadurch eine Erzählung in Gang setzten, in deren Verlauf sie dann jedoch schnell an Bedeutung verloren. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist etwa folgende Episode aus einem meiner Interviews in der Kulturbrauerei:46
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Für eine ausführliche Schilderung der Interviewsituation und -führung s. Kapitel 6. Das Interview wird in Kapitel 7.6 ausführlich analysiert.
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Interviewer: Können Sie einmal versuchen, mir möglichst genau zu erzählen, was Sie sich hier alles angeschaut haben, hier in dem Museum? Herr Tander: Also ich hab, als ich reingekommen bin, gleich links neben der Türe, da waren Fotos von Bergmann, sind die Turbinen von Bergmann Borsig. Und das war eine große Turbinenfabrik in Wilhelms-, nicht ganz in Wilhelmsruh, aber man kann das so nachlesen. Und zu der Zeit, also in den neunziger Jahren, habe ich bei einer, einer Schweizer Firma gearbeitet, einem großen Konzern, welche die Firma Bergmann Borsig übernommen hat und zunächst mal mit der Intention, sie weiterzuführen […]. Und das hat aber irgendwie nicht richtig funktioniert, dann wurde diese ganze Firma wurde platt gemacht.47 Im ersten Moment folgt mein Gesprächspartner der Erzählaufforderung und schildert, was er als erstes in der Ausstellung gesehen hat: Eine Turbine und Fotos aus dem VEB Bergmann Borsig. Doch bereits nach dem ersten Satz setzt ein Mechanismus ein, der in der qualitativen Sozialforschung als »Zugzwänge des Erzählens« bekannt ist.48 Die gegebene Antwort muss dem Gegenüber verständlich gemacht werden, wodurch neue Themen angesprochen und Abweichungen vom ursprünglich anvisierten Gesprächsstrang vorgenommen werden müssen. Denn warum beginnt Herr Tander die Schilderung seines Museumsbesuchs mit den »Fotos von Bergmann«? Sicher nicht, weil sie das erste waren, was er in der Ausstellung gesehen hat. Um sie zu sehen, musste er zunächst an einem Werkstor nebst Schildern verschiedener Volkseigener Betriebe (keines von Bergmann Borsig) und einem raumgreifenden Schreibtischarrangement vorbeigehen und dann auf die Rückseite einer in den Gang ragenden Ausstellungswand schauen. Herr Tander beginnt seine Schilderung des Museumsbesuchs einfach deshalb mit den Fotos, weil er mit ihnen persönliche Erinnerungen verbindet. Und das Teilen dieser Erinnerungen macht die Wahl des Gesprächseinstiegs verständlich. Zudem scheint es für Herrn Tander keine besondere Relevanz zu haben, was denn das Museum in der Kulturbrauerei über die ausgestellte Turbine zu erzählen hat (bzw. was es mit ihr erzählen will). Stattdessen fungiert die Turbine als Erzählanker für die eigene Geschichte – alles Weitere kann nachgelesen werden.49
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Interview 2, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. Der Begriff stammt von Fritz Schütze; eine seiner frühesten Verwendungen findet sich in Schütze, Fritz: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung. Dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung. Alltagswissen und Alltagshandeln, Gemeindemachtforschung, Polizei, politische Erwachsenenbildung, München 1976, S. 159–260, hier: S. 225. Auch eine ausführliche Analyse des Interviews mit Herrn Tander kann nachgelesen werden – und zwar, wie gesagt, in Kapitel 7.6.
1. Einleitung
Wie die kurze Analyse dieses Gesprächsauszugs illustriert, ist das qualitative Interview ein denkbar schlecht geeignetes Instrument, sollte es darum gehen, den Rundgang von Besucher*innen durch eine Ausstellung zu rekonstruieren oder nachzuvollziehen, mit welchen Exponaten sie sich wie lange beschäftigt, welche Texte sie gelesen, welche Informationen sie aufgenommen haben. Die Stärke des qualitativen Interviews für die Rezeptionsanalyse liegt auf einer anderen Ebene. Es ist gerade die häufig eher marginale Rolle, die Exponate und andere Ausstellungsmedien in den Interviews zukam, welche für ein grundlegendes Verständnis der Ausstellungsaneignung besonders aufschlussreich ist. Denn sie weist darauf hin, dass Sinnbildungsprozesse in historischen Ausstellungen von einer Vielzahl an Faktoren jenseits der Ausstellung selbst beeinflusst werden – von Faktoren, die in der lernfokussierten Besucher*innenforschung meist nur ungenügend berücksichtigt werden, die aber in den Erzählungen der interviewten Besucher*innen aufgespürt werden können – wie etwa prägende Erinnerungen und Lebensweltbezüge, sozialsituative Rahmenbedingungen, Besuchserwartungen und -motive oder politische Einstellungen. Rekapitulieren wir noch einmal die bisher aufgeworfenen Dimensionen der Ausstellungsaneignung: Den Ausgangspunkt meiner Betrachtungen bildete eine materielle Dimension, nämlich die Ausstellung des Berliner DDR-Museums mit seinen Themenbereichen, Exponaten, Begleittexten usw. Die zweite Dimension betraf meine persönliche Auseinandersetzung mit diesen Ausstellungsmedien, meine Besuchserwartungen und die Verwirrung, die sich aus dem Gegensatz zwischen Erwartung und Erfahrung ergab. Diese Verwirrung berührte zugleich eine dritte, soziale Dimension meines Ausstellungsbesuchs – die Beobachtung anderer Besucher*innen und ihres Verhaltens.50 Und viertens lässt sich in meiner Schilderung des Aufenthalts im Berliner DDR-Museum etwas ausmachen, das ich die institutionelle oder »metakommunikative« Dimension des Ausstellungsbesuchs nennen möchte.51 Sie betrifft die Institution des Museums und dessen Verortung in einem größeren Diskursraum. Ein Museum ist schließlich mehr als seine Ausstellungen. Es unterliegt konkreten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und positioniert sich in erinnerungskulturellen Diskursen. Es geht hier u.a. um Strategien, mit denen sich das Museum in bestehende Geschichtsnarrative einschreibt und um Deutungen der Besucher*innen, die das im Museum Gezeigte an
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Auf einer höhergelegenen analytischen Ebene würde diese Dimension dann auch soziale Hintergründe der Besucher*innen (zu denen ich mich im Sinne einer sozialwissenschaftlichen Selbstbeforschung dann ebenfalls zählen müsste) wie etwa Alter, Geschlecht, Herkunft, Klasse usw. umfassen. Ich verwende den Begriff der Metakommunikation in Anlehnung an die von Jana Scholze entwickelte Methodologie der Ausstellungsanalyse, die ich in Kapitel 2.4 genauer behandle. Vgl. auch Scholze: Medium Ausstellung, S. 26–39.
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derlei Narrationen rückbinden. Im Eingangsbeispiel lässt sich etwa meine Lesart des Museums als Chimäre aus postmoderner »Geschichte als Erlebnis«52 und einer spezifischen Variante der totalitarismustheoretischen Hufeisentheorie dieser metakommunikativen Dimension zuordnen. Diese vier Dimensionen weisen große Ähnlichkeit mit dem von den beiden Museumswissenschaftler*innen Lynn Dierking und John Falk entwickelten Contextual Model of Learning (CML) auf. Das CML schematisiert die Ausstellungsrezeption anhand dreier »Kontexte«, die Dierking und Falk »materiell«, »persönlich« und »soziokulturell« nennen.53 In ihrem Modell bezeichnet der materielle Kontext die Ausstellung selbst, der persönliche Kontext das Vorwissen, die Erinnerungen und Erwartungen, welche die Besucher*innen in die Ausstellung mitbringen und der soziokulturelle Kontext sowohl die soziale Besuchssituation (bspw. Interaktionen mit anderen Personen) und deren kulturelle Rahmung (das Wissen um Verhaltensnormen und Darstellungskonventionen in Museen), als auch die gesellschaftlichen Hintergründe der Besucher*innen.54 Zwar ist die Bezeichnung Contextual Model of Learning durchaus symptomatisch für den bereits kritisierten engen Horizont eines Großteils der musealen Besucher*innenforschung, dennoch kann das CML mit unwesentlichen Modifikationen auch auf Besuchspraktiken jenseits des Lernens angewandt werden.55 Ich werde Aufbau und Inhalt des Modells in Kapitel 4 noch genauer erläutern und es dann sowohl für eine Operationalisierung des Aneignungsbegriffs in Kapitel 5 als auch für die Interpretation qualitativer Interviews mit Museumsbesucher*innen in Kapitel 7 heranziehen. An dieser Stelle möchte ich das CML – erweitert um die Dimension bzw. den Kontext der Metakommunikation – aber zunächst einmal von einer analytischen auf eine Darstellungsebene transferieren, um anhand seines Schemas die Struktur meiner Arbeit zu illustrieren. Kapitel 2 (Die Musealisierung der DDR) steckt den theoretischen Rahmen meines Untersuchungsfeldes ab und erörtert den metakommunikativen Kontext
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Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, in: Mütter, Bernd et al. (Hg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik (Schriften zur Geschichtsdidaktik Bd. 11), Weinheim 2000, S. 26–58, hier: S. 48. Für eine kurze Erläuterung von Schönemanns Typologie geschichtskultureller Leitmuster s. Kapitel 4. Falk, John & Dierking, Lynn: Learning From Museums. Visitor Experiences and the Making of Meaning, Lanham 2012. Der letzte Punkt (die sozialen Hintergründe der Besucher*innen betreffend) wird im CML allenfalls angedeutet, sollte jedoch gemäß dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation als gleichwertiger Bestandteil des Modells aufgefasst werden. Vgl. ebd., S. 37–52. Tatsächlich beruht das CML auf einem nahezu identischen Interactive Experience Model, mit denen Falk und Dierking 1992 noch ganz allgemein die Motivationen und Erfahrungen von Museumsbesucher*innen untersuchen wollten. Vgl. Falk, John & Dierking, Lynn: The Museum Experience, Washington, D.C 1992.
1. Einleitung
der Ausstellungsaneignung. Es beginnt mit einer Problematisierung der populären, von Jan und Aleida Assmann inspirierten Konzeption des Museums als gesellschaftliches Speicher- und Funktionsgedächtnis, die etwa den Ausstellungsanalysen Kerstin Langwagens zugrunde liegt. Aufgrund der konstitutiven Mängel des assmannschen Theoriegebäudes – zu denen insbesondere die das Nicht-Sehen gesellschaftlicher Antagonismen und Hegemonien sowie die implizite Apotheose des Nationalstaats gehören –, plädiere ich anschließend für ein an die Arbeiten Tony Bennetts und Eilean Hooper-Greenhills angelehntes Verständnis des Museums als einen Ort bürgerlicher Hegemonie. Hierfür unternimmt das Kapitel einen kleinen historiografischen Exkurs zu den Ursprüngen des Museums und zeichnet es in einem Spannungsfeld von universell-demokratischer Form und partikular-bürgerlichem Inhalt. Der Exkurs führt schließlich zurück ins DOK Eisenhüttenstadt und von dort aus in weitere DDR-Museen, wo die allgemein museumstheoretischen Überlegungen an konkrete Ausstellungsbeispiele rückgebunden werden. Vor diesem Hintergrund wird dann der diskursive Raum ausgelotet, innerhalb dessen sich die Musealisierung der DDR über die letzten Jahrzehnte vollzogen hat. Im Fokus stehen dabei Debatten um die »richtige« museale Repräsentation von DDR-Geschichte (d.h. um das Verhältnis von Alltagsgeschichte und Themen wie Diktatur, Opposition, Wirtschaft usw. in der Darstellung), wie sie insbesondere im Zuge der Einberufung der »Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« im Jahr 2005 und der 2008 verabschiedeten Gedenkstättenkonzeption des Bundes geführt wurden.56 Zur Strukturierung dieser Debatten greife ich auf die von Martin Sabrow geprägte Typologie von Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis zurück.57 Das Kapitel vertritt die These, dass das Diktaturgedächtnis institutionell verankert ist und daher – trotz gradueller Verschiebungen – bis heute die dominante Form öffentlicher Erinnerung an die DDR darstellt, nicht zuletzt im musealen Bereich. Daran anschließend fragt Kapitel 3 (Ausstellungsanalysen) danach, wie sich die von mir untersuchten Museen in dem zuvor dargestellten Diskursraum verorten und ihn selbst mitprägen. Für meinen Fokus auf das Berliner DDR-Museum, das Museum in der Kulturbrauerei (Berlin), das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig, das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR Eisenhüttenstadt sowie das DDRMuseum Pforzheim waren mehrere Kriterien ausschlaggebend. In mancherlei Hinsicht kann die Auswahl als repräsentativ angesehen werden – sie umfasst Museen in
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Vgl. Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, mit umfangreichem Pressespiegel; außerdem Hammerstein, Katrin & Scheunemann, Jan (Hg.): Die Musealisierung der DDR. Wege, Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschichtlichen Museen, Berlin 2012. Vgl. Sabrow: Die DDR erinnern.
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Ostdeutschland, Westdeutschland und der ehemals geteilten Hauptstadt, Einrichtungen in staatlicher, privater und staatlich geförderter Hand –, in anderer jedoch nicht: Alle untersuchten Museen haben einen gesamt- oder alltagsgeschichtlichen Fokus; Ausstellungen an Gedenkorten (wie etwa das Berliner Stasi-Museum, das Leipziger Museum in der »Runden Ecke« oder die zahlreichen Museen entlang der innerdeutschen Grenze) habe ich zwecks besserer Vergleichbarkeit bewusst ausgespart. Außerdem ignoriert meine Arbeit die in vielen ostdeutschen Städten und Gemeinden anzutreffenden kleinen und mittleren DDR-Museen, die in der Forschung meist etwas herablassend behandelt und beispielsweise von Wolfgang Benz lediglich als »Räumlichkeiten mit dem Eingangsschild »Museum« belächelt werden.58 Die von mir betrachteten Museen sind also allenfalls repräsentativ für einen hegemonialen DDR-Erinnerungsdiskurs, von dem sie jedoch auch nur einen Ausschnitt zeigen. Neben einer guten Vergleichbarkeit bringt diese Beschränkung in der Auswahl jedoch zwei Vorteile mit sich: Zum einen ziehen die untersuchten Museen ein zahlreiches und breit gefächertes Publikum an, zum anderen sind sie – mit Ausnahme des DDR-Museums Pforzheim – bereits relativ gut erforscht, sodass sich meine Frage nach Aneignungsprozessen in Museen auf bestehende Ausstellungsanalysen rückbeziehen lässt. Das Ziel des Kapitels ist daher auch nicht eine weitere detaillierte Analyse der immergleichen DDR-Museen, sondern eher eine Bündelung der bestehenden Forschungsliteratur und das Aufzeigen möglicher Zugangsweisen von Besucher*innen zu diesen Museen. Ich orientiere mich hierfür an den grundlegenden Überlegungen Jana Scholzes zur systematischen Anwendung semantischer Analysemethoden auf das »Medium Ausstellung.«59 In Anlehnung an Arbeiten Stuart Halls, Roland Barthes’ und Krzysztof Pomians begreift Scholze die Konzeption von Ausstellungen einerseits und deren Besuch andererseits als »Vorgang des Verschlüsselns und Entschlüsselns von Informationen – des Codierens und Dekodierens«, bei dem »der Raum, die Ausstellungsobjekte und die Gestaltungsmittel zu Zeichen [werden], die auf konkrete Inhalte und auch weniger bestimmte Bedeutungen verweisen«.60 Analog hierzu können nicht nur die einzelnen Bestandteile einer Ausstellung (Objekte, Texte usw.), sondern auch eine Ausstellung insgesamt als ein komplexes System von Zeichenträgern und somit als Medien aufgefasst werden.61 Das attraktive an die58
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Benz, Wolfgang: Die DDR als Museumsobjekt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (12/2011), S. 995–1007. Benz zufolge »folgen die meisten, die das Feld der Erinnerung an die DDR bestellen, mit lautstark-fröhlichem Dilettantismus den Gesetzen des Marktes«. Und ähnlich wie von Borries sorgt sich auch Benz, dass »einstige DDR-Bürger oder naive Besucher aus dem Westen« derartige Museen irrtümlicherweise mit dem Gefühl verlassen könnten, »einen tiefen Blick in die Geschichte getan zu haben.« Ebd., S. 998. Scholze: Medium Ausstellung. Ebd., S. 13. Mehr dazu in den Kapiteln 2.4 und 5.
1. Einleitung
sem Ansatz besteht darin, dass er im Kern bereits insofern über die klassisch kuratorische Perspektive der Ausstellungsanalyse hinausweist, als dass er dazu nötigt, die Perspektive der Besucher*innen (das Entschlüsseln/Dekodieren der musealen Zeichenträger) immer schon mitzudenken. Und ich argumentiere, dass es dieser Perspektivwechsel ist, der einen Großteil der bestehenden Diskrepanzen und Widersprüchlichkeiten innerhalb und zwischen den bestehenden Ausstellungsanalysen von DDR-Museen auflösen kann. Dementsprechend haben in Kapitel 4 (Lernen, nutzen, aneignen) die Besucher*innen ihren ersten Auftritt – wenn auch, wie bereits angedeutet, zunächst als »virtuelle« Besucher*innen im Sinne Sharon Macdonalds. »All exhibitions inevitably construct a »virtual visitor«, so die Museumswissenschaftlerin, »not only through explicit statements about ›target audiences‹ and ›expected audience‹ but also, often more tellingly, through decisions about text […], about content […], about media […], and about aesthetics.«62 Die grundlegende These des Kapitels ist es, dass diese Beobachtung Macdonalds über Museen in vielleicht noch höherem Maße auf die Besucher*innenforschung zutrifft. Auch dort werden »virtuelle Besucher*innen« konstruiert – und zwar ebenfalls weniger durch explizite Aussagen über das Museumspublikum, als vielmehr durch bestimmte Fragen und Erkenntnisinteressen, die entweder auf einer normativen Überhöhung des von Schönemann postulierten geschichtskulturellen Leitmusters »Geschichte als Bildung«63 beruhen oder aber der Generierung betriebswirtschaftlich verwertbaren Expertenwissens über die Besucher*innen als »Kund*innen« des »Dienstleistungsunternehmens« Museum dienen.64 Ich argumentiere, dass die behavioristischen Grundannahmen und das damit verbundene instruktivistische Lernverständnis der frühen Besucher*innenforschung bis heute nachwirken und auch konstruktivistische Modelle musealen Lernens in entscheidenden Punkten nicht dazu in der Lage sind, die Grenzen der möglichen Erkenntnis dieses Forschungsansatzes zu überwinden. Das Kapitel diskutiert exemplarisch die auf dem FUER-Modell beruhenden Überlegungen Andreas Körbers zu kompetenzorientiertem Lernen in Museen, Eilean HooperGreenhills Modell der Generic Learning Outcomes, das bereits erwähnte Contextual Model of Learning sowie das »domänenspezifische Modell des musealen Lernens« von Christian Kohler.65 Dabei wird sich zeigen, dass die Besucher*innen auch unter 62 63 64 65
Macdonald: Behind the Scenes, S. 158–159. Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, S. 47. Wie wir in Kapitel 4 sehen werden, besteht zwischen beiden Ansätzen ein überraschend enger Zusammenhang. Vgl. Körber, Andreas: Kompetenzorientiertes historisches Lernen im Museum? Eine Skizze auf der Basis des Kompetenzmodells »Historisches Denken«, in: Popp, Susanne & Schönemann, Bernd (Hg.): Historische Kompetenzen und Museen, Idstein 2009, S. 62–80; HooperGreenhill, Eilean: Museums and Education. Purpose, Pedagogy, Performance, London 2007; Falk; Dierking: Learning from Museums; Kohler, Christian: Schülervorstellungen über die Prä-
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dem konstruktivistischen Lernparadigma tendenziell als unverbesserliche Mängelwesen erscheinen und Versuche, ihre »suboptimale Nutzung des Museums«66 zu korrigieren, einer Sisyphusarbeit gleichkommen. Aus dieser epistemologischen Sackgasse führt letztlich nur ein grundlegender Perspektivwechsel hinaus, der es erlaubt, typische Verhaltensmuster in Museen nicht als fruchtlose Lernversuche tollpatschiger Besucher*innen zu interpretieren, sondern sie stattdessen als sinnhafte Praktiken unterschiedlicher Aneignungsweisen von Ausstellungen zu begreifen.67 In Kapitel 5 (Codieren und decodieren von Bedeutung im Museum) unternehme ich daher die angekündigte Präzisierung und Operationalisierung des Aneignungsbegriffs. Die wesentlichen Grundlagen hierfür bilden zum einen eine modifizierte Version des Contextual Model of Learning von Falk und Dierking und zum anderen das kommunikationswissenschaftliche Codieren/Decodieren-Modell Stuart Halls, mit dem Ausstellungskonzeption und -rezeption als Prozess eines sinngenerierenden Verschlüsselns und Entschlüsselns von Botschaften aufeinander bezogen werden können.68 Ich argumentiere, dass sich mit Hall eine zentrale Schwachstelle der konstruktivistischen Modelle musealen Lernens adressieren lässt: Während Ausstellungslesarten, die von der intendierten Bedeutung eines Ausstellungsnarrativs abweichen, in diesen meist als »Missverständnisse« interpretiert werden, können derlei Diskrepanzen mit Hall als Ausdruck einer absichtsvoll abweichenden Ausstellungsaneignung konzeptualisiert werden. Und wie ich anhand verschiedener Interviewsequenzen zeigen werde, sind sich die meisten Besucher*innen, die ein Ausstellungsnarrativ scheinbar missverstehen, über dessen intendierte Bedeutung durchaus im Klaren, und sie entscheiden sich bewusst für abweichende oder konträre Deutungen.69 Das Kapitel greift daher auch Scholzes Überlegungen zur se-
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sentation von Geschichte im Museum. Eine empirische Studie zum historischen Lernen im Museum, Berlin 2016. Rounds: Doing Identity Work in Museums, S. 134. Doing Identity Work in Museums ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie dieser Perspektivwechsel praktisch vollzogen werden kann. Rounds geht es nicht darum, völlig neue Forschungsansätze zu konzipieren oder eine Menge neuer Daten über das Verhalten von Ausstellungsbesucher*innen zu generieren, sondern einfach um eine Neuinterpretation existierender Daten der lernorientierten Besucher*innenforschung. Sein Gütekriterium für diese Neuinterpretation deren Kohärenz mit der naheliegenden Prämisse, dass Besucher*innen eine Ausstellung in der Regel auf eine für sie sinnvolle Weise nutzen. Vgl. Hall, Stuart: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2018. Grob zusammengefasst unterscheidet Hall drei idealtypische Lesarten eines Mediums, die er erstens »dominant-hegemonial«, zweitens »ausgehandelt« und drittens »oppositionell« nennt. Während die hegemoniale Lesart eine codierte Bedeutung eins zu eins übernimmt und sich somit im Referenzrahmen des hegemonialen Codes bewegt, wird dieser Rahmen in der ausgehandelten Lesart zwar ebenfalls anerkannt, aber doch punktuell kritisiert. Die aus-
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miotischen Analyse von Ausstellungen als Medien wieder auf, diesmal jedoch aus umgekehrter Richtung: Befassten sich die kurzen Ausstellungsanalysen in Kapitel 3 mit Fragen der Codierung, eruiert Kapitel 5 nun Möglichkeiten der Decodierung, befasst sich also mit der Frage, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen Besucher*innen Ausstellungsmedien lesen und ihnen Bedeutung zuschreiben können. Das Contextual Model of Learning stellt in diesem Zusammenhang nicht nur eine Ergänzung, sondern in zweifacher Hinsicht auch ein Gegengewicht zu Halls Lesarten-Modell dar: Zum einen soll es einer Kognitionslastigkeit vorbeugen, die in einem auf Begriffe wie »Zeichen«, »Bedeutung«, »Entschlüsseln« und »Lesen« fokussierten semantischen Forschungsansatz zumindest angelegt ist. Zum anderen dient es – wenig überraschend – einer Kontextualisierung der in Museen stattfindenden Aneignungsprozesse, indem es u.a. Diskursräume und institutionelle Rahmenbedingungen sowie die sozialen und lebensweltlichen Hintergründe der Besucher*innen in den Blick nimmt. Somit kann einer Tendenz zur Überhöhung von Deutungsmacht, Kreativität und »Eigensinn in der Rezeption von Medienangeboten« entgegengewirkt werden, vor der der Soziologe Alexander Geimer in seiner Erörterung des Aneignungsbegriffs zu Recht warnt.70 Nach diesen umfangreichen theoretisch-begrifflichen Vorüberlegungen kommen wir in Kapitel 6 (Hermeneutische Dialoganalyse) von den virtuellen zu den tatsächlichen Besucher*innen von DDR-Museen. Das Kapitel erläutert mein Forschungsdesign und bietet einen Überblick über den Prozess meiner Datenerhebung und -auswertung. Hierzu führt es anhand eines Interviews aus dem DOK Eisenhüttenstadt in die Hermeneutische Dialoganalyse nach Harald Welzer und Olaf Jensen ein,71 welche die methodische Grundlage meiner Untersuchung darstellt. Das Charakteristische an dieser Methode der Interviewführung und -analyse besteht weniger darin, dass sie von der grundsätzlichen Involviertheit des*der Interviewenden in die stets kontingente Gesprächssituation ausgeht (das ist allgemeiner Standard), sondern dass sie diese Prämisse auch tatsächlich ernst nimmt und methodisch operationalisiert. Meine Orientierung an der Hermeneutischen Dialoganalyse lässt sich daher auch als Antwort auf ein erkenntnistheoretisches Problem verstehen, das mit dem soziokulturellen Kontext der Ausstellungsaneignung verbunden ist: Erstens ist es offenkundig, dass ein Interview im Anschluss an den Ausstellungsbesuch
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gehandelte Lesart arbeitet somit »mit den Ausnahmen zur Regel«. Die oppositionelle Lesart hingegen positioniert sich außerhalb und gegen den Referenzrahmen des hegemonialen Codes und stellt die Bedeutung auf den Kopf. Sie »enttotalisiert die Nachricht […], um sie daraufhin innerhalb eines alternativen Bezugsrahmens zu re-totalisieren.« Ebd., S. 80. Geimer: Das Konzept der Aneignung, S. 195. Jensen, Olaf & Welzer, Harald: Ein Wort gibt das andere, oder: Selbstreflexivität als Methode, in: Forum Qualitative Sozialforschung (02/2003), URL: https://www.qualitative-research.net /index.php/fqs/article/view/705/1528 (letzter Zugriff: 29.04.2020).
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für die jeweiligen Befragten einen Erinnerungs- und Erzählanlass darstellt, den es ohne die »Intervention« des Forschenden (also mir) so nicht gegeben hätte. Und zweitens sind die Erzählungen der Befragten natürlich auch dadurch geprägt, dass sie diese gegenüber mir (als westdeutschem Akademiker) entwerfen. Die Antwort der Hermeneutischen Dialoganalyse auf diese vermeintlichen Störfaktoren besteht nun darin zu sagen, dass es eben kein »Datum »an sich«, sondern überhaupt nur sozial-situativ konstruierte Daten gibt,72 wodurch die vermeintlichen Störfaktoren einfach zu Ausgangspunkten für weitere Forschungsfragen werden.73 Derlei Fragen greift schließlich Kapitel 7 (Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen), der empirische Hauptteil meiner Untersuchung, auf. Das Kapitel beginnt mit einer Analyse von Gesprächsdynamiken und Rollenaushandlungen sowohl während des Museumsbesuchs als auch im Interview. Die Analyse widmet sich hier also dem, was Falk und Dierking den soziokulturellen Kontext der Besuchserfahrung nennen. Sie veranschaulicht einerseits den entscheidenden Einfluss unterschiedlicher Besuchskonstellationen auf diese Erfahrung und präzisiert darüber hinaus noch einmal die Erkenntnismöglichkeiten, die sich aus der Anwendung der Hermeneutischen Dialoganalyse in einem erinnerungskulturell so umkämpften Feld wie dem der (musealisierten) DDR-Geschichte ergeben. Anschließend entwerfe ich ausgehend vom Interviewmaterial fünf teils miteinander verbundene Modi der Ausstellungsaneignung, die ich unter den Begriffen »Orientieren und Vergleichen«, »Bestätigung«, »Erinnerung«, »Identitätsarbeit« und »Metabesuch« zusammengefasst habe und denen jeweils eigene Unterkapitel gewidmet sind. Dabei handelt es sich explizit nicht um eine Typenbildung im Sinne der qualitativen Sozialforschung, sondern eher um Schwerpunktsetzungen, um unterschiedliche Aspekte von Aneignungsprozessen in Museen zu beleuchten. In entsprechend unterschiedlicher Gewichtung werden daher auch die zuvor entwickelten theoretischen Grundlagen meiner Untersuchung in diesen Kapiteln eine Rolle spielen. Beispielsweise werden wir sehen, wie der an Erinnerung orientierte Modus der Ausstellungsaneignung dazu geneigt ist, die Prämissen der semiotischen Ausstellungsanalyse infrage zu stellen. Ferner werden uns dort Begriffe wie »Eigensinn«, »Missverständnis« sowie das für die Hermeneutische Dialoganalyse zentrale Konzept der Störung auf teils unerwartete Weise wiederbegegnen. In ihrer Gesamtheit veranschaulichen die Interviewanalysen in Kapitel 7 die Multikontextualität des Museumsbesuchs als soziales Ereignis und die Komplexität des Mediums Ausstellung, welche eine Verfeinerung diverser methodischer Werkzeuge erforderlich macht. So wirft etwa das Kapitel »Metabesuch« Fragen nach Grenzen und Erweiterungsmöglichkeiten von Halls Lesarten-Modell und Sabrows Gedächtnistrias auf, während ich mich in »Orientieren und Vergleichen« noch einmal mit 72 73
Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse, S. 125. Für eine ausführliche Erörterung dieser Frage s. Kapitel 6.
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dem Lernparadigma der (geschichtsdidaktischen) Besucher*innenforschung auseinandersetze. Abschließend beleuchte ich in Kapitel 7.8 die Funktionen, die DDRMuseen durch ihre Besucher*innen zugeschrieben werden. Im Zentrum steht dabei ein Motiv vom Abbilden der Vergangenheit durch Museen, welches oberflächlich betrachtet auf ein »naives«, vorkonstruktivistisches Geschichtsverständnis ihrer Besucher*innen hindeuten könnte. Entgegen dieser Schlussfolgerung argumentiere ich dafür, die in der Forschung nach wie vor verbreitete Vorstellung von Besucher*innen als korrekturbedürftigen Mängelwesen zu überwinden und Fragen der Ausstellungsrezeption grundsätzlich von den Besucher*innen her zu denken.
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2. Die Musealisierung der DDR
2.1 Das Museum als gesellschaftliches Speicherund Funktionsgedächtnis? Ich beginne meine Analyse mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Institution des Museums. »Museen mit ihren Sammlungen und Ausstellungen sagen, ähnlich wie […] andere Geschichtsdarstellungen, mindestens so viel über die Zeit aus, in der sie entstanden, wie über die Epochen, die sie repräsentieren«, heißt es bei Martin Lücke und Irmgard Zündorf.1 In diesem Satz lassen sich drei (zunehmend abstrakte) räumliche Dimensionen identifizieren, die für die Untersuchung von Ausstellungsaneignungen von zentraler Bedeutung sind. Erstens geht es um die spezifischen »Sammlungen und Ausstellungen« konkreter Museen. Zweitens wird eine Aussage über Museen insgesamt, das heißt über das Museum als geschichtskulturelle Institution, getroffen. Und drittens werden Museen in einem gesamtgesellschaftlichen Diskursraum verortet, für den sie selbst als Zeichen fungieren. Um diese drei »Orte« der Ausstellungsaneignung soll es im Folgenden gehen. Als erstes wende ich mich dem Museum als geschichtskulturelle Institution zu – und zwar zunächst anhand seiner Konzeptionierung als gesellschaftliches »Speicher- und Funktionsgedächtnis«, welche aus dem assmannschen Theoriegebäude Eingang in die Ausstellungs- und Museumsanalyse gefunden hat. Ich werde dann jedoch zeigen, dass diese Vorstellung vom Museum einerseits zu politisch höchst bedenklichen Schlussfolgerungen führt und andererseits auch nicht dazu in der Lage ist, den musealen »Kampf um Bedeutung«2 ausreichend zu erfassen, weshalb ich im Anschluss für einen an die Arbeiten Tony Bennetts angelehnten theoretischen Zugriff auf Museen als Orte bürgerlicher Hegemonie plädiere. Zur Veranschaulichung werde ich die Analyse immer wieder anhand von Ausstellungsmedien und Interviewsequenzen an verschiedene DDR-Museen rückbinden.
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Lücke, Martin & Zündorf, Irmgard: Einführung in die Public History, Göttingen 2018, S. 139. Hall, Stuart: The Spectacle of the »Other«, in: Hall, Stuart (Hg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 2010, S. 223–290, hier: S. 277.
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Beginnen wir mit zwei kurzen Interviewauszügen, in denen die Besucherinnen Frau Kuhn aus Brandenburg und Frau Ohlberg aus NRW ihre Eindrücke im Berliner DDR-Museum beziehungsweise im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig schildern: Frau Kuhn: Also ich habe mich ein bisschen wie in der Kindheit gefühlt. So die Zimmer, das war schon wirklich… Dieses Doppelstockbett kannte ich durch – also meine Schwester und ich, wir hatten ja auch sowas. Die Küche, dieses Kleine, Enge… Das war schon so ein bisschen… Die Geräte, die da standen… Das war so ein bisschen Kindheit gerade, ja.3 Frau Ohlberg: Ich konnte immer Bezüge zur heutigen Zeit irgendwie herstellen […]. Einmal das mit dem Flüchtlings-, also mit diesem Wagen […] [Und] die Briefe, weil, ich fand das ganz interessant, wie die Emotionen auch da rübergekommen sind. […] Da konnte ich mich gut reinversetzen und wenn man auch so die aktuelle Lage so sich anguckt und auch die politischen Veränderungen mit der AfD und […] dieser Kriegsbezug. Also Krieg ist immer noch vor unserer Haustür, ne? Wir leben natürlich jetzt in Deutschland, wo’s sicher ist, aber das war bis vor Kurzem eigentlich nicht so. Wenn man das mal sich vor Augen führt und wenn man dann überlegt, dass so viele Geflüchtete natürlich auch hierhin gekommen sind, die haben das alles so erlebt.4 Diese beiden Zitate sind paradigmatisch für zwei sehr unterschiedliche Zugangsweisen zu historischen Ausstellungen, die ich in den Kapiteln 7.5 (Die Ausstellung als Erinnerungsanlass) und 7.3 (Orientieren und Vergleichen in Ausstellungen) ausführlich analysiere. Für Frau Kuhn gleicht der Rundgang durch das Berliner DDRMuseum einer Zeitreise, die sie in ihre Kindheit zurückführt. Die Ausstellung ist wie eine Kiste voller alter Fotos, Postkarten und aussortierter Gebrauchsgegenstände, die man eines Tages zufällig auf dem Dachboden wiederentdeckt. Beim Durchstöbern der Kiste werden alte Erinnerungen wach, die ein oder andere Anekdote kommt zurück ins Gedächtnis, nostalgische Gefühle stellen sich ein. Auch die Ausstellung ist für Frau Kuhn ein Sammelsurium an Erinnerungsstücken. Jedes für sich – das Zimmer, das Doppelstockbett, die Küche, die Geräte – erzählt eine Geschichte über Frau Kuhns eigene Vergangenheit. Oder besser: Frau Kuhn erzählt sich mit ihrer Hilfe selbst Geschichten, für die die Ausstellungsmedien lediglich als Impulsgeber dienen. Die Ausstellung als ganze hingegen schweigt, sie vermittelt Frau Kuhn keine Botschaft. Demgegenüber pendelt Frau Ohlberg bei ihrem Rundgang durch das Zeitgeschichtliche Forum immer wieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der Flüchtlingswagen und die Briefe der Vertriebenen erzählen auch ihr Geschichten 3 4
Interview 2, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Interview 1, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020.
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(oder auch hier: sie erzählt sich mit ihnen Geschichten), aber es sind Geschichten mit einem eindeutigen Gegenwartsbezug. Die Ausstellung spricht zu ihr und sagt: »Sieh her, früher waren wir Deutsche es, die fliehen mussten. Und wie gehen wir heute mit Geflüchteten um?« Das Museum als Erinnerungsspeicher, das Museum als Lehrmeister für die Gegenwart: Diese beiden Rezeptionsweisen, die in den Schilderungen Frau Kuhns und Frau Ohlbergs zum Vorschein kommen, ähneln auf eigentümliche Weise einer Museumskonzeption, deren Bezugspunkt die Arbeiten Jan und Aleida Assmanns zum »kollektiven Gedächtnis« darstellt. Hierzu ein kurzer theoretischer Abriss: Jan und Aleida Assmann gründen ihre erinnerungskulturelle Forschung auf Maurice Halbwachs’ Begriff des »kollektiven Gedächtnisses«.5 Dieses Gedächtnis einer Gesellschaft unterteilen sie in ein »kommunikatives« und ein »kulturelles«.6 Im kommunikativen Gedächtnis zirkulieren – so die Assmanns – mündliche Erzählungen über das selbst Erlebte oder aus Gesprächen Bekannte. Es sei dementsprechend wenig formalisiert und umfasse nur eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne von ca. drei Generationen. Ein Teil dieser mündlichen Überlieferungen schaffe es schließlich ins kulturelle Gedächtnis, wo er formalisiert und für die Nachwelt festgehalten werde, etwa in Form von Büchern, Filmen und sonstigen Kulturprodukten oder auch als Bestandteil eines Archivs oder einer musealen Sammlung.7 Innerhalb des kulturellen Gedächtnisses unterscheiden Jan und Aleida Assmann wiederum zwischen einem Speicher- und einem Funktionsgedächtnis. Letzteres definieren sie als »ein Stück angeeignetes Gedächtnis«,8 als den in Gebrauch befindlichen Teil der Geschichte einer Gesellschaft: Es umfasst all die erinnerungskulturellen Praktiken einer Gesellschaft, die der Orientierung in der Zeit, der Konstruktion kollektiver Identitäten und vielem mehr dienen. Das Speichergedächtnis fungiere dabei als eine Art Reservoir des Funktionsgedächtnisses (klassische Institutionen des Speichergedächtnisses wären daher etwa Archive oder museale Sammlungen). In ihm sei der überlieferte, aber in gegenwärtigen Diskursen nicht präsente Teil der Vergangenheit aufbewahrt: Auf kollektiver Ebene enthält das Speicher-Gedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitätsabstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten und alternativer Optionen.9
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Vgl. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967 (Paris 1939). Vgl. etwa Assmann, Aleida & Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Merten, Klaus et al. (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Wiesbaden 1994, S. 114–140. Vgl. ebd. Ebd., S. 122. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 122.
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Bisweilen fänden Bestandteile des Speichergedächtnisses dann ihren Weg in das Funktionsgedächtnis: »Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktions-Gedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speicher-Gedächtnis abgeht.«10 Umgekehrt würden auch immer wieder erinnerungskulturelle Praktiken an Bedeutung verlieren und aus dem Funktions- in das Speichergedächtnis zurückfallen. Die Attraktivität dieses Gedächtniskonzepts für die Museumsanalyse liegt auf der Hand: Vor seinem Hintergrund erscheint das Museum als das Stein gewordene kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, welches deren »Erinnerungen« innerhalb seiner Mauern aufbewahrt. Seine beiden Hauptbestandteile, Ausstellung und Sammlung, lassen sich scheinbar ideal dem Funktions- und Speichergedächtnis zuordnen: Was von einem Museum grundsätzlich als erinnerungswürdig erachtet wird, wird von diesem gesammelt. Ein Teil der gesammelten Objekte wird ausgestellt, wird »komponiert, konstruiert, verbunden« und damit zu einem Träger von Bedeutung in erinnerungskulturellen Diskursen. Verlieren diese an gesellschaftlicher Relevanz, dann überarbeitet das Museum irgendwann seine Ausstellung, ein Teil der Objekte wandert von der Ausstellung in die Sammlung zurück und wird durch neue Objekte mit anderen Bedeutungszuschreibungen ersetzt. In ihrer 2016 erschienenen Dissertation »Die DDR im Vitrinenformat« konstatiert die Museologin und Kulturwissenschaftlerin Kerstin Langwagens dementsprechend: Bezogen auf die Gedächtnisfunktion des Speicherns ist das Museum als Ort des Sammelns und Bewahrens ein Reservoir von abgelegtem Sachwissen, aus dem sich das Funktionsgedächtnis Ausstellung bedient.11 So weit, so einleuchtend. Doch wie genau »bedient« sich das »Funktionsgedächtnis Ausstellung« aus dem Speichergedächtnis Sammlung? Das Funktionsgedächtnis verfährt [bei seinem Rückgriff auf das Speichergedächtnis] nur selektiv, indem es Bruchstücke des Erinnerungsgehaltes unter aktuellen Blickwinkeln und Fragestellungen betrachtet und dabei das materiell Überkommene […] in neue Sinnzusammenhänge setzt. Die aus den Ausstellungen gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse wiederum fließen zurück ins Speichergedächtnis Sammlung. Die Bedeutung des Speichergedächtnisses Sammlung liegt also in seinen alternativen Angeboten an vorhandenem Wissen, das sich korrektiv auf das Funktionsgedächtnis Ausstellung auswirken kann.12 Was an dieser Beschreibung auffällt, ist der eigentümliche Subjektcharakter, der dem »Funktionsgedächtnis Ausstellung« zukommt: Es bedient sich, verfährt selek10 11 12
Ebd., S. 122–123. Langwagen: Die DDR im Vitrinenformat, S. 76. Ebd., S. 76.
2. Die Musealisierung der DDR
tiv, betrachtet Bruchstücke, setzt sie in neue Sinnzusammenhänge. An anderer Stelle spricht Langwagen von »Gedächtnismedien«, die auf bestehende erinnerungskulturelle Formationen »treffen«, sie »analysieren« und »selektieren«. Anschließend werde »eine Neuinterpretation der selektierten Elemente vorgenommen.«13 Auch hier sind es wieder die »Gedächtnismedien« selbst, die als handelnde (Schein-)Subjekte auftreten, während konkret greifbare Akteur*innen außerhalb des Sichtfeldes bleiben. Es wird »eine Neuinterpretation der selektierten Elemente« vorgenommen – schön und gut, aber von wem? Zu welchem Zweck? Auf welcher Grundlage?14 Wir haben es hinsichtlich dieser Fragen mit einer symptomatischen Leerstelle zu tun, die sich nicht einfach auf eine mangelnde sprachliche Präzision von Langwagens Analyse zurückführen lässt. Das Fehlen der Subjekte ist kein kontingenter Lapsus, sondern in der Konzeption des Museums als Speicher- und Funktionsgedächtnis selbst angelegt. Auch Langwagen selbst betont eingangs, dass Museen »alles andere als neutrale Speicherorte von Gedächtnisinhalten« seien.15 Doch diese Feststellung bleibt merkwürdig folgenlos; sie führt nicht zur dann eigentlich notwendigen Verortung der Institution Museum in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und historischen Entwicklungen. Und innerhalb der assmannschen Gedächtnistheorie erübrigt sich eine solche Notwendigkeit tatsächlich insofern, als dass sich die Nicht-Neutralität des Museums einfach aus der selbstreferentiellen Spannung zwischen Sammlung und Ausstellung ergibt. Folgerichtig erklärt Langwagen das Museum zum »Spiegelbild eines kulturellen Gedächtnisses, eines oder mehrerer kollektiver Gedächtnisse und vieler kommunikativer Gedächtnisse einer Gesellschaft.«16 Dieses Zitat ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich für die Probleme, die sich aus dem Zugriff auf Museen als Speicher- und Funktionsgedächtnis ergeben. Das erste Problem betrifft die Spiegelbild-Metapher: Das Museum als Spiegel zu begreifen, impliziert, es außerhalb der Gesellschaft zu stellen und ihm jedwede Handlungsmacht abzusprechen. Das Museum dient dann lediglich der gesellschaftlichen Selbstbeschau; aus einem geschichtskulturellen Akteur wird ein einfaches Abbild gesellschaftlicher Zustände. Im besten Fall lässt sich die Spiegelbild-Metapher noch als banale Basis-Überbau-Beziehung deuten, im schlimmsten Fall wird in den Museumsspiegel geschaut, um den vermeintlichen Nationalcha-
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Ebd., S. 78. Selbstkritik: Auch in meiner Beschreibung der Analogie zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis einerseits sowie Sammlung und Ausstellung andererseits »wandern« die Objekte wie eigenständige Subjekte zwischen Sammlung und Ausstellung hin und her. Ich hätte diese Passage natürlich auch anders schreiben können, doch jeder Versuch, dies zu tun, kam mir merkwürdig bemüht vor. Ebd., S. 76. Ebd., S. 171.
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rakter einer Gesellschaft in Erfahrung zu bringen.17 Das zweite Problem betrifft die merkwürdige Pyramide aus kommunikativen und kollektiven Gedächtnissen, die sich auf wundersame Weise an ihrer Spitze zu einem kulturellen Gedächtnis vereinen. Wie gelingt dem Museum dieser Einigungsprozess? Was geschieht in seinem Verlauf mit kommunikativen und kollektiven Gedächtnissen, die sich im Widerspruch zueinander befinden? Wo sind die Konflikte? Um dies zu erklären, müssen wir uns das kollektive Gedächtnis entweder als rousseauschen Gemeinwillen vorstellen, der die partikularen kommunikativen und kollektiven Gedächtnisse transzendiert. Oder aber wir vermuten eine hegelsche »List der Vernunft« am Werke und sehen in jedem Kurator einen kleinen Weltgeist, der die Dialektik der antagonistischen kommunikativen und kollektiven Gedächtnisse in der höheren Ordnung des kulturellen Gedächtnisses aufhebt. Beides läuft auf eine Apotheose des Bestehenden hinaus.18 Um meinen Punkt noch einmal zu verdeutlichen: Dass die Beziehungen zwischen kommunikativem, kollektivem und kulturellem Gedächtnis hier in Pyramidenform gedacht werden, halte ich nicht für ein Missverständnis der assmannschen Theorie, sondern nur für folgerichtig. Analog zu Langwagen fragt sich etwa auch die Soziologin Hanna Haag, die in ihrer Studie über die Tradierung von DDR-Geschichte in ostdeutschen Familien ebenfalls mit dieser Gedächtnistrias arbeitet, ob es ein gesamtgesellschaftliches »DDR-Gedächtnis« gibt: Befasst man sich mit dem sozialen Erinnern und Vergessen der DDR-Vergangenheit, so stellt sich zunächst die Frage, ob und inwiefern überhaupt ein universales Erinnern und Vergessen der DDR existiert. […] Zunächst ist zu klären, ob sich die DDR auf eine universelle Weise in das Gedächtnis der Gesellschaft eingeschrieben hat oder ob man vielmehr von unterschiedlichen Gedächtnissen sprechen muss.19 Auch wenn Haag solch ein »universales Erinnern« an die DDR im Folgenden eindeutig vereint, so ist doch bereits die Frage symptomatisch für das der assmannschen Gedächtnistheorie zugrunde liegende simplistische Verständnis von Gesellschaft und dessen bedenkliche forschungspraktische Auswirkungen. Schließlich gibt es nicht nur falsche Antworten, sondern auch falsche Fragen (falsch in dem Sinne, dass sie das Feld der möglichen Antworten entsprechend bestimmter ideologischer Vorannahmen entscheidend vorstrukturieren). Und die Frage, »ob sich die DDR 17 18
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Etwa dann, wenn Langwagen »Das kollektive Gedächtnis der Ostdeutschen« untersucht. S. ebd., S. 64. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Langwagen »den Historiker« zum potenziellen »Friedensstifter« erklärt und dem 9. November als möglichen deutschen Nationalfeiertag »"heilendes« Potenzial für die traumatisierte Identifikation mit der eigenen Nationalgeschichte« zuschreibt. Dem ganzen Theoriegebäude liegt eindeutig ein holistisches Gesellschaftsverständnis zugrunde. Haag, Hanna: Im Dialog über die Vergangenheit. Tradierung DDR-spezifischer Orientierungen in ostdeutschen Familien, Wiesbaden 2017, S. 43.
2. Die Musealisierung der DDR
auf eine universelle Weise in das Gedächtnis der Gesellschaft eingeschrieben hat«, impliziert nicht nur die Möglichkeit ihrer Bejahung, sondern ist auch überhaupt nur aufgrund der Annahme stellbar, dass Gesellschaften potenziell monolithische, harmonische Einheiten sind beziehungsweise sein können. Was in der Vorstellung vom Museum als Speicher- und Funktionsgedächtnis also offensichtlich fehlt, ist ein Analysewerkzeug für gesellschaftliche Antagonismen und Deutungskämpfe. Zwar schreiben die Assmanns dem Funktionsgedächtnis durchaus Funktionen wie Legitimation und Delegitimation von Herrschaft zu, allerdings verbleibt diese Beschreibung weitgehend im Abstrakten.20 Der widersprüchliche und konfliktuale Charakter erinnerungskultureller Praktiken wird kaum thematisiert. Stattdessen findet sich der Begriff des kulturellen Gedächtnisses eingebettet in ein Feld unreflektierter Kollektivsingulare und essentialisierender Identitätszuschreibungen wie »nationale Identität«,21 »die Deutschen« und »deutsche[s] Gedächtnis«22 oder auch »unser Land« als Teil der »Gemeinschaft der zivilen Nationen« (!).23 Dementsprechend weist die Historikerin Cornelia Siebeck in einer konzisen Analyse des assmannschen Theoriegebäudes auf den latenten Gegensatz zwischen dessen »explizit »sozial-konstruktivistischer« und implizit normativessenzialistischer Annahmen« hin.24 Kein Wunder also, dass geschichtswissenschaftlichen Studien, die mit einem solchen – scheinbar konstruktivistischen – Gedächtnisbegriff arbeiten, immer wieder ein Drang nach normativer Vereinheitlichung, Auflösung von Konflikten und gesamtgesellschaftlicher Harmonie anzumerken ist.25 Denn der Begriff erfordert ein beständiges Arbeiten gegen 20 21
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Vgl. Assmann; Assmann: Das Gestern im Heute, S. 124–126. Assmann, Aleida: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen, München 2020, S. 261. In diesem Werk beklagt Assmann eine deutsche Identitätskrise: »Deutschland ist seit einer Generation vereint, aber es hat nichts davon, solange es sich verneint.« Ebd., S. 261. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 181, 186. Ebd., S. 279. Siebeck, Cornelia: »In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar«? Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Assmannschen Gedächtnisparadigma, in: Lehmann, René et al. (Hg.): Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, Wiesbaden 2013, S. 65–90, hier: S. 81. Zitat im Zitat: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Vgl. paradigmatisch hierfür die Analyse von Pamela Heß zu geschichtskulturellen Debatten rund um die Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Obwohl Heß »das politische Anliegen der öffentlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit« scharf kritisiert (ein Unterfangen, »dem sich alle unterzuordnen haben«) und eine differenziertere Geschichtspolitik fordert, wünscht sie sich in ihrer Schlussbetrachtung lediglich den »Grundkonsens »die DDR war eine Diktatur«, der »alle in der Gesellschaft erreichen« und auch eine »Anerkennung und Würdigung« von DDR-Biografien beinhalten müsse. Die angemahnte Differenzierung steht hier ganz un-
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die ihm innewohnende Tendenz, erinnerungskulturell hegemoniale Diskurse zu harmonischen Kollektivgedächtnissen umzudeklarieren. Schließlich verstellt das Denken in gesamtgesellschaftlichen Erinnerungsgemeinschaften, in national verfassten Gedächtnissen und Identitäten den Blick für Ambiguitäten, bestehende Machtverhältnisse und deren Existenzgrundlagen. Wenn nun das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft aus dieser quasi naturwüchsig hervorgeht, wenn es nicht diskursiv geformt und durch hegemoniale Diskursstrategien durchgesetzt und verteidigt werden muss, dann fehlt der konzeptuelle Raum für gesellschaftliche Akteure und Strukturen, die in erinnerungskulturellen Diskursen wirksam sind. Das kulturelle Gedächtnis muss sich dann in einem selbstreferentiellen Prozess qua seiner Gedächtnismedien aus sich selbst heraus hervorbringen, reproduzieren und modifizieren. Bezogen auf Museen bedeutet das, dass hier die nötigen Werkzeuge für eine Analyse von Kommunikationsund Rezeptionsprozessen in Ausstellungen fehlen. Denn weder die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen dieser Prozesse noch die darin involvierten Subjekte können mit der Theorie des kulturellen Gedächtnisses hinreichend erfasst werden. Museen sind – so banal diese Feststellung auch ist – keine neutralen, unbefangenen, gewissermaßen über den gesellschaftlichen Antagonismen thronenden Institutionen. Sie sind durch unterschiedliche Diskurse strukturierte Orte, an denen sich gesellschaftliche Auseinandersetzungen manifestieren, und die diese Auseinandersetzungen als gesellschaftliche Akteure durchaus auch mitprägen. Ich plädiere daher im Folgenden für einen theoretischen Zugriff auf die Institution des Museums, der sie in ihrer Historizität, diskursiven Formierung und hegemonialen Funktion analysiert.
ter dem Vorzeichen einer umfassenderen Harmonisierung gesellschaftlicher Konfliktlinien. Heß, Pamela: Gleichförmig statt vielfältig. Die DDR im öffentlichen Erinnern, in: Matthäus, Sandra & Kubiak, Daniel (Hg.): Der Osten. Neue sozialwissenschaftliche Perspektiven auf einen komplexen Gegenstand jenseits von Verurteilung und Verklärung, Wiesbaden 2015, S. 99–124, hier: S. 120.
2. Die Musealisierung der DDR
2.2 Das Museum als hegemonialer Ort
Der Jahrhundertschritt vor dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig
Vor dem Eingang zum Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig steht eine Bronzeplastik des Ostdeutschen Künstlers Wolfgang Mattheuer.26 Das mit Jahrhundertschritt betitelte Kunstwerk aus dem Jahr 1984 zeigt eine Figur mit eingefallenem Kopf und deformiertem Torso, die mit einem weit ausladenden Schritt voranschreitet. Die rechte Hand ist zum Hitlergruß gestreckt, die erhobene linke zur Faust geballt. Das linke Bein steckt in Uniformhose und Stiefel, das nach vorn gestreckte rechte ist nackt und barfüßig. Mit den Worten »Verlust der Mitte« beschrieb Mattheuer selbst einmal dieses Motiv.27 Schließlich lässt sich die Plastik auch nicht in zwei 26
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Ein Abguss der gleichen Plastik befindet sich auch vor dem Haus der Geschichte in Bonn (sowie an mehreren weiteren Orten). Ein Bronzeguss des Jahrhundertschritts wurde erstmals 1987 auf der X. Kunstausstellung der DDR in Dresden ausgestellt. Als Gipsplastik war er bereits 1984 auf der 11. Leipziger Bezirkskunstausstellung zu sehen. Mattheuer, Wolfgang: Aus meiner Zeit. Tagebuchnotizen und andere Aufzeichnungen, Stuttgart, Leipzig 2002, S. 85 (Tagebucheintrag vom 24.01.1982). Der Plastik waren einige Gemälde und andere Kunstwerke mit ähnlichem Motiv vorangegangen: Verlorene Mitte (1980/81/82),
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klar voneinander zu unterscheidende Körperhälften einteilen. Vielmehr scheint die Symbolik ihrer Gliedmaßen die Mitte des Körpers zu zerreißen: Hitlergruß (rechte Hand) und Stiefel (linker Fuß) kreuzen sich mit Kommunistenfaust (links) und nacktem Bein (rechts). Der ausladende Schritt der nahezu kopflosen Statue kann zudem Assoziationen an einen unbedingten Fortschrittsglauben wecken, an entpersonalisierte systemische Gewalt, an das Gehen über Leichen. Die Botschaft der Plastik scheint somit eindeutig zu sein: Durch das 20. Jahrhundert schreiten Faschismus und Kommunismus gemeinsam voran, und es ist die gesellschaftliche Mitte, die diesem Marsch zum Opfer fällt. Entsprechend anschlussfähig ist sie an extremismus- und totalitarismustheoretische Diskurse, in denen die liberale Mitte von den totalitären Ideologien des linken und rechten Randes gleichermaßen bedrängt wird. Doch ist die Botschaft dieses Werkes tatsächlich so eindeutig? Zumindest die Rezeption des Jahrhundertschritts in der DDR (etwa auf der X. Kunstausstellung 1987/88 in Dresden) lässt dies zweifelhaft erscheinen.28 Andere Deutungen sind möglich und offenbar hochgradig kontextabhängig. Vor dem ZFL wird die erwünschte Bedeutung der Plastik durch eine Plakette an ihrem Sockel vereindeutigt, auf der es heißt: Der Jahrhundertschritt von Wolfgang Mattheuer symbolisiert das Verhältnis der Deutschen zu den beiden totalitären Systemen im 20. Jahrhundert. […] Zur Geschichte von Diktatur und Widerstand in der DDR erfahren sie Näheres in der Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Als Besucher*in erfährt man somit noch vor dem Betreten der Ausstellung, dass es sich bei der DDR um eine totalitäre Diktatur gehandelt habe. Ob diese nun kommunistisch oder faschistisch war, spielt dabei erst einmal keine Rolle, denn schließlich besteht im totalitarismustheoretischen Diskurs kein Unterschied zwischen beiden Systemen hinsichtlich ihres Verhältnisses zur liberalen Mitte. Entscheidend ist, dass die DDR im 20. Jahrhundert die Gesellschaft zerrissen und den Menschen entstellt habe.
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Die Nacht (1982) und Aggression (1982). 1987 malte Mattheuer den Jahrhundertschritt mit einer Mauer im Hintergrund. Für weitere Angaben vgl. das von Stefanie Michels herausgegebene Werkverzeichnis: Michels, Stefanie (Hg.): Wolfgang Mattheuer. Bilder als Botschaft, Leipzig, Frankfurt a.M., Berlin, Rostock 2017. Vgl. Lindner, Bernd: Das zerrissene Jahrhundert. Zur Werk- und Wirkungsgeschichte von Wolfgang Mattheuers Plastik »Jahrhundertschritt«, in: Zeithistorische Forschungen (02/2005), URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2005/4587 (letzter Zugriff: 18.03.2022), S. 300–308. Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch Lindner, Bernd: Verstellter, offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–1995, Köln, Weimar, Wien 1998. Die Werke Mattheuers changieren in den von Lindner zitierten Besucher*innenbefragungen zwischen großer Zustimmung und vehementer Ablehnung.
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Wie hat es die Bronzeplastik nun vor den Eingang des ZFL geschafft? Es war sicherlich nicht das »Funktionsgedächtnis Ausstellung«, dass die Bronzeplastik aus der hauseigenen Sammlung ausgewählt und – wie und aus welchen Gründen auch immer – vor seiner Tür platziert hat. Mattheuers Jahrhundertschritt ist auch keine Verkörperung »von abgelegtem Sachwissen«.29 Er ist es schon deshalb nicht, weil er nie Teil der musealen Sammlung war, sondern – so informiert die Plakette am Sockel – »durch die großzügige Unterstützung der DePfa Bank AG« erworben werden konnte. Es ist also nicht die Ausstellung an sich, sondern vielmehr das Museum als gesellschaftspolitischer Akteur (hier also das ZFL),30 das sich mit der Platzierung des Jahrhundertschritts vor seinem Eingang deutlich innerhalb eines hegemonialen DDRDiskurses positioniert, für den der Historiker Martin Sabrow den Begriff »Diktaturgedächtnis« geprägt hat.31 Es geht dabei nicht um Lernen oder darum, Überkommenes »unter aktuellen Blickwinkeln und Fragestellungen«32 zu betrachten. Es geht vielmehr um die Fixierung von Bedeutung, um eine vorgelagerte Vereindeutigung des folgenden Ausstellungsnarrativs.33 Die Museologinnen Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch begreifen die für »die Kultur eines Landes als repräsentativ geltenden Museen« dementsprechend als »hegemoniale Orte, wo sich gesellschaftliche Eliten ihrer Geschichte, ihrer Identität etc. versichern« und führen weiter aus: Das Ausüben von gesellschaftlicher Macht, die eine abstrakte ist, gelingt nur dann, wenn hegemoniale Vorstellungen mit konkreten Inhalten oder Zeichen verbunden werden – wie es etwa in Museen und Ausstellungen möglich ist.34 In diesem Zitat finden sich mehrere charakteristische Facetten des Museums vereint, die für die Analyse seiner Aneignung durch Besucher*innen von zentraler Bedeutung sind und die ich im Folgenden verschiedentlich wieder aufgreifen werde: Als ein komplexes System von Zeichen, die mit unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen werden können, wird uns das Museum in Kapitel 2.4 wiederbegegnen, als »Identitätsfabrik«35 vor allem in Kapitel 5.3 und als Ort der historischen Orientierung in Kapitel 7.3. 29 30 31
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Langwagen, s. oben. Welche konkreten Personen die Entscheidung getroffen haben, ist dabei völlig unerheblich. Zu Sabrows Trias von Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis s. das folgende Unterkapitel. Und ja, die assmannsche Gedächtnistheorie ist aus der DDR-Forschung offenbar nicht wegzudenken. Langwagen, s. oben. Wenn wir die Ausstellung als Text lesen, dann ist der Jahrhundertschritt so etwas wie ihr Abstract oder Klappentext. Muttenthaler; Wonisch: Gesten des Zeigens, S. 43. Korff, Gottfried & Roth, Martin (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a.M., New York 1990.
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An dieser Stelle will ich aber zunächst einen kurzen genealogischen Exkurs einschieben, um die These von Museen als hegemonialen Orten, als Ausübungsstätten gesellschaftlicher Macht, zu plausibilisieren. Denn Muttenthaler und Wonisch bewegen sich mit dieser These auf den Spuren einer an Michel Foucault angelehnten Museologie, welche das Museum als ein genuines Produkt der Moderne auffasst. Zu ihren bekanntesten Vertreter*innen zählen etwa der Kulturwissenschaftler Tony Bennett und die Museologin Eilean Hooper-Greenhill, die das Museum beide als eine spezifische Institution des Bürgertums untersuchen, deren Entstehung mit der Herausbildung europäischer Nationalstaaten zusammenfällt und mit dieser eng verflochten ist. Kein Wunder also, dass Hooper-Greenhill die Entstehung des modernen Museums mit der Französischen Revolution verknüpft: The French Revolution provided the conditions of emergence for a new programme for »museums«. […] The ruptures of revolution created the conditions of emergence for a new truth, a new rationality, out of which came a new functionality for a new institution, namely the public museum. The old collecting practices of the king, the aristocracy, and the church were radically revised, taken over, and rearticulated in a new field of use. The collections themselves were torn out of their earlier spaces and groupings and were rearranged in other contexts as statements that proclaimed at once the tyranny of the old and the democracy of the new.36 Als eindrücklichstes Beispiel für diese fundamentale Veränderung der Praktiken des Sammelns und Ausstellens führt Hooper-Greenhill die Geschichte des Pariser Louvre an. Der französische Königssitz beherbergte ab dem 17. Jahrhundert große fürstliche und königliche Kunstsammlungen, die der Öffentlichkeit bis zur Französischen Revolution verschlossen blieben.37 Im Zuge der Revolution wurde die Sammlung im Juli 1793 per Dekret der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und der Louvre am 10. August – genau ein Jahr nach der Abschaffung der Monarchie – zum zentralen Kunstmuseum der Republik erklärt. Schon die Wahl dieses symbolträchtigen Datums verweist auf die Bedeutung, die dem öffentlichen Zeigen vormals privater königlicher Sammlungen zugesprochen wurde. Dieses sollte – wie Hooper-Greenhill schreibt – zugleich die Tyrannei des alten Regimes und die Demokratie der neuen republikanischen Ordnung bezeugen. Diese neue Zielsetzung des Museums lässt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts an einer radikalen Wandlung der Praktiken des Sammelns und Ausstellens sowie der musealen Architektur
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Hooper-Greenhill, Eilean: Museums and the Shaping of Knowledge, London, New York 1995, S. 171. Im Palais du Luxembourg waren seit 1750 zwar Teile der königlichen Gemäldesammlung öffentlich ausgestellt, doch bereits im Jahr 1779 schloss das Palais seine Tore für die Öffentlichkeit wieder, als Louis XV es seinem Bruder, dem späteren Louis XVIII, als Residenz übergab.
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beobachten. Auch in anderen europäischen Ländern verschwanden die exklusiven fürstlichen Wunderkammern mit dem Aufstieg des Bürgertums allmählich. An ihre Stelle traten mehr oder weniger öffentlich zugängliche moderne Museen, die sich laut Bennett vor allem durch ihren idealtypischen Referenzpunkt von ihren frühneuzeitlichen Vorläufern unterschieden.38 Die fürstliche Wunderkammer hatte die Macht ihres Besitzers zum Ausdruck gebracht. Gedachter Mittelpunkt der Wunderkammer war der Fürst selbst, ihre Sammlung – als Abbild der Welt – Symbol des fürstlichen Herrschaftsanspruchs. Die ideale Sammlung beschreibt Francis Bacon 1594 in einem Theaterstück wie folgt: First, the collecting of a most perfect and general library, wherein whosoever the wit of man hath heretofore committed to books of worth, be they ancient or modern, printed or manuscript, European or of the other parts, of one or other language, may be made contributory to your wisdom. Next, a spacious, wonderful garden, wherein whatsoever plant the sun of divers climates […], either wild or by the culture of man brought forth, may be with that care that appertaineth to the good prospering thereof set and cherished: This garden to be built about with rooms to stable in all rare beasts and to cage in all rare birds; with two lakes adjoining, the one of fresh water the other of salt, for like variety of fishes. And so you may have in small compass a model of universal nature made private. The third, a goodly huge cabinet, wherein whatsoever the hand of man by exquisite art or engine hath made rare in stuff, form, or motion; whatsoever singularity chance and the shuffle of things hath produced; whatsoever Nature hath wrought in things that want life and may be kept; shall be sorted and included.39 Gut 300 Jahre später beschreibt Sir William Henry Flower, Direktor des Londoner Natural History Museum, die Gestaltung einer Ausstellung folgendermaßen: First […], you must have the curator. He must carefully consider the object of the museum, the class and capacities of the persons for whose instruction it is founded […]. He will then divide the subject to be illustrated into groups, and consider their relative proportions, according to which he will plan out the space. Large labels will next be prepared for the principal headings, as the chapters of a book, and smaller ones for the various subdivisions. Certain propositions to be illustrated,
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Vgl. Bennett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London 1995, S. 92–101. Bacon, Francis: Gesta Grayorum. Or, the History of the High and Mighty Prince, London 1688 (original 1594), S. 34–35, zit.n.: https://quod.lib.umich.edu/e/eebo/A33253.0001.001?rgn=ma in;view=fulltext (letzter Zugriff: 24.03.2022). Zum Hintergrund des zitierten Ausschnitts vgl. Turner, Gerard: The Cabinet of Experimental Philosophy, in: Impey, Oliver & MacGregor, Arthur (Hg.): The Origins of Museums. The Cabinet of Curiosities in 16th and 17th Century Europe, Oxford 1985, S. 214–222.
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either in the structure, classification, geographical distribution, geological position, habits, or evolution of the subjects dealt with, will be laid down and reduced to definite and concise language. Lastly will come the illustrative specimens, each of which as procured and prepared will fall into its appropriate place.40 Sowohl Bacon als auch Flower erläutern Verfahrensweisen der Sammlung und Präsentation von Objekten. Der Status, den Bacon und Flower diesen Objekten zuschreiben, ist jedoch grundverschieden: Bei Bacon steht das Objekt eindeutig im Zentrum der Betrachtung; er spricht ausschließlich von den zu sammelnden Objekten. Bei Flower hingegen erscheint das Objekt erst am Ende einer langen Reihe, die mit dem Kurator beginnt und über das Publikum, das zu behandelnde Thema, seine Unterteilung, Strukturierung und sprachliche Vermittlung reicht. Damit einher geht ein fundamentaler Unterschied in der Funktion der Objekte: In Bacons Sammlung formen sie eine Welt im Miniaturformat – »a model of universal nature made private«. Als solche bezeugen sie die Macht und das Wissen desjenigen, der über sie verfügt. Und dementsprechend spiegelt die Anordnung der Objekte in groben Zügen die göttliche Ordnung der Schöpfungsgeschichte wider: Sie sind unterteilt nach Pflanzen, Tieren (des Landes, des Wassers und der Luft) und Menschengemachtem. Innerhalb jeder dieser Kategorien beinhaltet die Sammlung dann alle möglichen (»whatsoever«) Objekte. Für Flower hingegen sind die Objekte lediglich »illustrative Exemplare«, die der Veranschaulichung eines bestimmten, in Kapitel eingeteilten Themas und seiner Entwicklung dienen. Zu dominierenden Präsentationsformen entwickelten sich dementsprechend im 19. Jahrhundert – um mit Jana Scholze zu sprechen – »Klassifikation« und »Chronologie«.41 Denn mit ersterer ließen sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse – insbesondere die Evolutionstheorie – veranschaulichen, und mit letzterer Geschichte als Fortschrittsgeschichte erzählen, zu deren Kulminationspunkten das bürgerliche Subjekt und der moderne Nationalstaat erklärt wurden. Die in den Museen des 19. Jahrhunderts erzählte Geschichte und die staatliche Macht, die sich in den Museen manifestierte, traten ihren Besucher*innen – zumindest in der Theorie – folglich als ihre eigene gegenüber: Just as, in the festivals of the absolutist court, an ideal and ordered world unfolds and emanates from the privileged and controlling perspective of the prince, so, in the museum, an ideal and ordered world unfolds before and emanates from a controlling position of knowledge and vision; one, however, which has been de-
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Flower, William Henry: Essays on Museums and Other Subjects Connected With Natural History, London 1898, S. 18. Für eine Erörterung dieser Begriffe und Scholzes semiotischer Ausstellungsanalyse insgesamt s.u.
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mocratized in that, at least in principle, occupancy of this position – the position of Man – is openly and freely available to all.42 Das Museum war daher in seinem Ursprung nicht nur insofern eine demokratische Institution, als dass es an die Stelle der privaten, exklusiven Kunst- und Wunderkammern staatliche, öffentlich zugängliche Sammlungen setzte. Es war es auch insofern, als dass seine formal gleichen Besucher*innen, konzipiert als Volk, sich im und durch das Museum ihrer selbst als Herrschende, als Souverän, gewahr werden sollten. Sie sollten dazu befähigt werden, so Bennett, »to know and thence to regulate themselves; to become, in seeing themselves from the side of power, both the subjects and the objects of knowledge.«43 Das Museum war folglich Produkt der bürgerlichen Moderne und trug zugleich zu ihrer Konstituierung bei: In ihm wurden Geschichte als Nationalgeschichte konstruiert und »erfundene Traditionen« beglaubigt, in ihm fand die Idee der Volkssouveränität symbolischen Ausdruck.44 Darüber hinaus wurde dem Museum in den Diskursen des 19. Jahrhunderts eine erzieherische Funktion zugeschrieben. Es sollte die (vermeintlich verwahrlosten) arbeitenden Klassen dem Alkohol entfremden, sie kultivieren und disziplinieren. So heißt es beispielsweise im 1796 veröffentlichten Treatise on the Police of the Metropolis des schottischen Kaufmanns, Politikers und späteren Begründers der privaten Londoner Hafenpolizei Patrick Colquhoun: Since recreation is necessary to Civilised Society, all Public Exhibitions should be rendered subservient to improvement of morals, and tot he means of infusing into the mind a love for the Constitution, and a reverence and respect for the Laws. […] How superior this to the odious practice of besotting themselves in Ale houses, hatching seditious and treasonable designs, or engaging in pursuits of vilest profligacy, destructive to health and morals.45 Inwiefern ist dieser etwas ausladende Exkurs zu den Ursprüngen des Museums als Institution des sich herausbildenden modernen Bürgertums nun für die Frage der Ausstellungsaneignung in heutigen DDR-Museen relevant? Er ist es insofern, als dass in diesen Ursprüngen zwei dem Museum inhärente und es bestimmende
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Bennett: The Birth of the Museum, S. 97. Bennett, Tony: The Exhibitionary Complex, in: New Formations (4/1988), S. 73–102, hier: S. 76. Hobsbawm, Eric: Introduction. Inventing Traditions, in: Hobsbawm, Eric & Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge Cambridgeshire 2012, S. 1–14; zum Begriff der Volkssouveränität vgl. Yack, Bernard: Popular Sovereignty and Nationalism, in: Political Theory (04/2001), URL: https://www.jstor.org/stable/3072522?seq=1#metadata_info_tab_co ntents (letzter Zugriff: 16.06.2021), S. 517–536. Colquhoun, Patrick: A Treatise on the Police of the Metropolis, London 1800 (original 1796), S. 348, zit.n.: https://www.gutenberg.org/files/35650/35650-h/35650-h.htm (letzter Zugriff: 24.03.2022).
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Prinzipien – bzw. Widersprüche – angelegt sind, auf die Tony Bennett aufmerksam macht und die sich auch heute noch beobachten lassen: Erstens musste das Museum als erzieherische, nationalstaatliche und (seinem Anspruch nach) demokratische Institution für alle Mitglieder der Gesellschaft offen zugänglich sein. Zweitens musste es die Geschichte dieser aus formal gleichen Mitgliedern bestehenden Gesellschaft adäquat repräsentieren. Da es dem Bürgertum aber im 18./19. Jahrhundert allmählich gelang, die »position of Man« – zu besetzen, zu dem einen »Stand, [der] für den Stand der ganzen Gesellschaft« gilt,46 zu werden, lassen sich die beiden genannten Prinzipien auch als das Museum bestimmende Widersprüche fassen. Erstens: Das Museum musste für alle zugänglich sein, war aber de facto ein bürgerlicher Ort, der durch eine Vielzahl von Regeln, Codes, Barrieren, erwünschten Verhaltensweisen usw. die unteren Klassen von seinem Besuch ausgrenzte. Zweitens: Das Museum sollte die ganze Gesellschaft repräsentieren, repräsentierte de facto aber die Welt des weißen, männlichen Bürgertums. Bennett macht hier den klassischen marxschen Widerspruch zwischen Form und Inhalt auf: Seiner Form nach ist das Museum universell, ein Ort für alle Menschen und ihre Geschichten. Seinem Inhalt nach entsteht es hingegen als ein Ort des weißen, männlichen Bürgertums, in dem die Hegemonie dieser Klasse diskursiv hergestellt und abgesichert wird.47 Machen wir einen Sprung zurück in die Gegenwart – genauer: in die 2013 eröffnete neue Dauerausstellung des DOK Eisenhüttenstadt. Im Themenbereich Familie finden wir dort eine gelbe Simson Schwalbe aus dem Jahr 1984. Wie dem Ausstellungskatalog zu entnehmen ist, habe die Schwalbe damals »als Frauenmoped« gegolten: »kein Jugendlicher, der etwas auf sich hält, fährt den Kleinkraftroller vom Typ KR 51« – und das, obwohl er aufgrund seiner technischen Ausstattung »für Jugendliche eigentlich ganz interessant« sein müsste. Doch die Schwalbe ist zu praktisch. Denn gerade weil Karosserie, Lederschutz und Windschutzscheibe die Fahrer recht gut vor Verschmutzung schützen, wird die Schwalbe vor allem gern von Frauen gefahren. […] Bei Wind und Wetter, sogar bei Schnee und Eis, bringt sie die Fahrerinnen und Fahrer fast immer pünktlich zur
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Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (MEW 1), Berlin (DDR) 1976, S. 388. Und selbstverständlich manifestiert sich dieser Widerspruch auch auf weiteren Machtebenen. Beispielsweise sind bis heute die allermeisten Museen für viele Menschen mit Behinderung kaum zugänglich, obwohl Teilhabe in allen Lebensbereichen gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Dies betrifft auch alle der hier analysierten Ausstellungen. Die Grundlage dieses Widerspruchs zwischen Form und Inhalt findet sich in Hegels Begriff der konkreten Allgemeinheit, in der Dialektik zwischen »Allgemeinheit« und »Besonderheit«. Vgl. Hegel, Georg W. H.: Wissenschaft der Logik. Die subjektive Logik oder Lehre vom Begriff (Werke Band 5), Frankfurt a.M. 1979, S. 36–70.
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Arbeit. […] Mit weit offenem Hemd und langem Haar frei im Wind brausen dennoch die wenigsten Jugendlichen im Hochsommer auf der Schwalbe durch die Gegend. Die Jungs entscheiden sich eher für die Nachfolgemodelle der Vogelserie, für Star oder Habicht. […] Spätestens als dann noch in der beliebten Fernsehserie »Schwester Agnes« die engagierte Gemeindeschwester auf ihrer weißen Schwalbe über die Dörfer der Republik fährt, kann das Moped von Jugendlichen nicht mehr ohne Häme in der Clique gefahren werden.48 Dieser Text ist ein Paradebeispiel dafür, wie der »leere Platz der Universalität«49 durch eine männliche Partikularität besetzt wird. Getragen wird er von einer bemerkenswerten kategorialen Unterscheidung – zwischen Jugendlichen einerseits und Frauen andererseits. Dass mit dieser Unterscheidung irgendetwas nicht ganz stimmt, zeigt sich bereits an der lavierenden Wortwahl im Text, insbesondere den impliziten Geschlechtszuschreibungen: Mal schützt die Ausstattung der Schwalbe ihre (eigentlich nicht existenten) »Fahrer«, dann transportiert sie »Frauen« und schließlich dann doch »Fahrerinnen und Fahrer«. Die Jugendlichen sind mal geschlechtsunspezifisch, mal grammatikalisch männlich, dann wiederum ist ihre Beschreibung inhaltlich männlich konnotiert und schließlich sind es einfach »Jungs«. Dass es auch weibliche Jugendliche gibt, scheint ein gut gehütetes Geheimnis zu sein. Die hier beobachtbare kategoriale Unterscheidung zwischen Jugendlichen und Frauen kann somit auch als eine Variation von Reinhart Kosellecks »asymmetrischen Gegenbegriffen« verstanden werden. Koselleck beschreibt damit Begriffspaare, bei denen Selbst- und Fremdbezeichnung auseinanderfallen, die also nur einseitig genutzt werden können und sozialen Gruppen zur Identifikation und Abgrenzung dienen (etwa »Hellenen und Barbaren, […] Christen und Heiden, […] Mensch und Unmensch«).50 Es sind Begriffe, mit denen »eine konkrete Gruppe einen exklusiven Anspruch auf Allgemeinheit [erhebt], indem sie einen sprachlichen Universalbegriff nur auf sich selbst bezieht und jede Vergleichbarkeit ablehnt.«51 Im Beispiel des DOK-Ausstellungskatalogs wird aus dem geschlechtsneutralen Universalbegriff »Jugendliche« ein männlich besetzter Begriff. Die Krux besteht nun darin, dass der Begriff durch diesen partikularen Inhalt seinen Universalitätsanspruch ja nicht verliert, sondern umgekehrt Frauen und andere Geschlechter aus dieser Universalität schlicht exkludiert.
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Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): Alltag: DDR. Geschichten, Fotos, Objekte (Begleitbuch zur Dauerausstellung), Berlin 2012, S. 219. Laclau, Ernesto: Identity and Hegemony. The Role of Universality in the Constitution of Political Logics, in: Butler, Judith et al. (Hg.): Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London 2000, S. 44–89, hier: S. 58. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 213. Ebd., S. 212.
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Dieser Ausschluss ist natürlich nichts für DDR-Museen Spezifisches – er ließe sich so oder ähnlich sicherlich in allen möglichen Museen und Ausstellungen aufspüren.52 Allerdings ist, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, auf einer allgemeineren Ebene gerade für DDR-Museen eine Erzählperspektive typisch, die auf Kosellecks Konzept der asymmetrischen Gegenbegriffe, etwa hinsichtlich der häufigen Gegenüberstellung von kapitalistischer Normalität und sozialistischem Gesellschaftsexperiment und einer Darstellung der DDR als irregeleitete Abweichung von der bundesrepublikanischen Norm beruht. Diese Erzählperspektive wird uns in den folgenden Ausstellungsanalysen noch häufiger begegnen, weshalb ich an dieser Stelle lediglich auf eine kurze Studie Christian Gauberts zum DHM verweise, die auf eindrückliche Weise herausarbeitet, wie auch dort in der parallel erzählten Geschichte der beiden deutschen Staaten nach 1945 die DDR als das Andere – man könnte auch sagen: als das »konstitutive Außen«53 – der BRD konstruiert wird.54
2.3 Das diskursive Feld der musealen DDR-Erinnerung Wenden wir uns nun dem zweiten von Lücke und Zündorf angesprochenen »Ort« der Museumsanalyse zu, dem diskursiven Raum der DDR-Museumslandschaft. Ich möchte mit drei Zitaten in die Analyse einsteigen, die zwei Interviews im Berliner DDR-Museum entnommen sind. Frau Bok: Ja natürlich die Überwachung durch die Stasi. Das ist krass. […] Krass, wie alles so überwacht wird. Und das kann man kaum vorstellen […]. Aber auch die Konsequenzen, was dann passiert, wenn die Stasi dann etwas, eine Kleinigkeit gehört oder wenn jemand etwas gehört hat. Okay, was passiert dann?55 Herr Bok: Das war natürlich ein ganz heftiges Ding, so eingesperrt zu sein. Was mir auch aufgefallen ist: Es wurde ein bisschen erläutert, wie die Firmen versucht 52
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Ein weiteres Beispiel aus dem Berliner DDR-Museum: Im Bereich »Öffentliches Leben« findet sich eine Ausstellungswand zum Thema »Arbeit«, die nebeneinander verschiedene Berufe und deren durchschnittliches Monatsgehalt vorstellt. Ein Teil der Wand ist dem Thema »Brigade« vorbehalten. Das entsprechende Foto zeigt sieben Männer in Arbeitskleidung auf einer Baustelle. Darunter ist eine Tür eingelassen, die beim Öffnen den Blick auf einen vermeintlich typischen Spind eines Brigadiers freigibt. Darin befinden sich erwartbare Gegenstände wie etwa eine Trinkflasche, Brotdosen und ein Arbeitshelm. An der Innenseite der Tür sind drei Pin-Ups mit nackten Frauen angebracht. Aus der eigentlich geschlechtsneutralen Brigade wird somit ein eindeutig männlich und heterosexuell markierter Verein. Laclau, Ernesto: New Reflections on The Revolution of Our Time, London 1990, S. 136. Gaubert, Christian: Der DDR-Alltag im Kontext der Diktatur. Eine vergleichende Analyse der Dauerausstellungen des DDR-Museums Berlin und des Deutschen Historischen Museums, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (12/2011), S. 1008–1024. Frau Bok (wohnhaft in Hamburg, um die 40), Interview 10, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019.
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haben, sich zu entwickeln. Und es gab kaum oder kein Firma, die sich international in dem Wettbewerb durchgesetzt hat. Und ja, dann versteht man auch, wieviel Talent und Expertise da verloren gegangen ist – dass in dieser Periode so viele kluge Leute, Ingenieure, einfach nicht den Möglichkeit bekommen haben, sich zu entwickeln […]. Dass eigentlich der Beitrag dieser Leute durch den System nicht ermöglicht wurde.56 Herr Bogner: Heute geht es praktisch nur ums Geld. Und da sieht man ja auch dann, wenn du ne schwache Rente hast oder was, was du dann bewegen kannst. Kannste dann nicht mehr viel bewegen. Wenn du dann die Preise siehst, wie die alle hochgehen […]. Ja, was willst du da groß machen? Oder ins Kino gehen und so, ja? […] Dass du zum Beispiel [zu DDR-Zeiten] in nen Film reingehst als kleiner Steppke, für 25 Pfennig. Da fasst man sich heute an den Kopf, ne? Heute bezahlt man acht Euro. Auch vom Essen her gesehen. Wenn du da die Preise siehst. Und man hat das ja hier ausgestellt: Palast der Republik – kannte ich ja auch noch. Das waren ja alles humane Preise gewesen. Da hattest du eben für 20 Mark, da konntest du ja wunderbar dinieren mit mehreren.57 Bei diesen drei Zitaten handelt es sich um Ausschnitte aus Antworten auf die Frage, was meinen Gesprächspartner*innen vom Ausstellungsbesuch in Erinnerung geblieben ist. Meine erste Gesprächspartnerin konzentriert sich in ihrer Antwort auf Überwachung und Repression in der DDR. Ihr Begleiter stimmt ihr zwar zu, dass diese schon »ein ganz heftiges Ding« waren, setzt aber einen anderen Schwerpunkt: Er erzählt von den zahlreichen talentierten, klugen und engagierten Menschen, denen die starre Organisation des Wirtschaftssystems in der DDR keine Möglichkeit gegeben hätte, sich zu entfalten. Mein dritter, in Jena aufgewachsener Gesprächspartner stellt die heutige Abhängigkeit von Konsummöglichkeiten und kultureller Teilhabe von Geldbesitz den Verhältnissen in der DDR gegenüber, wo Geld kaum eine Rolle gespielt habe. Diese drei Interviewausschnitte können als paradigmatisch für drei idealtypische Erinnerungsformen an die DDR bezeichnet werden, die Martin Sabrow einmal als Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis definiert hat.58 Dieser Typologie zufolge ist das Diktaturgedächtnis »auf den Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihre mutige Überwindung in der friedlichen Revolution von 1989/90« fokussiert. Seine zentralen Topoi seien Repression und Überwachung sowie (dem nachgelagert) Opposition und Widerstand. Im Diktaturgedächtnis erscheine die DDR im Wesentlichen als eine Gesellschaft von Tätern und Opfern, der
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Herr Bok (wohnhaft in Hamburg, um die 40), ebd. Herr Bogner aus Jena, Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Vgl. Sabrow: Die DDR erinnern.
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»Unrechtsstaat« der »zweiten deutschen Diktatur« als Kontrastbild zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« der BRD. Dem Diktaturgedächtnis setzt Sabrow das Fortschrittsgedächtnis entgegen. Dieses zeichne die DDR als überlegene (oder zumindest ebenbürtige) sozialistische Alternative zum kapitalistischen System Westdeutschlands. Es rekurriere auf »Erinnerungsfiguren« wie Gemeinschaft, soziale Sicherheit, Bildung, Antifaschismus und Systemkonkurrenz. Zwischen diesen beiden Polen verortet Sabrow das Arrangementgedächtnis. Dieses sei vor allem durch alltagsgeschichtliche Erinnerung an die DDR charakterisiert. Obwohl es mitunter zentrale Prämissen des Diktaturgedächtnisses teile, so unterlaufe es doch dessen dichotome Logik, indem es sich »der säuberlichen Trennung von Biographie und Herrschaftssystem« verweigere und »Machtsphäre und Lebenswelt« miteinander verschränke. »Es erzählt von alltäglicher Selbstbehauptung unter widrigen Umständen, aber auch von eingeforderter oder williger Mitmachbereitschaft und vom Stolz auf das in der DDR Erreichte«.59 Die Geschichtsdidaktikerin Juliane Brauer schlägt für diese Form der Erinnerung den Begriff »Identitätsgedächtnis« vor, da es hier in erster Linie darum gehe, »sich selbst seiner eigenen Geschichte zu versichern«, um nach der einschneidenden Transformation der der frühen neunziger Jahre »Zukunft wieder denken zu können.«60 Ähnlich wie Sabrow identifiziert Brauer »[a]lltägliches Erleben, positive Erinnerungen an Sicherheitsgefühle und die des kollektiven Zusammenhaltes« als die charakteristischen Topoi dieses Gedächtnisses, die »aus dem Gefühl der Verunsicherung, auch der Abspaltung von der eigenen Geschichte in den Nachwendejahren« hervorgegangen seien.61 Hinsichtlich der jeweiligen »Erinnerungsfiguren« bestehen somit große Überschneidungen zwischen Sabrows Arrangement- und Brauers Identitätsgedächtnis. Und sowohl Sabrow als auch Brauer verorten das Arrangement- bzw. Identitätsgedächtnis geografisch mehr oder weniger explizit in Ostdeutschland.62 Allerdings positioniert Brauer ihren Begriff stärker als Gegenpol zum Diktaturgedächtnis und erklärt die Umbrucherfahrungen nach 1989/90 zum entscheidenden Referenzpunkt des Identitätsgedächtnisses. Ich werde mich um 59 60
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Ebd., S. 19. Brauer, Juliane: (K) Eine Frage der Gefühle? Die Erinnerungen an die DDR aus emotionshistorischer Perspektive, in: Führer, Carolin (Hg.): Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens, Göttingen 2016, S. 77–95, hier: S. 87. Ebd., S. 87. Jedoch scheint die argumentative Struktur dieser »Gedächtnisse« nicht zwangsläufig an eine biografische Verbindung mit der DDR geknüpft zu sein. Darauf deutet bereits der oben zitierte Ausschnitt aus dem Interview mit Herrn Bok hin, der nach seinem Museumsbesuch ja auch von »Selbstbehauptung unter widrigen Umständen« zu berichten wusste. In Kapitel 7 werde ich die Frage nach der Koppelung von Arrangement- und Identitätsgedächtnis an eine DDR-Biografie daher verschiedentlich wieder aufgreifen.
2. Die Musealisierung der DDR
der konzeptuellen Kohärenz willen im Folgenden an Sabrows Begriffswahl orientieren, den Begriff des Identitätsgedächtnisses allerdings in Kapitel 7.7 noch einmal aufgreifen. Unabhängig von dieser Entscheidung ist jedoch zu konstatieren, dass eine solche idealtypische Gedächtnistrias für die Analyse konkreter, individueller Erinnerungen oder gar für eine empirische Typenbildung nur sehr begrenzt tragfähig ist. Ein Großteil der Erzählungen meiner Gesprächspartner*innen oszillierte zwischen unterschiedlichen Erinnerungsformen und bewegte sich häufig auch jenseits von diesen. Wenn sich die Trias aus Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis auch nicht zur Kategorisierung individueller Erinnerungen eignet, so kann sie doch dazu dienen, größere diskursive Formationen zu strukturieren und normative Ansprüche an erinnerungskulturelle Praktiken herauszuarbeiten. Denn die Frage, wie die DDR erinnert werden soll, ist auch dreißig Jahre nach ihrem Untergang weiterhin hoch umstritten. Schlagworte wie, »Unrechtsstaat«, »zweite deutsche Diktatur« und »Totalitarismus« beherrschen nach wie vor die öffentliche Debatte und verweisen auf die anhaltende Dominanz des Diktaturgedächtnisses. In die museale Praxis ist das Diktaturgedächtnis durch die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aus dem Jahr 2008 eingeschrieben, die als Grundlage für die staatliche Förderung von Gedenkstätten und Museen und fungiert. Dort wird ein mangelhaftes öffentliches Bewusstsein für die »Aufarbeitung im Bereich des SED-Unrechts« konstatiert und dementsprechend das Ziel ausgegeben, »die erinnerungspolitische Aufarbeitung des SED-Unrechts zu verstärken und in diesem Zusammenhang Widerstand und Opposition besonders zu würdigen.«63 Hierfür werden vier Themenbereiche identifiziert, denen sich Museen und Gedenkstätten widmen bzw. widmen sollen: 1. 2. 3. 4.
Teilung und Grenze Überwachung und Verfolgung Gesellschaft und Alltag Widerstand und Opposition
Während sich die Themenbereiche 1, 2 und 4 ohne weiteres in dem Diktaturgedächtnis entsprechende erinnerungskulturelle Praktiken einfügen lassen, scheint sich der dritte Themenbereich, Gesellschaft und Alltag, der Rahmung des Diktaturgedächtnisses auf den ersten Blick zu entziehen. Bezeichnenderweise ist er jedoch der einzige, dessen Förderung in der Gedenkstättenkonzeption ausführlich
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Deutscher Bundestag: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen (19.06.2008), URL: htt ps://www.bundesregierung.de/resource/blob/973862/414660/5c88e4e4ecb3ac4bf259c90d5 cc54f05/2008-06-18-fortschreibung-gedenkstaettenkonzepion-barrierefrei-data.pdf?down load=1 (letzter Zugriff: 09.02.2021).
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DDR im Museum
begründet wird. Während bei den anderen Themenbereichen lediglich die geförderten Einrichtungen aufgezählt und ihre Arbeit erläutert werden, ist dem dritten Bereich ein einleitender Paragraf vorangestellt, der normative Ansprüche an die Thematisierung von Gesellschaft und Alltag in der DDR formuliert. Darin heißt es: Das Alltagsleben in der DDR wird berücksichtigt, um einer Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur und jeder »Ostalgie« entschieden entgegenzuwirken. Dazu ist das alltägliche Leben notwendigerweise im Kontext der Diktatur darzustellen. Es muss deutlich werden, dass die Menschen in der DDR einer umfassenden staatlichen Kontrolle unterlagen und einem massiven Anpassungsdruck ausgesetzt waren, ebenso wie die Diktatur ihre Macht auch aus der Mitmachbereitschaft der Gesellschaft schöpfte. Die Instrumente und Mechanismen, derer sich die SED bediente, um die gesamte Gesellschaft und das Leben der Menschen in all seinen Bereichen ideologisch zu durchdringen, sollen benannt werden – von der Kinderkrippe über die Schule und die Universität bis hin zur Arbeitswelt und zur Freizeitgestaltung. Zugleich muss dokumentiert werden, wie und wo sich Menschen in der DDR dem Zugriff der Partei zu entziehen suchten.64 Der Alltagsgeschichte wird hier keine komplementäre Funktion zugedacht, etwa um ein differenzierteres Bild der DDR zu zeichnen, in dem es nicht nur Täter und Opfer, Gut und Böse gab. Stattdessen ist Alltagsgeschichte den anderen Themenbereichen eindeutig insofern untergeordnet, als dass sie lediglich der Stützung eines Narrativs dient, welches die Geschichte der DDR auf den diktatorischen Charakter ihrer Staatsapparate – eben genau auf die Begriffe Teilung, Grenze, Überwachung, Verfolgung, Widerstand und Opposition – reduziert. Die hegemoniale Stellung und institutionelle Verankerung dieser Form der DDR-Erinnerung im öffentlichen Diskurs lässt sich anhand der Vorgeschichte der Gedenkstättenkonzeption aufzeigen. Im Frühjahr 2005 setzte die – zu diesem Zeitpunkt noch rot-grüne – Bundesregierung eine Expertenkommission unter Leitung von Martin Sabrow ein, die ein neues Konzept für den staatlichen Umgang mit der Geschichte der DDR in der Öffentlichkeit ausarbeiten sollte. Ihr gehörten neben Historiker*innen und Ausstellungsmacher*innen auch Journalist*innen und Oppositionelle aus der DDR an.65 Ihre Empfehlungen, welche die Kommission schließlich am 15. Mai 2006 öffentlich präsentierte (die aber in Teilen schon Monate im Voraus an die Öffentlichkeit gelangt waren), lösten eine intensive und kontrovers geführte Debatte aus. Während das Expertenvotum in linken bis linksliberalen Zeitungen durchaus wohlwollend diskutiert wurde, stieß es in der konservativen
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Deutscher Bundestag: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption. Zur Zusammensetzung der Kommission vgl. Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, S. 8.
2. Die Musealisierung der DDR
Presse auf entschiedene Ablehnung.66 Gewohnt polemisch warf Hubertus Knabe der Kommission am 8. Mai in der Welt vor, ein »Aufarbeitungskombinat« errichten zu wollen, welches mit »staatlich geförderter Ostalgie« einer Verklärung der DDRGeschichte Vorschub leisten werde.67 Rückendeckung erhielt Knabe vom Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, Klaus Schroeder, der im Tagesspiegel vor »linke[n] Historiker[n] und Politiker[n]« warnte, die Gedenkstätten wie Hohenschönhausen »entschärfen« wollten und eine »Weichzeichnung der SED-Diktatur« betrieben.68 Die Abwahl der rot-grünen Regierungskoalition im September 2005 sei daher »ein Glücksfall für die zukünftige Aufarbeitung der DDR« gewesen, so Schroeder.69 Und tatsächlich wollte der neue Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) in den »Empfehlungen der Expertenkommission« lediglich einen »Denkbaustein für die weitere Meinungsbildung« sehen70 – bevor er sie dann als »Vorschläge, deren Richtung nicht akzeptiert werden kann«, zurückwies.71 Neumanns Stellvertreter Hermann Schäfer, Abteilungsleiter für Kultur und Medien im Kanzleramt, warnte vor einem »Paradigmenwechsel im Umgang mit der DDR-Diktatur« und einer »Relativierung des DDR-Unrechts«.72 Noch heftiger fiel die Kritik des Vize-Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag Arnold Vaatz aus, der in einem Interview mit der Märkischen Oderzeitung erklärte, durch die Empfehlungen der Kommission werde »die nostalgische Verklärung der DDR gestärkt.«73 Angesichts dieses »Crescendo[s] höflicher Distanzierung« bezweifelte Renate Oschlies in der Berliner Zeitung, »dass das Konzept der Expertenkommission künftig mehr wert sein wird als frühere Papiere«.74 Dabei existieren sowohl im Auftrag an die Kommission als auch in ihren letztlich ausgesprochenen Empfehlungen beachtliche Schnittmengen mit der zwei 66 67 68 69
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Ein umfangreicher Pressespiegel, der einen Großteil der im Folgenden zitierten Artikel enthält, findet sich bei ebd., S. 185–432. Knabe, Hubertus: Das Aufarbeitungskombinat. Merkwürdige Vorschläge zur Neuorganisation des DDR-Gedenkens, in: Die Welt, 08.05.2006. Schroeder, Klaus: Was wir vergessen, das war nicht. Auch in der DDR gab’s Alltag, aber der war nicht entscheidend, in: Der Tagesspiegel, 18.05.2006. Schroeder, Klaus: »Wir vergessen nichts«, in: Deutschlandfunk Kultur (21.05.2006), URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/wir-vergessen-nichts-100.html (letzter Zugriff: 17.03.2022). Pressemitteilung vom 12.05.2006, zit.n.: Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDRErinnerung, S. 198–199. Oschlies, Renate: »Nur ein Denkbaustein«. Minister geht auf Distanz zu DDR-Aufarbeitungskonzept, in: Berliner Zeitung, 16.05.2006. So Schäfer bei Übergabe des Kommissionsberichts am 15.05.2006, zit.n.: Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung, S. 249–250. Ohne Autor: Vaatz – Vorschläge zur neuen DDR-Aufarbeitung haben keine Chance, in: Märkische Oderzeitung, 12.05.2006. Oschlies: Nur ein Denkbaustein.
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Jahre später verabschiedeten Gedenkstättenkonzeption. So sollte die Kommission »ausgehend von einer »Bilanz der bisherigen Aufarbeitungstätigkeiten« und unter besonderer Berücksichtigung von Widerstand und Opposition […] Eckpunkte eines DDR-bezogenen Geschichtsverbundes […] formulieren«.75 Die von ihr erwartete inhaltliche Schwerpunktsetzung unterschied sich also kaum von jener der späteren Gedenkstättenkonzeption. Und analog zur 2008 befürchteten »Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur« konstatierte auch die Expertenkommission eine »zunehmende und insbesondere medial vermittelte Trivialisierung der DDR als politisches System, mit der gerade in jüngster Zeit vermehrt Versuche einer geschichtsrevisionistischen Negierung ihres Diktaturcharakters und einer Verächtlichmachung ihrer Opfer einhergehen.«76 Es war daher keineswegs die historisch-politische Beurteilung der DDR durch die Expertenkommission, die für ihre konservativen Kritiker den Stein des Anstoßes bildete – hierin stimmten ja beide Seiten weitestgehend überein – sondern lediglich die thematische Erweiterung des erinnerungskulturellen Feldes, welche die Kommission vorschlug: Künftig sollte im Rahmen eines »Aufarbeitungsschwerpunktes« mit dem Titel »Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand« auch der »Alltag in der durchherrschten Gesellschaft« in den Blick genommen werden.77 Dies würde es erlauben, so die Kommission, die »Bindungskräfte« greifbar zu machen, »die nach Schließung der DDR-Grenzen zumindest in den sechziger und siebziger Jahren zur relativen Stabilität der diktatorisch verfaßten Gesellschaft beigetragen haben und die von ideologischer Überzeugung über soziale Aufstiegsmöglichkeiten und wirtschaftliche Grundsicherung bis hin zu mißmutiger Loyalität reichten.«78 Denn schließlich könne »die vierzigjährige Existenz der DDR weder aus der Intensität der geheimpolizeilichen Verfolgung und Überwachung noch auch allein von der gewaltsamen Abriegelung ihrer innerdeutschen Grenze her ausreichend erfaßt und dargestellt werden«.79 Die Kommission warnte in diesem Zusammenhang eindringlich davor, »den erinnernden Umgang mit dem Leben in der Diktatur den unkritischen Sammlungen zur DDR-Alltagskultur [zu] überlassen, deren mediale und museale Konjunktur in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.«80
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Sabrow, Martin: Zur Entstehungsgeschichte des Expertenvotums, in: Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, S. 7–16, hier: S. 8–9. Die »Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur«, in: Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, S. 17–46, hier: S. 20. Ebd., S. 34–35. Ebd., S. 35. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35.
2. Die Musealisierung der DDR
Nüchtern betrachtet war Alltagsgeschichte auch in den Vorschlägen der Expertenkommission wenig mehr als ein Vehikel zur Herausstellung des diktatorischen Charakters der DDR. Zwar bemängelte die Kommission in ihren Leitlinien »eine gegenwärtige Vorrangstellung der öffentlichen Dokumentation staatlicher Repression gegenüber derjenigen von Widerstand und Anpassung, Ideologie und Parteiherrschaft sowie von Alltag in der Diktatur«.81 Doch in der dann geforderten Alltagsgeschichte ging es letztlich nicht um den Alltag der DDR-Bevölkerung selbst, sondern vielmehr um die ihn durchdringenden Herrschaftsmechanismen der Staatsapparate. Schon im Titel des entsprechenden »Aufarbeitungsschwerpunktes« findet sich die »Gesellschaft« eingeengt zwischen »Herrschaft« einerseits und »Widerstand« andererseits – was der stereotypen Vorstellung von einer dichotomen Gesellschaft aus Tätern und Opfern bereits sehr nahekommt. Und der Begriff »Alltag« steht wiederum im Text nie für sich allein, sondern stets in Verbindung mit der »repressiven« bzw. »durchherrschten« Gesellschaft oder mit dem »Widerstand einer diktaturunterworfenen Bevölkerung«.82 Trotzdem entzündete sich gerade am Begriff der »Bindungskräfte« heftige Kritik. Hubertus Knabe echauffierte sich in der Welt, ein solcher Fokus würde »beim Nationalsozialismus einen Aufschrei auslösen« und forderte eine Beschränkung »staatlicher Gedenkpolitik« auf »Opfergedenken« und »Widerstand«.83 Dem »unbeugsamen und unbequemen Hubertus Knabe« sprang Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel-Springer SE, bei, welcher der Expertenkommission einen »Geschichtsrevisionismus ganz eigener Art« vorwarf und schlussfolgerte: »Wenn sich ihr rosarotes Geschichtsbild durchsetzt, wäre das eine Verhöhnung der Opfer. Das Beste, was der Bundestag mit der Empfehlung der Experten tun kann, ist: ablehnen und ablegen.«84 Ganz ähnlich äußerten sich in einer gemeinsamen Stellungnahme die »Verbände der Verfolgten in der SBZ und der DDR«: Bei der »Beurteilung von Diktaturen« könne es »nur eine moralische Perspektive geben – nämlich die der Opfer.« Die von der Expertenkommission ins Auge gefasste »Perspektivenerweiterung« staatlicher Erinnerungspolitik würde daher eine »subtile Verharmlosung« der DDR bedeuten. Überhaupt sei es mit den in der DDR wirksamen Bindungskräften nicht weit her gewesen. »Im Gegensatz zum Votum der Expertenkommission«, so die Verbände, »ist jedem unbefangenen Beobachter klar, daß die DDR ohne Mauer und Unterdrückungsapparat nicht lebensfähig war und deshalb im Herbst 1989 entsprechend sang- und klanglos zusammenbrach.«85 81 82 83 84 85
Ebd., S. 21. Ebd., S. 34–35, S. 31. Knabe: Das Aufarbeitungskombinat. Döpfner, Matthias: Keine DDR light, in: Die Welt, 20.06.2006. Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG), Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), Forum Aufklärung und Erneuerung, Opfer-, Förder- und Dokumentationsverein Bautzen II (OFB), Help e.V.: Expertenkommission III. Stellungnahme der Ver-
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Schützenhilfe erhielten die »Opferverbände und diejenigen, die mit immer knapper werdenden Mitteln Tag für Tag an der Erinnerungsfront stehen« in der Welt von Ines Geipel, die sich offenbar in einem erbitterten Gefecht gegen das »AufarbeitungsSchlachtschiff« der Kommission und deren Umdeutung der »zweiten deutschen Diktatur« zur »DDR als schönstem deutschen Müsli-Land« wähnte.86 Die Kritik der Opferverbände teilte auch der Historiker Horst Möller vom Münchener Institut für Zeitgeschichte, der in der öffentlichen Anhörung der Expertenkommission am 6. Juni 2006 die Existenz der »vermeintlichen« und »von der Kommission behaupteten« Bindungskräfte vehement bestritt: Wo waren diese Bindungskräfte, als die sowjetische Unterstützung 1989 wegfiel? Es fehlen andere Bereiche vom Ende der vierziger und aus den frühen fünfziger Jahren, die man durchaus als Terrorherrschaft oder als Elemente einer Terrorherrschaft kritisieren kann. Es fehlen auch Bereiche über die von der SED installierte Klassenjustiz. Es fehlen weltpolitische Zusammenhänge und auch die millionenfache Fluchtbewegung, die »Abstimmung mit den Füßen« und die Mauer-Toten. Es wird nicht gesagt, wie solche unbestreitbaren Phänomene sich zu den vermeintlichen, von der Kommission behaupteten »gesellschaftlichen Bindungskräften« verhalten.87 Zwei Punkte scheinen mir an dieser Debatte bemerkenswert zu sein. Der erste Punkt betrifft die klassisch antikommunistischen Argumentationsmuster, welche die Kritik an den Empfehlungen der Expertenkommission dominieren. So erscheint beispielsweise in Möllers Ausführungen der Staatssozialismus als ein von außen aufgezwungenes und unveränderliches System, das über keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung verfügt habe und dem sich die Ostdeutschen geschlossen widersetzt hätten. Die SED wird somit zum parasitären Eindringling in die als harmonisch imaginierte, antikommunistische Gesellschaft stilisiert. Der zweite Punkt betrifft die völlige Abwesenheit einer Kritik von links an den Empfehlungen der Expertenkommission. Beispielsweise begnügte sich Tom Strohschneider im Neuen Deutschland (ND) damit, die angemahnte »Perspektivendifferenzierung«, d.h. die erinnerungskulturelle Berücksichtigung der »Aspekte des Alltags in der DDR«, zu loben und die Kommission gegen die Angriffe von Hubertus Knabe in Schutz
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bände der Verfolgten in der SBZ und DDR, zit.n.: Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung, S. 291–293. Geipel, Ines: Kleine, graue, miese DDR. Das Expertenpapier zur Aufarbeitung der SED-Diktatur markiert keinen Paradigmenwechsel, in: Die Welt, 09.06.2006. Wortprotokoll der öffentlichen Anhörung vom 06.06.2006, zit.n.: Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung, S. 54.
2. Die Musealisierung der DDR
zu nehmen.88 Und selbst die junge Welt beschränkte sich darauf, die vorgeschlagene Überführung der Akten der Behörde des Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen (»Birthler-Behörde«) ins Bundesarchiv süffisant als deren bevorstehende »Abwicklung« zu begrüßen.89 In einer Zusammenfassung ihrer Studie über Öffentliche und private Kontroversen um die Deutung der DDR-Vergangenheit konstatiert die Historikerin Pamela Heß bezüglich der Debatten um Sabrow-Kommission und Gedenkstättenkonzeption denn auch ein »nahezu gleichförmige[s] öffentliche[s] Erinnerungsbild der DDR, das sich überwiegend auf den Diktaturcharakter und die Herrschaftsmechanismen konzentriert« – und zwar »sowohl in den politischen Dokumenten, als auch in den überregionalen und regionalen Zeitungen.«90 Die Debatten können somit insgesamt als Gradmesser für die nahezu unangefochtene Hegemonie des Diktaturgedächtnisses im öffentlichen Diskurs zum geschichtskulturellen Umgang mit DDR-Vergangenheit gelesen werden. Unter Hegemonie verstehe ich dabei mit Martin Nonhoff »bestimmte Formierungen gesellschaftlichen Sinns […], an denen »man nicht vorbei kommt«, außerhalb derer man sich also schwer positionieren kann, wenn man innerhalb eines bestimmten Kontextes ernst genommen werden will.«91 Hegemonien definieren Räume des Sagbaren im öffentlichen Diskurs. Wenn also selbst eine Zeitung wie das ND sich auf die Verteidigung der Empfehlungen der Expertenkommission beschränkte, so verdeutlicht dies, wie hart an der Grenze des Sagbaren sich die Kommission mit ihren äußerst moderaten Vorschlägen zur »Perspektivendifferenzierung« und Analyse der »Bindungskräfte« der DDR bereits bewegte. Ich habe der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 2008 und der vorangehenden Debatte um die Empfehlungen der sogenannten Sabrow-Kommission deshalb so viel Raum gegeben, weil die Gedenkstättenkonzeption nicht nur den rechtlichen Rahmen absteckt, innerhalb dessen sich staatliche Museen und Ausstellungen zur DDR-Geschichte bewegen, sondern auch das diskursive Feld veranschaulicht, in dem sich die Musealisierung der DDR insgesamt abspielt. In diesem Kapitel soll es daher auch nicht um eine detaillierte Nachzeichnung der Geschichte dieses Musealisierungsprozesses seit 1989/90 gehen, denn diese ist in anderen Werken bereits ausführlich dargestellt worden.92 Und auch umfassende Ausstellungsanalysen würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen bzw. an ihrem eigentlichen Ziel vorbeigehen. Im Folgenden biete ich daher vor allem einen ersten Einblick in die fünf 88
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Strohschneider, Tom: Empfehlungen unter Vorbehalt. Die Debatte um die DDR-Geschichte wird mit den Expertenvorschlägen nicht beendet – im Gegenteil, in: Neues Deutschland, 15.05.2006. Wolter, Peter: Wird Birthler abgewickelt?, in: junge Welt, 10.04.2006. Heß: Gleichförmig statt vielfältig, 113, 118. Nonhoff, Martin: Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt »Soziale Marktwirtschaft«, Bielefeld 2006, S. 379. Vgl. Fußnote 15 auf Seite 10.
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DDR-Museen, aus denen meine Besucher*innenbefragungen stammen. Dabei ermöglicht mir die bereits recht umfassende Forschungsliteratur, den Fokus vor allem auf die Frage zu legen, wie die unterschiedlichen privaten und staatlichen DDRMuseen mit ihren jeweiligen Ausstellungen als »Indikator und Generator, als Resonanzraum für Erinnerungskultur« fungieren,93 wie sie sich also innerhalb des erinnerungskulturellen Feldes positionieren und es unter den gegebenen Bedingungen als handelnde Akteure mitgestalten.
2.4 Rekursive Sinngebungsstrukturen im Museum In Die Liebe zur Kunst schreiben Bourdieu und Darbel: »Das Kunstwerk als symbolisches Gut gibt es nur für denjenigen, der über die Mittel verfügt, es sich anzueignen, das heißt, es zu entschlüsseln.«94 Es ist wohl nicht mehr als ein eigentümlicher Zufall, dass zwei inzwischen für die Ausstellungs- und Rezeptionsforschung zentrale Konzepte – einerseits Ausstellungsmedien als verschlüsselte Bedeutungsträger und andererseits Medienrezeption als Akt der Aneignung – in diesem 1966 erschienenen Werk nicht nur auftauchen, sondern sogar aufs Engste miteinander verknüpft werden. Auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen aneignen und entschlüsseln werde ich in Kapitel 5 eingehen. An dieser Stelle möchte ich mich zum Zwecke der Ausstellungsanalyse kurz dem Gegenstück des Entschlüsselns zuwenden, also dem Verschlüsseln.95 Wenn wir Ausstellungen grundsätzlich als Medien begreifen, die (unter anderem) Geschichten erzählen und Botschaften vermitteln wollen, dann sind die Exponate, Texte, Gestaltungsmittel usw. einer Ausstellung ihre spezifischen Bedeutungsträger, mittels derer sie erzählt und vermittelt. Von Krzysztof Pomian stammt der treffende Begriff des »Semiophors«, des Zeichenträgers, für Exponate, die im Museum eben nicht mehr (nur) für sich selbst, sondern zugleich für etwas Drittes stehen sollen.96 Doch was dieses Dritte jeweils ist, ist dem Exponat selbst nicht unmittelbar anzusehen. Seine Bedeutung ist verschlüsselt und muss daher entschlüsselt werden. Den Vorgang des Verschlüsselns – d.h. der Sinngebung – können wir uns vergegenwärtigen, indem wir die Ausstellung mit einem Text vergleichen: So, wie ein einzelnes Wort erst dadurch mit Bedeutung aufgeladen wird, indem es innerhalb eines Satzes mit anderen Worten (und der Satz wiederum mit
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Pieper, Katrin: Resonanzräume. Das Museum im Forschungsfeld der Erinnerungskultur, in: Baur, Joachim (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2013, S. 187–212, hier: S. 188–189. Bourdieu; Darbel: Die Liebe zur Kunst, S. 69. Die folgenden Ausführungen beruhen vor allem auf Jana Scholzes Arbeit zur semiotischen Ausstellungsanalyse. Vgl. Scholze: Medium Ausstellung. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, S. 84.
2. Die Musealisierung der DDR
anderen Sätzen usw.) in Beziehung gesetzt wird, verhält es sich auch mit den Ausstellungsmedien: Das einzelne Objekt ist bedeutungsoffen, zu seiner Vereindeutigung bedarf es einer Einordnung in größere Sinnzusammenhänge (etwa ObjektText-Arrangements), die ihrerseits wiederum in größere Strukturen (etwa Themenräume) eingebettet sind. Die Ausstellung wird somit zu einem Raum rekursiv aufeinander bezogener Sinngebungsstrukturen, der auf verschiedenen Ebenen analysiert werden kann: Auf der untersten Ebene97 befinden sich einzelne Ausstellungsmedien (Exponate, Bilder, Texte usw.), die jeweils für sich allein betrachtet werden. Auf der nächsthöheren Ebene geht es um die Beziehungen zwischen diesen Medien, also darum, wie ihre spezifische Kombination neue Bedeutung hervorbringt. Sodann kann das Zusammenwirken einzelner Ausstellungsarrangements im Raum betrachtet und schließlich die Form der musealen Darbietung in Gänze analysiert werden.98 Die folgende Grafik (eigene Darstellung) veranschaulicht diese Sinngebungsstruktur.
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Natürlich können noch tiefere Ebenen (Teile eines Exponats, Sätze eines Begleittextes usw.), ebenso wie weitere Zwischenebenen, hinzugefügt werden. Wie in so vielen Fällen, in denen mathematische Konzepte auf die Geisteswissenschaften übertragen werden, ist auch meine Verwendung des Begriffs Rekursion hier nicht ganz sauber. Oder zumindest ist diskutabel in welche Richtung die Rekursion denn abläuft. »Um die Bedeutung von Ebene X zu entschlüsseln, betrachte die nächsthöhere Ebene«, wäre eine sinnvolle Operationsvorschrift. Doch auch das umgekehrte Vorgehen hat seine Berechtigung. Und bezüglich beider Verfahren muss konstatiert werden, dass sie für sich genommen einen je spezifischen Teil der musealen Bedeutungsproduktion nicht erfassen können.
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DDR im Museum
Rekursive Sinngebungsstruktur in Museen
Da es mir in diesem Kapitel vor allem um einen Überblick über die für meine Studie relevanten Museen geht, sind die folgenden Ausstellungsanalysen größtenteils auf der obersten Ebene dieser Strukturen angesiedelt, der Ebene der allgemeinen musealen »Präsentationsformen«.99 Unter »Präsentationsform« wird nach Scholze »die Ausstellungsgestaltung im weitesten Sinne verstanden, d.h. das Arrangement aller Präsentationsmedien von Ausstellungsobjekten über architektonische Konstruktionen, Vitrinen, grafische Materialien, Licht, Ton bis zu bewegten Bildern als konkreter räumlicher Umsetzung oder Übersetzung eines Ausstellungskonzepts.«100 Für europäische (Geschichts-)Museen unterscheidet Scholze paradigmatisch vier solche Präsentationsformen, die sie »Klassifikation, Chronologie, Inszenierung und Komposition« nennt:101 1. Klassifikation – ordnet Objekte »entsprechend ihrer Form und Funktion in typologische Klassen und Unterklassen«; typisch etwa für Naturkundemuseen zur Darstellung evolutionärer Entwicklungen. 2. Chronologie – entwirft eine lineare Erzählform, die einer stringenten »storyline« folgt und Objekte vorrangig zu deren Beglaubigung einsetzt; lange Zeit die klassische Präsentationsform historischer Ausstellungen. 3. Inszenierung – bezeichnet »mosaikhafte Präsentationen mit einem Bemühen um räumliche Imagination durch szenische Nachbauten«; die nachgestellte 99 Scholze: Medium Ausstellung, S. 13. 100 Ebd., S. 11. 101 Ebd., S. 28.
2. Die Musealisierung der DDR
WBS-70-Wohnung im Berliner DDR-Museum (s.u.) ist ein Paradebeispiel für diese Präsentationsform. 4. Komposition – spielt mit der Polysemie der ausgestellten Objekte, indem sie vielfältige und unerwartete Verbindungen zwischen diesen herstellt; im Gegensatz zur Inszenierung geht es nicht um die Erzeugung eines Eindrucks von historischer Authentizität, sondern um Irritationsmomente, die auch den Konstruktcharakter des Gezeigten offenlegen.102 Diese vier Präsentationsmodi werde ich in den nun folgenden Ausstellungsanalysen an geeigneten Stellen noch näher beleuchten. Dabei wird sich auch zeigen, wie eng sie unter Umständen an bestimmte museale Erzählweisen gekoppelt sind und inwiefern sie Aufschluss über bestimmte Bedeutungszuschreibungen und Vermittlungsabsichten geben können.
102 Vgl. ebd., S. 28. Anzumerken ist, dass insbesondere der Begriff der Inszenierung bei Scholze deutlich enger gefasst ist, als in den Museumswissenschaften üblich. So bezeichnet er bei Gottfried Korff und Martin Roth etwa noch »nichts anderes als die Anordnung und Installation der Objekte in einem Raum«. Korff, Gottfried & Roth, Martin: Einleitung, in: Korff, Gottfried & Roth, Martin (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a.M., New York 1990, S. 9–36, hier: S. 22.
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3. Ausstellungsanalysen
3.1 Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt »Nachher war viel zu lesen. Es waren schöne Sachen dabei, die man kennt.«1 Das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt ist das älteste der hier untersuchten Museen. Seine Gründung im Jahr 1993 fällt in eine Zeit, die in den neuen Bundesländern eine Vielzahl kleiner, privater DDR-Museen hervorbrachte, denen es vor allem um die Sammlung und Präsentation einer im Verschwinden begriffenen Objektkultur der DDR ging.2 Andererseits war der erinnerungskulturelle Diskurs dominiert von einer Abrechnung mit dem Herrschaftssystem der DDR, von »einer IM-Enthüllungswelle und eines Wiederauflebens der tot geglaubten Totalitarismustheorie«.3 Der geschichtspolitische Fokus »richtete sich […] auf das diktatorische System, die Rehabilitierung von Widerstand und Opposition sowie die deutsch-deutsche Politik«, so auch Kerstin Langwagen.4 Diese beiden gegenläufigen Tendenzen finden sich in der Gründungsgeschichte des Dokumentationszentrums vereint. »Die Ausstellung ist der bisherige Höhepunkt eines Trends: Allerorten sichten Wissenschaftler und Hobby-Archäologen derzeit die Zeugnisse der implodierten Republik«, schrieb der Spiegel anlässlich der Eröffnung der ersten 1 2
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Frau Greinert über ihren Museumsbesuch, Interview 5, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 23.09.2022. Von den Geschichts- und verwandten Wissenschaften sind diese Museen bisher kaum beachtet worden – und wenn doch, dann meist überaus herablassend. Ausnahmen stellen ein kurzer Aufsatz von Jonathan Bach sowie in Ansätzen die Dissertation Christian Gauberts dar. Und ja, ich bekenne, diese Vernachlässigung hier fortzuführen. Vgl. Bach, Jonathan: Collecting Communism. Private Museums of Everyday Life Under Socialism in Former East Germany, in: German Politics and Society (01/2015), S. 135–145; Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände? Rudnick, Carola: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011, S. 103. Langwagen: Die DDR im Vitrinenformat, S. 131.
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DDR im Museum
Ausstellung mit dem Titel »Tempolinsen und P2« im November 1995.5 Auch in Eisenhüttenstadt ging die Idee für ein alltagsgeschichtliches DDR-Museum ursprünglich von einem solchen »Hobby-Archäologen«, dem Berliner Schlosser Jürgen Hartwig, aus. »Hartwig besitzt vermutlich die größte private Sammlung von DDR-Alltagsgegenständen. 30 000 Stück hat der Mann seit der Wende auf Flohmärkten erstanden«, wusste der Spiegel zu berichten.6 Und diese stattliche Sammlung war in Liegenschaften der Stadt untergebracht. 1993 beauftragte die Stadtverordnetenversammlung das Städtische Museum Eisenhüttenstadt mit dem Aufbau eines Museums Alltagskultur der DDR unter Leitung des Westberliner Historikers Andreas Ludwig, der seit den 1980er Jahren in der Berliner Geschichtswerkstatt aktiv war.7 Zwar scheiterte die Kooperation zwischen Hartwig und dem Museum letztlich, beibehalten wurde jedoch der Grundgedanke einer partizipativen Sammlungsgestaltung auf Grundlage von Laienschenkungen. Im Vorlauf der ersten Ausstellung erläuterte Ludwig diese Idee in der Zeitschrift Bauwelt folgendermaßen: Das geplante Museum Alltagskultur der DDR versteht sich nicht als fertiges Produkt wissenschaftlicher und pädagogischer Anstrengungen, sondern als ein Ort, an dem Prozesse der öffentlichen Aneignung von Geschichte stattfinden. Zunächst einmal ist eine Museumsgründung ein öffentlicher Akt, dem eine breite und fortdauernde Beteiligung der Öffentlichkeit folgen sollte. […] Interpretiert man die Sammlung eines Museums […] als gegenständliche Dokumentation einer Gesellschaft, als eine spezifische Form ihres sozialen und kulturellen Gedächtnisses, so liegt es nahe, sie nicht allein als ein Ergebnis eines Auswahlprozesses von Museumsmitarbeitern, sondern ebenso als Ort dessen zu definieren, was einem Museum aus der Öffentlichkeit her zugetragen wird.8 Andererseits musste dieses alltagsgeschichtliche Paradigma im Kontext einer von auf Überwachung, Repression und Widerstand fokussierten öffentlichen Debatte möglichen staatlichen Geldgebern mindestens suspekt erscheinen, wenn es nicht gar den Verdacht erweckte, einer Verklärung der DDR Vorschub zu leisten. So weist Christian Gaubert darauf hin, dass das Dokumentationszentrum ungeachtet »des erheblichen Renommees, das sich das Haus in der Fachwelt erobern konnte, […] nie
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Ohne Autor: Etwas säuerlich. Ein DDR-Dokumentationszentrum im brandenburgischen Eisenhüttenstadt zeigt Relikte aus dem sozialistischen Alltag, in: Der Spiegel (46/1995), S. 48–51, hier: S. 48. Ebd., S. 51. Zur Entstehungsgeschichte des DOK Eisenhüttenstadt vgl. etwa Gigerenzer: Gedächtnislabore Eine stark auf den Erinnerungen Andreas Ludwigs aufbauende Erzählung hierzu findet sich auch bei Langwagen: Die DDR im Vitrinenformat, S. 211–244. Ludwig, Andreas: Alltagskultur der DDR. Konzeptgedanken für ein Museum in Eisenhüttenstadt, in: Bauwelt (21/1994), S. 1152–1155, hier: S. 1153.
3. Ausstellungsanalysen
in den Genuss einer institutionellen Förderung seitens des Bundes« gelang. »Weder die Empfehlungen der Enquetekommission noch die ein Jahr später verabschiedete erste Gedenkstättenkonzeption des Bundes mochten der Auseinandersetzung mit dem DDR-Alltag eine grundsätzliche Bedeutung oder gar Förderungswürdigkeit zubilligen.«9 2012 setzte der Deutsche Kulturrat das Museum auf die »Rote Liste Kultur«, nachdem ihm kommunale Zuschüsse gestrichen worden waren; auch der bis dahin bestehende Trägerverein des Museums löste sich Ende 2012 auf. Im selben Jahr konnte jedoch mit Projektfördermitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg eine neue (und bis heute zu besichtigende) Dauerausstellung eröffnet werden. Von 2013 bis 2015 wurde das DOK noch einmal als Abteilung des Städtischen Museums Eisenhüttenstadt betrieben, bevor es 2016 in die Trägerschaft des Landkreises Oder-Spree überging und seither vornehmlich vom Land Brandenburg finanziert wird.10 Die 2012 eröffnete Dauerausstellung folgt einer Mischung aus chronologischem und thematischem Aufbau, was auch dem Grundriss des denkmalgeschützten Gebäudes geschuldet sein dürfte, der nur wenig Spielraum für gestalterische Experimente lässt. Die Ausstellung wird dominiert durch einen langgezogenen Korridor, an dessen linker Wand eine Zeitleiste verläuft. Knapp beschriftete Alltagsgegenstände, Fotos, Plakate, Postkarten usw. erzählen eine Art chronologische Objektgeschichte der DDR von ihren Anfängen bis zu ihrem Untergang. Links und rechts des Korridors befinden sich Räume zu den Themen »Eisenhüttenstadt – Neue Stadt«, »Macht«, »Grenzen und Heimat«, »Bildung«, »Arbeit«, »Familie«, »Konsum«, »Kommunikation«, »Milieus« und »Lebensweise«. Ein eigener Raum ist zudem der Geschichte des Hauses als Kinderkrippe und deren Umbau zum Museum gewidmet.
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Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 176–177.Gemeint ist hier die von 1995 bis 1998 tätige Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«. Für weitere Details vgl. ebd., S. 169–184. Einen chronologischen Überblick über die Entwicklung des Museums bietet auch dessen Webseite unter https://www.utopieundalltag.de/ueb er-uns/#geschichte.
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DDR im Museum
Blick in die Dauerausstellung des DOK. Entlang der Wand zur Linken verläuft die Objektchronologie. Links und rechts des Korridors befinden sich die genannten Themenräume der Ausstellung.
Dieses breit gefächerte Themenspektrum kann als Ausdruck dessen gelesen werden, »dass es sich beim Alltagsparadigma nicht um einen thematischen, sondern um einen theoretischen Zugriff auf Geschichte handelt.«11 In einer von Andreas Ludwig verfassten Konzeption der aktuellen Dauerausstellung heißt es dementsprechend: Aufgrund gegensätzlicher Positionen zur DDR, der Analyse ihres Diktatur- und Repressionscharakters einerseits, verklärender Erinnerungskommunikation andererseits, bedarf es dringend einer Darstellung, die die alltagsbezogenen mit den politischen Perspektiven verbindet und sie in ein breites Umfeld gesellschafts-, kultur- und sozialgeschichtlicher Zusammenhänge setzt.12 Es ist bemerkenswert, wie eng sich diese Legitimierung an der Argumentationsstruktur der Gedenkstättenkonzeption des Bundes hinsichtlich des dort definierten
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Ludwig, Andreas: Einleitung. Dinge in der Zeitgeschichte und Zeitgeschichte der Dinge, in: Ludwig, Andreas et al. (Hg.): Zeitgeschichte der Dinge. Spurensuchen in der materiellen Kultur der DDR 2019, S. 9–26, hier: S. 14–15. Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 141.
3. Ausstellungsanalysen
Themenbereichs »Gesellschaft und Alltag« orientiert: Die Leser*innen erfahren zunächst, dass es »gegensätzliche[] Positionen zur DDR gibt«, nämlich eine, die auf deren politisches System fokussiert und eine, die sich aus lebensweltlichen Erinnerungen speist. Diese Positionen stehen sich jedoch nicht gleichberechtigt gegenüber, sondern die eine wird als richtig (analytisch), die andere als falsch (verklärend) markiert. Vor diesem Hintergrund kann der Alltagsgeschichte dann nur die Funktion zukommen, den Einfluss des diktatorischen Herrschaftssystems der DDR auf alle Lebensbereiche offenzulegen, um die »verklärende[] Erinnerungskommunikation« auf ihrem eigenen Feld zu schlagen. Ein Konzeptpapier ist eine Sache – es muss sich unter Umständen stark an Förderlogiken orientieren –, die tatsächliche Ausstellungsgestaltung eine andere. Christian Gaubert geht daher vielleicht etwas zu weit, wenn er die Ausstellungskonzeption des DOK angesichts der prekären finanziellen Lage des Museums als Kotau vor den geschichtspolitischen Vorgaben der Gedenkstättenkonzeption des Bundes interpretiert.13 Zumindest scheint die aktuelle Dauerausstellung gegenüber ihrer Vorgängerin jedoch einiges an Deutungsoffenheit und Assoziativität eingebüßt zu haben. Soweit dies zu rekonstruieren ist, arbeitete letztere vor allem im Modus der »Komposition« – also mit dem In-Beziehung-setzen polysemer Objekte, deren »ausschnittartige, abstrakte, oft gewagte und irritierende, manchmal provokante […] Präsentationen« den Konstruktionscharakter von Geschichte sichtbar machen und Ausstellungsnarrationen als »offene, relative, temporär gültige Interpretationen« kennzeichnen sollen.14 Laut Gaubert waren für die ehemalige Dauerausstellung des DOK fragend formulierte Begleittexte charakteristisch, die den Besucher*innen »nahezu vollständige Deutungshoheit über die ausgestellten Alltagsgegenstände überließ.«15 Demgegenüber haben die Begleittexte der aktuellen Dauerausstellung meist kommentierenden Charakter, beglaubigt durch Exponate, die häufig in recht eindeutige Narrative eingebunden sind. Die Zusammenstellung von Texten und Exponaten hat somit bisweilen etwas Entlarvendes an sich, folgt sie doch dem Credo, das diktatorische System der DDR im und durch den Alltag sichtbar zu machen. So finden sich beispielsweise im Bereich »Bildung« eine Kindernähmaschine und eine Spielzeugbohrmaschine ausgestellt, zu denen es heißt: Entgegen der vielfach betonten Gleichberechtigung von Mann und Frau wurden Frauen nicht nur häufig in schlechter bezahlte Berufsfelder gedrängt, auch in der DDR gab es eine geschlechtsspezifische Erziehung. Konstruktionsspiele richteten 13
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»Im Jahr 2013 durfte es sich mit seiner neuen Dauerausstellung als letztes Glied in die Seilschaft der diktaturbezogenen Alltagserinnerungen einreihen«, kommentiert Gaubert die Entwicklung des DOK spöttisch. Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 18. Scholze: Medium Ausstellung, S. 264–265. Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 174.
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DDR im Museum
sich in erster Linie an Jungen, während Handarbeitsspiele deutlich an Mädchen adressiert waren.16 Ähnlich heißt es über gezeigte Spielzeugsoldaten und -waffen: »Der Frieden musste bewaffnet sein, weshalb die Kinder in der DDR in unterschiedlichen Zusammenhängen mit Militärspielzeug spielen konnten«.17 Die hier behauptete Kausalität ist sicherlich nicht ganz falsch, fügt sich aber zugleich auffallend gut in ein stereotypes DDR-Narrativ ein, in dem Alltagsgegenstände nie für sich stehen können, sondern immerzu als Manifestation eines überideologisierten Systems gelesen werden. Umgekehrt ist mir keine Ausstellung bekannt, in der bundesrepublikanisches Kriegsspielzeug etwa als Beitrag zur Kindererziehung im Geiste der Wiederbewaffnung präsentiert wird.18 Die Narration des DOK stützt sich somit auf ein Text-Objekt-Verhältnis, das typisch für die von Scholze beschriebene Präsentationsform der Chronologie ist. In dieser werden Objekte an bestimmten Stellen der Erzählung »positioniert, um die beabsichtigten Inhalte zu stützen und in gewisser Weise zu legitimieren. Sie […] bestätigen und bezeugen die behaupteten Fakten und erzählten Geschichten als wahr, real und existent.«19 Es ist leicht ersichtlich, dass diese »ausschließlich zweckgebundene Einbindung der Objekte in Chronologien«20 zu einem Primat des Textes über das Objekt führt: Ersterer erzählt, letzteres beglaubigt die Erzählung. Da diese legitimatorische Funktion des Objekts aber im Widerspruch zu seiner grundsätzlichen Polysemie steht, ist die chronologische Präsentationsform häufig bestrebt, »Bedeutungen, die ein Objekt außerhalb oder unabhängig dieser [der zu vermittelnden] Inhalte besitzt, […] zu Gunsten der unbehinderten, unmissverständlichen Kommunikation zu unterdrücken«, so Scholze.21 In dieser Hinsicht ist die Objektauswahl in den einzelnen Themenräumen bemerkenswert, die auf subtile Weise ebenfalls der Logik der Chronologie folgt. Eine Zählung der Objekte im Ausstellungskatalog22 ergibt folgendes Bild: Im ersten
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Zit. nach: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): Alltag: DDR, S. 166. Ebd., S. 89. Der Bereich »Bildung«, insbesondere das dort gezeigte Militärspielzeug, wird uns in Interviewanalysen in den Kapiteln 6 und 7 noch wiederbegegnen, weshalb ich ihn an dieser Stelle herausgegriffen habe. Scholze: Medium Ausstellung, S. 122. Ebd., S. 123. Ebd., S. 123. Prinzipiell wäre auch eine Zählung in der Ausstellung selbst möglich gewesen, allerdings hätte eine solche einige methodische Schwierigkeiten mit sich gebracht: Was zählt als Exponat, was als gestalterisches Beiwerk? Werden Fotoserien u.Ä. einfach oder pro Bild gezählt? Wie ist mit unbeschrifteten Ausstellungsmedien zu verfahren? Die Zählung am Ausstellungskatalog zu orientieren, kam für mich letztlich einer Entscheidung gleich, die Beant-
3. Ausstellungsanalysen
Themenraum, Eisenhüttenstadt – Neue Stadt, überwiegen erwartungsgemäß Exponate aus den fünfziger (40,5 %) und sechziger Jahren (28,6 %), wohingegen die siebziger und achtziger Jahre zusammen lediglich auf 14,3 % kommen (16,7 % sind undatiert). In den Räumen »Macht«, »Heimat und Grenzen«, »Bildung«, »Familie« sowie »Arbeit« ist die Exponatverteilung gleichmäßiger, wobei Ausstellungsstücke aus den achtziger Jahren (25–28 %) und undatierte (28–52,2 %) stets den größten Anteil ausmachen. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht der Raum »Konsum« dar, in dem Exponate aus den sechziger Jahren mit 22,2 % am stärksten vertreten sind;23 im Raum »Heimat und Grenzen« liegen sie mit 21,4 % nur knapp hinter den achtziger Jahren (25 %). In den drei letzten Themenräumen nimmt der Anteil von Exponaten aus der Spätphase der DDR dann auffällig stark zu: Zum Thema Kommunikation stammen 37,1 % der Exponate aus den achtziger Jahren, während die Jahrzehnte von 1940–1979 insgesamt nur auf 20 % kommen (42,9 % undatiert). Im Raum Lebensweise stammen – abgesehen von 44,4 % undatierten – sämtliche Exponate aus den siebziger und achtziger Jahren. Und die Milieus werden nahezu ausschließlich anhand von Objekten und Fotografien aus dem letzten Jahrzehnt der DDR thematisiert – 71,9 % stammen aus den achtziger Jahren, lediglich 3,1 % aus den Siebzigern, der Rest ist undatiert.24 Wie kommt es zu diesem auffälligen Ungleichgewicht in der Exponatsverteilung? Zugespitzt gefragt: Wurde in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre nicht gelebt? Und wenn doch, waren die Menschen dann so vereinzelt, dass sie noch bis 1980 kaum miteinander kommunizierten? Im Ausstellungskatalog heißt es: »Zu allen Zeiten gab es Milieus, die sich dem Normierungsdruck zu entziehen verstanden«25 – doch warum haben es dann nur die »meist dem intellektuellen Milieu OstBerlins entstammenden alternativen Lebensentwürfe[]« der achtziger Jahre in die Ausstellung geschafft?26 Sicherlich ist die Prävalenz von Objekten aus der Spätphase der DDR auch damit zu erklären, dass es aus dieser Zeit einfach mehr materielle Hinterlassenschaften gibt als aus ihren Anfangsjahren. Dennoch ist es unzulässig, sich auf dieses rein technische Argument zurückzuziehen. Die Sammlung des DOK umfasst schließlich gut 170.000 Objekte, von denen lediglich wenige Hundert in der
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wortung dieser Fragen praktisch an die Verfasser*innen des Katalogs auszulagern und mich an ihrer Klassifikation zu orientieren. Allerdings sind hier 51,9 % der Exponate undatiert, was die Aussagekraft der Statistik erheblich einschränkt. Alle Angaben gemäß Durchsicht des Ausstellungskatalogs: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): Alltag: DDR. Ebd., S. 295. Gaubert, Christian: Alltag: DDR. Rezension für H-Soz-Kult (07.07.2012), URL: https://www.h sozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-157 (letzter Zugriff: 22.01.2021).
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DDR im Museum
Ausstellung gezeigt werden.27 Das Ungleichgewicht in der Überlieferung ließe sich also leicht durch ein Gegensteuern bei der kuratorischen Objektauswahl ausgleichen. Eine stichhaltige Begründung ist vielmehr darin zu suchen, dass bestimmten Zeitabschnitten im hegemonialen DDR-Diskurs bestimmte Themen zugeordnet sind. Insbesondere die achtziger Jahre sind dabei überdeterminiert durch Themen wie Opposition, Subkulturen, Überwachung und Mangel, wodurch ihre nahezu durchgängige Vorrangstellung in der Dauerausstellung des DOK erklärbar wird. Wie die folgenden Kapitel zeigen, lässt sich dieses Motiv in der ein oder anderen Weise auch in den übrigen hier betrachteten Ausstellungen zur Geschichte der DDR wiederfinden.
3.2 DDR-Museum Pforzheim – Lernort Demokratie »Wenn ich an die DDR denke … stelle ich mir eine Generation vor, die gelernt hat, nicht selbst zu denken, nicht Eigenverantwortung zu übernehmen und die Schuld immer Anderen zu geben.« 28 Das DDR-Museum Pforzheim ist bis heute das einzige Museum zur Geschichte der DDR in den westlichen Bundesländern der BRD. Seine Gründungsgeschichte weist einige Parallelen zu der des DOK Eisenhüttenstadt auf: Mit Klaus Knabe stand auch hier am Anfang ein privater Sammler, der sich um die Erinnerung an die DDR sorgte. Knabe, 1961 noch vor dem Mauerbau aus der DDR geflohen, begann nach der Grenzöffnung 1989 damit, »alles […], was über Nacht wertlos geworden war«, auf dem Dachboden seines Hauses in Pforzheim zu sammeln. »An der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, in ehemaligen Stasi-Gefängnissen und bei SammlerKollegen wurde ich fündig«, wird Knabe in der aktuellen Dauerausstellung des Museums zitiert.29 An diesem Zitat zeigt sich bereits ein zentraler Unterschied zwischen dem DOK Eisenhüttenstadt und dem DDR-Museum Pforzheim, welcher in der Lage der Museen und den Biografien ihrer jeweiligen Gründer- bzw. Sammler*innen begründet liegt. Während der Alltagshistoriker Ludwig in erster Linie an alltagskulturellen Objekten interessiert war und die Schenkenden im fern der 27 28
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Vgl. die Website des Museums: https://www.alltagskultur-ddr.de/sammlung/ Antwort auf einer mit »Wenn ich an die DDR denke…« bedruckten Karte, Raum 8 der Dauerausstellung (»Von der DDR zum vereinten Deutschland«), DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 15.08.2021). Klaus Knabe erinnert sich. Text auf einem Touchscreen, Raum 1 der Dauerausstellung, DDRMuseum Pforzheim (fotografiert am 29.08.2021).
3. Ausstellungsanalysen
westdeutschen Grenze lebenden Eisenhüttenstadt dem Museum auch vor allem solche vermachten, fokussierte der aus der DDR geflohene Pforzheimer Knabe seine Sammlungstätigkeit vor allem auf Objekte, die mit dem Grenz- und Herrschaftsapparat der DDR in Verbindung standen. Über eine Besichtigung der Sammlung, die damals noch auf Knabes Dachboden untergebracht war, schrieb der Redakteur der Pforzheimer Zeitung Thomas Kurtz 1998: »Die Tür geht auf, links ein Stück alter Grenzzaun, weiter hinten ein Trabi-Vorderteil, Uniform und überall Fotos, Plakate, Zeitungsausschnitte, […] Orden und Verdienstmedaillen.«30 Im gleichen Jahr bot die Stadt Pforzheim Knabe den Kindergarten einer verlassenen französischen Kaserne als Ausstellungsort für seine Sammlung an, wo das Museum bis heute untergebracht ist. 2000 übernahm der von Knabe und Unterstützer*innen gegründete Verein Gegen das Vergessen die Trägerschaft des Museums, die nach dem Tod seines Initiators im Jahr 2012 schließlich auf eine vom Verein mitgegründete Stiftung überging.31 Seit 2015 zeigt das Museum auf zwei Etagen seine aktuelle Dauerausstellung zur Geschichte der DDR; in den Kellerräumen befinden sich Nachbauten einer »Stasi-Untersuchungshaftzelle« und eines »Vernehmerzimmers« sowie ein mit »Spuren des Terrors« betitelter Raum mit Zellentüren verschiedener Haftanstalten und weiteren Ausstellungsmedien zum Haft- und Repressionssystem der DDR – alles »im Originalzustand der Museums-Konzeption des Gründers Klaus Knabe«, so der Ausstellungskatalog.32 Gestalterisch besteht ein starker Kontrast zwischen beiden Ausstellungsteilen: Die dunklen Kellerräume gleichen einer Mischung aus Inszenierung (der Keller soll insgesamt an ein Gefängnis erinnern; beispielsweise wird der Flur von roten Deckenlampen aus Stasi-Untersuchungshaftanstalt Neustrelitz beleuchtet) und einer Präsentationsform der Ausstellungsmedien, die sich als modernes Pendant der Wunderkammer bezeichnen lässt: An den Wänden des Raums »Spuren des Terrors« finden sich in loser Ordnung Zeitungsartikel, Buchcover, Zeichnungen, Kartenmaterial, kommentierende Begleittexte, handschriftliche Beschriftungen (das alles teils zu Collagen zusammengefügt), dazu ein Stalin-Porträt, eine NKWD-Uniform nebst »Echtheitszertifikat« sowie Erinnerungen und persönliche Gegenstände politischer Häftlinge.33 Die 2015 professionell neu gestalteten Ausstellungsräume 30 31
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Kurtz, Thomas: Vielfältige DDR-Sammlung sucht Museum. Stadträtin Christel Augenstein: Gelder von Bundesstiftung für Pforzheimer Ausstellung, in: Pforzheimer Zeitung, 16.05.1998. Einen kurzen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Museums bietet auch dessen Website unter https://www.pforzheim-ddr-museum.de/stiftung/ (letzter Zugriff: 29.03.2022). DDR-Museum Pforzheim: Ausstellungskatalog, Pforzheim 2015, S. 40. Dieser Eklektizismus, dessen Erschließung viel Geduld und Vorwissen von den Besucher*innen verlangt, ist in gewisser Hinsicht typisch für die frühen Amateurmuseen zur DDR-Geschichte und erinnert beispielsweise an die Ausstellungsgestaltung der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« in Leipzig.
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DDR im Museum
im Erd- und Obergeschoss sind dagegen durchgehend in einem lichten Blau gehalten und erzählen thematisch und chronologisch strukturiert eine Geschichte von »Gründung und Aufbau der DDR« bis zum »Prozess der Wiedervereinigung«. Dazwischen befinden sich Themenräume zum politisch-ideologischen System der DDR, zu Jugend, Ost-West-Kontakten und Konsum, Grenze und Flucht sowie Opposition und »Friedliche Revolution«. Dabei werden wo immer möglich lokale Bezüge zu Pforzheim hergestellt, gesellschaftliche Entwicklungen anhand individueller Schicksale veranschaulicht. Mit übersichtlichen Begleittexten, sich ergänzenden Medienarten, kleinen Ratespielen und weiteren interaktiven Elementen bewegt sich dieser Teil der Ausstellung auf dem Stand der Museumspädagogik und ist darauf ausgerichtet, auch von Besucher*innen ohne große thematische Vorkenntnisse selbstständig erschlossen werden zu können.
Links der Raum »Spuren des Terrors«, Dauerausstellung im Untergeschoss; rechts der Raum »Gründung und Aufbau der DDR«, Dauerausstellung im Erdgeschoss.34
Inhaltlich verfolgen beide Ausstellungsteile hingegen ähnliche Narrative, die sich lediglich in ihrer Eindeutigkeit und jeweiligen Schwerpunktsetzung voneinander unterscheiden. Der Raum »Spuren des Terrors« im Keller ist auf die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre in der SBZ/DDR fokussiert. Die verschiedenen Ausstellungsmedien behandeln unterschiedslos »Sowjetische Speziallager«, »Widerstand gegen das SED-Regime«, »Sowjetische Straflager (GULag)« und »Die politische Polizei der Sowjetunion«, sodass DDR und Sowjetunion tendenziell zu einem einheitlichen Terrorregime verschwimmen. Der Ausstellung scheint dabei jede Form von Widerstand gegen dieses System recht zu sein. Unter einer Zusammenstellung verschiedener Ausstellungsmedien über den in der antikommunistischen Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) aktiven und 1951 verhafteten Martin Hoffmann findet sich etwa auch ein Flugblatt, das eine mit Hammer und Sichel markierte rote Ratte zeigt, die von einer weißen Hand am
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Alle Fotos in diesem Kapitel wurden am 29.08.2021 aufgenommen.
3. Ausstellungsanalysen
Nacken gepackt wird. Daneben befindet sich auf schwarz-rot-gelbem Hintergrund der Schriftzug »Rattenbekämpfung ist nationale Pflicht«. Das Flugblatt wird in der Ausstellung wohlwollend als eine der »Aufklärungsschriften über die SEDDiktatur, wegen denen Martin Hoffmann »verhaftet« wurde« bezeichnet und nicht weiter kommentiert.35 Von diesem Ausstellungsraum erreichen die Besucher*innen anschließend über einen nachgestellten Gefängnisflur das »Vernehmerzimmer« und schließlich die »Stasi-Untersuchungshaftzelle«. In beiden Räumen sind das Mobiliar und weitere Exponate zwar meist undatiert, stammen größtenteils aber erkennbar aus späteren Jahrzehnten.36 Hinsichtlich der Beziehung zwischen Ausstellungsmedien und zeitlicher Struktur kann das DDR-Museum Pforzheim somit als Pendant zum DOK Eisenhüttenstadt verstanden werden: Während dort bestimmte Themen und Exponate für unterschiedliche Zeitabschnitte der DDR standen (sodass, überspitzt formuliert, in den fünfziger Jahren unterdrückt, in den siebziger Jahren konsumiert und in den achtziger Jahren alternativ gelebt wurde), erscheinen vierzig Jahre DDR-Geschichte hier als kontinuierliche Kellerhaft.37
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Der Zeitzeuge Martin Hoffmann – Widerstand gegen das SED-Regime, Collage im Raum »Spuren des Terrors« der Keller-Ausstellung, DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 29.08.2021). Inwiefern dieses Flugblatt tatsächlich in Zusammenhang mit Hoffmanns Verhaftung stand, ist allerdings unklar. Selbst entworfen hatte er es nicht. Und in dem mehrere Seiten umfassenden Begleittext, in dem er u.a. seine Tätigkeit in der KgU und seine Verhaftung schildert, erwähnt Hoffmann das Flugblatt mit keinem Wort. Seine Motivation zum Widerstand schildert er dort übrigens folgendermaßen: »Für mich persönlich konnte ich folgendes nicht hinnehmen: Einerseits das negative Bild von Deutschland (d.h. von 1933 bis 1945), welches uns Jugendlichen vermittelt wurde und andererseits das propagierte positive Bild der Siegermächte«, ist dort in einem der ersten Abschnitte zu lesen – ohne kritische Einordnung oder Distanzierung seitens des Museums. Inzwischen wurde das Flugblatt jedoch aus der Ausstellung entfernt. Zu den Hintergründen des Flugblatts und seiner Verbreitung vgl. Körner, Klaus: Ein »Phänomen« wird entlarvt. Antikommunistische Schriften gegen die DDR aus der Frühzeit der Bundesrepublik, in: Lokatis, Siegfried & Sonntag, Ingrid (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, S. 156–167. Eine Plakette am Eingang des »Vernehmerzimmers« informiert die Besucher*innen, dass dieses mit »Originalmobiliar aus dem STASI- Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen« eingerichtet wurde. Zu den wenigen beschrifteten Objekten gehören zwei bzw. drei Zellenklosetts (zwei Kübel und eines mit Wasserspülung), die als Hinweis auf eine allmähliche Verbesserung der Haftbedingungen in der DDR gelesen werden könnten. Das erste befindet sich im Raum »Spuren des Terrors« und ist ein einfacher Metalleimer »aus der Nachkriegszeit. 1945–50«. Ein zweiter Eimer mit aufgesetzter Klobrille (»bis zur Einführung von WCs in den 60er Jahren in allen Haftanstalten üblich«) steht in der nachgestellten Haftzelle, wo auch ein undatiertes WC mit Wasserspülung installiert ist.
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DDR im Museum
Briefe und Briefmarken zum »Postkrieg« zwischen BRD und DDR (s. unten). Darüber eine Sprechblase: »Stell Dir vor, du darfst nicht mehr sagen, was du denkst und Dich ungehindert mit anderen austauschen!«
Auch die Dauerausstellung im Erd- und Obergeschoss stellt den repressiven Charakter des sozialistischen Systems der DDR ins Zentrum ihrer Erzählung. Dies erfolgt häufig durch eine direkte oder indirekte Gegenüberstellung von Zuständen im »Unrechtsstaat« DDR mit einer idealisierten Vorstellung des bundesrepublikanischen Rechtsstaats. Erklärtes Ziel der Ausstellung ist es denn auch, es Besucher*innen zu ermöglichen, »sich mit menschenverachtenden Ideologien auseinanderzusetzen und den Wert von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu erkennen«.38 So sind an zahlreichen Stellen in der Ausstellung Fragen platziert, welche auf die Diskrepanz zwischen der Politik der SED und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufmerksam machen sollen. »Was könntest du tun, wenn dir der Staat dein Eigentum wegnehmen will?«, heißt es etwa in einer kleinen Sprechblase neben Ausstellungsmedien zur Bodenreform in der SBZ 1945/46 sowie zum Wirtschaftssystem der DDR allgemein. Darunter wird ein entsprechender Artikel aus der UN-Menschenrechtserklärung zitiert (»Artikel 17,2: »Niemand darf 38
Chronik des Museums, Text in Raum 1 der Dauerausstellung, DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 29.08.2021).
3. Ausstellungsanalysen
willkürlich seines Eigentums beraubt werden.«). Die weiteren Sprechblasen folgen größtenteils dem gleichen Muster, wobei die im Konjunktiv formulierten Fragen (»Was würdest du tun, wenn«; »Wie würdest du reagieren, wenn«) suggerieren, dass entsprechende Menschenrechtsverletzungen den heutigen Besucher*innen lediglich in Form von Gedankenspielen und keineswegs in der Realität begegnen.
Eingangsbereich des DDR-Museums Pforzheim. Die Eingangstür befindet sich rechts.
Ein weiteres Stilelement, mit dem die Ausstellung die Durchherrschung der DDR sichtbar zu machen sucht, ist das der Irritation. Beim Betreten des Museums finden sich an der Wand zur Rechten einige Exponate, die auf den ersten Blick als unscheinbare Alltagsgegenstände eines typisch »ostalgischen« DDR-Museums erscheinen können: Zwei Sandmännchen-Figuren, eine hin und her schaltende Ampel mit charakteristischen Ampelmännchen, zwei Einmachgläser, die Typenbezeichnung eines Trabants, ein handsigniertes Porträt von Sigmund Jähn sowie zwei Steinklumpen und ein paar Kohlebriketts. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die Einmachgläser jedoch als konservierte Geruchsproben des MfS; bei einem der vermeintlichen Steine handelt es sich in Wahrheit um geschredderte und mit Wasser verkollerte Stasi-Unterlagen, während der zweite Stein aus der 1985 gesprengten Berliner Versöhnungskirche stammt. Und das Porträtfoto von Sigmund Jähn trägt
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eine Widmung an Grenztruppen der DDR »für Euren verantwortungsvollen Dienst an unserer Staatsgrenze«.39 Ein solches irritierendes Element findet sich auch im nächsten Ausstellungsraum wieder, welcher die Hintergründe der deutschen Teilung, »Gründung und Aufbau der DDR«, deren politisches System sowie den Mauerbau behandelt. Die Kopfseite des Raums ist mit zahlreichen Orden und Abzeichen diverser Massenorganisationen, Kampagnen und Feierlichkeiten behangen, zwischen denen der Text der SED-Hymne Lied der Partei abgedruckt ist.40 Das Arrangement bezeuge, wie »das gesamte gesellschaftliche Leben […] von Massenorganisationen durchdrungen« gewesen sei – »alle […] unter der Kontrolle der SED«, wie es in den zugehörigen Exponatstexten heißt.41 Unter all die Orden und Abzeichen haben sich jedoch zwei Symbole geschlichen, die nicht wirklich dazugehören: Bei dem einen handelt es sich einen Aufnäher der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR mit dem bekannten Bibelzitat »Schwerter zu Pflugscharen«,42 bei dem anderen um eine Anstecknadel der Jungen Gemeinde (im Foto durch rote Kreise markiert). Beide sind nur minimal von den übrigen Abzeichen abgehoben, sodass die Ausstellung hier auf subtile Weise Fragen etwa nach dem Verhältnis von Opposition und Anpassung oder der Selbstpositionierung politisch aktiver Christ*innen in der DDR nahelegt.
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Signiertes Porträtfoto von Sigmund Jähn, Raum 1 der Dauerausstellung, DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 29.08.2021). Unter den ausgestellten Abzeichnen finden sich beispielsweise ein »Jungaktivist«-Orden der FDJ, ein quadratischer Anstecker mit der Aufschrift »Vietnam«, einer zu »30 Jahre Kampfgruppen der Arbeiterklasse«, eine »Ehrennadel« der »Organe der Rechtspflege der DDR« und viele weitere. Vitrine mit Abzeichen, Raum 2 der Dauerausstellung (»Gründung und Aufbau der DDR«), DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 29.08.2021). Ebd. Das Motiv des Aufnähers beruht auf der gleichnamigen Skulptur des sowjetischen Bildhauers Evgenij Vucetic, die 1958 auf der Brüsseler Weltausstellung gezeigt und im folgenden Jahr der UNO von der Sowjetunion geschenkt wurde. Ab den frühen 1980er Jahren wurde es von der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR verwendet und war folglich insofern strategisch geschickt gewählt, als dass es an staatssozialistische Bildsprache anknüpfte und den Machtapparat der DDR bei seinem Vorgehen gegen die Bewegung somit zumindest vor argumentative Herausforderungen stellte.
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Vitrine mit Abzeichen im Raum »Gründung und Aufbau der DDR«. Hervorhebungen hinzugefügt.
Ein drittes wiederkehrendes Element, dessen sich die Ausstellung bedient, sind Lokalbezüge zu Pforzheim: In den Themenbereichen »Grenzüberquerungen« sowie »Ankommen im Westen« werden beispielsweise Einzelschicksale von Menschen nachgezeichnet, die aus der DDR flohen, sich schließlich in Pforzheim niederließen und sich teils für das dortige DDR-Museum engagierten bzw. engagieren. Subtilere Lokalbezüge finden sich auch in weiteren Teilen der Ausstellung, etwa wenn es unter der Überschrift »Ost-West-Kontakte« um den sogenannten Postkrieg zwischen DDR und BRD geht. In einer Vitrine befinden sich dort Briefe aus und nach Pforzheim, deren Briefmarken aufgrund unliebsamer politischer Botschaften von der DDR respektive BRD nicht akzeptiert und teils geschwärzt wurden.43 Ferner präsentiert die Ausstellung zu bekannten historischen Ereignissen deren Darstellung in der Pforzheimer Zeitung. Dabei läuft sie jedoch (wie schon die Ausstellung im Keller) Gefahr, einem revanchistischen Antikommunismus Vorschub zu leisten: Eine Vitrine zum 17. Juni 1953 zeigt ein Plakat des Volksbunds für Frieden und Freiheit, darunter berichtet die Pforzheimer Zeitung von »Streiks in der Zone«. Am 14. August 1961 titelt sie zum Mauerbau »Mitteldeutschland über Nacht vom freien Berlin abgeriegelt«.44 Eine politisch-historische Einordnung des
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Vitrine mit entsprechenden Briefen, Raum 4 der Dauerausstellung (»Ost-West-Kontakte«), DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 29.08.2021). Vitrine in Raum 2 der Dauerausstellung (»Gründung und Aufbau der DDR«), DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 29.08.2021).
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von hochrangigen NS-Funktionären gegründeten Volksbunds45 und der Begriffe »Zone« und »Mitteldeutschland« sucht man vergebens. Anstatt die gezeigten Exponate in ihrer Historizität kritisch zu befragen, erhalten sie in der Ausstellung lediglich dokumentierenden Charakter und fungieren als Mittel zur Beglaubigung des Ausstellungsnarrativs. Dass hierzu auch das Bildmaterial einer eindeutig faschistischen Organisation unkritisch herangezogen wird, ist höchst bedenklich. Davon abgesehen ist das Verhältnis von Exponaten, Ausstellungstexten und Präsentationsform im DDR-Museum Pforzheim bemerkenswert. Die Ausstellungsräume tragen die Titel »Gründung und Aufbau der DDR«, »Jugend in der DDR«, »OstWest-Kontakte«, »Die Grenze«, »Ankommen im Westen«, »Die Friedliche Revolution« sowie »Von der DDR zum vereinten Deutschland« (der erste Raum ist unbetitelt).46 Bereits diese Titel lassen eine Präsentationsform erkennen, die sich durch eine Kombination aus chronologischer Ordnung und thematischen Schwerpunktsetzungen auszeichnet und damit (im Gegensatz zu den Kellerräumen) der bereits erörterten Ausstellungsgestaltung des DOK Eisenhüttenstadt gleicht. Und ebenso wie dort lässt sich auch im Pforzheimer DDR-Museum zeigen, wie bestimmte Themen bestimmten Zeitabschnitten zugeordnet werden: Jugend, Konsum und Ost-West-
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Gegründet wurde der Volksbund für Frieden und Freiheit (VFF) 1950 in Hamburg von acht »Geheimdienst- oder Propagandaaktivisten des Dritten Reiches« (Friedel, S. 44, s.u.). Federführend waren dabei die beiden früheren NSDAP-Mitgliedern Franz Wilhelm Paulus (in der Weimarer Republik Mitglied des reaktionären Deutschen Herrenklubs) und Eberhard Taubert (Partei- und SA-Mitglied seit 1931, ab 1939 Leiter des Instituts zum Studium der Judenfrage, Drehbuchschreiber des antisemitischen Propagandafilms Der ewige Jude, ab 1942 Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung Ost des Propagandaministeriums). Erster Vorsitzender wurde der faschistische Schriftsteller Jürgen Hahn-Butry (in der Weimarer Republik zunächst Freikorps-Mitglied, dann Mitarbeiter beim antisemitischen Hammer, ab 1933 stellvertretender »Führer« der Mannschaft – Kameradschaft der Frontdichter, im Zweiten Weltkrieg als Angehöriger der Propagandakompanie für das Oberkommando der Wehrmacht in Jugoslawien und im Kaukasus tätig). Die Bundesrepublik stellte dem VFF Zeit seines Bestehens jährlich Mittel in Höhe von mehreren Hunderttausend bis über eine Million DM zur Verfügung. Hinzu kamen bis Mitte der fünfziger Jahre Mittel in weitgehend unbekannter Höhe aus den USA. Mit diesen Geldern wurden neben antikommunistischer Propaganda auch Aufbau und Vernetzung anderer antikommunistischer Organisationen gefördert. 1952 erhielt etwa der Bund Deutscher Jugend (BDJ), eine von den USA aufgebaute Stay-Behind-Organisation 15.000 DM vom VFF. Der BDJ hatte für den Fall eines Krieges mit der Sowjetunion u.a. Namenslisten hochrangiger SPD-Politiker und mehr oder weniger linker Personen angelegt, die »aus dem Verkehr gezogen« werden sollten. Vor dem Hintergrund der einsetzenden Entspannung zwischen BRD und DDR nannte sich der VFF 1970 in Arbeitsgemeinschaft Staat und Gesellschaft um und mäßigte in den folgenden Jahren allmählich seinen radikalen Antikommunismus. Vgl. Friedel, Mathias: Der Volksbund für Frieden und Freiheit (VFF). Eine Teiluntersuchung über westdeutsche antikommunistische Propaganda im Kalten Krieg und deren Wurzeln im Nationalsozialismus, St. Augustin 2001. DDR-Museum Pforzheim: Ausstellungskatalog, S. 6–36.
3. Ausstellungsanalysen
Kontakte spielen sich im Ausstellungsnarrativ vor allem in den siebziger Jahren ab, vorher treten sie gegenüber dem repressiven Staat und nachher auch gegenüber der kirchlichen Oppositionsbewegung vollkommen in den Hintergrund. Andererseits spielt die – eigentlich chronologisch aufgebaute – Ausstellung mit einer Art »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, mit zeitlich deplatzierten oder auch wiederkehrenden Exponaten: Wer das Museum betritt, schaut zunächst auf ein großformatiges schwarz-weiß Wandfoto der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989, auf das die bekannte Parole »Wir sind das Volk« aufgedruckt ist. Rechts daneben steht eine schwarz-rot-goldene Grenzsäule mit Staatswappen der DDR. Im Obergeschoss der Ausstellung treffen die Besucher*innen dann erneut auf ein großformatiges Schwarz-Weiß-Foto; dieses Mal ist es mit »Wir sind ein Volk« betitelt und zeigt die Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989. Auch die Grenzsäule taucht wenig später wieder auf, nun jedoch nicht mehr aufrecht stehend, sondern zertrümmert in einer Vitrine liegend.47
Links: Wandfoto und Grenzsäule im Eingangsbereich des Museums. Oben: Wandfoto im Flur im Obergeschoss des Museums. Unten: Zertrümmerte Grenzsäule im Raum »Von der DDR zum vereinten Deutschland«.
Das Ausstellungsnarrativ erhält dadurch etwas Teleologisches und Zyklisches zugleich: Die Geschichte der DDR wird mehr oder weniger von ihrem Ende her erzählt; der Einstieg erfolgt über die Proteste im Herbst 1989. Dass das Foto der Leip47
Bei meinem ersten Aufenthalt in Pforzheim erläuterte mir ein Mitarbeiter des Museums, dass der Zustand der Grenzsäule dem Zufall geschuldet sei. Angeblich war sie Klaus Knabe beim Abtransport von der bayrisch-thüringischen Grenze einfach kaputtgegangen.
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DDR im Museum
ziger Montagsdemonstration neben einer Grenzsäule angebracht ist, verweist bereits auf die ein Jahr später vollzogene deutsche Einheit. Diese Lesart wird durch das Wiederaufgreifen beider Motive im Obergeschoss noch einmal verstärkt. Das Ende der Ausstellung rekurriert auf ihren Anfang, sodass der Untergang der DDR letztlich als etwas Natürliches, in ihrer Gründung bereits Angelegtes erscheinen muss.
3.3 DDR-Museum Berlin »Man […] wartet darauf, im Innern weiter warten zu dürfen, ohne bereits recht zu verstehen, worauf eigentlich.«48 Unter den hier diskutierten Museen nimmt das Berliner DDR-Museum in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein: Es zählt mit Abstand die meisten Besucher*innen, wird als private GmbH geführt und erhält keinerlei staatliche Unterstützung, wodurch es auch keinen inhaltlichen Vorgaben durch die Gedenkstättenkonzeption des Bundes oder öffentlichen Geldgebern unterliegt. Seine Gründungsgeschichte ist hinlänglich bekannt, weshalb ich mich darauf beschränke, sie in aller Kürze anhand der drei großen Ausstellungsbereiche des Museums nachzuzeichnen.49 2005 gründete der Ethnologe Peter Kenzelmann gemeinsam mit dem Kulturmanager Robert Rückel die DDR Museum Berlin GmbH, die im Jahr darauf ihre erste Dauerausstellung an der Berliner Museumsinsel eröffnete. Diese behandelte auf circa 400 Quadratmetern vor allem alltagsgeschichtliche Themen; 2010 wurde sie um einen zweiten (etwa ebenso großen) Teil erweitert, der Fragen bezüglich des politischen Systems, der Wirtschaft und Ideologie in den Blick nahm. 2016 kam schließlich ein dritter Ausstellungsbereich hinzu, der aus einer etwa 120 Quadratmeter großen, komplett begehbaren Nachstellung einer vermeintlich typischen WBS-70-Dreiraumwohnung besteht.50 Da die sukzessive Erweiterung des Museums dessen jeweils bereits bestehende Ausstellungsbereiche
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Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände? Schilderung seiner Ankunft am Museum an einem offenbar besonders gut besuchten Tag. Für mehr Informationen s. etwa Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 173–183.; Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 126–135. »WBS« steht für »Wohnungsbauserie«. Die Größe der Räume ist im Museum an die Erfordernisse des Besuchsverkehrs angepasst. Eine Dreiraumwohnung dieser Bauart verfügt normalerweise über eine Gesamtfläche von circa 70 Quadratmeter. Eine Fünfraumwohnung bringt es auf 100–110 Quadratmeter. Entsprechende Grundrisse finden sich etwa auf dem »Plattenbaukulturportal der WBM. Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte«: https://www.jeder-qm -du.de/ueber-die-platte/plattenbau-typen/wbs-70/(letzter Zugriff: 21.11.2022).
3. Ausstellungsanalysen
zumindest gestalterisch weitgehend unverändert ließ, können diese auch als drei unterschiedliche Zeitschichten eines spezifischen Versuchs der Musealisierung der DDR betrachtet werden.51
Übersichtsplan des Berliner DDR-Museums.52
Unter dem Titel »Öffentliches Leben« betreten die Besucher*innen zunächst den ältesten Teil der Ausstellung. Den Eingang bildet ein Drehkreuz mit Fußgängerampel, an dem die Eintrittskarte eingescannt werden muss. Das ikonische Ampelmännchen springt von rot auf grün und das Drehkreuz kann passiert werden. Gleich dahinter befindet sich eine recht unscheinbare Texttafel mit der Überschrift »Chronologie. Ein Staat kommt und geht«, auf der ein längerer Einführungstext einen Überblick über die Geschichte der DDR gibt. Sechs Daten sind in diesem Text farblich hervorgehoben: Der 8. Mai 1945 (Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg), der 7. Oktober 1949 (Staatsgründung der DDR), der 17. Juni 1953 (Aufstand), der 13. August 1961 (Abriegelung der Sektorengrenze nach West-Berlin), der 21. August 1968 (Niederschlagung des »Prager Frühlings«), der 9. November 1989 (Maueröffnung) sowie der 3. Oktober 1990 (Vereinigung von DDR und BRD). Diese beiden
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Laut Göschl wurden im Zuge der letzten Erweiterung die Themen Jugend, Staatssicherheit, Wohnungsbau, Wohnen, Familien, Mode und Kultur vom ersten in den neuen dritten Ausstellungsbereich verlegt. Vgl. Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 226. Alle Fotos in diesem Kapitel wurden am 10.08.2022 aufgenommen.
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Eingangsmomente (Ampel und Texttafel) können als gegensätzliche Anzeichen für den weiteren Charakter der Ausstellung verstanden werden: Während der Text auf eine klassisch chronologisch-teleologische Diktatur- und Befreiungserzählung hindeutet, lässt die Ampel auf einen eher spielerischen Umgang mit Geschichte schließen. Diese Gegensätzlichkeit setzt sich im ersten Ausstellungsraum gestalterisch fort: Der Raum wird dominiert von circa 1,80-Meter hohen grauen Plattenbauten, die als Stellwände dienen. An und in ihnen sind zahlreiche Ausstellungsmedien untergebracht. Klappen und Schubladen verstecken sich im Grau der Wände/ Gebäude, sodass ihre Entdeckung einen Einblick in die innere Lebenswelt der DDR zu versprechen scheint. Diese Optik wird im Höhepunkt des ersten Ausstellungsbereichs wieder aufgegriffen: Nahe des Eingangs steht ein weißer Trabant, in den sich die Besucher*innen hineinsetzen können und auf dessen Windschutzscheibe eine fiktive Plattenbausiedlung projiziert ist, durch die der Trabant mit laut brummendem Motor gesteuert werden kann. Für Christian Gaubert suggeriert »die Gestaltung der Ausstellung – als scheinbar vollständige und klar gegliederte Abbildung der DDR als Plattenbausiedlung – […] ein vermeintlich in sich geschlossenes, durchorganisiertes und genormtes System, das sich scheinbar mühelos aneignen lässt.«53 Folgt man dieser Lesart, dann transportiert die Ausstellungsgestaltung die klassischen Topoi des Diktaturgedächtnisses. Das ist einerseits sicherlich korrekt, andererseits versinnbildlicht sie darüber hinaus aber auch Bernd Schönemanns Diktum von der »Geschichte als Erlebnis« in der Postmoderne: Innerhalb dieses geschichtskulturellen »Leitmusters« verspricht die Auseinandersetzung mit Geschichte weder lebenspraktischen Nutzen (»Geschichte als Nutzen«) noch kulturelles Kapital (»Geschichte als Bildung«), sondern Unterhaltung durch das sinnliche Eintauchen in eine andere (vergangene) Lebenswelt.54 Das zeigt sich besonders deutlich im dritten Ausstellungsbereich, der nachgestellten WBS-70-Wohnung des Museums. Über eine Fahrstuhlkabine betreten die Besucher*innen eine vermeintlich typische Plattenbauwohnung mit Küche, Bad, Schlaf-, Kinder-, und Wohnzimmer. So eine Wohnung sei für die Menschen damals »ein großes Glück« gewesen, berichtet der Bereichstext: Die neue Wohnung wurde mit Liebe und Sorgfalt ausgestattet. Beim Einrichten waren die genormten Maße für den Kauf von Möbeln, Waschmaschine und Küchenzeile von Vorteil. Und wenn es ein bisschen wie in der Nachbarwohnung aussah – na und? Allerdings lästerten böse Zungen: Wenn morgens die Gattin eine
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Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 143. Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, S. 47–50.
3. Ausstellungsanalysen
ungewohnte Haarfarbe hat und die Zahnpasta anders schmeckt – dann ist man abends wohl versehentlich in die falsche Wohnung gegangen.55 Der Text charakterisiert Wohnen in der DDR als eine ins Absurde gesteigerte Einförmigkeit. Diese Einförmigkeit betrifft zunächst einmal alle; allerdings ist auch hier der »leere Platz der Universalität« vom heterosexuellen Mann besetzt, der nach Belieben über die Neubauwohnungen der DDR und die darin befindlichen Gattinnen verfügen kann. Auf andere Weise verfügen auch die Besucher*innen über die Museumswohnung: Fast alles kann angefasst, durchstöbert und ausprobiert werden. Laut Selbstdarstellung des Museums stammt das Inventar der »originalgetreu«56 eingerichteten Wohnung zum Großteil aus einem »Plattenbau in Dessau […], der kurz vor der Sanierung stand und aus dem wir sämtliche Einrichtungselemente retten konnten, die es braucht, um eine Wohnung zu DDR-Zeiten authentisch einzurichten.«57 Auf den ersten Blick erscheint die Ausstellungsgestaltung des DDR-Museums somit als Paradebeispiel für die von Scholze beschriebene Präsentationsform der Inszenierung. Worin sie sich jedoch von dieser unterscheidet, ist, dass es im DDRMuseum allenfalls vordergründig um die »Kombination von Museumsobjekten entsprechend einem historischen Kontext«, d.h. um den »Versuch eines Wiederherstellens ehemaliger Gebrauchs- oder Funktionszusammenhänge der Museumsobjekte« (hier als Wohnungseinrichtung), geht.58 Ziel der Darstellung ist nicht in erster Linie die Herstellung eines authentisch wirkenden Gesamteindrucks des Themenbereichs (hierin liegt, wie das folgende Kapitel noch zeigen wird, der wesentliche Unterschied zur Ausstellungsgestaltung des Museums in der Kulturbrauerei), sondern vielmehr das Spiel mit »Authentizitätsfiktionen«,59 die immer wieder ironisch gebrochen werden: In einer Hörstation im Wohnzimmer können Besucher*innen ihre Lieblingsbands in die hauseigenen Museumscharts wählen; beim Blick aus dem digitalen Fenster sehen sie immer mal wieder einen Karl-Marx-Ballon über den Alexanderplatz schweben.60
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Neubauwohnung. Das kleine Glück im großen Block, Bereichstext im Raum »Leben im Plattenbau«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 29.06.2021). So die Website des Museums: https://www.ddr-museum.de/de/sammlung/ausstellung (letzter Zugriff: 01.09.2022). Bartholomäus, Maria: Das Wohnzimmer (Teil 2). Durch und durch ein Original (11.10.2016), URL: https://www.ddr-museum.de/de/blog/archive/das-wohnzimmer-teil-2-durch-und-dur ch-ein-original (letzter Zugriff: 10.02.2022). Scholze: Medium Ausstellung, S. 149. Pirker, Eva Ulrike et al. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld 2010. Dass es sich bei diesem Ballon um eine Erfindung des Museums handelt, wird nicht erwähnt.
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Bei Tag und Nacht dreht Marx im DDR-Museum seine Runden über Ost-Berlin (digitale Fenster in der nachgestellten Wohnung des Museums).
»In Staat und Gesellschaft herrschte die Partei, im Wohnzimmer herrschte die Gemütlichkeit«,61 erklärt der auf die Blümchentapete gedruckte Bereichstext des Zimmers, dessen Aussage dadurch eine subtile Wendung gewinnt, dass an die Wohnung ein »Abhörzimmer« angeschlossen ist, von dem aus die verwanzte Wohnung überwacht werden kann. Dieses Spiel mit Klischees lässt sich auch in den anderen Ausstellungsbereichen beobachten: Auf dem Funktionärsschreibtischs, der den Ausstellungsbereich »Partei und Staat« dominiert, liegt ein Programm des Kulturbundes der DDR von Oktober 1987, in dem der imaginierte Schreibtischinhaber eine Veranstaltung mit dem Titel »Numismatik, Tausch« rot umrandet hat. In den Schreibtischschubladen hat dieser Prototyp eines DDR-Funktionärs (den der entsprechende Objekttext als schlecht gekleidet, »übermüdet, unrasiert und grau im Gesicht« beschreibt) u.a. eine gestreifte Krawatte, eine Pistole, eine Ausgabe des Magazins »Der deutsche Straßenverkehr« sowie drei Schnapsflaschen deponiert. Hinter seinem Rücken hängen digitale Porträts von Marx, Engels und Lenin an der Wand, die mit beweglichen und blinzelnden Augen im Raum umherschauen.62
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Wohnzimmer. Trautes Heim, Bereichstext im Raum »Leben im Plattenbau«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 29.06.2021). Partei. Schreibtische der Macht, Objekttext und Exponatarrangement im Raum »Partei und Staat«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 29.06.2021).
3. Ausstellungsanalysen
Schreibtisch mit integriertem Touchscreen. Von der Wand am Kopfende aus wachen Marx, Engels und Lenin über das Geschehen.
Kritisch betrachtet ist das alles natürlich recht unwissenschaftlich, museumsdidaktisch bedenklich und bisweilen einfach sehr platt antikommunistisch. Wohlwollend könnte dem Museum aber auch ein Darstellungsmodus im Sinne von »truth has the structure of fiction«63 attestiert werden: Die blinzelnden Porträts der kommunistischen Klassiker verkörpern die »tausend Augen« der Partei,64 die alles zu sehen beansprucht und doch nur die Schaltstellen bürokratischer Herrschaft ihrer eigenen Funktionäre zu überblicken vermag. Und selbst diese Herrschaft ist in dieser Darstellung mehr Schein als Sein, hinter der imposanten Fassade verbirgt sich deprimierende Resignation, über die letztlich nur noch der Rückzug in spießige Freizeitbeschäftigungen und im Zweifelsfall der Alkohol hinwegzutrösten vermögen.65 63 64 65
Lacan, Jacques: The Ethics of Psychoanalysis 1959–1960. The Seminar of Jacques Lacan Book VII (Edited by Jacques-Alain Miller), New York 1992 (franz. Original Paris 1986), S. 33. Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Zwei Fassungen, Anmerkungen, Frankfurt a.M. 1998, S. 69. Wäre dieser Ausstellungsbereich des DDR-Museums nicht vor dem Museum in der Kulturbrauerei eröffnet worden, so hätte man dieses Schreibtischarrangement als ironisches Zitat
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Zwei gegenläufige Tendenzen lassen sich somit in der Dauerausstellung des Berliner DDR-Museums ausmachen, welches einerseits seit einigen Jahren sichtlich um Anerkennung im akademischen Wissenschaftsbetrieb bemüht ist und sich andererseits als erlebnisorientierter Gegenpol zu den verstaubten Vitrinenlandschaften herkömmlicher Museen inszeniert. Diese Ambiguität dürfte mit dazu beitragen, dass die Lesarten des DDR-Museums in wissenschaftlichen Publikationen ein erstaunlich breites Spektrum umfassen.66 Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang zwei Ausstellungsanalysen Christian Gauberts, aus denen ich hier bereits mehrfach zitiert habe. Dort erscheint das Museum mal als »Gruselkabinett«, dessen Themenbereich »Partei und Staat« mit seiner »Aura einer unterirdischen Schaltzentrale des Kalten Krieges« an James-Bond-Filme oder »Stanley Kubricks »War Room« aus »Dr. Strangelove« erinnere. Dann wiederum wird der Aufenthalt im »Erlebnispark« DDR-Museum als »ein spielerisches Gemeinschaftserlebnis« interpretiert, in dem die »Besucher regelrecht wie ins Spiel vertiefte Kinder« und die Ausstellung »als ein übergeordnetes Einfühlungsangebot in das gesellschaftliche Miteinander im einstigen Kollektivstaat« erscheinen.67 Mal zeigt sich Gaubert beeindruckt von der »demonstrierten Leichtigkeit«, mit der das Museum eine »Entzauberung« des Machtanspruchs der SED vornehme und Alltagsleben und Diktatur miteinander verknüpfe.68 Lobend hebt er den gelungenen »Versuch einer Auflösung des Widerspruchs zwischen Nostalgie und Aufarbeitung« hervor – nur um kurz darauf zu konstatieren, »dass viele Besucher die Ausstellung – trotz ihres vordringlichen Unterhaltungsanspruchs – als eine ernst zu nehmende Bildungseinrichtung missverstehen.«69 Im Museum würde bisweilen »unhinterfragt die nicht immer sehr rationale Weltsicht der ehemaligen Staatsorgane übernommen«, es sei
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seines Pendants im Prenzlauer Berg lesen können: Die blinzelnden Marx, Engels und Lenin ersetzen den verschmitzt blickenden Honecker; anstatt von Literatur zur Verbesserung der Planwirtschaft zu lesen, beschäftigt sich unser imaginärer Funktionär nun mit dem Sammeln von Münzen und statt Propagandafotos gibt es Alkohol in den Schubladen. Überhaupt böte eine Schreibtisch-Anthologie der DDR-Museen weitreichende analytische Perspektiven, ist doch dieses Möbelstück für entsprechende Ausstellungen mindestens ebenso charakteristisch wie Trabant oder Schwalbe. Für eine kurze Übersicht s. S. 9–10. Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 141, 145. Ebd., S. 159, 165. Ebd., 153, 159. Das Motiv des Missverstehens lohnt es, im Hinterkopf zu behalten. Es wird uns bei der Beschäftigung mit unterschiedlichen Zweigen der Besucher*innenforschung noch häufiger begegnen. In seinem früheren Beitrag in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft sprach Gaubert übrigens noch davon, dass die Besucher*innen das Museum »als eine ernst zu nehmende Bildungseinrichtung verstanden«. Gaubert: Der DDR-Alltag im Kontext der Diktatur, S. 1011.
3. Ausstellungsanalysen
»verharmlosend« und zeichne »das fatale Bild einer Gesellschaft, in der alle Bürger gleichermaßen Opfer und Täter gewesen seien«.70 Wie lässt sich dieses Nebeneinander von scheinbar widersprüchlichen Charakterisierungen der Ausstellung erklären? Ist die Analyse einfach unschlüssig oder entspricht gerade ihre Widersprüchlichkeit ihrem Untersuchungsgegenstand? Ich möchte diese Frage mit einer häufig analysierten Szene aus Michael Curtiz’ Film Casablanca illustrieren. Hier ist sie, in den Worten Richard Maltbys: Three quarters of the way through »America’s most beloved movie,« Ilsa Lund comes to Rick Blaine’s rooms to try to obtain the letters of transit that will allow her and her Resistance leader husband Victor Laszlo […], to escape Casablanca to America. […] By the time she says, »If you knew how much I loved you, how much I still love you,« they are embracing in close-up. The movie dissolves to a 3 12 -second shot of the airport tower at night, its searchlight circling, and then dissolves back to a shot from outside the window of Rick’s room, where he is standing, looking out, and smoking a cigarette. He turns into the room, and says, »And then?« She resumes her story…71 Was kann diese Szene zum Verständnis des DDR-Museums (bzw. von Ausstellungsanalysen desselben wie derjenigen Gauberts) beitragen? Maltby weist darauf hin, dass die beschriebene Szene genau genommen nicht »mehrdeutig«, sondern vielmehr »paradox«, »unbestimmt und überdeterminiert« zugleich sei.72 »The question that immediately pops up here, of course, is: what happened in between, during the 3 21 second shot of the airport – did they DO IT or not?«, fragt Slavoj Žižek in seiner Fortführung von Maltbys Analyse.73 Für beide möglichen Antworten auf diese Frage lassen sich eindeutige Indizien anführen: »the dissolve of the couple passionately embracing usually signals the act after the fade-out; the cigarette afterwards is also the standard signal of the relaxation after the act; up to the vulgar phallic connotation of the tower«, so Žižek.74 Andererseits setzen Ilsa Lund und Rick Blaine ihre Konversation nach dem Fade-Out nahtlos fort, beide sehen exakt so aus wie zuvor und auch das Bett im Hintergrund ist unberührt. Im Gegensatz zu Maltby, der argumentiert, dass der Film durch seine Widersprüchlichkeit Zugänge für unterschiedliche Zuschauerpositionen biete, vereint Žižek die beiden kontradiktorischen Positionen in einer Person: 70 71
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Ebd., S. 1011–1012. Maltby, Richard: »A Brief Romantic Interlude«: Dick and Jane Go to 3,5 Seconds of the Classic Hollywood Cinema, in: Bordwell, David & Carroll, Noël (Hg.): Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison 1996, S. 434–459, hier: S. 434. Ebd., S. 437. Žižek, Slavoj: Shostakovich in Casablanca (ohne Datum), URL: https://www.lacan.com/zizca sablanca.htm (letzter Zugriff: 03.02.2021). Žižek: Shostakovich in Casablanca.
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While, at the level of its surface narrative line, the film can be constructed by the spectator as obeying the strictest moral codes, it simultaneously offers to the »sophisticated« enough clues to construct an alternative, sexually much more daring narrative line. This strategy is more complex than it may appear: precisely BECAUSE you knew that you are as it were »covered« or »absolved from guilty impulses« by the official story line, you are allowed to indulge in dirty fantasies – you know that these fantasies are not »for serious,« that they do not count in the eyes of the big Other… So […] we do not need two spectators sitting next to each other: one and the same spectator, split in itself, is sufficient.75 Was hat all das nun mit dem DDR-Museum zu tun? Analog zu der analysierten Filmsequenz erzählt auch das DDR-Museum zwei widersprüchliche Geschichten: Die erste ist auf der Ebene des Diktaturgedächtnisses angesiedelt und zeichnet die DDR als eine hoffnungslos zurückgebliebene Mangelwirtschaft und einen totalitären Staat, dessen kolossaler, wenngleich lächerlich inkompetenter Herrschaftsapparat jede noch so kleine Alltagsnische zu durchdringen suchte. Das zweite Narrativ erzählt vom sorglosen Leben der DDR-Bevölkerung in einem für Außenstehende skurril bis exotisch anmutenden Land, in dem Heißluftballons in Form von Marx- Köpfen über die Städte flogen, die Menschen mehr und besseren Sex hatten (wie die Besucher*innen auf einer Bettdecke im Schlafzimmer der Wohnung erfahren), massig Schnaps tranken (»17 Liter reinen Alkohol tranken Männer wie Frauen pro Jahr – weltmeisterlich!«)76 und in den absurdesten Klamotten rumliefen, die man im Schlafzimmer der nachgestellten Wohnung durch einen digitalen Spiegel auf sich projizieren lassen kann. Ich werde in Kapitel 7 genauer nachzeichnen, wie sich diese beiden Erzählebenen bzw. Lesarten einer Ausstellung (nicht nur im Berliner DDR-Museum) in der Rezeption miteinander verschränken können. Einen ersten Eindruck davon mag das folgende kurze Interviewfragment vermitteln. Auf meine Frage nach dem Grund ihres Museumsbesuchs antwortete die in der DDR aufgewachsene Frau Fink: Ja die Geschichte von damals, ne? […] Die Hintergrundgeschichten über die Stasi haben wir selbst erlebt als Ausreiseantragsteller natürlich. Meine Eltern waren auch beide politisch gefangen. Unsere Wohnung wurde auch verwanzt, abgehört, haben wir jetzt aus der Akte erfahren, damals dann. […] Und ganz interessant finde ich trotzdem auch immer noch diese ganzen Sachen von früher, dass man das alles nochmal sieht. Weil man vergisst so viel mit der Zeit. Man sagt »Ach
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Ebd. Brandweinland, in eine Schrankwand eingelassener Objekttext im Raum »Leben im Plattenbau«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 29.06.2021).
3. Ausstellungsanalysen
Gott, wie schön«, »Ach guck mal« und »Weißt du noch?« und ja, so die Erinnerung nochmal hochholen.77 Gaubert löst die in dieser Rezeption durchscheinende Widersprüchlichkeit der Ausstellung dahingehend auf, dass er sie – in Anlehnung an den wissenschaftlichen Leiter des DDR-Museums Stefan Wolle – als ein »Nebeneinander von »Heiler Welt und Diktatur« bezeichnet.78 Doch zumindest räumlich betrachtet geht dieses »Nebeneinander« nur teilweise auf. Zugegeben, zumindest zwei der drei Ausstellungsbereiche – »Partei und Staat« sowie »Leben im Plattenbau« – lassen sich auf den ersten Blick recht eindeutig den Topoi »Diktatur« und »Heile Welt« zuordnen.79 Allerdings wird diese Zweiteilung durch einzelne Ausstellungsmedien in den jeweiligen Bereichen immer wieder gebrochen: Im Kinderzimmer der nachgestellten Plattenbauwohnung werden Besucher*innen dazu aufgefordert, an einem blauen Halstuch der Jungpioniere den Pionierknoten zu üben80 und können auf einem Touchscreen spielerisch verschiedene »Wege ins Leben« ausprobieren, wobei sie sich anhand mehrerer dargestellter Situationen per Multiple-Choice zwischen Anpassung und Nonkonformität entscheiden müssen und am Ende ein »Abgangszeugnis« erhalten, bei dem es Punkte und die Aussicht auf einen Studienplatz für systemkonforme Antworten gibt.
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Frau Fink, Interview 6, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 153. Die Charakterisierung nimmt Bezug auf Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 – 1989, Berlin 1998, zit.n.: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-113. Der erste Ausstellungsbereich, »Öffentliches Leben«, entzieht sich allerdings bereits dieser schematischen Einteilung. »Dies mag unterhaltsam sein, führt jedoch im Kern nicht zu einer Einsicht über den Alltag in der DDR«, urteilt Regina Göschl herablassend im Fazit ihrer Analyse des Museums. Auch hier zeigt sich wieder die analytische Verengung der lernorientierten Besucher*innenforschung, bringt Göschls Urteil doch die Annahme zum Ausdruck, dass der einzig legitime Zweck eines Ausstellungsmediums Erkenntnisgewinn sei.
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Links: Wahlmöglichkeit an der Medienstation »Wege ins Leben«. Rechts: »Abgangszeugnis« mit »Gesamtbewertung«.
Auf dem Fernseher im verwanzten und mehr oder weniger gemütlich eingerichteten Wohnzimmer81 kann unter anderem zwischen Tagesschau, Aktuelle Kamera, Der schwarze Kanal sowie der Ost- und West-Version des Sandmännchens gewählt werden. Auch das Testbild des Deutschen Fernsehfunks der DDR steht den Besucher*innen zur Auswahl und betont somit den vermeintlich allseitigen Mangel in der DDR.82 Umgekehrt eröffnen sich auch im Ausstellungsbereich »Partei und Staat« immer wieder Zugänge zu Lutz Niethammers »Ostvariante der Spaßgesellschaft«.83 So etwa an der bereits in der Einleitung erwähnten Medienstation mit dem Titel »Der neue sozialistische Mensch«, bei der es darum geht, eine Figur auf einem Computerbildschirm dem staatssozialistischen Menschenbild entsprechend einzukleiden und auszustatten. Der eigentliche Spaß besteht aber natürlich darin, die Zielvorgabe zu unterlaufen und sich seinen eigenen neuen Menschen zu schaffen und mit so vielfältigen Attributen auszustatten, dass er morgens das ND lesen, nachmittags rappen, abends am Strand liegen, nach dem Essen Politik betreiben kann, wie er gerade Lust hat.
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Entgegen der Selbstdarstellung des Museums fand die eben zitierte Frau Fink die Wohnung »ein bisschen spartanisch eingerichtet. Also ich hab’s gemütlicher in Erinnerung und auch hübscher.« Interview 6, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Dass es auch bei ARD und ZDF noch bis Mitte der 1990er Jahre einen Sendeschluss gab, passt offenbar nicht zur Botschaft dieses Objektarrangements. Alle anwählbaren Sendungen stammen übrigens aus dem Fernsehprogramm des 5. März 1984, wie das Museum auf seinem Blog verrät. Vgl. Aperstaedt, Melanie: Das Wohnzimmer (Teil 1). Ein erster Eindruck (04.10.2016), URL: https://www.ddr-museum.de/de/blog/archive/das-wohnzimmer-teil-1-ei n-erster-eindruck (letzter Zugriff: 10.02.2022). Stefan Reinecke: Stefan Reinecke 12.05.2006 – Ostpartys glorifizieren nichts.
3. Ausstellungsanalysen
Mit 39: von 70 möglichen Punkten kam diese Frau dem vom DDR-Museum behaupteten Idealbild des sozialistischen Menschen nur mäßig nahe.
Ähnlich verhält es sich mit dem computergestützten Planspiel »Überholen ohne einzuholen«, bei dem Besucher*innen in die Rolle eines Betriebsleiters des VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau schlüpfen und die jährliche Trabi-Produktion steuern sollen. »Mit Witz und Ironie« solle veranschaulicht werden, »warum die Planwirtschaft zum Scheitern verurteilt war«, so der einleitende Text auf dem Touchscreen.84 Die Entscheidungsmomente des Spiels vermitteln Eindrücke von überzogenen Planvorgaben, chronischem Materialmangel und wirtschaftlicher Ineffizienz – wobei es den meisten Besucher*innen vor allem um die ironische Ausgestaltung ihrer eingenommenen Rolle und ein vergnüglich-kreatives Durchwursteln durch die Widrigkeiten des Produktionsalltags gehen dürfte. »Ich produziere ohne Sitze und dann flieg ich raus als nicht geeignet«, fasste eine Besucherin aus Bayern im Interview ihr Planspiel-Erlebnis zusammen. Frau Helwig: Ja, das müssen Sie sich mal anschauen. Das ist nämlich ein Ding für Wirtschaft, Economy, […] da laufen so Trabbis vom Band. […] Man kann Entscheidungen treffen […]. Und plötzlich stoppte das Band und es gab keine was weiß 84
Ökonomie am Reissbrett. Planspiel, Touchscreen im Raum »Partei und Staat«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 29.06.2021).
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dungen treffen […]. Und plötzlich stoppte das Band und es gab keine was weiß ich mehr. Frau Domke [ihre Mutter]: Sitze gab’s nicht mehr. Frau Helwig: Nee, nee. Doch, doch. Es gab keinen Stahl mehr, glaub ich. […] Und du kannst jetzt also einfach stoppen oder kannst auf’n Graumarkt gehen oder du kannst irgendwelche Lager auflösen. Dann hab ich halt irgendein Lager aufgelöst und dafür Stahl gekauft. Und das Lager war halt das Sitzpolsterlager. Ich hab diese Sitzpolster halt irgendwo anders hin vertickt [lacht] und plötzlich kommt natürlich die Anzeige – wie zu erwarten war – »Sie können nicht mehr weiter produzieren, weil es keine Sitzpolster mehr gibt« [lacht]. […] Und dann bin ich halt rausgeflogen [lacht]. An dieser Interviewsequenz lässt sich ablesen, wie sehr Frau Hedwig sich im Spiel mit der Betriebsleiter-Rolle identifiziert: Sie geht »auf’n Graumarkt«, sie »vertickt« Sitze, fliegt schließlich raus und hat bei diesem absurden Durchwursteln offenbar so großen Spaß, dass sie auch beim Erzählen darüber wiederholt lacht. Aber befindet sie sich beim Spielen – um noch einmal Gaubert zu zitieren – nun in der »Heilen Welt« oder in der »Diktatur«? Die Unterscheidung geht offensichtlich nicht auf. Und ich bin skeptisch, ob es bei derartigen interaktiven Ausstellungsmedien darum geht, «authentische« Gefühle« zu erwecken oder das Bedürfnis zu befriedigen, »die Stimmungen der Vergangenheit unmittelbar erfahrbar zu machen«, wie Juliane Brauer bezüglich des Berliner DDR-Museums schlussfolgert.85 Der entscheidende Punkt scheint mir vielmehr der zu sein, dass die Ausstellung des Berliner DDR-Museums sich an zwei unterschiedlichen geschichtskulturellen Leitmustern zugleich orientiert, nämlich einerseits an »Geschichte als Erlebnis« und andererseits an »Geschichte als Bildung«. Und die Besucher*innen können sich an den zahlreichen interaktiven Medienstationen emotional ganz der augenzwinkernd dargebotenen »Geschichte als Erlebnis« hingeben, wissend, dass das alles nicht so ernst gemeint ist, dass das Museum hier eine ironisch gewendete Authentizitätsfiktion präsentiert und im Sinne von »Geschichte als Bildung« auch über den Diktaturcharakter der DDR aufklärt. Die Besucher*innen sind somit »covered« or »absolved from guilty impulses« by the official story line«.86
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Brauer, Juliane: »Heiße Geschichte«? Emotionen und historisches Lernen in Museen und Gedenkstätten, in: Willner, Sarah et al. (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster/New York 2016, S. 29–44, hier: S. 31. Für eine weitergehende Analyse dieses Motivs vgl. auch Kapitel 7.5.3.
3. Ausstellungsanalysen
3.4 Die Dauerausstellung »Alltag in der DDR« im Museum in der Kulturbrauerei »Wir hatten nix, außer Kati Witt.«87 Wie »von Lehrlingen eingerichtet«88 , »zwiespältig« und »holzschnittartig«89 , »unter den Erwartungen« und »man fragt sich, was das ganze eigentlich soll«90 – die medialen Reaktionen auf die Eröffnung der Dauerausstellung »Alltag in der DDR« im Museum in der Kulturbrauerei im November 2013 hätten kaum negativer ausfallen können. Mit ursächlich für die zum Teil heftige Kritik an der Dependance der Stiftung Haus der Geschichte (HdG): Robert Rückel, damaliger Leiter des Berliner DDR-Museums, der sich beim Rundgang durch die Kulturbrauerei »sehr an unsere Ausstellung erinnert« fühlte.91 Egal, ob es um die Exponate, ihr Arrangement oder die gestalterische Umsetzung gehe – das Museum in der Kulturbrauerei gleiche einem um sieben Jahre verspäteten Nachbau seines eigenen Hauses. »Kurzum, wir wurden kopiert«, so Rückel in der Berliner Morgenpost.92 Dass das HdG sich laut eigener Aussage dem DDR-Alltag »tiefgründiger und vor allem kritischer«93 als das bestehende DDR-Museum widmen wolle, nannte Birgit Walter in der Berliner Zeitung eine »Dreistigkeit« und »Unterstellung, die Privaten würden es sowieso nicht richtig können«.94 Diese Gegenüberstellung von privat und staatlich war eines der Hauptmotive der Presseberichterstattung und veranschaulicht die auf der Ebene der musealen Metakommunikation angesiedelten Strategien, mit denen das DDRMuseum und das HdG um mediale Aufmerksamkeit konkurrierten. In ihrer Analyse dieser Auseinandersetzung kommt Regina Göschl zu dem Schluss, dass es dem DDR-Museum gelang, »ein modernes »Märchen« von David gegen Goliath« in der Hauptstadtpresse zu etablieren.95 Die Berliner Morgenpost beklagte Wettbewerbsverzerrung (»das eine [Museum] wird kommerziell betrieben und kostet sechs Euro
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Ostberlin Androgyn: Kati Witt (2018), URL: https://www.youtube.com/watch?v=2O_inz8vAR 4&ab_channel=OstberlinAndrogyn (letzter Zugriff: 19.11.2022). Walter, Birgit: DDR-Museum in Berlin. Noch eine Schrankwand, in: Berliner Zeitung, 15.11.2013. Cammann, Alexander: So bunt war der Osten. Ein neues Berliner Museum inszeniert den Alltag in der DDR als Wimmelbild, in: Die Zeit, 28.11.2013. Wulff, Matthias: Chef des DDR-Museums verärgert über Schau in der Kulturbrauerei, in: Berliner Morgenpost, 22.11.2013. Ebd. Ebd. Zit. nach: Walter, Birgit: DDR-Kunst. Diktatur-Museum in der Kulturbrauerei, in: Berliner Zeitung, 28.10.2013. Walter: DDR-Museum in Berlin. Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 261.
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DDR im Museum
Eintritt, während die Ausstellung des Anderen mit 1,1 Millionen Euro staatlich gefördert wird und keinen Eintritt kostet«) und sah das »Subsidiaritätsprinzip« durch die staatliche Dopplung des DDR-Museums verletzt.96 Die Gegenerzählung des Museums in der Kulturbrauerei (tiefgründig und kritisch gegen oberflächlich und unterhaltend) scheint hingegen keinen sonderlichen Eindruck auf den Großteil der Ausstellungsrezensent*innen gemacht zu haben. Die vom HdG immer wieder betonte Orientierung an der Gedenkstättenkonzeption des Bundes wurde bisweilen eher gegen das Museum gewendet. »DDR-Alltag wird hier in einer kanonisierten Fassung gezeigt«, so etwa Susanne Köstering auf H-Soz-Kult, die vor allem eine ideologisch enge »Besucherlenkung« bemängelte: »Die Texte […] bringen die gewollte Deutung klar heraus, schrammen damit aber haarscharf an der Vorgabe von Wertungen entlang.« Und auf den zahlreichen Medienstationen der Ausstellung würden »nur diejenigen Filmausschnitte gezeigt, die die gewollte Interpretation der Szene klar auf den Punkt« brächten. »Jedes Schulbuch wagt da mehr Komplexität«, urteilte auch Alexander Cammann in der Zeit,97 während Stephan Speicher es in der Süddeutschen Zeitung als »mickrig« bezeichnete, die »DDR um ihrer Versorgungslage willen zu kritisieren.« Damit würde in der Kulturbrauerei lediglich »noch mal die Schlacht um Bananen und Schokolade nachgestellt.«98 Lediglich im Online-Portal derwesten.de der Funke-Mediengruppe nannte Julia Emmrich die HdG-Ausstellung »im besten Sinne anstrengender« als die im DDR-Museum gezeigte »harmlos-kuriose Parallelwelt zum Anfassen«.99 Ursächlich für den überwiegend kritischen Tenor zum Museum in der Kulturbrauerei war auch, dass sich viele von diesem ursprünglich eine Ausstellung mit völlig anderer Schwerpunktsetzung erwartet hatten: 2005 hatte das HdG die Sammlung Industrielle Gestaltung mit ca. 160.000 Objekten übernommen. Die aus dem Amt für industrielle Formgestaltung der DDR hervorgegangene Sammlung hatte seit 1994 wechselnde designgeschichtliche Ausstellungen in der Kulturbrauerei gezeigt.
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Wulff: Chef des DDR-Museums verärgert. Cammann: So Bunt war der Osten. Speicher, Stephan: Nie wieder Tempolinsen, Mäuschen. Eine Berliner Ausstellung rückt den DDR-Alltag ins Licht unfreiwilliger Komik, in: Süddeutsche Zeitung, 16.11.2013. Tatsächlich werden bereits im Einleitungstext zur Ausstellung die »Mängel der Zentralplanwirtschaft« sowie die von der Bevölkerung entwickelten »Strategien gegen den Mangel« thematisiert. In der Ausstellung selbst finden sich dann zahlreiche Texte, die den Mangel-Topos bereits im Titel tragen, so etwa »Wirtin ohne Waren« (über die Nöte einer Gaststättenbetreiberin), »Schlange stehen« (über die chronische Knappheit zahlreicher Konsumgüter), »Mogelpackung« (über die schlechte Kaffeequalität) oder »Kreativität im Mangel« (über die Produktionsweise einer privaten Boutique in Leipzig). Emmrich, Julia: Der Alltag der DDR – jetzt im Museum, in: Der Westen (21.11.2013), URL: htt ps://www.derwesten.de/kultur/der-alltag-der-ddr-jetzt-im-museum-id8689936.html (letzter Zugriff: 29.03.2021).
3. Ausstellungsanalysen
In der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 2008 hieß es dementsprechend noch über die »geplante Dauerausstellung der Sammlung Industrielle Gestaltung in der Kulturbrauerei« unter HdG-Regie, dass diese »die Geschichte der Produkt- und Alltagskultur in der DDR« nachzeichnen werde.100 2013 war von diesem Grundgedanken nicht mehr viel übriggeblieben. Nach HdGAngaben haben es letztlich etwa 175 Objekte der Sammlung in die Ausstellung geschafft, in der Fragen der Produktgestaltung nur in wenigen Einzelfällen diskutiert werden. Beherrschendes Thema ist stattdessen die angebliche Durchdringung des Alltags in der DDR durch ihren diktatorischen Herrschaftsapparat.101 Der damalige Ausstellungsdirektor Jürgen Reiche erklärte hierzu 2013 im hauseigenen Museumsmagazin, die Ausstellung wolle die Durchdringung der Gesellschaft durch das sozialistische Herrschaftssystem durch »Achsen« veranschaulichen, »die sich quer durch die Räume ziehen und dauerhafte Präsenz von Partei und Ideologie dokumentieren. SED, Propaganda, Stasi, Volkspolizei – der Staat stellt sich quer in den Raum und durchdringt den Alltag.«102
Von der Decke hängende Fahnen und Propagandalosungen an den Wänden im ersten Ausstellungsraum des Museums in der Kulturbrauerei.
100 Deutscher Bundestag: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption. 101 Alltag in der SED-Diktatur lautete dementsprechend lange Zeit der Arbeitstitel der Ausstellung. 102 Zander, Ulrike: »Alltag ist universell und individuell zugleich«. Interview mit Ausstellungsdirektor Jürgen Reiche, in: museumsmagazin (04/2013), S. 13–15, hier: S. 13.
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DDR im Museum
Der Alltag wird in der Kulturbrauerei in verschiedenen halboffenen Themenräumen nachgestellt, deren formale Gestaltung mit Jana Scholze als »Inszenierung« bezeichnet werden können: Durch ausschnitthaftes »Rekonstruieren räumlicher Kontexte« werden die verwendeten Exponate in ihren ehemaligen »Gebrauchs- oder Funktionszusammenhänge[n]« präsentiert. Die Inszenierung zielt auf das »Erfahren und Erleben szenisch gestalteter Ausstellungsräume« ab und soll somit die historische Imagination der Besucher*innen anregen.103 In der Kulturbrauerei können Besucher*innen etwa einen mit Einmachgläsern und schrumpeligem Obst »sehr eintönig« bestückten HO-Laden betreten,104 in der Gaststätte »Zur grünen Linde« die Speisekarte ob ihres »monotonen Speiseangebots« bemitleiden,105 an einem Kiosk in sechs verschiedenen Zeitungen die immergleichen Artikel zu den Losungen der SED zum 1. Mai 1980 studieren oder verbotene Literatur im »Oppositionswohnzimmer«106 durchstöbern. Weitere Inszenierungen behandeln die Themen Wohnen, Urlaub, Freizeit, Jugendkultur, Überwachung, Westkontakte und Militär. Ein gesonderter Raum ist der Arbeitswelt gewidmet. Das von Jürgen Reiche angesprochene Sich-Querstellen des Staates wird in der Ausstellung durch von der Decke hängende Fahnen, den Raum durchziehende Propagandalosungen und an den Wänden angebrachte Plakate inszeniert. Ein thematischer Bezug dieser Herrschaftsinsignien zu den sie umgebenden Ausstellungsbereichen ist dabei nur selten zu erkennen, soll es aber vermutlich auch gar nicht sein. Ob tagsüber an der Werkbank, beim Einkaufen im HO-Laden oder abends beim Bier in der Eckkneipe – der Staat ist nahezu allgegenwärtig, so die Botschaft dieser Raumgestaltung.107 »Warum soll nun nicht die Allgegenwart von Unterdrückung auch beim Wohnen und Kaffeetrinken wissenschaftlich beleuchtet werden?«, kommentierte Birgit Walter in der Berliner Zeitung hierzu sarkastisch.108 Ein spezifischer Rundgang durch die thematisch aufgebaute Ausstellung ist weder vorgegeben noch notwendig für das Verständnis der einzelnen »Themen-Räume«,109 die einem einheitlichen gestalterischen Muster folgen: Objekte, Bilder und 103 Scholze: Medium Ausstellung, S. 149–150. 104 Grundversorgung, Objekttext im nachgestellten HO-Laden, Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 29.06.2021). 105 Guten Appetit, Text in einer Vitrine an der nachgestellten Gaststätte »Zur grünen Linde«, Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 29.06.2021). 106 Holste, Karsten, et al.: Drei Männer im Museum. »Alltag in der DDR« Dauerausstellung, in: Werkstatt Geschichte (68/2015), URL: https://werkstattgeschichte.de/alle_ausgaben/human itarismus/(letzter Zugriff: 10.02.2021), S. 111–115, hier: S. 113. 107 Damit ist er im Ausstellungsnarrativ auch das einzige, an dem kein Mangel herrscht. 108 Walter: DDR-Kunst. 109 Architektonisch ist die gesamte Ausstellung in zwei große Räume unterteilt, die man vom Foyer aus über eine Wendeltreppe erreicht. Oben angekommen, weist lediglich ein unscheinbares graues Schild die Besucher*innen an, sich zuerst dem Raum zu ihrer Linken zuzuwenden, der sich unter der Überschrift »Im Takt des Kollektivs« der Arbeitswelt in der DDR wid-
3. Ausstellungsanalysen
architektonische Elemente werden zu kleinen Szenen arrangiert, die einen möglichst authentischen Gesamteindruck vermitteln sollen. Um diesen nicht zu stören, wird auf Objektbeschriftungen fast vollständig verzichtet.110 Jeder Szene ist lediglich ein kurzer Bereichstext zugeordnet. Zudem finden sich an zahlreichen Stellen in der Ausstellung unscheinbare blaue Mappen, die anhand von Quellen- und Sekundärtexten vertiefende Informationen zu dem jeweiligen Thema bieten, ohne jedoch auf die präsentierten Objekte selbst einzugehen. Die Authentisierung der inszenierten Themenräume wird ferner durch großformatige Wandfotos bestärkt, die etwa (je nach Thematik) Menschen beim Schlangestehen, marode Alt-, trostlose Neubauten und einiges mehr zeigen. Dort finden sich häufig auch Touchscreens, auf denen thematisch passende Filmschnipsel angeschaut werden können. Bei den meist ein bis drei Minuten langen Aufnahmen handelt es sich größtenteils um Ausschnitte aus Produktionen der Staatlichen Filmdokumentation (SFD), die in der DDR nicht für die Öffentlichkeit angefertigt, sondern direkt archiviert wurden, um späteren Generationen einen unverstellten Blick auf das Alltagsleben in der frühen DDR zu ermöglichen.111 Diese kurze Analyse der Authentisierungsstrategien des Museums in der Kulturbrauerei mag zunächst widersprüchlich erscheinen. Sind es beispielsweise nicht gerade Objektbeschriftungen, welche die Historizität von Exponaten beglaubigen und somit an Authentizitätskonstruktionen maßgeblich beteiligt sind? Hier gilt es jedoch zu bedenken, dass es bei der Frage nach Authentizität stets um das geht, was Reinhart Koselleck einmal als die »Fiktion des Faktischen« bezeichnet hat, von der jedes »historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt«.112 »Authenticity is not about factuality or reality. It is about authority. Objects have no authority; people do«, heißt es diesbezüglich treffend bei Spencer Crew und James Sims.113 Diese Überlegungen aufgreifend, machen die Sprachwissenschaftlerin Eva Ulrike Pirker
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met. Alle übrigen Themenbereiche finden sich um Raum zur Rechten unter der Überschrift »Alltägliche Widersprüche« zusammengefasst. Zum Authentizitätsbegriff vgl. Sabrow, Martin & Saupe, Achim (Hg.): Historische Authentizität, Göttingen 2016 S. auch Scholze: Medium Ausstellung, S. 194. Die SFD-Produktionen stammen aus den Jahren 1971–1986. Mit der »frühen DDR« sind hier also nicht etwa die vierziger und fünfziger Jahre gemeint, sondern, dem sozialistischen Selbstverständnis entsprechend, die Jahrzehnte der Systemkonkurrenz, bis der Sozialismus sich endgültig gegen den Kapitalismus durchgesetzt hätte. Dass die Filme, die der Nachwelt einmal ein Bild der DDR jenseits von staatlicher Propaganda zeigen sollten, heute in der Kulturbrauerei dazu dienen, die vom Museum »gewollte Interpretation der Szene klar auf den Punkt« zu bringen (Köstering, s.o.), entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Koselleck, Reinhart: Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Schulz, Gerhard (Hg.): Geschichte heute. Positionen, Tendenzen und Probleme, Göttingen 1973, S. 307–317, hier: S. 313. Crew, Spencer & Sims, James: Locating Authenticity. Fragments of a Dialogue, in: Karp, Ivan & Lavine, Steven (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington, DC 1991, S. 159–175, hier: S. 163.
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DDR im Museum
und der Historiker Mark Rüdiger zwei unterschiedliche Techniken aus, derer sich historische Ausstellungen bei der Produktion derartiger »Authentizitätsfiktionen« bedienen können und die sie »Zeugnismodus« und »Erlebensmodus« nennen: Zum Zeugnis gehören die Objektgruppen der Quellen, der Zeitzeugen, der Unikate […], kurz: die Suggestion eines Originalen, eines Relikts aus der Vergangenheit, das durch seine historische Echtheit selbst zu wirken scheint. Zum Erlebensmodus gehören Repliken, Kopien, das Nachspielen und Reenactment, das Evozieren eines »authentischen Gefühls«, Zeitstimmung oder -atmosphäre durch Annäherung an das Original oder Erzeugung einer plausiblen bzw. typischen Vergangenheit mit Mitteln der Gegenwart.114 Zum Vergleich: Während etwa die Dauerausstellung des DOK Eisenhüttenstadt mit seiner nüchternen Raumgestaltung ganz überwiegend im Zeugnismodus arbeitet, wirken die Objekte im Museum in der Kulturbrauerei nicht durch ihre »historische Echtheit« an sich, sondern dienen im Sinne des Erlebensmodus der »Erzeugung einer plausiblen bzw. typischen Vergangenheit«, die sich erst durch ihr Zusammenspiel mit anderen Ausstellungsmedien und inszenatorischen Mitteln ergibt. Ob es sich bei den Objekten selbst um Originale oder Reproduktionen handelt, ist dabei eher zweitrangig. In dieser Hinsicht ähnelt die Präsentationsform des Museums in der Kulturbrauerei durchaus der des zuvor analysierten Berliner DDR-Museums. Allerdings wird hier auf die augenzwinkernde Metaebene verzichtet, welche im DDR-Museum das Spiel mit Authentizitätsfiktionen als Spiel kennzeichnet. Stattdessen steht die Inszenierung des Authentischen in der Kulturbrauerei deutlich stärker im Dienst spezifischer Vermittlungsabsichten, indem sie wesentlich zur Beglaubigung des Ausstellungsnarrativs beiträgt. Inwiefern sich dieser doch recht markante Unterschied in der Präsentationsweise auch auf die Ausstellungsrezeption auswirkt, wird uns in Kapitel 7 noch beschäftigen.
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Pirker, Eva Ulrike & Rüdiger, Mark: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen. Annäherungen, in: Pirker, Eva Ulrike et al. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld 2010, S. 11–30, hier: S. 17.
3. Ausstellungsanalysen
3.5 Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig »Die ganzen alten Produkte, […] also die DDR-Produkte, die man halt dann wiedersieht und denkt so: War doch nicht alles schlecht, was man hatte, und warum wurde eigentlich alles so kaputt gemacht?«115 Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig (ZFL) gehört ebenfalls zur Stiftung Haus der Geschichte. Seine Gründung geht zurück auf die Empfehlungen der von 1991 bis 1992 bestehenden Unabhängigen Föderalismuskommission »für eine ausgeglichene Verteilung von Bundesbehörden unter besonderer Berücksichtigung der neuen Länder«. Aus dem Kommissionsvorschlag, in Sachsen ein »Archiv für die Deutsche Einheit« als Außenstelle des Bundesarchivs zu gründen, entstand dort schließlich ein Ausstellungs- und Dokumentationszentrums. Die Eröffnung des ZFL erfolgte symbolträchtig am 9. Oktober 1999, dem zehnten Jahrestag der größten Leipziger Montagsdemonstration. Als »Bastion gegen DDR-Nostalgie« betitelte Uwe Müller das Museum damals in der Welt und verwies auf die vor dem Gebäude installierte Plastik Der Jahrhundertschritt von Wolfgang Mattheuer (»die rechte Hand zum Hitlergruß gereckt, die linke zur Arbeiterfaust geballt«), welche den »provokativen Ansatz des Forums« versinnbildliche.116 An diesem »provokativen« bzw. totalitarismustheoretischen Ansatz hält auch die aktuelle Dauerausstellung aus dem Jahr 2018 fest. Dies deutet sich bereits im Eingangsbereich des Museums an, der gestalterisch an die Symbolik der Mattheuer-Plastik anknüpft: Zur Ausstellung im zweiten Stock gelangt man über ein Treppenhaus, an dessen Wänden insgesamt drei großformatige Fotos aus dem Herbst und Winter 1989 angebracht sind. Sie zeigen die erste große Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989, Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor am 10. November und eine weitere Montagsdemonstration in Leipzig am 4. Dezember desselben Jahres. Neben jedem Bild sind Zitate angebracht, etwa: »Wir hatten ständig Angst, doch der Glaube war immer ein Stück größer als die Angst« oder »Die Mauer ist nicht gefallen, sondern sie ist von den Menschen überrannt worden« und »Das ist endlich unsere Stunde der Freiheit«.117 Ergänzt werden diese Wandfotos durch Medienarrangements zur Potsdamer Konferenz und zum Checkpoint Charlie, die sich in Nischen auf den Treppen115 116
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Herr Gerve auf die Frage, was ihm im Museum besonders aufgefallen sei. Interview 7, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2021. Müller, Uwe: Ein Haus der Geschichte als Bastion gegen DDR-Nostalgie, in: Die Welt (09.10.1999), URL: https://www.welt.de/print-welt/article586967/Ein-Haus-der-Geschichteals-Bastion-gegen-DDR-Nostalgie.html (letzter Zugriff: 29.03.2021). Die Urheberschaft der Zitate wird nicht kenntlich gemacht.
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absätzen befinden. Auf grauem Basalt-Splitt präsentiert, erinnern sie stark an die Bildsprache von Gedenkstätten zum Nationalsozialismus oder der Berliner Topografie des Terrors und stützen somit die Grundlegende Botschaft der Wandfotos: Hier hat eine mutige Bevölkerung ihre Angst vor einem totalitären System überwunden und sich seine Freiheit erkämpft.
Ausstellungsmedien zu Potsdamer Konferenz und Checkpoint Charlie im Treppenhaus des ZFL.118
Unterdrückung und (letztendlich erfolgreicher) Widerstand sind auch die zentralen Motive des Gesamtnarrativs der Ausstellung. Mit »Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945« ist ihr Eingangstext betitelt, womit zum einen ein national verstandenes »Wir« konstruiert und zum anderen dessen vorübergehende Spaltung in einen demokratischen (BRD) und einen diktatorischen (DDR) Teil angedeutet wird. Die Geschichte der DDR wird anschließend in chronologischer Abfolge erzählt: Beginnend mit der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg über den Aufbau einer sozialistischen Einparteien-Diktatur samt Überwachungs- und Repressionsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone, die Kollektivierung der Landwirtschaft, den Aufstand am 17. Juni 1953 und den Mauerbau wird zunächst vor allem die politische Entwicklung in der DDR in den Blick genommen. Unter der Überschrift »Zukunftshoffnungen« geht es anschließend um die »wirtschaftliche und politische Stabilisierung […] in der DDR der 1960er Jahre«, die mit »Erwartungen auf entscheidende Fortschritte
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Alle Fotos in diesem Kapitel wurden am 16.09.2022 aufgenommen.
3. Ausstellungsanalysen
in der Gesellschaft« verbunden gewesen sei.119 Der Ausstellungsraum präsentiert u.a. einen Wartburg 311, eine Turbine des in der DDR entwickelten Passagierflugzeugs 152,120 ein Modell der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz und diverse technische Alltagsgegenstände. Die folgenden Räume widmen sich einem breiten Spektrum sozial- und alltagsgeschichtlicher Themen wie etwa Arbeitswelt und geschlechtsspezifische Unterschiede in dieser, Planwirtschaft, Erziehung, Konsum und Wohnungsbau. Hinsichtlich der verwendeten Exponate und ihrer Codierungen finden sich hier viele Parallelen zu den oben analysierten Ausstellungen. Da wäre etwa die übliche Verwendung von Spielzeugsoldaten im Bereich »Bildung und Erziehung« als Beleg für die militaristische Früherziehung in der DDR;121 ein Schreibtischarrangement vor braun-gelber Mustertapete mit Honecker-Porträt an der Wand als Illustration für Bürokratismus, das Primat der Politik und die Starrheit der Planwirtschaft; ein recht übersichtlich bestücktes Konsum-Schaufenster oder ein Zeitungskiosk, dessen Auslage die immer gleichen Losungen auf der Titelseite trägt. Gestalterisch gleicht die Ausstellung in Vielem derjenigen im Museum in der Kulturbrauerei: Großformatige Propagandalosungen entlang der Wände, räumliche Inszenierungen zu einzelnen Themen, Zusatzinformationen in blauen Mappen. Allerdings ist die inszenatorische Präsentationsform weniger dominant als in der Kulturbrauerei, wohingegen die Besucher*innenführung aufgrund des chronologischen Aufbaus der Ausstellung deutlich enger angelegt ist. Zudem arbeitet das ZFL deutlich stärker mit unterschiedlicher Licht- und Farbgebung für die einzelnen Themenbereiche: Vom Kriegsende bis zum Mauerbau werden die Ausstellungsmedien größtenteils auf an den Wänden und Böden angebrachten kupferfarbenen Platten präsentiert.122 Mit dem Raum »Zukunftshoffnungen« verschwinden diese dann plötzlich aus der Ausstellung und machen Platz für eine Variation braun-gelber Mustertapeten. Letztere halten sich bis zur Biermann-Ausbürgerung 1976 und weichen dann einem komplett in grau gehaltenen, spärlich beleuchteten Ausstellungsraum.
119 Zukunftshoffnungen, Bereichstext, ZFL (fotografiert am 16.09.2022). 120 Genau genommen ist die Turbine an dieser Stelle zeitlich etwas deplatziert. Der versuchte Aufbau einer eigenen Luftfahrtindustrie erfolgte in den fünfziger Jahren und wurde aufgrund diverser Rückschläge und mangelnder Aussichten auf Wirtschaftlichkeit bereits am 13. Juli 1961 wieder abgebrochen. 121 Die SED »nutzt […] jede Gelegenheit, Kinder und Jugendliche ideologisch zu formen«, heißt es im Bereichstext »Bildung und Erziehung«, ZFL (fotografiert am 16.09.2022). 122 Beachtenswert ist hier die subtile totalitarismustheoretische Botschaft der Ausstellungsgestaltung: Da sich kupferfarbene Platten aus Cortenstahl gut für Freilichtausstellungen eignen, sind sie ein typisches Präsentationsmedium zahlreicher NS-Gedenkstätten. Ihre Verwendung im ZFL kann daher als Versuch einer gestalterischen Parallelisierung von sozialistischer und faschistischer Herrschaft gelesen werden.
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Typische Motive von DDR-Ausstellungen im ZFL: Spielzeugsoldaten; Schreibtisch vor einer Wand mit Mustertapete und Honecker-Porträt; mit politischen Insignien aufgefüllte Auslage eines Konsums nebst Bückware; Zeitungskiosk.
Inwiefern prägt diese Mischform aus Chronologie und Inszenierung nun das Gesamtnarrativ der Dauerausstellung? Schauen wir uns hierzu exemplarisch die letzten beiden Themenräume an, welche die Darstellung der Geschichte der DDR bis 1989/90 abschließen: Unter der Überschrift »Stillstand und Aufbegehren« betreten die Besucher*innen die DDR der 1980er Jahre. »Während die meisten Menschen sich einrichten und ihr Eingemauertsein in der DDR ausblenden, sind vor allem die jüngeren nicht mehr bereit, sich vom Staat unterdrücken zu lassen«, beginnt der Bereichstext. »Unter dem Schutz der Kirchen und in Privaträumen gehen sie vielerorts unerschrocken vor und prangern Zwänge und Beschränkungen im Land an. Trotz umfassender Überwachung durch den Staat und trotz drohender willkürlicher Repressionen wächst die Friedens- und Umweltbewegung.«123 Mit der hier vorgenommenen dichotomen Zweiteilung der DDR in Staat (Mauer, Unterdrückung, Zwang,
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Stillstand und Aufbegehren, Bereichstext, ZFL (fotografiert am 16.09.2022).
3. Ausstellungsanalysen
Beschränkung, Überwachung, Willkür, Repression) und Bevölkerung (entweder resigniert oder aber jung und unerschrocken, in jedem Fall unterdrückt) bewegt sich die Ausstellung spätestens ab hier wieder im klassischen Narrativ des Diktaturgedächtnisses. Zu sehen sind verschiedene Medien zur Arbeit von Oppositionsgruppen und systemkritischen Künstler*innen, zu Ausreisewilligen und zu staatlichen Repressionsmaßnahmen. Eine dominierende Position nimmt dabei ein Barkas-Gefangenentransporter ein, in dessen Innenraum eine Videoinstallation über den Umgang mit politischen Häftlingen informiert. Im Vergleich zu den vorangegangenen Räumen ist dieser Teil der Ausstellung besonders dunkel gestaltet. Dieser Eindruck wird beim Übergang in den folgenden Ausstellungsbereich »Wandel im Osten« noch einmal verstärkt. Dorthin gelangt man durch einen schmalen, schwarzen Korridor, an dessen Ende sich – gut ausgeleuchtet – die Staatschefs der Sowjetunion und der USA, Michail Gorbatschow und Ronald Reagan, die Hand reichen. Mit grauem Basalt-Splitt zu beiden Seiten des Weges wird in dieser Licht-am-Ende-des-TunnelsInszenierung zudem erneut die Ästhetik von NS-Gedenkstätten aufgegriffen.
Links: Ausstellungsmedien auf kupferfarbenen Metallplatten im Bereich »Machtübernahme« zu Beginn der Ausstellung. Mitte: Blumenmustertapete in einem Raum zum Thema Wohnungsbau im Bereich »Konsum und Mangel«. Rechts: Graue Wände im Übergang zum Bereich »Hoffnung und Enttäuschung«.
Der Raum, den man am Ende dieses Tunnels betritt, ist zweigeteilt: Auf Fotos zur Linken feiert die SED in Anwesenheit Michail Gorbatschows den vierzigsten Jahrestag der DDR, zur Rechten feiert die Solidarność den Machtwechsel in Polen, Ostberliner Demonstrant*innen tragen ein Gorbatschow-Porträt und DDR-Flüchtlinge klettern über den Zaun der Prager Botschaft. An der Kopfseite des Raums sind mehrere Transparente von Demonstrationen in unterschiedlichen Städten der DDR in einer Vitrine ausgestellt. »Rechtssicherheit statt Staatssicherheit«, »Pressefreiheit«, »Trennung von Partei und Staat« sowie »Deutschland einig Vaterland« lauten die Forderungen, die aufgrund ihrer räumlichen Platzierung eher wie das Resultat der zuvor dargestellten Auseinandersetzung zwischen Staatsführung und Bevölkerung erscheinen. All dies ist bereits vom Eingang des dunklen Korridors aus sicht-
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bar.124 An dieser Raumgestaltung zeigt sich paradigmatisch das Zusammenspiel von chronologischer und inszenatorischer Präsentationsform: Während in der Chronologie zeitlich hintereinanderliegende Ereignisse zu Kausalketten verknüpft werden (können), erlaubt die Inszenierung es, diese strenge temporale Ordnung punktuell aufzuheben oder umzukehren. Das »Deutschland einig Vaterland«-Telos der chronologischen Erzählung wird hier durch genau diese Aufhebung der Zeitstruktur der Ausstellung verwirklicht – wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels ist es bereits aus den dunklen achtziger Jahren heraus sichtbar.
Aus dem Dunkel der DDR geht es in die helle Zeit der Wiedervereinigung.
124 Die Farbgebung (schwarzer Korridor, dahinter rote Wände, schließlich hell erleuchtete Transparente) kann daher auch als Rekurs auf den Entstehungsmythos der deutschen Nationalfarben gedeutet werden: »Über unserem Vaterland ruhet eine schwarze Nacht//[…]//Und es kommt einmal ein Morgen, freudig blicken wir empor://Hinter Wolken lang verborgen, bricht ein roter Strahl hervor.//Und es zieht durch die Lande überall ein goldnes Licht,//das die Nacht der Schmach und Schande//und der Knechtschaft endlich bricht« dichtete 1843 etwa Hoffmann von Fallersleben. Die im ZFL dargestellten Ereignisse des Jahres 1989 erscheinen vor diesem Hintergrund von Beginn an als Revolution mit dem Ziel der deutschen Einheit. Fallersleben, Hoffmann von: Deutsche Salonlieder, Zürich 1844.
3. Ausstellungsanalysen
Bei der Gestaltung der Ausstellungsräume, deren Abfolge und Beleuchtung greift das ZFL auf potenziell wirkmächtige Strategien der Emotionalisierung125 zurück: Die Gestaltung ist darauf angelegt, bestimmte Stimmungen zu vermitteln und dadurch die Rezeption der Ausstellungsmedien emotional zu präfigurieren. Brauer kritisiert zurecht, dass derart »erlebnisorientierte Inszenierungen« dazu geneigt sein können, die »zahlreichen Möglichkeiten der historischen Imagination [der Besucher*innen] auf eine einzige intendierte Lesart« einzuschränken.126 Diese Beobachtung ist hinsichtlich der Dauerausstellung des ZFL besonders treffend, werden hier doch nicht nur bestimmte Themen bestimmten Zeitabschnitten zugeordnet, sondern auch bestimmte Emotionen: Die achtziger Jahre sind dunkel, bleiern, erdrückend; ihr Ende hell, leicht, erhebend. Wenn wir die bisherige Ausstellungsanalyse noch einmal rekapitulieren, fällt auf, dass das Ausstellungsnarrativ nicht linear verläuft, sondern in seinem Spannungsbogen eher dem klassisch aristotelischen Drama entspricht: Kriegsende und Staatsgründung der DDR (Exposition), repressiver Aufbau des Sozialismus, Verfolgung politischer Gegner, Flucht und Widerstand (zweiter Akt, steigende Handlung), Aufstand des 17. Juni, die DDR steht vor dem Kollaps (dritter Akt, Höhepunkt), der Mauerbau stoppt die Massenauswanderung, Wohnungsbauprogramm und »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« stabilisieren die DDR noch einmal (vierter Akt, fallende Handlung und retardierendes Moment), die DDR-Bevölkerung erkämpft sich in der »Friedlichen Revolution« Freiheit, Demokratie und deutsche Einheit (fünfter Akt, Auflösung des Konflikts). Das ist insofern naheliegend, als dass es selbst aus der Perspektive von »Opposition und Widerstand« im Sinne des sabrowschen Diktaturgedächtnisses schwerfallen dürfte, eine lineare Fortschrittsgeschichte über die DDR zu erzählen. Es ist daher die Dramenstruktur, die es ermöglicht, die DDR trotzdem von ihrem Ende her zu denken und somit an einer Teleologie festzuhalten, an deren Ende unweigerlich der Untergang des sozialistischen deutschen Staates stehen musste.127 Darüber hinaus lässt sich zeigen, wie auch hier – ähnlich wie im DOK Eisenhüttenstadt – bestimmte Themen bestimmten Zeiträumen zugeordnet werden: Die fünfziger Jahre sind die Zeit der staatlichen Repression, die sechziger und siebziger Jahre gehören dem Alltagsleben, in den achtziger Jahren tritt die Opposition auf den Plan. Die Überschriften der Überblickstexte der einzelnen Themenbereiche lauten dementsprechend: »Kriegsende«, »Machtübernahme«, Herrschaftsinstrumente«, »Militärische Gewalt« (fünfziger Jahre), »Zukunftshoffnungen«, »Anspruch und Wirklichkeit«, »Bildung und Erziehung«, »Konsum und
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Zum Begriff der Emotionalisierung vgl. den Beitrag »Emotionen« in Gundermann, Christine, et al.: Schlüsselbegriffe der Public History, Göttingen 2021, S. 45–68. Brauer: »Heiße Geschichte«?, S. 38. Vgl. zur teleologischen Struktur des Diktaturgedächtnisses Sabrow: Die DDR erinnern, S. 18.
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DDR im Museum
Mangel«, »Hoffnung und Enttäuschung« (sechziger und siebziger Jahre), »Wandel im Osten«, »Friedliche Revolution«, »Weg zur Einheit« (achtziger Jahre). An dieser Stelle könnte die Analyse eigentlich enden, doch das ZFL unterscheidet sich von den anderen hier betrachteten Museen nicht zuletzt dadurch, dass es auch den Zeitraum nach 1990 in seiner Dauerausstellung behandelt. Zentrales Thema ist dabei die Transformation der staatssozialistischen DDR-Wirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaft. Die maßgebliche Rolle der Treuhandanstalt wird dabei punktuell durchaus kritisch betrachtet, insgesamt aber unter dem Vorzeichen einer angeblichen Alternativlosigkeit erzählt. »Fehlentscheidungen« der Treuhandanstalt seien angesichts des sich »in rasantem Tempo« vollziehenden Wandels wohl »unvermeidbar« gewesen, heißt es etwa im entsprechenden Bereichstext »Abbruch und Aufbruch«. Ohnehin habe nun die »Nachfrage auf dem Weltmarkt bestimmt, was sich lohnend produzieren und verkaufen lässt. Viele DDR-Produkte haben hier keine Chance […]. Veraltete Produktionsanlagen hemmen den Neustart.«128 Es ist ein weitgehend akteurloser Wandel, der den Leser*innen hier präsentiert wird, allenfalls noch gesteuert von der klassischen unsichtbaren Hand des Marktes. Insgesamt wird die Transformation der DDR jedoch als Erfolgsgeschichte erzählt. Paradigmatisch hierfür steht die ausgestellte Karosserie eines in Leipzig produzierten Porsche Cayenne. »Von Barkas zu Porsche« lautet der Titel des Exponatstextes, in dem es heißt: 2002 bringt der Sportwagenhersteller Porsche mit dem Cayenne erstmals einen SUV auf den Markt. Das für dessen Montage gebaute Werk in Leipzig startet mit 300 Mitarbeitern, heute sind es 4000. Die Entwicklung vom reinen Montagewerk zur Komplettfertigung von drei Porsche-Modellen erfolgt unter dem Ostdeutschen Siegfried Bülow. Als letzter Leiter des Barkas-Werks in Chemnitz musste er 1989 dessen Schließung umsetzen und Tausenden die Kündigung aussprechen.129 In diesem Exponat-Text-Arrangement werden zwei zentrale Erzählstränge der Ausstellung zusammengeführt. Zum einen wird der »Sportwagen« Porsche dem zuvor gezeigten Gefangenentransporter Barkas (sowohl sprachlich als auch inszenatorisch) gegenübergestellt. Die Karosserie des SUV markiert somit den endgültigen Übergang von Unterdrückung zu Freiheit, von Kargheit zu Wohlstand. Und zum anderen erscheinen Arbeitsplatzabbau, Deindustrialisierung und Übernahmen durch westdeutsche Unternehmen nun lediglich noch als kurzes Zwischenspiel in der letztlich erfolgreichen Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft: Neue
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Abbruch und Aufbruch, Bereichstext, ZFL (fotografiert am 16.09.2022). Von Barkas zu Porsche, Objekttext im Raum »Abbruch und Aufbruch«, ZFL (fotografiert am 16.09.2022).
3. Ausstellungsanalysen
Arbeitsplätze entstehen geradezu explosionsartig; die Zeiten, in denen Ostdeutschland die verlängerte Werkbank des Westens war, sind vorbei (»Komplettfertigung«) und auch Manager kommen inzwischen wieder aus dem Osten, so die Botschaft.130
Barkas-Gefangenentransporter im Raum »Stillstand und Aufbegehren«; Porsche-SUV im Themenbereich »Abbruch und Aufbruch«.
Ende gut, alles gut? Diesen Eindruck vermittelt zumindest der letzte Teil der Ausstellung, »Reflexion der Gegenwart«. Der weitläufige Raum wird durch acht große, metallene Lettern dominiert, die – teils stehend, teils liegend – zusammen das Wort »Freiheit« ergeben. Doch diese ist bedroht: »Terroranschläge in den USA und Europa bedrohen unsere Sicherheit und Freiheit. Gefahr geht auch von Rechts- und Linksextremen aus. In ihrem Kampf gegen die Demokratie schrecken sie vor Gewalttaten nicht zurück«, heißt es in einem Bereichstext mit dem Titel »Bewährungsproben«. Die inszenatorische Umsetzung dieses totalitarismustheoretischen Höhepunkts der Ausstellung besteht aus einer Zusammenschau »links-« und »rechtsextremer« Gewalt: Hier Bilder von Ausschreitungen während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg, dort Fotos von einer Nazidemonstration in Berlin 2018 und einem Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Bautzen 2016 sowie diverse Ausstellungsmedien zum NSU. Verbindendes Element: Baseballschläger und Sturmhaube, die mittig in einer Vitrine ausgestellt sind.
130 Eine Auseinandersetzung mit dem Exponat findet sich auch bei Wolfgang Jäger, der diesbezüglich urteilt: »So ist z.B. der Porsche Cayenne in der Ausstellung nur die Ikone der erfolgreichen Transformation und nicht das Produkt aus der Leipziger Fabrik, in der bis zum heutigen Tag mit einer hohen Zahl an Leiharbeitern diese Luxuskarosse produziert wird und in der seit 2018 sogar die AfD im Betriebsrat vertreten ist.« Jäger, Wolfgang: Soziale Bürgerrechte im Museum. Die Repräsentation sozialer Demokratie in neun kulturhistorischen Museen, Bielefeld 2020, S. 118.
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DDR im Museum
Ausstellungswand im Raum »Bewährungsproben«. »Gefahr geht auch von Rechts- und Linksextremismus aus«, so der Bereichstext.
»Wurde die Gewalt von links bislang verharmlost?«, fragt ein kleiner Begleittext neben dem Foto eines geplünderten Hamburger Supermarktes (links im Bild). Dass diese Frage im Angesicht der parallel thematisierten NSU-Morde und von mindestens 219 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990131 hier reichlich deplatziert wirkt, hat die Verantwortlichen des Museums offenbar nicht gestört. Eine Videoinstallation am Ende der Ausstellung offenbart dann eine erschreckende Offenheit des ZFL gegenüber faschistischem Gedankengut. Auf einem Thron sitzende Menschen beantworten hier nacheinander die Frage »Was würde ich tun, wenn ich König von Deutschland wär?« (was in einem Raum zu Freiheit und Demokratie an sich schon reichlich absurd ist). Das Spektrum der Antworten umfasst mehr Tierrechte, bessere Altenpflege, Schlafen und Pfannkuchen essen, bedingungsloses Grundeinkommen einführen und einiges mehr. Eine der Szenen zeigt einen glatzköpfigen Mann
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Angabe laut Amadeu-Antonio-Stiftung: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesop fer-rechter-gewalt/ (letzter Zugriff: 02.12.2022).
3. Ausstellungsanalysen
in Biker-Montur, der gern »die Einreise der Neubürger, vor allen Dingen mit islamistischem Hintergrund, stärker kontrollieren« würde, »damit wir hier unsere Sicherheit in Deutschland hier beibehalten. Und das zweite wäre, dass ich die Damen, sage ich mal, die mit ihren Kopftüchern hier in der Öffentlichkeit rumrennen, das auch verbieten würde, hier in Deutschland. Weil wir kein muslimisches Land sind, sondern ein christliches Land sind.« Und zum Thema Demokratie äußert sich in derselben Installation eine Frauenstimme aus dem Off mit den Worten: »Wir haben gerade zur WM 2006 bewiesen, dass wir eine Gemeinschaft sein können, wenn alle in dieselbe Richtung laufen. Ich befürchte, dass die Gemeinschaft in den letzten Jahren gerade durch die Ausländerproblematik sehr gelitten hat.« Liegt dieser Ausstellungsgestaltung einfach ein völlig verqueres Verständnis von Vielfalt und Repräsentanz zugrunde? Zumindest die Platzierung der Videoinstallation im letzten Themenbereich (gesellschaftliche) »Fundamente« lässt darauf schließen, dass es von Seiten der Ausstellungsmacher*innen als Ausdruck von »Einigkeit und Recht und Freiheit« verstanden wurde, unterschiedslos allen – und somit eben auch Nazis – eine Bühne zu geben. Wie das unkommentierte Ausstellen von Forderungen nach nationaler Einheit, Kopftuchverboten und »christlicher« Leitkultur auf Betroffene von rechter Gewalt und Rassismus wirken mag, hat sich offenbar niemand gefragt.
3.6 Zwischenfazit In einer Gesamtschau der hier analysierten Ausstellungen fallen hinsichtlich ihrer Präsentationsformen zwei gegensätzliche Arten der Beziehung zwischen Objekten, Themen und erzählter Zeit auf: Auf der einen Seite stehen DOK und ZFL, in denen auf mehr (ZFL) oder weniger (DOK) offensichtliche Weise bestimmte Thematiken bestimmten Zeiträumen zugeordnet sind und mit den entsprechenden Ausstellungsmedien erzählt werden. Auf der anderen Seite ist das Zeit-Objekt-Verhältnis in der Kulturbrauerei und im Berliner DDR-Museum genau umgekehrt. Hier wird die gesamte Geschichte der DDR vornehmlich anhand von Objekten aus einem bestimmten Zeitraum (siebziger bis achtziger Jahre) erzählt. Eine Zwischenposition nimmt das DDR-Museum Pforzheim ein: Die Ausstellung im Keller folgt der gleichen Präsentationslogik wie die beiden Berliner Ausstellungen, während die Dauerausstellung im Erd- und Obergeschoss diesbezüglich eher dem DOK und ZFL gleicht – wenn auch der Zeit-Thema-Nexus hier durch einige oben beschriebene Irritationsmomente gebrochen wird. Auf die ein oder andere Weise erzählen somit alle fünf untersuchten Ausstellungen DDR-Geschichte in Form einer Synekdoche. In einem anderen Zusammenhang schreibt die Literaturwissenschaftlerin Katarzyna Chmielewska über historische Darstellungen der Volksrepublik Polen:
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DDR im Museum
Einer der rhetorischen Kunstgriffe, die für Narrationen über die Volksrepublik Polen […] charakteristisch sind, ist die Metonymisierung und Synekdoche, also die Darstellung eines Teils als Ganzes und des Ganzen als Teil. Ein Beispiel dafür können etwa die fünfziger Jahre sein, die zu einer Matrix von Erzählungen über Repression und blutige Gewalt in der gesamten Volksrepublik geworden sind, und die achtziger Jahre als Bild einer insgesamt vom Kommunismus und der politischen Macht in Polen distanzierten Gesellschaft.132 Schauen wir uns diese beiden Erzähltypen noch einmal genauer an. Sowohl das Berliner DDR-Museum als auch das Museum in der Kulturbrauerei fokussieren sich in ihrer jeweiligen Dauerausstellung auf einen bestimmten Zeitabschnitt (die siebziger bis achtziger Jahre), der zeitlich für die Gesamtheit der Geschichte der DDR steht. Die Wahl der Ausstellungsmedien (überwiegend aus den beiden letzten Jahrzehnten der DDR) sowie die Präsentationsform (thematisch, nicht chronologisch) befördern nicht nur den Eindruck von Stillstand, sondern auch von einer weitgehend homogenen Zeit. Aufgrund dieser Homogenität kann jedes Objektarrangement, jeder Themenraum, jede erzählte Teilgeschichte unmittelbar das vermeintliche Wesen »der DDR« verkörpern. Jeder Teil steht für das Ganze (pars pro toto). »Der Alltag (im Singular) wirkt hier wie ein monolithischer Block, in dem es keine historischen Veränderungen gab«, urteilen denn auch Karsten Holste, Sebastian Kühn und Andreas Ludwig in ihrer Rezension der Dauerausstellung des Museums in der Kulturbrauerei.133 Die umgekehrte Form, in der das Ganze seine Teile determiniert (totum pro parte) lässt sich im DOK Eisenhüttenstadt sowie im ZFL beobachten, die sich beide einer chronologischen Erzählform bedienen. Diese ist, wie die vorangegangenen Ausstellungsanalysen gezeigt haben, gegenüber ihrem Inhalt keineswegs neutral: In beiden Ausstellungen werden angebliche Wesensmerkmale des politischen Systems bzw. des Alltagslebens in der DDR auf bestimmte Zeitabschnitte projiziert. Erzählt etwa die Ausstellung im ZFL vom repressiven und diktatorischen Charakter des Systems, dann bedient sie sich dafür der fünfziger Jahre. Liegt der Fokus eher auf dem Spannungsfeld zwischen Resignation und Opposition, dann werden dafür die achtziger Jahre herangezogen. Zwischen diesen beiden Polen des Diktaturgedächtnisses – d.h. sowohl thematisch als auch zeitlich dazwischen – spielt sich die Alltags- und Sozialgeschichte in den sechziger und siebziger Jahren ab. Während die Ausstellung also vordergründig von historischem Wandel erzählt, liegt dahinter
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Chmielewska, Katarzyna: Narracje historyczne o komunizmie, in: Hopfinger, Maryla et al. (Hg.): Debaty po roku 1989. Literatura w procesach komunikacji, Warszawa 2017, S. 69–84, hier: S. 82. Den Literaturhinweis verdanke ich Michalina Golinczak. Holste, et al.: Drei Männer im Museum.
3. Ausstellungsanalysen
ebenfalls eine Vorstellung von der DDR als »monolithische[m] Block«, dessen Wesen sich über die Zeit in unterschiedlichen Erscheinungsformen offenbart.134 Das DDR-Museum Pforzheim stellt mit seinen zwei Dauerausstellungen einen Sonderfall dar: Während sich die Ausstellung im Keller eindeutig der Erzählfigur des pars pro toto bedient, verfährt die Ausstellung im Erd- und Obergeschoss auf umgekehrte Weise. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass alle fünf analysierten Ausstellungsnarrative sich mehr oder weniger eng an den Vorgaben der Gedenkstättenkonzeption des Bundes orientieren, also bestrebt sind, Alltägliches stets »im Kontext der Diktatur darzustellen«. Dies erfolgt im ZFL und in der Kulturbrauerei durch eine Ausstellungsgestaltung, welche die vermeintliche Allgegenwart des sozialistischen Herrschaftssystems auf sehr plakative Weise herausstellt, im DOK und im oberen Teil des DDR-Museums Pforzheim auf subtilere Weise durch entlarvende Objektplatzierungen und Begleittexte. Im Berliner DDR-Museum wird die herrschaftliche Durchdringung des Alltags auf die Spitze getrieben, indem nahezu sämtliche Ausstellungsmedien die Unzulänglichkeit, Lächerlichkeit und/oder Boshaftigkeit des Systems bezeugen sollen. Der Drang, die DDR in jeder erdenklichen Hinsicht bloßzustellen, zeitigt dabei bisweilen auch unfreiwillig komische Resultate und führt im ZFL und DDR-Museum Pforzheim zu einem erschreckend unreflektierten Umgang mit rechten Antikommunisten und Faschisten. Die fünf untersuchten Ausstellungen verbindet somit ein antikommunistischer Grundkonsens, der allerdings in seiner spezifischen Ausgestaltung variiert und in der Wahl seiner Adressat*innen und Bündnispartner*innen unterschiedlich wählerisch ist. Mehr noch als in dem, was sie zeigen, gleichen sich die Museen jedoch in dem, was sie nicht zeigen: Aus welchen Gründen (außer fundamentaler Boshaftigkeit und missmutigem Gehorsam) engagierten sich Menschen für den Sozialismus? Wie verlief die Entnazifizierung in der DDR? Wie trugen vierzig Jahre westlicher Wirtschaftssanktionen zu der stets betonten technologischen Rückständigkeit und Mangelwirtschaft in der DDR bei? Wie verhielt sich die DDR zu antikolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien? Derartige Themen, die dazu geneigt sein könnten, ein ungünstiges Licht auf die Bundesrepublik zu werfen und das vermittelte DDR-Bild um einige Perspektiven zu erweitern, fehlen in den untersuchten Ausstellungen fast vollständig – ebenso wie die Frage, warum die DDR sich (trotz
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Aus diesen musealen Erzählungen im Modus der Synekdoche ergeben sich Anknüpfungspunkte für die derzeit an Popularität gewinnenden postkolonialen Ansätze in der DDR-Forschung, ist doch der Topos der Geschichtslosigkeit auch essenzieller Bestandteil des eurozentrischen Blicks auf die bis ins 20. Jahrhundert kolonialisierten Teile der Welt. Vgl. Domdey, Jana & Drews-Sylla, Gesine: Einleitung, in: Domdey, Jana et al. (Hg.): AnOther Africa? (Post-)Koloniale Afrikaimaginationen im russischen, polnischen und deutschen Kontext, Heidelberg 2017, S. 7–34.
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DDR im Museum
des emanzipatorischen Anspruchs des Sozialismus) zu einem derart autoritärrepressiven Staat entwickelte und welche Alternativen es dazu möglicherweise zu unterschiedlichen Zeiten gegeben hätte. Stattdessen erscheint die Geschichte der DDR als groteske Abweichung vom natürlichen kapitalistischen Entwicklungspfad und daher als von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ihr Ende wirft keine Fragen auf, sondern ist die logische Antwort auf einen vierzigjährigen Irrweg. DDR-Geschichte verkommt somit zu einer eintönigen Kontrastfolie, deren vornehmlicher Zweck in der Selbstvergewisserung westlicher Überlegenheit besteht. Welche Prämissen ergeben sich aus diesen Beobachtungen nun für die Analyse der Aneignung historischer Ausstellungen durch ihre Besucher*innen? In ihrer bereits zitierten Dissertation über die Ausstellungen in der Kulturbrauerei, im Dokumentationszentrum in Eisenhüttenstadt und im Berliner DDR-Museum macht Langwagen eine interessante Beobachtung über alle drei Museen. Sie schreibt: Und obwohl die vermittelten Inhalte der DDR-Museen sich stark zu denen der Nationalmuseen unterscheiden, bedienen sie sich dennoch derselben Bildmotivik, die einerseits die ostdeutschen Erinnerungen streichelt und andererseits die westdeutschen bestätigt, aber auf beiden Seiten nicht zur Einnahme von Perspektivwechseln anregt. Die Objekte selbst fungieren nur als Staffage für das jeweils gewünschte Erinnerungserlebnis.135 Diesen letzten Satz halte ich durchaus für zutreffend, jedoch aus völlig anderen Gründen als den von Langwagen genannten. Folgt man den oben skizzierten Ausstellungsanalysen, so kann wohl kaum behauptet werden, dass die betrachteten DDR-Museen »die ostdeutschen Erinnerungen« streicheln. Gleichwohl bedienen sie mit ihrer an unterschiedliche Zeiträume gebundenen Objektauswahl und -präsentation medial geformte Sehgewohnheiten. Und wie ich in Kapitel 7.1 zeige, sind es insbesondere aus Filmen wie beispielsweise Das Leben der Anderen oder Good Bye, Lenin! bekannte Objekte, die Menschen ohne DDR-Biografie als Erzählanker in den Interviews über ihren Ausstellungsbesuch dienten.Für Göschl beschreibt das Museum in der Kulturbrauerei ein »Leben in der Diktatur« (totaler Zugriff von Herrschaft auf den Alltag), das DOK Eisenhüttenstadt ein »Leben mit der Diktatur« (alltägliches Arrangement mit der Herrschaft) und das Berliner DDR-Museum ein »Leben trotz der Diktatur« (Alltag entsteht in Abgrenzung zu Herrschaft). 313 Göschl: DDRAlltag im Museum, S. 310-314. Im Sinne von Göschls Analyse würden wohl auch das ZFL [und das DDR-Museum Pforzheim] dem »Leben in der Diktatur« zugeordnet werden. Auch wenn ich dieser Interpretation – insbesondere in Bezug auf das Berliner DDR-Museum – im Detail nicht folge, halte ich ihre generelle Aussage für unstrittig: In geringfügigen Abstufungen schreiben sich alle fraglichen Museen mit ihren Ausstellungen in einen hegemonialen DDR-Diskurs ein; keines »streichelt« 135
Langwagen: Die DDR im Vitrinenformat, S. 158.
3. Ausstellungsanalysen
bewusst die »ostdeutschen Erinnerungen«. Wenn also, wie Langwagen konstatiert, die Museumsobjekte dennoch »nur als Staffage für das jeweils gewünschte Erinnerungserlebnis dienen«, so kann dies folglich weder an den Objekten selbst liegen (was zudem einen naiven Essentialismus implizieren würde) noch an ihrer jeweiligen Präsentationsform und auch nicht an der musealen Metakommunikation. Das bedeutet, dass die theoriegeleitete Decodierung einer Ausstellung, mit dem Ziel, die von ihren Macher*innen intendierten Botschaften zu identifizieren, hier offensichtlich nicht weiterführt. Um zu erklären, warum es möglicherweise so scheint, als würden DDR-Museen der Befriedigung nostalgischer Bedürfnisse dienen, müssen wir daher die ausstellungsanalytische Perspektive verlassen und uns den Museen von einer anderen Seite aus nähern. Mit Langwagen gesprochen gilt es danach zu fragen, um wessen »Erinnerungen« es in DDR-Museen überhaupt geht, welche »Seiten« dort möglicherweise aufeinandertreffen, welche Perspektiven sie einnehmen und eventuell wechseln, wer sich wodurch »bestätigt« fühlt, welche Rolle die Museumsobjekte für das jeweilige »Erinnerungserlebnis« spielen usw. Kurz: Es geht darum, auf welche Weise sich welche Besucher*innen unter welchen Umständen DDR-Ausstellungen aneignen. Tatsächlich sind – um die Ergebnisse meiner Untersuchung ein wenig vorwegzugreifen – lebensweltliche Erinnerungen oftmals tatsächlich von zentraler Bedeutung für die Beantwortung dieser Fragen, ebenso wie Innen- und Außenperspektiven auf die Geschichte der DDR. Dabei wird jedoch auch deutlich werden, dass die Zweiteilung in ost- und westdeutsche Besucher*innen der Komplexität der Ausstellungsaneignung nicht gerecht wird und dass sich Erinnerungserlebnisse häufig im Widerspruch zum jeweiligen Ausstellungsnarrativ konstituieren und von diesem eher gestört als bestätigt werden. Doch dazu später mehr. Das folgende Kapitel wendet sich zunächst einmal der Besucher*innenforschung zu und steckt das theoretische Feld ab, innerhalb dessen ich mich mit meiner Analyse verorte. Es argumentiert, dass die oben skizzierten Fragen zur Ausstellungsaneignung insgesamt ein beachtliches Forschungsdesiderat darstellen, das aufgrund eines weitverbreiteten Pragmatismus und einer eigentümlichen Lernfokussierung als solches meist kaum wahrgenommen wird.
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4. Lernen, nutzen, aneignen. Zum Stand der Besucher*innenforschung in Museen »Was mich natürlich sehr gestört hat [lacht], also das waren manche Sachen, also da wurden die DDR-Bürger […] so bisschen doof hingestellt.«1
Was Frau Bogner hier über die Darstellung der ostdeutschen Bevölkerung im Berliner DDR-Museum sagt, lässt sich ohne Weiteres auf das vorherrschende Bild des Museumspublikums in der Besucher*innenforschung übertragen. Wer sich durch die unzähligen Studien über die Lernergebnisse (bzw. deren durchweg konstatierte Mangelhaftigkeit) von Ausstellungsbesuchen arbeitet, wird sich kaum des Eindrucks erwehren können, dass die Masse der Besucher*innen offenbar ein »bisschen doof« ist. Entweder sie lernen überhaupt nichts.2 Oder sie lernen zwar etwas, nur leider etwas »Falsches«.3 Oder aber sie lernen doch etwas »Richtiges«, aber dies gewissermaßen nur zufällig, da das Gelernte kaum mit dem Inhalt der besuchten Ausstellung zu tun hatte.4 Wie ich im Folgenden zeigen möchte, lassen sich drei ungefähr chronologisch aufeinander folgende Reaktionen der Besucher*innenforschung auf dieses scheinbare Dilemma identifizieren. Die erste Reaktion fokussierte auf die Museen: Die Untersuchung von Wegeführung, Textgestaltung, besonders anziehenden Exponaten usw. würde zu einer Steigerung der musealen
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Frau Bogner, Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Der von Volker Kirchberg postulierte »Treinen-Schock«, siehe unten. Bodo von Borries spricht etwa davon, dass »Exponate […] vom »naiven« Betrachter oft krass missverstanden« werden. Borries, Bodo von: Präsentation und Rezeption von Geschichte im Museum, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (5/6/1997), S. 337–343, hier: S. 340. Als Beispiel für diese These könnte mein Interview mit Herrn Schenk herangezogen werden, der nach dem Besuch des ZFL davon erzählte, dass die Berliner Mauer »ja auch von Gefangenen und so gebaut« worden sei, wobei »ja auch massenhaft Leute gestorben« seien. Anschließend sei es in der Ausstellung um »die Aufstände« gegangen, »angefangen mit 53 […] und dann immer wieder«. Interview 4, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Für entsprechende Beispiele s. Kapitel 7.3.
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DDR im Museum
»Lerneffizienz« beitragen, so die Grundannahme.5 Die zweite Reaktion, die sich ab den späten 1990er Jahren durchzusetzen begann, fokussierte verstärkt auf die Besucher*innen. Diese Forschungsrichtung warf dem auf die Ausstellungsgestaltung fokussierten Ansatz Behaviorismus und ein instruktivistisches Lernverständnis vor, welches die Besucher*innen als uniforme, mit Wissen zu füllende Kanister konzipiere. Demgegenüber wurde ein konstruktivistisches Lernverständnis ins Feld geführt; Besucher*innenstrukturstudien, Zielgruppenanalysen, Marketingstrategien usw. sollten den Museen die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln, um ihre Bildungsangebote auf ihr jeweiliges Publikum abzustimmen.6 Diese Forschungsrichtung ist bis heute dominant, wird jedoch zunehmend von einem dritten Ansatz herausgefordert, der die Lösung für das Problem musealen Lernens weder bei den Museen noch den Besucher*innen sucht, sondern bei der Besucher*innenforschung selbst. Seine Vertreter*innen argumentieren, dass auch der konstruktivistische Ansatz unbewusst auf den grundlegenden Prämissen seines behavioristischen Vorgängers beruhe und insbesondere die Vorstellung von Lernen als oberstem Ziel des Museumsbesuchs nie wirklich infrage gestellt habe. Das daraus resultierende Problemfeld würde sich jedoch einfach in Luft auflösen, begriffe man typische Verhaltensweisen von Ausstellungsbesucher*innen nicht als unbeholfene Lernversuche, sondern als identitätsstiftende Praktiken des Aneignens, die aus einer Vielzahl möglicher Umstände und Absichten resultieren könnten.7 Diese recht schematische Überblicksdarstellung zu präzisieren und weiter auszudifferenzieren, ist das Ziel dieses Kapitels.8 Da der auf dem Aneignungsbegriff beruhende Ansatz in der Besucher*innenforschung bislang nur sporadisch operationalisiert worden ist, erörtere ich im Folgenden auch, inwiefern die zahlreichen konstruktivistischen Modelle musealen Lernens trotz ihrer erkenntnistheoretischen Defizite hierfür als Impulsgeber dienen können.
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Vgl. Shettel, Harris & Reilly, Pamela: Evaluation of Existing Criteria for Judging the Quality of Science Exhibits, in: AV Communication Review (04/1966), URL: https://www.jstor.org/stabl e/30217334 (letzter Zugriff: 17.12.2019), S. 479–488. Vgl. Hein, George: Learning in the Museum, London/New York 1998 S. auch Noschka-Roos, Annette: Besucherforschung und Didaktik. Ein Museumspädagogisches Plädoyer, Opladen 1994. Vgl. grundlegend Rounds: Doing Identity Work in Museums. Seine Argumentationsstruktur gleicht dabei dem klassisch hegelschen Durcharbeiten von Widersprüchen: Wir starten im Feld des Museums als Lernort bei der behavioristischen Besucher*innenforschung, die zunächst innerhalb des Feldes von ihrem konstruktivistischen Gegenpart negiert wird. Darauf folgend negiert das Konzept der Ausstellungsaneignung das bestehende Forschungsfeld als solches (Negation der Negation).
4. Lernen, nutzen, aneignen. Zum Stand der Besucher*innenforschung in Museen
4.1 Von Grashüpfern und ihren Lebensstilen. Behavioristische Ansätze der Besucher*innenforschung Alle Wände der Räume mit kleinen, großen, mittleren Leinwändern [sic!] behängt. […] Äpfel und silberne Schüsseln, Porträt des Geheimrats N, Abendsonne, Dame in Rosa, fliegende Enten, Porträt der Baronin X, fliegende Gänse, Dame in Weiß, Kälber im Schatten mit grellgelben Sonnenflecken, Porträt Exzellenz Y, Dame in Grün. […] Menschen […] gehen von einer Leinwand zur andern […]. Dann gehen sie fort, ebenso arm oder reich, wie sie eintraten und werden sofort von ihren Interessen, die gar nichts mit der Kunst zu tun haben, absorbiert. Warum waren sie da?9 Wassily Kandiskys lakonische Schilderung eines Museumsbesuchs berührt drei zentrale Fragen jeder Besucher*innenforschung. Erstens: Wer sind die Menschen, die ein bestimmtes Museum oder Museen allgemein besuchen? Zweitens: Warum besuchen diese Menschen ein Museum? Und drittens: Was tun sie dort?10 Die erste und zweite Frage beziehen sich auf die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Rezeption, während die dritte den eigentlichen Rezeptionsprozess zum Gegenstand hat. Doch obwohl spätestens in den 1980er Jahren ein regelrechter Museumsboom einsetzte und auch die Besucher*innenforschung unter dem Schlagwort der »Besucherorientierung« einen erheblichen Aufschwung erlebte, kann wohl lediglich auf die erste dieser drei Fragen eine halbwegs gesicherte – und für Museen ernüchternde – Antwort gegeben werden. An dieser hat sich seit den umfangreichen empirischen Studien Pierre Bourdieus und Alain Darbels in den 1960er Jahren nur wenig geändert: Lediglich ein kleiner Teil der gut gebildeten Mittel- und Oberschicht bildet das Gros der Besucher*innen von Museen und Ausstellungen.11 Der Kultur- und Sozialwissenschaftler Hartmut John beziffert den Anteil derer, die überhaupt zur regelmäßigen »Wahrnehmung kultureller Angebote zu bewegen« seien, auf maximal drei bis zehn Prozent der Bevölkerung.12 Der Anteil der regelmäßigen Museumsbesucher*innen an der Gesellschaft dürfte
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Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei, München 1912, S. 6–7. Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Grasskamp, Walter (Hg.): Sonderbare Museumsbesuche. Von Goethe bis Gernhardt, München 2006. Bei Kandinsky sind es (1.) Menschen ohne besonderes Interesse am Gegenstand des Museums, die dieses (2.) ohne erkennbaren Grund besuchen und dann (3.) stur »von einer Leinwand zur andern« laufen. Bourdieu; Darbel: Die Liebe zur Kunst. John, Hartmut: Hülle mit Fülle. Museumskultur für alle – 2.0, in: John, Hartmut & Dauschek, Anja (Hg.): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld 2008, S. 15–64, hier: S. 22. Johns Feststellung beruht allerdings auf einem recht problematischen Kulturbegriff, der »Kultur« mit klassisch bürgerlicher »Hochkultur« gleichsetzt.
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DDR im Museum
dementsprechend noch geringer sein. Und unter diesen bilden Menschen mit Abitur oder Hochschulabschluss mit circa 70–80 % die ganz überwiegende Mehrheit, wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass hierzu kaum aussagekräftige Studien existieren.13 Eine Untersuchung des Instituts für Museumsforschung über die »Staatlichen Museen zu Berlin und ihre Besucher« ermittelte für acht ausgewählte Museen in den Jahren 2001–2004 folgende Zahlen: Personen mit Hauptoder Realschulabschluss sowie ohne Schulabschluss machten gerade einmal 15 % der Besucher*innen aus. Weitere 15 % der Besucher*innen verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung, 18 % über die Hochschulreife und 52 % über einen Hochschulabschluss.14 Ähnlich eklatant fällt die Diskrepanz zwischen Museumspublikum und gesellschaftlichem Durchschnitt aus, wenn man nach der beruflichen Situation der Besucher*innen fragt. So ermittelte das Institut für Museumskunde unter den Teilnehmenden der Berliner Langen Nacht der Museen für das Jahr 1999 einen Anteil von nur 0,8 % Prozent Arbeiter- und 2,5 % Facharbeiter*innen. Angestellte, Beamt*innen, Akademiker*innen und Führungskräfte machten demgegenüber 68 % der Besucher*innen aus.15 Neuere und umfassendere Studien existieren bezeichnenderweise nicht. Einen zentralen Grund für dieses Forschungsdesiderat stellt die allmähliche Verabschiedung von Klasse als einer für das Verständnis von Gesellschaft zentralen Kategorie in der Soziologie und verwandten Wissenschaftsdisziplinen in den achtziger und neunziger Jahren dar. Soziologen wie Richard Peterson oder Paul DiMaggio entwarfen in Abgrenzung zu Bourdieus und Darbels strukturalistischem Ansatz dezidiert kulturalistisch-voluntaristische Modelle zur Erklärung kultureller Konsummuster, die auch auf Museumsbesuche Anwendung fanden. Peterson und DiMaggio zufolge sei Klassenzugehörigkeit kein entscheidender Faktor für eine bestimmte Form des Kulturkonsums und folglich auch nicht für die Nutzung von Museen. Etwaige Korrelationen seien vielmehr dadurch zu erklären, dass es gerade die Teilnahme an kulturellen Aktivitäten sei, die Zugang zu bestimmten sozialen Gruppen und Netzwerken und somit gesell-
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Wegner, Nora: Museumsbesucher im Fokus. Befunde und Perspektiven zu Besucherforschung und Evaluation in Museen, in: Glogner-Pilz, Patrick & Föhl, Patrick (Hg.): Handbuch Kulturpublikum. Forschungsfragen und -befunde, Wiesbaden 2016, S. 255–283, hier: S. 263–264. Schuck-Wersig, Petra & Wersig, Gernot: Die Staatlichen Museen zu Berlin und ihre Besucher. Zusammenfassung aus den Jahren 2001–2004, Berlin 2005, 10, zit.n.: https://www.smb.mu seum/museen-und-einrichtungen/institut-fuer-museumsforschung/forschung/publikation en/mitteilungen-und-berichte-aus-dem-institut-fuer-museumsforschung.html. Hagedorn-Saupe, Monika, et al.: Lange Nacht der Museen. Eine empirische Untersuchung in Berlin, Berlin 2003, S. 17.
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schaftliche Aufstiegschancen biete.16 In der deutschsprachigen Soziologie fielen derartige Erklärungsmodelle auf den fruchtbaren Boden von Milieustudien und Individualisierungsthese17 , welche die »traditionalen Klassenbedingungen« für obsolet erklärten und Gesellschaft entlang von geteilten »Lebensstilen« strukturierten.18 So postulierte Volker Kirchberg 2005 in einer empirischen Studie über »Gesellschaftliche Funktionen von Museen«: »Lebensstilzugehörigkeit und Museumsbesuch korrelieren stärker miteinander als Klassenzugehörigkeit und Museumsbesuch« – wobei er unter Bezugnahme auf die Rational-Choice-Theorie »die Wahl eines bestimmten Lebensstils« als »eine individuelle, voluntaristische und rationale Entscheidung« konzipierte.19 Diese These ist jedoch sowohl in politischer als auch in epistemologischer Hinsicht problematisch: Politisch implizieren kulturalistische Lebensstil-Modelle eine Individualisierung von Verantwortung für die eigene soziale Lage und bewegen sich damit vollständig im Feld neoliberaler Ideologie – wer nicht ins Museum oder Theater geht, braucht sich nicht zu wundern, wenn es mit dem sozialen Aufstieg nicht klappt. Und epistemologisch sind derartige Modelle redundant, da zirkulär. Die von Kirchberg konstatierte Korrelation zwischen Lebensstil und Besuchshäufigkeit von Museen ist letztlich kaum aussagekräftiger als die Korrelation zwischen dem Alter einer Person und der Zahl ihrer Geburtstage. Denn wenn ich sage »Person A geht häufig ins Museum, weil sie einen an kulturellen Aktivitäten orientierten Lebensstil pflegt«, dann stellt sich natürlich die Frage, woran ich diesen Lebensstil denn festmache. Und die Antwort lautet: »Unter anderem daran, dass A häufig ins Museum geht.« A geht also häufig ins Museum, weil A häufig ins Museum geht. Dass ein bestimmter »Lebensstil« stärker als strukturelle Faktoren wie Bildungsniveau oder Klassenzugehörigkeit mit Museumsbesuchen korreliert, ist daher überhaupt nicht verwunderlich, sagt aber auch nichts über die Güte kulturalistischer Erklärungsmodelle aus. Letztlich wird hier einfach die Beschreibung eines Sachverhalts als dessen Erklärung ausgegeben.20 Umgekehrt resultierten aus der u.a. von Bourdieu und Darbel vorgebrachten Problematisierung der Exklusivität des Museums spätestens im Laufe der 1970er Jahre Forderungen nach dessen grundlegender Neukonzeption. Von einem Ort der 16
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Vgl. Peterson, Richard: Patterns of Cultural Choice, in: American Behavioral Scientist (04/1983), S. 422–438; DiMaggio, Paul: Classification in Art, in: American Sociological Review (04/1987), S. 440–455. Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. Ebd., S. 116, 122. Kirchberg, Volker: Gesellschaftliche Funktionen von Museen. Makro-, meso- und mikrosoziologische Perspektiven, Wiesbaden 2005, 229, 234. Wir haben es hier mit einem generellen Problem sozialwissenschaftlicher Typenbildung zu tun, auf das ich in Kapitel 6 zurückkommen werde.
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Erhabenheit, Hochkultur und Kontemplation – dem sprichwörtlichen Musentempel – sollte sich das Museum zu einem für alle zugänglichen »Lernort« wandeln.21 Parallel zur Neukonzeption des Museums als Lernort entwickelte sich – zunächst vor allem im englischsprachigen Raum – eine Besucher*innenforschung, deren vorrangiges Ziel darin bestand, die »Lerneffizienz« von Ausstellungen zu messen und zu verbessern.22 Lernen wurde dabei im Wesentlichen als eine simple Aufnahme der vom Museum bereitgestellten Informationen durch die Besucher*innen verstanden, was implizit mit der Vorstellung von Besucher*innen als passiven Rezipient*innen von Wissen einherging. Wegweisend für diese Forschungsrichtung war die »Drei-Faktoren-Theorie« der Sozialwissenschaftler*innen Harris Shettel und Pamela Reilly, der zufolge Ausstellungen nach der »attracting power« (Wie viele Besucher*innen werden von einem Exponat angezogen?), »holding power« (Wie lange beschäftigen sie sich mit dem Exponat?) und »teaching power« (Führt die Beschäftigung mit dem Exponat zu dem gewünschten Ergebnis?) ihrer Exponate zu evaluieren seien.23 Dieser Forschungsansatz und der ihm eigentümliche Drang zu quantifizierbaren Ergebnissen führte zu teils eher befremdlichen Kriterienkatalogen für die Ausstellungsevaluation. So definierte Beverly Serrell eine erfolgreiche Ausstellung 1995 beispielsweise als eine solche, in der: • • •
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mindestens 51 % der Besucher*innen sich mit einer Geschwindigkeit von maximal 3.000 Quadratfuß pro Minute bewegen (Indikator für holding power); sich mindestens 51 % der Besucher*innen mindestens 51 % der Exponate anschauen (Indikator für attracting power); mindestens 51 % der Besucher*innen unmittelbar nach dem Ausstellungsbesuch zutreffende allgemeine und spezifische Aussagen über Standpunkte, Konzepte und Ziele der Ausstellung tätigen können (als Indikator für teaching power).24
Spickernagel, Ellen & Walbe, Brigitte: Das Museum, Lernort contra Musentempel, Giessen 1979. Einen guten Überblick bietet Kirchberg, Volker: Besucherforschung in Museen. Evaluation von Ausstellungen, in: Baur, Joachim (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2013, S. 171–181. Shettel; Reilly: Evaluation of Existing Criteria; Die Begriffe »attracting power« und »holding power« wurden allerdings bereits 1928 von Edward Robinson in die Besucher*innenforschung eingeführt. Vgl. Robinson, Edward: The Behavior of the Museum Visitor, Washington, D. C. 1928. Serrell, Beverly: The 51 % Solution Research Project. A Meta-Analysis of Visitor Time/Use in Museum Exhibitions, in: Visitor Behavior (3/1995), URL: https://www.informalscience.org/5 1-solution-research-project-meta-analysis-visitor-timeuse-museum-exhibitions (letzter Zugriff: 17.12.2019), S. 5–9.
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Auf der Jahrestagung des Bundesverbandes Museumspädagogik 2003 lobte der damalige HdG-Stiftungspräsident Hermann Schäfer diese Methode der Ausstellungsevaluation in den höchsten Tönen. Denn schließlich sei Besuchsverhalten oft unvorhersehbar und Besucher*innen bewegten sich häufig anders durch ein Museum, als von seinen Macher*innen intendiert. Dem Ausstellungsdesigner Ralph Appelbaum schrieb er in diesem Zusammenhang den Ausspruch zu: »Besucher grasen wie Schafe durch die Ausstellungslandschaft. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass sie systematisch lesen.«25 Die Schafsmetapher ist insofern bemerkenswert, als dass sie auch in einer begleitenden Studie Sharon Macdonalds über die Erstellung einer Sonderausstellung im Londoner Science Museum auftaucht. Macdonald berichtet davon, wie die von ihr beforschten Ausstellungsmacher*innen die Besucher*innen des Science Museum immer wieder als »sheep-like« darstellten, die stets etwas dümmlich der Herde hinterhertrotten und nichts verstehen würden. »In everyday talk in the Museum it was fairly common for visitors to be referred to as problems, as »in the way«, as disruptive and as »stupid«, so Macdonald.26 Ganz ähnlich dichtete Hans Magnus Enzensberger 1971 in Über die Schwierigkeiten der Umerziehung: »Wenn nur die Leute nicht wären! Immer und überall stören die Leute. Alles bringen sie durcheinander.«27 Auch wenn er dabei das Verhältnis linker Revolutionäre zu den arbeitenden Klassen im Sinn hatte, lässt sich sein Gedicht fast ebenso gut als eines über Museen und ihre Besucher*innen lesen.28 Bei der Kulturmanagerin Andrea Hausmann steigert sich diese Störung des Museumsbetriebs zu einem »von den Besuchern ausgehende[n] Bedrohungspotenzial« und schließlich sogar zu einer tatsächlichen »Bedrohungsimmanenz«. Denn schließlich verfügten allein die Besucher*innen auf dem Markt der Kultureinrichtungen über die »Ressource »Nachfrage«, die sie einem Museum jederzeit entziehen könnten und dies bisweilen auch täten.29 Ob sie also da sind oder nicht – »An den Leuten scheitert eben alles.«30 Doch es hilft ja nichts: Museen und ihre Besucher*innen sind aufeinander angewiesen (auch wenn Macdonald die von ihre beforschten Museumsmitarbeiter*innen mit den Worten zitiert: »exhibitions are made by curators mainly
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Schäfer, Hermann: Besucherforschung als Basis für neue Wege der Besucherorientierung, in: Commandeur, Beatrix & Dennert, Dorothee (Hg.): Event zieht – Inhalt bindet. Besucherorientierung [von Museen] auf neuen Wegen, Bielefeld 2004, S. 103–119, hier: S. 104–105. Macdonald: Behind the Scenes, S. 160. Enzensberger, Hans Magnus: Gedichte. 1950 – 1985, Frankfurt a.M. 1986, S. 68–69. Vielleicht abgesehen von der Zeile »Man kann sie doch nicht alle umbringen!« Hausmann, Andrea: Kulturfinanzierung im Kontext der Besucherorientierung von Kulturbetrieben, in: Hausmann, Andrea & Helm, Sabrina (Hg.): Kundenorientierung im Kulturbetrieb. Grundlagen – innovative Konzepte – praktische Umsetzung, Wiesbaden 2006, S. 91–108, hier: S. 97. Enzensberger: Gedichte, S. 68.
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for other curators«). Daher noch einmal die Frage: Wer sind nun diese Leute, welche die Museen und Ausstellungen bevölkern? Sind es »Studenten«, »Beobachter«, »Bummler« und »Emigranten«?31 »Browsers«, »Followers«, »Searchers« und »Researchers«?32 Sind es »Nomaden«, »Commuter«, Cafeteria-Typen« und »VIPs« (»Very Interested Persons«)?33 Oder »Schmetterlinge«, »Grashüpfer«, »Ameisen« und »Fische«?34 Die Palette an Metaphern für Ausstellungsbesucher*innen scheint nahezu grenzenlos zu sein. Doch tatsächlich unterscheiden sich diese breit gefächerten Charakterisierungen gar nicht so sehr voneinander. Zum Beispiel gleichen die »Schmetterlinge«, die im Modell von Eliseo Véron und Martine Levasseur auf der Suche nach interessanten Exponaten scheinbar wahllos durch die Ausstellung flattern, den »Browsers« bei Andrew McIntyre sowie den »Cafeteria-Typen« von Barbara Tymitz und Robert Wolf, welche die Ausstellung wie eine Kuchenauslage nach besonderen Leckerbissen absuchen. »Nomaden« und »Fische« sind immer in Bewegung und durchqueren die Ausstellung daher zügig und ohne größere Zwischenhalte an einzelnen Exponaten. »Researcher« ähneln den »Grashüpfern«, die sich gezielt von einem Exponat ihres Interesses zum nächsten bewegen, wobei sie Uninteressantes einfach überspringen. »VIPs« sind dem Museum besonders lieb, da sie sich für alles interessieren und sich folglich wie »Ameisen« systematisch durch die Ausstellung vorarbeiten. Obwohl die hier präsentierten Besucher*innen-Modelle nicht vollständig kongruent sind, weisen sie also doch bemerkenswert starke Parallelen miteinander auf. Der Grund hierfür ist kein zufälliger, sondern ist darin zu finden, dass alle vier Modelle im Wesentlichen einem behavioristischen Paradigma verbunden sind. Ihre Typologisierungen nehmen sie fast ausschließlich anhand von leicht messbaren Parametern vor, die sich auf die Bewegung der Besucher*innen im Raum beziehen: Wie schnell durchqueren Besucher*innen eine Ausstellung? Welche Wege nehmen sie dabei? Von welchen Exponaten werden sie angezogen? Wo verweilen sie länger?35 31
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Higgins, Henry Hugh: Museums of Natural History. Part 1: Museum Visitors, in: Literary and Philosophical Society of Liverpool (Hg.): Transactions of the Literary and Philosophical Society of Liverpool, Liverpool 1884, S. 185–188. Es handelt sich hierbei um eine der ersten veröffentlichten Studien zum Besuchsverhalten in Museen überhaupt. McIntyre, Andrew: Never Mind the Width. Feel the Quality, in: Museums and Heritage Show (05/2005), URL: https://mhminsight.com/articles/never-mind-the-width-5088 (letzter Zugriff: 22.04.2021), S. 1–17, hier: S. 11. Wolf, Robert & Tymitz, Barbara (Hg.): Whatever Happened to the Giant Wombat. An Investigation of the Impact of the Ice Age Mammals and Emergence of Man Exhibit, National Museum of Natural History, Smithsonian Institution, Washington, D. C. 1978, S. 10–11. Verón, Eliseo & Levasseur, Martine: Ethnographie de l’exposition. L’espace, le corps et le sens, Paris 1983. Selbstverständlich hat auch die konstruktivistische Besucher*innenforschung eigene Typologisierungen hervorgebracht. Diese orientieren sich eher an den Motivationen und sozialen Praktiken als am Bewegungsmuster der Besucher*innen. So unterscheidet etwa Falk zwi-
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Zwar gelten derartige behavioristische Ansätze inzwischen als theoretisch überholt, dennoch üben sie weiterhin einen erheblichen Einfluss sowohl auf die museale Praxis als auch auf die sie umgebende Forschung aus. So konstatieren John Falk, Lynn Dierking und Marianna Adams in einem Beitrag für den »Companion to Museum Studies«: Although constructivist ideas of learning have been circulating in academic circles for quite some time, the behaviorist learning model continues to thrive in museums. Many museum practitioners, consciously or unconsciously, operate as if by properly adjusting the lighting, composing the right label, and positioning an object »just so,« all visitors to the museum will emerge having had the same experience and having learned exactly the same thing.36 Zudem hat sich auch nach der (theoretischen) Verabschiedung vom Behaviorismus nur wenig an der Zielsetzung der Besucher*innenforschung geändert: Nach wie vor ist sie zu einem Großteil auf die Messung und Steigerung von Lernerfolg und Lerneffizienz in Ausstellungen bedacht. Eigene theoretische Vorannahmen – insbesondere der starke Fokus auf das Lernen – werden hingegen nur selten reflektiert. Dies hat zur Folge, dass die Fragen »Was tun Menschen in Ausstellungen?« und »Warum besuchen Menschen Ausstellungen?« de facto in einer normativ überhöhten Form gestellt werden: »Was sollen Menschen in Ausstellungen tun?« und »Warum sollen Menschen Ausstellungen besuchen?«. Dabei ist die Antwort – lernen – bereits vorweggenommen. Wir haben es hier mit einer Art umgekehrtem normativistischen Fehlschluss zu tun, beim dem vom Sollen auf das Sein geschlossen wird. Mir scheint, dass dieser Fehlschluss nicht zuletzt auf den starken Anwendungsbezug der (museumswissenschaftlichen) Besucher*innenforschung zurückzuführen ist. »Pragmatism rules in visitor studies evaluation«, konstatierte der Sozialwissenschaftler und Museologe George Hein bereits 1998: The actual situation in museums is that a vast preponderance of visitor studies are limited efforts to evaluate specific exhibitions or exhibit components and are governed more by immediate practical constraints than by the overarching concerns about research methodology.37
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schen »explorer; facilitator; professional/hobbyist; experience seeker; and spiritual pilgrim.« Falk, John: An Identity-Centered Approach to Understanding Museum Learning, in: Curator: The Museum Journal (02/2006), S. 151–166, hier: S. 151. Falk, John, et al.: Living in a Learning Society. Museums and Free-choice Learning, in: Macdonald, Sharon (Hg.): A Companion to Museum Studies, Malden, MA 2006, S. 323–339, hier: S. 325. Ähnlich konstatiert Kirchberg, »dass ein Großteil der (deutschen) Besucheranalysen noch im deskriptiven wie im behavioristischen Ansatz verbleiben.« Kirchberg: Besucherforschung in Museen, S. 179. Hein: Learning in the Museum, S. 77.
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An der Dominanz dieses Pragmatismus hat auch die von Volker Kirchberg als »Treinen-Schock« bezeichnete fundamentale Kritik Heiner Treinens an der Konzeption von Museen als Lernorten Anfang der 1990er Jahre bislang wenig geändert.38 Treinen hatte 1987–89 eine umfangreiche Studie über die Wirkung von Museumsbesuchen am Beispiel der Ausstellung »Geschichte und Kultur der Juden in Bayern« am Haus der Bayerischen Geschichte durchgeführt. Obwohl die Ausstellung »mit hohem materiellen und didaktischen Aufwand« verbunden gewesen sei und aufgrund der Beschränkung auf ein klar umrissenes Themengebiet »eine außergewöhnlich günstige Situation zur Gewinnung neuer Erfahrungen und Wissenszuwächse« geboten habe, war das Ergebnis der Studie ernüchternd: Bei der Masse der Besucher*innen konnte kein statistisch relevanter Wissenszuwachs festgestellt werden. Lediglich Besucher*innen mit hohem Bildungsstand und ausgeprägtem Vorwissen »lernten in der Tat dazu und profitierten überdurchschnittlich vom Ausstellungsbesuch«.39 Als zentrale Ursache für diese Ergebnisse machte Treinen die kommunikative Struktur des Museums aus, die in zentralen Aspekten mit der von klassischen Massenmedien vergleichbar sei. Wie diese würden sich auch Museen mit ihren Ausstellungen an »ein umfangreiches, heterogenes und verstreutes Publikum« wenden.40 Und hier wie dort sei das Kommunikationsverhältnis »asymmetrisch« in dem Sinne, dass die präsentierten »Informationen und der Hintergrund der Darbietung […] vom Betrachter nicht mitbestimmt werden« können. Dementsprechend glichen sich auch die Rezeptionsweisen von Ausstellungen und Massenmedien wie Film oder Presse: Der »massenmedialen Informationsauswahl« entspreche ein »kulturelles »window-shopping« in Museen«,41 wobei die »Tendenz zur Durchwanderung der gesamten Ausstellung« bestehe und die Verweildauer vor einzelnen Exponaten extrem kurz sei. Eine Ausnahme stellten lediglich solche Objekte dar, »die öffentliche Bedeutsamkeit mit persönlichen […] Bezügen koppeln«.42 Auch wenn in Treinens Argumentation ein gewisser Kulturpessimismus mitschwingt, berührt sie doch eine zentrale Schwachstelle der Vorstellung von Museen als Lernorten – nämlich, dass die meisten Besucher*innen in Museen weder lernen wollen43 noch sich von einer Ausstellung belehren lassen: Wirkmächtiger als die museale Vermittlungsabsicht seien »individuell vorhandene 38 39 40 41 42
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Kirchberg: Besucherforschung in Museen, S. 175. Treinen: Ist Geschichte in Museen lehrbar, S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Treinen, Heiner: Zur Wirkung historischer Ausstellungen, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Europäische Geschichtskultur im 21. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 168–182, hier: S. 174. Eine Erkenntnis, die der Geschichtsdidaktiker Alfons Kenkmann einmal mit den Worten »Aus dem Intrinsischen erwächst kein Gang in das Museum« auf den Punkt gebracht hat. Kenkmann, Alfons: Kompetenzförderung im Museum? Interview mit dem Professor für Ge-
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Verarbeitungsstrukturen und Überzeugungen der Besucher; diese können sich sogar gegen scheinbar offensichtlich dargebotene Bedeutungsmuster durchsetzen«, so Treinen.44 Ganz in diesem Sinne argumentierten auch die Museumswissenschaftler*innen Zahava Doering und Andrew Pekarik 1997 in einer Zusammenfassung mehrerer Studien an der Smithsonian Institution, dass der Einfluss von Museen auf Kenntnisse und Einstellungen ihrer Besucher*innen in der Regel statistisch insignifikant sei. Als wesentlichen Grund hierfür identifizierten sie allerdings nicht die kommunikative Struktur des Museums, sondern den Einfluss von Besuchserwartungen auf die tatsächliche Besuchserfahrung. Menschen beträten eine Ausstellung stets mit einem vorgefertigten »Eingangsnarrativ« (»Entrance Narrative«), welches durch ihr Vorwissen, ihre persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühle, Erwartungen, grundlegende ideologische Bezugsrahmen usw. strukturiert sei.45 Das Ziel des Ausstellungsbesuchs bestehe normalerweise nicht darin, dieses Eingangsnarrativ zu hinterfragen. Im Gegenteil: »Visitors want validation so strongly that if the exhibition story departs in only minor ways from their expectations, they are likely to simply »not notice« the areas of difference.«46 Weitere Besucher*innenbefragungen bestätigten in den folgenden Jahren diese These. In einem Beitrag für den Curator schlussfolgerten Pekarik und James Schreiber: [O]n the whole they [visitors] came in knowing what experiences they expected, and they left having found them, regardless of what museum personnel presented to them inside. […] Those museum personnel who believe that a museum’s mission is to communicate or transmit specific messages, feelings, or other experiences will need to appreciate that in general only visitors already attuned to seeking these experiences are likely to find them.47
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schichtsdidaktik an der Universität Leipzig, in: Staupe, Gisela (Hg.): Das Museum als Lernund Erfahrungsraum. Grundlagen und Praxisbeispiele, Wien 2012, S. 111–119, hier: S. 115. Treinen, Heiner: Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in kulturhistorischen Ausstellungen, in: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in historischen Ausstellungen. Kolloquiumsbericht zu den Ergebnissen der Ausstellung »Geschichte und Kultur der Juden in Bayern«, München 1991, S. 11–13, hier: S. 13. Doering, Zahava & Pekarik, Andrew: Visitors to the Smithsonian Institution. Some Observations, in: Visitor Studies. Theory, Research, and Practice (1/1997), URL: http://vsa.matrix.msu .edu/vsa_browse_vs.php (letzter Zugriff: 09.02.2021), S. 40–50. Ebd., S. 47. Zum Einfluss des Eingangsnarrativs auf die Ausstellungsaneignung und insbesondere auf das Phänomen des Nichtbemerkens von abweichenden Ausstellungsnarrativen vgl. auch Kapitel 7.4 in dieser Arbeit. Pekarik, Andrew J. & Schreiber, James B.: The Power of Expectation, in: Curator: The Museum Journal (4/2012), S. 487–496, hier: S. 487–495.
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Überhaupt drängt sich bei näherer Betrachtung die Frage auf, warum denn ausgerechnet das Museum – mit seiner komplexen Erzählstruktur, seinen an sich schweigsamen Exponaten und den begrenzten Möglichkeiten, unterschiedliche Zielgruppen adäquat zu adressieren – als Lernort prädestiniert sein sollte. Hinzu kommen sehr praktische, körperbezogene Schwierigkeiten. »Museums can be exhausting«, so Lubar. »Consider the challenges: trying to concentrate while standing up; having a transcendent, contemplative experience in a crowd« usw.48 Die Kuratorin Brigitte Kaiser konstatiert denn auch ein wenig ketzerisch: »Die Aufgabe der Popularisierung von Wissen wird von anderen Medien ebenfalls, zum Teil sogar besser, geleistet«. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf »Sach- und Fachbücher, populäre Geschichtsromane […], aufwendig produzierte Fernsehdokumentationen und ausführliche Internetseiten«, gegenüber denen sowohl »im Hinblick auf effektiven Lernzuwachs als auch in Bezug auf finanziellen Nutzen […] museale Ausstellungen meist keine positive Bilanz ziehen« könnten.49 Ähnlich heißt es bei der Soziologin Vanessa Schröder: die Museumsforschung [brachte] immer wieder die Enttäuschung mit sich, dass Besucher beinahe grundsätzlich anderes lernten als vom Museumspersonal intendiert. […] Lernen erfolgt […] derart individuell spezifisch, dass keine Regelmäßigkeiten gefunden werden konnten, die erwartbar machen, was welcher Typ von Besucher lernt.50 All dies bedeutet natürlich nicht, dass Besucher*innen in Museen nicht lernen können. Aus dem bisher Gesagten folgt hingegen zweierlei: Zum einen muss konstatiert werden, dass Lernprozesse in Museen – wenn überhaupt – zu komplex, voraussetzungsvoll und kontingent ablaufen, als dass sie mit behavioristischen Forschungsansätzen hinreichend erfasst werden könnten. Zum anderen – und das ist der wesentliche Punkt – gilt es aber auch, eine grundsätzliche Perspektivenerweiterung vorzunehmen und danach zu fragen, warum und in welcher Weise sich Besucher*innen denn noch mit Ausstellungen auseinandersetzen, wenn historisches Lernen möglicherweise weder in ihrer Absicht liegt noch von der Forschung adäquat evaluiert werden kann.
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Lubar: Inside the Lost Museum, S. 160–161. Lubar zitiert an dieser Stelle den Philosophen Nelson Goodman, der die Rezeptionsbedingungen in Museen 1983 als »hostile« sowie »abnormal and adverse« bezeichnete. Ebd., S. 161. Kaiser, Brigitte: Inszenierung und Erlebnis in kulturhistorischen Ausstellungen. Museale Kommunikation in kunstpädagogischer Perspektive, Bielefeld 2006, S. 62. Schröder, Vanessa: Geschichte ausstellen – Geschichte verstehen. Wie Besucher im Museum Geschichte und historische Zeit deuten, Bielefeld 2014, S. 353–354.
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4.2 Potenziale, Grenzen und normativistische Fehlschlüsse der konstruktivistischen Besucher*innenforschung Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, müssen wir jedoch noch einen Augenblick beim Museum als Lernort verweilen. Denn aus geschichtsdidaktischer Perspektive ließe sich gegen das bisher Gesagte völlig zu Recht einwenden, dass hier von einem längst überholten Lernbegriff ausgegangen wird, bei dem es bestenfalls noch um den Erwerb von Sachkompetenz, tatsächlich aber nur um reines Faktenwissen geht. Mit geschichtsdidaktischen Modellen historischen Denkens – etwa dem Kompetenz-Strukturmodell des FUER-Projekts51 – ließe sich hingegen auch danach fragen, inwiefern in Museen »Irritationen angesichts der Darstellung bestimmter Zusammenhänge in historischen Narrationen« oder bloße »Neugierde an historischen Situationen« bei Besucher*innen zu einem Bedürfnis von Orientierung in der Zeit führen (historische Orientierungskompetenz), wie ein Museumsbesuch das Entwickeln eigener historischer Fragestellungen anregen kann (historische Fragekompetenz) oder inwiefern Besucher*innen die ihnen präsentierten musealen Narrationen »in ihrer (Tiefen-)Struktur […] erfassen« und »de-konstruieren« (historische Methodenkompetenz).52 Anstatt lediglich den Wissenserwerb der Besucher*innen zu erfassen (was letztlich nichts anderes heißt, als zu überprüfen, inwiefern Besucher*innen die museale Narration unkritisch übernehmen), könnte eine geschichtsdidaktisch inspirierte Besucher*innenforschung möglicherweise dazu beitragen, den Blick zu öffnen für die vielfältigen Handlungsweisen, mit denen sich Menschen in Museen Geschichte aneignen. Tatsächlich lässt sich seit den neunziger Jahren eine allmähliche Abkehr von einem auf reinen Wissenserwerb beschränkten, instruktivistischen Lernverständnis beobachten, hin zu einem konstruktivistischen, welches verstärkt den Eigensinn der Besucher*innen und damit die »Individualität und Vielfältigkeit von Lernprozessen im Museum« betont.53 Im englischsprachigen Raum haben etwa Eilean Hooper-Greenhill mit ihrem Modell der Generic Learning Outcomes54 sowie John
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Vgl. Schreiber, Waltraud, et al.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried 2006, zit.n.: http://edoc.ku-eichstaett.de/1768/. Das Akronym FUER bezeichnet das Forschungsprojekt zur [F]örderung [u]nd [E]ntwicklung von [r]eflektiertem Geschichtsbewußtsein. Ebd., S. 20, 23, 32. Einen guten Überblick über diese Entwicklung bietet der Artikel von Noschka-Roos, Annette & Lewalter, Doris: Lernen im Museum – theoretische Perspektiven und empirische Befunde, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (3/2013), S. 199–215. Hooper-Greenhill: Museums and Education, S. 44–62.
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Falks und Lynn Dierkings Contextual Mode of Learningl55 zur Konzeptualisierung des konstruktivistischen Lernverständnisses beigetragen. Für den deutschsprachigen Raum sind in diesem Zusammenhang vor allem Christian Kohlers »domänenspezifisches Modell des musealen Lernens«56 sowie Andreas Körbers Anwendung des FUER-Modells auf Museen hervorzuheben.57 Allerdings zeigen bereits die Titel dieser Werke an, dass auch die konstruktivistische Besucher*innenforschung dem Lernparadigma weitestgehend verhaftet bleibt. Indem sie ihren Blick für die vielfältigen Rezeptionsprozesse von vornherein auf »Lernen« fokussiert, bleiben die soziale Dimension des Ausstellungsbesuchs und die Gründe, aus denen Menschen Museen sonst noch besuchen notwendigerweise außerhalb des Sichtfeldes dieser Forschungsrichtung.58 Stephan Schwan hat zwar sicherlich recht, wenn er konstatiert, »dass Ausstellungen auch dann in Besuchern Lernprozesse auslösen können, wenn diese mit ganz anderen Motiven kamen« und »auch Ausstellungen, die nicht explizit auf Lernen und Wissenserwerb angelegt sind, Lernerfahrungen auslösen.«59 Dennoch müsste sich eigentlich die Frage aufdrängen, worin denn diese anderen Motive bestehen und welche Erfahrungen Menschen in den »nicht explizit auf Lernen und Wissenserwerb« ausgerichteten Ausstellungen hauptsächlich machen. Stattdessen begnügt sich die Forschung allzu oft mit der beruhigenden Einsicht, dass Besucher*innen doch irgendwie auch nebenbei lernen.60 Dabei 55
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Falk, John & Dierking, Lynn: The Contextual Model of Learning, in: Anderson, Gail (Hg.): Reinventing the Museum. Historical and Contemporary Perspectives on the Paradigm Shift, Lanham 2004, S. 139–142. Kohler: Schülervorstellungen, S. 69–70. Körber: Kompetenzorientiertes historisches Lernen. In Thomas Bernhards Roman Alte Meister besucht der Protagonist – ihm selbst zufolge »von Natur aus ein Museumshasser« – jeden zweiten Tag das Kunsthistorische Museum Wiens, einzig aus dem Grund, um auf der Sitzbank im Bordone-Saal über seine Artikel für die Times nachzudenken. »Wie Sie wissen, gehe ich ja nicht in den Bordone-Saal wegen Bordone, ja nicht einmal wegen Tintoretto […], ich gehe wegen dieser Sitzbank in den Bordone-Saal und wegen des idealen Lichteinflusses auf mein Gemütsvermögen, tatsächlich wegen der idealen Temperaturverhältnisse gerade im Bordone-Saal«. Bernhard, Thomas: Alte Meister. Komödie, Frankfurt a.M. 1985, S. 37. Schwan, Stephan: Lernen, in: Gfrereis, Heike et al. (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 63–75. Insgesamt hat mich die Literatur zur Besucher*innenforschung immer wieder an Louis Althussers Konzept der »symptomatischen Lektüre« erinnert, welches er in »Das Kapital lesen« entwirft. Althusser argumentiert, dass der werttheoretische Diskurs der klassischen Nationalökonomie sich bei Marx wie die richtige Antwort auf eine Frage lese, deren einziges Problem darin bestehe, dass sie überhaupt nicht gestellt wurde, dass also »die Antwort die Antwort auf eine andere Frage ist«. Analog dazu beantwortet die Besucher*innenforschung die Frage, wie Menschen in Ausstellungen lernen, fragt aber danach, wie sich Menschen in Ausstellungen verhalten. Vgl. Althusser, Louis & Balibar, Étienne: Das Kapital lesen, Reinbek 1972, S. 25.
4. Lernen, nutzen, aneignen. Zum Stand der Besucher*innenforschung in Museen
würden bereits die von Bernd Schönemann immer wieder propagierten »drei Leitmuster gesellschaftlicher Geschichtskultur« theoretische Grundbausteine für eine geschichtsdidaktische Besucher*innenforschung liefern, die wie selbstverständlich über das Lernparadigma hinausginge.61 Schönemann unterscheidet zwischen »Geschichte als Nutzen« als Idealtypus vormoderner Geschichtskultur, gefolgt von »Geschichte als Bildung« in der Moderne und schließlich »Geschichte als Erlebnis« in der Postmoderne.62 Schönemann versteht diese drei »Leitmuster« als die in ihrer jeweiligen Epoche dominanten Typen des gesellschaftlichen Zugriffs auf Geschichte, wobei kein Typus seine(n) Vorgänger gänzlich verdrängt habe. Seine Überlegungen greift etwa die Geschichtsdidaktikerin Regina Göschl in ihrer Dissertation DDR-Alltag im Museum auf, in der sie das DOK Eisenhüttenstadt, das Berliner DDR-Museum und das Museum in der Kulturbrauerei auf die von ihnen »präsentierten Geschichtsbilder« hin analysiert.63 Das DOK Eisenhüttenstadt ordnet sie dabei dem Leitmuster »Geschichte als Bildung« zu, während sie das Berliner DDRMuseum zum »archetypischen Vertreter des postmodernen musealen Umgangs mit der DDR-Geschichte« deklariert und im Museum in der Kulturbrauerei eine Verschränkung aller drei Leitmuster miteinander identifiziert.64 Bei dieser Zuordnung handelt es sich jedoch eher um Wert- als um analytische Sachurteile: Bezüglich der Kulturbrauerei befürchtet Göschl, dass durch die erlebnisorientierten Rauminszenierungen der Ausstellung deren »kognitive Dimension, also die Inhalte der Ausstellung, partiell überlagert werden können.«65 Die Möglichkeiten zur Berührung und Interaktion mit Exponaten im Berliner DDR-Museum erscheinen ihr »an manchen Stellen vor allem als Selbstzweck« und es sei fraglich, »welche historischen Erkenntnisse aus diesen Aktivitäten gewonnen werden können.«66 Ganz ähnlich bemängelt Gaubert, dass man sich im DDR-Museum bisweilen auf der »Suche nach tieferer Erkenntnis lediglich vor einer geöffneten Küchenschublade voller Besteck und Küchenutensilien wiederfindet« und kommentiert sarkastisch: »Wem es eine Neuigkeit ist, dass man auch in der DDR mit Messer und Gabel aß, mag auch dieser Griff lehrreich erscheinen.«67 Was Gaubert und Göschl offensichtlich entgeht, ist, dass im Museum nicht jeder Griff »lehrreich« sein muss, dass nach historischem Erkenntnisgewinn überhaupt nur dann permanent gefragt werden muss, wenn dieser als primärer Zweck eines Museums von vornherein gesetzt ist. Dass aber
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Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. Ebd., S. 47–48. Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 310. Ebd., S. 310–315. Ebd., S. 314. Ebd., S. 311. Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 146.
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dies innerhalb des von Schönemann entworfenen Schemas gerade nicht der Fall ist, sollte sich eigentlich von selbst verstehen.68 Davon abgesehen lässt sich die Prävalenz des Leitmusters von »Geschichte als Erlebnis« an einer Neuausrichtung der Institution des Museums ablesen, die zeitlich und inhaltlich mit der konstruktivistischen Wendung des Lernbegriffs in der Besucher*innenforschung zusammenfiel und die gemeinhin mit dem Schlagwort »Besucherorientierung« betitelt wird.69 Die Genese dieses Begriffs ist ambivalent. So weist etwa die Museumspädagogin Annette Noschka-Roos darauf hin, »dass in der amerikanischen Besucherforschung dieser Begriff insbesondere Anfang der 1990er Jahre nicht in einem betriebswirtschaftlichen, sondern in einem lernpsychologischen Kontext auftauchte«.70 Allerdings muss konstatiert werden, dass das Konzept der »Besucherorientierung« im Folgenden zu einer wichtigen Grundlage der betriebswirtschaftlichen Neuausrichtung der Museen avancierte.71 Für die Kulturmanagerin Andrea Hausmann beispielsweise gilt »Besucherorientierung« als »Herzstück« des Kulturmarketing«, denn Museen seien »in hohem Maße von der Nachfrage der Besucher abhängig, und sie benötigen von ihnen die im Rahmen dieser Nachfrage erbrachten monetären und nicht-monetären Leistungen.«72 »Besucherorientierung« beruhe folglich auf der Annahme, »dass die Kenntnis der Besuchserwartungen und ein abgestimmtes Marketing-Mix [sic!] einen entscheidenden Vorsprung im Wettbewerb und eine bessere Zielerreichung verschaffen« könnten.73 Nachfrage, Leistungen, Marketing, Wettbewerb – mit der »Besucherorientierung« hielt ein ganzes Arsenal an betriebswirtschaftlichen Begriffen und Kriterien in die Museumsarbeit Einzug, inklusive einer Konzeption der Besucher*innen als
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Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch die Art und Weise, in der Göschl sich nach gut 200 Seiten klassischer Ausstellungsanalyse auf den letzten zwei Seiten ihrer Arbeit den »Sinnbildungsprozesse[n] der einzelnen Museumsbesucher« zuwendet: Die Frage nach den Sinnbildungsprozessen wird gleich im nächsten Satz auf »Überlegungen für die Vermittlungsarbeit« und die Frage nach dem »Lernpotential der DDR-Alltagsgeschichte« reduziert. Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 319. Wittgens, Laura: Besucherorientierung und Besucherbindung in Museen. Eine empirische Untersuchung am Fallbeispiel der Akademie der Staatlichen Museen zu Berlin (Mitteilungen und Berichte aus dem Institut für Museumskunde Nr. 33), Berlin 2005. Noschka-Roos, Annette: »Visitors’ Bill of Rights« – als Maßstab für die Besucherorientierung, in: Commandeur, Beatrix & Dennert, Dorothee (Hg.): Event zieht – Inhalt bindet. Besucherorientierung [von Museen] auf neuen Wegen, Bielefeld 2004, S. 159–172, hier: S. 159. Und wie die folgende Analyse zeigt, stehen sich lernpsychologischer und betriebswirtschaftlicher Kontext keineswegs so konträr gegenüber, wie Noschka-Roos dies suggeriert. Hausmann: Hausmann 2006 – Kulturfinanzierung im Kontext der Besucherorientierung, S. 91, 97. Günter, Bernd & Hausmann, Andrea: Marketingkonzeptionen für Museen, Hagen 2005, S. 26.
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»Kunden«, die im »Dienstleistungsunternehmen« Museum Kultur und Wissen konsumieren.74 Aus Sicht des Museums besteht das Ziel der »Besucherorientierung« in der »Besucherbindung«. So rät beispielsweise der Museumspraktiker Kurt Grötsch Museen zur »Entwicklung emotional geprägter Marken« sowie »Marken- und Produktallianzen«, um eine »tiefere Kundenbindung« zu erreichen und es ihren Besucher*innen zu ermöglichen »neue Konsumvarianten zu erproben.«75 Ähnlich argumentiert Alfred Czech, dass ein erfolgreiches »Marketing« zur Erschließung neuer Zielgruppen für Museen führe. Zentrales Element sei dabei die »Markenbildung«, die u.a. über die Definition von »Markenwerten«, »Markenkern« und »Markenimage« ablaufe.76 Die Vorstellungen vom Museum als Lernort einerseits und Dienstleistungsunternehmen andererseits mögen zunächst widersprüchlich erscheinen, können aber auch als zwei Seiten derselben Medaille begriffen werden. Schließlich wird die Vermarktlichung vor allem mit dem Argument propagiert, dass diese automatisch zu einer Öffnung des Museums für breitere Bevölkerungsschichten führe. Die Vielzahl zueinander in Konkurrenz stehender kultureller Angebote und nicht zuletzt auch finanzieller Druck würden Museen dazu zwingen, verstärkt um Besucher*innen zu werben und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Die dadurch hervorgebrachte Freizeitorientierung des Museumsbetriebs könne somit entschieden zu dessen Demokratisierung beitragen.77 Museales Lernen wird 74
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Grötsch, Kurt: Merkwürdig – Lernen im Museum oder Lernen in Erlebniswelten. Was können Museen von lernbasierten Erlebnisorten lernen?, in: John, Hartmut & Dauschek, Anja (Hg.): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld 2008, S. 107–132, hier: S. 107. Dabei kann es schonmal vorkommen, dass das Exponat zur »Ware« eines Museums erklärt wird – wenngleich dieser Begriff auf eine Fehlübersetzung Jana Scholzes aus dem Englischen »Goods« (Güter, der korrekter Begriff für Ware wäre »Commodity«) zurückzuführen ist. Vgl. Scholze: Medium Ausstellung, S. 15. Grötsch: Grötsch 2008 – Merkwürdig, S. 109–110. Czech, Alfred: Zielgruppenspezifische Angebote. Der Museumsbesucher als Kunde, in: KunzOtt, Hannelore et al. (Hg.): Kulturelle Bildung im Museum. Aneignungsprozesse – Vermittlungsformen – Praxisbeispiele, Bielefeld 2009, S. 119–124. In diesem Zusammenhang verweist etwa John Hartmut auf den egalitären Charakter der Popkultur, welche das Potenzial habe, die »einstigen Barrieren« zur Hochkultur zu beseitigen und »Grenzziehungen« zwischen den »einst hermetisch getrennten Sphären der Kultur«, zwischen »den Kulturprodukten öffentlicher […] und kommerzieller […] Angebote« zu verwischen. Events als Teil einer verstärkten Orientierung am »Besucher« als »Kunden« könnten dazu beitragen, »Museen für kunst- und kulturferne Gruppen zu anregenden Erlebnisorten zu machen.« John: Hülle mit Fülle, S. 25, 29. Abgesehen davon, dass man sich fragen muss, wer denn diese »kulturfernen Gruppen« sein sollen (hier wird erneut Kultur mit bürgerlicher »Hochkultur« gleichgesetzt), beruht diese Schlussfolgerung auf der ideologischen Annahme, dass der Markt die Probleme des Museums schon irgendwie lösen werde. Da es aber ja gerade die im kapitalistischen System besonders unterprivilegierten Menschen mit wenig Einkommen und niedrigem Bildungsstand sind, die in der Masse vom Museumsbesuch faktisch ausgeschlossen sind, ist es irrig anzunehmen, dass ausgerechnet eine stärkere Com-
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dabei weniger als Wissens-, denn vielmehr als Kompetenzerwerb und Arbeit am eigenen Selbst verstanden. So konstatiert etwa die Sprachwissenschaftlerin Ellinor Haase, dass Museen ihren Besucher*innen dabei helfen könnten, »im persönlichen und beruflichen Leben neuen Herausforderungen begegnen zu können« und »das eigene Leben selbstverantwortlich zu gestalten«.78 Dafür müssten Museen sich am »Konzept des Lebenslangen Lernens« ausrichten, welches schließlich »ein Schlüsselelement zur Erreichung des strategischen Ziels von Lissabon (2000) [ist], das besagt, die Europäische Union zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wissensgesellschaft der Welt zu machen.«79 Ähnlich betonen die bereits mehrfach zitierten Museumswissenschaftler*innen John Falk und Lynn Dierking in einem gemeinsamen Text mit Marianna Adams die Relevanz freiwilligen und non-formalen Lernens für Museen in der digitalisierten Informationsgesellschaft: Cradle-to-grave learning has long been a goal of Western society, but it is increasingly becoming both a necessity and a way of life. […] In the twenty-first century, the learning strategy of choice for most people, most of the time, will be freechoice learning. […] Whereas as recently as a generation ago, learning was perceived as a necessary but painful process […], by the end of the next generation, learning will be accepted as something that everyone needs to do all the time. But not only will learning be something that everyone needs to do all the time, it will be transformed into something that everyone will consciously want to do all the time.80 Wenn die angebliche Notwendigkeit lebenslangen Lernens den Lernenden nicht als äußerer Zwang, sondern als inneres Wollen erscheint, ist das schon ein ganz erstaunlich großer Glücksfall. Und man muss sich fragen, ob den Autor*innen dieses Zitats die begriffliche Ironie eines durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen erzwungenen Free-choice Learning einfach entgangen ist. Tatsächlich haben wir es hier mit einem Fall klassisch neoliberaler »Technologien des Selbst«81 zu tun, bei dem der »stumme Zwang der […] Verhältnisse«82 internalisiert wird und dem Individuum als neue Freiheit erscheint. Tony Bennett spricht in diesem Zusammenhang von einer
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modifizierung des Museums zu einer erhöhten Teilhabe dieser Bevölkerungsgruppen führen werde. Haase, Ellinor: Lebenslanges Lernen als neuer gesellschaftlicher Imperativ und der Beitrag der Museen, in: John, Hartmut & Dauschek, Anja (Hg.): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld 2008, S. 88–92, hier: S. 88. Ebd., S. 88. Falk, et al.: Living in a Learning Society, S. 324. Foucault, Michel: Technologies of the Self, in: Martin, Luther et al. (Hg.): Technologies of the Self. A Seminar With Michel Foucault, Amherst 1988, S. 16–49. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (MEW 23), Berlin (DDR) 1962, S. 765.
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Neudefinition der »zivile[n] Rolle des Museums […], um sich den revidierten Prioritäten liberalen Regierens anzupassen.«83 Denn während die konkreten Zielsetzungen des Museums als »zivile Maschine« seit dem 19. Jahrhundert einen beständigen Wandel durchlaufen hätten – von Disziplinierung, Demokratisierung und Selbstregulation hin zu »Toleranztechniken« und dem Erwerb von »interkulturellen Kompetenzen« –, bestehe die »geschichtliche Verbindung von Kunstmuseum und liberaler Regierungspolitik für die Selbstbildung der BürgerInnen« weiter fort.84 »Entsprechend gibt es unzählige Studien […], um den zivilen Nutzen des Museums im Sinn von Lernerfolgen, Verbesserung der Publikumsaufmerksamkeit, verbesserter Zugänglichkeit, sozialem Zusammenhalt oder besserem interkulturellen Verständnis genau zu errechnen und zu kalibrieren«, so Bennett.85 Hierin lässt sich der entschieden vorangetriebene Versuch erkennen, einen unmittelbaren »Nutzen des Museums« für die sich selbst optimierende Gesellschaft nachzuweisen.86 Dabei kann die normative Überfrachtung des Ausstellungsbesuchs – wenn sein einzig anerkannter Zweck im Lernen besteht – überraschend schnell zu neuen Ausschlüssen führen, wie sich an der (auch in der konstruktivistischen Besucher*innenforschung üblichen) Konzeptualisierung von Museen als »informelle«, »non-formale« oder »außerschulische« Lernorte zeigt.87 Beispielsweise urteilt Bodo von Borries in einem Beitrag über »Lernende in Historischen Museen und Ausstellungen«: Wer Dreidimensionalität, Authentizität, Ästhetizität und Kostbarkeit der Ausstellungsobjekte nicht nutzen will und genießen kann, soll – beim Geschichtslernen – nicht ins Museum gehen.88
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Bennett, Tony: Das Kunstmuseum als zivile Maschine, in: Schnittpunkt. Ausstellungstheorie & Praxis (Hg.): Storyline. Narrationen im Museum, Wien 2009, S. 57–73, hier: S. 58. Ebd., S. 58. Diese These über die Beziehung von Kunstmuseen und Liberalismus lässt sich freilich auch auf historische Museen übertragen. Ebd., S. 62. Dieses Bestreben erinnert bisweilen an Loriots Film Pappa ante Portas, in dem der in den Ruhestand geschickte Heinrich Lohse sich unbedingt im Haushalt nützlich machen will und dadurch das Familienleben auf den Kopf stellt. Um die provozierte Ehekrise zu entschärfen, schlägt Heinrich in der versöhnlichen Schlussszene des Films vor: »Wenn ich mir nun noch mehr Mühe gebe«, woraufhin seine Frau Renate Lohse schnell antwortet »Nein Heinrich, bitte. Nein, nein, nur das nicht«. Loriot: Pappa ante portas, 1991, 1:22:10-1:22:17. Vgl. zusammenfassend Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung, S. 66. Borries, Bodo von: Lernende in Historischen Museen und Ausstellungen. Erhoffter Kompetenzerwerb und kritische Rückfragen, in: Popp, Susanne & Schönemann, Bernd (Hg.): Historische Kompetenzen und Museen, Idstein 2009, S. 100–120, hier: S. 103. Im Original kursiv.
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Wenn aber Museen rundheraus zu »Lernorten« erklärt werden, dann haben in der Logik dieses Zitats Menschen, die im Museum nicht lernen wollen, dort auch nichts verloren.89 Trotz dieser Problematik können die oben genannten Modelle Hooper-Greenhills, Falks und Dierkings, Körbers und Kohlers – von ihrem normativen Ballast befreit – einen wesentlichen Beitrag zu einer Rekonzeptualisierung der Ausstellungsrezeption leisten. Ich werde sie daher im Folgenden kurz skizzieren und ihre für meine Arbeit relevanten Bestandteile herausarbeiten. Ich beginne mit Körbers Überlegungen zum FUER-Modell. In seinem Text »Kompetenzorientiertes historisches Lernen im Museum?« weist Körber eingangs auf die Komplexität des Museums als historisch gewordenem Ort hin, dessen Erschließung von der Vertrautheit mit zahlreichen »Konventionen, etwa hinsichtlich des Kunstbegriffs, des Begriffs von Geschichte, von Wahrheit, Ästhetik etc.« abhängig sei und schlussfolgert: »Lernen im Museum« kann daher keineswegs nur bedeuten, im Museum für etwas anderes […] zu lernen, sondern muss selbst ein Lernen über das Museum beinhalten, darüber, was ein Museum ausmacht, wie das dort Vorzufindende zu denken sei, wie es genutzt werden kann, was es für den Einzelnen und die Gesellschaft bedeutet. Lernen im Museum ist immer auch museologische Sozialisation und Enkulturation.90 Zur Schaffung einer theoretischen Grundlage für ein so verstandenes Lernen im Museum wendet Körber das Kompetenz-Strukturmodell »Historisches Denken« auf Rezeptionsprozesse in Museen an. Dabei definiert er für jeden Kompetenzbereich drei unterschiedliche Niveaus (»basal«, »intermediär«, »elaboriert«), die ein zielgerichtetes Lernen im Museum und eine Überprüfbarkeit des Lernerfolgs ermöglichen sollen.91 Als basale Sachkompetenz bezeichnet Körber beispielsweise die Vorstellung, »die museale Ausstellung sei die Darstellung vergangener Wirklichkeit«. Ein intermediäres Niveau wäre mit der Erkenntnis erreicht, »dass jede historische Ausstellung nicht nur zeitlich, räumlich und thematisch auswählen und abgrenzen muss, sondern dass ihr geschichtswissenschaftliche Konzepte und Fragestellungen unterliegen«. Die Fähigkeit, »die in einer Ausstellung verwendeten Kategorien zu reflektieren und infrage […] stellen« zu können, kennzeichne schließlich das elaborierte Niveau.92 Für Körber besteht das Ziel eines didaktisch
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Etwas überspitzt könnte somit konstatiert werden, dass sich hier das von Spickernagel und Walbe formulierte Gegensatzpaar »Lernort contra Musentempel« im Museum als Lerntempel aufhebt. Körber: Kompetenzorientiertes historisches Lernen, S. 63–64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 65.
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aufbereiteten Museumsbesuchs also nicht im Erlernen historischen Fachwissens, sondern im Erwerb historischer Kompetenzen, die überhaupt erst zu einer eigenständigen Auseinandersetzung mit Museen und Ausstellungen befähigen.
Schematische Darstellung der vier Kompetenzbereiche des FUER-Modells.93
Für die Frage, wie Menschen sich generell Ausstellungen aneignen, erscheinen mir aus dem Modell vor allem die historischen Methodenkompetenzen der Re- und Dekonstruktion relevant. Der Begriff der »Re-Konstruktion« bezeichnet im FUERModell die »Erschließung vergangener Phänomene«, alsdann »die Herstellung von Zusammenhängen zwischen diesen Phänomenen« und schließlich »die Darstellung der Ergebnisse in einer narrativen Form«.94 Bei der »De-Konstruktion« geht es hingegen darum, »vorhandene historische Narrationen in ihrer (Tiefen-)Struktur zu erfassen« und deren »Konstruktionsmuster […], zugrunde liegenden Intentionen, auch die verfolgten Orientierungsabsichten« sichtbar zu machen.95 Mir geht es nun nicht darum, unterschiedliche »Niveaus« dieser Kompetenzen bei Besucher*innen zu identifizieren, sondern vielmehr um die Einsicht, dass Besuche historischer Ausstellungen immer eine Auseinandersetzung mit vergangenen Phänomenen, die Entschlüsselung und Deutung von Ausstellungsinhalten sowie Kommunikation 93 94 95
Schreiber, et al.: Historisches Denken, S. 58. Ebd., S. 23–24. Ebd., S. 23–24.
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über diese mit einschließen, sprich immer auch Akte der Dekonstruktion und Rekonstruktion beinhalten – auf welchem »Niveau«, ist dabei erstmal unerheblich.96 Eine über diesen Punkt hinausgehende Theoretisierung der Ausstellungsrezeption auf Grundlage von Körbers Überlegungen zum Kompetenz-Strukturmodell stößt jedoch schnell an ihre Grenzen. Dies liegt zum einen an der bisweilen kritisierten »Kognitionslastigkeit« des FUER-Modells,97 aufgrund derer ästhetische und emotionale Erfahrungen beim Museumsbesuch nur unzureichend konzeptualisiert werden können; zum anderen aber auch an dem einfachen Umstand, dass die wenigsten Menschen zum Kompetenzerwerb ins Museum gehen und es mehr als fraglich ist, ob Museen diesen von sich aus fördern. So weist von Borries zu Recht darauf hin, dass es paradoxerweise gerade die »Stärken« des Museums – »Gegenständlichkeit, Authentizität, Ästhetizität, Selektivität« – sind, die ein systematisches Re- und Dekonstruieren in Ausstellungen erschweren.98 Denn schließlich seien die »Exponate des Museums […] gegenüber ihrem Realitäts-Status in der Vergangenheit fragmentiert und isoliert, […] in eine neue (künstliche) Umgebung versetzt«.99 Ihre Rekontextualisierung sei daher mit erheblichem Aufwand verbunden, doch wolle »kaum ein Mensch so große Umwege gehen und so viel Hintergrundmaterial für ein Möbelstück [oder] ein Schiffsmodell […] sammeln und aufarbeiten […]. Und die »De-Konstruktions«-Aufgabe, die auch noch gleichzeitig zu erbringen ist, erweist sich als besonders anspruchsvoll, weil die Botschaft der verkürzten (offiziellen) Museumserzählung meist ziemlich implizit bleibt.«100 Diesem Problem des FUER-Modells kann ein Stück weit mit Eilean HooperGreenhills Generic Learning Outcomes begegnet werden. Hooper-Greenhill begreift Lernen als einen Prozess, bei dem es im Kern darum gehe, Bedeutung zu produzieren (»Human beings strive after meaning and this is what provokes learning«).101 Folglich könne das Resultat dieses Prozesses nicht allein in einem Zuwachs von Wissen oder dem Erwerb von Kompetenzen bestehen, sondern vielfältige Formen annehmen, welche Hooper-Greenhill in fünf Kategorien zusammenfasst.
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Ich gehe in Kapitel 5 noch genauer auf diesen Punkt ein, wobei ich die historischen Methodenkompetenzen der Re- und Dekonstruktion mit Stuart Halls Codieren/Decodieren-Modell verknüpfe. 97 So etwa Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung, S. 82. 98 Borries: Lernende in Historischen Museen, S. 116. 99 Borries: Präsentation und Rezeption, S. 337. Ausstellungsobjekte sprechen daher nie einfach »für sich« – wie dies etwa Regina Göschl in einer Analyse des Dokumentationszentrums Alltagskultur in Eisenhüttenstadt behauptet; Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 313. 100 Borries: Lernende in Historischen Museen, S. 116. 101 Hooper-Greenhill: Museums and Education, S. 42.
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Das Modell der Generic Learning Outcomes.102
Hooper-Greenhills weit gefasster Lernbegriff hat den Vorteil, dass er offen ist für eine Vielzahl an Erfahrungen, die Menschen in Museen machen können. Allerdings würde ich einwenden, dass es zum Teil irreführend ist, diese Erfahrungen überhaupt noch unter den Begriff des Lernens zu subsumieren. Wenn ich zum Beispiel bei der Fahrt im Trabi-Simulator des DDR-Museums Belustigung oder Freude (Enjoyment) verspüre, dann kann zwar gefragt werden, ob eine solche »emotionale Begegnung mit Geschichte« für historisches Lernen eher förderlich oder abträglich ist.103 Die Emotion selbst muss dabei aber nicht zwangsläufig das Resultat eines Lernprozesses sein. Zudem lässt sich am GLO-Modell bilderbuchhaft zeigen, wie das unbedingte Festhalten am Lernbegriff zur Beschreibung unterschiedlichster Besuchserfahrungen leicht dazu führen kann, immer wieder in dieselbe normativistische Falle zu tappen wie die behavioristische Besucher*innenforschung auch. Denn Hooper-Greenhill gesteht Besucher*innen zwar einen produktiven und eigenständigen Umgang mit Museen und Ausstellungen zu, dessen Güte sich nicht anhand der Erwartungen und Bewertungskriterien dieser Institutionen messen lasse. »Most visitors to museums […] have their own agendas for learning«, konstatiert Hooper-Greenhill – bevor sie diese Agenden dann als teilweise »very unfocused and undeveloped« abtut.104 Dabei wäre es schon auf Grundlage ihrer eigenen Argumentation naheliegend, das, was innerhalb des Lernparadigmas als »unfokussierte und
102 Ebd., S. 52. 103 Brauer, Juliane & Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen, in: GläserZikuda, Michaela et al. (Hg.): Emotionen im Unterricht. Psychologische, pädagogische und fachdidaktische Perspektiven, Stuttgart 2022, S. 168–178, hier: S. 169. 104 Hooper-Greenhill: Museums and Education, S. 32.
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unterentwickelte« Lernversuche erscheint, schlicht als Ausdruck einer Zugangsweise zu Museen zu begreifen, die eben ganz andere Ziele verfolgt. Ferner kann mit dem GLO-Modell zwar danach gefragt werden, ob Menschen in einer bestimmten Ausstellung eher Fertigkeiten entwickeln, ihr Wissen erweitern oder ihre Einstellungen und Werte ändern – doch für die eigentlich interessante Frage, wie und warum dies geschieht, bietet es keine Erklärungsansätze. Hierfür müssten etwa die Prozesshaftigkeit, Kontextgebundenheit und Lebensweltbezüge von Besuchserfahrungen/Lernen in Museen in den Blick genommen werden, was jedoch aufgrund der Ergebnisorientierung des Modells mit diesem nur schwer möglich ist.
Das Contextual Model of Learning.105
Genau dies zu tun, ist der Anspruch des bereits mehrfach erwähnten Contextual Model of Learning der Erziehungswissenschaftler*innen John Falk und Lynn Dierking.106 Sie begreifen Lernen (insbesondere in Museen, aber auch darüber hinaus) als konstruktivistischen Prozess und Produkt des Zusammenspiels der persönlichen, materiellen und sozio-kulturellen Kontexte, in denen sich eine Person bewegt.107 Zum persönlichen Kontext zählen etwa Wissen, Interessen, Überzeugungen, Erinnerungen und Erwartungen einer Person. Der materielle Kontext bezeichnet bei Falk und Dierking die unmittelbare physische Umgebung, in der 105 Abbildung aus: Falk; Dierking: Learning from Museums, S. 12. 106 Falk; Dierking: Learning from Museums. 107 Falk, et al.: Living in a Learning Society, S. 326–327.
4. Lernen, nutzen, aneignen. Zum Stand der Besucher*innenforschung in Museen
Erfahrungen gemacht werden (etwa die spezifischen Objekte und deren Inszenierung in einer Ausstellung). Und der soziokulturelle Kontext umfasst zum einen das nähere soziale Umfeld einer Person (beispielsweise Familie und Freund*innen, situativ aber auch Ausstellungsguides, Besuchsgruppen usw.), zum anderen die größeren gesellschaftlichen und diskursiven Referenzrahmen, in denen eine Person verankert ist.108 Auch wenn Falk und Dierking dies nicht explizieren, könnten hierzu auch Geschlecht, Klassenposition, Betroffenheit von Rassismus usw. gezählt werden. Und bezogen auf Museen sollten dem soziokulturellen Kontext darüber hinaus auch (das Wissen um) bestimmte Verhaltensnormen, gesellschaftlich geteilte Zeichensysteme, hegemoniale Geschichtsnarrative, soziale Funktionen von Museen und Museumsbesuchen usw. zugerechnet werden. Im Contextual Model of Learning überlappen sich die persönlichen, soziokulturellen und materiellen Kontexte, beeinflussen die Erfahrungen der lernenden Person und werden auch selbst von diesen beeinflusst, weshalb sie einem beständigen Wandel unterliegen. Eine zentrale Stärke dieses Modells besteht darin, dass es sich in kommunikationstheoretischer Hinsicht von der überholten Vorstellung von (musealer) Kommunikation als linear gerichteter Vermittlung vom Museum/Sender an seine Besucher*innen/Empfänger*innen verabschiedet, wie sie etwa noch bei Treinen durchschien. Indem Falk und Dierking den materiellen Kontext zu lediglich einem von mehreren Faktoren erklären, welche Lernerfahrungen in Museen beeinflussen, betonen sie umgekehrt die aktive Rolle der Lernenden mit ihren vielfältigen lebensweltlichen Hintergründen. Dass diese Aktivität nicht in völlige Beliebigkeit umschlägt, wird nicht zuletzt durch den Einbezug des soziokulturellen Kontextes in das Modell sichergestellt. Ich werde Teile des Contextual Model of Learning daher in Kapitel 5 als Grundlage meiner Untersuchung wieder aufgreifen, um die Rahmenbedingungen von Aneignungsprozessen in DDR-Museum zu veranschaulichen. Abschließend scheint es mir jedoch noch geboten, auf das »domänenspezifische Modell des musealen Lernens« von Christian Kohler einzugehen, welches sich in seiner 2016 veröffentlichten Dissertation »Schülervorstellungen über die Präsentation von Geschichte im Museum« findet. Kohler erhebt darin den Anspruch, das Modell Falks und Dierkings mit Hooper-Greenhills Generic Learning Outcomes sowie Körbers Überlegungen zur Anwendung des FUER-Modells auf Museen zu vereinen.109 Von 108 Ebd., S. 327. 109 Kohler: Schülervorstellungen, S. 69. Ebenfalls Eingang in Kohlers Modell haben Manfred Tremls vier Dimensionen des »visuellen Lernens in Ausstellungen und Museen« (ästhetisch, kommunikativ, emotional, kognitiv) gefunden. Da Tremls Dimensionen jedoch weitgehend in Hooper-Greenhills GLOs aufgehen, sei an dieser Stelle nur auf den entsprechenden Text hingewiesen: Treml, Manfred: Ausgestellte Geschichte. Überlegungen zum visuellen Lernen in Ausstellungen und Museen, in: Schönemann, Bernd (Hg.): Geschichtsbewusstsein und Methoden historischen Lernens. [Bernd Mütter zum 60. Geburtstag], Weinheim 1998, S. 190–212.
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Falk und Dierking übernimmt er die »Prämisse, dass Lernen als Konstruktionsprozess immer situiert«, also kontextgebunden, ist.110 Mit Bezug auf Hooper-Greenhill verwendet er einen weit gefassten Lernbegriff, welcher nicht nur die »Steigerung von »hartem« Faktenwissen oder Fähigkeiten und Kompetenzen« umfasst, sondern darüber hinaus »auch die sog. »weichen« Lernergebnisse wie Emotionen oder Einstellungen berücksichtigt«.111 Und Aspekte des FUER-Modells lassen sich an unterschiedlichen Stellen in Kohlers Modell wiederfinden, etwa als Bestandteile der »individuellen Lernvoraussetzungen« oder der Generic Learning Outcomes sowie allgemein in der Prozesshaftigkeit des Modells. Das domänenspezifische Modell musealen Lernens.112
In Teilen fällt Kohlers Synthese der drei oben erörterten Modelle jedoch hinter diese zurück. So wird etwa der »persönliche Kontext« aus dem Contextual Model of Learning bei Kohler auf »individuelle Lernvoraussetzungen« verengt, wodurch Erfahrungen sowie biografische und nicht-biografische Erinnerungen – Aspekte, die bei zeitgeschichtlichen Ausstellungen besonders relevant sind – leicht aus dem Blick geraten können. Der »soziokulturelle Kontext« wird gar auf die »soziale Besuchs110 111 112
Kohler: Schülervorstellungen, S. 42–43. Ebd., S. 65. Ebd., S. 70.
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und Vermittlungssituation« reduziert und damit all seiner ideologiekritischen Implikationen entkleidet – Fragen von Diskursmacht oder der Verortung der »Lernenden« in gesellschaftlichen Machtverhältnissen finden in dem Modell keine Berücksichtigung. Zusammenfassend kann daher einerseits konstatiert werden, dass die hier erörterten konstruktivistischen Modelle musealen Lernens in einigen zentralen Punkten über die instruktivistisch-behavioristischen Ansätze der klassischen Besucher*innenforschung hinausgehen: Sie betonen die Relevanz unterschiedlicher Voraussetzungen für Lernerfahrungen sowie die aktive Rolle der Besucher*innen bei der Ausstellungsrezeption und öffnen den Blick für eine größere Vielfalt an Erfahrungen (jenseits eines auf Wissenserwerb fokussierten Lernbegriffs), die Menschen in Museen machen können. Andererseits hat sich aber auch gezeigt, dass eine auf den Lernbegriff gegründete Theoretisierung der Ausstellungsrezeption schnell an ihre Grenzen stößt.
4.3 Die Ausstellungsrezeption als Aneignung Was also tun Menschen in historischen Ausstellungen? Geht es, wie Treinen meint, einfach um »kulturelles »window-shopping«? In dieser These schwingt eine gehörige Portion Kulturpessimismus mit, die sich damit erklären lässt, dass Treinen zwar die Aussichtslosigkeit des Lernparadigmas der Besucher*innenforschung erkennt, diesem aber dennoch verhaftet bleibt. Ein Ausweg aus diesem Dilemma tut sich erst dann auf, wenn man das »window-shopping« nicht als defizitär, sondern als Anzeichen für einen anders motivierten Zugang zu historischen Ausstellungen deutet. Eine solche Deutung bietet etwa der Museologe Jay Rounds an: A large body of empirical research supports the claim that »browsing« is the typical pattern of museum visitation […]. [Some] interpret this as suboptimal use of the museum – as an indicator that something is wrong with either the exhibits or the visitors (or both) and needs to be fixed. I have been exploring an alternative interpretation of the same data. […] Rather than starting from the question »How can we get visitors to do a better job of learning?« I start by asking, »Why do visitors spend so much time learning things that they don’t really need to know? What might they be up to for which browsing would be an intelligent strategy?«113 Rounds’ Antwort auf diese Frage lautet: Identitätsarbeit (»identity work«). In Anlehung an Kum-Kum Bhavnani und Ann Phoenix begreift er Identität als ein Zusammenspiel von Struktur (Umwelt) und Handlungsfähigkeit, von Zuschreibung und
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Rounds: Doing Identity Work in Museums, S. 134.
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Selbstentwurf.114 Mit dem Begriff der Identitätsarbeit bezeichnet Rounds folglich all jene Prozesse, »through which we construct, maintain, and adapt our sense of personal identity and persuade other people to believe in that identity.«115 Und er argumentiert, dass Museen hierfür ein hervorragendes Umfeld bieten können. Denn einerseits transportiere bereits die soziale Praxis des Museumsbesuchs selbst sowie die Verhaltensweise im Museum bestimmte Vorstellungen des eigenen Selbst. Und andererseits böten Erfahrungen von Alterität, Ordnung, Wandel und Kontinuität, die sich typischerweise in (historischen) Ausstellungen machen ließen, ideale Bausteine für die Konstruktion einer konsistenten Identität: »Outside is the blooming, buzzing confusion of everyday life, an endless flow of one thing after another. Inside the museum, the visitor finds a world laid out in order, in which everything has its proper place in a meaningful system«, so Rounds.116 Es liegt auf der Hand, dass »browsing« bzw. eine zügige »Durchwanderung der gesamten Ausstellung«, wie Treinen es nennt, mitunter ein idealer Modus für das Machen derartiger Erfahrungen sein kann. Denn häufig sind es nicht einzelne Objekte, die Ideen von Ordnung, Wandel usw. vermitteln, sondern die Art ihres Arrangements. Rounds führt als Beispiel hierfür die für naturkundliche Museen typische klassifikatorische Darstellung an: Um zu verstehen, dass dort aneinandergereihte Exemplare unterschiedlicher Vögel alle der gleichen Art angehören (Ordnung) oder evolutionär auseinander hervorgegangen sind (Wandel), muss nicht jeder Vogel einzeln studiert werden – ein kurzer Blick auf das gesamte Arrangement genügt.117 Analog hierzu lassen sich etwa im Museum in der Kulturbrauerei die im Raum verteilten Banner und Propagandalosungen mit einem Blick als Anzeichen für die Allgegenwart des Staates deuten, ohne dass jede Losung von den Besucher*innen einzeln analysiert werden müsste. Hinzu kommt, dass kaum davon ausgegangen werden kann, dass alle Objekte (bzw. Objektarrangements) einer Ausstellung für alle Besucher*innen gleichermaßen interessant sind. Mit manchen werden sie persönliche Erinnerungen verknüpfen, von anderen haben sie vielleicht gelesen oder gehört, manche werden ihre politischen Überzeugungen berühren, wieder andere werden während des Ausstellungsrundgangs Gesprächsimpulse liefern, während viele für die spezifische
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Bhavnani, Kum-Kum & Phoenix, Ann: Shifting Identities Shifting Racisms, in: Feminism & Psychology (01/1994), S. 5–18. Vgl. auch Howard, Judith: Social Psychology of Identities, in: Annual Review of Sociology (1/2000), S. 367–393. Rounds: Doing Identity Work in Museums, S. 133. Ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 140. Rounds’ theoretische Grundlagen sind zwar sehr funktionalistisch, haben aber immerhin den Vorteil, dass sie nicht zu einer Vorstellung von Besucher*innen als korrekturbedürftigen Mängelwesen führen, die den Lernort Museum nicht sinnvoll zu nutzen wüssten. Stattdessen geht Rounds davon aus, dass Besucher*innen zumindest auf diffuse Art wissen, was sie im Museum wollen und dementsprechend handeln.
4. Lernen, nutzen, aneignen. Zum Stand der Besucher*innenforschung in Museen
Besuchssituation ohne Bedeutung bleiben werden.118 In all diesen hypothetischen Fällen sind die während des Besuchs gemachten Erfahrungen nicht nur – oder nicht einmal in erster Linie – von den Inhalten des Museums abhängig, sondern zugleich auch von den lebensweltlichen Hintergründen der Besucher*innen und dem sozialen Kontext ihres Besuchs. Und im Fokus stehen dabei viel eher Fragen der Identität als Fragen des Lernens. Forschungspragmatisch bringt dieser Perspektivwechsel die Herausforderung mit sich, dass die prozessuale Identitätsarbeit ungleich diffuser und schwerer zu fassen ist, als es leicht mess- und quantifizierbare Lernergebnisse sind. Vor diesem Hintergrund beginnen sich seit einigen Jahren Ansätze einer geschichtsdidaktischen Museums- und Besucher*innenforschung jenseits des Lernparadigmas zu etablieren. Beispielsweise fragt die Schweizer Geschichtsdidaktikerin Julia Thyroff in ihrer 2020 erschienenen Dissertation allgemein danach, »wie Aneignungsprozesse in ihrer Gesamtheit während des Besuchs einer historischen Ausstellung ablaufen« und »inwiefern sich die festgestellten Prozesse mit vorhandenen theoretischen Modellen historischen Denkens in Deckung bringen lassen.«119 Thyroffs methodisch originelle Studie stützt sich auf »prozessbegleitendes lautes Denken«: Für die Untersuchung wurden Besucher*innen einer Sonderausstellung über den Ersten Weltkrieg im Baseler Museum für Geschichte mit Kameras und Tonaufnahmegeräten ausgestattet und dazu aufgefordert, während ihres Rundgangs durch die Ausstellung all ihre Gedanken frei zu äußern.120 Während die Methode somit einen besonders unmittelbaren Zugang zur Gedankenwelt der Besucher*innen verspricht, ist diese Unmittelbarkeit zugleich auch ihre größte Schwachstelle. Denn der Museumsbesuch erscheint nahezu zwangsläufig als ein von »Kleinschrittigkeit und Momentbezogenheit« bestimmtes Durcharbeiten einer Ausstellung: Besucher*innen »richten ihre Aufmerksamkeit auf ein Element der Ausstellung, lesen oder betrachten es, äussern sich dazu und gehen anschließend zum nächsten Element weiter«, konstatiert Thyroff selbst und bemerkt zugleich, dass das »Entstehen übergreifender Narrationslinien […] dabei eher die Ausnahme als die Regel« sei.121 Es liegt dabei auf der Hand, dass dieser Befund mindestens ebenso viel über die Methode des Lauten Denkens wie über ihren Untersuchungsgegenstand aussagt: Die Aufforderung zur unmittelbaren und durchgehenden Verbalisierung der eigenen Gedan-
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Eine sehr plastische Darstellung dieser verschiedenen Umgangsformen mit Ausstellungsmedien und ihrer Implikationen für die Besucher*innenforschung bietet Falk: Identity and the Museum Visitor Experience, S. 17–37. 119 Thyroff: Facetten des Denkens, S. 1–2. 120 Vgl. ebd. S. 1–2; zum theoretischen Hintergrund der Methodik vgl. Buttkereit, Florence-Aline, et al.: Prozeßbegleitendes lautes Denken im Museum. Methodenbericht und Ergebnisdokumentation 2014, zit.n.: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:739-opus-27467. 121 Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung, S. 617. Thyroff: Facetten des Denkens.
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ken lässt kaum Raum für zwischenmenschliche Kommunikation oder für von dem Gesehenen wegführende Sinnbildungsprozesse.122 Für meine Untersuchung stellt Thyroffs Studie insbesondere hinsichtlich ihrer geschichtsdidaktischen Fundierung einen wichtigen Referenzpunkt dar. Denn Thyroff stützt sich zwar einerseits auf das Kompetenz-Strukturmodell des FUER-Projekts, betont jedoch andererseits, dass es ihr explizit nicht um »die Erhebung von Kompetenzen« gehe, sondern ihr Ziel vielmehr darin bestehe, »die Performanz von Besuchenden im Rahmen eines einmaligen Ausstellungsbesuchs und die sich dabei ereignenden Denkvorgänge« zu analysieren.123 Im Ergebnis ihrer Studie schlägt Thyroff dann eine Dreiteilung dieser Denkvorgänge in »Fokus I: Geschehen«, »Fokus II: Ausstellung« und »Fokus III: eigene Person und Lebenswelt« vor und veranschaulicht mit Bezugnahme auf das FUER-Modell, wie in der Ausstellungsrezeption die (analytisch getrennten) Operationen der »Re-Konstruktion« und »De-Konstruktion« ineinanderfließen und dabei von Bezügen auf die Lebenswelt der Besucher*innen geleitet werden.124 Zentral ist hierbei der Begriff der »Aneignung«, mit dem Thyroff das Verhalten von Besucher*innen in Ausstellungen beschreibt. Dieser ist bislang vor allem in den Kultur- und Filmwissenschaften operationalisiert und diskutiert worden und soll u.a. dazu dienen, das aktive und eigensinnige Handeln von Rezipierenden in der Auseinandersetzung mit Medien verstärkt in den Blick zu nehmen. Thyroff verweist in diesem Zusammenhang auf den »Begriffsbestandteil des Eigenen«, der betont, dass es in der Mediennutzung immer auch »darum geht, einen Gegenstand auf die eigene Person zu beziehen, Bezüge zur eigenen Person herzustellen, sich einen Gegenstand eben anzueignen«.125 Ganz ähnlich charakterisiert Alexander Geimer den Begriff in einem zusammenfassenden Beitrag über »Das Konzept der Aneignung in der qualitativen Rezeptionsforschung« (hier bezogen auf Filme) als einen Prozess des »Zu-Eigen-Machens von Medien«, bei dem »insbesondere die Herstellung eines Passungsverhältnisses zwischen einer filmisch inszenierten Praxis und der eigenen Alltagspraxis bzw. der diese anleitenden Lebensorientierungen bedeutsam« sei.126 »Filme werden in einer solchen Praxis der Rezeption vor dem Hintergrund von in der eigenen Lebenswelt relevanten Orientierungen verstanden 122
Thyroff erklärt denn auch, dass »sich nicht mit Gewissheit beurteilen« lasse, inwiefern ihre »Befunde konstitutiv durch die eingesetzte Methode mitbestimmt werden« und mutmaßt, »dass übergreifende Deutungen und grössere Erzähllinien womöglich eher mit Abstand zum Ausstellungsbesuch entstehen«. Diese Hypothese deckt sich weitgehend mit meinen eigenen Befunden – an die hinsichtlich der Methodik natürlich die gleiche Frage unter umgekehrtem Vorzeichen gestellt werden könnte. Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung, S. 618. 123 Ebd., S. 38. 124 Ebd., S. 339–464. 125 Ebd., S. 71 (Kursivsetzungen im Original). 126 Geimer: Das Konzept der Aneignung, S. 196.
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und implizit auf diese bezogen«, so Geimer.127 Analog dazu rekurriert eine als Aneignung verstandene Medienrezeption also vor allem auf Lebensweltbezüge und Sinnbildungsprozesse der Rezipient*innen. Mit dem Aneignungsbegriff kann – übertragen auf Ausstellungen – etwa danach gefragt werden, wie Besucher*innen Ausstellungsinhalte auf ihre eigene Lebenswelt, ihre Überzeugungen und Orientierungsbedürfnisse beziehen, sie sich zunutze machen und dem Gesehenen vor diesem Hintergrund Sinn und Bedeutung zuschreiben. Dass ein solcher Ansatz ganz anders gelagerte Erkenntnisse produzieren kann als eine am Lernen orientierte Besucher*innenforschung, veranschaulicht eine empirische Studie Sharon Macdonalds über die Sonderausstellung zum Thema Ernährung Food for Thought im Londoner Science Museum aus dem Jahr 2002. Macdonald begleitete die Kurator*innen bei der Konzeption der Ausstellung und führte anschließend halb-offene Interviews mit 42 kleineren Besuchersgruppen durch, wobei sie recht allgemein zu Eindrücken aus der Ausstellung befragte.128 Dabei stellte sie fest, dass sich die tatsächlichen Besucher*innen der Ausstellung in nahezu allen wesentlichen Belangen deutlich von der Vorstellung unterschieden, die sich die Kurator*innen während der Konzeptionsphase von ihren zukünftigen Besucher*innen gemacht hatten. Der überwiegende Teil der Interviewten kam aus anderen Motiven in die Ausstellung als gedacht, verhielt sich auf häufig unerwartete Weise, stellte in der Ausstellung nicht bedachte Bezüge zwischen verschiedenen Objekten und Bereichen her, entwickelte andere Narrative und interpretierte die Kernbotschaft der Ausstellung in einer der Intention der Kurator*innen völlig entgegengesetzten Weise.129 Beispielsweise identifizierte eine Mehrheit der Interviewten nicht das Science Museum als Urheber der Ausstellung, sondern bisweilen McDonald’s oder, besonders häufig, die Supermarktkette Sainsbury’s – was sicherlich auch daran lag, dass sie in der Sainsbury Gallery untergebracht war. Viele hielten die Ausstellung für eine Werbemaßnahme des Unternehmens.130 Betrachtet man Museen ausschließlich als Lernorte, so müssen diese Befunde als gravierende Hindernisse für den intendierten Lernerfolg der Besucher*innen erscheinen; die Sonderausstellung müsste wohl als rundherum gescheitert gelten. 127 128 129
Ebd., S. 196. Macdonald: Behind the Scenes, S. 217–222. »[The] »message« that the team had hoped to convey […] was, as one of the panels stated, that »no one food in isolation is »good« or »bad«.« Ein Großteil der Interviewten erklärte demgegenüber, in der Ausstellung gehe es um »good and bad foods«, ebd., S. 227–228. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang ferner, dass Macdonalds Befunde nicht nur die gewöhnlichen Besucher*innen, sondern ebenfalls professionelle Ausstellungskritiker*innen und Journalist*innen betreffen. Entgegen der Erwartung der Kurator*innen hätten letztere die Ausstellung nicht »wie ein Buch« gelesen, sondern partikulare Eindrücke gesammelt und innerhalb unerwarteter »alternativer Rahmungen« interpretiert. Vgl. ebd. S. 211. 130 Ebd., S. 235–236.
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Wie ich jedoch in diesem Kapitel zu zeigen versucht habe, geht ein solches Urteil keineswegs automatisch aus den von Macdonald gewonnenen Daten hervor. Es wäre vielmehr das Resultat einer zu eng gefassten, normativ überhöhten Fragestellung. Eine ergebnisoffene Rezeptionsanalyse muss Besucher*innen daher viel deutlicher als handelnde Subjekte benennen, die Vielfalt an Erfahrungen anerkennen, die sie in Museen und Ausstellungen machen können und die Rahmenbedingungen dieser möglichen Erfahrungen herausarbeiten. Zu diesem Zweck nehme ich im nun folgenden Kapitel eine erste Operationalisierung des Aneignungsbegriffs vor, die aber im empirischen Hauptteil meiner Untersuchung noch modifiziert und weiter ausdifferenziert wird.
5. Codieren und decodieren von Bedeutung im Museum. Zur Operationalisierung des Aneignungsbegriffs »Fortune lies as much in the hand of the eater as in the cookie.«1
Es gibt einen wunderbar absurden Comic von Corey Mohler über Wittgensteins Ausspruch »Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen«.2 In dem Comic versucht Bertrand Russell, Wittgenstein zu widerlegen, indem er sich mit einem Löwen unterhält. »Did you know that the band Coldplay has received 85 awards from 252 nominations?«, beginnt der Löwe das Gespräch. »They have been a commercial and critical success for over twenty years, and many consider them the greatest band of all time.« Auf Russells verständnislosen Blick hin fährt der Löwe fort: »Well, Bertrand Russel, they were the first to seamlessly merge the genres of pop-rock, pop, and brit-pop.« Daraufhin Russell: »But… Those all sound the same.« »No way!«, ruft der Löwe, und steckt sich eine Zigarette an. Anschließend schlägt er dem Friedensaktivisten Russell vor, sämtliche Staaten der Erde zu erobern, um einen dauerhaften Weltfrieden zu erreichen. »Are you being serious right now?«, erwidert Russell ungläubig. »Of course! I mean, if no one attacks them to set up peace, how could we ever be peaceful?«, sagt der Löwe. Russell: »By… being peaceful?«3
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Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid, New York 1979, S. 154. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, Frankfurt a.M. 2001, S. 1078. Der Witz im Witz besteht hier natürlich darin, dass Russell selbst 1945 in mehreren Artikeln vorschlug, notfalls einen atomaren Präventivkrieg gegen die Sowjetunion zu führen, um die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern und eine US-geführte Weltregierung zu etablieren, die den Weltfrieden sichern werde. Der Comic verleiht Wittgensteins These somit einen subtilen Twist: Es ist nicht in erster Linie der Löwe, den wir aufgrund seiner völlig anderen Lebenswelt nicht verstehen können, sondern wir selbst sind uns fremd – Russell kann Russell nicht verstehen.
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Nun wechselt der Löwe erneut das Thema und fragt: »Did you know that Ultimate Frisbee is actually the most challenging and most interesting sport, once you understand it?«, woraufhin Russell sich geschlagen gibt. »You were right, Wittgenstein«, sagt er, als er diesen wiedertrifft. Wittgenstein: »I told you that even if a lion could speak, we could never understand it.«4
Bertrand Russell im Gespräch mit dem Löwen.
Behind the Scenes at the Science Museum, Sharon Macdonalds oben zitierte Studie über Konzeption und Rezeption der Sonderausstellung Food for Thought im Londoner Science Museum, liest sich wie das Gespräch Russells mit dem Löwen. Macdonald argumentiert, dass jede Ausstellung in ihrer Konzeptionsphase virtuelle Besucher*innen konstruiert. Dies geschieht einerseits direkt – etwa über die Definition von Zielgruppen –, andererseits aber auch indirekt und oftmals unbewusst – über die Entscheidung für eine bestimmte Ästhetik, für Stil und Länge der Begleittexte, Medieneinsatz, Ausstellungsaufbau usw.5 Im Falle der untersuchten Sonderausstel4 5
Mohler, Corey: Wittgenstein’s Lion (ohne Datum), URL: http://existentialcomics.com/comic/ 245 (letzter Zugriff: 21.04.2022). Macdonald: Behind the Scenes, S. 158–159.
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lung beschreibt Macdonald die von den Kurator*innen imaginierten Besucher*innen wie folgt: The projected visitor of Food was imagined as one who would want to participate, who would appreciate the opportunity to be »active« […], who would want a choice of modes of presentation and content, and who would be in the Museum in search not just of »understanding«, but also of »fun«.6 Die Ausstellung sollte sich nicht in erster Linie an Expert*innen und das klassische (weiße, bürgerliche, überwiegend männliche) Klientel des Science Museum richten, sondern für ein möglichst breites Publikum leicht zugänglich sein und insbesondere gesellschaftliche marginalisierte Gruppen und Minderheiten ansprechen, sie sollte multiperspektivisch und interaktiv sein.7 Da Besucher*innen als »Active Consumer[s]« konstruiert wurden, sollte ihnen bei ihrem Rundgang so viel Wahlfreiheit wie möglich geboten werden.8 Kurz: »The Food exhibition […] attempted to prioritise the visitor as never before.«9 Entsprechend groß sei die Enttäuschung gewesen, als sich nach der Ausstellungseröffnung herausstellte, dass sich tatsächliche und imaginierte Besucher*innen in zahlreichen Aspekten fundamental voneinander unterschieden. Nicht nur interpretierten sie die Ausstellung größtenteils ganz anders als gedacht, sondern legten auch ein oftmals unerwartetes Verhalten an den Tag: The problem was that some visitors were too active. Some of this seemed to be outright pilfering and vandalism in a relatively unprotected exhibition: items like knives and forks and fake food from exhibits »walked«, pieces were broken off one exhibit, and fake carrots were stuffed in the mouths of the figures in the Sainsbury’s reconstruction.10
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Ebd., S. 162. Ebd., S. 158. Ebd., S. 162. Ebd., S. 157. Ebd., S. 230. Dabei muss angemerkt werden, dass dieses Verhalten von den Museumsmitarbeiter*innen zumindest unbewusst antizipiert worden war. MacDonald schildert ausführlich, wie diese ihre zukünftigen Besucher*innen in informelleren Gesprächssituationen immer wieder als »stupid«, »sheep-like«, »deviants«, »vandals« oder »hooligans« bezeichneten. Ebd., S. 160–161. Durch diese Charakterisierung der Besucher*innen erhält das Gleichnis von Russell und dem Löwen eine überraschende zweite Ebene: Wittgenstein gegenüber zeichnet Russell den Löwen als kultivierten Gesprächspartner, mit dem ein sinnvoller Dialog problemlos möglich sei. Wir können uns aber vorstellen, wie er den Löwen insgeheim auch als wildes Raubtier (als »hooligan« und »vandal«) imaginiert. »Über den ehemaligen Direktor eines Wiener Museums sagt man, er habe das Publikum als »Bestie, vor dem man die Objekte schützen muss« bezeichnet.« Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 139.
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Macdonald schildert hier exemplarisch ein generelles Phänomen der musealen Kommunikation: »visitors refuse in various ways to conform to the visitor-model that the exhibition-makers construct.«11 Wie Russell und der Löwe, so lebten offenbar auch die Kurator*innen und Besucher*innen der Food for Thought-Ausstellung in zwei getrennten Welten. Beide Personengruppen sprachen zwar formal dieselbe Sprache, verbanden diese jedoch mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen, Verhaltensweisen und Zielvorstellungen. Wie lässt sich diese Kluft zwischen den Vorstellungen der Kurator*innen und den tatsächlichen Verhaltensweisen der Besucher*innen – zwischen Konzeption und Rezeption – nun erklären? Wie im vorangehenden Kapitel dargelegt, ist die Antwort der lernfokussierten Besucher*innenforschung auf diese Frage eine rein technische: Ausstellungen seien mitunter zu voraussetzungsvoll, zu schwer verständlich, nicht zielgruppenkonform usw., weshalb es Besucher*innen schwerfällt, ihre Botschaften richtig zu entschlüsseln. »Exponate werden […] vom »naiven« (schlecht informierten, nicht »geschichtsbewußten«) Betrachter oft krass mißverstanden«, so etwa Bodo von Borries.12 Macdonalds Studie deutet jedoch darauf hin, dass auch eine noch so zugängliche und besucher*innenfreundliche Ausstellungsgestaltung an diesem scheinbaren Missverständnis nichts Grundsätzliches zu ändern vermag. Die Kluft zwischen Konzeption und Rezeption einfach auf eine gescheiterte Kommunikation zurückzuführen, greift daher zu kurz. Eine wesentlich plausiblere Erklärung ergibt sich hingegen, wenn man nicht die Ausstellung, sondern die Motivationen, Vorerfahrungen und Deutungsabsichten der Besucher*innen zum Ausgangspunkt nimmt – wenn man also nicht danach fragt, wie nah Menschen der intendierten Bedeutung einer Ausstellung kommen, sondern wie sie auf eigensinnige Weise mit dieser umgehen. Die Religionswissenschaftlerin Sabine Offe erklärt hierzu: Zwar sind die materialen Träger von Gedächtnis im Museum, also Gebäude, Objekte, Texte, benennbar, Aussagen darüber hingegen, wie dieses Gedächtnis angeeignet wird, sind weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen, denn was gelernt und erinnert werden soll, steht zu dem, was gelernt und erinnert wird, also zu dem Museum, das in den Köpfen entsteht, in einer durchaus uneindeutigen Beziehung.13 Wie nach Aneignungsprozessen im Museum gefragt werden kann, möchte ich in diesem Kapitel darlegen. Ich schlage dazu eine Präzisierung des Aneignungsbegriffs vor, die sich an Stuart Halls kommunikationstheoretischem Lesarten-Modell
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Macdonald: Behind the Scenes, S. 157. Borries: Präsentation und Rezeption, S. 340. Offe, Sabine: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin 2000, S. 294, zit.n.: https://www.h-net.org/review/hrev-a0c7j3-aa.
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orientiert. Dieses werde ich im Folgenden auf die Rezeption von Ausstellungen übertragen.
5.1 Medienaneignung als Akt des Entschlüsselns »Jede Geschichte ist eine Erfindung […], jedes Ich, das sich ausspricht, ist eine Rolle.«14 Betritt man die Ausstellung Alltag in der DDR im Museum in der Kulturbrauerei, so befindet sich gleich auf der linken Seite ein hölzerner Schreibtisch. Auf dem Schreibtisch sind eine Lampe, ein Telefon mit Wählscheibe, ein Stempelhalter mit zehn Stempeln (offenbar aus verschiedenen Betrieben zusammengesucht), eine Broschüre aus dem Jahr 1958 mit dem Titel »Den Plan täglich aufschlüsseln, kontrollieren, erfüllen«, eine grüne Mappe mit Informationen zum System der Betriebskollektivverträge in der DDR und Auszügen eines entsprechenden Vertrags des »VEB Hutkombinat Guben« von 1975 sowie ein Begleittext in deutscher und englischer Sprache unter dem Titel »Spagat« drapiert. In der geöffneten oberen Schreibtischschublade liegen diverse Fotos, die Menschen in Volkseigenen Betrieben bei der Arbeit zeigen. Auf der dazugehörigen Texttafel ist zu lesen, dass es sich bei den Bildern um »Werbeaufnahmen« handele, die »mit ihrer Bildsprache auf den Westen« zielten und so »den Warenabsatz ins »nichtsozialistische Wirtschaftslager« fördern« sollten.15 Vor dem Schreibtisch steht ein bequemer, lederner Drehstuhl, an der mit Mustertapete beklebten Wand gegenüber hängt ein Porträt von Erich Honecker. Nimmt man den Telefonhörer ab, so hört man einen Auszug aus der Rede Walter Ulbrichts auf dem dritten Parteitag der SED 1950 über den ersten Fünfjahrplan. Eine Ausgabe des Plans ist in einer Vitrine rechts neben dem Schreibtisch ausgestellt. Auch hier gibt es eine herausnehmbare Mappe mit Informationen über das Planungssystem der DDR und Auszüge aus dem Fünfjahrplan zu verschiedenen Themen.
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Frisch, Max: Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt a.M. 1964, S. 51. Westwerbung. Objekttext in der Schreibtischschublade, Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 18.09.2019).
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Das Schreibtisch-Arrangement im Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 18.09.2019).
Dieses Ensemble von Objekten, Bildern, Audioaufnahmen, Quellen- und Begleittexten erzählt als Ganzes eine Geschichte – zwar nicht unbedingt in klassisch temporaler Form mit Anfang, Mitte und Ende, aber doch im Sinne eines konfigurationalen Narrativs, einer multimedialen »story world […] in der gleichsam das Inventar und die Akteure einer Geschichte zusammengestellt werden.«16 Aber um was für eine Geschichte handelt es sich konkret? Manch eine Person könnte sich leicht in Details verlieren: Warum liegt vor mir ein Betriebskollektivvertrag des Hutkombinats Guben, wenn doch die Stempel auf dem Schreibtisch vom Bergbaubetrieb Paltzdorf, Enzmann Zeitz und dem Betriebsrat des Bergbaubetriebs Beerwalde stammen? Warum ist der Vertrag von 1975, wenn doch die beiliegende Broschüre von Herbert Richter über die richtige Erfüllung des Plans schon siebzehn 16
Kramer, Kirsten, et al.: Vergleichen und Erzählen. Zur Verflechtung zweier Kulturtechniken, in: Praktiken des Vergleichens. Working Paper des SFB 1288 (2020), URL: https://pub.uni-biel efeld.de/download/2946608/2946659/WorkingPaper4_SFB1288_aktual-erg.pdf (letzter Zugriff: 09.12.2021).
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Jahre früher erschienen ist? Hat seitdem niemand mehr über das Planungssystem in der DDR geschrieben? Und warum höre ich am Telefon eine Rede Walter Ulbrichts von 1950, während ich in das lächelnde Gesicht Erich Honeckers an der Wand gegenüber blicke? Umgekehrt wird es auch Besucher*innen geben, die sich einfach am Design der Möbel erfreuen und sich im Angesicht der Mustertapete in eine zeitlich etwas unbestimmte, aber jedenfalls heimelige, dabei zugleich miefige und dennoch irgendwie stilvolle Vergangenheit hineinimaginieren. Wieder andere werden als kurzzeitiger Kombinatsdirektor der Gubener Hutproduktion in herrschaftlicher Pose hinter dem Schreibtisch Platz nehmen. Manche Besucher*innen werden sich mit einzelnen Bestandteilen der dargebotenen Inszenierung genauer auseinandersetzen, Begleittexte lesen, in den verschiedenen Mappen blättern und sich die Fotos in der Schreibtischschublade anschauen – vielleicht, um sich Wissen anzueignen, vielleicht auf der Suche nach bestimmten Erinnerungsstücken, vielleicht auch einfach, weil man das in Museen nunmal so macht. Und wieder andere werden die Ausstellung schließlich in kritischer Manier auf ihre »Konstruktionslogiken«,17 auf ihre Erzählabsichten und deren gestalterische Umsetzung hin befragen. Bei all diesen hypothetischen Ausstellungsbesuchen werden also Geschichten erzählt und Botschaften vermittelt, die prinzipiell deutungsoffen sind und auf sehr unterschiedliche Weise rezipiert werden können. Wie lassen sich dann aber belastbare Aussagen über die tatsächlichen Sinngehalte (wenn wir für den Moment einmal annehmen, dass diese objektiv existieren) dieser Geschichten und Botschaften treffen, die das Schreibtisch-Arrangement den verschiedenen imaginierten Besucher*innen vermitteln will? Eine klassische Ausstellungsanalyse würde diese Frage beantworten, indem sie sich – beispielsweise mittels dichter Beschreibung – den einzelnen Bestandteilen des Arrangements nähert, ihre beabsichtigte Wirkung analysiert und die einzelnen Objekte, Fotografien, Texte usw. zueinander in Beziehung setzt.18 Sie könnte beispielsweise die Stempel und das Telefon auf dem Schreibtisch als Zeichen für Autorität deuten, die anzeigen, dass die Person hinter dem Schreibtisch sich in einem Schaltzentrum bürokratischer Macht befindet, von dem aus die Produktion gesteuert wird. Als Anzeichen für den bürokratischen Charakter dieser Macht könnte zum einen die benachbarte Vitrine mit dem ausgestellten Fünfjahrplan dienen, zum anderen die Broschüre über die Aufschlüsselung, Kontrolle und Erfüllung des Plans sowie überhaupt das Mobiliar und dessen gehobene Qualität. Ferner könnte eine solche Ausstellungsanalyse den zwiespältigen Charakter dieser Macht herausstellen, die sich ihrerseits wiederum der übergeordneten Macht der SED-Führung unterordnen muss: Aus dem Telefon verkündet der Generalsekretär
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Körber: Kompetenzorientiertes historisches Lernen, S. 77. Vgl. zur Methodik etwa Muttenthaler; Wonisch: Gesten des Zeigens.
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Ulbricht den Fünfjahrplan; von seinem Wandporträt aus überwacht der Generalsekretär Honecker dessen Einhaltung. »Betriebs- und Kombinatsleiter sind für die Umsetzung der staatlichen Planung zuständig. Ihr Handlungsspielraum hat enge Grenzen, ihre Befugnisse sind grundsätzlich beschränkt«, heißt es hierzu im Begleittext auf dem Schreibtisch.19 Die paradoxe Gleichzeitigkeit der zwei Generalsekretäre könnte die Analyse zudem als Zeichen für die Erstarrung des ökonomischen und politischen Systems der DDR deuten, das zu wirklichem Wandel nicht in der Lage gewesen sei – womit bereits ein Grund für dessen späteren Zusammenbruch angedeutet wäre.20 Die Ineffektivität der zentralistisch organisierten Wirtschaft könnte die Ausstellungsanalyse auch noch an weiteren Stellen als ein bestimmendes Thema des Arrangements identifizieren. Im Begleittext ist von »starren Vorgaben« die Rede, die es einzelnen Betrieben unmöglich machen würden, das »Angebot kurzfristig der Nachfrage anzupassen«. Und die Bilder in der Schreibtischschublade nebst Begleittext verweisen auf die Abhängigkeit der DDR von kapitalistischen Absatzmärkten zwecks Devisenbeschaffung. Als zentrale Aussagen des Objektarrangements hätte die Analyse somit erstens den hierarchischen und bürokratischen Charakter des ökonomischen Systems der DDR ausgemacht; zweitens die Durchdringung dieses Systems von der Herrschaft der Partei; und drittens die Ineffizienz der zentralistischen Planwirtschaft. Damit hätte sie sicher auch die Intention des Museums – dessen Leitung immer wieder die konzeptionelle Ausrichtung der Ausstellung an der Gedenkstättenkonzeption des Bundes betont – ganz gut getroffen.21 Auch meine eigene kurze Ausstellungsanalyse in Kapitel 3.4 geht ja in diese Richtung. Allerdings ist auch eine ganz andere Lesart des beschriebenen Arrangements denkbar, in der Objekte und Texte etwas über den mühevollen Aufbau einer sozialistischen, an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichteten Wirtschaft unter schwierigen Ausgangsbedingungen erzählen. Für eine solche Lesart könnten im Wesentlichen die gleichen Medien herangezogen werden, wie für die zuvor erörterte. Sie könnte sich beispielsweise ebenfalls auf den ausgestellten Fünfjahrplan beziehen, in dem »die Einrichtung von Kulturhäusern,
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Spagat, Objekttext, Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 18.09.2019). Interessanterweise findet sich in einem der ersten Räume der Dauerausstellung des ZFL eine ganz ähnliche »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«: Zu sehen ist dort ein Konferenztisch aus dem Arbeitszimmer Wilhelm Piecks (»Präsident der DDR und bis 1954 SED-Vorsitzender gemeinsam mit Otto Grotewohl«, wie eine kleine Texttafel informiert). An der Wand zu dessen Kopfende ist eine gold-rote Plastik des DDR-Staatswappens mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz angebracht. Dieses wurde jedoch erst im Herbst 1955 eingeführt und ist im Übrigen auch nicht auf Fotos aus Piecks Arbeitszimmer zu finden. Zum Begriff der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« vgl. etwa Koselleck: Koselleck 1989 – Vergangene Zukunft, S. 325. Biermann, Harald: 20 bewegte Jahre. Die Stiftung in Bonn, Leipzig und Berlin, in: museumsmagazin (1/2014), S. 20–21.
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der Bau neuer und die Erweiterung bestehender Theater, die Schaffung eines breiten Netzes von Volksbibliotheken sowie die Verdoppelung der Herausgabe wissenschaftlicher, pädagogischer und schöngeistiger Literatur« verkündet wird, um »die Bestrebungen der breiten Masse zur Erweiterung ihrer Kenntnisse befriedigen und eine engere Verbindung zwischen Wissenschaft, Kunst und Volk herstellen« zu können.22 Und anstatt die Starrheit der Planwirtschaft zu bezeugen, könnte die auf dem Schreibtisch liegende Broschüre Herbert Richters umgekehrt auch von den Bemühungen um eine Weiterentwicklung des Systems künden – fordert sie doch einleitend alle Funktionäre auf, »ihre eigene Arbeit selbstkritisch zu überprüfen« und sich nicht länger »hinter dem Rücken des Werkleiters [zu] verstecken«.23 Es ist zwar klar, dass die Ausstellung in diesem Fall gegen den Strich gelesen würde, dennoch ist eine solche Lesart zweifelsfrei möglich.24 Eine Figur fehlt jedoch sowohl in der klassischen Ausstellungsanalyse als auch in ihrem widerspenstigen Pendant, nämlich der Gubener Hutkombinatsdirektor. Oder allgemeiner: Wofür keiner der beiden Ansätze ausreichend Raum bietet, sind all jene Sinnbildungsprozesse, die sich nicht unmittelbar dem Bereich des Kognitiven zuordnen lassen, jene Prozesse also, die von den Botschaften der Ausstellung wegführen und auf der (körperlichen, affektiven usw.) Aktivität der Besucher*innen beruhen – jene Prozesse, bei denen die Ausstellung nicht »wie ein Buch« gelesen, sondern strukturell anders erlebt wird. Worin genau diese Andersartigkeit besteht, wird in Kapitel 7 analysiert. Sie ist jedenfalls kein Abweichen von der Norm eines »lesenden« Zugangs zu Ausstellungen, sondern eher selbst die Norm.25 Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist das Erkenntnispotenzial der Frage nach den Narrativen und Botschaften einer historischen Ausstellung sehr begrenzt. Um zu einem umfassenderen Blick auf Sinnbildungsprozesse in Museen zu gelangen, muss folglich auch danach gefragt werden, wie sich Besucher*innen eine Ausstellung nicht nur als kognitiven Lernort, sondern auch als einen mit
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Politische Vorgaben, Mappe mit Zusammenstellung von Auszügen des ersten Fünfjahrplans der DDR (1951–1955), Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 18.09.2019). Richter, Herbert: Den Plan täglich aufschlüsseln, kontrollieren, erfüllen, Berlin (DDR) 1958, S. 5. Für Körber handelt es sich hierbei im Übrigen um eine essenzielle historische Kompetenz, um nicht der musealen »Präsentationslogik auf den Leim zu gehen« – was natürlich die Frage aufwirft, wie im Zweifelsfall zwischen »basalem« Missverstehen und »elaboriertem« Lesen »gegen den Strich« unterschieden werden kann. Körber: Kompetenzorientiertes historisches Lernen, S. 64. Dieser Befund deckt sich auch mit Macdonalds Studie Behind the Scenes at the Science Museum, in der sie beobachtet, dass selbst Rezensent*innen die Ausstellung eher »betrachteten« als »lasen«: »the »messages« that they picked up were not drawn from what was written on panels, but from the three-dimensional exhibits and the impressions they drew from it. […] The [curator team] frequently complained […] that the reviewers hat failed to »read it [the exhibition text, SM] properly«. Macdonald: Behind the Scenes, S. 210–211.
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Emotionen behafteten Erlebnisraum, als Impulsgeberin für »historische Imagination«26 oder als Ort für die Konstruktion und Inszenierung von Identität aneignen. Als Vorarbeit für diese Fragen möchte im Folgenden drei Punkte anhand der hier skizzierten Ausstellungsanalysen und ihren möglichen Beziehungen zu den Rezeptionsweisen unterschiedlicher Besucher*innen diskutieren. Dabei handelt es sich erstens noch einmal um den Charakter von Ausstellungsmedien als Zeichen; zweitens um die Ausstellungsrezeption als interaktiven Vorgang und drittens um die Bedeutungsgenerierung in Ausstellungen als einen Akt des Codierens und Decodierens.
5.2 Ausstellungsmedien als Zeichen Wie wir bereits gesehen haben, sind Objekte in Ausstellungen immer vieldeutig. Der banalste Grund für diesen Umstand besteht darin, dass sie ihrem alltäglichen Gebrauchskontext entfremdet und in einen musealen Kontext überführt wurden. Schon allein dieser Akt beinhaltet eine Bedeutungsverdopplung, das Museumsobjekt ist fortan »nicht-identisch mit sich selbst«.27 Seinem ehemaligen Gebrauchskontext entfremdet, steht es nicht mehr nur für sich selbst, sondern fungiert zugleich als Zeichen für etwas Anderes. Es ist zu einem »Semiophor«, einem Träger von Bedeutung, geworden.28 Die Museologin Susan Pearce führt hierzu aus: On the one hand, objects are specific, nothing more so; they have places in time and space, they are made of materials which have weights, colours, and so on. On the other hand, objects are fantasies, products of human imagination […], but frozen into tangible form.29 Beispielsweise erfüllt der Stempel des Bergbaubetriebs Beerwalde im Museum in der Kulturbrauerei offenkundig nicht mehr die Funktion, die Unterlagen eines Betriebsrats zu beglaubigen. Stattdessen ist er zum Teil einer Erzählung geworden – etwa über das sozialistische Wirtschaftssystem der DDR, über bürokratische Herrschaft, die Verflechtung von Politik und Ökonomie oder über Handlungsspielräume des Einzelnen in einem zentralistisch strukturierten System. Mit Jana Scholze können diese beiden Bedeutungsebenen des Objekts als dessen Denotation (der Stem-
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Zum Begriff der »historischen Imagination« vgl. etwa Schörken, Rolf: Begegnungen mit Geschichte. Vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in Literatur und Medien, Stuttgart 1995. Bennett: Bennett 2009 – Das Kunstmuseum als zivile Maschine, S. 61. Zum Ursprung des Begriffs vgl. Pomian: Pomian 1988 – Der Ursprung des Museums, S. 49. Pearce, Susan: Thinking about Things. Objects High and Low, in: Museum Journal (4/1986), S. 79–83, hier: S. 79.
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pel als Stempel) und Konnotation (der Stempel als Zeichen, als Träger von Bedeutung) bezeichnet werden.30 Wie kann nun festgestellt werden, welche Geschichte der Stempel erzählt? Geht es etwa darum, die sozialistische Planwirtschaft als ineffizient abzustempeln oder soll vielleicht gezeigt werden, wie schwierige Ausgangsbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR ihren Stempel aufdrückten? Der Stempel selbst wird es einem nicht verraten. »The problem with things ist hat they are dumb. They are not eloquent […]. They are dumb«, heißt es bei Spencer Crew und James Sims.31 Was damit gemeint ist, ist, dass Objekte unfähig zur Kommunikation sind: Der Stempel ist als einzelnes Objekt ebenso stumm wie ein einzelnes Wort in einem Geschichtsbuch. Erst durch das In-Beziehung-Setzen zu seiner Umgebung – anderen Exponaten, Begleittexten, Gestaltungselementen und ihrer jeweiligen Anordnung im Raum – wird er zum Sprechen gebracht. Eine Methode, dies auf analytischer Ebene zu tun, besteht in der oben skizzierten »dichten Beschreibung«, die sich ihrem Untersuchungsgegenstand (hier: dem Schreibtisch-Arrangement) »mikroskopisch und deutend« nähert, ihn also minutiös zu erfassen sucht und »davon ausgehend weit reichende Schlussfolgerungen auf ein größeres System« (hier: die allgemeine Ausstellungsnarration) zieht.32 Das Pendant zu dieser induktiven Vorgehensweise würde ich als »geballte Beschreibung« bezeichnen. Eine solche lässt sich in Ansätzen etwa bei Scholzes semiotischer Ausstellungsanalyse beobachten, derer ich mich in den Kapiteln 2.4 und 3 bedient habe. Scholze bemängelt an der existierenden museumsbezogenen Forschungsliteratur eine Kleinteiligkeit, die den Blick für Strukturaspekte von Ausstellungsnarrativen verstellen kann. Ausstellungsanalysen würden sich häufig »ausschließlich den ausgestellten Objekten und damit primär den thematisierten Inhalten« widmen.33 Wie bereits in Kapitel 2.4 skizziert, besteht ihr Ansatz nun darin, Ausstellungen in Gänze als »komplexe Medien« zu begreifen und nach den historisch gewachsenen »Konventionen der musealen Präsentation«, nach den »typischen Formen der Ausstellungspräsentation«, zu fragen.34 Auch wenn Scholze dies an keiner Stelle explizit macht, so nimmt ihre Frage »nach allgemeinen, für die jeweiligen Präsentationsformen charakteristischen Codes« doch deutliche Anleihen bei Hayden Whites narratologischer Analyse geschichtswissenschaftlicher Texte: »While reading the classics of nineteenth-century European historical thought, it became obvious to me that to consider them as representative forms of historical reflection required a formal
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Scholze: Medium Ausstellung, S. 30–35. Crew; Sims: Locating Authenticity, S. 159. Muttenthaler; Wonisch: Gesten des Zeigens, S. 50. Scholze: Medium Ausstellung, S. 9. Ebd., S. 11–12. Selbstverständlich können dichte Beschreibung und die Frage nach übergreifenden Präsentationsformen auch miteinander kombiniert werden.
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theory of the historical work«, so White 1973 in seinem für die narrative Wende in den Geschichtswissenschaften grundlegenden Werk Metahistory.35 Die wiederkehrende Tetraktys historischer Erzählmuster bei White (etwa Romanze, Tragödie, Komödie, Satire – Formativismus, Organizismus, Mechanismus, Kontextualismus – Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie) besitzt eine auffallende strukturelle Ähnlichkeit zu den von Scholze identifizierten vier Grundformen musealer Präsentation (Klassifikation, Chronologie, Inszenierung, Komposition).36 Doch das nur am Rande. Der entscheidende Punkt für die Analyse von Rezeptionsprozessen in zeithistorischen Ausstellungen ist der, dass es nicht darum gehen kann, die Beschäftigung der Besucher*innen mit einzelnen Exponaten (mit einzelnen Zeichen) zu ergründen. Die Analyse muss stattdessen auf einer darüberliegenden Ebene ansetzen, auf der das Sprechen über einzelne Exponate/Zeichen eher als Manifestation einer Auseinandersetzung mit einem komplexen Zeichensystem begriffen werden kann. Denn es ist zu einem hohen Grade die Präsentationsform der Ausstellungsmedien, welche »bestimmte Lesarten protegiert, andere verdeckt […] oder sogar unterdrückt. In diesem Gestaltungsprozess kann die diskursive Pluralität eingeschränkt werden, ohne aufgehoben zu werden.«37
5.3 Die Ausstellung als Drama und Bedeutungsfabrik Dieser letzte Satz Scholzes ist für das Folgende von entscheidender Bedeutung. Denn die Identifikation der von einem Museum intendierten Lesart seiner Ausstellung sagt noch wenig darüber aus, ob und wie sie von ihren Besucher*innen tatsächlich »gelesen« wird. Denn schließlich ist der Kurator ebenso tot wie der Autor – ist das Exponat einmal in der Ausstellung platziert, steht es, um Roland Barthes zu zitieren, »finally outside of any function other than that of the very practice of symbol itself, this disconnection occurs, the voice loses ist origin«.38
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White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973, S. IX. »My method, in short, is formalist. I will not try to decide whether a given historian’s work is […] better, or more correct, account of a specific set of events or segment of the historical process than some other historian’s account of them; rather, I will seek to identify the structural components of those accounts«, ebd., S. 3–4. Es geht mir hier keineswegs darum, Scholzes Arbeit für vermeintliche Mängel in den Literaturangaben zu kritisieren, sondern darum, auf eine – möglicherweise unbewusste – Konvergenz zwischen ihrem Ansatz und demjenigen Whites aufmerksam zu machen und deren Potential für die Ausstellungsanalyse auszuleuchten. Scholze: Medium Ausstellung, S. 15. Barthes, Roland: The Death of the Author, in: Aspen (05–06/1967), URL: https://web.arch ive.org/web/20200419132326/www.ubu.com/aspen/aspen5and6/threeEssays.html#barth es (letzter Zugriff: 03.08.2021). Für eine zugänglichere Form dieser Idee s. Mohler, Corey:
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Nun könnte man einwenden, dass die Botschaft eines Ausstellungsstücks in viel höherem Maße von den Intentionen der Kurator*innen abhängt als von denen der Besucher*innen. Denn schließlich verfügen allein erstere über die Mittel, das fragliche Ausstellungsstück an der ihnen passenden Stelle zu platzieren, es mit Lichteffekten oder anderen gestalterischen Mitteln zu inszenieren und mit einem deutenden Begleittext zu versehen. Dieser Einwand ist sicherlich insofern gerechtfertigt, als dass Besucher*innen einem Objekt nicht völlig beliebige Bedeutungen zuschreiben können. Die Ausstellungsrezeption wird vom Museum immer auf vielfältige Weise gerahmt und gelenkt, weshalb Kreativität und Eigensinn der Besucher*innen im Rezeptionsprozess nicht überbewertet werden sollten.39 Dennoch sind die Handlungsweisen, in der sich Besucher*innen Ausstellungsinhalte aneignen, wesentlich vielfältiger als von Kurator*innen gemeinhin angenommen. Diese Interdependenz von Kurator*innen und Besucher*innen bei der Sinngenerierung lässt sich beispielsweise mit Werner Hanak-Lettners Charakterisierung der Ausstellung als Drama veranschaulichen. »Denn alles, was einen Anfang und ein Ende hat, hat einen Ablauf. Und die Qualität dieses Ablaufs nenne ich Dramaturgie.«40 Bei HanakLettner nimmt diese Dramaturgie nun unterschiedliche Gestalten an – je nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet: Die Sicht der KuratorInnen ist beispielsweise folgende: Der Kurator verfasst einem Dramatiker ähnlich ein Konzept, dann schlüpft er in die Rolle des Regisseurs und […] inszeniert […] mit Hilfe von Dingen im Raum ein Thema, eine Biografie, eine Geschichte. […] Diese Sicht ist durchaus üblich, schmeichelt in nicht geringem Maße dem Berufsbild des Kurators, der in den letzten Jahren nicht nur als Dramatiker oder Regisseur, sondern auch als Künstler, Autor und selbst als Gott beschrieben wurde.41 Entgegen dieser Überhöhung zeichnet Hanak-Lettner ein ambivalentes Bild des Kurators.42 Einerseits stelle im Museum der »mit Zeichen gefüllte Raum […] eine machtvolle, weil unveränderliche Manifestation seines Willens dar.«43 Dies mache
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Eowyn Kills the Witch King (ohne Datum), URL: https://existentialcomics.com/comic/318 (letzter Zugriff: 21.04.2022). Zu diesem Punkt sei nochmals auf Geimers Überlegungen zum Aneignungsbegriff verwiesen. Vgl. Geimer: Das Konzept der Aneignung. Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 106. Ebd., S. 104–105. Ich verwende im Folgenden ausnahmsweise das generische Maskulinum, um die grammatikalische Struktur der im Text eingebauten Zitate Hanak-Lettners beibehalten zu können. Denn dieser präferiert beim Gendern offenbar das Prinzip der Prinzipienlosigkeit: Mal werden männliche und weibliche Formen verwendet, mal verirrt sich ein Binnen-I in den Text, dann verschwindet es wieder und macht Platz für »Besucher«, »Kurator« usw. Ebd., S. 131.
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den Kurator jedoch andererseits »höchst unflexibel, da er den Raum bereits verlassen hat und prinzipiell keine Veränderungen mehr vornehmen kann, jedenfalls nie schnell genug, um in die Begegnung zwischen Besucher, Raum und Objekt eingreifen zu können.«44 In diesem Zitat betreten gleich mehrere neue Akteure die Bühne des Ausstellungsdramas. Auftritt eins: der Besucher. Im Gegensatz etwa zum Kino oder Theater sei er im Museum »Protagonist, Erzähler und Rezipient in einem.«45 Und aus seiner Perspektive sei er auch der eigentliche Autor des Ausstellungsdramas. Denn schließlich bestehe das Besondere des Ausstellungsbesuchs in der Kopplung der Rezeptionserfahrung an die physische Bewegung durch den Raum: Durch ihre Geschwindigkeit bestimmten die Besucher*innen die »Erzählzeit« des Dramas, durch die Wahl dieses oder jenes Weges durch den Raum den spezifischen Verlauf der Geschichte. Menschen besuchen Ausstellungen, »um [sich] durch den Raum zu bewegen und […] dabei selbst eine gute Geschichte zu erzählen«, so Hanak-Lettner.46 Und sie tun dies mit den durch die Ausstellung zur Verfügung gestellten Mitteln. Auftritt zwei: Die Objekte – »die Textbausteine einer Ausstellung«, die zu einer sinnhaften Geschichte zusammengefügt sein wollen.47 Von den Kurator*innen verlassen, obliege diese Aufgabe in letzter Instanz immer den Besucher*innen. Das Ausstellungsdrama entfalte sich also als Dialog »zwischen den Dingen untereinander, vor allem aber zwischen den Dingen und den Besuchern«.48 Auftritt drei: Der Raum – die der Ausstellung zugrunde liegende Struktur, der Hintergrund, vor dem sich das Drama entfaltet. Der Begriff bezeichnet bei Hanak-Lettner das durch den Aufbau der Ausstellung zur Verfügung gestellte Kontextwissen sowie die Rahmen des »Handlungsablaufes«. Er gleiche damit dem Chor der griechischen Tragödie, »der den eigentlich allgemein bekannten Hintergrund [der Handlung] zur besseren Orientierung in stark verdichteter Weise verfügbar macht.«49 Zu den Elementen des Raums zählt Hanak-Lettner daher auch Raum-, Kapitel- und Objekttexte, die in ihrer Eigenschaft als »erlaubte[r] Schwindelzettel« den Fortgang des Dramas zwischen Objekten und Besucher*innen sicherstellen sollten.50 Zurück zum Schreibtisch in der Kulturbrauerei: Ist die Stimme Walter Ulbrichts, die uns am Telefon den Beschluss des ersten Fünfjahrplans verkündet, die
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Ebd., S. 131. Ebd., S. 109. Ebd., S. 180. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105–106. Ebd., S. 107, 117. Ebd., S. 273.
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noch hoffnungsvolle Exposition einer Geschichte über Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftsmodell? Oder ist die Abwendung vom freien Markt bereits die Katastrophe, die ein ganzes Land zu Mangelwirtschaft und Autoritarismus verdammt? Ist der an der Wand gegenüber hängende Erich Honecker der rettende Bote, welcher der DDR mit seiner »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« noch einmal zu neuem Leben verhilft? Oder verkörpert er bloß das retardierende Moment des Sozialismus, das dessen unausweichlichen Untergang lediglich hinauszögert? Je nachdem, welche und wessen Perspektive man auf das Ausstellungsdrama einnimmt, werden die Antworten auf diese Fragen unterschiedlich ausfallen. Wem all das zu theatralisch ist, dem sei Joachim Baurs bodenständigere Definition des Museums als »Produktionsstätte von Bedeutung« nahegelegt.51 Nimmt man diese Bezeichnung wörtlich, dann wird das Museum zu einer Fabrik und seine Ausstellungsmedien zu Rohstoffen und Maschinen (Produktionsmitteln), an denen die Besucher*innen beim Ausstellungsrundgang »Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan« verausgaben,52 wobei das Resultat dieses Prozesses die Herstellung von Bedeutung ist. Wir können diesen Prozess auch als einfache Bedeutungszirkulation B – A – B’ (Bedeutung – Ausstellung – neue Bedeutung) begreifen: Die Kurator*innen werfen Bedeutung in den Zirkulationsprozess, welche die Form einer Ausstellung annimmt. Anschließend verwandeln die Besucher*innen die Ausstellung zurück in Bedeutung, wobei die Bedeutung jedoch ihren Inhalt ändern kann.53 Jedenfalls zeigt sich auch in Baurs Sprachbild eindeutig die Interdependenz von Kurator*innen, Ausstellung und Besucher*innen: Die produzierte Bedeutung ist in der Materialität der Ausstellung bereits angelegt – mit gegebenen Rohstoffen und Maschinen lässt sich nicht jedes x-beliebige Produkt herstellen. Sie ist jedoch keineswegs determiniert – schließlich können die Besucher*innen metaphorisch gespro-
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Baur: Baur 2009 – Die Musealisierung der Migration, S. 27. Ein ähnliches Sprachbild findet sich auch bei Korff, der Museen als »Bedeutungsgenerierungs- und Bedeutungsvermittlungsanstalten« bezeichnet. Korff, Gottfried: Vom Verlangen, Bedeutung zu sehen, in: Borsdorf, Ulrich et al. (Hg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2005, S. 81–104. Marx: Das Kapital (MEW 23), S. 85. In diesem Zusammenhang sei auch auf das Kokettieren Stuart Halls mit der Marx eigentümlichen Ausdrucksweise hingewiesen: »Bedeutungen und Nachrichten« erscheinen bei Hall als die zwei unterschiedlichen »Formen« eines beständigen Produktions- und Zirkulationsprozesses, der dem »Skelett der Güterproduktion« bei Marx entspricht. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 66.; vgl. Marx: Das Kapital (MEW 23), S. 27.
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chen auch streiken, Sabotageakte verüben oder die Museumsfabrik besetzen und ihre Produktion neu ausrichten.54 Noch einmal zurück zum Museum in der Kulturbrauerei. Während ich dort im April 2019 Interviews mit Besucher*innen führte, beobachtete ich zwei kurze Episoden, welche die Vielgestaltigkeit der Bedeutungsproduktion in historischen Ausstellungen veranschaulichen können. Die erste spielte sich zwischen zwei Männern – augenscheinlich Vater und Sohn – ab, die vor einem Objektarrangement zur NVA Halt machten. Begeistert begann der Vater damit, die in einem Spind aufgehängten Armeeuniformen zu durchstöbern, seinem Sohn die Bedeutung verschiedener Abzeichen und das Aussehen der Uniformen zu erläutern, die er selbst während seines Wehrdienstes in der DDR getragen habe. Am selben Tag wurde das Museum von Schulklassen spanisch- und französischsprachiger Jugendlicher besucht, die einzeln und in Gruppen vor dem dort ausgestellten Simson-Moped für Fotos posierten. Hier diente das Museum also vor allem als Kulisse ironischer Selbstinszenierung und als Katalysator von Gruppendynamiken.55 Und für den Vater bezeugten die Uniformen keineswegs – wie von den Kurator*innen intendiert – Drill und Schikane der einfachen Rekruten in der NVA, sondern weckten zum einen positive Erinnerungen an die eigene Jugend und boten zum anderen die Möglichkeit, gegenüber dem Sohn mit umfangreichem Fachwissen zu imponieren. Wie bereits geschildert, greift eine klassische Ausstellungsanalyse daher immer insofern zu kurz, als dass sie nicht dazu in der Lage ist, die Vielfalt der möglichen Bedeutungszuschreibungen an die Inhalte der Ausstellung hinreichend zu erfassen. Sie vermag es zwar, die von den Kurator*innen intendierten Botschaften relativ zielsicher zu entschlüsseln, übersieht dabei aber den interaktiven Charakter der Ausstellungsrezeption. Es geht mir hier nicht darum, eine grundsätzliche Kritik zu formulieren, denn schließlich kann mit gutem Recht argumentiert werden, dass die Rezeption nunmal nicht zum Interessengebiet der Ausstellungsanalyse gehört. Doch vielleicht sollte sie das, denn die rein kuratorische Perspektive birgt die Gefahr, die Bedeutung der Ausstellungsobjekte zu essentialisieren, sie also den Objekten als eine ihnen inhärente Eigenschaft zuzuschreiben, anstatt sie als das Produkt einer Interaktion zwischen Kurator*innen, Ausstellung und Besucher*innen zu begreifen.
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Über die marxsche Dialektik zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften ließe sich dieses Bild nahezu endlos weiter entfalten, wobei der Vergleich natürlich einige Unzulänglichkeiten hat. Dies lässt sich immer wieder beobachten, so etwa auch im Berliner DDR-Museum. Ein in der Ausstellung ausliegendes Büchlein, in dem Besucher*innen ihre Gedanken zu Vor- und Nachteilen der Kinderbetreuung in der DDR aufschreiben sollen, wird hauptsächlich dazu genutzt, anderen Besucher*innen den eigenen Instagram-Account mitzuteilen. »Folgt mir auf Insta« ist der am häufigsten zu lesende Satz des Büchleins, gefolgt von »[Name] war hier«.
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5.4 Ausstellungslesarten und das Phänomen der Missverständnisse Das Gemeinsame an der Vorstellung vom Museum als »Produktionsstätte von Bedeutung« und von der »Ausstellung als Drama« besteht nun nicht nur darin, dass sie beide auf diese durch die Ausstellung vermittelte Interaktion zwischen Kurator*innen und Besucher*innen verweisen, sondern darüber hinaus auch in der Kenntlichmachung der diesem Vorgang innewohnenden Asymmetrie. Noch einmal zusammengefasst: Während es von der Seite der Kurator*innen her gedacht so scheint, als würden sie mittels ihrer Ausstellung mit den Besucher*innen kommunizieren, stellt sich dieser Vorgang für die Besucher*innen völlig anders dar. Für diese treten die Kurator*innen hinter der Ausstellung zurück und bleiben in der Regel unsichtbar. Dabei kann beobachtet werden, dass ein erhöhter Gebrauch von gestalterischen Mitteln (Lichteffekte, Raumaufbau, inszenatorische Objektarrangements usw.) nicht etwa zu einer erhöhten Sichtbarkeit der kuratorischen Sprecher*innenposition führt, sondern diese – durch die Authentisierung der Objekte – umgekehrt weiter verschleiert.56 Während sich also für die Kurator*innen die Interaktion mit den Besucher*innen ihrer Ausstellung im Stile des klassischen Kommunikationsmodells Sender*in – Medium (Nachricht) – Empfänger*in darstellt, fallen für die Besucher*innen Sender*in und Medium in eins. Die jeder Kommunikation innewohnende Lücke zwischen intendierter und rezipierter Bedeutung einer Nachricht wird in Ausstellungen durch diese Asymmetrie noch einmal verstärkt. Die von den Kurator*innen intendierten Bedeutungen (beispielsweise eines Objektarrangements) sind für die Besucher*innen also keinesfalls offensichtlich, sondern müssen aktiv erschlossen werden. Dieser Prozess kann mit dem Lesarten-Modell Stuart Halls theoretisch nachvollzogen werden.57 Hall konzeptualisiert Kommunikation als einen Vorgang des sinngenerierenden Ver- und Entschlüsselns von Nachrichten mittels bestimmter, gesellschaftlich geteilter Codes. Wenn ich beispielsweise als Ausstellungskurator eine Aussage über den zentralistisch-bürokratischen Charakter des DDR-Wirtschaftssystems tätigen will, so tue ich dies mittels einer Vielzahl von Medien (Texte, Objekte, Bilder usw.), denen ich bestimmte Bedeutungen zuschreibe. Diese Bedeutungszuschreibungen erfolgen abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, Sinnstrukturen und Diskursen, in denen ich mich bewege und die den »Code« formen, mittels dessen ich meine Botschaft übermitteln will. Ich codiere meine Aussage also innerhalb gesellschaftlich geteilter »Wissensrahmen«, in der Hoffnung, dass die Besucher*innen sich in den gleichen »Wissensrahmen« bewegen und den eingesetzten Medien die gleichen Bedeutungen zuschreiben wie ich, d.h. meine Aussage in der von
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Muttenthaler; Wonisch: Gesten des Zeigens, S. 39. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation.
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mir intendierten Weise decodieren.58 Die grundlegende Voraussetzung hierfür besteht darin, dass Besucher*innen sich nicht nur über die Denotation eines Objekts im Klaren sind, sondern auch dessen mögliche Konnotationen erschließen können. Stimmen Codierung und Decodierung nun überein, würde die klassische Kommunikationstheorie von einer gelungenen Kommunikation sprechen.59 Wie jedoch bereits im vorherigen Kapitel skizziert, ist eine solche einfache Übernahme der intendierten Bedeutung durch die Ausstellungsbesucher*innen eher die Ausnahme als die Regel – Kurator*in und Besucher*in scheinen häufig eher Bertrand Russell und dem Englisch sprechenden Löwen zu gleichen, denen eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage fehlt. Gemeinhin wird dieses Fehlen als auf eine mangelhafte oder unzeitgemäße Besucher*innenorientierung der Museen zurückgeführt. Dass »der Kommunikationsprozess funktioniert und die Botschaften die Empfänger erreichen«, scheitert etwa laut Brigitte Kaiser häufig daran, dass Ausstellungsmacher*innen »sich in der Sprache und mit dem Präzisionsanspruch der Fachwissenschaften ausdrücken und damit das Ziel, den Laien anzusprechen, verfehlen können.«60 Auf ähnliche Weise bemängeln die Kulturmanagerinnen Sabrina Helm und Andrea Hausmann »in vielen Häusern noch eine starke Orientierung an der […] »Besucherelite«,61 während der Historiker Franz-Josef Jelich sich fragt, wie im Museum »Fehlinterpretationen aufgrund überformter Alltagserfahrungen korrigiert werden« können.62 Diese Frage stellt sich aber natürlich nur innerhalb eines spezifischen theoretischen Feldes (dem der lernfokussierten Besucher*innenforschung), welches die Bedeutungszuschreibungen der Besucher*innen als korrekturbedürftig und ihre Alltagserfahrungen als Störfaktor betrachtet. Das Attraktive an Halls Modell besteht nun gerade darin, dass es alternative Decodierungen einer intendierten Bedeutung nicht einfach als Missverständnisse oder Unzulänglichkeiten der Rezipient*innen abtut. Stattdessen dreht es den Spieß um und deutet die Rede von den Missverständnissen selbst als Anzeichen für eine verengte Forschungsperspektive, welche die eigensinnigen Praktiken der Rezipient*innen nicht erfassen könne. Dies äußert sich laut Hall darin, dass sich die Kommunikationswissenschaft (bzw. hier: die Besucher*innenforschung) dem völlig »administrativen
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Ebd. Ebd., S. 69. Kaiser: Inszenierung und Erlebnis, S. 98. Helm, Sabrina & Hausmann, Andrea: Kundenorientierung im Kulturbetrieb. Eine Einführung, in: Hausmann, Andrea & Helm, Sabrina (Hg.): Kundenorientierung im Kulturbetrieb. Grundlagen – innovative Konzepte – praktische Umsetzung, Wiesbaden 2006, S. 13–30. Jelich, Franz-Josef: Lernort und dann? Einleitende Bemerkungen zum Werkstattgespräch, in: Faulenbach, Bernd & Jelich, Franz-Josef (Hg.): Besucherinteressen und Besucherverhalten in historischen Museen und Ausstellungen. Dokumentation einer Tagung, Recklinghausen 1991, S. 48–51, hier: S. 50.
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Ziel« verschreibt, zu untersuchen, »wie viel das Publikum von einer Nachricht erinnert, um anhand der daraus gewonnen Informationen den Grad der Verständlichkeit zu erhöhen.«63 Für Hall resultieren die scheinbaren Missverständnisse in der massenmedialen Kommunikation jedoch nur selten aus Unverständlichkeit, sondern vielmehr daraus, dass die Rezipient*innen »nicht innerhalb des »dominanten« oder »bevorzugten« Kodes agieren.«64 Demzufolge ist es das Agieren in alternativen Codes, welches dazu führt, »dass das Publikum die Nachricht nicht so auffasst, wie sie [die Sender*innen] es beabsichtigen.«65 Hall unterscheidet nun drei verschiedene Codes bzw. Lesarten einer Nachricht: erstens die hegemoniale, dominante oder Vorzugslesart, zweitens die ausgehandelte und drittens die oppositionelle Lesart: Wenn [der] Zuschauer die konnotierte Bedeutung der Fernsehnachrichten oder einer tagespolitischen Sendung voll und ganz übernimmt und die Nachricht im Sinne des Referenzkodes, in dessen Rahmen sie kodiert wurde, dekodiert, kann gesagt werden, dass der Zuschauer innerhalb des dominanten Kodes agiert. […] Das Dekodieren im Rahmen der ausgehandelten Version birgt eine Mischung aus adaptiven und oppositionellen Elementen: Es erkennt die Legitimität der hegemonialen Definition an […], während es auf einer begrenzteren, situationsbedingten Ebene […] seine eigenen Grundregeln aufstellt – es operiert mit den Ausnahmen zur Regel. […] Schließlich ist es einem Zuschauer durchaus möglich, sowohl die von einem Diskurs vorgegebene wörtliche als auch konnotative Flexion zu verstehen, die Nachricht aber dennoch in einer von Grund auf völlig gegensätzlichen Weise zu dekodieren. Er/sie enttotalisiert die Nachricht mittels des bevorzugten Kodes, um sie daraufhin innerhalb eines alternativen Bezugsrahmens zu re-totalisieren.66 Ich möchte anhand dieses Zitats vier Punkte oder Fragen erörtern, die für die theoretische Fundierung meiner Analyse relevant sind. Als erstes möchte ich noch einmal genauer auf den Punkt der »Missverständnisse« eingehen und diesen anhand eines kurzen Auszugs aus einem Interview im Berliner DDR-Museum (dessen Besucher*innen Gaubert ja vorwirft, sie würden es »als eine ernst zu nehmende Bildungseinrichtung missverstehen«) verdeutlichen.67 Das Interview habe ich mit einem verrenteten Ehepaar aus Jena geführt. Nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt hatten, kam es zu folgender Gesprächssituation:
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Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 76. Ebd., S. 76. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77–80. Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 159.
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Interviewer: Dann würde ich Sie bitten, mir vielleicht einfach möglichst viel über Ihren Ausstellungsbesuch hier zu erzählen. Also was Sie sich angeschaut haben, was Ihnen in Erinnerung geblieben ist. Herr Bogner: Angeschaut haben wir ja viel. Ja, äh, zum Beispiel das Wohnungsprogramm, wo wir ja selbst integriert sind – in die Platte, sozusagen. Und können darüber nichts irgendwie Böses sagen. Das ist an und für sich die Platte… Früher hatte man sich gefreut, dann wurde sie verdammt nach der Wende und jetzt freut man sich wieder. Aufgrund dessen, weil man die ja auch verändern kann.68 Was an dieser Antwort sofort ins Auge springt, ist der Ausdruck »können darüber nichts irgendwie Böses sagen«. Warum fühlt sich mein Interviewpartner offenbar dazu angehalten, über »die Platte« etwas »Böses« zu sagen? Vermutlich ist er sich bewusst, dass es im DDR-Museum nicht um die Vorzüge des industriellen Plattenbaus (Veränderbarkeit usw.) geht, sondern das Thema Wohnen hier unter ganz anderen Vorzeichen verhandelt wird (Verfall der Altstädte, Wohnungsnot, Baumängel, verfehlte Planvorgaben etc.). Dem steht jedoch seine eigene lebensweltliche Erfahrung als Plattenbaubewohner entgegen. Und es wäre absurd, dieses Alltagswissen (analog zu von Borries und Jehlich) als irgendwie defizitär abzustempeln. Bei Herrn Bogners Antwort handelt es sich weder um eine Fehlinterpretation, noch ist sie Ausdruck eines naiven, mangelhaft entwickelten Geschichtsbewusstseins. Kurz: Es geht hier nicht um ein Missverständnis. Mein Interviewpartner weiß durchaus um die hegemoniale Lesart der Ausstellung, verweigert sich dieser aber. Er versteht die Ausstellung nicht falsch, sondern agiert innerhalb eines alternativen Codes. Dennoch muss er sich hierbei auch auf hegemoniale Referenzcodes beziehen, um über die gesehenen Ausstellungsmedien überhaupt sprechen, um ihnen eine Bedeutung zuschreiben zu können – auch die ausgehandelte bzw. oppositionelle Lesart kann nur in Kenntnis des hegemonialen Codes vollzogen werden. Hinzu kommt der spezifische Kontext der Interviewsituation: Es ist gut möglich, dass mein ostdeutscher Interviewpartner gegenüber mir als Westdeutschem eine Art Rechtfertigungsdruck verspürt. Möglicherweise erwarte ich ja von ihm, sich negativ über die Wohnverhältnisse in der DDR zu äußern – denn schließlich sind positive Bezugnahmen auf die DDR im hegemonialen Diktaturgedächtnis-Diskurs nicht gerade erwünscht.69 Wir werden in Kapitel 7 noch häufiger sehen, dass diese Zurückweisung des Ausstellungsnarrativs in Form von vagen Andeutungen, zurückhaltenden Distanzierungen und ambivalenten Aussagen ein wiederkehrendes Motiv in den von mir geführten Besucher*innen-Interviews ist. Bisweilen wurde der eigensinnige Umgang mit dem Gezeigten aber auch geradeheraus angesprochen – so etwa von dem in der DDR 68 69
Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Auf diese Form der »Erwartungserwartung« und ihre erkenntnistheoretischen Implikationen gehe ich in Kapitel 6 zur Hermeneutischen Dialoganalyse genauer ein.
5. Codieren und decodieren von Bedeutung im Museum
aufgewachsenen Herrn Pfeifer, der im DOK eine neue »Staatsdoktrin […] durch die Blume durch« gespürt habe. »Aber überliest man und sind wieder interessante Details drin, nicht?«70 Diese Beispiele verdeutlichen, dass es sich bei der Aneignung von Objektivationen der Geschichtskultur grundsätzlich »um eine werthaltige politische Angelegenheit« handelt, wie Martin Lücke und Irmgard Zündorf konstatieren.71 Dem immanent politischen Charakter der Geschichtsaneignung entsprechend plädiere ich dafür, Halls Lesarten-Typologie nicht auf einer individuellen, sondern auf einer strukturellen Ebene anzusiedeln. Diese Interpretation ist nicht unumstritten und entsprechende Kontroversen um den Referenzrahmen von Halls Kommunikationsmodell sind sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass seine Definition der »Vorzugslesart« nicht ganz eindeutig ist. So legt etwa der Kommunikationswissenschaftler Kim Schrøder ein Verständnis der »Vorzugslesart« nahe, welches diese mit der intendierten Bedeutung der Autor*innen gleichsetzt. In diesem Zusammenhang weist Schrøder zu Recht auf die Schwierigkeit hin, Medienprodukte, die sich gegen die herrschende Ordnung wenden (oder sich ambivalent zu dieser verhalten), produktiv mit Halls Modell zu erfassen. Welche Lesart wäre in einem solchen Fall als oppositionell, welche als dominant-hegemonial zu bezeichnen? Und überhaupt ließen sich diese Fragen an einen Großteil der Medienprodukte überhaupt nicht sinnvoll stellen, so Schrøder: Again, with informative genres it may make at least intuitive sense to talk about a meaning that is central in the text […]. But with fictional genres, the task seems impossible. Do the signifying mechanisms of a soap opera, or a feature film, or a music video, promote ›one privileged meaning‹? […] How can we know it? […] Epistemologically, the attempt to discover one privileged textual meaning is bound to fail, for the simple reason that any decoding […] is always already another encoding […]. If there is to be a place for some notion of »preferred reading« within a theory of reception, it must be defined as something different from a master interpretation of the media text […].72 Die Frage nach dem Umgang mit fiktionalen Genres ist für die Frage des Gültigkeitsbereichs von Halls Modell zweifellos relevant, muss uns an dieser Stelle aber nicht weiter beschäftigen. Stattdessen möchte ich mich auf den von Schrøder aufgeworfenen erkenntnistheoretischen Kritikpunkt konzentrieren: Wenn es sich bei der Vorzugslesart tatsächlich nur um eine individuell intendierte Bedeutung handelt, dann
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Interview 5, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 23.09.2022. Lücke; Zündorf: Einführung in die Public History, S. 38. Schrøder, Kim: Making Sense of Audience Discourses. Towards a Multidimensional Model of Mass Media Reception, in: European Journal of Cultural Studies (02/2000), S. 233–258, hier: S. 241.
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ist das Vorhaben einer ideologiekritischen Decodierung (mit dem Ziel, »eine privilegierte textuelle Bedeutung zu entdecken«) tatsächlich zum Scheitern verurteilt. Mehr noch: Sie würde in eine belanglose, psychologisierende Textexegese zurückfallen (wie sie von Roland Barthes in Der Tod des Autors so grundlegend kritisiert wurde),73 die nur danach fragen kann, was denn die Autor*innen/Kurator*innen wirklich gemeint haben könnten. Wenn wir den Referenzrahmen des Lesarten-Modells jedoch von einer individuellen auf eine strukturelle Ebene heben, erledigt sich die Frage, ob Barthes’ Autor nun tot oder lebendig ist, von selbst. Denn es geht nun nicht mehr darum, dessen subjektive Vermittlungsabsicht zu entschlüsseln, sondern um die Analyse eines Medienprodukts innerhalb eines konstitutiven Diskursraums, auf den sich Codierung und Decodierung gleichermaßen beziehen.74 Das ist schon allein deshalb notwendig, als dass ein Medium (hier: eine Ausstellung) nie nur für sich allein decodiert wird. Stattdessen ist es immer in einen Kontext zahlloser anderer Bedeutungsträger eingebettet und wird auf diese bezogen. Bereits die kurze Analyse des Interviewausschnitts mit Herrn Bogner hat gezeigt, dass dieser bei seiner Rezeption der Wohnungsinszenierung im Berliner DDR-Museum nicht nur die dortigen Ausstellungsmedien betrachtet, sondern sie unmittelbar mit seinen eigenen Wohnverhältnissen einerseits und dem hegemonialen DDR-Diskurs andererseits in Verbindung setzt.75 Hall selbst spricht von einem »Muster »bevorzugter Lesarten«, welches seinem Modell zugrunde liege und dem »die institutionelle, politische und ideologische Ordnung eingeschrieben« sei: »Die Bereiche der »bevorzugten Bedeutung« bergen die gesamte soziale Ordnung in Form von Bedeutungen, Praktiken und Überzeugungen in sich«, so Hall.76 Sowohl die Codierung als auch die Decodierung ist demnach durch diese »Muster«, durch die »Struktur des dominanten Diskurses« immer schon vorbestimmt.77 Diese Struktur manifestiert sich etwa in gesetzlichen 73 74
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Barthes: Barthes 1967 – The Death of the Author. Eine alternative Lösung von Schrøders epistemologischem Problem findet sich bei Justin Wren-Lewis, der sich von der Frage nach einer »bevorzugte Bedeutung« verabschiedet und es stattdessen zur Aufgabe der Forschenden erklärt, »eine Serie von »Vorzugslesarten zu konstruieren«, wobei er mit »Vorzugslesarten« lediglich die von den Rezipient*innen am häufigsten gewählten Interpretationen eines Textes zu meinen scheint. Diese Lösung bedeutet aber nichts anderes, als die Seite der Codierung aus Halls Modell zu streichen und es somit völliger quantitativer Beliebigkeit preiszugeben. Wren-Lewis, Justin: The Encoding/Decoding Model. Criticisms and Redevelopments for Research on Decoding, in: Media, Culture and Society (02/1983), S. 179–197, hier: S. 195. In unterschiedlichen Gewichtungen wird uns diese Form der Ausstellungsaneignung in Kapitel 7 immer wieder begegnen. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 75. Allerdings ist die Vorzugslesart für Hall »dominant, nicht »determiniert«, weil es immer möglich ist, ein Ereignis mittels mehr als einer »Markierung« zu ordnen, zu klassifizieren, zuzuschreiben und zu dekodieren«, ebd., S. 74–75. Frei nach Marx ließe sich somit sagen: Die
5. Codieren und decodieren von Bedeutung im Museum
Rahmenbedingungen erinnerungskultureller Praktiken (Stichwort: Gedenkstättenkonzeption) oder in dem, was öffentlich wie sagbar ist (über die Platte nur Böses?). Mein zweiter Punkt knüpft an die Frage der Missverständnisse an und betrifft Halls Kritik an der Kommunikationswissenschaft seiner Zeit, bei der sich in zweifacher Hinsicht eine Parallele zur musealen Besucher*innenforschung auftut. Die erste Parallele betrifft den Fokus der Besucher*innenforschung, der – wie bereits dargelegt – zu einem beträchtlichen Teil ebenfalls auf das rein »administrative Ziel« gerichtet ist, den Lernerfolg in Museen und Ausstellungen zu steigern. Und die zweite Parallele tut sich zwischen den ambivalenten Bildern von Museumsbesucher*innen und Fernsehzuschauer*innen auf, die in den jeweiligen Forschungsgebieten vorherrschen: Beide Gruppen erscheinen in der jüngeren Forschungsliteratur vordergründig als aktive und kreative Konstrukteurinnen von Bedeutung im Rezeptionsprozess, doch diese Aktivität und Kreativität ist ein schmaler Grat: Jedes Abweichen in Richtung vermeintlicher Passivität oder Hyperaktivität droht die idealtypischen Besucher*innen bzw. Zuschauer*innen in bemitleidenswerte Mängelwesen zu verwandeln – wenn nicht gar in »Schafe« und »Hooligans«,78 in »Zombies« und »glupschäugige Tölpel«.79 Mit Hall lässt sich zeigen, wie diese Bilder und der administrative Fokus der Rezeptionsforschung den Blick für die eigensinnigen Aneignungsweisen der Besucher*innen verstellen: Der Umstand, dass Menschen in Ausstellungen nicht im Sinne der Kurator*innen lernen, erscheint nun nicht mehr als das Resultat eines kommunikativen Scheiterns, dem mit rein technischen Mitteln – etwa mehr multimedialen und interaktiven Exponate, leichteren und kürzeren Texten usw. – begegnet werden könnte. Vielmehr erscheint im hallschen Modell die technische Antwort auf das kommunikative Scheitern selbst als Verschleierung diskursiver Hegemonien, da sie das Feld der Kommunikation zu entpolitisieren sucht.80 Hall führt in diesem Kontext den Begriff des professionellen Codes ein. Dieser operiere zwar relativ autonom, trage aber gerade dadurch, dass er »solch scheinbar neutral-technische Belange wie visuelle Qualität, Nachrichten- und Präsentationswert, Bildschirmtauglichkeit etc. in den Vordergrund« rücke, zur Reproduktion und Naturalisierung
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Menschen betreiben ihre eigenen Decodierungen, aber sie betreiben sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (MEW 8), Berlin (DDR) 1960, S. 115. Auf diese Zuschreibungen macht Macdonald aufmerksam. Macdonald: Behind the Scenes, S. 160–161. Morley, David: Changing Paradigms in Audience Studies, in: Seiter, Ellen (Hg.): Remote Control. Television, Audiences, and Cultural Power, London, New York 1989, S. 16–43, hier: S. 16. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 78.
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des dominanten Diskurses bei.81 Im musealen Kontext lässt sich das Wirken des professionellen Codes etwa an der wechselseitigen Beglaubigung von Texten, Bildern und Objekten, aber auch an zahlreichen gestalterischen Mitteln beobachten. Inwiefern beispielsweise ein chronologischer Ausstellungsaufbau den Eindruck von Geschichte als teleologischer Meistererzählung bestärken oder Lichtgebung die Konnotation bestimmter Objektarrangements beeinflussen kann, demonstriert Jana Scholze in ihrer Analyse des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Scholze zeigt zudem, wie die »Polysemie der gezeigten Objekte« innerhalb einer solchen Meistererzählung »auf eine oder wenige ausgewählte Bedeutungen reduziert« wird, um die museale Narration zu authentisieren.82 Fasst man nun die Ausstellungsrezeption als einen Akt der Decodierung auf, so wird der latent konflikthafte Charakter dieser Rezeption deutlich: Die festgelegten Bedeutungszuschreibungen der Ausstellungsmacher*innen treffen auf die multiplen Deutungsabsichten der Besucher*innen. In diesem Aufeinandertreffen kann die Polysemie der Ausstellungsinhalte, d.h. die ideologische Umkämpftheit ihrer Zeichenfunktion, offengelegt werden.83 Diese Repolitisierung der (musealen) Kommunikation, die aus dem hallschen Modell folgt, ermöglicht somit eine Perspektivverschiebung, die von der normativ überformten Vorstellung des Museums als Lernort weg- und zu einer Analyse der interaktiven und konflikthaften Produktion von Sinn und Bedeutung in Ausstellungen durch ihre Besucher*innen hinführt. Dennoch lassen sich (drittens) Überschneidungen von Halls Modell mit elaborierteren geschichtsdidaktischen Konzeptionen historischen Lernens feststellen. So definieren etwa Lücke und Zündorf historisches Lernen als »die produktive eigensinnige Aneignung vergangener Wirklichkeiten als selbst erzählte Geschichte oder selbst imaginierte Geschichte.«84 Wenn Hall über die oppositionelle Lesart schreibt, dass diese dem »dominanten Diskurs« entstammende Botschaften »enttotalisiert […], um sie daraufhin innerhalb eines alternativen Bezugsrahmens zu re-totalisieren«,85 dann lässt sich in dieser Definition sowohl das »produktive eigen-sinnige«,
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Ebd., S. 78. Scholze: Medium Ausstellung, S. 108. Für John Fiske ist dieser »textuelle Kampf um Bedeutung« in Halls Modell »das exakte Gegenstück zum sozialen Kampf um Macht«. Fiske, John: Fernsehen. Polysemie und Popularität, in: Winter, Rainer & Mikos, Lothar (Hg.): Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader, Bielefeld 2001, S. 85–110. Allerdings sei nochmals angemerkt, dass es mir nicht darum geht, Besucher*innen als irgendwie widerständige Akteur*innen zu idealisieren. Kapitel 7.5 zeigt vielmehr, wie sich ein beträchtlicher Teil der Ausstellungsrezeption im Sinne eigensinniger Aneignungen einer Einordnung in das Kontinuum von dominant-hegemonialer zu oppositioneller Ausstellungslesart entzieht. Lücke; Zündorf: Einführung in die Public History, S. 38. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 80.
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als auch das narrative Moment der Geschichtsaneignung wiederfinden. Eine augenfällige begriffliche Nähe des Codierens und Decodierens besteht auch zu den »Basisoperationen des De- und Re-Konstruierens« aus dem Kompetenz-Strukturmodell des Forschungsprojekts FUER Geschichtsbewusstsein.86 Mit dem Begriff der »DeKonstruktion« bezeichnen Schreiber et al. einen »analytische[n] Akt«, mit dem die »Tiefenstruktur« einer historischen Narration erschlossen wird: Vorliegende historische Narrationen werden in ihren Bestandteilen […] erfasst und auf die tiefer liegenden Strukturen hin untersucht. […] Mit Hilfe methodisierter Vorgehensweisen werden die Konstruktionsmuster sichtbar, die zugrunde liegenden Intentionen, auch die verfolgten Orientierungsabsichten.87 Die »Re-Konstruktion« beschreibt hingegen einen »Akt der Synthese«, bei dem Vergangenes erschlossen und »in einer narrativen Form, in einer Geschichte« dargestellt wird, wobei »nicht nur vergangene Entwicklungen erklärt, sondern auch Bezüge zu Gegenwart und Zukunft hergestellt« werden.88 Die »De-Konstruktion« und »Re-Konstruktion« historischer Narrative bezeichnet demnach nichts anderes, als deren Enttotalisierung und Retotalisierung, wobei Halls Terminologie allerdings das Bewusstsein für diskursiv formierte Herrschaftsverhältnisse schärfen kann. Dabei ist anzumerken, dass Narrative selbstverständlich nicht nur in der oppositionellen, sondern auch in der dominant-hegemonialen und ausgehandelten Lesart ent- und retotalisiert, de- und re-konstruiert werden. Folglich trägt jede Form der Decodierung in sich bereits ein Moment der Recodierung – die entschlüsselte Geschichte wird in neue Sinnzusammenhänge eingebettet und in eine neue narrative Form gebracht. Abschließend möchte ich (viertens) auf eine mögliche Kopplung von Halls dominant-hegemonialer, ausgehandelter und oppositioneller Lesart einerseits mit Martin Sabrows Trias aus Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis andererseits im Kontext von DDR-Museen hinweisen. Denn auf den ersten Blick scheint hier eine Entsprechung der dominant-hegemonialen Lesart mit dem Diktaturgedächtnis, der ausgehandelten Lesart mit dem Arrangement- und der oppositionellen Lesart mit dem Fortschrittsgedächtnis naheliegend zu sein – insbesondere aufgrund der erläuterten strukturalistischen Veranlagung des Lesarten-Modells. Die Frage dieser potenziellen Verbindung ist jedoch empirisch zu prüfen und wird daher im Rahmen einer Interviewanalyse in Kapitel 7.7 wieder aufgegriffen. Anhand des Untersuchungsmaterials plädiere ich dort für eine Erweiterung beider Modelle bei ihrer Anwendung auf Prozesse der Ausstellungsaneignung in DDR-Museen.
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Schreiber, et al.: Historisches Denken, S. 22. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24.
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Zudem wird sich zeigen, dass die scheinbar offensichtliche Korrelation zwischen Lesarten- und Gedächtnistypen weniger eindeutig ist, als zunächst angenommen werden mag.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung »Interviewer: Mich interessiert so eigentlich alles, was Sie in der Ausstellung gesehen haben […], aber vielleicht zum Einstieg einfach so ein paar Worte über sich – wer Sie sind, was Sie machen. Herr Roth: Wer sind Sie denn?«1
Als jemand, dessen Studium Geschichte und Philosophie umfasste – beides Disziplinen, die nicht gerade für ihren Methodenreichtum bekannt sind –, muss ich gestehen, dass die auf Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialwissenschaften beruhende Besucher*innenforschung auf mich zuerst einen eher abschreckenden Eindruck machten. Denn wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, schien mir ein bedeutender Teil dieses Forschungszweiges von dem unbedingten Drang getrieben zu sein, es den Naturwissenschaften in Sachen Vergleichbarkeit und »Objektivität« der erzielten Ergebnisse gleichzutun.2 Und es ist wohl nur Weniges langweiliger als die Lektüre genuin qualitativer Forschungsergebnisse, die um jeden Preis in eine quantitative Form gepresst werden: Anstatt auf eine Erschließung sinngenerierender Praktiken in der Ausstellungsrezeption zu treffen, wühlte ich mich bisweilen durch einen Wust an ausufernden Tabellen, fragwürdig konstruierten statistischen Signifikanzen und pseudo-mathematischen Formeln, deren Aussagekraft mir häufig recht zweifelhaft erschien. Es ist dieser Museumsdiskurs, der – viel stärker als historische Museen selbst – an Peter Sloterdijks »Schule des Befremdens« erinnert: Die erhobenen Daten gleichen einem »undurchdringliche[n] und marktschreierische[n] Gewimmel der Tatsachen, die von einem lächerlichen Anspruch auf Vorhandensein durchdrungen scheinen«; Schaubilder und Tor-
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Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Man denke nur an Serrells 51 %-Regel und die Richtgeschwindigkeit von 300 Quadratfuß pro Minute mit denen sich Besucher*innen durch eine gelungene Ausstellung bewegen sollen. Vgl. Serrell: The 51 % Solution.
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tendiagramme werden zu »Gestikulationen, die mit ihrem Dasein prahlen«, p-Werte »gestikulieren ekelerregend ins Leere.«3 Aus diesen methodologischen »Ekstasen der Langeweile, des Sinnlosigkeitsgefühls und des Überdrusses«, aus »der schockhaften Erfahrung des Eingetauchtseins in die Belanglosigkeit«4 zog mich schließlich ein kurzer Text Harald Welzers mit dem Titel »Hermeneutische Dialoganalyse« heraus.5 Welzer umreißt darin einen »systematischen Widerspruch in der Sozialforschungspraxis«, der sich aus ihrer Orientierung am »klassischen[n] Erkenntnismodell der Naturwissenschaften« ergebe.6 Aufzuzeigen, worin genau dieser Widerspruch besteht, wie die Hermeneutische Dialoganalyse ihn aufzuheben sucht und welche Konsequenzen ich daraus für meine Untersuchung gezogen habe, ist das Ziel dieses Kapitels. Dafür rekapituliere ich zunächst einige verbreitete Grundannahmen zur Durchführung und Analyse qualitativer Interviews und arbeite deren erkenntnistheoretische Implikationen heraus, an denen die von Welzer (bzw. Welzer und Jensen) formulierte Kritik ansetzt. Die Möglichkeiten, welche die Hermeneutische Dialoganalyse für die Forschungspraxis eröffnen, veranschauliche ich anschließend anhand einer exemplarischen Analyse eines Interviews mit zwei Besucher*innen des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt.
6.1 »Selbstreflexivität als Methode« Es ist längst ein Gemeinplatz in der qualitativen Sozialforschung, dass es sich bei Interviews immer um situativ und intersubjektiv produzierte Texte handelt. Sie sind situativ, da das spezifische Setting des Interviews den Text bereits vorstrukturiert – sowohl die interviewende als auch die interviewte Person begeben sich in bekannte Rollenmuster, sie erwarten der Situation angemessene Verhaltensweisen bzw. versuchen, diesen zu entsprechen. Sie sind intersubjektiv, da sie das Resultat eines Zusammenspiels zweier oder mehrerer Personen sind – ein Interview ist kein Selbstgespräch. Diese reichlich banale Feststellung ist bislang jedoch nur begrenzt für
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Sloterdijk, Peter: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Hamburg 2007, S. 355. Ebd., S. 354. Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse. Die Entdeckung dieses Textes verdanke ich der methodologisch aufschlussreichen Studie Zeitgeschichte sehen von Sabine Moller. Vgl. Moller, Sabine: Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer, Berlin 2018. Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse, S. 111, 113. Genau genommen ist dieser Widerspruch einer zwischen unterschiedlichen Bestandteilen des Theoriegebäudes der interpretativen Sozialforschung, dessen Auswirkungen sich in der Forschungspraxis manifestieren. Doch dazu im Folgenden mehr.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
die praktische Auswertung qualitativer Interviews operationalisiert worden. Vielmehr bestand der methodologische Schluss, der aus ihr gezogen wurde, lange Zeit in dem Bestreben, den vermeintlich störenden Einfluss der interviewenden Person auf das Gespräch zu minimieren. Bereits Fritz Schützes grundlegende Arbeiten zur Konzeption des narrativen Interviews können als Versuch gelesen werden, der Beeinträchtigung des Forschungsfeldes durch eine »weitgehende[r] Zurücknahme des Forschereinflusses« entgegenzuwirken.7 Die Rolle der interviewenden Person beschränkt sich auf die einer Impulsgeberin, die mit einer offen formulierten Fragestellung eine Erzählung ihres Gegenübers in Gang setzt, die nicht unterbrochen wird. Die Eigendynamik der angestoßenen »Stehgreif-Erzählung« bringt die erzählende Person immer wieder in »Zugzwänge des Erzählens« – etwa, weil geschilderte Ereignisse nach Hintergrundinformationen verlangen, Entscheidungen begründet oder neue Personen eingeführt werden müssen –, welche die Erzählung vorantreiben und Informationen zu Tage fördern, die möglicherweise nicht direkt hätten erfragt werden können.8 Das Ziel der Methode bestehe darin, so die Soziologin Ivonne Küsters in ihrem Methodenhandbuch zum narrativen Interview, »die Redeweise des Befragten möglichst unverfälscht zu erfassen.«9 Durch die Generierung einer »autonom gestalteten Erzählung«, einer »Geschichte ohne Unterbrechungen«, trage das narrative Interview zur Vermeidung von »Verzerrungsproblemen« bei, wie sie für andere Befragungstechniken u.a. »durch das Interaktionsgeschehen im Interview«, charakteristisch seien.10 Die Vorstellung, die dieser Theorie des narrativen Interviews zugrunde liegt, ist die von einer unverfälschten vergangenen sozialen Wirklichkeit, die mit den richtigen Interviewtechniken aufgedeckt werden kann – sofern die Erzählung der interviewten Person nicht durch Eingriffe der interviewenden beeinträchtigt wird. Dieser Vorstellung gemäß ist das narrative Interview bestrebt, jedwede Beeinträchtigung der Erzählung durch die weitestgehende Zurücknahme der interviewenden Person zu vermeiden. Ähnliches gilt auch für die Formalisierung der Gesprächssituation beim klassischen Leitfaden-Interview, wie ich im Folgenden noch zeigen werde. Diese Vorstellung von der Möglichkeit eines unverfälschten Zugangs zu vergangenen sozialen Wirklichkeiten ist jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch. Auf einer epistemologischen Ebene ist zunächst einmal festzuhalten, dass ein Interview immer dialogisch strukturiert ist (ein weiterer Gemeinplatz). Interviewtexte
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Schütze, Fritz: Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien. Dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, Bielefeld 1977, S. 51. Küsters, Ivonne: Narratives Interview, in: Baur, Nina & Blasius, Jörg (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 575–580, hier: S. 577. Küsters, Ivonne: Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 21. Ebd., S. 21.
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sind keine im luftleeren Raum gehaltenen Monologe, sondern immer das Resultat einer Interaktion zweier oder mehrerer Personen, die durch die Spezifik der Interviewsituation gerahmt wird. Zu dieser Rahmung gehört beispielsweise ein geteiltes »implizites und explizites Wissen darüber, auf welche Art und Weise mit einem Thema umgegangen werden kann: was tabuisiert ist, was offen gefragt werden kann, welches Wissen geteilt wird und mit welchen Begriffen es sich bezeichnen lässt.«11 Darüber hinaus bestimmen »wechselseitig antizipierte Gesprächserwartungen« die Interaktion,12 denen gemäß alle Beteiligten sowohl sich selbst, als auch ihren Gesprächspartner*innen bestimmte Rollen zuschreiben – und ihr Handeln in der Regel auch an dieser doppelten Rollenzuschreibung ausrichten. Harald Welzer weist in diesem Zusammenhang – Paul Watzlawick zitierend – darauf hin, dass man »nicht nicht-kommunizieren kann«,13 die interviewende Person also immer Einfluss auf die Erzählung ihres Gegenübers nimmt – und sei es nur durch Mimik, Gestik oder eine bestimmte Körperhaltung. Jeder Versuch, die interviewende Person aus dem Interview auszuklammern, ist daher praktisch unmöglich und notwendig zum Scheitern verurteilt. Aus dieser sozial-situativen Verfasstheit des Interviews folgt zudem auf einer ontologischen Ebene, dass es keine von der Erzählung unabhängige Wirklichkeit gibt, die durch diese aufgedeckt werden könnte. Die Interaktion zwischen interviewter und interviewender Person verfälscht keine gegebene soziale Wirklichkeit, sondern stellt diese überhaupt erst her.14 Welzer und Jensen gehen daher »im Sinne der Theorie des Symbolischen Interaktionismus […] davon aus, dass Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler in der qualitativen Forschung grundsätzlich Akteure in einem sozialen Raum sind, der durch ihre Anwesenheit konstituiert wird«.15 Folgt man diesem Postulat, »dann gibt es kein
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Jensen, Olaf: Zur gemeinsamen Verfertigung von Text in der Forschungssituation, in: Forum Qualitative Sozialforschung (02/2000), URL: https://www.qualitative-research.net/index.ph p/fqs/article/view/1080 (letzter Zugriff: 17.09.2019). Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere. Welzer, Harald: Von Fehlern und Daten. Zur Rolle des Forschers im interpretativen Paradigma, in: Psychologie und Gesellschaftskritik (2/3/1990), S. 153–174, hier: S. 159. An dieser Stelle ist besondere Präzision erforderlich, um den Fehlschluss zu vermeiden, dass die Hermeneutische Dialoganalyse Wirklichkeit als sozial-sprachliches Konstrukt begreife. Es geht hier um eine feine aber folgenschwere Unterscheidung, die Ernesto Laclau und Chantal Mouffe im Zuge der Erläuterung ihrer Diskurstheorie wie folgt auf den Punkt gebracht haben: »The fact that every object is constituted as an object of discourse has nothing to do with whether there is a world external to thought, or with the realism/idealism opposition. […] What is denied is not that such objects exist externally to thought, but the rather different assertion that they could constitute themselves as objects outside any discoursive condition of emergence.« Laclau, Ernesto & Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London/New York 2001, S. 108. Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
Datum »hinter« der sozialen Situation, sondern nur soziale Daten […]; es gibt in diesem Sinne logisch auch kein Datum »an sich«.16 Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die Sorge um »verfälschende« oder »verzerrende« Einflüsse im Interview ist insofern unberechtigt, als dass die Wirklichkeit, die »verfälscht« oder »verzerrt« werden könnte, überhaupt erst im Interview sozial und narrativ hergestellt wird – und folglich immer schon »verfälscht« und »verzerrt« ist. Hierzu ein Beispiel: Es ist inzwischen gut dokumentiert, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Kommunikation von Besucher*innen über Ausstellungsinhalte und ihrer Erinnerung an diese Ausstellungsinhalte gibt. Wer keine Gelegenheit hat, mit anderen über den eigenen Museumsbesuch zu sprechen, erinnert sich später kaum an Details aus der besuchten Ausstellung.17 Die Erinnerung wird also durch das Erzählen maßgeblich geformt, aktualisiert und somit wachgehalten. Wenn ich also Menschen am Ende ihres Ausstellungsbesuchs zu diesem befrage, dann schaffe ich damit einen Erinnerungsanlass, den es in dieser Form sonst nicht gegeben hätte. Es ist also mein Handeln, welches eine spezifische Ausgestaltung der Erinnerung an die Ausstellung in Form einer Erzählung überhaupt erst initiiert. Ohne diese Handlung hätten einige der befragten Personen zuerst mit Freund*innen oder Verwandten über ihren Museumsbesuch gesprochen, andere möglicherweise mit dem Museumspersonal oder anderen Besucher*innen; manche Gespräche hätten noch im Museum stattgefunden, andere vielleicht erst Wochen oder Monate später, wieder andere gar nicht. In jedem Fall wäre die Erinnerung/Erzählung eine andere gewesen. Dennoch wäre es unsinnig, aufgrund dieser Überlegungen von einer »Verzerrung« der Wirklichkeit durch den Interviewer zu sprechen. Dies würde einen im Vorhinein determinierten (gewissermaßen »natürlichen«) Lauf der Dinge implizieren, in den der Interviewer von außen eindringt und ihn aus der Bahn wirft. Anders ausgedrückt hätten wir es dann mit einer sozialen Wirklichkeit zu tun, die aber jenseits ihrer sozialen Konstruktion durch menschliche Akteur*innen existiert – was auf einen begrifflichen Widerspruch hinausläuft. Nun ließe sich mit einigem Recht einwenden, dass all dies doch längst hinlänglich bekannt und reflektiert worden ist. »Das Interview ist […] eine Interaktionsund Kommunikationssituation, in der unter den konkreten Bedingungen des Settings, der Interaktionsdynamik und des persönlichen Verständigungsprozesses zwischen den am Interview Beteiligten eine spezifische, kontextgebundene Version einer symbolischen Welt erzeugt wird«, schreibt etwa die Soziologin Cornelia Helfferich in ihrem Beitrag für das Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung und weist darauf hin, dass der so generierte »Text immer als »Text-im-spezifischenEntstehungskontext« und als Abbild der Interviewten-Interviewenden-Interaktion auszuwerten« sei: »Während die standardisierte Forschung die Datenerhebung 16 17
Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse, S. 125. Vgl. bspw. Treinen: Zur Wirkung historischer Ausstellungen.
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entkontextualisieren möchte […], ist in der qualitativen Forschung die Kontextgebundenheit der erzeugten Texte nicht hintergehbar«, so Helfferich.18 Angesichts dessen ist es umso erstaunlicher, dass die Autorin es zur »zentrale[n] Frage bei der Erzeugung von Texten im Interview« erklärt, »wie und mit welcher Begründung das Sprechen […] der interviewten Person beeinflusst und gesteuert wird, indem in den Interviewablauf interveniert und er geformt und vorstrukturiert wird.«19 Gerade das Wort »interveniert« ist hier aufschlussreich, stellt es doch – wie schon Küsters Rede von den »Verzerrungsproblemen« – die interviewende Person implizit außerhalb des Interview-Settings. Es unterstellt erneut einen natürlichen Erzählfluss der interviewten Person, an dem die interviewende Person nicht immanent beteiligt ist, sondern in den sie von außen eingreift. Diese Exkludierung der Forschenden aus der Interviewsituation wiederholt sich nicht selten im Analyseverfahren – besonders eklatant etwa in der Qualitativen Inhaltsanalyse,20 deren ansonsten »streng regelgeleitete« Vorgehensweise21 »der Selbstreflexion der Forscherinnen keinen eigenen methodischen Stellenwert und Arbeitsschritt ein[räumt], obwohl diese zentraler Bestandteil in der Arbeit mit qualitativen Forschungsmethoden ist«, wie die Soziologin Christine Preiser kritisiert.22 Dadurch ist sie aber notwendigerweise unfähig, Interaktionsdynamiken im Interview, deren Ursachen und Auswirkungen in der Analyse zu berücksichtigen.23 Zusammengefasst führt der doppelte Ausschluss der Forschenden (aus der Interviewsituation und aus der Analyse) also in eine erkenntnistheoretische Sackgasse. Das qualitative Interview aus dieser wieder hinauszuführen, ist Anspruch der von Harald Welzer und Olaf Jensen entwickelten Hermeneutischen Dialoganalyse. Ihre Grundoperation besteht darin, aus der Not des qualitativen Interviews – dem 18
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Helfferich, Cornelia: Leitfaden- und Experteninterviews, in: Baur, Nina & Blasius, Jörg (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 559–574, hier: 562, 561, 573. Ebd., S. 559. …deren Begründer Philipp Mayring nicht müde wird zu betonen, dass sie sich »als häufigstes textanalytisches Verfahren« etabliert habe. Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse, in: Mey, Günter & Mruck, Katja (Hg.): Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden 2010, S. 601–613, hier: S. 602. Ebd., S. 610. Preiser, Christine: Qualitative Inhaltsanalyse, in: QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung (2017), URL: https://quasus.ph-freibur g.de/qualitative-inhaltsanalyse/(letzter Zugriff: 05.03.2021). Hier steht sich die Qualitative Inhaltsanalyse durch ihr »streng regelgeleitet[es]« Verfahren und eine starre"Kategoriengeleitetheit« selbst im Wege. Dass sie bei der Analyse etwa »nur die Textstellen berücksichtigt, die sich auf die Kategorien beziehen«, behindert die Aufdeckung latenter Sinnstrukturen im Textmaterial ganz erheblich. Zitate aus Mayring, Philipp & Fenzl, Thomas: Qualitative Inhaltsanalyse, in: Baur, Nina & Blasius, Jörg (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 543–556.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
vermeintlich störenden Einfluss der interviewenden Person, ihren Ängsten, die Erzählung durch Ungeschicklichkeiten zu beeinflussen, den unberechenbaren Auswirkungen des Interview-Settings, der Kontingenz der Situation insgesamt – eine Tugend zu machen, indem all diese »Störfaktoren« einfach zu konstitutiven Bestandteilen des Interviews erklärt werden. Diese Umkehrung vom Kopf auf die Füße wird durch eine zweifache Neudefinition möglich, die zum einen die Rolle der interviewenden Person und zum anderen den Fokus der Analyse betrifft.
6.2 Die »Wiedereinführung des Beobachters« Der grundlegende Ausgangspunkt für die Hermeneutische Dialoganalyse besteht – wie bereits mehrfach betont – in der Annahme der sozialen Konstruiertheit der Interviewsituation. Daher wird die interviewende Person zu einem integralen Bestandteil dieser Situation erklärt, anstatt sie aus der Interviewsituation so weit wie möglich zu exkludieren. Das klingt zunächst einmal banal. Schließlich wird man diese theoretische Grundannahme in jeder neueren Abhandlung über die Durchführung und Auswertung qualitativer Interviews finden (wie die obigen Zitate von Küsters und Helfferich veranschaulichen). Die entscheidende Frage lautet dann aber: Wenn diese Grundannahme theoretisch betrachtet tatsächlich so banal ist, warum hat sie sich in der Praxis dann noch so wenig durchgesetzt (wie die Zitate von Küsters und Helfferich ebenfalls veranschaulichen)? Einen Erklärungsansatz hierfür liefert das Werk »Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften« des französischen Ethnologen und Psychoanalytikers Georges Devereux, welches einen zentralen Referenzpunkt für die Hermeneutische Dialoganalyse darstellt. Devereux argumentiert, dass jede qualitative Sozialforschung von einem Phänomen gekennzeichnet sei, welches ursprünglich aus der psychoanalytischen Theorie stamme – der Gegenübertragung. Schon Siegmund Freud hatte festgestellt, dass es bei der Psychoanalyse nicht nur zur unbewussten Übertragung diverser Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen usw. des*der Patient*in auf den*die Therapeut*in kommt, sondern in der Folge auch zu einer vergleichbaren Gegenübertragung von Therapeut*in auf Patient*in. Die Nutzbarmachung des Konzepts der Gegenübertragung für die qualitative Sozialforschung ist eigentlich naheliegend: Analog zur Psychoanalyse gibt es auch hier eine beständige Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten. Als Produkt dieser Interaktion sagen die sozialwissenschaftlichen Daten folglich nicht nur etwas über die Beforschten aus, sondern immer auch über die Forschenden selbst, woraus sich eigentlich eine Notwendigkeit der Selbstbeforschung ableiten müsste. Devereux argumentiert nun, dass die qualitative Sozialforschung de facto noch im freudschen Verständnis von Gegenübertragung als Störung verharren würde. Das Resultat sei eine nicht eingestandene Angst vor den eigenen Daten bzw. vor der
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DDR im Museum
notwendigen Selbstbeforschung, der mit einer Vielzahl an Methoden zur Beseitigung des »störenden« und »verzerrenden« Einflusses der Forschenden auf ihr Untersuchungsfeld begegnet werde (bspw. Formalisierung des Interview-Settings, Standardisierung von Gesprächsleitfäden, größtmögliche Zurückhaltung der Interviewenden). Devereux bezeichnet diese Methoden als »Filter«, die nur scheinbar zur Verwissenschaftlichung der Sozialforschung beitrügen, tatsächlich aber einen ausgefeilten Mechanismus darstellten, um die Angst der Forschenden zu kompensieren.24 Die »Filter« ermöglichen eine säuberliche Trennung in »drinnen« und »draußen«, wobei ihre Besonderheit darin besteht, dass sie nicht nur »störende« Umwelteinflüsse vom Forschungssetting fernhalten, sondern auch die Forschenden selbst. Damit schotten sie letztere aber von den eigentlichen Quellen ihrer Erkenntnis ab.25 »Wissenschaftshistorisch betrachtet holt Devereux damit nach, was in den Naturwissenschaften seit Einsteins Relativitätstheorie und Heisenbergs Überlegungen zur Unschärferelation Gegenstand facettenreicher Diskussion war«, so die Psychologin Petra Muckel. Dabei gehe es um »die Begründung einer Skepsis gegenüber einem Welt- und Wissenschaftsbild, in dem die Forscherin von der Existenz eines archimedischen Punktes ausgeht und Forschung als Perfektionierung der Vogelperspektive betreibt.«26 So gesehen verkörpern die von Devereux als »Filter« bezeichneten Methoden qualitativer Sozialforschung also den Versuch, die Notwendigkeit der – zweifellos unangenehmen – Selbstbeforschung zu umgehen und den Schein des objektiven Beobachtendenstatus der Forschenden zu wahren. Aus Instrumenten der Verwissenschaftlichung werden sie zu Instrumenten der Verdrängung. Da sie somit jedoch den Blick für die Ursache der »Verzerrungen« in den sozialwissenschaftlichen Daten 24 25 26
Devereux, George: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt a.M. 1984, S. 17–22, 124. Ebd., S. 17–22. Muckel, Petra: Selbstreflexivität und Subjektivität im Forschungsprozeß, in: Breuer, Franz (Hg.): Qualitative Psychologie. Grundlagen, Methoden und Anwendungen eines Forschungsstils, Wiesbaden 1996, S. 61–78, hier: S. 64. Bei der Übertragung naturwissenschaftlicher Konzepte auf die Sozial- und Geisteswissenschaften ist allerdings besondere Vorsicht geboten. Nicht jede Umwälzung in dem einen Feld ist auch für die anderen unmittelbar von Bedeutung und häufig gehen die Übertragungen kaum über mehr oder weniger zufällige Analogien hinaus, die in erster Linie die universelle Belesenheit ihrer Verfasser*innen bezeugen sollen. Auch Welzer verfällt bisweilen in diesen Argumentationsmodus, wenn er (wesentlich eindeutiger als Muckel) die Hermeneutische Dialoganalyse auf Heisenbergs Unschärferelation gründet. Die Nützlichkeit ersterer ist aber von der Richtigkeit letzterer natürlich völlig unabhängig. Vgl. Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse, S. 113–115. Zur Kritik der rhetorischen Verwendung naturwissenschaftlicher Konzepte in den Sozial- und Geisteswissenschaften vgl. Sokal, Alan D. & Bricmont, Jean: Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals’ Abuse of Science, New York 1998.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
– nämlich die konstitutive Involviertheit der Forschenden – verstellen, »schlägt der Versuch der Kontrolle in Unkontrolliertheit zurück«:27 Je stärker versucht wird, das Forschungssubjekt aus dem Forschungsdesign zu exkludieren, desto stärker stört es und die vermeintliche Methodologie wird selbst »zu einer Quelle unkontrollierter und unkontrollierbarer Irrtümer«.28 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang etwa der Ratschlag des Begründers der sogenannten Objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermann (et al.), der bezüglich der qualitativen Sozialforschung empfiehlt, »daß besonders neurotisch veranlagte Menschen sich dieses Arbeitsgebiet nicht auswählen« sollten.29 Ist die forschende Person somit erfolgreich aus ihren Forschungsfeld verbannt, verschiebt sich die Suche »nach der Quelle der Störung vom Forscher weg auf das Unzureichende seiner Instrumente.«30 Das Resultat ist eine zwanghafte Orientierung an den Gütekriterien der quantitativen Sozialforschung – eine ausufernde »Leitfadenbürokratie«, Ersatzkonzepte für Repräsentativität, die »Forderung nach Neutralität in der Interviewsituation […], das Ideal einer generellen Nichtbeeinflussung des Gesprächspartners« usw.31 Die Hermeneutische Dialoganalyse begegnet dieser Problematik mit der »Wiedereinführung des Beobachters […] in die experimentelle Situation, und zwar nicht als Quelle einer bedauerlichen Störung, sondern als wichtige, ja sogar unverzichtbare Quelle relevanter […] Daten.«32 Dies hat zunächst einmal ganz praktische Konsequenzen: Dadurch, dass die interviewende Person nicht mehr als potenzieller Störfaktor aufgefasst wird, wird das gesamte Interview-Setting merklich entkrampft. Wird das Interview als genuin gemeinsam verfertigter Text aufgefasst, so kann der*die Interviewende Nachfragen stellen, Aussagen tätigen, auf Erzähltes reagieren usw., ohne befürchten zu müssen, durch diese Aktionen die Erzählung des Gegenübers zu »verfälschen«. Aus der Erkenntnis, dass es kein »Datum an sich« gibt, sondern nur sozial-situativ produzierte Daten, folgt zudem eine Entformalisierung des Interview-Settings. So »wird ein von ex-ante Definitionen und
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Welzer: Von Fehlern und Daten, S. 164. Devereux: Angst und Methode, S. 18. Oevermann, Ulrich, et al.: Die Methodologie einer »objektiven Hermeneutik« und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352–434, hier: S. 393. Welzer: Von Fehlern und Daten, S. 165. Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere. Symptomatisch ist hierfür etwa die Art und Weise, in der Mayring und Thomas Fenzl die Vorzüge der Qualitativen Inhaltsanalyse für das Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung erläutern. Auf 12 Seiten wird dreimal betont, wie »streng regelgeleitet« die Qualitative Inhaltsanalyse sei. Das Wort »Regel« fällt dabei in unterschiedlichen Abwandlungen weitere 20 mal (Ausdrücke wie »in der Regel« nicht mitgezählt). Mayring; Fenzl: Mayring, Fenzl 2014 – Qualitative Inhaltsanalyse. Devereux: Angst und Methode, S. 52.
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Rahmensetzungen völlig entlastetes, gleichwohl aber an Forschungsfragen entlang geleitetes Forschungsgespräch möglich, das im Institut genauso wie in der Kneipe, in der Badeanstalt oder im Büro stattfinden kann«.33 Darüber hinaus ergeben sich jedoch auch weitreichende Konsequenzen für die Auswertung von Interviews, die ich im Folgenden erörtern will.
6.3 Inhaltsanalyse als Dialoganalyse Dass es sich bei Interviews um von mehreren Personen gemeinsam verfertigte Texte handelt, ist also längst ein Gemeinplatz in der qualitativen Sozialforschung – jedoch einer, dessen Konsequenzen für die analytische Praxis bislang recht überschaubar geblieben sind. Nach wie vor ist die Interview-Auswertung – ob im Sinne einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring, der objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns oder anderen Vorgehensweisen – allzu oft ausschließlich auf die Erzählungen der jeweils interviewten Person fokussiert, wodurch nicht nur die Sprechakte der interviewenden Person, sondern auch der dialogische Charakter des Interviews insgesamt aus dem Blick geraten. Dabei ist es häufig gerade dieser, der den größten Erkenntnisgewinn verspricht. Welzer und Jensen demonstrieren dies besonders eindrücklich anhand der um das Jahr 2000 durchgeführten Mehrgenerationenstudie »Tradierung von Geschichtsbewusstsein«, welche »das gemeinsame Sprechen der verschiedenen Generationen über den Nationalsozialismus« zum Gegenstand hatte und danach fragte, wie sich in der intergenerationellen Kommunikation verschiedene Narrative über die eigene (Familien-)Geschichte herausbilden.34 Dabei verdeutlichen sie anhand der im Rahmen der Studie geführten Interviews zum einen, wie auch überzeugte Nationalsozialist*innen in den Erzählungen ihrer Nachkommen zu heroischen Widerstandskämpfer*innen umgedeutet werden. Selbst freimütige Zeitzeug*innenberichte im Familienkreis über die Teilnahme an Erschießungen und anderen Gräueltaten hätten »in den Einzelinterviews mit den Kindern und Enkeln keinerlei Spuren« hinterlassen.35 Zum anderen zeigen Welzer und Jensen auf (und das ist der methodisch vielleicht interessantere Befund), »wie schnell sich in der sozialen Situation des Gesprächs Loyalitätsbeziehungen« zwischen Fragenden und Befragten ausbilden: Nicht nur die Familienangehörigen nationalsozialistischer Täter*innen, sondern auch die an
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Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse, S. 125. Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere. Welzer, Harald: »Bei uns waren sie immer dagegen«. Wie im Familiengespräch aus Zuschauern und Tätern Helden des alltäglichen Widerstandes wurden, in: Frankfurter Rundschau, 06.01.2001.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
der Studie beteiligten Forscher*innen seien in der Regel bestrebt gewesen, ihre Gesprächspartner*innen (und deren Angehörige) von jeglicher Verstrickung mit dem Nationalsozialismus freizusprechen – selbst dann, wenn dies recht offensichtlich im Widerspruch zu den Erzählungen der Interviewten stand.36 Gegen den Einwand, die Interviewenden seien möglicherweise nicht ausreichend geschult und daher unfähig gewesen, im Gespräch neutral und affektlos aufzutreten, betonen Welzer und Jensen zwei Punkte: Zum einen sei es ja gerade die Identifizierung der Fragenden mit den Befragten – die vermeintliche Störung – in der der Gegenstand der Studie offen zutage tritt: Gerade in dem Versuch der Fragenden, die Erzählungen ihrer Gesprächspartner*innen mit den vorherrschenden sozialen Konventionen der Gesprächssituation in Einklang zu bringen, zeigten sich »genau jene Gesprächsrestriktionen, Stereotype und Tabuisierungen, die die gesellschaftliche Kommunikation über den Nationalsozialismus allgemein prägen«, wobei die Themen »Schuld, Verstrickung und Rechtfertigung auf der einen, Vermutungen, Anklagen und Verurteilung auf der anderen Seite […] als wechselseitig antizipierte Gesprächserwartungen immer schon präsent« seien.37 Und zum anderen zeige sich die Komplexität dieser Tradierung überhaupt erst im Gespräch. Jeder Versuch, die interviewende Person aus dem Gespräch zu exkludieren und den analytischen Fokus auf die »unverfälschte« Erzählung der interviewten Person zu legen, hätte somit das Ziel der Studie konterkariert. Und in Bezug auf DDR-Geschichte haben wir es – ohne in irgendeiner Weise einen totalitarismustheoretischen Vergleich bedienen zu wollen – mit durchaus ähnlichen »wechselseitig antizipierte[n] Gesprächserwartungen« zu tun, die durch den hegemonialen DDR-Diskurs häufig ebenfalls durch die Themen »Schuld, Verstrickung und Rechtfertigung auf der einen, Vermutungen, Anklagen und Verurteilungen auf der anderen Seite« bestimmt werden. Beispielsweise war in den von mir geführten Interviews das Gefühl vieler in der DDR aufgewachsener Gesprächspartner*innen, den eigenen Lebensalltag gegen Abwertung und Diffamierung verteidigen, sich aber gleichwohl vom politischen System der DDR distanzieren zu müssen, ein ebenso wiederkehrendes Motiv, wie das eigene Unbehagen, in die Rolle des – hinsichtlich des Lebens in der DDR – weltfremden, westdeutschen Akademikers hineingedrängt zu werden bzw. diese reflexartig auszufüllen.38 Zudem schien mir eine dialogorientierte Auswertung dieser Interviews auch deshalb geboten, weil ich sie häufig mit zwei oder manchmal auch drei Personen geführt habe. Eine Analyse der sich dabei entwickelnden Gesprächsdynamiken – sowohl unter den Interviewten, als auch zwischen ihnen und mir – ist besonders aufschlussreich für die sozialsituativen Rahmenbedingungen von Aneignungsprozessen in Museen. Schließlich 36 37 38
Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere. Ebd. Ich gehe hierauf noch ausführlicher anhand einiger Interviews in Kapitel 7.2 ein.
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ist »Aneignung […] immer ein genuin interaktionaler Vorgang«, wie Sabine Moller hinsichtlich der Rezeption von Historienfilmen betont: Es sind reale und erinnerte, antizipierte wie erfundene Dialoge, die die Aneignung begleiten und leiten. Die Zuschauer sehen einen Film nicht nur aus einer eigenen Perspektive, sondern durch die Brille real anwesender wie potentieller Gesprächspartner. Die Aneignung vollzieht sich in inneren Dialogen ebenso wie in konkreten Gesprächen während und nach der Filmrezeption.39 Bevor ich nun den Prozess meiner Datenerhebung und -auswertung darlege, möchte ich diesen Punkt anhand einiger Gesprächsfragmente veranschaulichen, die einem Interview im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt mit Frau und Herrn Werneke, einem verrenteten Ehepaar aus Ostberlin, entnommen sind.40 Frau Werneke war ehemals Berufsschullehrerin, ihr Mann hatte sein »Berufsleben lang bei der Berufsfeuerwehr« gearbeitet. Sie seien der »DDRKlassiker«, so Frau Werneke zu Beginn des Gesprächs – »beide das zweite Mal verheiratet […]. Und ich bin immer arbeiten gegangen. Also es gab keine Pausen dazwischen. Wie eben die Lebenswege […] so waren.« Nachdem beide nun kurz ihre Eindrücke aus der Sonderausstellung des Dokumentationszentrums zum Thema Bauhaus geschildert hatten, entwickelte sich folgendes Gespräch: Interviewer: Und aus der Dauerausstellung hier, was haben Sie sich da alles angeschaut? Woran können Sie sich so erinnern? Herr Werneke: Naja, wir sind äh… Wir haben vieles mehr oder weniger wiedererkannt von dem, was wir hier tagtäglich benutzt und gebraucht haben. Joa. Frau Werneke: Das ist unsere Lebenswirklichkeit gewesen. Herr Werneke: Joa. Frau Werneke: Und ich hab oben noch gesagt, bei dem Spielzeug ist zum Beispiel ein Spielzeugpanzer mit dabei und so ein Maschinengewehr aus Metall. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht erinnern, in welchem Laden man sowas hätte kaufen können. Ganz ehrlich, wir haben ja… Spielzeug war immer nicht ganz einfach zu beschaffen. Es gab nicht immer alles. Aber das, äh… Mein Mann sagt, ja doch, den Panzer gab’s. Herr Werneke: Den Panzer ja. Den Panzer, weil, der war ferngesteuert und ferngesteuerte Autos gab’s mehrere. Frau Werneke: Naja, vielleicht. 39 40
Moller: Zeitgeschichte sehen, S. 13. Interview 4, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
Herr Werneke: Aber diese, die Maschinenpistole und so, was es da oben gab… Frau Werneke: Nee, kann ich mich überhaupt nicht dran… Herr Werneke [gleichzeitig]: Gab’s im Laden absolut nicht. Frau Werneke: Nee, also ich frag mich ernsthaft, wo das hergekommen ist. […] Herr Werneke: Das kann höchstens mal irgendeiner gebaut haben für seine Kinder, aber… Frau Werneke: Ja… Herr Werneke: … frei verkäuflich war das nicht. Frau Werneke: Denn die anderen Spielsachen, was dort alles gelegen hat, waren alles Dinge, die mehr oder weniger also bei uns auch oder bei den Freunden existiert haben. Also das ist dann schon kurios, der Wiedererkennungswert.41
Links: Vitrine mit Spielzeuggewehr und Kübelwagen mit Spielzeugsoldaten unter der Überschrift »Erziehung zum Staatsbürger im Raum »Bildung«. Rechts: Ferngesteuerter Panzer und Spielzeugsoldaten in einem Vitrinenschrank im Raum »Macht« (fotografiert am 24.09.2022).
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Im Anschluss kamen beide u.a. auf weitere Spielsachen und Einrichtungsgegenstände zu sprechen, die sie in der Ausstellung wiedererkannt hätten, bevor das Gespräch wieder auf das Thema »Kriegsspielzeug« zurückkam. Beide betonten vehement, dass es so etwas weder bei ihren Kindern noch in der Nachbarschaft, im Bekanntenkreis oder in Kindergärten gegeben hätte. Auch beim Spielen auf dem Hof hätten die Kinder nie etwas mit »festnehmen oder erschießen oder sonstwas« gespielt. Frau Werneke: Nichtmal [I.]42 -Spiele haben die gespielt – was also schon einem heutzutage komisch vorkommt. Das ist ja heute dann doch durchaus… nee.43 Insbesondere diese letzten beiden Sätze sind aufschlussreich. Heute seien Kriegsoder [I.]-Spiele« durchaus normal, so meine Gesprächspartnerin, doch in der DDR habe es so etwas praktisch nicht gegeben. Warum ist es ihr anscheinend so wichtig, das zu betonen? Zwei miteinander verbundene Gründe scheinen mir hierfür ausschlaggebend zu sein. Der erste Grund besteht in der Besuchsmotivation des Ehepaars. Auf die Frage, was sie in der Ausstellung besonders interessiert habe, antwortete Frau Werneke: Naja, alles, was zur Alltagskultur dazugehörte. […] Nach dem Motto: Das haben wir im Schrank gehabt, das haben wir benutzt, das hatte ich. Oh nee, das hatte ich nicht. Kenn ich, war aber zu teuer, haste nicht gekauft, und so weiter, und so weiter. Also es entspricht dem, würde ich sagen, Durchschnittsbürger, was man dort also sehen kann und wie man’s auch wahrgenommen hat.44 Die Ausstellung bot also offenbar viele positive Erinnerungsanlässe an den eigenen Familienalltag in Ostberlin und beide erinnerten sich gern an ihre Zeit in der DDR zurück (er: »Der Zusammenhalt war anders«).45 Diese Erinnerung an ein relativ sorgloses Leben wird jedoch von Spielzeugsoldaten und ferngesteuerten Panzern ganz erheblich gestört. Im Dokumentationszentrum werden diese Ausstellungsstücke als Zeichen für die Durchdringung des Alltags durch das Herrschaftssystem der SED, für die »durchherrschte Gesellschaft«, präsentiert.46 Dass sie in dieser symbolischen Funktion einen signifikanten Störfaktor für die Erinnerung meiner Gesprächspartner*innen darstellen, ist also kaum weiter verwunderlich. Bemerkenswert ist vielmehr – und hierin besteht der zweite Grund –, dass sie dem Kriegsspielzeug im Gespräch mit mir so viel Platz einräumen. Der Drang, das Leben
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Rassistische Bezeichnung für indigene Bevölkerung Amerikas. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu auch Kapitel 7.5. Kocka, Jürgen: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Kaelble, Hartmut et al. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
in der DDR gegen erwartete Abwertungen und Diffamierungen vor dem Hintergrund des hegemonialen Diktaturgedächtnis-Diskurses (vermeintlich verkörpert durch den westdeutschen Doktoranden aus bildungsbürgerlichem Elternhaus) präventiv in Schutz zu nehmen, war ein wiederkehrendes Motiv in meinen Interviews mit in der DDR aufgewachsenen Besucher*innen. Und mir scheint, dass dieses Motiv auch in dem hier geschilderten Fall einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Gespräch ausübte: Ein mögliches Anzeichen hierfür ist etwa die Gegenüberstellung der angeblich friedlichen Kinderspiele in der DDR mit den kriegerischen der heutigen BRD, welche das Erziehungs- und Wertesystem der DDR gegenüber dem der BRD moralisch aufwertet. In diesem Licht lässt sich auch folgende Sequenz gegen Ende des Interviews interpretieren: Frau Werneke: Darf man fragen, wie alt Sie sind? Sie hatten uns ja auch nach dem Alter gefragt. Interviewer: Ja klar [lachen]. Ich bin jetzt 27. Frau Werneke [zieht die Luft ein]: Naja. Das ist immer das, was ich am System bemängele [lacht]. Mit 27, nicht fertig sein und auch nicht wissen, wie man’s Geld verdient, von dem man leben möchte später, find ich, also ist einfach ein bisschen spät. Interviewer: Mhm. Frau Werneke: Also ich meine, wenn man vorher zwischendrin also fünf Jahre gearbei-, also was gelernt hat, hat gearbeitet und sagt dann: Ach nee, ich will doch studieren […] würd ich sagen: Ja, okay. […] Aber so denk ich immer: Hm, das erste Geld für die Rente wird verdient jenseits der dreißig. Interviewer: Nee, das wird jetzt schon verdient [lachen]. Frau Werneke: Dann muss man bis siebzig arbeiten. Das seh ich absolut ein.47 Auf einer formalen Ebene lässt sich hier eine plötzliche Umkehrung der Rollenverteilung beobachten: Frau Werneke fragt, ich antworte. Nicht ich als Forschender bin es, der Urteile über die Beforschten, »Aussagen über Aussagen«,48 trifft, sondern Frau Werneke als Beforschte begibt sich in diese Position. Diese formale Umkehrung kann aus dem Kontext der Interviewsituation und dem inhaltlichen Fortgang des Gesprächs erklärt werden: Die Interviewsituation ist immer eine asymmetrische und verstärkt als solche den Rechtfertigungsdruck, den meine Gesprächspartner*innen offenbar verspüren. Das Aufbrechen dieser Situation kann daher als 47 48
Interview 4, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse, S. 123.
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Technik verstanden werden, den Druck zu bewältigen bzw. umzukehren. Inhaltlich gelingt dies über ein Topos, das schon zu Beginn des Interviews aufgetaucht war und jetzt wieder aufgegriffen wird: Arbeit, oder genauer, Identifikation über Arbeit. Herr Werneke war nicht nur bei der Feuerwehr, sondern er war es sein »Berufsleben lang«. Und Frau Werneke betont, dass sie trotz schwieriger familiärer Umstände »immer arbeiten gegangen« sei, ohne »Pausen«. Ihre Beschreibung dieses Lebenswegs, den sie als charakteristisch für DDR-Biografien bezeichnet, fügt sich in Wolfgang Englers Kennzeichnung der DDR als »arbeiterliche Gesellschaft«49 ein und kann später als Distinktionsmarker gegenüber anderen Lebensentwürfen wieder aufgegriffen werden, in denen Arbeit augenscheinlich kein so hoher Stellenwert zukommt. Frau Wernekes Kritik ist individuell und systemisch zugleich und deutet damit auf einen Umstand hin, der uns in den folgenden Interviewanalysen noch häufiger begegnen wird, nämlich der untrennbaren Verschränkung von Sprecherposition und sozial-situativem Kontext.50 Auch ein weiteres Charakteristikum der Interview-Situation lässt sich hier noch einmal exemplarisch veranschaulichen, nämlich das Bedürfnis, die flüchtige soziale Beziehung im Gespräch aufrechtzuerhalten – »man möchte den anderen nicht kränken […], ihm sympathisch sein«, so Welzer und Jensen.51 Mein Einwurf »Nee, das wird schon jetzt verdient«, ist Ausdruck genau dieses Bedürfnisses und das wiederholte Lachen aller Beteiligten dient sicherlich auch dazu, eine angespannte Gesprächssituation zu entschärfen. Obwohl mein Gesprächsanteil als Interviewer in dem hier exemplarisch analysierten Interviewfragment recht gering war, muss das Interview offensichtlich dennoch als ein von drei Personen gemeinsam verfertigter Text betrachtet werden. Sowohl für die Durchführung des Interviews als auch für dessen Analyse wäre es geradezu fatal gewesen, den Interviewer einfach aus der Gesprächssituation exkludieren zu wollen. Schließlich war es der Einbezug der sozial-situativen Rahmenbedingungen des Gesprächs in die Analyse, der einen Zugang zu den Gesprächsdynamiken im Interview überhaupt erst ermöglichte.
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Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 2008. Engler bezeichnet mit dem Begriff eine durch Lohnarbeit geprägte Gesellschaft, deren entscheidendes Charakteristikum (in Abgrenzung zur kapitalistischen Marktwirtschaft) darin bestanden habe, dass in ihr »die Arbeiterschaft sozial und kulturell dominierte und die anderen Teilgruppen mehr oder weniger »verarbeiterlichten« und »sich für ihr gesamtes Berufsleben mit der Arbeit, mit Arbeit überhaupt« verbunden hätten. Ebd., S. 199–200. Vgl. insbesondere Kapitel 7.5.2. Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere.
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
6.4 Zur Konzeption der Interviewstudie Begonnen habe ich mit den Interviews für diese Studie im April 2019 am Berliner DDR-Museum. Am Anfang stand eine große Unsicherheit: Wie bringe ich Menschen dazu, sich mit mir über ihren Ausstellungsbesuch zu unterhalten? Wer hat im touristischen Trubel oder in der kontemplativen Leere eines Museums schon Zeit und Lust, sich von einer unbekannten Person beforschen zu lassen? Mit derlei Fragen begab ich mich an einem Montagvormittag in die Dauerausstellung des Museums. Dessen Leitung hatte mir zur Interviewführung einen Seminarraum im hauseigenen Besucherzentrum zur Verfügung gestellt, welches sich etwa 150 Meter vom Museum entfernt in einer Querstraße befindet.52 Ausgestattet mit Namensschild und Notizblock postierte ich mich am Ende der Dauerausstellung. Schon bald erschienen die ersten Besucher*innen, um die Ausstellung durch ein Drehkreuz in Richtung Souvenirshop zu verlassen. Es handelte sich um eine Gruppe von fünf oder sechs Erwachsenen mittleren Alters, die das Museum gemeinsam besucht hatten. Zu meiner Überraschung erklärten sich zwei von ihnen sogleich zu einem Interview bereits, während die anderen sich im Souvenirshop die Zeit vertrieben. Dass die Einfachheit der Kontaktaufnahme kein Zufall war, bestätigte sich im weiteren Verlauf meiner Untersuchung – etwa ein Drittel bis die Hälfte der angesprochenen Besucher*innen erklärten sich zu einem Interview bereit und fast alle waren damit einverstanden, hierfür den vom jeweiligen Museum bereitgestellten Raum zu nutzen.53 Zur Strukturierung der Interviews hatte ich einen kurzen, relativ offen gehaltenen Leitfaden vorbereitet, der je nach Gesprächsverlauf um weitere Nachfragen ergänzt wurde. In seiner Grundstruktur enthielt er folgende Fragen und Gesprächsimpulse: 1. Ich möchte Sie zu Beginn bitten, sich kurz vorzustellen – wie Sie heißen, wie alt Sie sind, wo Sie herkommen, was Sie machen. 2. Wie kommt es, dass Sie sich heute dieses Museum angeschaut haben? 3. Waren Sie bereits in anderen DDR-Museen? 4. Könnten Sie mir möglichst genau Ihren Rundgang durch die Ausstellung schildern? Was haben Sie sich angesehen, was ist Ihnen in Erinnerung geblieben? 5. Fanden Sie etwas besonders interessant?
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Ursprünglich hatte ich befürchtet, dass dieser Ortswechsel eine signifikante Hürde für die Gewinnung von Interviewpartner*innen bedeuten würde, was sich aber letztlich nicht bewahrheitete. Im Gegenteil bot der gemeinsame Fußweg eher Gelegenheit, die Situation aufzulockern und bereits vor dem eigentlichen Interview ins Gespräch zu kommen. Im DDR-Museum Berlin zog es lediglich ein Paar vor, das Interview gleich im Souvenirshop zu führen und im ZFL führte ich zwei Interviews im geräumigen Foyer am Ende der Dauerausstellung.
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DDR im Museum 6. Hat die Ausstellung Ihren Erwartungen entsprochen? Gab es etwas, dass Sie überrascht hat? 7. Gibt es etwas, das Sie noch über Ihren Besuch sagen möchten?
Die Konzeption des Leitfadens orientierte sich grob am Conceptual Model of Learning von Falk und Dierking (s. Kapitel 4): Die ersten drei Fragen zielen auf den sozialen und persönlichen Kontext des Ausstellungsbesuchs – auf die sozialen Hintergründe, die Umstände der Besuchssituation, die Erfahrungen, Erwartungen und Eingangsnarrative der Besucher*innen. Die Fragen vier bis sechs wenden sich dem materiellen Kontext – der Ausstellung selbst – zu. Während Frage vier eher Überblickscharakter hinsichtlich des Ausstellungsbesuchs hat, dienen die anschließenden Fragen dazu, die Auseinandersetzung mit einzelnen Exponaten oder Themenbereichen in den Blick zu nehmen. Wie wir jedoch im folgenden Kapitel sehen werden, besteht in einem Großteil der Interviews eine auffällige Diskrepanz zwischen den Fragen des Leitfadens und den Antworten der interviewten Besucher*innen: Während der Leitfaden vor allem nach Eindrücken aus der Ausstellung fragt, erzählten die Befragten häufig eher von Erinnerungen aus der bzw. an die DDR, die mit der Ausstellung punktuell verbunden waren. Dieses Phänomen, auf das ich im Folgenden noch ausführlicher zu sprechen komme, mag zwar überraschen, fällt aber durchaus in den theoretischen Rahmen meiner Untersuchung. Denn wenn wir mit Falk und Dierking annehmen, dass Rezeptionsprozesse in Ausstellungen nicht nur vom materiellen Kontext (also der Ausstellung selbst), sondern ebenso von den persönlichen und soziokulturellen Kontexten der Besucher*innen abhängen, dann ist es einleuchtend, dass das Sprechen über die Ausstellungsrezeption auch (oder sogar vor allem) diese Kontexte zum Gegenstand hat. Hieran zeigt sich auch noch einmal die Stärke des Grundprinzips der Hermeneutischen Dialoganalyse, vermeintliche Defizite des Datenmaterials in Ausgangspunkte neuer Fragestellungen und Erkenntnisquellen umzudrehen: Anstatt den Gesprächsverlauf durch geschlossenere Fragen zwanghaft auf den materiellen Kontext der Ausstellungsaneignung zu lenken, kann die (mehr oder weniger weitgehende) Abwesenheit dieses Kontextes selbst als zu analysierendes Datum begriffen werden. Die Analyse des Interviewmaterials erfolgte in drei Schritten. Im ersten Schritt wurden die Interviews transkribiert und anschließend in zwei Durchgängen von der im Forschungsprojekt tätigen Studentischen Hilfskraft und mir mithilfe der Software MAXQDA codiert. Jedes Interview codierten wir zunächst unabhängig voneinander und diskutierten und vereinheitlichten anschließend unsere Ergebnisse. Die Entwicklung des entsprechenden Code-Systems erfolgte dabei durch eine Vorgehensweise, die sowohl theoriegeleitet-deduktive als auch materialbasiert-induktive Elemente beinhaltete: Dem Contextual Model of Learning entsprechend wurden die Interviews auf Äußerungen über den sozialen, persönlichen und materiellen Kontext des Ausstellungsbesuchs hin untersucht; mit Hall wurde nach verschiedenen Lesar-
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
ten der besuchten Ausstellung und mit Sabrow nach Einstellungen gegenüber der DDR gefragt. Ein weiterer Fokus lag im Sinne der Hermeneutischen Dialoganalyse auf der Untersuchung von Kommunikationsdynamiken im Interviewverlauf. Innerhalb dieses groben, theoriebasierten Analyserasters erfolgte die Kategorienbildung dann induktiv vom Material ausgehend. Der sich dadurch allmählich entwickelnde Codebaum wurde in einem zweiten Schritt auf auffällige Häufungen, wiederkehrende Muster und unerwartete Motive hin untersucht. Diesem Distant Reading54 folgte dann in einem dritten Schritt ein Close Reading der entsprechenden Interviews, um sie (wie im obigen Beispiel) anhand der Leitprinzipien der Hermeneutischen Dialoganalyse aufzuschlüsseln.
Übersicht über den Codebaum zur Interview-Auswertung in MAXQDA.
Diese Darstellung des Analyseprozesses ist natürlich recht schematisch und sollte keinesfalls als chronologische Abfolge verstanden werden. Die ersten Interviews für meine Studie habe ich im Frühjahr 2019 geführt, die letzten im Herbst 2022. Ein Großteil des Kategoriensystems war also längst gebildet, die meisten Interviews längst analysiert und nicht wenige Kapitelentwürfe bereits geschrieben, noch bevor die letzten Interviews geführt worden waren. Man muss nicht Anhänger*in der Grounded Theory sein, um die Stärken einer Forschungsmethode
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Vgl. Moretti, Franco: Distant Reading, London, New York 2013. Einen praxisorientierten Einblick in die Theorie des Distant und Close Reading bietet auch Burckhardt, Daniel, et al.: Distant Reading in der Zeitgeschichte. Möglichkeiten und Grenzen einer computergestützten Historischen Semantik am Beispiel der DDR-Presse, in: Zeithistorische Forschungen (01/2019), URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2019/5694 (letzter Zugriff: 23.12.2022), S. 177–196.
195
196
DDR im Museum
wertzuschätzen, bei der stets mehrere Arbeitsschritte (Interviewführung, Transkription, Codierung, hermeneutische Analyse) parallel zueinander stattfinden und erste Ergebnisse vorläufige Hypothesen produzieren, die neue Forschungsfragen aufwerfen und die Suche nach neuem Material anleiten, welches dann wiederum zur Modifikation und Erweiterung bereits gewonnener Resultate genutzt werden kann. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass meine Vorgehensweise stark durch äußere Umstände bestimmt war: Monatelange Museumsschließungen und noch länger bestehende Zugangsbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie machten eine empirische Besucher*innenforschung für längere Zeit unmöglich. Und die damit verbundene Unsicherheit hinsichtlich Laufzeit und Finanzierung des Forschungsprojekts behinderten die Arbeit nicht minder. Der Ablauf der Erhebung und Auswertung der Daten für diese Studie ist somit alles andere als ideal. Aber es handelt sich nun mal um soziale Daten, die unter bestimmten sozialen Umständen zustande gekommen sind. Die untenstehende Tabelle gibt einen Überblick über die von mir geführten Interviews und die dabei involvierten Besucher*innen.
Interview-Übersicht Ort des Interviews
InterviewNummer
Beteiligte Personen
Länge in Minuten
DDR-Museum Berlin
1
Frau Jost, 51, Wirtschaftswissenschaftlerin aus Österreich. Herr Jost, 51, Unternehmer aus Österreich.
3:56
DDR-Museum Berlin
2
Herr Kuhn, 52, aus Niedersachsen. Frau Kuhn, 42, aus Niedersachsen, in der DDR aufgewachsen.
10:24
DDR-Museum Berlin
3
Herr Howell, 54, aus Nordengland. Frau Howell, Ende 50, aus Nordengland.
10:20
DDR-Museum Berlin
4
Frau Davis, Mitte 60, Rentnerin aus den USA. Herr Davis, Ende 60, Rentner aus den USA.
6:09
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
DDR-Museum Berlin
5
Frau Stevens, 50, Versicherungsangestellte aus Westengland. Herr Murray, 61, Reinigungskraft aus Westengland.
8:48
DDR-Museum Berlin
6
Herr Fink, 47, aus Schleswig-Holstein, in der DDR aufgewachsen. Frau Fink, 45, aus Schleswig-Holstein, in der DDR aufgewachsen. Frau Fink, 16, aus Schleswig-Holstein.
9:51
DDR-Museum Berlin
7
Herr Arndt, 40, Jurist aus Österreich.
8:23
DDR-Museum Berlin
8
Frau Domke, Mitte 70, aus Bayern. Frau Helwig, Ende 40, Unternehmensberaterin, aus Bayern.
11:14
DDR-Museum Berlin
9
Frau Reuss, 60, Notarfachangestellte aus Baden-Württemberg Herr Reuss, 64, Architekt aus BadenWürttemberg.
12:25
DDR-Museum Berlin
10
Frau Bok, Ende 30, aus Hamburg, aufgewachsen in den Niederlanden. Herr Bok, Anfang 40, aus Hamburg, aufgewachsen in den Niederlanden.
14:38
DDR-Museum Berlin
11
Herr Sander, 67, Rentner aus Ost-Berlin.
11:35
DDR-Museum Berlin
12
Herr Bogner, 66, Rentner aus Jena. Frau Bogner, 67, Rentnerin aus Jena.
16:42
DOK Eisenhüttenstadt
1
Herr Kerner, Mitte 70, Rentner aus Brandenburg. Frau Kerner, Mitte 70, Rentnerin aus Brandenburg.
8:22
DOK Eisenhüttenstadt
2
Herr Paulsen, 55, aus Hessen. Frau Paulsen, 55, aus Hessen.
6:03
DOK Eisenhüttenstadt
3
Herr Roth, Anfang 40, aus Ost-Berlin. Frau Faber, Ende 20, Studentin aus West-Berlin.
40:53
DOK Eisenhüttenstadt
4
Frau Werneke, 64, Lehrerin im Ruhestand aus Ost-Berlin. Herr Werneke, 66, Feuerwehrmann im Ruhestand aus Ost-Berlin.
20:47
197
198
DDR im Museum
DOK Eisenhüttenstadt
5
Frau Pfeifer, 69, Rentnerin aus Brandenburg. Herr Pfeifer, 71, Rentner aus Brandenburg. Frau Greinert, 76, Rentnerin aus Sachsen. Frau Haller, 75, Rentnerin aus Sachsen.
14:26
DOK Eisenhüttenstadt
6
Herr Kolve, 57, Informatiker aus Bayern.
8:48
ZFL
1
Frau Ohlberg, 25, Sozialarbeiterin aus Dresden. Frau Zander, 25, Wissenschaftlerin aus NRW.
12:21
ZFL
2
Herr Vogel, 58, Theologe aus der Schweiz.
5:48
ZFL
3
Herr Peetz, 58, Abteilungsleiter aus Bayern.
8:16
ZFL
4
Herr Schenk, Anfang 20, Soldat aus Sachsen-Anhalt. Frau Tanner, 22, Studentin aus der Schweiz.
6:12
ZFL
5
Frau Haag, Anfang 60, aus Leipzig. Herr Ludwig, Anfang 60, aus Niedersachsen.
16:34
ZFL
6
Frau Lagno, 52, Angestellte im Öffentlichen Dienst aus Sachsen. Frau Lagno, 24, Schweißerin aus Sachsen.
14:14
ZFL
7
Frau Gerve, 39, aus Bayern, aufgewachsen in der DDR. Herr Gerve, 42, aus Bayern, aufgewachsen in der DDR.
8:35
Museum in der Kulturbrauerei
1
Frau Thoma, 44, aus Österreich. Herr Thoma, 56, aus Österreich.
13:40
Museum in der Kulturbrauerei
2
Herr Tander, 70, Rentner aus NRW.
14:42
Museum in der Kulturbrauerei
3
Herr Smerdon, Mitte 60, Historiker im Ruhestand aus Kanada. Frau Smerdon, 69, Lehrerin im Ruhestand aus Kanada.
10:24
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
Museum in der Kulturbrauerei
4
Frau Koning, 29, Lehrerin aus den Niederlanden.
6:18
Museum in der Kulturbrauerei
5
Herr Olgers, 60, aus SchleswigHolstein. Herr Olgers, 16, aus SchleswigHolstein.
7:11
Museum in der Kulturbrauerei
6
Frau Neumann, 41, aus Niedersachsen, aufgewachsen in der DDR. Herr Neumann, 49, aus Niedersachsen.
6:29
DDR-Museum Pforzheim
1
Frau Albrecht, 73, aus BadenWürttemberg, aufgewachsen in der DDR.
11:48
DDR-Museum Pforzheim
2
Herr Feldkamp, 55, Angestellter im Öffentlichen Dienst aus BadenWürttemberg.
8:19
DDR-Museum Pforzheim
3
Herr Schubert, Mitte 50, Kaufmann aus Baden-Württemberg. Frau Schubert, 54, aus BadenWürttemberg.
8:01
DDR-Museum Pforzheim
4
Frau Martin, 77, Apothekerin im Ruhestand aus Baden-Württemberg.
9:09
DDR-Museum Pforzheim
5
Frau Krüger, Mitte 40, aus BadenWürttemberg. Herr Schäfer, Anfang 50, aus BadenWürttemberg. Zwei Söhne von Herrn Schäfer, 9 und 11 Jahre alt.
13:23
DDR-Museum Pforzheim
6
Frau Fiehring, 67, Rentnerin aus BadenWürttemberg. Herr Fiehring, 67, Rentner aus BadenWürttemberg.
18:51
Gesamt
37
69 Personen
444 Min. (Ø 12 Min)
Ich fasse das bisher Gesagte noch einmal in groben Zügen zusammen: Am Anfang meiner Untersuchung stand die Vorstellung, dass man Besucher*innen mit narrativen Interviewtechniken zu einer Art Nacherzählung ihres Ausstellungsrundgangs bewegen könne. Diese Erzählungen ließen sich dann etwa hinsichtlich der klassischen Modi historischer Sinnbildung (nach Rüsen)55 oder des Verhält55
Rüsen, Jörn: Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Koselleck, Reinhart et al. (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S. 514–605.
199
200
DDR im Museum
nisses zwischen Ausstellungsmedien und unterschiedlichen Dimensionen von Geschichtsbewusstsein (nach Pandel)56 analysieren. Rückblickend erscheint diese Vorstellung reichlich naiv – aus der Perspektive einer narrativistisch orientierten Geschichtsdidaktik und Geschichtskulturforschung ergibt sie aber zunächst durchaus Sinn. Denn wenn ich danach frage, wie sich Menschen Ausstellungen zur DDR-Geschichte aneignen, dann – so ließe sich argumentieren – geht es dabei schließlich um nichts anderes als um Fragen historischer Narrativität. Wie ich jedoch gezeigt habe, beruht diese Vorstellung auf einer signifikanten theoretischen Verengung des Forschungsfeldes, auf einer unzulässigen Kognitionslastigkeit der Fragestellung. Denn zum einen erfordert stringentes Erzählen nicht nur ein gutes Erinnerungsvermögen, sondern auch ein hohes Maß an narrativer Kompetenz, das nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Zum anderen – und das ist der entscheidende Punkt – lässt sich die Aneignung einer historischen Ausstellung nicht auf eine Auseinandersetzung mit Geschichtskultur reduzieren. Zeitgeschichtliche Ausstellungen werden aus einer Vielzahl an Motivationen besucht: Vielleicht will man schauen, wie ein bestimmtes Thema im Museum präsentiert wird. Oder man hat sich noch nie damit beschäftigt und will sich informieren. Vielleicht hat man im Reiseführer gelesen, dass man dieses oder jenes Museum »gesehen haben muss«, vielleicht läuft man zufällig daran vorbei oder aber man entscheidet sich für ein bestimmtes Museum, weil der Eintritt frei ist.57 Vielleicht ist man auch einfach auf der Suche nach einer gemeinsamen Beschäftigung für den Familienbesuch, vielleicht ist das Wetter schlecht, vielleicht will man etwas mit Freund*innen unternehmen. Es geht also um ein breites Spektrum von Fragen, das von Freizeitgestaltung, Unterhaltung und Lernen über soziale Distinktion und Reproduktion kulturellen Kapitals bis hin zu Verständigung, Rollenzuschreibung und -aushandlung mit
56
57
Pandel, Hans Jürgen: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen, in: Geschichtsdidaktik. Probleme, Projekte, Perspektiven (12/1987), S. 130–142. Der erste Roman des früheren Programmierers Richard Powers, Three Farmers on Their Way to a Dance, soll durch so einen zufälligen Museumsbesuch inspiriert worden sein: »I was living in the Fens in Boston right behind the Museum of Fine Arts. If you go there before noon on Saturdays, you could get into the museum for nothing. One weekend, they were having this exhibition of a German photographer I’d never heard of, who was August Sander. […] I have a visceral memory of coming in the doorway, banking to the left, turning up, and seeing the first picture there. It was called Young Westerwald Farmers on Their Way to the Dance, 1914. I had this palpable sense of recognition, this feeling that I was walking into their gaze, and they’d been waiting seventy years for someone to return the gaze. […] This was a Saturday. On Monday, I went in to my job and gave two weeks notice and started working on Three Farmers.« Powers, Richard: The Art of Fiction. Interviewed by Kevin Berger, in: The Paris Review (02/2002-2003), URL: https://www.theparisreview.org/interviews/298/the-art-of-fiction-no-175-richard-pow ers (letzter Zugriff: 24.06.2020).
6. Hermeneutische Dialoganalyse. Zur Methodik der Untersuchung
anderen Besucher*innen reicht. Kurz: Der Museumsbesuch ist nicht nur ein geschichtskulturelles Ereignis, sondern auch und vor allem ein soziales. Ich habe versucht, dieser Mehrdimensionalität des Museumsbesuchs gerecht zu werden, indem ich nicht danach gefragt habe, wie sich Menschen in Ausstellungen Geschichte aneignen, sondern wie sie sich Ausstellungen aneignen. Am Ende meiner Auswertung des Interviewmaterials standen letztlich sechs wiederkehrende Motive, die ich als spezifische Umgangsweisen mit DDR-Museen unter den Überschriften »Rollenaushandlung«, »Orientieren und Vergleichen«, »Eingangsnarrative und deren Bestätigung«, »Die Ausstellung als Erinnerungsanlass«, »Identitätsarbeit im Museum« und »Metabesuch« zusammengefasst habe. Im Einklang mit meiner in Kapitel 4 formulierten Skepsis gegenüber dem verbreiteten Drang zur Typologisierung sollten sie eher als Schwerpunktsetzungen denn als einander ausschließende Kategorien oder Typen verstanden werden. Ein Interview dieser oder jener Umgangsweise zuzuordnen, war nicht selten eine Frage der Abwägung. Und bisweilen zitiere ich aus demselben Interview in mehr als einem der folgenden Unterkapitel.
201
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
7.1 Erinnern, abhaken, entdecken, lernen. Gründe für den Museumsbesuch Herr Kerner: »Sie ist gekommen, weil ich hier hin bin.« Frau Kerner: »Ich war ja mal Bauzeichner.«1 Beginnen wir mit den Gründen für den Besuch eines DDR-Museums. Der in meinen Interviews mit Abstand am häufigsten genannte Besuchsgrund waren biografische Bezüge zur DDR. So bezeichneten alle 21 meiner in der DDR aufgewachsenen Gesprächspartner*innen eigene biografische Bezüge zum Thema mindestens als mitursächlich für den Museumsbesuch – mitunter noch bevor ich überhaupt danach gefragt hatte. »Also, ich bin Annett, mein Mann Heiko. 39 Jahre bin ich alt. Wir leben jetzt in Bayern, beide, kommen aber eigentlich aus […] Sachsen, und haben eben die DDR noch als Kinder mitbekommen« stellte sich etwa Frau Gerve im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig vor. »Genau«, ergänzte ihr Mann. »Ich bin […] 42, genau. Hab ich mehr die DDR noch miterlebt als meine Frau.« Und es sei nun mal »einfach unsere Geschichte, deshalb interessiert’s uns«, so Frau Gerve weiter.2 »Es sind so gewissermaßen nachhaltig so Episoden und Sachen, die eben von früher Erinnerungen sind«, erklärte auch der 66-jährige Herr Bogner aus Jena im DDR-Museum. »Ja, teilweise, die man noch selber nachvollziehen kann, ja. Ja, genau, Erinnerungen«, pflichtete ihm die 67-jährige Frau Bogner bei.3 Doch auch Menschen ohne eigene DDR-Sozialisation erklärten ihren Museumsbesuch mitunter (in 11 von 48 Fällen) mit biografischen Bezügen oder Erinnerungen 1
2 3
Antwort meiner Gesprächspartner*innen, die wegen einer Sonderausstellung zum Thema Bauhaus das DOK besucht hatten, auf die Frage nach dem Grund ihres Besuchs. Interview 1, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Interview 7, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2021. Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019.
204
DDR im Museum
an die eigene Vergangenheit, die bisweilen nur indirekt mit der DDR in Verbindung standen. »Ich war drei Jahre in Bitburg beim Militärdienst. Das war vor vier Jahrzehnten«, erinnerte sich etwa Herr Davis aus den USA im Berliner DDR-Museum. Nach dem Grund seines Besuchs gefragt, antwortete er: Well, I love Germany, I love the language. […] And I’ve never been in the former East Germany. All the while in military service, you had to go through lots of paperwork to get permission to come to West Berlin on a special train that didn’t stop anywhere. I never did that. Although West-Berlin has such an amazing history, I mean, amazing history.4 Erinnerungen, die nicht direkt mit der DDR in Verbindung standen, waren auch für Frau Jost Besuchsanlass: »Nachdem wir schon älter sind […] vergleichen wir das, was wir hier an Alltagsprodukten sehen, natürlich mit den Alltagsprodukten unserer Jugend und Kindheit und finden das von dem her sehr interessant, und das war auch damals schon und heute auch wieder der Grund für den Besuch des Museums«, erklärte etwa die 51-jährige Österreicherin im Berliner DDR-Museum, das sie und ihr Mann bereits zum zweiten Mal besucht hatten.5 Häufiger waren es allerdings biografische Verbindungen in Form von persönlichen Kontakten in der DDR, grenznahen Wohnorten oder Aufenthalten in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung, die meine Interviewpartner*innen zum Besuch eines DDR-Museums bewogen. Beispielsweise ging es Herrn Olgers, der früher »ja in Lübeck mitten im Grenzgebiet« gewohnt habe, in der Kulturbrauerei darum, »dass man die Erinnerungen festigt«. Schließlich habe er damals einen Studienkollegen in West-Berlin gehabt und sei »dann […] auch mal nach Ost-Berlin rübergefahren«.6 Und Frau Schubert hatte einen Besuch im DDR-Museum Pforzheim schon seit Langem geplant, da sie »Verwandte halt dort drüben« habe. »Weil die sind halt drüben geblieben praktisch. […] Ja und von dem her hat’s mich dann auch somit interessiert.«7 Ähnlich äußerte sich Frau Domke im DDR-Museum, das sie mit ihrer Tochter besucht hatte, da sie »die DDR zum Teil kannten«. Zwar habe sie dort keine Verwandten gehabt, jedoch hätte ihre Schwiegermutter »Kontakt mit der DDR in Eisenach, mit der Diakonie« gehabt. »Und als wir dann geheiratet hatten, dann haben wir gesagt: Also wir übernehmen die Post und dann auch die Päckchen und Pakete. […] Und so waren wir öfter noch während der DDR-Zeit in Eisenach.«8 Die hier zitierten Gesprächsauszüge zur Besuchsmotivation mögen erst einmal unscheinbar wirken, verraten uns aber bereits eine ganze Menge darüber, wie
4 5 6 7 8
Interview 4, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Interview 1, DDR-Museum Berlin, 17.03.2019. Interview 5, Museum in der Kulturbrauerei, 17.04.2019. Interview 3, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. Interview 8, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
ein erheblicher Teil der Besucher*innen sich Ausstellungen zur DDR-Geschichte aneignen können. So ist beispielsweise leicht ersichtlich, dass jene befragten Besucher*innen, die vor allem aufgrund biografischer Bezüge und Erinnerungen ein Museum aufsuchten, häufig sowohl ein hohes Maß an Erfahrungswissen mit in die Ausstellung brachten als auch vergleichsweise präzise Erwartungen an diese formulierten. Soll heißen: Es ging meist nicht darum, etwas Neues zu lernen, sondern um das Erleben möglichst authentischer Wiedererkennungsmomente. Innerhalb dieses Aneignungsmodus gilt es daher meist nicht in erster Linie als Aufgabe der Ausstellung, Geschichte zu konstruieren und zu erzählen, sondern vielmehr Vergangenheit im Sinne einer alltäglichen Lebenswelt abzubilden.9 »Man ist noch einmal so zurückversetzt«,10 »man kommt halt wieder, ich sag mal, wieder ein bisschen zurück«11 oder »damit sind wir groß geworden […] und das ist das, was wir dann auch [aus der Ausstellung] mitgenommen [haben]«,12 sind charakteristische Ausdrucksweisen für diesen Modus der Ausstellungsaneignung, auf den ich in Kapitel 7.5 genauer eingehen werde. Ein weiterer Begriff, der bei der Erläuterung des Besuchsgrundes häufig zum Tragen kam, war der der Liste: »There’s like a list of seven or eight things that we’re definitely doing and a list of fourteen to twenty things [lacht] if we had the time or if we’re in the right place, we’ll do«, so Herr Howell aus England im Berliner DDRMuseum.13 Auch für Herrn und Frau Bogner aus Jena stand dieses »schon lange auf unserer Liste«.14 In ähnlicher Weise erklärte Herr Arndt aus Österreich, der Berlin bereits mehrfach besucht hatte, er habe sich nun erstmals Zeit genommen, um sich »halt die Museen und touristischen Sachen anzuschauen«. Leider sei das DDR-Museum aber sehr voll gewesen, da es vermutlich »auf der To-Do Liste von vielen Touristen« stehe.15 Der Listen-Topos taucht auch in der bereits mehrfach zitierten Untersuchung Sharon Macdonald’s von Besuchsgründen für die Ausstellung Food for Thought im Londoner Science Museum auf: The Science Museum was often talked about as one of the »things to do« in London […]. Visitors were sometimes »doing the museums« […]. The language of »doing« is perhaps of interest here, suggesting a list of things which can be tickedoff when they have been dealt with.16
9 10 11 12 13 14 15 16
S. hierzu Kapitel 7.8. Frau Fink, Interview 6, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Herr G., Interview 7, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2021. Frau N., Interview 6, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2020. Interview 3, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Frau Bogner, Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Interview 7, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Macdonald: Behind the Scenes, S. 224. »Abgehakt« hatte die aus einer brandenburgischen Kleinstadt stammende Frau Kerner auch bereits zwei DDR-Museen in Wittenberge und Per-
205
206
DDR im Museum
Dieses »Abhaken« findet sich auch in folgendem Interviewauszug mit Frau Krüger sowie Herrn Schäfer und seinen beiden Söhnen wieder, die zum Zeitpunkt des Gesprächs gerade eine Woche zusammen in Pforzheim verbrachten. »Und dann gibt’s einfach so Ferienprogramm: Was kann man denn alles tun? […] Und dann haben wir einfach gesagt: Klappern wir mal alle Sehenswürdigkeiten von Pforzheim ab, dass man einfach nicht nur zu Hause sitzt und dann auch ein bisschen Geschichte mitnimmt.«17 Der Museumsbesuch erscheint hier als Bestandteil einer relativ planvollen und zugleich normierten Freizeit- und Urlaubsgestaltung – schließlich hat die abhakbare Liste (bzw. das Abklappern) auch etwas von einem Pflichtprogramm. Es ist daher wenig überraschend, dass Macdonalds Betonung des Ausdrucks »doing« eine hohe sprachliche Ähnlichkeit mit Pierre Bourdieus Beschreibung touristischer Museumsbesuche in Die Liebe zur Kunst aufweist. Laut Bourdieu bündelt sich in diesen »ein ganzes Programm verpflichtender Praktiken, das sich angelegentlich touristischer Reisen denjenigen in Erinnerung bringt, die die stärksten kulturellen Ambitionen hegen, jenen also, die der gebildeten Welt angehören oder angehören wollen. Dieses Programm erhält seine bezwingende Kraft, wenigstens zum Teil, durch diffuse Normen, festgelegt und erinnert durch Bezugsgruppen, Freunde oder Arbeitskollegen, denen man von den Ferien erzählt, aber auch durch die Handbücher touristischer Lebensart […], die vorschreiben, was man tun muß, um sich und den anderen sagen zu können, daß man Griechenland oder Italien »gemacht« hat.«18 Während der Museumsbesuch allgemein also als eine durch soziale Konventionen mehr oder weniger stark normierte Freizeitaktivität begriffen werden kann, scheint die Entscheidung für ein bestimmtes DDR-Museum (in Berlin etwa das Museum in der Kulturbrauerei oder das DDR-Museum am Dom; in Leipzig das ZFL oder das N’Ostalgie-Museum) in hohem Maße von kontingenten Umständen abhängig zu sein. In einigen Fällen entschieden sich Besucher*innen für ein bestimmtes Museum, weil es nah am Hotel lag,19 es Teil eines Gutschein-Pakets war20 oder weil es »Montag ist und die großen Museen […], die noch auf unserem Programm stehen, nicht offen haben.«21 Ähnlich äußerte sich der Schweizer Herr Vogel, der während seines Leipzig-Aufenthalts im Sommer 2020 das ZFL besucht hatte, da einige andere Museen »ja Corona-bedingt geschlossen« seien. Eigentlich sei er eher »zufälligerweise an dieser Ausstellung vorbei« gekommen und habe sich gedacht: »Na gut,
17 18 19 20 21
leberg, als ich sie 2019 im Dokumentationszentrum Alltagskultur interviewte. Interview 1, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Frau Schäfer, Interview 5, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. Bourdieu; Darbel: Die Liebe zur Kunst, S. 47. So etwa Frau Ohlberg, Interview 1, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Wie etwa bei Familie Bok, Interview 10, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Frau D.s Tochter, Interview 8, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
ausgeschildert, Eintritt frei, kann man reingucken«.22 Der »Zufall« hatte auch das verrentete Ehepaar Fiehring an einem Sonntag in das DDR-Museum Pforzheim geführt. Tags zuvor war Frau Fiehring beim Durchstöbern alter Zeitungen auf einen Artikel über das Museum gestoßen und obwohl sie und ihr Mann sonntags (am einzigen Öffnungstag des Museums) normalerweise wenig Zeit hätten, hätte es dieses Mal gut gepasst: »Och, wir haben nachher einen Termin. Das könnten wir doch eigentlich mal machen, mal so zwei Stunden.«23 Mit »Zufall, absoluter Zufall« beschrieb auch der Ende vierzig jährige Herr Neumann aus Hannover den Grund für seinen Besuch des Museums in der Kulturbrauerei. Er und seine in der DDR aufgewachsene Begleiterin hätten sich im Reiseführer einen »Stadtteilspaziergang rausgesucht gehabt, der führte uns hier zur Kulturbrauerei und dann sind wir zufällig hier reingestolpert. […] Dass wir’s gefunden haben und kostete keinen Eintritt […], hat uns dann neugierig gemacht.«24 So erging es auch Frau Lagno und ihre Tochter aus Hoyerswerda, die in Leipzig bloß ein »bisschen rumbummeln« wollten, als sie auf das ZFL gestoßen seien: »Es kost‹ nichts. Wir gehen mal rein. Wenn’s Mist ist, gehen wir wieder raus.«25 Hätte sie sich »ganz doll da das Geschichtliche« im Museum anschauen wollen, hätte sie ohnehin ohne ihre Tochter kommen müssen, »einfach weil sie’s nicht interessiert. Es ist nicht ihr Ding, ne?«26 An diesem Zitat lassen sich noch einmal zwei Aspekte der Besuchsmotivation verdeutlichen: Zum einen fällt auf, wie Frau Lagno hier zwischen persönlichen Alltagserinnerungen und Geschichte unterscheidet. Dabei formuliert sie implizit zwei mögliche Zugangsweisen zur Ausstellung, die mit deren oben angedeuteten möglichen Aufgaben (Geschichte erzählen oder Vergangenheit abbilden) korrespondieren. Die Zugangsweise über »das Geschichtliche« befasst sich mit Ausstellungsnarrationen zu unterschiedlichen Themen (im ZFL etwa Staatsgründung, Widerstand, Wirtschaftssystem, Bildung, Konsum usw.), während die von Frau Lagno gewählte Zugangsweise an den Ausstellungsmedien selbst – als Zeugnissen einer untergegangenen Lebenswelt – interessiert ist.27 Diese Unterscheidung und der dafür gewählte Begriff – »das Geschichtliche« – wird in den folgenden Kapiteln noch häufi-
22 23
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Interview 2, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Interview 6, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. Man beachte die Wortwahl (»könnten wir doch eigentlich mal machen«), die den Museumsbesuch als eine etwas beliebige aber dem bildungsbürgerlichen Hintergrund des Ehepaars Fiehring entsprechend naheliegende Freizeitbeschäftigung kennzeichnet. Interview 6, Museum in der Kulturbrauerei, 17.04.2019. Interview 6, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2020. Ebd. Man beachte hier auch wieder den Doppelcharakter des Ausstellungsmediums als Zeichen (eingebettet in einen größeren musealen Verweisungszusammenhang) und als seiner ursprünglichen Umgebung entnommenes Objekt an sich. Mehr dazu in Kapitel 7.5.1.
207
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DDR im Museum
ger auftauchen.28 Zum anderen verweisen Frau Lagnos Aussagen über ihre Tochter erneut auf den sozialen Charakter des Ausstellungsbesuchs. Da Museen nur relativ selten allein besucht werden, ist es naheliegend, dass es für einen Teil der Besucher*innen eher das Interesse an einer gemeinsamen Aktivität als an einem bestimmten Thema ist, das sie in eine Ausstellung führt. Häufig sind beide Besuchsmotivationen natürlich miteinander verbunden – wie etwa bei der 22-jährigen Schweizerin Frau Tanner und ihrem etwa gleichaltrigen Begleiter Herrn Schenk aus Sachsen-Anhalt, die ich tags zuvor ebenfalls im ZFL interviewt hatte. Auf meine Frage »Wie kommt es, dass ihr euch das Museum hier angeschaut habt heute?« antwortete Frau Tanner lachend: »Weil ich mir das ausgesucht habe. […] Weil ich fast nichts über DDR wusste und das Museum einen guten Ruf hat.« Und Herr Schenk ergänzte, dass er nun bereits zum dritten Mal das ZFL besucht habe, »aber auch schon überall in Deutschland irgendwie mal in DDR-Museen« gewesen sei, weil er »das Thema halt mega interessant« fände.29 Eine ähnliche Verschränkung von sozialen und thematischen Besuchsgründen zeigte sich auch im Interview mit Herrn und Frau Thoma aus Wien, die im Museum in der Kulturbrauerei angaben, »immer wieder hier in Berlin Urlaub« zu machen. »Und speziell interessiert sind wir an DDR, Osten. Was ist noch über? Was sieht man? Wo waren die Grenzen? Ja und natürlich alles andere, was man in Berlin anschaut, also alle Sehenswürdigkeiten.«30 Das DDR-Museum am Berliner Dom hatten die beiden während eines früheren Berlin-Aufenthalts bereits besucht und in der Kulturbrauerei waren sie nun bereits das zweite Mal, »weil es unserer Meinung nach eines der besten Museen ist, die das Leben der DDR zeigen«, wie Frau Thoma erklärte.31 Die Formulierung »was man in Berlin anschaut« verweist einmal mehr auf die strukturierende Wirkung sozialer Konventionen auf die Freizeitgestaltung, d.h. auf das »Programm verpflichtender Praktiken« (Bourdieu), vor dessen Hintergrund sich die Ausstellungsaneignung vollzieht. Zugleich schildern die Thomas ihren Ausstellungs- bzw. Berlin-Besuch mit den Worten einer historischen Spurensuche, welche eine untergegangene Welt in der heutigen sichtbar werden lässt. Es geht hier also um die »produktive eigen-sinnige Aneignung vergangener Wirklichkeiten« oder – was in der Definition Lückes und Zündorfs dasselbe ist – um »Historisches Lernen«.32
28 29 30 31 32
Vgl. insbesondere Kapitel 7.8. Interview 4, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Herr Thoma, Interview 1, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. Ebd. Lücke; Zündorf: Einführung in die Public History, S. 38. Diese Definition historischen Lernens taucht in diversen Büchern und Aufsätzen Martin Lückes mit unterschiedlichen Autor*innen auf. Vgl. etwa auch Brüning; Lücke: Brüning, Lücke 2013 – Nationalsozialismus und Holocaust als Themen.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Auf Spurensuche befand sich auch der bereits zitierte Österreicher Herr Arndt, der sich vorgenommen hatte, in Berlin »ein paar Tage zu verbringen, um halt tatsächlich sich historisch ein bisschen weiterzubilden. Weil hier findet man oder sieht man auch noch unter freiem Himmel zum Teil immer noch Relikte aus der DDRVergangenheit, was ja in anderen kommunistischen Hauptstädten nicht mehr der Fall ist.«33 Andere Interviewte erklärten das Schließen einer Bildungslücke oder thematisches Interesse zum Grund ihres Besuchs. Beispielsweise ging es Frau Ohlberg im ZFL darum, »wieder das Wissen aufzufrischen bezüglich der Geschichte«34 . Herr Bok und seine Partnerin hatten »entdeckt, dass wir eigentlich relativ wenig wissen über diese ganz junge Geschichte« und deshalb das Berliner DDR-Museum besucht.35 Ähnlich äußerte sich dort auch die US-amerikanische Rentnerin Frau Davis: »I don’t know anything very well. I saw Good Bye, Lenin!«, während ihr Mann einfach erklärte »I like history.«36 Und »allgemeines Interesse für Geschichte, für jüngere Geschichte« hatte auch den 69-jährigen Aachener Herrn Tander in die Kulturbrauerei geführt.37 Abschließend möchte ich auf eine weitere Besuchsmotivation aufmerksam machen, die auf den ersten Blick der des historischen Lernens zu gleichen scheint, sich aber in einem wichtigen Punkt von diesem unterscheidet. Betrachten wir hierzu einen kurzen Auszug aus meinem Interview im DOK Eisenhüttenstadt mit Herrn und Frau Paulsen aus Hessen (beide Mitte 50): Interviewer: Und was hat Sie interessiert an dem Museum hier? Frau Paulsen: Ach, die Geschichte ist immer interessant, finde ich. Wie das DDRLeben früher war oder wie das überhaupt… Weil ich mein, man hat schon viel gelesen und gesehen, aber ich find’s immer wieder interessant, sich die Museen anzugucken. Jede Stadt stellt’s ja doch ein bisschen anders dar oder hat andere Ausstellungsstücke. Und von daher…38 Das von Frau Paulsen bekundete Interesse daran, wie »das DDR-Leben früher war« gleicht zunächst einmal den oben unter dem Begriff des historischen Lernens zusammengefassten Besuchsmotivationen. Dann schränkt Frau Paulsen jedoch ein, dass »man […] schon viel gelesen und gesehen habe«. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Einschränkung zugleich im Modus einer Begründung formuliert ist. Frau Paulsen ist nicht nur am Museum interessiert, obwohl, sondern auch weil sie
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Interview 7, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Interview 1, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Interview 10, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Interview 4, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Interview 2, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. Interview 2, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019.
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schon Vieles kennt. Denn ihre Kenntnis befördert sie dazu, unterschiedliche Darstellungsweisen von DDR-Geschichte miteinander zu vergleichen und sich somit ein facettenreicheres Bild zu machen. Sie nutzt DDR-Museen also nicht nur als Informationsquelle über die Vergangenheit, sondern rezipiert sie auch auf einer Art geschichtskulturellen Metaebene, auf der es ihr vor allem um die museale Präsentationsform von DDR-Geschichte geht (»Jede Stadt stellt’s ja doch ein bisschen anders dar«). Ich werde in Kapitel 7.7 anhand eines weiteren Interviews aus dem DOK Eisenhüttenstadt noch näher auf diese Besuchsmotivation eingehen. Stellen wir sie jedoch vorerst zurück und betrachten noch einmal die am häufigsten genannten Gründe für den Besuch eines DDR-Museums: Persönliche Bezüge, gemeinschaftliche Freizeitgestaltung, Lernen. Diese drei Gründe korrespondieren augenscheinlich mit den von Falk und Dierking beschriebenen sozialen, materiellen und persönlichen Kontexten des von ihnen entwickelten Contextual Model of Learning. Dementsprechend greifen die folgenden Kapitel diese Struktur wieder auf: Unter der Überschrift »Rollenaushandlung« widme ich mich in Kapitel 7.2 zunächst dem sozialen Kontext – sowohl des Ausstellungsbesuchs als auch der anschließenden Interviewsituation – und gehe der Frage nach, wie sich unterschiedliche Besuchskonstellationen auf die Aneignung von und das Sprechen über zeithistorische Ausstellungen auswirken können. Unter einem theoretischen Gesichtspunkt betrachtet, kann dieses Kapitel auch als eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Hermeneutischen Dialoganalyse gelesen werden. Anschließend nehme ich in Kapitel 7.3 eine für die lernorientierte Besucher*innenforschung idealtypische Ausstellungsaneignung in den Blick, die ich mit den Begriffen Orientieren und Vergleichen zusammengefasst habe. Das Kapitel greift dabei noch einmal auf geschichtsdidaktische Überlegungen zur Kategorie des Geschichtsbewusstseins sowie zum historischen Erzählen zurück, zeigt aber auch deren Grenzen in einem musealen Kontext auf. Das darauffolgende Kapitel (7.4) kann auch als Beschäftigung mit einer dieser Grenzen gelesen werden – zeigt es doch auf, wie sehr die Ausstellungsrezeption mitunter vom Wunsch nach Bestätigung vorgefertigter Sichtweisen und Einstellungen getragen wird und wie wenig Ausstellungen diesem Wunsch im Zweifelsfall entgegenzusetzen haben. In dieselbe Richtung argumentiert auch Kapitel 7.5, welches sich explizit dem persönlichen Kontext der Ausstellungsaneignung widmet. Hier erörtere ich, wie Besucher*innen Ausstellungsmedien in DDR-Museen als Erinnerungsanlass nutzen und den Exponaten dabei häufig Bedeutungen zuschreiben, die von der musealen Vorzugslesart in hohem Maße unabhängig sind. Auf der Ebene der Theoriebildung verfolge ich mit diesem Kapitel zwei Ziele: Bezogen auf das Modell Falks und Dierkings geht es mir erstens darum zu zeigen, wie der persönliche Kontext im Aneignungsmodus der »Erinnerung« gegenüber dem materiellen Kontext dominant wird, letzterer sich bisweilen jedoch punktuell durchsetzen kann. Hierzu bediene ich mich des Begriffs der »Störung« aus dem Kontext der Hermeneutischen
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Dialoganalyse. Und zweitens greife ich auf den von Alf Lüdtke geprägten Begriff des »Eigensinns« zurück, um zu zeigen, inwiefern die eigenwilligen Bedeutungszuschreibungen der Besucher*innen in Grenzfällen eine Herausforderung sowohl für die semiotische Ausstellungsanalyse im Allgemeinen und insbesondere für Stuart Halls Kommunikationsmodell im Besonderen darstellen. Auf einer theoretischen Ebene ist dieses Modell für die letzten drei Kapitel von besonderer Bedeutung. In »Identitätsarbeit im Museum« (Kapitel 7.6) analysiere ich anhand eines Interviews aus dem Museum in der Kulturbrauerei eine dezidiert oppositionelle Ausstellungslesart, die sich stark aus biografischen Bezügen des (westdeutschen) Interviewten zur DDR speist. Während dort zunächst eine Kongruenz zwischen DDR-Gedächtnissen (nach Sabrow) und Ausstellungslesarten (nach Hall) nahezuliegen scheint, revidiert die dann folgende Interviewanalyse in Kapitel 7.7 diesen Eindruck, indem sie sowohl eine Erweiterung von Halls als auch von Sabrows Modell vorschlägt. Von zentraler Bedeutung ist dabei eine Form der Ausstellungsaneignung auf einer geschichtskulturellen Metaebene, wie sie oben anhand des Interviewauszugs mit Frau und Herrn Paulsen bereits angedeutet wurde. In einer Synthese dieser Interviewanalysen wende ich mich in Kapitel 7.8 abschließend den Funktionen zu, die zeithistorischen Museen von ihren Besucher*innen zugeschrieben werden und frage danach, wie diese mutmaßlichen Funktionen des Museums mit unterschiedlichen Modi der Ausstellungsaneignung zusammenhängen. Ich argumentiere, dass die häufig getroffene Unterscheidung zwischen »Geschichte erzählen« und »Vergangenheit abbilden« nicht zwangsläufig auf die Vorherrschaft eines vorkonstruktivistisches Geschichtsverständnis unter Museumsbesucher*innen hindeutet und plädiere stattdessen für eine vorsichtige Rehabilitierung des Abbildungsbegriffs in der Geschichtsdidaktik.
7.2 »Ich bin ja nunmal Wessi, in Anführungsstrichen«. Rollenaushandlung und der soziale Kontext der Ausstellungsaneignung I think a lot of people who are younger think of [the fall of the Berlin Wall] as [something that happened] just after the Second World War rather than something that really came down only twenty, thirty years ago, this division. The integration of Germany is quite spectacular. Not necessarily if you are German – you might have a different view of it. But from the outside, for basically, what, thirty years ago? [Interviewer: Yes, exactly.] Thirty years ago you never even saw communism falling at all. And yet, you have an integrated Germany. And the speed of that is quite amazing – from the outside. […] And it’s a spectacular achievement.
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I’m sure, when you live in the country, you have a different view at the problems that that’s thrown up. But certainly from the outside it’s…39 Das obige Zitat ist einem Interview entnommen, das ich im Frühjahr 2019 mit den Mitte 50-jährigen Herrn und Frau Howell aus Nordengland im Anschluss an ihren Besuch des Berliner DDR-Museums geführt habe. Herr Howell drückt hier seine Bewunderung für die Geschwindigkeit des deutschen Wiedervereinigungsprozesses nach dem Untergang der DDR aus. Auffällig daran ist die Art, wie Herr Howell seine Bewunderung zum Ausdruck bringt, lässt sie doch ein hohes Maß an Ambiguität und Vereinbarkeit von unterschiedlichen Sprecherpositionen zu. Denn darüber, wie die Wiedervereinigung sich möglicherweise aus einer Innenperspektive heraus darstellt, wagt Herr Howell keine Einschätzung zu geben. Vielmehr betont er wiederholt seine Verortung als außenstehender Beobachter und räumt dabei bewusst Raum für konträre Positionen ein (»you might have a different view«; »from the outside«; »you have a different view«; »But certainly from the outside«). Was wir hier sehen, ist ein klassisches Motiv der Kommunikation in qualitativen Interviews, bei dem es auf einer kommunikativen Ebene (auch) um ein vorsichtiges Herantasten an mich als Interviewer geht, dessen soziale Hintergründe und politische Einstellungen Herrn Howell weitgehend unbekannt sind. Welzer und Jensen schreiben, dass es, »[ä]hnlich wie in Alltagssituationen […] auch in der Forschungssituation ein implizites und explizites Wissen darüber [gibt], auf welche Art und Weise mit einem Thema umgegangen werden kann […], welches Wissen geteilt wird und mit welchen Begriffen es sich bezeichnen lässt.«40 Ich würde diese Einschätzung dahingehend einschränken, dass ein nicht unerheblicher Teil dieses Wissens um sprachlich-soziale Konventionen erst im Verlauf des Interviews generiert (und bisweilen auch expliziert) wird. Man »spricht […] so, wie man erwartet, daß der andere erwartet, daß man sprechen wird«, so Welzer und Jensen.41 Doch zu Beginn eines Interviews kann sich diese Erwartungserwartung lediglich auf allgemeine Gesprächskonventionen und äußerliche Eindrücke stützen. Ihr empirisches Fundament wird erst im Verlauf des Interviews, durch Selbstverortungen, wechselseitige Rollenzuschreibungen und anderweitige Interaktionen der Gesprächspartner*innen, breiter und belastbarer. Für die DDR-Forschung gilt es, diesem Prozess besondere Aufmerksamkeit zu schenken, sind doch in diesem Bereich die Grenzen des öffentlich Sagbaren relativ unscharf und regional verschieden. »Knapp ein Vierteljahrhundert nach dem Ende [der DDR] leben hierzulande Menschen zusammen, deren Beziehung zum Thema unterschiedlicher nicht sein könnte. Die Gräben verlaufen dabei nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschen, Konservativen und Lin-
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Herr Howell, Interview 3, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere. Ebd.
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ken, Einheimischen und Migranten oder Zeitzeugen und Nachgeborenen, sondern auch innerhalb dieser »Lager«, konstatiert etwa Michael Meyen.42 Für qualitative Interviews folgt hieraus ein hohes Maß an Unsicherheit der Beteiligten hinsichtlich dessen, was sie von ihren jeweiligen Gesprächspartner*innen erwarten können. Diese Unsicherheit machte sich vor allem in Gesprächen mit in der DDR aufgewachsenen Besucher*innen bemerkbar – und zwar auf zweierlei Weise: Erstens ließ sich häufig eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung bei Kritik an der besuchten Ausstellung sowie bei Urteilen über die DDR und ihr Ende feststellen. Betrachten wir dazu folgendes Zitat von Frau Pfeifer (Ende 60, aus Sachsen), die ich gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Freundinnen im DOK Eisenhüttenstadt interviewt habe. Frau und Herr Pfeifer hatten das Museum schon mehrfach besucht. Und nach Eindrücken aus der Ausstellung befragt, schilderte Frau Pfeifer deren allmählichen Wandel: Naja, ich muss sagen: Wir kennen ja die Ausstellung von vorher […]. Da war auch mehr Anschauungsmaterial. So fing das ja glaube ich hier damals auch an. Wo wer zu DDR-Zeiten ein Lebensmittel und Spielzeug aus den Kitas und Möbel aus den Kitas und was so alles war. Das hat sich natürlich im Laufe der Zeit verändert hier. Ist ja auch richtig, weil die Ansprüche werden andere und man guckt sich ja auch ne Ausstellung, die man dann schon dreimal so gesehen hat, nicht noch ein viertes Mal an. Man will ja immer was Neues entdecken auch, nicht? Und deshalb finde ich’s ja auch gut, dass das immer wechselt […]. Also das finde ich schon… Aber… Weiß ich nicht, ob das so mein Eindruck ist: Ich habe den Eindruck, auch die Inhalte, die früher sich so mehr sachbezogen – Wie war es zur DDR? –, hat sich jetzt so ein bisschen verändert, indem man so das mehr unter der politischen, unterm politischen Aspekt sieht, wie die DDR aufgenommen wurde – als Unrechtsstaat und dieses und jenes und so. Das kommt jetzt hier mehr in diesen Dokumentationen – meines Erachtens, meiner persönlichen Meinung – zum Ausdruck. Das war früher mehr neutral.43 Es ist auffällig, wie sehr diese Antwort in ihrer Form derjenigen Herrn Howells aus dem Berliner DDR-Museum gleicht. Wie dieser, so formuliert auch Frau Pfeifer betont vorsichtig, hebt ihre eigene Sprecherposition hervor (»meines Erachtens, meiner persönlichen Meinung«) und hinterfragt diese zugleich (»Weiß ich nicht, ob das so mein Eindruck ist«). Zudem ist auch sie darauf bedacht, Raum für Ambivalenzen zu lassen, indem sie ihre Kritik an der beobachteten Politisierung des DOK dadurch relativiert, dass sie Verständnis für diese Entwicklung äußert und zunächst deren positive Aspekte erläutert – wobei in Formulierungen wie »Ist ja auch richtig«, »Al-
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Meyen: Wir haben freier gelebt, S. 10–11. Interview 5, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 23.09.2022.
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so das finde ich schon« oder »Und deshalb finde ich’s ja auch gut« das »Aber« immer schon mitschwingt. Die zweite Weise, auf die Interviewte mit Unsicherheit hinsichtlich der Erwartungserwartung zu Beginn eines Gesprächs umgingen, war eine präventive Inschutznahme der DDR – denn schließlich mussten sie damit rechnen, dass ich als westdeutscher DDR-Forscher eine Personifizierung des hegemonialen Erinnerungsdiskurses darstellen würde. »Sie sehen ja, wir haben die DDR überlebt«, so etwa die 72-jährige Frau Kerner aus Brandenburg im Dokumentationszentrum Alltagskultur in Eisenhüttenstadt.44 Und ihr Mann, der vor allem wegen einer Sonderausstellung zum Bauhaus ins Museum gekommen war, erklärte, dass das dort präsentierte Simson-Moped »auch vom Technischen her eins der besten der Welt« gewesen sei. »Muss man so sagen.«45 An derartigen Äußerungen lässt sich ablesen, dass die Interviewten davon ausgehen, sich innerhalb eines diskursiven Rahmens zu bewegen (bzw. bewegen zu müssen), in dem die Geschichte der DDR vorrangig unter Begriffen wie Unterdrückung, Mangel, Rückständigkeit usw. verhandelt wird. Und sowohl in Frau Kerners Feststellung, sie beide hätten »die DDR überlebt«, als auch in Herrn Kerners Urteil über das Simson-Moped lässt sich eine Bezugnahme auf diesen Rahmen klar erkennen. Zugleich lassen ihre Äußerungen relativ viel Spielraum für unterschiedliche Interpretationen und Reaktionen. Und es ist diese Ambiguität selbst, die als Lösungsansatz für die Unklarheit der anzunehmenden Erwartungserwartung im Gespräch gelesen werden kann – analog zu der Feststellung Welzers und Jensens, dass Interviewte und Interviewende »meist eine narrative Form wählen, die unterschiedliche Lesarten parallel bestehen lassen kann.«46 Bis hierher habe ich mich ausschließlich Gesprächsdynamiken zwischen Interviewer und Interviewten gewidmet. Was in dieser Betrachtung noch fehlt, sind Kommunikationsprozesse zwischen den Interviewten selbst. Diese sind nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung, als dass sie häufig Rückschlüsse auf den sozialen Kontext der Ausstellungsrezeption ermöglichen. Denn schließlich ist die Frage, mit wem ich ein Museum besuche für meine Erwartungen ebenso relevant wie für mein Verhalten innerhalb der Ausstellung: Was schaue ich mir an, worüber unterhalte ich mich, wie viel Zeit verbringe ich wo, was wird von mir erwartet? Je nachdem, ob ich mit Familienmitgliedern, Freund*innen, Arbeitskolleg*innen,
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Interview 1, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Ebd. Auf diese Weise äußerte sich auch Herr Bogner aus Jena (der uns u.a. in Kapitel 7.3 wiederbegegnen wird) im DDR-Museum, der hinsichtlich des Wohnungsbaus in der DDR über »die Platte […] nichts irgendwie Böses sagen« konnte. Interview 11, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Partner*in oder in einer anderen Konstellation im Museum bin, wird meine Antwort auf jede dieser Fragen wohl anders ausfallen. In all diesen Fällen dient die Ausstellung jedenfalls (auch) als Kommunikationsvorlage, die einen Austausch und eine Art doppelte Verständigung einfordert: Zum einen erfordert der gemeinsame Ausstellungsbesuch eine Verständigung über das Gesehene und dessen Bewertung. Und zum anderen erfordert er eine Klärung der Rollenverteilung: Wer kann auf welche Weise über ein Thema sprechen (wer ist Expert*in, wer Zuhörer*in), wer kann Urteile über die Ausstellung fällen, wer bestimmt das Tempo des Rundgangs? Mit Falk und Dierking können diese beiden Dimensionen als Klärung des materiellen (Ausstellung) und des sozialen Kontextes (Rollenverteilung) des Museumsbesuchs beschrieben werden. Der Frage, wie sich diese beiden Kontexte wechselseitig beeinflussen und auf die Ausstellungsaneignung auswirken können, möchte ich im Folgenden anhand zweier recht gegensätzlicher Interviews nachgehen. Das erste stammt aus dem Berliner DDR-Museum, das zweite aus dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. In beiden Interviews spreche ich jeweils mit einer in der DDR aufgewachsenen Frau und ihrem in der BRD aufgewachsenen Partner. Beginnen wir mit Herrn und Frau Kuhn (52 und 42 Jahre alt), die das Berliner DDR-Museum im Frühjahr 2019 besuchten. Nach dem Grund ihres Besuchs gefragt, antwortete Frau Kuhn: Weil ich aus der DDR komme, ich da vierzehn Jahre lang gelebt habe und ich da noch nie drin gewesen bin. Und jetzt standen wir davor und haben gesagt: Jetzt müssen wir uns das aber angucken.47 Und Herr Kuhn ergänzte zustimmend: »Genau. Und dann hat sie ganz viele Sachen: Das kenn ich, das kenn ich, das kenn ich.« »Ja, kenn ich noch aus Kindheitstagen«, bestätigte Frau Kuhn48 Trotz dieser Wiedererkennungseffekte hätten sich beide jedoch »mehr zum Anfassen« gewünscht (Herr Kuhn); »mehr die Wohnungseinrichtung oder sowas«, dafür weniger »Geschichtliches« (Frau Kuhn). Herr Kuhn erklärte dazu: Halt eben, dass man wirklich was sehen kann. Weil die meisten Sachen kennt man ja so. Also ich bin ja nunmal Wessi, in Anführungsstrichen, sag ich jetzt mal, und kenn die Sachen ja gar nicht aus der DDR. Vieles hat man auch in Westdeutschland gehabt. Ich weiß nicht, ob jetzt wir zuerst oder die zuerst. Das find ich auch, also manche Sachen sind ja sicherlich auch von drüben rübergekommen, eben.49
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Interview 2, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Ebd. Ebd.
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Mit der Aussage »ich bin ja nunmal Wessi, in Anführungsstrichen« bestärkt Herr Kuhn eine Rollenverteilung, die seine Partnerin schon bei der Frage nach der Besuchsmotivation initiiert hatte: Sie kommt aus der DDR, folglich ist sie auch die Expertin für das im Museum Gezeigte. Dieses Muster scheint durchaus typisch für gemischtdeutsche Besuchskonstellationen zu sein.50 »Wie es so meine Historie ist, guck ich mir sowas natürlich eben auch gerne an, um ihm dann noch ein bisschen was zu erklären und so weiter«, erklärte etwa auch die 41-jährige Frau Neumann aus Sachsen (»also ich bin Ossi, sozusagen«), die das Museum in der Kulturbrauerei mit ihrem westdeutschen Partner besucht hatte.51 Abgesehen von »dem DDRMuseum in der Nähe vom Alex« seien sie bisher nicht in weiteren DDR-Museen gewesen, denn schließlich sei sie »sein persönliches Museum«, scherzte sie. Und wie Herr und Frau Kuhn, so erzählte auch Frau Neumann in erster Linie von solchen Exponaten, die für sie mit persönlicher Bedeutung aufgeladen waren: Ob’s dann dort Pfeffi gewesen ist, Eisminze oder […] alles was so in der Wohnung sich befindet […]. Sei’s der Eierbecher […] oder sonst irgendwas […]. Hab ich dann auch gesagt: Guck, das ist mein Pionierausweis gewesen, meiner sah genauso aus. Also, ja sicher, es ist Vergangenheit. Und Erinnerung, ja.52 Doch zurück zu Herrn Kuhns und seinen selbsterklärten Kenntnissen über die DDR. Bemerkenswert erscheint mir daran vor allem seine vorsichtige Beurteilung der technischen Entwicklung beider deutscher Staaten, die zur Festigung der Rollenverteilung zwischen ihm (unwissender Außenstehender) und seiner Partnerin (Expertin qua DDR-Biografie) beiträgt. Bei vielen Alltagsgegenständen – er nennt etwa »Walkman« und »Kassettenhalterung« – könne er nicht sagen, »ob jetzt wir zuerst oder die zuerst« diese Dinge hatten und sicherlich sei Manches »auch von drüben rübergekommen.«53 Diese Einschätzung ist umso bemerkenswerter, als dass sie dem Narrativ des DDR-Museums eindeutig zuwiderläuft. »Die DDRTechnik war oft veraltet«, heißt es etwa im Text »Hightech nach Plan«, unter dem sich eine Vitrine mit einem Walkman und einer goldfarbenen Wanduhr befindet. Elektronische Geräte seien in der DDR »schwer verfügbar und teuer« sowie meist nur als Westimport erhältlich gewesen. »Und wer kein Westgeld für den SonyWalkman aus dem Intershop hatte, konnte immer noch den [hier ausgestellten] »LCS 1010« kaufen – für den stolzen Preis von 399 Mark.«54
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Es kann sich aber auch, wie wir später noch sehen werden, in sein Gegenteil verkehren. Interview 6, Museum in der Kulturbrauerei, 17.04.2019. Ebd. Interview 2, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Hightech nach Plan, Objekttext im Raum »Öffentliches Leben«, DDR-Museum Berlin (fotografiert am 10.08.2022).
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Es ist kaum anzunehmen, dass Herr Kuhn diesen Text und die zugehörigen Ausstellungsmedien (mit denen er sich ja offenbar beschäftigt hat) einfach missverstanden hat. Dieses Motiv zieht sich durch das gesamte Interview. Einerseits bedient sich Herr Kuhn einer klassisch westdeutschen Wortwahl – »wir« (Westdeutschen) und »die« (Ostdeutschen), »von drüben« – und auch seine Gesprächsanteile sind wesentlich größer als die seiner Partnerin. Andererseits wird diese erwartbare Gesprächsdynamik durch die von beiden akzeptierte Rollenverteilung gebrochen, der zufolge Frau Kuhn hier die Expertin für den Alltag in der DDR ist. Dies verdeutlicht auch die folgende Gesprächssequenz gegen Ende des Interviews: Herr Kuhn: Was interessant wäre glaube ich auch, solche Sachen – ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich wäre –, solche Sachen anzubieten wie die Süßigkeiten, wie haben die da geschmeckt? Vielleicht kann man das ja noch herstellen oder es werden vielleicht noch Sachen hergestellt – Frau Kuhn: Werden sie. Herr Kuhn: So dass man sagen kann: Okay, das sind die Süßigkeiten, die wir in der DDR hatten und so schmecken die halt eben in kleinen Stücken oder so. Das wäre noch ne Möglichkeit, dass man sagt: Ja gut, schmeckt auch nicht viel anders als bei uns, aber – Frau Kuhn: Doch. Herr Kuhn: – dass man sagen kann, so, ja [nickt zustimmend zu ihrem Einwand]. Frau Kuhn: Es gibt Schokolade, die haben wir als Kinder geliebt. Sie wird heute noch hergestellt und wenn du die heute isst, dann denkst du »Oh mein Gott, das ist fürchterlich.« Das kann man sich gar nicht vorstellen, – Herr Kuhn: Ja, aber du kanntest nichts Anderes. Frau Kuhn: – dass man das als Kind gerne gegessen hat.55 Herr Kuhn überlegt hier, wie man die Alltagskultur der DDR im Museum sinnlich erfahrbar machen könnte. In seinen Überlegungen schwingt ein Moment der Faszination für das exotisierte Andere mit (»wie haben die da geschmeckt?«), das von den Errungenschaften westlicher Zivilisation noch unberührt ist, wie der Kommentar »Ja, aber du kanntest nichts Anderes« verdeutlicht. Gleichzeitig bringen seine Formulierungen aber auch eine gewisse Zurückhaltung zum Ausdruck (»wäre«, »weiß nicht«, »glaube«, »vielleicht«). Und wie schon bei den technischen Alltagsgegenständen, so meldet Herr Kuhn auch hier Zweifel an der gängigen Vorstellung von der 55
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Überlegenheit westdeutscher Schokolade an (»schmeckt auch nicht viel anders als bei uns«). Frau Kuhn hingegen spricht mit großer Selbstsicherheit, räumt mit wenigen Worten mit den Zweifeln ihres Mannes auf, ob Süßigkeiten aus der DDR noch heute hergestellt werden (»Werden sie«), und widerspricht seinem Schokoladen-Urteil mit Nachdruck. Sie eignet sich die Ausstellung über das Herstellen persönlicher Bezüge an, wie sie in Kapitel 7.5 unter der Überschrift Die Ausstellung als Erinnerungsanlass noch erläutert werden. »Das war noch einmal Kind sein«, fasst Frau Kuhn ihren Besuch des Museums zusammen.56 Doch auch für ihren Mann bot das DDRMuseum offenbar Erinnerungsanlässe, die allerdings anders gelagert sind. So berichtet Herr Kuhn gegen Ende des Interviews etwa von erlebten Fahrzeugkontrollen auf der Transitstrecke nach Westberlin und von »NVA-Soldaten an jeder Kuppe mit ihrem Fernglas, ob man angeschnallt ist oder nicht. Und dann wurde man auch schonmal rausgewunken […]. Da war man schon froh, wenn man dann in Westberlin oder nachher halt wieder im Westen war.« Diese klassischen Topoi des Diktaturgedächtnisses (Überwachung, Grenze, Willkür) spielen im Interview allerdings kaum eine Rolle und Herr Kuhn benennt auch weder ein Exponat noch einen Themenbereich, mit dem er diese Erinnerung verknüpft.57 Warum dreht sich das Gespräch also fast ausschließlich um Alltagsgegenstände und Konsumartikel aus der DDR und nicht um Themen wie Grenze und Überwachung? Ich denke, dass sich dies vor allem mit den wechselseitigen Rollenzuschreibungen meiner Gesprächspartner*innen erklären lässt: Da beide Frau Kuhn in der Rolle der Expertin für DDR-Geschichte sehen, ist sie es, die den Modus der Ausstellungsaneignung inklusive entsprechender Themensetzung maßgeblich bestimmt. Vergleichen wir dieses Gespräch nun mit einem Interview, das ich im Sommer 2020 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig mit vergleichbarer Personenkonstellation geführt habe: Frau Haag, Mitte 50, aus Leipzig, hatte die Ausstellung mit einem etwa zehn Jahre älteren Freund aus Niedersachsen, Herrn Ludwig, besucht. Beide waren für einen gemeinsamen Tagesausflug in Frau Haags Geburtsstadt gereist und hatten das ZFL von ihrer noch in Leipzig wohnenden Schwester empfohlen bekommen. Zu Beginn des Gesprächs äußerte Frau Haag eine ähnliche Besuchsmotivation wie Frau Kuhn im DDR-Museum: Sie habe ihrem Freund einmal Leipzig zeigen wollen und beide seien dann auf ihre Initiative hin ins Museum gegangen. Sie habe nochmal sehen wollen »wie das mal früher so gewesen ist«. »Ja, für dich waren’s ja viele noch Erinnerungen, nicht? Ich meine, du bist ja in dem Alter, wo du alles miterlebt hast, ne?«, äußerte sich ihr Begleiter zustimmend. »Und das jetzt dann nochmal so zu sehen und das auch so zu lesen […], da kommt schon so einiges wieder hoch
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7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
einfach, ne?«, so Frau Haag.58 Was kam nun für Frau Haag im ZFL »wieder hoch«? Schauen wir uns dafür zunächst den weiteren Verlauf des Gesprächs an: Herr Ludwig: Ich mein, es ist schon eine große Portion Volksverdummung. Aber gut, die haben wir ja in unserer Geschichte schon des Öfteren mal gehabt. Interviewer: An was denken Sie da speziell? Herr Ludwig: So ja nun, dieses ganze den Leuten da ein X für ein U vormachen, nicht? Also das praktisch volkseigen – Frau Haag: Das ist ja auch so: Wir sind ja so erzogen worden einfach. Erstens mal wussten wir’s nicht anders [Interviewer: Mhm]. Oder mit diesen ganzen […], was weiß ich, 40 Jahre DDR, der Aufmarsch oder die Eröffnung von dem […] Gewandhaus. Wir mussten dahin, als Kinder, wir hatten da gar keine Wahl! [Interviewer: Mhm] […] Und wer da nicht hingegangen ist, der wurde dann irgendwie bestraft […]. Herr Ludwig: Kann man sich gar nicht vorstellen, ne? […] Das behauptet man ja so aus der Zeit des Dritten Reiches und mein Vater hat ja wohl die Zeit miterlebt und der sagt, das war also nicht so [Interviewer: Mhm]. Da wurde keiner gezwungen. Und wenn es hier tatsächlich so war, dass ihr gezwungen worden seid – Frau Haag: Ja, das war – Herr Ludwig: – dann ist es schon schlimm genug. […] Herr Ludwig: Naja und dann auch so dieses Spionieren, nicht? Man traute sich wohl kaum, die Wahrheit zu sagen, ne? Frau Haag: Ja, man hat gekuscht, einfach, ne? Herr Ludwig: Mann musste ja in jedem wohl – also ich weiß es ja auch nur vom Erzählen [Interviewer: Mhm]. Ich hab also nach der Wende gleich Freunde hier in Eisleben kennengelernt, bin ich heute noch sehr gut mit befreundet. Aber wenn die so erzählt haben: »Du konntest gar nicht mal irgendwo… Du musstest ja immer Angst haben, dass da irgendwo einer steht, der dich dann angeschwärzt hat.« [Frau Haag, Interviewer: Mhm] Aber das kann’s ja nicht sein. Und da können wir alle froh sein, dass dem ein Ende gemacht worden ist.59
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Die Themensetzung in diesem Gesprächsausschnitt erscheint eindeutig: Propaganda, Repression, Überwachung, Bespitzelung. Allerdings ist es zunächst Herr Ludwig, der diese Themen setzt. Dabei zeigt sich eine Rollenverteilung, die sich bezüglich Redeanteilen und Geschlechterverhältnis analog zu der zwischen Frau und Herrn Kuhn im DDR-Museum verhält, ihr in einem wichtigen Punkt jedoch entgegengesetzt ist: Im Gegensatz zu Frau Kuhn wird Frau Haag durch ihre Herkunft nicht zur Expertin für DDR-Geschichte, ihre Herkunft steht dieser Rolle im Gespräch vielmehr im Weg. Frau Haag übernimmt die allgemeinen Aussagen ihres Begleiters über »Volksverdummung« und »den Leuten ein X für ein U vormachen« und bezieht sie auf ihre eigene Lebensgeschichte: Man sei eben »so erzogen worden«, man habe es nicht anders gewusst. Als davon nicht betroffener Westdeutscher kann Herr Ludwig die Expertenrolle somit leicht für sich reklamieren. Ganz im Sinne der klassischen Totalitarismustheorie verortet sich Herr Ludwig in Äquidistanz zwischen den »beiden deutschen Diktaturen«, wodurch er die Rolle eines unbeteiligten, gleichwohl wissenden Beobachters für sich zu reklamieren vermag. Zu deren Beglaubigung kann er auf mehrere Erfahrungsberichte aus erster Hand zurückgreifen: Da ist zum einen sein Vater, von dem er wisse, dass im Nationalsozialismus »keiner gezwungen« worden sei – und zum anderen seine »Freunde hier in Eisleben«, die Herrn Ludwigs Wissen von der umfassenden Überwachung in der DDR – das er »ja auch nur vom Erzählen habe« – bestätigen könnten. Doch als ich nachfrage, ob meinen beiden Interviewpartner*innen noch mehr aus der Ausstellung im Gedächtnis geblieben sei, ändert sich auf einmal die Gesprächsdynamik. Frau Haag antwortet: Ja, was es noch so Schönes gibt heute nach 30 Jahren, ne? Zum Beispiel die Nivea-Creme. [Interviewer: Mhm.] Oder andere Produkte, ne? Was hab ich noch… Rondo-Kaffee hab ich noch gesagt. Herr Ludwig (gleichzeitig): Achso, ja, sagte sie dann, ne? Ja, Produkte, die also heute noch unter dem Logo weiterlaufen, ne? Frau Haag (gleichzeitig): Genau, Bambini-Schokolade, ne? [Interviewer: Ah ja. Herr Ludwig: Mhm.] Und das find ich halt auch schön, dass nicht alles verloren gegangen ist. Oder der Bautzener Senf zum Beispiel. [Interviewer: Mhm.] Oder gibt ja noch so ganz viele andere Sachen, ne? […] Die es heute ja Gott sei Dank auch noch gibt. [Interviewer: Mhm.] Also ich find’s toll, dass es das noch gibt, ne? Dass dann auch die Menschen das auch kaufen dann halt nach wie vor, ne? Nicht, dass da alle Leute jetzt »Ja, ouh, der Westen« und so, aber… Fand ich gut, dass es noch so viele Produkte halt eben noch gibt.60
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7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Frau Haags Antworten sind hier plötzlich kaum noch von denen der Frau Kuhn im DDR-Museum zu unterscheiden. Sie schildert eine Entdeckungsreise zurück in ihre Kindheit, die nun eindeutig positiv konnotiert ist (»was es noch so Schönes gibt«). In ihrer Freude über ostdeutsche Produkte, die sich gegenüber der westdeutschen Konkurrenz behaupten konnten, kommt zudem eine Art trotziger Selbstbehauptung (»Ja, ouh, der Westen«) zum Ausdruck, die dazu geneigt ist, die bisherige Rollenverteilung im Gespräch infrage zu stellen. Dennoch läuft die Rollenaushandlung im Interview keineswegs konflikthaft ab. Stattdessen lässt sich hier der klassische Fall einer (unbewussten) Kommunikationsstrategie erkennen, »die unterschiedliche Lesarten parallel bestehen lassen kann.«61 Zwischen Frau Haag und Herrn Ludwig (wie auch zwischen Herrn und Frau Kuhn im DDR-Museum) entwickelt sich sehr schnell ein gemeinsamer Erzählmodus, in dem sich beide gegenseitig ergänzen und die jeweiligen Rollenzuschreibungen antizipieren. Die DDR kann dabei zugleich totalitärer Überwachungsstaat und Hort wohliger Kindheitserinnerungen sein, ohne dass diese beiden Lesarten in expliziten Widerspruch zueinander geraten müssen. Die unterschiedlichen Geschichtsbilder und deren Artikulationen durch die Gesprächspartner*innen im Interview führen hier »gerade nicht zu Konflikten, sondern zu kommunikativen Lösungen, die für alle Beteiligten das Gefühl zulassen, man habe gemeinsam über dasselbe gesprochen.«62 Beispiele für diese »kommunikativen Lösungen«, die veranschaulichen, wie auch ich als Interviewer in diesen Aushandlungsprozess involviert bin, sind hier etwa inkludierende Werturteilen (»da können wir alle froh sein«, »kann man sich gar nicht vorstellen«), aber auch das Wechselspiel von Zustimmung einfordernden Fragewörtern (»ne?«, »nicht?«) und meinen Reaktionen darauf.
7.3 »Ein richtiger Eye-Opener«. Orientieren und Vergleichen in Ausstellungen »In Erinnerung bleibt mir nach dem Museumsbesuch … Das jeder Mensch seine ganz eigene Geschichte hat, heute und damals. Wie die Leute leben mussten, und in wie guten Umständen wir heute Leben können.«63 Im Frühjahr 2019 interviewte ich die beiden in Hamburg wohnenden Herrn und Frau Bok (beide um die 40 Jahre alt) im Berliner DDR-Museum. Nach dem Grund ihres Besuchs gefragt, antwortete Herr Bok: 61 62 63
Jensen; Welzer: Ein Wort gibt das andere. Ebd. Antwort auf einer mit »In Erinnerung bleibt mir nach dem Museumsbesuch…« bedruckten Karte am Ende der Ausstellung. DDR-Museum Pforzheim: Dauerausstellung (2015), Raum 8 (Besuch: 15.08.2021).
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DDR im Museum
Wir haben verschiedene ostdeutsche Nachbarn und Freunde und Bekannte und die erzählen ab und zu mal etwas über der DDR. Und dann haben wir entdeckt, dass wir eigentlich relativ wenig wissen über diese ganz junge Geschichte. Und auch haben wir entdeckt, dass es viel mehr Interesse in die Schutz der Daten hat hier in Deutschland als in den Niederlanden zu Beispiel, weil die Historie hier auf Datenschutz ganz andere Hintergründe hat. Und wir sind zwar leicht informiert, aber nicht gut informiert über, warum diese Datenschutzrichtlinien so wichtig sind, lass mal so sagen. […] Ich wurde auch sofort wieder beängstigt auf manche Sachen, die jetzt passieren, zum Beispiel die Bau einer Mauer in Amerika oder die potenzielle Bau einer Mauer. Und auch die Großunternehmen, die mächtiger werden, dann einige Staaten und die auch selber bestimmen, wo die dann Steuergelder spendieren möchten. Finde ich alles sehr beängstigend, nochmal wieder im Nachhinein. Für mich war das Besuch ein richtiger Eye-Opener.64 Was mein Gesprächspartner hier über seine Rezeption des Berliner DDR-Museums berichtet, kommt idealtypischen geschichtsdidaktischen Vorstellungen von Lernprozessen in historischen Ausstellungen sehr nahe. Seine Schilderung lässt sich sogar recht problemlos anhand des von Wolfgang Hasberg und Andreas Körber entwickelten Prozessmodells historischen Denkens schematisieren. Am Anfang stehen die Verwunderung über deutsche Datenschutzrichtlinien und das Gefühl, sich mit der jüngeren deutschen Geschichte nur unzureichend auszukennen (»Zeitliches Orientierungsproblem«). Herr Bok fragt sich also, warum Datenschutz in Deutschland anscheinend so großgeschrieben wird (»Historische Frage«) und besucht das DDR-Museum (»Zuwendung zu Vergangenheit/ Geschichte«). Seine Lesart der Ausstellung (»De-Konstruktion«) folgt im Wesentlichen der Vorzugslesart des Museums: Im Verlauf des Interviews betont Herr Bok, ihm sei »nochmal ganz klar geworden, dass es gar kein Gleichberechtigung gab, auch nicht in der DDR«, dass es starke politische Repressionen und kaum individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gegeben habe, dass die Wirtschaft ineffizient und das System insgesamt »ganz weit entfernt von diesem [kommunistischen] Ideal« gewesen sei.65 Hiervon ausgehend erfolgt eine »Re-Konstruktion« des Ausstellungsnarrativs, die mit zahlreichen Gegenwartsbezügen operiert: Die »Mauer in Amerika« wird implizit mit der Berliner Mauer verglichen; Großunternehmen und Staaten seien – analog zu den von ihm wahrgenommenen Verhältnissen in der DDR – heute erneut gesellschaftlicher Kontrolle entzogen und würden individuelle Freiheiten gefährden. Herr Bok sei daher »auch sofort wieder beängstigt« und das Museum für ihn »ein richtiger Eye-Opener« gewesen (»Orientierung/Motivation«, »Versicherung/Verunsicherung«).
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Interview 10, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Interview 10, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Prozessmodell historischen Denkens nach Hasberg und Körber.66
Neben Herrn Bok gaben immerhin rund ein Fünftel der von mir interviewten Besucher*innen an, dass ihre Motivation, etwas über die Geschichte der DDR zu lernen, sie in die Ausstellung geführt habe.67 Für die lernorientierte Besucher*innenforschung ist dies zunächst einmal ein recht erfreulicher Befund. Und mit Herrn Bok haben wir einen Besucher vor uns, dessen Aussagen sich wunderbar zur Validierung eines geschichtsdidaktischen Modells eignen. Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen und nach dem konkreten Modus der historischen Sinnbildung in diesem Interview fragen. Denn die Ausstellungsmedien erzählen für Herrn Bok offensichtlich nicht nur etwas über die Vergangenheit, sondern auch und vor allem etwas über die Gegenwart. Sie fungieren als Orientierungspunkte für aktuelle Fragestellungen und es lässt sich unschwer erkennen, dass der Prozess historischer Sinnbildung hier in seiner Struktur dem von Jörn Rüsen beschriebenen Modus des »exemplarischen Erzählens« folgt, bei dem die Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens«68 in Erscheinung tritt: »Vergangene Geschehnisse werden daraufhin in einen bedeutungsverleihenden Blick genommen, was sich von ihnen über menschliches Handeln, seine Absichten und Folgen als allgemeine Regel lernen oder einsich-
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Hasberg, Wolfgang & Körber, Andreas: Geschichtsbewusstsein dynamisch, in: Körber, Andreas (Hg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2003, S. 177–200, hier: S. 187. Ich habe unter dem Begriff Lernen verschiedene Codierungen zusammengefasst – wörtlich fiel der Begriff in meinen Interviews deutlich seltener. Cicero, Marcus Tullius: De oratore, zit.n.: Rüsen, Jörn: Historische Sinnbildung. Grundlagen, Formen, Entwicklungen, Wiesbaden 2021, S. 77.
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DDR im Museum
tig machen lässt«, so Rüsen.69 Anders gesagt: Vergangenheit und Gegenwart verhalten sich isomorph zueinander, sodass sich handlungsleitende Prinzipien aus der Vergangenheit auf die Gegenwart übertragen lassen und umgekehrt. Der Historiker Jakob Krameritsch bezeichnet »das Interesse an Kontinuität und Universalität« als charakteristisch für diesen Erzählmodus.70 Dementsprechend leicht fällt es Herrn Bok, Verbindungen zwischen starren Planvorgaben in der DDR und übermächtigen Großunternehmen im gegenwärtigen Kapitalismus (beide beschränken die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums) oder zwischen der Berliner Mauer und der US-amerikanischen zu Mexiko zu ziehen. Denn die partikularen historischen Kontexte, Zwecke usw. der beiden Mauern sind zweitrangig gegenüber dem (nicht explizit geäußerten) universalen Grundsatz, dass Menschen sich frei bewegen können sollen. Mutato nomine de te fabula narratur (Mit verändertem Namen erzählt die Geschichte von dir) ist das Leitprinzip dieser Art der Geschichtsaneignung.71 Aber aus der Perspektive einer lernorientierten Besucher*innenforschung hat eine solche Sinnbildung natürlich einen Haken: De-Konstruktion und Re-Konstruktion des Ausstellungsnarrativs (im Sinne des FUER-Modells) bzw. Codierung und Decodierung (nach Hall) der Ausstellung klaffen weit auseinander – wobei das »Problem« genau genommen nicht die Decodierung selbst ist, sondern die von ihr abgeleiteten Schlussfolgerungen. Denn wie wir gesehen haben, decodiert etwa Herr Bok die Ausstellung des Berliner DDR-Museums ja durchaus im Sinne von dessen Vorzugslesart. Er erkennt Überwachung, mangelnde Entfaltungsmöglichkeiten, ein rigides Grenzregime usw. als zentrale Topoi oder Botschaften der Ausstellung – zieht davon ausgehend jedoch Schlüsse, die fernab der Vermittlungsabsichten des Museums liegen dürften, wenn auch nicht unbedingt konträr zu ihnen. So dürfte die »Mauer in Amerika« (Herr Bok) dem DDR-Museum herzlich egal sein. Und ebenso wenig wird es die Absicht der Ausstellungsmacher*innen gewesen sein, die Macht kapitalistischer Großkonzerne mit den Auswirkungen einer sozialistischen Planwirtschaft zu vergleichen. Hieran lässt sich sehen, dass auch die Decodierung einer Ausstellung im Sinne ihrer Vorzugslesart nicht einfach mit einer Übernahme ihrer Botschaften gleichzusetzen ist. Herrn Boks Ausstellungslesart ist zweifellos eine hegemoniale, doch sie ist zugleich auch eigensinnig72 und geht in dieser Hinsicht nicht im hallschen Kommunikationsmodell auf. Entscheidend hierfür ist die Herstellung von Gegenwarts69 70
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Ebd., S. 77. Krameritsch, Jakob: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, in: Zeithistorische Forschungen (06/2009), URL: https://www.zeithistorische-forschunge n.de/3-2009/4566 (letzter Zugriff: 23.11.2021), S. 413–432. Horaz: Satiren. Buch 1, Erste Satire, Vers 69–70. Zit. nach: https://www.projekt-gutenberg.or g/horaz/satiren/saho1011.html (letzter Zugriff: 23.11.2021). Zur Bedeutung des Eigensinn-Begriffs für die Analyse von Ausstellungsaneignungen vgl. Kapitel 7.5.1.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
und Lebensweltbezügen, die sich in Form von Rüsens exemplarischem Erzählen bei der Ausstellungsaneignung immer wieder beobachten lässt – so etwa in dem bereits zitierten Interview mit Frau Ohlberg und Frau Zander im ZFL, denen die Thematisierung von Flucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkriegs als Orientierungspunkt für den gegenwärtigen Umgang der BRD mit Geflüchteten diente.73 Frau Ohlberg fand den ausgestellten »Flüchtlingswagen tatsächlich sehr berührend«, »weil das einfach so aktuell ist, ne? Deutschland hat halt auch so eine Geschichte.« Um »in der Zukunft vor allem positiv […] handeln zu können, muss man die Geschichte kennen und verstehen können«, war für ihre Begleitung Frau Zander daher die zentrale Botschaft der Ausstellung.74 Ein anderer Besucher des ZFL gab an, »so Sachen wie Staatssicherheit und so […] halt mega interessant« zu finden, »weil’s ja auch irgendwo realitätsrelevant ist wieder momentan.«75 Auch hier werden die spezifischen historischen Kontexte der jeweiligen Ausstellungsthematik (Flucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkriegs, Überwachung in der DDR) transzendiert und die aus ihr abgeleiteten Schlussfolgerungen zu allgemeinen Prinzipien erhoben. Mit Rüsen gesprochen: Sinn entsteht in den Erzählungen der zitierten Besucher*innen durch die Konstruktion von Geschichte als »Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender Normen«. Der exemplarische Erzählmodus »bringt Identität durch Generalisierung verschiedener Zeiterfahrungen zu Handlungsregeln […] zur Geltung.«76 Es ist anzunehmen, dass insbesondere museale Fortschritts- und Befreiungserzählungen – wie etwa im ZFL oder im DDR-Museum Pforzheim – diese Form der historischen Sinnbildung begünstigen. Im Interviewmaterial lassen sich für diese Hypothese klare Indizien finden. Dabei ist allerdings anzumerken, dass die von mir durchgeführten Besucher*innennbefragungen eine viel zu kleine Stichprobe darstellen, um hierüber wirklich belastbare Aussagen treffen zu können. Die folgende Analyse ist daher auch eher als eine erste Kartierung des Problemfeldes denn als seine umfassende Aufschlüsselung zu verstehen. Eine zentrale Frage, die sich bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Ausstellungsnarration und historischer Sinnbildung ergibt, möchte ich im Folgenden anhand dreier Interviewauszüge veranschaulichen. Nach einem möglichen Gesamtnarrativ der Ausstellung gefragt, erklärte etwa der 58-jährige Schweizer Herr Vogel im ZFL: Also die Botschaft ist glaub ich klar: Wie Menschen nach Freiheit sich gesehnt haben und unterdrück worden sind […] Und Aufbruch ist sicher auch rübergekom-
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Vgl. Interview 1, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. S. auch Kapitel 2. Ebd. Herr Schenk, Interview 4, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Rüsen, Jörn: Historisches Erzählen, in: Bergmann, Klaus et al. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 1997, S. 57–63, hier: S. 60.
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men [….]. Am Schluss schon auch die Verantwortung: Was wir heute aus unserer Freiheit machen.77 Einen solchen Gegenwartsbezug stellte auch der Mitte 50-jährige Pforzheimer Herr Schubert im DDR-Museum Pforzheim heraus, welches er als »ein Museum der Demokratie« wahrgenommen habe. »So hab ich’s also tatsächlich jetzt empfunden. Dass man bewusst wird, was einem eigentlich nicht bewusst war, wie gut es uns eigentlich geht, dass wir wählen dürfen, und, und, und, und.«78 Ganz im Sinne des exemplarischen Erzählens wird in beiden Zitaten ein transhistorischer Wert (einmal Freiheit, einmal Demokratie) konstruiert, aus dem sich Handlungsmaximen für die Gegenwart ableiten (Verantwortung, Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte). Das Resultat der historischen Sinnbildung, welches sich hier zeigt, kann in zwei Richtungen interpretiert werden: Einerseits legt es eine Lesart des Museumsbesuchs als ein aktivierendes (geradezu empowerndes) Ereignis nahe, welches zur Förderung gesellschaftspolitischen Engagements beitragen kann – und dem DDR-Museum Pforzheim geht es ja laut Selbstdarstellung genau um die Frage, »wie wir uns aktiv für Menschenrechte und Demokratie in unserer Gesellschaft einsetzen können.«79 Andererseits kommt man nicht umhin, in beiden Zitaten ein befriedendes Moment auszumachen, welches die bestehende Ordnung affirmiert: Die Ausstellungen zeigen, »wie gut es uns eigentlich geht«, wie frei wir sind und zeichnen die DDR als den (im ZFL wortwörtlich) dunklen Gegenpart zur BRD.80 In diesem Zusammenhang sei noch einmal an die Sprechblasen im DDR-Museum Pforzheim erinnert, welche die Diskrepanz zwischen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den rechtlichen Zuständen in der DDR offenlegen sollen: »Was könntest Du tun, wenn Dir der Staat Dein Eigentum wegnehmen will?« »Wie würdest Du reagieren, wenn Dir der Staat vorschreibt, was Du glauben und denken sollst?« »Wie würdest Du reagieren, wenn Dir der Staat vorschreiben würde, wo Du leben musst und wohin Du reisen darfst?«81 Regen diese Fragen zum Nachdenken über gesellschaftliche Zustände und politisches Engagement an? Oder versichert die Formulierung der Fragen im Konjunktiv den Besucher*innen, in einem Gemeinwesen zu leben, in dem sie sich mit derlei Fragen glücklicherweise nicht mehr beschäftigen müssen?82 Was ist die Botschaft, die Besucher*innen von 77 78 79 80
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Interview 2, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Interview 3, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. DDR-Museum Pforzheim: Dauerausstellung (2015), Raum 1 (Besuch: 29.08.2021). Vgl. die Ausstellungsanalyse zum ZFL in Kapitel 3.5. Die Farbgebung der Ausstellung changiert für die ersten Jahrzehnte der DDR zwischen Senfgelb- und Grautönen, nähert sich in den achtziger Jahren einer völligen Schwärze an und endet mit Wiedervereinigungs-Weiß im gut beleuchteten letzten Raum. DDR-Museum Pforzheim: Dauerausstellung (2015), Raum 2, 3 und 6. Abgesehen davon sagen die Fragen auch viel über die »imaginierten Besucher*innen« (Macdonald) des Museums aus – also darüber, welches Bild sich das Museum von seinen idealty-
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
einer derart gestalteten Ausstellung mitnehmen? »Ich hätt’s jetzt eigentlich als Erinnerung gesagt«, antwortete mir die Mitte 40-jährige Frau Krüger aus Pforzheim im dortigen Museum auf genau diese Frage. »Also nicht, dass es jetzt irgendwie diesen politischen Weg, weil den sehe ich jetzt eigentlich nicht. [Interviewer: Mhm] So erinnern oder nicht vergessen. [Interviewer: Ja] So hätte ich’s jetzt…« Für Frau Krügers Begleiter Herrn Schäfer hatte die Ausstellung hingegen dezidiert politische Fragen aufgeworfen: Ich hab da jetzt grade unten [im Kellerflur] so ein Foto gemacht. […] Und da stand was drauf? Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht. Ah, gucken Sie selber. Von Rosa Luxemburg […] Das fand ich jetzt schon irgendwie zum Nachdenken, ja? Also ich… Man fragt sich dann vielleicht auch, bin jetzt 52: Wie hätte ich mich verhalten zur damaligen Zeit? Wie systemkonform läuft man irgendeiner Ideologie – nicht negativ – Ideologie hinterher und macht politisches Denken oder anders Denken doch auch Sinn, ja? […] Haben wir ja in heutiger Zeit auch wieder solche Diskussionen, wo man sich fragt: Okay, es gibt ein paar Dinge, die macht man einfach, weil man denkt: Okay, ich finde das jetzt ganz in Ordnung, aber es gibt halt immer auch Dinge, wo man sagt: Ich glaube, wenn ich mutiger wäre, würde ich jetzt dann auch hinstehen und sagen: Find ich jetzt mal gar nicht gut. [Interviewer: Mhm] Und sich dann vielleicht mehr organisieren. Und das hatten die Bürger von damals schon… Denn wenn es diese Aufstände, in Anführungszeichen, nicht gegeben hätte – wer weiß, wie die Entwicklung sich dann… Also das fand ich jetzt schon nochmal zum Nachdenken.83 Die divergierenden Antworten Frau Krügers und ihres Begleiters entsprechen im Wesentlichen den zwei geschilderten gegensätzlichen Effekten, die von pädagogischen Stilmitteln wie den Sprechblasen im DDR-Museum Pforzheim erwartet werden können. Frau Krügers Formulierung »erinnern oder nicht vergessen« deutet darauf hin, dass es ihr nicht um eine Bewahrung positiv konnotierter Alltagserinnerungen geht, steht doch der Imperativ des Nicht-Vergessens für gewöhnlich mit vergangenem Unrecht in Verbindung, dessen Vergegenwärtigung als Mahnung dienen soll – als Mahnung, nicht als Impuls für politisches Engagement, denn das Unrecht ist schließlich überwunden. Wohl auch deshalb sieht Frau Krüger »jetzt irgendwie diesen politischen Weg […] eigentlich nicht«. Ihre Wortwahl weist zudem eine auffallende Ähnlichkeit mit der Selbstdarstellung des Museums auf, das schließlich vom Verein gegen das Vergessen getragen wird. Demgegenüber lässt sich an Herrn Schäfers Antwort einmal mehr die Logik der exemplarischen Sinnbildung
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pischen Besucher*innen macht. Und dieses Bild ist offenkundig eines des klassischen Liberalismus, in dem die Menschen besitzend, individualisiert, mit staatsbürgerlichen Rechten ausgestattet und nicht von staatlicher Gewalt betroffen sind. Interview 5, DDR-Museum Pforzheim, 30.08.2021.
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veranschaulichen. In seiner Antwort fließen drei bis vier Zeitebenen ineinander: Einmal die Zeit der »Aufstände, in Anführungsstrichen« – womit sowohl der 17. Juni 1953 als auch der Herbst 1989 (auf letzteren deuten die Anführungsstriche hin) gemeint sein könnten –, dann die Zeit des vermeintlichen Luxemburg-Zitats84 und schließlich die Gegenwart, in der es ja auch wieder Anlass zum Einsatz gegen (nicht näher spezifizierte) Zustände gebe. Die Betrachtung der Vergangenheit dient dabei dazu, die Möglichkeiten eigenständigen politischen Denkens und Handelns innerhalb systemischer Zwänge abzuwägen. An den oben zitierten Beispielen zeigt sich insgesamt, wie sich der exemplarische Sinnbildungsmodus zwecks historischer Orientierung auf die Autorität des Museums stützt. Zugleich legen sie die Komplexität dieses Sinnbildungsprozesses offen, der wohl nur in den seltensten Fällen auf eine einfache Übernahme der rezipierten Ausstellungsnarrative hinausläuft – zumal diese Narrative ja selbst in ihrer Bedeutung nie völlig vereindeutigt werden können und immer Spielraum für unterschiedliche Decodierungen lassen, wie die Analyse des Interviews mit Frau Krüger und Herrn Schäfer im Pforzheimer DDR-Museum noch einmal gezeigt hat. Wenden wir uns nun einem Phänomen zu, dass mit der exemplarischen Sinnbildung einige Überschneidungen aufweist, jedoch deutlich unabhängiger von der musealen Präsentationsform und den durch sie codierten Botschaften zu sein scheint. Wie bei Ausstellungen über die DDR zu erwarten ist, waren historische Vergleiche ein wiederkehrendes Motiv in den von mir geführten Interviews. Im Folgenden möchte ich daher einen Blick darauf werfen, wie, womit und wozu die DDR von Ausstellungsbesucher*innen als Vergleichsfolie herangezogen wird. Die vorangegangenen Kapitel haben bereits gezeigt, dass die Geschichte der DDR in den untersuchten Museen meist in (impliziter) Kontrastierung zu zeitgleichen Zuständen in der BRD oder in Form einer teleologischen Befreiungsgeschichte mit der heutigen BRD als glücklichem Ende erzählt wird. Vergleiche erfolgen dabei in der Regel über Gegensätze wie Mangel- und Konsumgesellschaft, ineffiziente Planund fortschrittliche Marktwirtschaft, Konformismus und Individualität, Diktatur
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Im Wortlaut stammt dieses Zitat nicht von Rosa Luxemburg, sondern wurde ihr nachträglich zugeschrieben. Am nächsten kommt ihm wohl noch eine Formulierung aus Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in der Luxemburg sich mit dem Verlauf der Russischen Revolution von 1905 auseinandersetzt. Dort heißt es: »Der plötzlich durch den elektrischen Schlag einer politischen Aktion wachgerüttelte Arbeiter greift im nächsten Augenblick vor allem zu dem Nächstliegenden: zur Abwehr gegen sein ökonomisches Sklavenverhältnis; die stürmische Geste des politischen Kampfes läßt ihn plötzlich mit ungeahnter Intensität die Schwere und den Druck seiner ökonomischen Ketten fühlen.« Luxemburg, Rosa: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Zit. nach: Gesammelte Werke Band 2, Berlin (DDR) 1986, 93–170. Ungeachtet der fragwürdigen Zuordnung führten 1988 auch DDR-Oppositionelle bei einer Protestaktion auf der jährlichen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Ost-Berlin ein Banner mit dem »Zitat« bei sich.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
und Demokratie. Darüber hinaus lassen sich bisweilen auch Parallelisierungen von DDR- und NS-Geschichte im Sinne der Totalitarismustheorie feststellen, insbesondere im ZFL. Wie wir sehen werden, sind die Vergleichsfolien (alte und neue BRD, Nationalsozialismus) im Interviewmaterial im Wesentlichen die gleichen, während sowohl die thematische Ausgestaltung der Vergleiche als auch ihre Zwecke zum Teil deutlich von denen der jeweiligen Ausstellungsnarrative abweichen. Dabei korrespondieren auf Seiten der Besucher*innen bestimmte Themen deutlich stärker mit dieser oder jener Vergleichsfolie, als dies in den Ausstellungen selbst der Fall ist. Und sowohl Thematik als auch Referenzpunkt und Zweck des Vergleichs lassen sich recht eindeutig anhand von Halls Lesarten-Typologie strukturieren: Besucher*innen, die einer dominant-hegemonialen Lesart der besuchten Ausstellung folgten, tendierten zu einem Vergleich der DDR mit dem Nationalsozialismus anhand der Themen Herrschaft und Unterdrückung. So war beispielsweise für den Anfang 60-jährigen Herrn Reuss aus der Nähe von Darmstadt die »DDR immer – das ist mir jetzt da auch wieder so in Erinnerung gekommen – ne Diktatur, bloß von der anderen Seite; also nicht von rechts halt da, sondern von links.«85 Ähnlich äußerte sich Herr Thoma aus Österreich im Museum in der Kulturbrauerei, als er auf die dortige Darstellung des Systems der Arbeitsbrigaden zu sprechen kam. Als »eine Erweiterung der Familie oder des Umfelds« seien diese »natürlich für manche sehr wichtig« gewesen, hätten aber gleichzeitig den »Tod jeglicher Individualität« bedeutet: »Von der Wiege bis zur Bahre stramm deutsch oder stramm sozialistisch – und das halt in unterschiedlichen Ausformungen. Auch faszinierend, also deswegen schaue ich mir das so gerne an […]. Also wenn man sieht, die kommen aus […] 12/13 Jahren Diktatur, waren eigentlich die Widerständigen und werden dann noch viel besser in eine Diktatur überführt, net? Das ist so […] die Tragödie der Geschichte«, so Herr Thoma.86 Anders gewichtete die Anfang 50-jährige Frau Lagno aus Hoyerswerda dieses Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Kollektivität bei ihrem Besuch im ZFL. Für sie war in der DDR »dieses Miteinander […] ein anderes und es war auch nicht alles schlecht. Also wenn sie jetzt sagen: »Ihr musstet alle Pionier sein« – wir haben das gerne gemacht.« Insbesondere vermisse sie heute »dieses Miteinander auf Arbeit«. Früher habe man sich gegenseitig unterstützt, aber »[w]enn ich heute einen Fehler hab, dann geht ne Kollegin zum Chef.«87 Fast wortgleich äußerten sich die beiden interviewten Besucher*innen aus Jena im Berliner DDR-Museum: »Heute kennt der eine den anderen nicht«, so Herr Bogner88 Und Frau Bogner er-
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Interview 9, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Eine ausführliche Analyse des Interviews mit Herrn und Frau Reuss bietet das folgende Kapitel. Interview 1, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. Interview 6, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2020. Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019.
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gänzte: »Heute denkt jeder nur an sich.« Verloren gegangen seien das »Zueinander« und die Arbeit im »Kollektiv« (Herr Bogner), woraufhin seine Begleiterin einwandte: »Heute wird’s ja eigentlich auch… Du sollst halt ein Team sein, ja. [Herr Bogner: Ja] Bei uns hieß es eben nur Kollektiv. Ich mein letzten Endes war’s nichts anderes. […] Und das Kollektiv war eben was Schlechtes und das Team ist eben was Gutes heutzutage. Das haben sie nochmal neu erfunden.«89 An diesem Gesprächsauszug möchte ich einige Aspekte des Vergleichens aufzeigen, die sich für Besucher*innen, die einer ausgehandelten bis oppositionellen Ausstellungslesart folgten, in meinem Interviewmaterial als charakteristisch erwiesen haben. Als erstes fällt auf, dass hier (wie in den meisten ähnlich gelagerten Fällen auch) nicht das nationalsozialistische Deutschland, sondern die BRD als Vergleichsfolie herangezogen wird. Und zwar nicht die BRD der Jahre 1949 bis 1989, sondern die heutige. Dies lässt sich zum einen mit der Herkunft der hier zitierten Personen erklären – sowohl das Ehepaar Bogner als auch Frau Lagno sind in der DDR aufgewachsen und haben eigene Erfahrungen mit der BRD daher vor allem in der Zeit nach der Wiedervereinigung gemacht. 1995 schrieb der Schriftsteller und Soziologe Michael Rutschky, dass »die DDR als Kultur, als Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft« überhaupt erst nach ihrem Untergang als Staat und in Abgrenzung zum kapitalistischen Westen entstanden sei. Dabei gehe es den Erzählenden in der Regel nicht um ein Zurückwünschen der DDR als System, sondern um Selbstbehauptung und Kritik an den neuen Verhältnissen.90 Rutschky beschreibt hier das, was Juliane Brauer unter dem Begriff »Identitätsgedächtnis« zusammengefasst hat. Dieses speise sich aus »Wut, Enttäuschung, Empörung«, aus »Arbeitslosigkeit, Desorientierung, Verlustgefühlen und Etikettierung des eigenen Lebens als ein Leben unter totalitären Bedingungen«. Der ökonomischen und geschichtskulturellen Deklassierung setze es »Praktiken und Erzählungen« entgegen, »in denen subjektive Erinnerungen und Erfahrungen einen Platz« haben. Das »Identitätsnarrativ« sei somit vor allem eine »Reaktion auf das Diktaturnarrativ«, wobei es vor allem um eine Verteidigung der eigenen Biografie und Lebenswelt und nicht um eine Bewertung der DDR als politisches System gehe.91 Die zeitliche Struktur des Vergleichs, wie ihn die eben zitierten Interviewten anstellen, resultiert aus eben dieser Intention: Herrn und Frau Bogner geht es erkennbar nicht um eine Abwägung, ob nun in der BRD oder der DDR das bessere System vorgeherrscht habe (und auch Frau Lagno sagt: »Aber zurück möcht ich die Zeit auch nicht mehr«), sondern vor allem um eine Kritik am hegemonialen DDRDiskurs, innerhalb dessen »das Kollektiv […] eben was Schlechtes und das Team […]
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Ebd. »Vom Kollektiv zum Team« heißt auch ein Kapitel in Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2010. Rutschky, Michael: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen, in: Merkur (558/559/1995), S. 851–864, hier: S. 856. Brauer: (K) Eine Frage der Gefühle?, S. 88.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
eben was Gutes ist«, wie Frau Bogner ironisch bemerkt. Ganz so schlecht kommt das Kollektiv im Berliner DDR-Museum dabei gar nicht weg. »Der Betrieb wurde oft zur zweiten Heimat. Gute Arbeit wurde auch gut bezahlt«, heißt es etwa im Bereichstext zum Thema Arbeit, der auch die Abwesenheit von Erwerbslosigkeit in der DDR hervorhebt. Allerdings ist der Text zum Teil in dem für das Museum charakteristischen »ironischen« Stil verfasst. Für Arbeiter*innen sei das »Kollektiv« auch deshalb wichtig gewesen, um gemeinsam den eigenen Arbeitsplatz beklauen und Prämien vertrinken zu können.92 Zudem befinden sich die Ausstellungsmedien zum Thema »Arbeit« unmittelbar neben dem Bereich »Bildung«, aus dem Frau und Herr Bogner im Interview vehement die Darstellung der sogenannten Töpfchendebatte kritisierten (der entsprechende Exponatstext trägt ausgerechnet den Titel »Kollektives Töpfchengehen«).93 Der Interviewverlauf legt somit nahe, dass Frau Bogners ironische Kritik zwar einerseits auf konkrete Ausstellungsmedien rekurriert, andererseits jedoch auch erkennbar von diesen abstrahiert: »Das haben sie nochmal neu erfunden« verweist auf eine unspezifische Macht, eher auf einen allgemeinen Diskurs als auf etwas konkret Gegebenes. Betrachten wir diese Motive – diachrone Vergleichsstruktur, Abstraktion von der besuchten Ausstellung, Kritik am hegemonialen DDR-Diskurs – noch einmal genauer. Der folgende Gesprächsauszug ist meinem Interview mit den bereits in Kapitel 6 ausgiebig zitierten Herrn und Frau Werneke im DOK Eisenhüttenstadt entnommen: Interviewer: Sie meinten ja am Anfang noch, dass so Architektur Ihr Hobby ist. Und gab’s da was in der Ausstellung, woran Sie sich erinnern können, was Sie interessiert hat? Herr Werneke: Naja, wie Eisenhüttenstadt entstand hier. Das war schonmal sehr interessant gewesen […], weil manchmal wird das abwertend so als Stalinbauten bezeichnet. […] Das hat nichts mit Stalin zu tun gehabt oder sonst irgendwas. Es war einfach mal aus der Zeit heraus ein bestimmter Baustil, der propagiert wurde, um aus den Mietskasernen herauszukommen, den Leuten vernünftige Wohnungen zu geben. […] Vorher mussten sie mit dem Eimer, mit einem Kohleneimer, Warmwasser machen. [unverständlich] Haben wir ja oben gesehen. So haben wir auch noch angefangen [Frau Werneke: Ja (lacht)], bevor wir unsere erste Neubauwohnung kriegten. […] Ja, soll man darüber schlecht urteilen? […] Ich kenne viele Leute, die würden ums Verrecken nicht mehr aus Marzahn ausziehen. […] Die fühlen sich dort wohl. Weil es wurde optimiert – nach Kosten und
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DDR-Museum Berlin: Dauerausstellung (2016), Raum »Öffentliches Leben« (Besuch: 29.06.2021). Vgl. zur Töpfchendebatte und deren Diskussion in zwei Interviews aus dem Berliner DDRMuseum Kapitel 7.4.
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es wurde aber auch optimiert nach Wohnung. Man sollte sich dort wohlfühlen. [Interviewer: Mhm] Und ich hab im Lauf der Zeit jetzt langsam auch, oder später dann, Häuser gesehen, die neu gebaut wurden, die das krasse Gegenteil davon waren. […] Viele, viele Bauten sind über meinen Schreibtisch gelaufen – ob das Lückenbauten waren in Kreuzberg oder in Neukölln oder anderswo. Da hat man dann mehr oder weniger sich in die Zeit um die Jahrhundertwende zurückversetzt gefühlt. Und das, was man bei uns […] verhindern wollte, das wurde jetzt neu gebaut – als Gewinnoptimierung. […] Und ich mein, ich hab den Unterschied gesehen. Ich meine, unsere Häuser sahen von außen zum Teil schlimm aus [Frau Werneke: Mhm] und innen drinnen haben die Leute versucht, so weit wie möglich was Vernünftiges draus zu machen. Ich kam das erste Mal nach Kreuzberg in so ein Haus, das sah von außen schick aus, richtig mit Stuck dran. Und ich bin reingekommen, da war das Klo noch auf der halben Treppe. […] Mich regt diese herablassende Art manchmal… Das ist… Regt mich auf, ja. Weil, wie gesagt: Und wenn man sich über bestimmte Sachen im Osten mockiert, dann sollte man erstmal vor der eigenen Tür kehren. […] Früher hat man, oder, wir haben die Innenhöfe entkernt. Was haben wir heute gemacht? Jetzt bauen wir Häuser rein. [Frau Werneke: Mhm] Wir bauen die Hinterhöfe wieder auf!94 In diesem Gesprächsauszug finden sich all die Motive wieder, die ich zuvor anhand des Interviews mit Frau und Herrn Bogner erörtert habe. Da wäre etwa Herrn Wernekes rhetorische Frage, ob man über den Wohnungsbau in der DDR »schlecht urteilen« solle, die überdies stark an Herrn Bogners Ausspruch im Berliner DDR-Museum erinnert, über »die Platte […] nichts irgendwie Böses sagen« zu können. Herrn Wernekes Frage ist also einerseits ein Anzeichen für seine Kenntnis des hegemonialen DDR-Diskurses und zugleich eine Kritik an diesem. Dabei fällt auf, dass ihr Bezugspunkt relativ unklar ist: Bezieht sich das »schlecht urteilen« auf die Neubauwohnungen selbst oder auf die beschwerliche Lebensweise vor deren Bezug? Ebenso unklar ist die Frage der »Stalinbauten«. Herr Werneke äußert sich nicht eindeutig dazu, ob diese auch im DOK »abwertend« dargestellt würden, wie es »manchmal« geschehe, oder ob die Darstellungsweise des Museums seiner eigenen Interpretation entspricht. Und wer waren die Leute, die in den »schlimm« aussehenden Häusern versucht haben, »so weit wie möglich was Vernünftiges draus zu machen«? Waren es ihre Bewohner*innen oder ihre Erbauer*innen? Diese Unklarheit zieht sich durch den gesamten Interviewauszug: Von der Frankfurter Allee springen wir ins östliche Marzahn, vom sozialistischen Klassizismus der fünfziger Jahre geht es abrupt in die industrielle Plattenbauweise der siebziger und achtziger Jahre. Man kann dieses Changieren natürlich als Ausdruck einer oberflächlichen Beschäftigung mit der
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Interview 4, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019.
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Ausstellung lesen. Gewonnen wäre dadurch allerdings nichts und wesentlich plausibler ist ohnehin die Annahme, dass es meinem Gesprächspartner einfach nicht um eine akkurate Schilderung der Ausstellung oder der Entwicklung des Wohnungsbaus in der DDR geht, sondern vielmehr um eine trotzige Erwiderung auf die »herablassende Art« des hegemonialen DDR-Diskurses. Dafür bedarf es weder einer detaillierten Bezugnahme auf die Ausstellung noch einer bis ins kleinste Detail ausdifferenzierten Erörterung der Wohnverhältnisse in der DDR und der BRD – es genügt die Illustration eines grundlegenden Gegensatzes: auf der einen Seite ein an sozialreformerischen Zielen und den Bedürfnissen der Menschen ausgerichteter Wohnungsbau, auf der anderen Seite ein profitorientierter, der diese Ziele konterkariert. Die Ausstellung dient hierbei lediglich als Impulsgeberin (ein Phänomen, mit dem sich vor allem 7.5 beschäftigt); von wesentlich größerer Bedeutung für die Erzählung ist Herrn Wernekes eigene Involviertheit in diesen Gegensatz. So ist eine übermäßige innerstädtische Verdichtung nicht »das, was man in der DDR verhindern wollte«, »sondern das, was man bei uns […] verhindern wollte«. Herr Werneke will sagen, »man« habe »die Innenhöfe entkernt«, korrigiert sich dann aber und sagt »wir haben die Innenhöfe entkernt.« Und wenn sie auch mit einer eindeutigen Distanzierung einhergeht, so bringt Herrn Werneke seine Involviertheit in den von ihm beschriebenen wohnungsbaupolitischen Gegensatz auf der anderen Seite doch auch sprachlich zum Ausdruck: »Was haben wir heute gemacht? Jetzt bauen wir Häuser rein. Wir bauen die Hinterhöfe wieder auf!« Hieran lässt sich erneut ablesen, wie »Gegenwart und Lebenswelt als potenzieller Ausgangs-, Ziel- oder Referenzpunkt« bei der Ausstellungsaneignung fungieren können.95 Konkreter geht es dabei um Fragen der Identitätsarbeit, also darum, wie eine Ausstellung dazu genutzt werden kann, aus kontingenten, chaotischen und widersprüchlichen Ereignis- und Handlungsabläufen konsistente Narrative über das eigene Selbst zu konstruieren. Diesem Fragenkomplex widme ich mich ausführlich in Kapitel 7.6. Betrachten wir abschließend noch eine dritte Art des Vergleichs, die häufig von Besucher*innen, die nicht in der DDR sozialisiert wurden und sich tendenziell an einer ausgehandelten Ausstellungslesart orientierten, getätigt wurde. Da diese Thematik im folgenden Kapitel noch einmal relevant sein wird, greife ich an dieser Stelle nur einige wenige Beispiele heraus: Mit »good, bad, both sides«, fasste etwa der Ende 60-jährige Herr Smerdon aus Kanada den »contrast between the East and the West« nach seinem Besuch des Museums in der Kulturbrauerei zusammen. Auf der einen Seite verbuchte er die bessere Versorgungslage mit Konsumgütern im Westen, auf der anderen das Sozialsystem im Osten (»the East was very good at integrating nursery schools and the social things into the workplace«), dessen Vorzügen man sich erst heute teils wieder annähere.96 »Man hat da den Vergleich, ne?«, 95 96
Thyroff: Facetten des Denkens. Interview 3, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019.
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erklärte Herr Kuhn, der uns im vorherigen Kapitel schon begegnet ist. Anhand der Ausstellung im Berliner DDR-Museum habe er abwägen können, »wie es bei uns war und ist und was da drüben – was gab’s da, wie haben die Menschen da gelebt […]. Wobei man jetzt sagen muss, diese Wohnung da [im Museum], diese DDR-Wohnung, die war jetzt kein großer Unterschied zu ner Westwohnung. Also ich mein, wir hatten auch Doppelstockbetten […], also das war schon ähnlich. Es war halt alles ein bisschen immer ein paar Jahre zurück, ne?«97 An diesem Zitat lässt sich noch einmal sehr eindrücklich das zentrale Charakteristikum der ausgehandelten Ausstellungslesart aufzeigen: Herr Kuhn folgt hier im Großen und Ganzen dem Ausstellungsnarrativ von der DDR als einem etwas hinterwäldlerischen Land des beständigen Mangels (»alles ein bisschen immer ein paar Jahre zurück«), weicht aber punktuell davon ab, wenn es seiner eigenen Erfahrung zuwiderläuft. Gerade die Formulierung, dass »man jetzt sagen muss«, dass die Wohnverhältnisse in der BRD ähnlich wie in der DDR waren – dass Herr Kuhn sich also genötigt sieht, hier etwas richtig zu stellen –, deutet darauf hin, dass er eine gewisse Ideologisierung des DDR-Diskurses konstatiert, von der allerdings nicht klar ist, ob er sie auch speziell dem Museum zuschreibt. All diese Aspekte finden sich auch in dem folgenden Zitat aus meinem Interview mit Herrn Howell aus Nordengland im Berliner DDR-Museum, der dort viele Gemeinsamkeiten mit seiner eigenen Kindheit feststellte: I’ve always taken with a little pinch of salt this idea »west good, east bad«. […] Obviously, politically, you had more freedom, but effectively we had no way of earning so much money that we could afford a car or buy a flat. We lived in rented houses, we didn’t go abroad, cause we couldn’t afford to, you know. Not because we were restricted, but because we couldn’t afford to. So a lot more similarities with my sort of seventies childhood than I thought there would be.98 Wie in den vorherigen Beispielen, bilden lebensweltliche Erfahrungen auch hier den Ausgangspunkt des Vergleichs meines Gesprächspartners. Und auch in diesem Fall ist die Kritik am hegemonialen Erinnerungsdiskurs deutlich zu erkennen. Herrn Howells »west good, east bad« gleicht Frau Bogners ironischer Bemerkung über den Unterschied von Team und Kollektiv, mit dem einzigen Unterschied, dass Herrn Howells Kritik nicht diachron, sondern synchron strukturiert ist – er muss das ihm präsentierte DDR-Bild nicht mit den gegenwärtigen Zuständen in England vergleichen, sondern kann dafür auf seine Kindheits- und Jugenderinnerungen aus den siebziger Jahren zurückgreifen und sich mit dem Gezeigten identifizieren:
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Interview 2, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Interview 3, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019.
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People who are my age were conscripts in the East German army or had to do the national service, were spied on by the Stasi. People my age had that problem. […] I think the idea is, yeah, like I say, we could look at that and say: That was, that was me in the north of England at that age in 1975.99 Ich fasse noch einmal zusammen: Fast alle der hier analysierten Vergleichsoperationen rekurrieren auf drei unterschiedliche Bezugsfelder: erstens auf eigene lebensweltliche Erfahrungen der Besucher*innen, zweitens auf die besuchte Ausstellung und drittens auf einen allgemeineren DDR-Erinnerungsdiskurs, wobei letztgenannte tendenziell zu einer Einheit verschwimmen. Das Museum erscheint dann lediglich als Repräsentant dieses als hegemonial wahrgenommenen Erinnerungsdiskurses, gegen den eigene Erfahrungen in Stellung gebracht werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Rolle, die dem Nationalsozialismus als Vergleichsfolie zukommt. Zur Illustration des vermeintlich totalitären Charakters der SED-Herrschaft wurde er ausschließlich von westdeutschen Interviewten herangezogen, während er in anderen Funktionen (etwa zur Betonung des antifaschistischen Anspruchs der DDR) überhaupt keine Rolle spielte.100 Wer dem im Museum präsentierten DDR-Bild (punktuell) widersprechen wollte, tat dies stattdessen mittels Bezugnahmen auf die frühere oder heutige BRD oder andere westliche Staaten. Dies hängt zum einen fraglos mit dem herausragenden Stellenwert der eigenen Lebenswelt für die Ausstellungsaneignung zusammen,101 andererseits aber auch mit der durch den Vergleich verfolgten Absicht: einer Kritik am heutigen geschichtskulturellen Umgang mit der DDR, häufig verbunden mit einer Inschutznahme der eigenen Biografie gegen diesen Umgang. Mit einer Verteidigung der DDR als System hat dies hingegen allenfalls am Rande zu tun. Einen weiteren Faktor, der für das Ziehen historischer Vergleiche (sowie für das Sprechen über Museen und Ausstellungen insgesamt) von entscheidender Bedeutung ist, habe ich bisher noch völlig außen vor gelassen, nämlich seinen sozial-situativen Kontext – d.h. die Besonderheiten des Interview-Settings, Gesprächsdynamiken zwischen den Interviewten und mir als Interviewer, unseren wechselseitigen Gesprächserwartungen usw. Das nun folgende Kapitel wendet sich daher diesem Themenkomplex zu.
99 Ebd. 100 Die einzige Ausnahme bildet ansatzweise mein Interview mit Frau und Herrn Kerner im DOK Eisenhüttenstadt, in dem Herr Kerner erzählte, dass in der DDR viele Jugendliche mit 15 Jahren ihren »Führerschein« gemacht hätten »oder Fahrerlaubnis hieß es« – woraufhin Frau Kerner scherzhaft ergänzte: »Und Führerschein deswegen nicht, den hatten wir abgeschafft, den Führer.« Interview 1, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. 101 Siehe hierzu insbesondere die Kapitel 7.5 und 7.6.
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7.4 »Aber es war schon so«. Eingangsnarrative und deren Bestätigung »Ich bin hir und finde es krass das es so auf die Kinder los ging das war auch sowas wie KINDERVERSCHISMUS«102 »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien«, heißt es bei Luhmann.103 Rein positivistisch betrachtet ist dieser Satz natürlich unwahr – gerade bezogen auf den DDR-Erinnerungsdiskurs, in dem mediales und biografisches Wissen bis heute häufig aneinandergeraten. Andererseits kann kaum bestritten werden, dass auch jegliches biografische Wissen über die DDR in hohem Maße medial überformt ist.104 Um noch einmal Michael Rutschky aufzugreifen: Die DDR existiert heute nicht nur als »Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft«, sondern auch und vielleicht stärker noch als Sehgemeinschaft. »Im Kontext kollektiver Erinnerungsprozesse übernehmen Fiktionen, die Zeitgeschichte narrativ aufgreifen, wichtige kulturelle Funktionen«, schreiben etwa die beiden Medienwissenschaftler Dominik Orth und Hans-Peter Preußer in Mauerschau – Die DDR als Film. »Die von entsprechenden Erzählungen tradierten Motive und Themen sind oftmals diskursbestimmend, wenn über die ehemalige Deutsche Demokratische Republik gesprochen und geschrieben wird […]. Das Bild der dramaturgisch erdachten Geschichte entwickelt sich mehr und mehr zu dem, was die nachrückenden Jahrgänge mit der Existenz einer ›DDR‹ verbinden wird. Es gerät zum Substitut des Realen.«105 Und tatsächlich existieren relativ eindeutige Konventionen und Erwartungen dazu, in welcher Form und über welche Topoi die DDR audiovisuell dargestellt werden soll.106 Dies gilt natürlich auch für Museen, 102 Besucher*in-Kommentar im Diskussionsheft »Krippenkinder. Vorbildliches Angebot oder Zwangserziehung?«, veröffentlicht am 06.12.2011 auf dem Facebook-Profil des DDR-Museums Berlin, URL: https://de-de.facebook.com/ddrmuseum/photos/a.10150437678748028/10 150437761298028 (letzter Zugriff: 11.11.2022). 103 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995, S. 5. 104 Und mit Luhmann ließe sich einwenden, dass die Gegenüberstellung von medialem und biografischem Wissen an sich unzulässig ist, da in modernen Gesellschaften bereits die Grundlagen jedes Wissens medial strukturiert sind. Vgl. ebd. 105 Orth, Dominik & Preußer, Heinz-Peter: Mauerschau – Die DDR als Film. Eine Einleitung, in: Orth, Dominik & Preußer, Heinz-Peter (Hg.): Mauerschau – Die DDR als Film, Berlin 2019, S. 1–8, hier: S. 1. 106 Und Dominik Orths Beitrag über die Fernsehserie Deutschland 83 im gleichen Band macht deutlich, dass vergleichbare Sehgewohnheiten für die BRD der achtziger Jahre noch in viel geringerem Maße existieren. Orth beschreibt die filmische Darstellung Westdeutschlands als Gegenentwurf zur DDR, welche in Deutschland 83 »lediglich als Projektionsfläche für die serielle Wiederauferstehung eines Jahrzehnts« fungiere. Orth, Dominik: Kulisse DDR. Spit-
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
die mit diesen Konventionen arbeiten, um die (mutmaßlichen) Erwartungen ihres Publikums zu bedienen. Ein Trabant oder zumindest eine Schwalbe darf in keiner DDR-Ausstellung fehlen, ebenso wenig wie Orden und Abzeichen en masse, verschrumpeltes Obst und gelb-braune Mustertapeten. Diesen medial verankerten Bedeutungsmarkern entsprechend schaffen sich Besucher*innen häufig über Medienbezüge Zugänge zu DDR-Ausstellungen. Ob sie in der Ausstellung etwas besonders interessiert habe? »Ja, ich… Na, wir haben ja auch in der Schule den Film – och, wie hieß der nochmal – Das Leben der Anderen gesehen«, antwortete etwa die Lehrerin Frau Koning aus den Niederlanden, die das Museum in der Kulturbrauerei mit einer Schulklasse besucht hatte. »Und da unten gab es so einen Tisch mit zwei Mappen und darin war so ein Protokoll, also so ein Papier, warum Leute beobachtet wurden […] und das fand ich interessant.«107 Einen solchen Filmbezug stellte auch die Westberlinerin Frau Faber im DOK Eisenhüttenstadt her. »Von Paul und Paula, von dem Film« war ihr eine dort ausgestellte Wohnungstür aus dem Prenzlauer Berg mit angebrachter Zettelrolle für das Hinterlassen von Nachrichten bekannt. Hier ist es das Betrachten eines Exponats, welches eine filmische Assoziation, einen plötzlichen Wiedererkennungsmoment, hervorruft. Doch auch in umgekehrter Richtung funktioniert dieser Konnex zwischen außermusealen Medien und Exponaten (selbst in ihrer Abwesenheit): »I was looking for Spreewaldgurken. Where are they?«, fragte mich im Berliner DDR-Museum ein Besucher aus den USA lachend, als seine Frau während des Interviews den Film Good Bye, Lenin! erwähnte.108 Mehr Glück hatte in dieser Hinsicht der 50-jährige Niedersachse Herr Neumann in der Kulturbrauerei, der dort »viele Dinge in real gesehen« hatte, »die wir sonst aus dem Fernsehen kennen, weil wir auch aus Interesse nun als Ost-WestBeziehung auch viele Sachen gucken. […] Da haben wir viel, was wir so aus DDRDokus kannten, dann jetzt hier in real gesehen, so Tempolinsen und, und sie [Frau Neumann] kann mir dann immer noch was dazu erzählen.«109 Neben diesen visuellen Wiedererkennungsmomenten berichteten andere Besucher*innen auch von haptischen Erlebnissen: »I liked the car, […] the Trabant«, antwortete etwa die 50jährige Managerin Frau Stevens aus Westengland auf die Frage, was sie im Berliner DDR-Museum besonders interessiert habe. »You hear a lot about the Trabant in the UK. To actually see one was amazing. […] And how it felt, when you found out what it was made out of and when you were tapping it, you’re [like] »ok, yes«. So it wasn’t
zel, Spione und andere Stereotype in der Serie Deutschland 83 (2015), in: Orth, Dominik & Preußer, Heinz-Peter (Hg.): Mauerschau – Die DDR als Film, Berlin 2019, S. 297–306, hier: S. 305. 107 Interview 4, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. 108 Interview 4, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. 109 Interview 6, Museum in der Kulturbrauerei, 17.04.2019.
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as I expected.«110 Auf die gleiche Frage antwortete Herr Howell, den ich kurz zuvor interviewt hatte: »I think, you know, even the fact that the elite drove the Volvos rather than the Trabants – I think we all knew that. […] But […] I think it was very interes-, it was quite nicely done, and I liked the interactive bits when you’re pulling the drawers out and things like that.«111 Diese kurzen Gesprächsauszüge veranschaulichen die zentrale Bedeutung, die medial geformten Erwartungen der Besucher*innen bei der Ausstellungsaneignung zukommen kann. Die hier zitierten Interviewten schaffen sich Zugänge zu der jeweils besuchten Ausstellung über Dinge, die ihnen bereits aus Filmen, Dokumentationen oder sonstigen Medien bekannt sind. Sie sind auf der Suche nach Wiedererkennungsmomenten und sinnlichen Eindrücken, in denen sich ihr mediales Vorwissen materialisiert und somit bestätigt.112 Im Einklang mit diesem Befund ist eine historische Ausstellung für den Kulturwissenschaftler Thomas Thiemeyer eine »Erfahrungswelt«, ein »sinnliches Medium«, das »wissenschaftliche Aussagen nicht (primär) in der diskursiven Logik der Begründung weitergibt, sondern im visuellen [und man könnte ergänzen: haptischen] Modus der Evidenz, der sichtbaren Einsicht.«113 Man kann diese These grundsätzlich in zweierlei Richtung ausdeuten: Zum einen kann man – analog etwa zu Göschl – argumentieren, dass die auf visueller Evidenz basierende Erzählweise maßgeblich zur Konstruktion geschlossener Geschichtsbilder in und durch Museen beiträgt.114 Die Ausstellungsmedien überzeugen nicht durch Argumente, sondern dadurch, dass sie (um noch einmal Sloterdijk zu bemühen) »mit ihrem Dasein prahlen« – also durch ihre in Szene gesetzte Anwesenheit.115 »Die Geschichtsausstellung ist eine Evidenzmaschine, die visuell etwas suggerieren kann, ohne es zwingend erklären zu müssen«, resümiert Thiemeyer.116 So verstanden schränkt die Autorität der »sichtbaren Einsicht« musea110 111 112
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Interview 5, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Interview 3, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Rein formal gleicht dieser Modus der Ausstellungsaneignung dem des Erinnerungsanlasses (s. Kapitel 7.5). In beiden Fällen wird der Ausstellungsbesuch in erster Linie durch Wiedererkennungsmomente getragen – mit dem Unterschied, dass die Bezugspunkte im ersten Fall Medienprodukte und im zweiten lebensweltliche Erinnerungen an die DDR sind. Oder der fühlbaren Einfühlung. Thiemeyer, Thomas: Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft. Die Museumsausstellung als Hort und Ort der Geschichte, in: Fröhlich, Claudia et al. (Hg.): Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 4. Geschichte ausstellen, Stuttgart 2013, S. 13–30, hier: S. 26. Vgl. Göschl: DDR-Alltag im Museum, S. 25–26. Sloterdijk: Sloterdijk 2007 – Der ästhetische Imperativ, S. 354. Thiemeyer: Thiemeyer 2013 – Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft, S. 29. Thiemeyer beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf den von Mieke Bal geprägten Begriff der »epistemologischen Verführung«, mit dem Bal den kuratorischen Wunsch beschreibt, dass »die Darstellung […] sich mit ihrem Objekt decken« möge: »Es geht um Realismus, um eine Beschreibung der Welt, die so lebensecht ist, daß Auslassungen unbemerkt bleiben, Lücken
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
ler Präsentationen die Polysemie ihrer Exponate ein und verengt somit den möglichen Deutungsraum ihrer Besucher*innen. Andererseits lässt sich Thiemeyers These aber auch in genau entgegengesetzter Richtung interpretieren: Wenn im Museum die »diskursive Logik der Begründung« nicht gegen die Wirkmächtigkeit der unmittelbaren Anschaulichkeit der Exponate – gegen den »Modus der Evidenz« – anzukommen vermag, dann öffnet sich für die Besucher*innen ein Deutungsraum, der von jedweder musealen Vorzugslesart weitgehend befreit ist (das Exponat überstrahlt seinen kuratorischen Kontext).117 Anders ausgedrückt: Die Exponate stehen zwar in der Ausstellung, doch wofür sie dort stehen, ist weitestgehend den Besucher*innen überlassen. Es ist an ihnen, eigene Deutungen, eigene Narrative an die besuchte Ausstellung heranzutragen. Hier kommt der bereits mehrfach erwähnte Begriff des »Eingangsnarrativs« ins Spiel. Zahava Doering und Andrew Pekarik subsumieren unter diesem Begriff unterschiedliche Aspekte von Vorprägungen und Besuchserwartungen und deren Auswirkungen auf die Ausstellungsrezeption. Es geht dabei um »the internal storyline that a visitor brings to a particular exhibition«, welche auf drei miteinander verbundenen Komponenten beruhe: (i) a basic framework, i.e., the fundamental way that individuals construe and contemplate the world; (ii) information about a given topic, organized according to that basic framework; and (iii) personal experiences, emotions and memories that verify and support this understanding.118 Mit den oben zitierten Medienbezügen befinden wir uns offensichtlich bei der dritten Komponente des Eingangsnarrativs, den »persönlichen Erfahrungen, Emotionen und Erinnerungen«, die sich an einzelnen Ausstellungsobjekten und deren sinnlichem Erleben festmachen. Die angesprochenen Objekte (Stasi-Unterlagen, Spreewaldgurken, Tempolinsen, Trabant) repräsentieren dabei zum einen charakteristische Topoi unterschiedlicher DDR-Diskurse und stehen zum anderen für einen erlebnisorientierten Zugang zu Museen: In den Interviews geht es darum, sie zu suchen, »real« zu sehen, anzufassen, mit ihnen zu interagieren. Schon allein, um einer kognitivistischen Verengung der Analyse von Formen der Ausstellungsaneignung entgegenzuwirken, scheint es mir geboten, diesem dritten Bestandteil des Eingangsnarrativs besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Doering und Pekarik selbst weisen darauf hin, dass es vor allem das Vorwissen der Besucher*innen (Komponente zwei) ist, welches sich im Gegensatz zu den Komponenten eins und
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mitgetragen werden und unterdrücktes Material dem Bemerktwerden entgeht.« Bal, Mieke: Kulturanalyse, Frankfurt a.M. 2002, S. 96–97. Diskurstheoretisch müsste man an dieser Stelle einwenden, dass natürlich auch der »Modus der Evidenz« ein diskursiver ist, doch unabhängig davon dürfte Thiemeyers Punkt klar sein. Doering; Pekarik: Visitors to the Smithsonian Institution, S. 46–47.
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drei relativ leicht messen lässt (was mit zur Prävalenz der von mir kritisierten lernorientierten und pragmatisch ausgerichteten Besucher*innenforschung beitragen dürfte).119 Im Folgenden untersuche ich daher die Verschränkung aller drei Komponenten des Eingangsnarrativs und ihre Wirkung auf die Ausstellungsaneignung. Hierfür möchte ich zwei recht gegensätzliche Interviews aus dem Berliner DDR-Museum heranziehen. Beginnen wir mit einem Auszug aus meinem Interview mit Herrn und Frau Reuss, einem wohlsituierten Ehepaar Anfang 60 aus der Nähe von Darmstadt, die das Berliner DDR-Museum im Frühjahr 2019 besucht hatten. Nach dem Grund ihres Besuchs gefragt, antwortete Herr Reuss: Ich interessiere mich natürlich […] sehr dafür, für diese Geschichte. Und das hat mich ja auch während meines ganzen Lebens begleitet, diese DRR, dieser Unrechtsstaat halt, und diese Unterschiede zwischen West und Ost. Und es war ganz interessant, wir haben 89, waren wir gemeinsam mit Familien auf einem Kegelausflug in der Nähe von Fulda, also gar nicht weit weg damals von der Grenze. Und da haben wir noch einen Tag vor, oder zwei Tage vor der Maueröffnung haben wir noch […] die Grenze besucht. Und diese Eindrücke, die sind halt immer noch da. Und dann ging da ja die Mauer auf, 89 im November, genau dort an diesem Wochenende. Und dann bin ich am nächsten Tag nach Rasdorf gefahren und – weil da die Grenze ziemlich nahe lag an unserem Hotel – und hab mir das mal angeguckt. Ich hab noch Bilder zu Hause von diesem Tag. Und das ist sehr beeindruckend gewesen, also, dass das dann alles auf einmal, wie gesagt, Geschichte war, jetzt ist das weg. Die Mauer ist weg, also es war ja symbolisch sozusagen, die Mauer war offen. Und dass dieses ganze Elend da im Osten, dass das mal ein Ende fand. Was natürlich dann auch auf uns zukam, mit der ganzen Erneuerung des deutschen Ostens oder der Ex-DDR, was das Geld kostet und so weiter, das kam ja dann alles viel später. Aber im Endeffekt war das für mich ein bleibendes Erlebnis und ich fand das damals schon großartig, dass das stattgefunden hat.120 An dieser Antwort lassen sich mühelos die drei Elemente des Eingangsnarrativs nach Doering und Pekarik aufzeigen: Herr Reuss verfügte offenkundig bereits vor dem Museumsbesuch über einiges an Wissen zur Geschichte der DDR (bzw. speziell ihres Untergangs); er weiß zum Beispiel, wo ihre Grenze zur BRD verlief, bis wann sie existierte, und kann etwas zum Lebensstandard und politischen System der DDR sagen (ii). Dieses Wissen kleidet sich in zentrale Topoi des Diktaturgedächtnisses – Unrechtsstaat, Mauer und Maueröffnung, Mangelwirtschaft (»dieses ganze Elend da im Osten«) – und in das westdeutsche Selbstbild, für die ökonomischen Verfehlungen des Sozialismus aufkommen zu müssen (i). Es ist zugleich emotional 119 Ebd., S. 47. 120 Interview 9, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
aufgeladen (»das hat mich ja auch während meines ganzen Lebens begleitet«, »und ich fand das damals schon großartig«); der Gesprächseinstieg erfolgt über die Wiedergabe persönlicher Erlebnisse (»Kegelausflug in der Nähe von Fulda«), die Herrn Reuss zum zufälligen Augenzeugen der Maueröffnung machen (iii). Die Trennung der drei Komponenten des Eingangsnarrativs ist natürlich eine rein analytische, die nicht dazu verleiten sollte, von einem zunächst neutralen Wissen auszugehen, das dann emotional aufgeladen und dem jeweiligen »grundlegenden Ordnungsrahmen« (»basic framework«) entsprechend politisiert/ideologisiert wird. Tatsächlich fallen alle drei Elemente in eins, wie sich an dem obigen Interviewausschnitt unschwer erkennen lässt. Kommen wir von dieser formalen Analyse des Eingangsnarrativs nun zu einer inhaltlichen. Im Anschluss an den eben zitierten Gesprächseinstieg steigerte sich die Schilderung der Maueröffnung beinahe ins Skurrile, als Frau und Herr Reuss ihren ersten Kontakt mit DDR-Bürger*innen nach der Wende in Fulda wiedergaben. Die Stadt, »damals im Nebel, von Zweitakter« (Herr Reuss), sei voll gewesen von »Ostdeutschen, die da ja in Strömen gelaufen sind, jeder so ne Plastiktüte, weil sie hatten hundert Mark. […] Die hatten alle Plastiktüten vom Aldi, mit Bananen und alles drin« (Frau Reuss).121 Als die beiden zu ihrem Auto zurückgekommen seien, habe auf diesem »eine Dame als Kühlerfigur« gelegen, so Herr Reuss: Das war einmalig! Das war einfach ein Passat, war ein neues Auto und die haben das halt dann toll gefunden. Dann hat sie sich von ihrem Freund da ablichten lassen, hat sich dreimal Entschuldigung gesagt. Kein Problem, kein Problem. […] Das war, das war unser Erlebnis eigentlich zu Maueröffnung.122 Zwei Punkte erscheinen mir an diesen Gesprächsauszügen bemerkenswert. Der erste betrifft die Kommunikation im Interview, der zweite die Beziehung zwischen persönlicher Erinnerung und Ausstellungsmedien. Hinsichtlich der Kommunikation springt zunächst eine gewisse Exotisierung der Ostdeutschen und ihres Verhaltens ins Auge. In die belustigten Schilderungen Herrn und Frau Reuss’ an die eigenen Wende-Erinnerungen mischen sich immer wieder Momente des Befremdens: Die »Ströme« der Ostdeutschen erscheinen beinahe als Naturgewalt, die über das beschauliche Fulda hereinbricht und die Stadt »im Nebel« versinken lässt. Zugleich haben sie etwas Dümmliches, Hinterwäldlerisches an sich – haben sie doch offenbar noch nie im Leben eine Banane gesehen und wissen nicht, dass es sich nicht schickt, »mit Plastiktüten vom Aldi« durch die Gegend zu laufen. Selbst ein gewöhnlicher Volkswagen ist für sie bereits ein Statussymbol. Bemerkenswert erscheint mir allerdings nicht diese Exotisierung an sich, sondern vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der Frau und Herr Reuss im Interview über die 121 122
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Ostdeutschen als die Anderen sprechen. Diese Selbstverständlichkeit lässt sich zumindest teilweise aus den mutmaßlichen Gesprächserwartungen meiner beiden Interviewpartner*innen erklären. Der Soziologin Cornelia Helfferich zufolge schließen die Akteur*innen eines qualitativen Interviews häufig von einer angenommenen »kognitiven Nähe« zu ihrem Gegenüber, »im Sinne eines gemeinsam geteilten Erfahrungs- Wissens- und Deutungshintergrundes (z.B. gemeinsames Wissen aufgrund der Herkunft […])«, auf das Bestehen einer »emotionalen Nähe« (geteilte Werte und Ansichten, Empathie usw.).123 Die erste, »kognitive«, Dimension dieser Nähe lässt sich eindeutig in den oben zitierten Interviewpassagen ausmachen. Herr und Frau Reuss lesen mich offensichtlich als Westdeutschen, der mit den medial vermittelten Bildern von Bananenkäufen in Aldi-Tüten vertraut ist und gegenüber dem sie sich freimütig über die Kuriositäten der Menschen aus dem Osten äußern können. Dass beide hiervon auch auf eine »emotionale Nähe« schließen, verdeutlicht der folgende Interviewverlauf. Darum gebeten »für mich möglichst genau Ihren Besuch in dem Museum zu beschreiben«, fiel meinen beiden Gesprächspartner*innen als erstes die Plattenbauwohnung des Museums ein.124 Für Herrn Reuss ließ sich anhand dieser vor allem vergleichen, wie das Leben »bei uns« und wie es »da drüben« war – »was gab’s da, wie haben die Menschen da gelebt, mit welchen Existenznöten mussten die umgehen«.125 Und Frau Reuss berichtete davon, »das Gefühl zu haben, eingesperrt zu sein.« Beide kamen denn auch von der Wohnung gleich auf die nachgestellte Gefängniszelle des Museums zu sprechen – und erst wesentlich später auf den an die Wohnung angrenzenden Abhörraum (wobei aus dem Gespräch nicht klar hervorgeht, ob Frau Reuss diesen überhaupt wahrgenommen hat oder ob er nur von ihrem Mann betreten wurde). Das Gefühl, »eingesperrt zu sein«, gründet somit anscheinend nicht nur auf der Überwachung der Wohnung. Das Beklemmende scheint für Frau Reuss vielmehr durch die Atmosphäre der Wohnung insgesamt hervorgerufen zu werden. Diese Wahrnehmung ist in gewisser Weise durchaus typisch: In einer gemeinsamen Studie zu unterschiedlichen Hausmuseen stellen die Historikerin Irit Dekel und die Soziologin Vered Vinitzky-Seroussi den »befremdlichen und unheimlichen« (»strange and uncanny«) Eindruck heraus, den museale Inszenierungen von Wohnraum vermitteln können – die Besucher*innen tauchen ein in das (vergangene, aber in Objekten weiterhin präsente) Leben einer abwesenden Person, in einen Raum, der nur noch von Objekten belebt wird.126 Dass etwas mit der im DDR-Mu123
Helfferich, Cornelia: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews, Wiesbaden 2011, S. 119–120, zit.n.: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-531-9207 6-4. 124 Interview 9, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. 125 Ebd. 126 Dekel, Irit & Vinitzky-Seroussi, Vered: A Living Place. On the Sociology of Atmosphere in Home Museums, in: European Journal of Cultural and Political Sociology (04/2017),
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
seum dargebotenen »vermeintliche[n] Idylle«127 nicht stimmt, muss sich für Frau Reuss somit nicht an konkreten Ausstellungsmedien festmachen lassen. Wenn wir ihre Lesart der Wohnung mit der des Jenaer Ehepaars Bogner vergleichen, so fällt auf, dass Herr und Frau Reuss nicht nur ganz andere Bedeutungszuschreibungen formulieren, sondern diese auch wesentlich offener zum Ausdruck bringen: Herr Bogner konnte über »die Platte« lediglich »nichts irgendwie Böses sagen«, Frau Reuss hingegen fühlte sich »eingesperrt«. Dies bringt mich zum zweiten Punkt meiner Analyse, der Beziehung zwischen persönlicher Erinnerung und (Ausstellungs-)Medien. Frau und Herr Reuss gehörten museumsübergreifend zu den ganz wenigen Interviewpartner*innen, die auch auf Ausstellungsbereiche zu Themen wie Herrschaft und Überwachung rekurrierten. »Es gibt also die Wirtschaftssituation, es gibt das Politische, es gibt das Militärische, es gibt das Leben in der DDR, es gibt Schule, die Bildung. Da haben sie schon so ein kleines System drin«, fasste Herr Reuss die Struktur des Museums zusammen.128 Und an Ausstellungsinhalten erwähnten beide ferner einen Schreibtisch im Bereich »Partei und Staat«, die »Töpfchendiskussion« und Herr Reuss das an die Wohnung angeschlossene Abhörzimmer.129 Die eingangs erwähnten Topoi des Diktaturgedächtnisses – Unrechtsstaat, Mauer, Mangel – finden ihre Entsprechung in der Aneignung der Ausstellung. Herr und Frau Reuss finden ihr »Eingangsnarrativ« folglich durch die Ausstellung bestätigt, und diese Bestätigung erfolgt sowohl kognitiv als auch emotional: Das Museum bedient Herrn Reuss’ Narrativ vom »Unrechtsstaat« und »Elend im Osten«, sodass Herrn Reuss’ Lesart der Ausstellung mit der musealen Vorzugslesart zusammenfällt. Zugleich transportiert das Museum seine Erzählung jedoch über eine Vielzahl ironisch dargebotener Kuriositäten die bestens zu Frau und Herrn Reuss’ emotional aufgeladenen Wendeerinnerungen passen. In diesem Zusammenhang sei auf Brianne Hwangs Analyse des Gesamtnarrativs des DDR-Museums verwiesen. Hwang zufolge zeichnet das Museum die DDR als »a wacky aberration, a curious block of history«, als »strange, unfamiliar, […] odd«, kurz: als das kommunistische Andere des normalen Westens.130 Es ist offensichtlich, dass sich eine durch Zweitakter vernebelte Stadt und Menschenmassen
S. 336–362, hier: S. 336. Detel und Vinitzky-Seroussi weisen in diesem Zusammenhang auch auf die wörtliche Bedeutung von »unheimlich« (»unhomely«) hin – das Gefühl, nicht zu Hause zu sein, bzw. zu Hause zu sein, aber sich eben nicht zu Hause zu fühlen. Vgl. ebd. S. 353. 127 Mit diesen Worten wird die Wohnung auf der Website des Berliner DDR-Museums beschrieben. https://www.ddr-museum.de/de/sammlung/ausstellung (letzter Zugriff: 25.05.2022). 128 Interview 9, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. 129 Ebd. 130 Hwang, Brianne: Constructing the Communist Other. A Comparative Study of Museum Representations of Communism, Budapest 2009, S. 78, zit.n.: https://www.etd.ceu.hu/2009/h wang_brianne.pdf (letzter Zugriff: 19.06.2020).
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mit Aldi-Tüten voller Bananen problemlos in dieses Bild einfügen lassen.131 Diese grundsätzliche Übereinstimmung von musealer Vorzugslesart und Eingangsnarrativ (kognitiv und emotional) wirkt sich auch auf Detailfragen der Ausstellungsaneignung aus. Dies möchte ich im Folgenden exemplarisch an Herrn Reuss’ Rezeption der »Töpfchendebatte« veranschaulichen, welcher im Themenbereich »Erziehung und Bildung« ein kleines Foto nebst kurzem Begleittext gewidmet ist. Das Foto zeigt laut Begleittext Kinder in einer Kinderkrippe beim »kollektiven Töpfchengehen«. Weiter heißt es: »Der Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer sah diese DDRSitte 1999 als Auslöser für den erstarkenden Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Hieraus entstand die so genannte »Töpfchendebatte«.« Im Interview erklärte Herr Reuss hierzu: Was ich ganz interessant fand, war da diese eine Tatsache, dieses gemeinsam aufs Töpfchen gehen. Dass da der Pfeiffer, der Kriminologe, später draus entwickelt hat, dass dadurch der Rechtsradikalismus im Osten entstanden ist. Ich weiß zwar nicht, was das damit in Verbindung steht, aber da gab’s dann diese Töpfchendiskussion, hab ich dann gelesen. Kenn ich gar nicht, hab ich heut das erste Mal gehört. Aber es war schon so: Die Leute sind halt – und das hat man in diesem Museum ganz gut rübergebracht – diese, diese komplette Führung von Geburt an, bis ja, bis meinetwegen die Leut mal gestorben sind. […] Und das macht das Museum da ganz gut bewusst auch, ne?132 Herr Reuss, dem die »Töpfchendiskussion« vor seinem Besuch unbekannt war, zeigt sich von der These des Kriminologen Christian Pfeiffer also zunächst überrascht. Er ist sich nicht sicher, was er von der behaupteten Verbindung zwischen »gemeinsam aufs Töpfchen gehen« und »Rechtsradikalismus im Osten« halten soll. Ja, er scheint sie im ersten Moment ihrer Erwähnung für eher unplausibel zu halten (»Ich weiß zwar nicht, was das damit in Verbindung steht«). Unabhängig von ihrer bezweifelten Richtigkeit fungiert Pfeiffers These jedoch als Bestätigung für Herrn Reuss’ DDR-Bild (»Aber es war schon so«), versinnbildlicht sie doch den umfassenden Erziehungsanspruch der SED.133 Hierzu trägt sicherlich auch bei, dass die »Töpfchendebatte« im DDR-Museum eine Ein-Mann-Veranstaltung des Professors Pfeiffer ist, in der konträre Positionen nicht zu Wort kommen.
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Und neben den oben thematisierten Gesprächserwartungen meiner Interviewpartner*innen dürfte auch diese gefühlte Bestätigung des Eingangsnarrativs zu der Selbstverständlichkeit beitragen, mit der das Othering der DDR-Bevölkerung im Gespräch erfolgt. Interview 9, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Dass ein Foto vom »kollektiven Töpfchengehen« auf die meisten westdeutschen Besucher*innen »strange, unfamiliar, […] odd« (Hwang) wirken dürfte, kann dabei zur emotionalen Untermauerung dieser Bestätigung beitragen.
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Obwohl das kleine Foto und die acht Zeilen Text zur »Töpfchendebatte« im DDRMuseum nicht gerade einen besonders exponierten Platz im DDR-Museum einnehmen, war Herr Reuss nicht der einziger Interviewpartner, der hierauf zu sprechen kam. Zwei weitere Besucher*innen nahmen im Gespräch ebenfalls auf die Darstellung der »Töpfchendebatte« Bezug.134 Bei ihnen handelt es sich um die hier bereits zitierten Herr und Frau Bogner aus Jena. Darum gebeten, »mir vielleicht einfach möglichst viel über Ihren Ausstellungsbesuch hier [zu] erzählen«, fiel auch Herrn Bogner als erstes das »Wohnungsbauprogramm« ein, das für ihn mit einem starken lebensweltlichen Bezug verbunden war (»wo wir ja selbst integriert sind – in die Platte, sozusagen«).135 Daran anschließend entspann sich folgender Dialog: Frau Bogner: Also es waren schon sehr viele interessante Sachen drin, die wir auch nachvollziehen konnten. Was mich natürlich sehr gestört hat (lacht), also das waren manche Sachen, also da wurden die DDR-Bürger so bisschen, so… Herr Bogner: Wie auf’m Nachttopf. Frau Bogner: Ah ja. Herr Bogner: Übertrieben. Frau Bogner: So bisschen, bisschen doof hingestellt. Also das hat mich schon ein bisschen gestört. Und grade, da ging’s um diesen Kindergarten. Dass die Kinder auf dieser Topfbank da saßen. Herr Bogner: Mhm. Frau Bogner: Und dass die alle, die dort gesessen haben, die sind jetzt… Herr Bogner: Rechtsextrem. Frau Bogner: … rechtsextrem. Und das, also das hatte ich schonmal in irgendner Zeitung, das hat mich damals schon aufgeregt. Und das regt mich heute auch wieder auf. Weil es nicht so ist. Das mag vielleicht in Einzelfällen so sein – will 134
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Unter dem Ausstellungstext befindet sich zudem ein Heft, mit dem sich Besucher*innen selbst in die Töpfchendebatte einbringen können. Zwischen zahlreichen Einträgen wie »Folgt mir auf Insta« oder »This is a working pen« und gelegentlichen Penisbildern findet sich hier auch ein breites Spektrum an Reaktionen auf die Ausstellungsmedien – von »Wer das erlebt hat, sagt »nie wieder DDR«!« bis zu »Mir hat das »kollektive Töpfchengehen« nicht geschadet. Rechtsextremismus wurde von meinem Psychologen bisher nicht festgestellt.« Für diese und weitere Einträge s. das Facebook-Profil des Museums, URL: https://de-de.facebook.com /ddrmuseum/photos/a.10150437678748028/10150437777883028 (letzter Zugriff: 11.11.2022). Für eine weitergehende Analyse seiner Antwort (im Kontext des Phänomens vermeintlicher Missverständnisse) vgl. Kapitel 5.
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ich nicht abstreiten – aber das hat mit Sicherheit nichts mit dieser Topfbank zu tun.136 An diesem Gesprächsausschnitt lassen sich noch einmal die drei Komponenten des Eingangsnarrativs in ihrer Verschränkung aufzeigen: Auf Frau Bogner hat der kurze Begleittext zur »Töpfchendebatte« offenbar einen starken Eindruck gemacht, schließlich fällt er ihr bei der Erinnerung an die Ausstellung als erstes ein. Frau Bogner zählt auch zu den wenigen Interview-Partner*innen, die überhaupt explizit auf einen Ausstellungstext zu sprechen kamen. Aus dem zitierten Gesprächsausschnitt ist ersichtlich, dass Frau Bogner sich bereits früher mit der »Töpfchendebatte« beschäftigt und während des Rundgangs durch die Ausstellung mit ihrem Mann darüber gesprochen hat. Er weiß, was sie »gestört« hat, ergänzt ihre Sätze im Gespräch (»Wie auf’m Nachttopf«, »Rechtsextrem«) und teilt ihre Einschätzung. Warum fällt Frau Bogners Reaktion auf die Darstellung der »Töpfchendebatte« nun so heftig aus? Zum einen können wir sehen, dass Frau Bogner das in der Ausstellung Gezeigte mit ihrer eigenen Identität in Verbindung bringt (dass sie geschichtsdidaktisch gesprochen also einen Lebensweltbezug herstellt), indem sie das Ausstellungsnarrativ als eine sehr konkrete und stark personalisierte Erzählung rezipiert: Es geht nicht um einen abstrakten Zusammenhang zwischen Erziehungsmethoden und Rechtsradikalismus, sondern darum, »dass die alle, die dort gesessen haben« (»auf dieser Topfbank da«), heute angeblich »rechtsextrem« seien. Als ehemalige DDR-Bürgerin sieht Frau Bogner sich und ihr soziales Umfeld daher durch die vom Museum präsentierte These Christian Pfeiffers angegriffen und will sie gleich zu Beginn des Interviews entkräften.137 Zum anderen sind Frau und Herr Bogner vor allem aufgrund persönlicher Erinnerungen in die Ausstellung gekommen und eignen sie sich dementsprechend an. Dass die »Töpfchendebatte« für diesen Modus der Ausstellungsaneignung nun eine erhebliche Störung darstellt, ist offensichtlich. Der Debatte kommt somit eine Rolle zu, die mit jener des Kriegsspielzeugs im Interview mit Frau und Herrn Werneke in Eisenhüttenstadt vergleichbar ist. In beiden Fällen handelt es sich bei den störenden Ausstellungsmedien um eher unscheinbare Details. Diese sind jedoch in alltagsgeschichtliche Narrative der jeweiligen Ausstellung eingebettet und für die Interviewten mit starken lebensweltlichen Bezügen verknüpft. Es ist den Interviewten daher weniger gut möglich, diese Ausstellungsmedien einfach zu ignorieren, wie dies etwa bei einem großen Themenbereich zum Herrschaftssystem der DDR der Fall wäre. Bei
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Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Dass sie gleich zu Beginn ihrer Erinnerungen an die Ausstellung auf die »Töpfchendebatte« eingeht, kann zudem als Anzeichen dafür gedeutet werden, dass sie das dort transportierte Bild vom rechtsextremen Osten auch gegenüber mir als westdeutschem Interviewer geraderücken will.
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letzterem weiß man schließlich im Vorhinein, was einen erwartet und kann frei entscheiden, ob man sich auf ihn einlässt oder nicht.138 An Herrn Reuss’ und Frau Bogners Thematisierung der »Töpfchendebatte« lassen sich paradigmatisch zwei Variationen des Zusammenhangs von »Eingangsnarrativ« und Ausstellungsaneignung aufzeigen. Doering und Pekarik schreiben hierzu: When visitors experience the contents of an exhibition, they necessarily place them within the narrative that they have previously constructed to explain objects and ideas of this type. They may not want to learn much more detail than they already know, and they certainly do not intend to have their narrative radically revised. Instead, they want their narrative to be confirmed. Visitors want validation so strongly that if the exhibition story departs in only minor ways from their expectations, they are likely to simply »not notice« the areas of difference. If the museum’s narrative unexpectedly and explicitly differs in major ways from their own views, adult visitors are likely to be upset.139 Ganz in diesem Sinne kann Herr Reuss die Ungereimtheiten der »Töpfchendiskussion« mit einem Halbsatz übergehen, während Frau Bogner sich an ihr stört und dem unterstellten Zusammenhang zwischen »dieser Topfbank« und Rechtsextremismus in Ostdeutschland vehement widerspricht. An anderen Stellen gelingt es Frau Bogner hingegen sehr wohl, den durchweg kritischen Unterton der Ausstellung zugunsten der Generierung von glücklichen Wiedererkennungsmomenten auszublenden.140 So beschreibt sie etwa ihre Eindrücke von der Wohnungsinszenierung im Museum mit den Worten: »Ob’s der Fußbodenbelag gewesen ist in dieser Wohnung da – also das waren viele Sachen – oder das kleine Bad oder… na klar, DDR.«141 Obwohl Frau und Herr Reuss ja ebenfalls zunächst auf die Wohnungsinszenierung im DDR-Museum zu sprechen kommen, erzählt das Museum ihnen eine ganz andere Geschichte als Herrn und Frau Bogner. Bei dieser Geschichte geht es allenfalls am Rande um historische Fakten und in erster Linie um die Vermittlung bestimmter Gefühle: Frau Reuss fühlt sich »eingesperrt«, während Herr Bogner einem Gefühl der Zugehörigkeit Ausdruck verleiht, wenn er sagt, dass er in das Wohnungsbrauprogramm der DDR »ja selbst integriert« ist.142 In beiden Fällen lässt sich feststellen, 138
Für eine weitergehende Analyse des Motivs der Störung in der Ausstellungsaneignung s. Kapitel 7.5.2. 139 Doering; Pekarik: Visitors to the Smithsonian Institution. 140 Wie wir bereits gesehen haben, bedeutet dieses Ausblenden oder vermeintliche Nicht-Bemerken jedoch keineswegs, dass die Besucher*innen sich tatsächlich nicht über die Vorzugslesart der Ausstellung im Klaren sind. Es geht hierbei nicht um Missverständnisse oder Fehlinterpretationen, sondern um eine eigensinnige Aneignung der Ausstellung. 141 Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. 142 Ebd.
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dass die Lesart der Ausstellung dem jeweiligen Eingangsnarrativ entspricht. Analog zu diesem Befund schreiben Doering und Pekarik: »Although an exhibition may be able to modestly revise the way some people think about a subject, a more attainable goal may be to influence an individual’s emotional response to the subject matter.«143
7.5 »Ah yeah, I remember that!« Die Ausstellung als Erinnerungsanlass »Danke es gab gute und schlechte Erinnerungen.«144 Dieses Kapitel beschäftigt sich mit einem Modus der Ausstellungsaneignung, der besonders stark auf der Generierung von derlei Wiedererkennungsmomenten basiert und der in meiner Untersuchung mit Abstand am häufigsten zu beobachten war. Charakteristisch für diesen Modus ist zum einen eine enge narrative Verknüpfung des Museumsbesuchs mit der eigenen Lebensgeschichte und zum anderen die Wichtigkeit des sozialen Kontextes des Ausstellungsbesuchs: Die im Folgenden zitierten Interviewauszüge stammen alle von Besucher*innen, die das jeweilige Museum zu zweit oder dritt, mit Freund*innen oder Familienmitgliedern besucht hatten. »Wir wollten unserem Enkelkind das mal zeigen, wie wir zu Ost-Zeiten gelebt haben«, erläuterte etwa Herr Sander aus Ost-Berlin, der sich das Berliner DDRMuseum mit seiner Frau und seiner elfjährigen Enkeltochter angeschaut hatte, den Grund für seinen Besuch.145 In Behind the Scenes at the Science Museum fasst Sharon Macdonald derartige Besuchsmotivationen unter dem Begriff des »Lebenszyklus« zusammen: In three-quarters of our interviews at least one adult had visited the Science Museum previously and a semi-nostalgic motive of providing the same experience for the children was evident in many interviews. […] [B]ringing children could also be something of an excuse for adults to have a reason to revisit the museum themselves.146 143
Doering; Pekarik: Visitors to the Smithsonian Institution, S. 46. So hätte etwa eine 1992 von der Smithsonian Institution durchgeführte Besucher*innenbefragung in der Sonderausstellung The Power of Maps des Cooper Hewitt Museums ergeben, dass die Ausstellung zwar eine statistisch signifikante, aber doch recht geringe Auswirkung auf die Meinungen der Besucher*innen über die Ausstellungsthematik hatte. Demgegenüber hätte eine etwa zeitgleich durchgeführte Studie im Reptile Discovery Center in Florida ergeben, dass sich eine allgemein positivere Einstellung der Besucher*innen gegenüber Reptilien schon mit relativ einfachen kuratorischen Mitteln erreichen ließ. Vgl. ebd., S. 46. 144 Gästebucheintrag, DDR-Museum Pforzheim, 31.05.2020. 145 Interview 11, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. 146 Macdonald: Behind the Scenes, S. 224.
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Ich möchte in diesem Kapitel zeigen, wie eine am Erinnern ausgerichtete Besuchsmotivation sowohl die Art und Weise beeinflusst, in der sich Besucher*innen eine Ausstellung zur DDR-Geschichte aneignen als auch die Erzählweise über diese Aneignung prägt. Als Ausgangspunkt dient hierfür ein längerer Auszug vom Anfang meines Gesprächs mit Herrn Sander. Dieser war zum Zeitpunkt des Interviews 67 Jahre alt, Rentner und arbeitete als Aufsichtsperson in einem Berliner Museum.147 Interviewer: Und wie kommt es, dass Sie sich das DDR-Museum angeschaut haben? Herr Sander: Wir wollten unserem Enkelkind das mal zeigen, wie wir zu Ost-Zeiten gelebt haben. Gut, ich hab dann noch in der Bornholmer gewohnt und in der Liebensteiner Straße. Waren ja andere Lebensverhältnisse, aber trotzdem ich ja schon Stube und Bad hatte, und Küche – gut, das war aber dann mit Kohlen schleppen. So, und dann sind wir umgezogen in den vierten Stock. Da haben wir dann zwei große Zimmer gehabt und auch ein Bad, auch mit Kohlen schleppen. Ne Küche mit so ne Mädchenkammer dran, ja. Naja, und dann sind zwei Kinder gekommen und dann wurde die Bude immer kleiner. Und da haben wir dann über die SED haben wir dem Schabowski geschrieben und dann haben wir ne Antwort gekriegt von Schabowski, dass wir in Berlin Hellersdorf ne Wohnung kriegen. Da haben wir ne Vierraumwohnung gekriegt und da wohnen wir seit – meine Frau weiß das – ich glaube seit 67, äh, seit 87, ja. 83 wurde das Programm aufgelegt, glaube ich, so wie ich da gesehen habe jetzt im Museum. Und ich glaube, seit 87 wohnen wir da draußen. Mit Gummistiefeln und alles, weil da nichts fertig war, nur eben die Häuser standen, ne. So, das war das. Und jetzt wohnen wir da immer noch. Und immer noch in det gleiche Hause – bloß, dass wir vom vierten, ne, fünften Stock nach unten gezogen sind in den dritten. So, und das ist alles.148 Mein Gesprächspartner erläutert den Grund seines Besuches (der Enkelin »zeigen, wie wir zu Ost-Zeiten gelebt haben«), indem er mir von den sich wandelnden Wohnverhältnissen seiner Familie in der DDR berichtet. Da das Thema Wohnen im DDR-Museum einen herausgehobenen Platz einnimmt, hatte ich erwartet, dass Herr Sander nun vor allem auf die nachgestellte WBS-70-Wohnung des Museums eingehen würde. Seine Antwort auf die folgende Frage überraschte mich daher. Interviewer: Was haben Sie sich denn alles angeschaut im Museum jetzt? Herr Sander: Joa, wir haben alles, haben das uns angeguckt. Also wirklich interessant, also überhaupt mit die Bückware, wa? Und das kennen wir ja selber. Auch mit die Intershops und, und Genex, wa. Gut, mit Genex hatten wir nicht viel zu 147 Interview 11, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. 148 Ebd.
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tun, aber wir hatten drei West-Omas, und da hatten wir auch West-Kohle gehabt und da sind wir in das Intershop in der Friedrichstraße einkaufen gegangen. Als Kraftfahrer hab ich auch nicht schlecht verdient. Also wir konnten uns sehr viel leisten. Meine Frau ist auch arbeiten gegangen. Die Kinder waren um die Ecke im Kindergarten. Also der Kindergarten wurde vom Staat gefördert, wa? Also wir haben genug gehabt, wir haben nicht schlecht gelebt. Schade, dass die Wende gekommen ist. Gut, ich bin ja kein Kommunist oder sowas, aber… Die Wende ist schon richtig gewesen, aber das soziale System war in der DDR besser gewesen. Hier hat man jetzt jederzeit Angst um seinen – also ich nicht mehr, wa, weil ich ja Rentner bin – aber jeder junge Mensch hat Angst um seinen Job. Irgendwas Verkehrtes gemacht oder getan und da ist man gleich weg, steht auf der Straße. Und mit die 400 oder 380 Euro, was die Arbeitslosen kriegen, als Stütze, das ist nicht dolle. […] Aber da war das Sozialsystem in der DDR besser. Auch das Schulsystem, weil ja alles einheitlich war. Hier macht jeder seinen Kram ganz alleine, wa, jedes Bundesland. So, das war’s. Haben wir noch was? [lacht]
Darstellung der Themen »Bückware« und »Konsum« im Berliner DDR-Museum. Ganz hinten in der Ecke finden sich ein Regal mit verschiedenen Produkten und eine Art Ladentisch.
Was mein Gesprächspartner hier über die Ausstellung berichtet, lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Bückware, Intershops, Genex. Ich war etwas perplex,
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da ich selbst mich an diese Themen nach meinem ersten Besuch überhaupt nicht erinnern konnte. Die entsprechenden Themenbereiche sind eher unauffällig – teils schon ein wenig versteckt in einer Nische – im ersten Teil der Ausstellung platziert. Den folgenden Fragen ist mein Verlangen anzumerken, das Gespräch stärker auf Eindrücke aus der Ausstellung zu fokussieren. Demgegenüber scheint sich mein Gesprächspartner in meinen Fragen nicht wirklich wiederzufinden. Sein abschließender Satz »So, das war’s« und die Rückfrage »Haben wir noch was?« können als Anzeichen für ein gewisses Unbehagen mit der Gesprächssituation gedeutet werden, die möglichst schnell beendet werden soll. Interviewer: Ja, vielleicht, haben Sie das, was Sie gerade erzählt haben, auch in der Ausstellung wiedergefunden? Oder hat das, inwiefern hat das so Ihrem Eindruck, Ihren Erwartungen entsprochen? Herr Sander: […] Also ich hab viel wiedergesehen, was es auch bei uns gab. Ist ja auch interessant. Also das hier mit »sozialistisch leben und lernen« [Herr Sander zeigt mir seinen ausgedruckten »neuen sozialistischen Menschen« aus dem zweiten Teil der Ausstellung] und sowas alles und dass die Kinder schon von klein auf so getriezt wurden, wa? Das habe ich an meinen Kindern gesehen. Und wenn ich gesagt hab »Die gehen nicht in die Pioniere«, na dann haben sie die im Kindergarten, oder besser gesagt in der Schule dann schon fertiggemacht, wa. Dauernd zum Elterngespräch und sowas alles. Weil ich selber war nicht bei die Pioniere, auch nicht in der FDJ. Ich war in der Kirche gewesen. Da war’s ja noch nicht verboten oder, besser gesagt, noch nicht angefeindet, zu meiner Zeit, in den sechziger, fünfziger Jahren. Da ging es noch. Ich hatte ja auch Kommunion gemacht gehabt. Und, gut, warum soll ich den Kindern das heute verweigern? Die haben auch Jugendweihe gemacht. Aber die sind eben nicht in die Pioniere gewesen, wa. Und dann auch nicht in der FDJ. […] Ich sag, das einzige, was interessant gewesen wäre, wär die GST gewesen, wa. Kennen Sie GST? Interviewer: Was ist das? Nee, das kenn ich nicht. Herr Sander: GST war gewesen, äh, Gesellschaft für Sport und Technik. Da sind die Kinder eben mit Waffentechnik in Berührung gekommen, konnten auch da den Führerschein machen und sowas. Und Sport machen. Ja, und da gab es viele Möglichkeiten, da hab ich gesagt: Da könnt ihr hingehen, da macht es Spaß.149 Auch in diesem Abschnitt lässt sich eine Diskrepanz zwischen den gegenseitigen Gesprächserwartungen aufzeigen: Ich will mehr über Eindrücke meines Gegenübers aus der Ausstellung erfahren. Ihm hingegen dienen diese Eindrücke lediglich
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als Erzählimpulse für Erlebnisse aus seinem Leben in der DDR. Zusammenfassend urteilt Herr Sander über den Besuch des Museums: »War nicht schlecht, war interessant die Sache, auch für das Kind.« Daraufhin hake ich noch einmal nach: Interviewer: Ist Ihnen was besonders in Erinnerung geblieben davon? Herr Sander: Wie jetzt, von dem Museum oder was? Interviewer: Ja, genau. Herr Sander: Ja, wie ich schon sagte, mit dem Einkaufen wa, die Bückware und das alles und… Wir hatten – wie ich schon vorher sagte – wir hatten drei Omas und die haben das aus dem Westen angeschleppt. Also wir hatten diese Probleme nicht. Und wenn nicht, dann sind wir in den Intershop gegangen und dann haben wir uns das geholt. Deswegen sag ich ja: Wir haben das nicht, eben nicht so kennengelernt mit dem Leben oder mit Klamotten wa? Aber die konnte ich mir ja im Intershop auch holen. Eheringe haben wir da geholt. Also wir hatten alle keine Schwierigkeiten. Deswegen sag ich ja, es ist nicht schlimm gewesen, für uns. Für die Kinder, die jetzt natürlich jetzt im Berufsleben dann ankommen und so, wie die Wende war, 89 wa, da haben unsere ja angefangen zu lernen und sowas. Die haben es natürlich schwieriger gehabt, wa? Keine, keine äh… In der DDR hat jeder eine Lehrstelle gekriegt, wa? Und mein Sohn, der wollte was mit Holz machen, also jetzt Tischler oder sowas. Der hat einfach keine Stelle gefunden, jetzt, zu West-Zeiten. Und die Tochter, die ist extra – die wollte Restaurantfachfrau werden – die musste extra nach Büsum, oder nee, Breklum, Breklum. Da hat sie eine Lehrstelle gekriegt.150 Auch auf diese nochmalige Nachfrage hin rekurriert mein Gesprächspartner also wieder auf die bereits bekannten Themen »Einkaufen« und »Bückware«. Wieso nehmen diese in seinen Ausführungen über den Ausstellungsbesuch eine so hervorgehobene Stellung ein? Eine Antwort auf diese Frage können Herrn Sander biografische Erinnerungen an sein Leben in der DDR liefern, die in ihrer Struktur über weite Strecken einem klassischen Aufstiegsnarrativ folgen: Von einer kleinen Altbauwohnung mit Kohlenofen zieht er mit seiner Partnerin zunächst in eine größere Wohnung (»auch mit Kohlen schleppen«) und schließlich in einen Neubau des 1973 aufgelegten staatlichen Wohnungsbauprogramms, der auf einer matschigen Wiese (»mit Gummistiefeln und alles«) beginnt und zum Teil eines völlig neuen Stadtteils »da draußen« wird. Beruflich und finanziell läuft es gut. Herr Sander verdient als Kraftfahrer »nicht schlecht«, auch seine Frau geht arbeiten, und zusammen können
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sie sich »sehr viel leisten«. Gestützt werden diese Lebensverhältnisse durch Westverwandtschaft und ein Sozialsystem, das für die Betreuung des Nachwuchses einen Kindergarten »um die Ecke« bereithält. Herr Sander, der aus einem katholischen Elternhaus stammt, berichtet zwar auch von Konflikten mit der Staatsmacht (»dass die Kinder schon von klein auf so getriezt wurden«), doch daraus ergibt sich bei ihm keine generelle Systemopposition: Seine Kinder hätten »auch Jugendweihe gemacht« und seien bei der GST »mit Waffentechnik in Berührung gekommen«.151 In diesem Aufstiegsnarrativ erscheint das Jahr 1989 nun als ein tiefer Einschnitt. Seine Kinder finden plötzlich keine Lehrstelle mehr (oder müssen dafür sehr weit fahren), das soziale Sicherungssystem bricht weg. An die Stelle einer in der Figur Günter Schabowskis persönlich greifbaren Partei, die günstigen Wohnraum für alle verspricht, tritt die anonyme Drohung des Marktes, bei Arbeitsplatzverlust »auf der Straße« zu landen. Herr Sander, der sich früher in der DDR »sehr viel leisten« konnte, muss nun als Aufsichtsperson in einem Berliner Museum seine Rente aufbessern. Vor diesem Hintergrund sind die Themen »Einkaufen« und »Bückware« für meinen Gesprächspartner nicht mit Mangel konnotiert (»wir hatten diese Probleme nicht«), sondern umgekehrt mit Wohlstand und Privilegien. Dank dreier »West-Omas« hätten seine Frau und er genügend »West-Kohle« für das Einkaufen im Intershop gehabt. Dieser ist für Herrn Sander zudem dadurch symbolisch aufgeladen, dass seine Frau und er dort ihre Eheringe gekauft hätten. In seiner Lesart des Themenbereichs Bückware verschränken sich somit persönliche Bedeutungszuschreibungen (die Eheringe) mit biografischen Umbruchserfahrungen (materieller Wohlstand in der DDR gegenüber finanzieller Knappheit in der BRD) und ambivalenten historisch-politischen Werturteilen (»Schade, dass die Wende gekommen ist. Gut, ich bin ja kein Kommunist oder sowas«). Vor diesem Hintergrund kann auch plausibilisiert werden, weshalb Herr Sander die nachgestellte Plattenbauwohnung des Museums im Interview nicht erwähnt. Auf den ersten Blick scheint das Thema Wohnen gut in den Erzählmodus meines Gesprächspartners zu passen, schildert er seine sich wandelnden Wohnverhältnisse doch in der Struktur einer Fortschrittsgeschichte, die erst durch die Wende stillgestellt wird. Was beim Thema Wohnen im Kontext der DDR jedoch viel weniger stark ausgeprägt ist, ist die innere Spannung zwischen Luxus und Mangel, zwischen privilegiertem Zugang und faktischem Ausschluss von gehobenem materiellen Besitz, über die sich die eigene Stellung in der Gesellschaft markieren lässt. An Herrn Sander Wohnverhältnissen hat sich seit 1987 offenbar nicht viel verändert. Demgegenüber stehen Bückware, Intershops und »West-Kohle« für eine verlorengegangene 151
Konträr zum apodiktischen Urteil des ehemaligen IfZ-Direktors Horst Möller waren für meinen Gesprächspartner also die Kinderkrippen charakteristischer als der Staatssicherheitsdienst. Sabrow, Martin et al. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung, S. 56.
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Zugehörigkeit zum Kreis der materiell Bessergestellten, zu denen sich Herr Sander offenbar zählte. Diese Topoi eignen sich somit nicht nur als Erinnerungsanlass an eine glücklichere Vergangenheit, sondern symbolisieren zugleich den materiellen Einschnitt und Bruch, den die Wende für meinen Gesprächspartner allem Anschein nach bedeutete. Was dagegen in den Antworten meines Gesprächspartners vordergründig kaum eine Rolle spielt, ist die Darstellungsweise des Themas durch das DDR-Museum. Die Ausstellungstexte berichten von »allgegenwärtige[m] Mangel« in der DDR, von der »Jagd nach Mangelware«, »Warteschlangen« und »Waren für Wenige«. Zu den gezeigten Exponaten gehört das Notizbuch einer Frau aus Sachsen-Anhalt, in dem diese in unregelmäßigen Abständen festhielt, was es mal wieder nicht oder ausnahmsweise doch zu kaufen gegeben habe (31.08.1094: »Kräutertee!«, 12.10.1984: »kein Käse!!«, 07.01.1985: »ewiges Schlangestehen«).152 Bei Herrn Sander wird dieses Narrativ jedoch in sein Gegenteil verkehrt. Statt von Mühsal und Entbehrungen künden Bückware, Intershop, Genex von materiellen Vorzügen, gehobenem Lebensstandard und Exklusivität. Und wir können auch hier wieder sehen, dass diese Diskrepanz keineswegs darin begründet liegt, dass mein Gesprächspartner die intendierte Botschaft des Ausstellungsbereichs einfach nicht verstanden hätte. An Aussagen wie »Wir haben das nicht […] so kennengelernt mit dem Leben oder mit Klamotten« oder »Es ist nicht schlimm gewesen, für uns« lässt sich ablesen, dass er sich über die Codierungen der Ausstellungsmacher*innen durchaus im Klaren ist. Diese sind für ihn jedoch insofern irrelevant, als dass er eigene Deutungsabsichten an die präsentierten Ausstellungsmedien heranträgt.153 Die geäußerte Besuchsmotivation, der Enkeltochter etwas über das eigene Leben in der DDR zu vermitteln, kann zudem als wichtiger Bestandteil eines »Entrance Narrative« nach Doering und Pekarik verstanden werden, welches die Vorzugslesart des Museums zusätzlich überlagert.154 Diese Abwesenheit des Ausstellungsnarrativs lässt sich auch in anderen Interviews beobachten. Da wäre etwa die in Sachsen aufgewachsene Frau Neumann, für die der Besuch des Museums in der Kulturbrauerei mit ihrem westdeutschen Partner viele Kindheitserinnerungen wachgerufen hatte. »Ob’s dann dort Pfeffi gewesen ist, Eisminze oder, also alles, was so in der Wohnung sich befindet. Ob sei’s der Eierbecher, Plastikeierbecher oder sonst irgendwas. Oder hier, FDJ beziehungsweise Pioniere, hab ich dann auch gesagt: Guck, das ist mein Pionierausweis gewesen,
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Die Zitate sind teils in dem in einer Vitrine liegenden Notizbuch zu lesen, teils wurden sie auf die dahinter befindliche Ausstellungswand aufgedruckt. Das Exponat befindet sich im ersten Teil der Ausstellung, »Öffentliches Leben«. Ich werde hierauf im folgenden Kapitel »Erinnerung und Eigensinn« noch genauer eingehen. Doering; Pekarik: Visitors to the Smithsonian Institution Vgl. zu diesem Punkt auch Kapitel 4.
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meiner sah genau so aus. Also ja sicher, es ist Vergangenheit. Und Erinnerung, ja.«155 Dass es bei den Pionieren laut Ausstellungstexten darum gegangen sei, »schon Kinder zur Anpassung [zu] erziehen«,156 dass »Beeinflussung der Jüngsten im Sinne der SED« ganz oben auf der Agenda gestanden habe,157 »viele Jugendliche […] nur lustlos zur FDJ« gewechselt und Abweichler »überwacht« worden seien,158 spielt in der Antwort von Frau Neumann keine Rolle. Stattdessen steht der entdeckte Pionierausweis in einer Reihe mit Pfeffi, Eisminze und Eierbechern. Das Ausstellungsnarrativ muss auch hier zurücktreten gegenüber den Erinnerungsimpulsen, die von diesen Alltagsgegenständen vermittelt werden. Andere Beispiele haben wir bereits in den vorherigen Kapiteln gesehen; weitere Spezifika dieses Modus der Ausstellungsaneignung werde ich in den folgenden drei Unterkapiteln anhand weiterer Interviewauszüge beleuchten. Die hier zitierten Interviewten, Herr Sander und Frau Neumann, teilen die Gemeinsamkeit, dass sie in der DDR aufgewachsen sind. Steht die Aneignung von DDR-Museen als Erinnerungsanlass also möglicherweise nur Besucher*innen mit DDR-Vergangenheit offen? Frau Domke, die ich ebenfalls im Berliner DDRMuseum interviewt habe, würde dies sicherlich verneinen. »Wir haben vieles wiedergefunden und wir haben auch gemerkt, dass ganz vieles, was so bis Anfang der siebziger Jahre war, bei uns im Westen gar nicht anders war«, schilderte die Rentnerin aus Bayern ihre Eindrücke von der Ausstellung.159 Also manche Sachen, die kenne ich aus meiner Kindheit noch, aber das war im Westen genauso. […] Also wir hatten ja auch noch keinen Wohlstand in den sechziger, siebziger Jahren, ja. Also das war so. […] Ja, wir mussten auch sehr, sehr sparen. […] Also die Kinder haben beide gelernt, wie ich sparsam sein musste und dass wir nicht das und das kaufen konnten. Also ja. Es war so und wir haben sehr gespart […] Und mich überrascht heute sehr oft dieses Anspruchsdenken.160 Für Frau Domke eröffnen die Themen Alltag und Mangel/Konsum die Möglichkeit, ihre Lebensgeschichte mit den Ausstellungsinhalten zu identifizieren. In ihrer Antwort lässt sich zudem deutlich ein Moment der »Identitätsarbeit« (s. Kapitel 7.6) ausmachen, wenn Frau Domke ihre Rolle als umsichtig haushaltende Mutter mit dem heutigen »Anspruchsdenken« vergleicht.
155 156 157
Interview 6, Museum in der Kulturbrauerei, 17.04.2019. Jungpioniere, Objekttext, Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 29.06.2021). »Sozialistisch Lernen«, Objekttext, Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 29.06.2021). 158 Vom Ich zum Wir, Bereichstext zum Thema FDJ, Museum in der Kulturbrauerei (fotografiert am 29.06.2021). 159 Interview 8, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. 160 Ebd.
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Inwiefern ist Frau Domkes lebensweltlicher Zugang zur Ausstellung jedoch charakteristisch für die Aneignung von DDR-Museen durch Menschen ohne biografische Bezüge zur DDR? Tatsächlich bestand eine zentrale Frage zu Beginn meines Forschungsprojekts darin, welche Besucher*innen überhaupt befragt werden sollten. Nach welchem Konzept sollte die Auswahl erfolgen, wie sollte meine Stichprobe aussehen? In diesem Zusammenhang wurde mir verschiedentlich davon abgeraten, Tourist*innen von außerhalb der heutigen BRD in meine Untersuchung mit einzubeziehen. Zu groß seien die Unterschiede, zu gering die lebensweltlichen Beziehungen zur untergegangenen DDR, als dass aussagekräftige und vergleichbare Erkenntnisse aus Interviews mit dieser Gruppe von Besucher*innen gewonnen werden könnten. Erste Interviews im Berliner DDR-Museum legten jedoch gegenteilige Schlüsse nahe. Dass Menschen sich eine zeithistorische Ausstellung häufig über das Herstellen lebensweltlicher Bezüge aneignen, lässt sich etwa an Besucher*innen aus Großbritannien ebenso gut feststellen wie an solchen aus Ost- oder Westdeutschland. »It was like the 1960s in the UK. Very, very similar«, beschrieb die bereits im vorigen Kapitel zitierte Frau Stevens (»You hear a lot about the Trabant in the UK«) ihren im Berliner DDR-Museum gewonnenen Eindruck von der DDR im Interview.161 Sie hatte das Museum zusammen mit ihrem Verlobten Herrn Murray, einem 61-jährigen Arbeiter aus ihrer Heimatstadt, besucht. Nach dem Grund ihres Besuchs gefragt, erklärte Frau Stevens zunächst: »Cause we both remember the wall coming down«. In der Ausstellung fühlten sich dann beide an das England der sechziger Jahre erinnert: Frau Stevens: Similar sort of style of wallpaper. Yeah, really, really old. Herr Murray: Yeah, even the toys I saw. I can remember playing with toys like that. That’s the sort of toys I had in the sixties.162 Begeistert war Frau Stevens auch vom Thema einkaufen (»we loved that«): Cause we had a thing when we were growing up. The cooperative in the UK had a thing called green shield stamps, so we did the same thing. I can remember as a child my mum collecting all these stamps together and giving them to me and my sister to stick in, stick in books. So it, it wasn’t that far different looking. It was like: Ah yeah, I remember that!163 Auch für Frau Stevens und Herrn Murray dienen also Ausstellungsmedien aus dem ersten (»Öffentliches Leben«) und dritten Teil (»Alltag im Plattenbau«) der Ausstellung als Erzählanker. Was Ihren Zugang zur Ausstellung von dem des Ostberliners 161 162 163
Interview 5, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Ebd. Ebd.
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Herrn Sander und des Jenaer Ehepaars Bogner formal unterscheidet, ist lediglich eine zusätzlich notwendige Transferleistung: Um sich mit den Ausstellungsinhalten identifizieren zu können, müssen Frau Stevens und Herr Murray diese nicht nur mit der eigenen Erinnerung abgleichen, sondern zunächst aus ihrem spezifischen historischen Kontext herauslösen und in ihrer eigenen Lebenswelt rekontextualisieren. Diese Transferleistung erfordert jedoch keine bewusste Anstrengung; sie erfolgt spontan und ohne Schwierigkeiten. Frau Stevens macht daher auch keinen generellen Unterschied zwischen dem Stempelbuch ihrer Kindheit und dem im DDR-Museum. Wofür das Stempelbuch im Museum steht, in was für ein Narrativ es eingebettet ist, ist für sie nachrangig, da sie es im Modus der Erinnerung liest: »Ah yeah, I remember that!«
7.5.1 Erinnerung und Eigensinn »Ich selber sammle nicht; ich werfe nur nichts weg.«164 Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, wie sich unterschiedliche Besucher*innen Ausstellungen zur Geschichte der DDR über das Herstellen biografischer Bezüge aneigneten. Die Ausstellungsmedien erzählten dabei kaum eigenständige Geschichten, sondern dienten vor allem als Impulsgeber für persönliche Erinnerungen. Würden wir nun versuchen, diese Art der Ausstellungsaneignung mit Stuart Halls Lesarten-Modell zu fassen, stießen wir schnell auf eine Reihe schwerwiegender Probleme. Im Sinne welcher Lesart decodiert beispielsweise Herr Sander die Ausstellung des Berliner DDR-Museums? Sicher, Äußerungen wie »wir hatten diese Probleme nicht« oder »es war nicht schlimm – für uns« können durchaus als ein Agieren im ausgehandelten Code interpretiert werden: Herr Sander akzeptiert im Großen und Ganzen das Narrativ von Mangel und niedrigerem Lebensstandard in der DDR, widerspricht diesem aber punktuell, indem er auf seine eigenen Erfahrungen verweist. Eine Ausweitung dieser Interpretation auf größere Gesprächsausschnitte ist jedoch kaum möglich und jedwede Kategorisierung des Interviews anhand des Lesarten-Modells würde sehr bemüht wirken. Ähnlich verhält es sich mit den oben zitierten Interviews im Berliner DDR-Museum mit Frau Stevens und Herrn Murray, Frau Domke und dem Ehepaar Bogner (s. Kapitel 7.4): Stets gibt es eindeutige Anhaltspunkte dafür, dass die befragten Besucher*innen die jeweilige Ausstellung nicht einfach missverstehen. So ist es etwa dem Besucher*innenpaar Stevens und Murray natürlich bewusst, dass es dem DDR-Museum nicht um die Gemeinsamkeiten ostdeutscher und englischer
164 Marquard, Odo: Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur. Festvortrag, in: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube; zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Wiesbaden 1994, S. 909–918, hier: S. 910.
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Wohnungseinrichtungen (»Similar sort of style of wallpaper«) geht. Vielmehr bringt Herr Murray, leicht distanziert, sein Verständnis der musealen Vorzugslesart zum Ausdruck, wenn er im Anschluss sagt: »So everyone seems like: if that was East Germany in the 1980s, they were 20 years, almost 20 years behind.«165 Von derartigen Momenten abgesehen muss allerdings konstatiert werden, dass die zitierten Schilderungen des Ausstellungsbesuchs sich (zumindest vordergründig) jenseits der Trias aus dominant-hegemonialer, ausgehandelter und oppositioneller Lesart bewegen. Die Interviewten bezogen sich nicht oder kaum explizit auf bestimmte Ausstellungsnarrative, museale Vorzugslesarten spielten in den analysierten Interviews kaum eine Rolle, stattdessen dienten die gesehenen Ausstellungsmedien als Erzählimpulse für lebensweltliche Erinnerungen. Soll heißen: Die getätigten Bedeutungszuschreibungen der Besucher*innen an solche Ausstellungsmedien erfolgen weder in Übereinstimmung noch in Aushandlung oder Opposition zur museal intendierten Bedeutung, sondern oft einfach parallel zu dieser. Das Phänomen, dass sich Erzählungen einer eindeutigen Zuordnung innerhalb des Lesarten-Modells entziehen, ist natürlich weder neu noch ein Spezifikum von DDR-Museen. Eine mögliche Antwort auf diese Problematik besteht darin, nicht nur analytisch sondern auch praktisch zwischen einer denotativen und einer konnotativen Dimension der Decodierung zu unterscheiden. »Hall’s original model tends to blur together questions of recognition, comprehension, interpretation and response«, konstatiert etwa der Medienwissenschaftler David Morley.166 Diese Bemerkung aufgreifend, schlägt der Medienwissenschaftler Kim Schrøder in einer kritischen Erweiterung von Halls Modell u.a. vor, zwischen dem Verstehen einer Botschaft und einer politischen Positionierung gegenüber selbiger zu differenzieren.167 Hall selbst weist jedoch zurecht darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen vermeintlich ideologisch neutraler Denotation und ideologisch aufgeladener Konnotation bereits das Resultat einer ideologischen Verblendung ist. Denn das, was als die Denotation einer Botschaft erscheint (ihre »wörtliche« oder »nahezu universell konsensualisierte« Bedeutung) müsse auch als das Resultat einer Naturalisierung ihrer Konnotation begriffen werden: Natürlich können bestimmte Kodes […] so weit verbreitet sein […], dass sie nicht als konstruiert erscheinen mögen – sondern als »naturgegeben«. In diesem Sinne erscheinen einfache visuelle Zeichen, als hätten sie eine »Quasi-Universalität« 165 Interview 5, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. 166 Morley, David: Television, Audiences, and Cultural Studies, London, New York 1992, S. 19. 167 Schrøder: Making Sense of Audience Discourses. Schrøders Unterscheidung zwischen »Comprehension« und »Position« ist allerdings ambivalent und fällt nicht ganz eindeutig mit Denotation und Konnotation zusammen. Anzumerken ist ferner, dass Morleys Bemerkung (die auch Schrøder zitiert) keine grundsätzliche Kritik an Halls Modell darstellt, sondern vielmehr im Kontext einer Verteidigung des Modells gegen seine Kritiker*innen fällt.
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erworben […]. Dies hat den (ideologischen) Effekt, dass die tatsächlichen Kodierungspraktiken im Verborgenen bleiben.168 Angemessener als eine Kategorisierung anhand des Lesarten-Modells scheint mir daher eine Charakterisierung dieser Fälle mit dem von Alf Lüdtke geprägten Begriff des »Eigensinns« zu sein. Lüdtke verwendet »Eigensinn« in seinen alltagsgeschichtlichen Untersuchungen zum einen als Quellenbegriff, der »spätestens seit dem 18. Jahrhundert Eingang in die Schriftsprache gefunden« habe und von den höheren Klassen als missbilligende Beschreibung für »jene Rüpeleien, Grobheiten oder Wunderlichkeiten, die sie allenthalben unter dem »Pöbel« entdeckten«, verwendet worden sei. Zum anderen bezieht sich Lüdtke auf Hegel, der in der Phänomenologie des Geistes Eigensinn als »Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt« charakterisiert.169 Der Begriff bezeichnet für Lüdtke daher weder ein Auflehnen gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse noch die planvolle »Verfolgung der eigenen Interessen« oder strategische »Optimierung der Effizienz des eigenen Verhaltens.« Vielmehr gehe es um »ein »Bei-sich-selbst-sein« und ein »Mit-anderensein« – also darum, einen sozialen Raum zu schaffen, zu dem die Obrigkeit (temporär) keinen Zugang hat.170 Eigensinn scheine daher in »vereinzelten, gleichwohl beständig wiederholten Augenblicken der Aneignung« der eigenen Position innerhalb bestehender Herrschaftsverhältnisse auf.171 Lindenberger und Lüdtke führen hierzu aus: Zunächst gilt es dem weitverbreiteten Missverständnis entgegenzutreten, »Eigensinn« sei ein anderes Wort für »Widerstand« oder eine Spielart von Widerstand. Eigensinn bezeichnet weder einen abgeschwächten oder individualisierten Widerstand noch trotzig-individualistische Verweigerung. […] Im Konzept des Eigensinns geht es um diejenigen Sinnproduktionen und Sinnbezüge, die dem Individuum zugehörig bleiben, insbesondere auch in einer Herrschaftsbeziehung […]. Sie sind an die Sinne und den Körper dieses Individuums gebunden.172 In diesem Sinne möchte ich eine eigensinnige Lesart eines Ausstellungsmediums definieren als eine Form der Aneignung, die weder widerständig noch konformis-
168 Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 71. 169 Lüdtke: Eigen-Sinn, S. 9. Hegel, Georg W. H.: Phänomenologie des Geistes (Werke Band 3), Frankfurt a.M. 1979, S. 154. 170 Lüdtke: Eigen-Sinn, S. 140, 142. 171 Ebd., S. 141. Bei Lüdtke geht es um das Verhältnis Kapital-Arbeit und konkret beispielsweise darum, wie sich Arbeiter*innen Freiräume und soziale Beziehungen in einem durch und durch normierten Fabrikalltag schaffen. 172 Lindenberger, Thomas & Lüdtke, Alf: Eigensinn: Handlungsräume und Herrschaftspraxis. Zur Einleitung (2018), URL: https://eigensinn.hypotheses.org/files/2019/06/Lindenberger-L üdtke-EigenSinn-für-polnAnthologie-v1.3-Jan2018.pdf (letzter Zugriff: 01.11.2022).
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tisch ist und sich weder des oppositionellen noch des hegemonialen oder ausgehandelten Codes bedient, sondern außerhalb dieser Kategorisierung operiert. Sie verweigert sich dem musealen »Kampf um Bedeutung« und betritt den »Kampfplatz der Erinnerungen« lediglich in der Absicht, die dort befindlichen Objekte aus diesem herauszulösen und für eigene Momente der Erinnerung zu gewinnen. Dies geht so weit, dass Grenzfälle dieser Art der Ausstellungsaneignung eine Herausforderung für die semiotische Ausstellungstheorie insgesamt darstellen können. Was ich damit meine, lässt sich wohl am besten anhand eines Beispiels verdeutlichen. Es ist einem Interview mit Herrn Kerner (Lehrer im Ruhestand, in der DDR aufgewachsen) im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR entnommen. Interviewer: Können Sie mal versuchen, mir möglichst genau zu erzählen, was Sie sich alles angeschaut haben, wo Sie sich dran erinnern können? Herr Kerner: An alles. War ja mein Leben. Ich hab ja von 49, als die DDR gegründet wurde, […] bis 1990, als sie sich aufgelöst hat, oder sich dem Westen an den Hals geschmissen hat [lacht], hab ich in der DDR gelebt. Also hat mich alles interessiert. Ein paar Dinge hab ich vielleicht nicht gesehen zu DDR-Zeiten. Ich wusste nicht, dass es in der DDR zum Beispiel 1960 schon ne Geschirrspülmaschine gab. Ja, ich hab ja auch keinen Haushalt gehabt. Aber ansonsten sind das alles Dinge gewesen, die wir kennen und die wir teilweise benutzt haben, ja. Interviewer: Gab es in der Dauerausstellung jetzt Ausstellungsstücke, die sie besonders interessiert haben? Herr Kerner: Eigentlich nicht. Überrascht war ich wie gesagt von dieser Geschirrspülmaschine. Und besonders interessiert nicht, weil wir ja: »Das hatten wir, das hatten wir, das hatten wir.« Das ist natürlich aufgefallen.173 Was für eine Funktion kommt den im Dokumentationszentrum Alltagskultur gezeigten Exponaten für Herrn Kerner in diesem Gesprächsausschnitt zu? Herr Kerner scheint die Ausstellung wie eine Art dreidimensionale Inventarliste durchzugehen und hinter jeden Alltagsgegenstand, den er auch einmal besaß, ein gedankliches Häkchen zu machen (»das hatten wir, das hatten wir, das hatten wir«).174 Für ihn ist dabei einerseits »alles« interessant, andererseits gibt es jedoch nichts, was ihn »besonders interessiert«. Diese Gleichzeitigkeit von Interesse und Desinteresse lässt sich ohne weiteres aus Herrn Kerners Umgang mit den Exponaten des Museums erklären. Einfach ausgedrückt sind diese für ihn das, was sie immer schon waren. Fiktives Beispiel: Ein Toaster ist ein Toaster, ein Eierbecher ist ein Eierbecher 173 174
Interview 1, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Das Motiv der Liste, welches Macdonald im Zusammenhang mit Besuchsmotivationen herausstellt, erhält hier nochmal eine ganz neue Bedeutungsdimension.
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– ob er nun im Museum steht oder zu Hause. Und wenn ich sowohl einen Toaster als auch einen Eierbecher zu Hause habe, dann ist es zwar zweifellos interessant, beide in einem Museum wiederzufinden, aber es gibt erst einmal keinen Grund, warum mich entweder der Toaster oder aber der Eierbecher besonders faszinieren sollte (überrascht ist Herr Kerner lediglich von der Geschirrspülmaschine, von deren damaliger Existenz er nichts gewusst habe). In der Sprache der semiotischen Ausstellungstheorie ausgedrückt heißt das, dass den Exponaten für Herrn Kerner lediglich eine denotative, jedoch kaum eine konnotative Dimension zukommt – jedenfalls keine, die sich auf die Ausstellung zurückführen ließe. Wodurch aber wird ein profaner Alltagsgegenstand zu einem »Träger von Bedeutung«? Ein wesentliches Moment dieses Zeichenwerdungsprozesses ist der Standortwechsel, der Übergang vom lebensweltlichen in den musealen Kontext. »Nichts kommt ins Museum, von dem nicht angenommen wird, dass es irgendetwas bedeutet, dass es irgendwie etwas »zeigt«, so Gottfried Korff. Und weiter: Es sind also nicht erst die Rahmungen in Form von Inszenierungen, Szenographien oder […] Ensembles, die den Objekten Bedeutung verschaffen, sondern es ist die Musealisierung selbst, die Musealisierung im Sinne der Herstellung einer Musealie, der Produktion eines Museumsdings.175 Nun könnte man einwenden, dass den Exponaten des DOK in Herrn Kerners Antwort ja sehr wohl eine Bedeutung zugeschrieben wird, dass generell »der Umfang möglicher konnotativer Bedeutungen eines Museumsobjekts nie vollständig zu erfassen ist«,176 dass »die Assoziationsketten der Besucher weder vorauszusehen noch zu verallgemeinern« sind,177 dass es also überhaupt nichts Ungewöhnliches ist, wenn ein Besucher bestimmten Ausstellungsmedien eine andere Bedeutung zuschreibt, als dies die Kurator*innen tun. Das ist zweifellos richtig. Der Punkt ist aber ja gerade der, dass Herr Kerner den von ihm betrachteten Objekten überhaupt keine Bedeutung zuschreibt, die sich auf ihre Musealisierung zurückführen ließe. Bei Korff, der einen wunderbar humoristischen Sammelbandbeitrag über die sonderbare Beziehung von Museen und Hüten geschrieben hat, heißt es über den Pepitahut Konrad Adenauers im Hausmuseum des ehemaligen Bundeskanzlers, dass von diesem in Besucher*innen-Gesprächen stets »als Zeichen, als Symbol die Rede war, nie jedoch vom Hut als alltäglichem Gebrauchsgegenstand. Der Hut in der Vitrine ist etwas anderes als der Hut auf Adenauers Kopf.«178 Allerdings fragt sich auch Korff an anderer Stelle, ob das Museumsobjekt stets bereits qua Musea-
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Korff: Vom Verlangen, Bedeutung zu sehen, S. 81–82. Scholze: Medium Ausstellung, S. 33. Ebd., S. 24. Korff: Vom Verlangen, Bedeutung zu sehen, S. 88.
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lisierung vom »Zeugs zum Zeugen« werde.179 Und tatsächlich muss das zitierte Interviewfragment mit Herrn Kerner diese Zweifel bestärken. Denn dort ist von den Objekten gerade nicht »als Zeichen, als Symbol die Rede« – umgekehrt: die musealen Bedeutungsträger (Zeichen, Symbole) werden als einfache Objekte rezipiert. Um im oben gewählten Beispiel zu bleiben: Wofür steht hier der Eierbecher im Museum? Ist er wirklich etwas anderes als der Eierbecher zu Hause? Hat er für Herrn Kerner durch die Musealisierung an Bedeutung gewonnen? Oder ist die konnotative Dimension des Eierbechers nicht vielmehr unabhängig vom musealen Kontext? Anders ausgedrückt: Wenn der Eierbecher nicht nur ein Träger von Eiern, sondern auch ein Träger von Bedeutung ist (etwa als Erinnerungsanlass für den Alltag oder die Konsumgüterwelt der DDR), dann kann er diese Funktion im heimischen Küchenschrank möglicherweise ebenso gut erfüllen wie im Museum. Ich möchte die Frage nach dem Zeichencharakter von Ausstellungsmedien innerhalb der eigensinnigen Lesart einer Ausstellung noch aus einem weiteren Blickwinkel betrachten. Schauen wir uns dazu den folgenden Gesprächsausschnitt mit Frau Bogner aus Jena im Berliner DDR-Museum an: Interviewer: Gab’s noch mehr, was Sie gesehen haben in der Ausstellung jetzt? Frau Bogner: Also was mich sehr fasziniert hat, muss ich sagen, das war, also es ist ein Museum zum Anfassen. […] Also man konnte eben gerade wie in diesem Schlafzimmer, dass man sich da mal, also durch den Spiegel so verkleiden konnte. […] Ja und es ist natürlich auch irgendwo Vergangenheit. Ja, da identifiziert man sich halt auch mit vielem. Da in dem Wohnzimmer, da war ein Bild an der Wand von Walter Womacka, Am Strand. Da kann ich mich erinnern, das hab ich in der neunten Klasse, da mussten wir ne Bildbeschreibung machen. Also für mich war das Bild, ähm, allgegenwärtig, ja.180
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Korff, Gottfried: Die Wonnen der Gewöhnung. Anmerkungen zu Positionen und Perspektiven der musealen Alltagsdokumentation (1993), in: Eberspächer, Martina et al. (Hg.): Museumsdinge. Deponieren – exponieren, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 155–166, hier: S. 161. Korffs Text ist eine Auseinandersetzung mit der zunehmenden Musealisierung von Alltagsgeschichte, der er eine folkloristische »Tendenz zum Hinstellen, zum Webkammer- und Küchenfunktionalismus« vorwirft. »Zeugs bleibt Zeugs«, müsse daher innerhalb dieser Darstellungsweise befürchtet werden, so Korff. Ebd., S. 161. 180 Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019.
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Digitaler Spiegel im DDR-Museum. Schiebt man ein Kleidungsstück auf eine bestimmte Stelle der Kleiderstange, wird dieses auf den eigenen Körper projiziert.
Der erste Satz meiner Gesprächspartnerin rezitiert beinahe wortgleich die Selbstbeschreibung des Museums: »DDR-Museum – Geschichte zum Anfassen«.181 Und das erste Ausstellungsmedium, das ihr dazu in den Sinn kommt, ist auch ein besonders interaktives: Ein digitaler Spiegel im Schlafzimmer der nachgestellten Plattenbauwohnung, der verschiedene »DDR-typische« Kleidungsstücke, die man in einem nebenstehenden Kleiderschrank haptisch auswählen kann, auf die Besucher*innen projiziert. Was Frau Bogner aber besonders fasziniert, ist überhaupt nichts zum Anfassen oder Ausprobieren. Es ist nicht einmal ein Exponat im engeren Sinne, sondern eher ein gestalterisches Element, das zum Zwecke der Authentisierung der Wohnungsinszenierung über einen kleinen Beistelltisch gehängt wurde: »ein Bild an der Wand von Walter Womacka, Am Strand.« Für Frau Bogner, die sich im vorhergehenden Verlauf des Interviews eher kritisch über das Museum geäußert und ihm vorgeworfen hatte, Menschen aus der DDR würden hier ein »bisschen doof hingestellt«,182 eröffnet das Gemälde nun die Möglichkeit, sich mit der Ausstellung zu identifizieren – dies umso mehr, als dass es in der Ausstellung ohne Objekttext auskommt. Seine
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Vgl. den Internet-Auftritt des Museums: https://www.ddr-museum.de/de (letzter Zugriff: 20.04.2020). Ebd.
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denotativen und konnotativen Bedeutungsebenen und die damit verbundenen musealen Funktionen erschließen sich somit nur Eingeweihten. Die Platzierung des Bildes in der Ausstellung kann daher nicht nur als Teil einer Strategie zur Authentisierung der Wohnzimmerinszenierung gelesen werden, sondern darüber hinaus auch als bewusstes Identifikationsangebot für Besucher*innen mit DDR-Sozialisation. Und Frau Bogner bringt das Bild nicht nur mit einer Episode aus der eigenen Schulzeit in Verbindung, sondern bezeichnet es sogar als »allgegenwärtig«.
Wohnzimmerinszenierung im Berliner DDR-Museum. Rechts im Bild an der Wand: Walter Womackas »Am Strand«.
Man beachte, dass sich das Verhältnis von Codierung und Decodierung bei Frau Bogner gegensätzlich zu dem oben beschriebenen bei Herrn Kerner verhält. Dort hatten wir es mit Exponaten zu tun, die von Seiten des Museums bewusst mit Bedeutung aufgeladen waren, was von Herrn Kerner jedoch ignoriert wurde. Hier haben wir es nun mit einem dekorativen Ausstellungsmedium zu tun, das in der Rezeption durch Frau Bogner geradezu einen Überschuss an Bedeutung hervorbringt. In beiden Fällen kommt den Ausstellungsmedien jedoch eine ähnliche Funktion zu, wie sie sich etwa anhand der Bückwaren im Interview mit dem Ostberliner Rentner
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Herr Sander gezeigt hat: Sie fungieren als mit persönlicher Bedeutung aufgeladener Erinnerungsanlass an die eigene Vergangenheit. Und wie Herr Sander, so deutet weder Herr Kerner den Geschirrspüler noch Frau Bogner das Gemälde im Sinne oder entgegen der Vorzugslesart des Museums (die im Falle von Frau Bogner im engeren Sinne auch nicht existent ist), sondern einfach unabhängig von dieser, eben eigensinnig.
7.5.2 Die gestörte Erinnerung Was ist nun aber mit der musealen Vorzugslesart, mit den Geschichten, die ein Museum seinen Besucher*innen erzählen will? Sind diese für die Ausstellungsaneignung im Modus der Erinnerung wirklich völlig irrelevant? Wenn wir die bisher analysierten Gesprächsausschnitte einmal gedanklich anhand des Contextual Model of Learning von Falk und Dierking strukturieren, dann fällt dabei die weitgehende Abwesenheit dessen auf, was die beiden Museumswissenschaftler*innen den materiellen Kontext des Ausstellungsbesuchs (also die Ausstellung selbst) nennen.183 Denn zum einen tauchen museale Vorzugslesarten allenfalls in verstreuten Halbsätzen der Interviewten auf und zum anderen werden große Teile der jeweiligen Ausstellung überhaupt nicht thematisiert. Die Ausstellungsmedien existieren nicht für sich, sondern sind nur insofern von Bedeutung, als dass sich über sie lebensweltliche Bezüge herstellen, sie sich also mit dem individuellen und sozialen Kontext des Ausstellungsbesuchs in Verbindung bringen lassen. Der individuelle und soziale Kontext des Ausstellungsbesuchs überlagern den materiellen bzw. strukturieren diesen vor. Man könnte auch mit Stuart Hall sagen, dass sie in diesem Fall gegenüber dem materiellen Kontext dominant sind, genauer: dominant, jedoch nicht determinierend,184 denn bisweilen gelingt es dem materiellen Kontext auch hier, sich gegenüber dem individuellen und sozialen zu behaupten. Ein solches Auseinanderklaffen zwischen den eigenen Deutungsabsichten und der Vorzugslesart des Museums nimmt häufig die Form einer Störung der erinnernden Ausstellungsaneignung an. In diesem Zusammenhang sei nochmal an Herrn und Frau Werneke erinnert, die sich im Dokumentationszentrum Alltagskultur durch das dort ausgestellte »Kriegsspielzeug« offenbar so massiv in ihrer Erinnerung an das eigene Familienleben in der DDR gestört fühlten, dass knapp ein Fünftel des Interviews um die Frage kreiste, ob es »so etwas« in der DDR gegen haben, was beide vehement bestritten.185 Der Begriff der Störung bietet sich für die Beschreibung dieser Erfahrung nicht nur deshalb an, weil er zum Teil von den Interviewten selbst genutzt wird, sondern er ist auch unter einem theoretischen Gesichtspunkt 183 Falk; Dierking: The Contextual Model of Learning. 184 Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 74. 185 Interview 4, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019.
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betrachtet aufschlussreich. Wenn wir ihn an die Hermeneutische Dialoganalyse rückbinden, dann fällt auf, dass die Störung der Ausstellungsaneignung durch bestimmte Exponate von ganz ähnlichem Charakter wie die Störung der Interviewsituation durch die interviewende Person ist. Zur Erinnerung: In der klassischen Theorie des qualitativen Interviews erscheint die Einwirkung der Forschenden auf den Gesprächsfluss als kontingente und daher vermeidbare Verzerrung des zu erhebenden Datenmaterials. Da jedoch alle Versuche, die Forschenden vollständig aus der Interviewsituation zu exkludieren, zum Scheitern verurteilt sind, reagiert die Hermeneutische Dialoganalyse auf dieses Problem, indem sie das, was als kontingente Verzerrung der Daten erscheint, selbst zum Datum erklärt, d.h. zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. Diese Beziehung zwischen scheinbarer Kontingenz und innerer Notwendigkeit lässt sich auch bei der Störung der Ausstellungsaneignung beobachten. Ich zitiere noch einmal aus dem Interview mit Herrn und Frau Werneke im DOK Eisenhüttenstadt: »Aber die Maschinenpistole und so was es da oben gab […], gab’s im Laden absolut nicht. […] Das kann höchstens mal irgendeiner gebaut haben für seine Kinder, aber […] frei verkäuflich war das nicht.«186 Für meine beiden Gesprächspartner*innen kommt es offenbar einem großen Zufall gleich, dass es dieses »Kriegsspielzeug« in die Ausstellung geschafft hat. Aus der Perspektive des Museums ist dieser Zufall aber natürlich ein logischer Bestandteil des Ausstellungsnarrativs, wenn es darum gehen soll, »das alltägliche Leben notwendigerweise im Kontext der Diktatur darzustellen« und die ideologische Durchdringung der Gesellschaft »von der Kinderkrippe über die Schule und die Universität bis hin zur Arbeitswelt und zur Freizeitgestaltung« herauszustellen.187 Und auch im Interview mit Herrn und Frau Werneke erscheint der zufällige Charakter des Kriegsspielzeugs bei genauerer Betrachtung insofern ambivalent, als dass es wie immer deutliche Anzeichen dafür gibt, dass meine beiden Gesprächspartner*innen die Ausstellung nicht einfach »missverstehen«. So erklärt Frau Werneke gegen Ende des Interviews beispielsweise, sie habe den Eindruck, dass in manchen Medien »eine Schicht […] so ein bisschen überrepräsentant dargestellt« werde – wobei mit dieser »Schicht« augenscheinlich der Herrschaftsapparat der DDR gemeint ist.188 Ähnlich wie Frau und Herrn Werneke erging es auch Frau Lagno aus Hoyerswerda im ZFL, die das Museum mit ihrer Tochter besucht hatte. »Es ist ja meine Zeit« antwortete Frau Lagno auf die Frage nach dem Grund ihres Besuchs.189 Obwohl das ZFL wahrlich kein alltagsgeschichtliches Museum ist, wusste Frau Lagno von zahlreichen Wiedererkennungsmomenten während ihres Rundgangs zu erzählen, denn
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Herr Werneke, ebd. Deutscher Bundestag: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption. Interview 4, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Interview 6, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2020.
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schließlich habe sie sich »eigentlich das, was man, ja, das, was man wiedererkennt« angeschaut: Ob das das Transparent ist, oder das der Lenin ist, ob das… Ja, wo stand ich davor? Vor meinem ersten Schulrechner da […]. Wo man sagt einfach: Das war meine Zeit. Das war mein Schulbuch, das war mein, was weiß ich, hier der Laden, ne? […] Ich sagte grad zu ihr [der Tochter]: Ich bin alt, wenn ich diese ganzen Lebensmittelverpackungen nachher wiedererkenne.190 Analog zu den zuvor zitierten Besucher*innen gleicht der Ausstellungsrundgang für Frau Lagno einer Art Zeitreise in die eigene Vergangenheit. »Es kommt einfach ein Stückel Kindheit wieder«, fasste sie ihre Eindrücke gegen Ende des Interviews nochmals zusammen.191 Dann jedoch wandte sie ein: Was ich so wahrgenommen hab, wo ich vorhin gesagt hab: Das gefällt mir nicht, das verletzt mich trotzdem, war diese Fahne, wo das DDR-Emblem rausgerissen wurde. [Interviewer: Ah ja] Sicherlich ist es reell, wahrscheinlich ist es wirklich ein Stück, ja, aus der Wendezeit, was die Leute gemacht haben. Also ich denk schon, aber es tut mir weh, weil ich… [Interviewer: Ja] Ich möchte… Es ist meine Kindheit, es war nicht alles schlecht. Und ich möchte die DDR nicht so verteufelt wissen, wie’s manchmal heute dargestellt wird. [Interviewer: Ja] Es ist sicherlich, wir hatten die Stasi gehabt und keine Freiheit und das ist alles richtig. Aber wir hatten auch viele Werte, die mit der DDR gegangen sind.192 Ich möchte zwei Aspekte dieser Interviewsequenz hervorheben. Der erste betrifft die angesprochene DDR-Fahne. Die implizit aufgeworfene Frage nach der historischen Authentizität dieses Exponats beantwortet Frau Lagno mit den Worten »sicherlich«, dann »wahrscheinlich« und schließlich mit »ich denke schon«. Der lauter werdende Zweifel, der in dieser dreifachen Bejahung mitschwingt, veranschaulicht noch einmal die vermeintliche Kontingenz des störenden Ausstellungsstücks. Dass dieses im ZFL gezeigt werden kann, hängt für meine Gesprächspartnerin davon ab, ob »es wirklich ein Stück, ja, aus der Wendezeit« ist – und das ist es »sicherlich«, »wahrscheinlich«, »ich denke schon«. Dass Frau Lagno »die DDR nicht so verteufelt wissen [will], wie’s manchmal heute dargestellt wird«, kann zugleich als Indiz dafür gelesen werden, dass sie sich zumindest latent um die generelle Ausrichtung des ZFL im Klaren ist. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die Frage ist nicht, ob Frau Lagno die Ausstellung »versteht« oder nicht, sondern inwiefern es ihr
190 Ebd. Bei dem erwähnten Transparent ist vermutlich ein Transparent mit der Aufschrift »Freundschaft mit der Sowjetunion« gemeint, welches Frau Lagno an einer späteren Stelle des Interviews explizit erwähnt. 191 Ebd. 192 Ebd.
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gelingt, die Vorzugslesart des Museums zugunsten ihrer eigensinnigen Aneignung der Ausstellung als Erinnerungsanlass (unbewusst) auszublenden. Wo dies nicht gelingt, erscheinen die Ausstellungsmedien als Störung.
DDR-Flagge aus dem Ausstellungsbereich »Weg zur Einheit«. »Diese DDR-Flagge hängt bis zur Silvesternacht 1989 auf dem Brandenburger Tor […] Jugendliche holen sie von dort herunter, entfernen das DDR-Staatswappen und hissen stattdessen die Deutschland- und Europafahne«, so der Begleittext mit der Überschrift »Zeitenwende«.
Der zweite Aspekt, der an dem oben zitierten Interviewausschnitt aufschlussreich ist, betrifft die seit etlichen Jahren immer wieder diskutierte Kluft zwischen dem hegemonialen Diktaturgedächtnis und vor allem in Ostdeutschland verbreiteten Formen der Gegenerinnerung, die auf einer Würdigung der positiven Seiten
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des Lebens in der DDR beharren. Die Antwort auf diese Kluft besteht meist darin, die »Lebensleistung« von ehemaligen DDR-Bürger*innen verbal anzuerkennen, wovon man sich offenbar eine Versöhnung der (ostdeutschen) Gegenerinnerungen mit dem hegemonialen DDR-Diskurs verspricht.193 So fällt etwa im Abschlussbericht der 2019 vom BMI eingesetzten Kommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit« auf knapp 100 Seiten 14 Mal der Begriff »Lebensleistung«, meist in Verbindung mit »Anerkennung« oder »Würdigung«.194 Die Kommission empfiehlt zudem die Schaffung eines in Ostdeutschland angesiedelten »Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit«, dass »nicht nur in institutioneller, sondern auch in architektonischer Hinsicht eine Würdigung der Lebensleistung der Ostdeutschen in den Transformationsprozessen der vergangenen Jahrzehnte sein« solle.195 Denn schließlich hätten sich die »Leistungen beim Umbau der Wirtschaft und des Sozialstaates« der »Generation Aufbau Ost« nach 1990 »in besonders hoher Flexibilität und damit auch hohen Abwanderungszahlen« gezeigt.196 Anstatt also auf die Ursachen von Prekarität und Bevölkerungsschwund einzugehen, begnügt sich der Bericht damit, die ostdeutsche Bevölkerung für ihre Mitarbeit am »Aufbau Ost« (ein Begriff, der in diesem Kontext geradezu zynisch klingt) zu loben. Damit läuft die »Anerkennung der Lebensleistung von Ostdeutschen«197 auf eine klassisch neoliberale Individualisierung gesellschaftlicher und struktureller Fragen hinaus: Individuum und Staat werden auseinanderdividiert, wodurch letztlich hinter die geschichtswissenschaftliche Einsicht in die Verschränkung von Alltag und Herrschaft zurückgegangen wird. Daher kann dieser Anerkennungsdiskurs zumindest auch als Versuch gelesen werden, eine offene Debatte um die historische Validität des Diktaturgedächtnisses und eine Bewertung der »Transformationsprozesse«198 nach 1989/90 zu vermeiden. Denn zugespitzt formuliert lautet seine implizite Botschaft in etwa: »Wir würdigen eure individuellen Lebensleistungen, dafür akzeptiert ihr unsere Verurteilung der DDR als System. Wir loben eure »Umbruchkompetenz«, dafür fragt ihr nicht mehr, ob es nicht auch Alternativen zum Ausverkauf der DDR durch die Treuhand gegeben hätte.« Dass diese säuberliche Trennung in individuelle Lebensleistung und staatliches System nicht nur wissenschaftlich bedenklich ist, sondern auch in der Praxis nicht aufgeht, lässt sich auch an den hier zitierten Interviews ablesen, bei denen 193
Mit der finanziellen Anerkennung ist der deutsche Staat deutlich zurückhaltender, wie der seit den neunziger Jahren anhaltende Konflikt um die gestrichenen DDR-Zusatzrenten für zahlreiche Berufsgruppen veranschaulicht. 194 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hg.): Abschlussbericht der Kommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«, Ostbevern 2020. 195 Ebd., S. 15. 196 Ebd., S. 21. 197 Ebd., S. 21. 198 Ebd., S. 51.
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beide Sphären oft nahtlos ineinander übergehen: Ein politisches Transparent zur »Freundschaft mit der Sowjetunion«, eine Lenin-Büste, einen Lebensmittelladen, Schulbuch und -rechner – all das fasst Frau Lagno unterschiedslos mit den Worten zusammen: »Das war meine Zeit.« Dabei geht es ihr nicht um ein pauschales »Früher war alles besser«, nicht um »Ostalgie« und sicherlich nicht um eine Anerkennung ihrer Lebensleistung, sondern lediglich um eine differenzierte Betrachtung der DDR. »Dieses Miteinander war ein anderes und es war auch nicht alles schlecht […]. Und das ist eigentlich, was ich so, was aus unserer Zeit schade ist, dass es untergegangen ist. […] Aber zurück möcht ich die Zeit auch nicht mehr«, so Frau Lagno gegen Ende des Interviews. Ganz ähnlich urteilte Frau Fink im Berliner DDR-Museum: »Ich möchte die DDR nicht zurück, aber missen möchte ich die Zeit auch nicht.« Und ihr Mann, der sich an anderen Stellen im Interview auch sehr kritisch über die DDR geäußert hatte, ergänzte: »Sorgloser haben wir gelebt. Sorgloser, fand ich jedenfalls.«199
7.5.3 Ambivalenzen der Erinnerung »In Erinnerung bleibt mir nach dem Museumsbesuch … … die vielen Geschichten … die vielen Bilder … die Lebensumstände … die Veränderung Man braucht keine Zeitmaschine, um in die Zeit zu reisen. Dieses Museum IST eine Zeitreise!«200 Frau Fink ist uns schon einmal begegnet, und zwar bei der Analyse des Berliner DDR-Museums in Kapitel 3.3. Dort berichtete sie einerseits von ihren persönlichen Erfahrungen mit starken Repressalien in der DDR (ihre Eltern seien »beide politisch gefangen« gewesen) und andererseits von fröhlichen Wiedererkennungsmomenten mit Alltagsgegenständen in der Ausstellung (»Man sagt »Ach Gott, wie schön«, »Ach guck mal« und »Weißt du noch?«).201 Ich habe ihre Ausführungen als Indiz dafür herangezogen, dass die zwei scheinbar widersprüchlichen Ausstellungsnarrative des DDR-Museums sich nicht notwendigerweise an disparate Besucher*innengruppen richten, sondern sich auch beide zugleich von ein und derselben Person aneignen lassen. Unbeantwortet habe ich in diesem Kontext allerdings die Frage gelassen, inwiefern eine solche Form der Ausstellungsaneignung tatsächlich von 199 Interview 6, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. 200 Antwort auf einer mit »In Erinnerung bleibt mir nach dem Museumsbesuch …« bedruckten Karte, Raum 8 der Dauerausstellung (»Von der DDR zum vereinten Deutschland«), DDR-Museum Pforzheim (fotografiert am 15.08.2021). 201 Interview 6, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019.
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Ambivalenzen innerhalb der musealen Narration abhängig ist – und inwiefern sie nicht vielmehr in den Deutungsabsichten der Besucher*innen selbst begründet sein könnte. Rekapitulieren wir zur Beantwortung dieser Frage zunächst noch einmal die bisher analysierten Ausstellungsaneignungen als Erinnerungsanlass. Ihnen allen gemein war ein Zugang zu den jeweiligen Museen über das Herstellen biografischer Bezüge und eine entsprechende Besuchsmotivation, der gegenüber die museale Vorzugslesart in den Hintergrund trat, ohne jedoch völlig zu verschwinden. So zeigte sich etwa im Interview mit dem Ost-Berliner Herrn Sander, wie dieser die Exponate des Berliner DDR-Museums als positive Erinnerungsanlässe nutzen konnte, obwohl er sich zweifellos in Kenntnis des dominant-hegemonialen Codes durch die Ausstellung bewegte und im Gespräch auch immer wieder auf diesen Bezug nahm. Daran anschließend habe ich anhand der Interviews mit Herrn Kerner im DOK Eisenhüttenstadt und Frau Bogner im Berliner DDR-Museum zu zeigen versucht, dass die Rezeption einer Ausstellung als Erinnerungsanlass nicht nur entgegen, sondern auch weitestgehend losgelöst von der musealen Vorzugslesart (bzw. dem Lesarten-Modell generell) möglich ist, wozu ich den Begriff des Eigensinns ins Feld geführt habe. Und schließlich haben wir in meinen Interviews mit Frau Lagno und dem Ehepaar Werneke gesehen, wie es der musealen Vorzugslesart bisweilen doch gelingt, die Deutungsabsichten von Besucher*innen zu durchkreuzen und sie in ihrer Rezeption wortwörtlich zu stören. Die obigen Interviewanalysen scheinen also darauf hinzudeuten, dass bei der Ausstellungsaneignung als Erinnerungsanlass eine (zumindest latente) Spannung zwischen Deutungsabsicht und Vorzugslesart der Normalfall ist. Demgegenüber werfen Frau Finks zweischneidige Ausführungen über politische Repression und fröhliche Alltagserinnerungen die Frage nach weiteren Fällen auf, in denen eine erinnernde Aneignung einer Ausstellung mit einer dominant-hegemonialen Lesart selbiger konform geht. Betrachten wir dazu das folgende Interview mit der Ende 40- jährigen Frau Albrecht aus Mecklenburg-Vorpommern, das ich im Sommer 2021 im DDR-Museum Pforzheim geführt habe. Nachdem wir uns beide einander vorgestellt hatten, kam es zu folgender Gesprächssituation: Interviewer: Und heute, wie kam es, dass Sie sich das Museum hier angeschaut haben? Frau Albrecht: [Seufzt] Es ist schon… Man sagt ja immer: Es war nicht alles schlecht. Aber vieles war halt doch und vieles… Ich sag mal, man konnte in der DDR ein gutes Leben führen, wenn man so gemacht hat, wie die wollten. Wenn man, ja, so gesagt hat wie, was die hören wollten und so gemacht hat, diszipliniert verhalten hat, nicht aus der Reihe getanzt ist, sag ich jetzt mal, konnte man wirklich ein gutes Leben haben. Aber eben wehe man hat – das
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sind auch manchmal nur Kleinigkeiten. [Interviewer: Mhm] Dann ging’s ja los. Ich weiß, mein Stiefvater dann nachher, der hatte eine eigene Fleischerei. Und das war ja schonmal ganz doof – Privatgeschäft. Wir hatten auch eine Wanze im Telefon. […] Aber das haben wir dann auch erst nach der Wende [Interviewer: Ah ja], weil wir dachten, wir holen jetzt mal ein neues Telefon und dann haben wir das auseinandergebaut, das alte, und dann gemerkt: Da war eine Wanze drin. [Interviewer: Mhm] Ja, es sind so viele Sachen, die man eigentlich noch nicht so verarbeitet hat, sag ich mal so. Also uns ist jetzt nichts passiert so mit, mit… Aber trotzdem, es war immer so, immer… [seufzt] Das ganze Leben war so… Ein gutes Beispiel: Als ich mit meinem jetzt Ex-Mann […] erste Mal im Westen […] essen war, das allererste Mal, ich weiß, beim Italiener. Und wir sitzen so, volles Restaurant und er sagt dann: Die Karte. Und sagt so ganz normal – aber für mich total laut – was möchtest du denn essen? Und ich so: Hhhhh [zieht die Luft ein]. Weil ich kenn das so: Leise [spricht leise], flüstern, weil der vom Nachbartisch könnte ja schon wieder [Interviewer: Mhm] dich bespitzeln oder dich… Aufpassen, und so was halt immer. Und ich hab halt viele Sachen noch nicht so… Im Ferienlager war man viel und war ja auch irgendwo schön, aber irgendwo so alles auf’s System abgestimmt. [Interviewer: Mhm] Und da hat man halt einiges noch nicht so verarbeitet und ich wollte jetzt einfach mal gucken, wie’s hier so ist. Ich war halt damals auf Rügen in diesem ganz großen DDRMuseum auf Prora. Das ging ja über mehrere Stockwerke, riesengroß. Und die haben auch richtig so Zimmer hergerichtet, wie’s war, jetzt im Ferienlager oder in bestimmten… Also da musste ich dann heraus irgendwann. [Interviewer: Ah ja] Also ich konnt’s nicht mehr… Ich sag: Ich muss hier raus, ich muss weg. Das war zu viel. [Interviewer: Mhm.] Und jetzt wollt ich halt mal gucken. Hab ich gesagt: Ok, das ist ein bisschen kleiner, bisschen übersichtlicher [Interviewer: Mhm] und einfach noch mal so in Erinnerungen schwelgen und sagen: Ach hier, guck mal und da jetzt habe ich auch so einiges wiederentdeckt so. [Interviewer: Aha] So die Kaffeesorten und dies und das, was man so… Das Radio und… [Interviewer: Mhm] Halt in kleinen Dosen, nicht so wie in dem anderen, in dem großen. Das war halt dann [unverständlich] ganze Zimmer. Und da war halt die Inneneinrichtung. Da habe ich mich so reinversetzt gefühlt.202 Zwei Punkte möchte ich aus dieser bemerkenswert langen Antwort herausgreifen. Erstens: Es hat über weite Strecken den Anschein, als würde es sich überhaupt nicht um eine Antwort auf meine Frage handeln. Erst in den letzten Sätzen legt Frau Albrecht schließlich ihre Besuchsmotivation dar, wodurch sich zugleich die innere Logik ihrer Ausführungen offenbart. An letzterer lässt sich paradigmatisch die Wirkmächtigkeit von Schützes »Zugzwängen des Erzählens« in einer inversen Form ver202 Interview 1, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021.
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deutlichen: Frau Albrechts Seufzer und ihr abgebrochener Satz (»Es ist schon…«) deuten darauf hin, dass sie sich zunächst unsicher ist, wie sie ihre Antwort beginnen soll. Sie entscheidet sich dann für eine allgemeine Schilderung der Lebensumstände in der DDR, die sie anhand persönlicher Erlebnisse konkretisiert. Sie erzählt von Anpassungsdruck und Überwachung, von der staatlichen Abneigung gegenüber dem Kleinbürgertum und damit verbundenen Repressalien gegen ihr familiäres Umfeld, von gesellschaftlichem Misstrauen und politischer Indoktrination. Diese Schilderung lässt sich als eine Kombination aus Kontextualisierung (in Schützes Vokabular »Gestaltschließungszwang«) und Exemplifizierung (»Detaillierungszwang«)203 begreifen – mit dem eigentümlichen Merkmal, dass der Gegenstand dieser Erzählzwänge zunächst im Unklaren bleibt. Erst gegen Ende erfahren wir, dass Frau Albrecht von den damaligen Lebensumständen »halt einiges noch nicht so verarbeitet« habe und sie daher von inszenatorischen Darstellungen von DDR-Geschichte überwältigt werde. Gerade deshalb sei sie am Pforzheimer DDR-Museum (»ein bisschen kleiner, bisschen übersichtlicher«) interessiert gewesen. Nun könnte man meinen, dass Frau Albrecht zwecks Verarbeitung ihrer Erlebnisse nun vor allem jene Ausstellungsbereiche aufgreift, die ihren bisherigen Schilderungen von Überwachung, Zwang, Indoktrination usw. entsprechen. Stattdessen – und das ist der zweite bemerkenswerte Punkt an ihrer Antwort – habe sie »einfach noch mal so in Erinnerungen schwelgen« und Alltagsgegenstände wiederentdecken wollen. Nach weiteren Wiedererkennungsmomenten gefragt, nennt Frau Albrecht etwa »Trinkbecher«, »Eierbecher« und eine Menage »mit Pfeffer und Salz und in der Mitte war für Senf«.204 Und wie bereits in einigen vorherigen Interviewanalysen, zeigt sich hier erneut, dass diese erinnernde Aneignungsweise selbst dann möglich ist, wenn sie dem eigentlichen Ausstellungsnarrativ eindeutig zuwiderläuft: Interviewer: Und gab es so bestimmte Themenbereiche, die Sie besonders interessiert haben hier? Oder bestimmte Räume? Frau Albrecht: […] Nee, eigentlich so… [längere Pause] Nee, es ist halt eigentlich so das Typische. Man fühlt sich irgendwie fast, ich will nicht sagen zuhause, aber es ist schon so. [Interviewer: Ah ja] So irgendwie so, so wie nach Hause kommen. [Interviewer: Ah ja, interessant] Es fängt schon mit der Ampel an, die unten ist, mit dem Ampelmännchen. Und dann das Sandmännchen da so gleich. Das sind also gleich vertraute Dinge. Man sagt: Ja stimmt, ja genau, so war das.205 Wie wir in Kapitel 3.2 gesehen haben, stellen Ampel- und Sandmännchen im DDR-Museum Pforzheim aber gerade keine harmlosen Alltagsgegenstände dar.
203 Schütze: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen. 204 Interview 1, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. 205 Ebd.
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Ihre Platzierung neben Geruchsproben und verkollerten Stasi-Unterlagen, einem den Grenztruppen gewidmeten Porträtfoto Sigmund Jähns und Überresten der 1985 gesprengten Berliner Versöhnungskirche ist vielmehr dazu angetan, bei Besucher*innen ein Gefühl der Irritation hervorzurufen und die postulierte Durchdringung des Alltags in der DDR durch ihr diktatorisches Herrschaftssystem zu bezeugen. Wäre die Erwähnung von Ampel- und Sandmännchen ein Einzelfall, könnte man sie vielleicht als einfaches Missverständnis, als Nicht-sehen des Ausstellungsnarrativs, abtun. Dagegen sprechen jedoch ähnliche Passagen aus dem weiteren Interviewverlauf, etwa die folgende: Interviewer: Gibt’s noch mehr, woran Sie sich in der Ausstellung erinnern können? Was haben Sie sich alles angeschaut gerade? Frau Albrecht: […] Ach so viele Sachen… Schön auch die Bilder, die Fotos an den Wänden. Unten schon was anfängt auch oder das mit dem, mit den Pionieren. [Interviewer: Mhm] Das ist natürlich, ja, Pioniere, das war… schön, ist sehr in Erinnerung.206 Dabei stehen die Pioniere im Pforzheimer DDR-Museum ganz im Zeichen von politischer Indoktrination, Militarisierung und Konformitätszwang. Die entsprechenden Ausstellungsfotos zeigen u.a. Pioniere beim Überreichen von Geschenken an NVA-Soldaten, Kinder auf einem Spielzeugpanzer beim »Nationalen JugendFestival in Ost-Berlin« sowie Kleinkinder beim notorischen gemeinsamen »Töpfchengang in einer Kinderkrippe«. In der Vitrine daneben finden sich neben klassischen Uniform-Bestandteilen und Insignien von FDJ und Pionierorganisationen auch Übungshandgranaten, Spielzeugsoldaten und dergleichen mehr. »Das SEDRegime versuchte die Jugend schon sehr früh im marxistisch-leninistischen Sinne zu erziehen. Die Ideologie fand bereits in Krippen und Kindergärten Eingang«, heißt es dazu im Bereichstext »Jugend in der DDR«. Und weiter: »Der Staat förderte auch Aktivitäten wie Jugendclubs, Ferienlager oder Sportvereine, sodass viele Erwachsene noch heute von einer glücklichen Jugendzeit sprechen. Doch hinter alldem stand immer das ideologische Ziel der SED.«207 Interessanterweise deckt sich diese Beschreibung vollkommen mit Frau Albrechts eingangs getätigter Aussage, dass es im Ferienlager »ja auch irgendwo schön«, jedoch zugleich »irgendwo so alles auf’s System abgestimmt« gewesen sei.208 Als Frau Albrecht dann jedoch auf »das […] mit den Pionieren« in der Ausstellung zu sprechen kommt, ist vom entsprechenden Ausstellungsnarrativ nichts mehr übrig.
206 Ebd. 207 DDR-Museum Pforzheim: Dauerausstellung (2015), Raum 3 (fotografiert am 29.08.2021). 208 Interview 1, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021.
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Vitrine und Fotowand im DDR-Museum Pforzheim unter der Überschrift »Der Sozialistische Lebenslauf«. Die Sprechblase am unteren Bildrand fragt: »Was würdest Du tun, wenn Dir der Staat aus politischen Gründen die Ausbildung verweigert?«
Frau Albrecht dient ihr Besuch des Pforzheimer DDR-Museums erkennbar als Erinnerungsanlass, wobei ihre Ausstellungsaneignung jedoch von einem hohen Maß an Ambiguität geprägt ist. Einerseits geht sie weitgehend der musealen Vorzugslesart konform, weshalb Frau Albrecht – im Gegensatz zu anderen Interviewten wie etwa Frau Lagno im ZFL – nicht dazu gezwungen ist, das Ausstellungsnarrativ auszublenden oder gegen den Strich zu lesen, um ihm die gewünschten Erinnerungsimpulse abzuringen. Andererseits folgt auch Frau Albrechts Ausstellungsaneignung dem bereits bekannten Muster, einzelne Exponate (Sand- und Ampelmännchen, Pionierutensilien, Eierbecher usw.) aus ihrem jeweiligen Narrativ herauszulösen, sie also zu entkontextualisieren und ihrer musealen Zeichenfunktion zu entkleiden, um sie als Anker für biografische Erinnerungen gebrauchen zu können. Das Bemerkenswerte daran ist lediglich, dass beide Umgangsweisen offenbar problemlos nebeneinander bestehen können – und zwar ohne auf ein entsprechend mehrdeutiges Pendant auf der Ebene der Ausstellungsgestaltung angewiesen zu sein. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Es geht mir nicht um die Ambivalenz von Frau Albrechts Erinnerungen an die Pioniere (»das Arrangementgedächtnis »fühlt sich vom Blauhemd der FDJ nicht allein an die Zurichtung durch die Parteimacht erinnert, sondern auch an die glückliche Zeit der eigenen Jugend«, heißt es bereits bei Martin Sabrow; und Barbara Felsmanns biografiegeschichtlicher Sammelband Beim Kleinen Trompeter habe ich immer geweint ist ein einziger großer Ausdruck dieser Ambiguität),209 sondern um deren Beziehung
209 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 19.; Felsmann, Barbara (Hg.): Beim kleinen Trompeter habe ich immer geweint. Kindheit in der DDR – Erinnerungen an die Jungen Pioniere, Berlin 2003.
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zur Ausstellungsaneignung. Ein Vergleich mit der beobachteten Präsentationsund Rezeptionsweise im Berliner DDR-Museum mag dies verdeutlichen. Ich habe in Kapitel 3.3 dafür argumentiert, dass das Berliner DDR-Museum mit seinen spielerischen, teils ans Absurde grenzenden Inszenierungen von genau dieser Ambiguität lebt. Die interaktiven Stationen, an denen Besucher*innen ihren eigenen »neuen Menschen« kompilieren, durch fiktive Plattenbausiedlungen fahren oder zur Steigerung der Trabant-Produktion »auf’n Graumarkt gehen« und Sitzpolster für Stahl verticken können,210 funktionieren auch deshalb so gut, weil dieser belustigt-exotisierende Umgang mit DDR-Geschichte durch den wissenschaftlichen Anstrich der Institution Museum und den bedingungslosen Antikommunismus der Ausstellungsnarrative gedeckt wird.211 Ein vergleichbarer »Erlebnispark«212 ist das DDR-Museum Pforzheim gewiss nicht, dennoch ist hier möglicherweise ein ähnlicher Mechanismus am Werke: In ihrer Studie über eine Lebensmittel-Ausstellung im Londoner Science Museum kommt Sharon Macdonald zu dem Schluss, dass vermeintlich aktivierende Ausstellungen (zu denen das Pforzheimer Museum mit seinem Demokratiefokus zweifellos gehört) bisweilen den gegenteiligen Effekt auf ihre Besucher*innen haben können: There is little sense that visitors come away from the exhibition more empowered in relationship to the subject-matter. Indeed, for some visitors it seems almost to have the opposite effect, giving them the sense of security that science, expertise and respectability are all at work in producing their food and making it safe and »good«.213 Ein derartiger Effekt lässt sich auch in Frau Albrechts Umgang mit der von ihr besuchten Ausstellung beobachten. Schauen wir uns dazu noch eine letzte Interviewsequenz an. Auf die Frage, ob sie eine Botschaft, eine durchgehende Erzählung, ein bestimmendes Thema in der Ausstellung wahrgenommen habe, antwortete Frau Albrecht: Also ich glaube, um das einmal richtig zu… Ich hab gesagt… Deshalb wollte ich auch das mit der […] Führung noch nicht, weil ich nicht wusste, wie ich’s aufnehm, ob’s mir nicht zu viel wird. Ich hab schon zu meinem Mann gesagt: Man müsste vielleicht nochmal zwei-, dreimal kommen. [Interviewer: Ja] Dass man vielleicht einmal wirklich dann die Führung macht und einmal auch das mit diesem, mit 210 Frau Helwig, Interview 8, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. 211 Noch einmal in Žižeks Worten: »precisely BECAUSE you knew that you are as it were »covered« or »absolved from guilty impulses« [5] by the official story line, you are allowed to indulge in dirty fantasies – you know that these fantasies are not »for serious,« that they do not count in the eyes of the big Other«. Žižek: Shostakovich in Casablanca. 212 Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände?, S. 141. 213 Macdonald: Behind the Scenes, S. 240.
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diesem hören, um sich dann nochmal so… Ich glaub da entdeckt man auch jedesmal was Neues noch. [Interviewer: Ja bestimmt] Also ich glaub mit einem Mal ist es da gar nicht getan. [Interviewer: Mhm] Jetzt hab ich da noch kein so richtiges Konzept… Schon, dass es chronologisch aufgebaut war, aber jetzt so ein oder zwei Geschichten hab ich da jetzt nicht so gefunden. […] Also es ist auch super interessant und informativ und wirklich: Die Arbeit, die hier drin steckt, das ist schon: Hut ab. Also find ich gut. Muss auch wirklich – dass es nicht in Vergessenheit gerät, ne?214 Wir können hier erneut sehen, wie Funktion und Wirkmächtigkeit einer historischen Ausstellung weitestgehend von der Besuchsmotivation determiniert werden können: Soweit sie sich damit beschäftigt, nimmt Frau Albrecht die generelle Stoßrichtung des Ausstellungsnarrativs an. Doch offensichtlich ist eine solche Beschäftigung überhaupt nicht das Ziel ihres Besuchs. Im Gegenteil, Frau Albrecht verschiebt sie ausdrücklich auf ein hypothetisches Später, um sich zunächst vorsichtig ihren persönlichen Zugang zu den Ausstellungsmedien zu erarbeiten. Insofern zeigt sich hier noch einmal die von Besucher*innen bisweilen postulierte Trennung zwischen Geschichte einerseits und lebensweltlichen Erinnerungen andererseits. Eine besonders große Ähnlichkeit weist Frau Albrechts Antwort etwa mit Frau Lagnos Erklärung im ZFL auf, sie müsste noch einmal wiederkommen, um sich »ganz doll da das Geschichtliche« anzusehen.215 Doch wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, war Frau Lagno gewissermaßen dazu gezwungen, sich während ihres Museumsbesuchs zumindest stellenweise mit dem »Geschichtliche[n]« (d.h. dem Ausstellungsnarrativ) auseinanderzusetzen, um sich einen erinnernden Zugang zu den gezeigten Exponaten erarbeiten und somit ihrer Besuchsmotivation nachkommen zu können. Für Frau Albrecht ist dies hingegen nicht der Fall. Somit erklärt sich auch die latente Spannung zwischen ihren Ausführungen im Interview über die schöne, wenngleich von versuchter Indoktrination geprägte Zeit bei den Pionieren einerseits und der fehlenden Bezugnahme auf das Ausstellungsnarrativ andererseits: Da ihr Letzteres nicht als »Störung« entgegentritt, kann sie es nach Belieben aufrufen und wieder beiseiteschieben. Die entsprechenden Ausstellungsmedien (Fotos, Uniformteile usw.) kann sie wahlweise als Beleg für Ideologisierung und Instrumentalisierung oder aber als Träger positiver Kindheitserinnerungen nutzen. Dieser Art der Ausstellungsaneignung kommt zugute, dass sie – ganz im Sinne Macdonalds – die erstgenannte Bedeutungsebene der Exponate beim Museum in sicheren Händen weiß: »science, expertise and respectability are all at work«, um den diktatorischen Charakter der DDR vor dem Vergessen zu bewahren, wodurch ein »unschuldiger«, an
214 Interview 1, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. 215 Interview 6, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 27.06.2020.
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Erinnerungen an »so viele schöne Sachen« geprägter Ausstellungsrundgang möglich wird.
7.6 »Dieses Versöhnliche zu zeigen«. Identitätsarbeit im Museum Ich möchte mich nun einer Form der Ausstellungsaneignung zuwenden, die auf den ersten Blick starke Ähnlichkeiten mit der in Kapitel 7.5 besprochenen Nutzung eines Museums als Erinnerungsanlass aufweist. Ich beginne mit einem bereits zitierten Auszug aus meinem Interview mit dem 69-jährigen Aachener Herrn Tander, den ich im Frühjahr 2019 im Museum in der Kulturbrauerei interviewt habe. Er hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Berlin auf, um seiner Tochter zu helfen, »die hier im ehemaligen Ostteil von Berlin tätig ist und die eine Datsche sozusagen an der Havel hat, die wir renovieren jetzt und wo ich also auch dann so selber eigentlich intensiven Kontakt hab mit Leuten, die auf dem Land, in der Mark Brandenburg, leben.«216 Nachdem wir uns einander vorgestellt hatten, kam es zu folgender Gesprächssituation: Interviewer: Können Sie einmal versuchen, mir möglichst genau zu erzählen, was Sie sich hier alles angeschaut haben, hier in dem Museum? Herr Tander: Also ich hab, als ich reingekommen bin, gleich links neben der Türe, da waren Fotos von Bergmann, sind die Turbinen von Bergmann-Borsig. Und das war ne große Turbinenfabrik in Wilhelms-, nicht ganz in Wilhelmsruh […]. Und zu der Zeit, also in den neunziger Jahren, hab ich bei einer Schweizer Firma gearbeitet […], welche die Firma Bergmann-Borsig übernommen hat und zunächst mal mit der Intention, sie weiterzuführen und mit Bergmann-Borsig sozusagen die Kunden im Osten zu bedienen. Und das hat aber irgendwie nicht richtig funktioniert. Dann wurde diese ganze Firma plattgemacht, bis auf ein einziges Gebäude, was in der Mitte des Areals stehen geblieben ist, was unter Denkmalschutz war. […] Also das hab ich gesehen – also wenn Sie jetzt so fragen, was ich so direkt in Erinnerung behalte.217 Auf den ersten Blick scheint sich dieser Gesprächsauszug ohne Weiteres dem erinnernden Aneignungsmodus zuordnen lassen: Herr Tander beginnt mit einer Schilderung seines Ausstellungsrundgangs und bleibt sogleich bei Fotos von Turbinen des VEB Bergmann-Borsig hängen, da er mit diesen Erinnerungen an seine Arbeit in den neunziger Jahren verbindet. Ähnlich wie bei den Gesprächen mit Herrn Sander aus Ost-Berlin oder dem Jenaer Ehepaar Bogner im DDR-Museum ist ihm dabei
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Interview 2, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. Ebd.
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relativ gleichgültig, welche Bedeutung diesen Fotos von Seiten des Museums zugeschrieben wird oder in welche Narrative sie eingebettet sind – denn auch er trägt eigensinnige Deutungsabsichten an die Ausstellungsmedien heran, welche sich auf seine biografischen Erinnerungen gründen.218 Allerdings gibt es dabei einen entscheidenden Unterschied: Die Bedeutung, die Herr Tander den Turbinen-Fotos beimisst, erklärt sich überhaupt nicht aus seinen persönlichen Erinnerungen an sich, sondern aus deren politischen Implikationen. Als Relikte eines großen Betriebes, der nahezu vollständig »plattgemacht« wurde, bezeugen die Fotos im Eingangsbereich der Ausstellung für Herrn Tander in erster Linie die Zerschlagung der DDR-Wirtschaft in der Nachwendezeit. Als er dann einige Sätze später auf Ausstellungsmedien zur NVA zu sprechen kommt, folgen seine Ausführungen einem ähnlichen Muster: Und was ich auch mit einer gewissen Revolte betrachtet hab, das war diese Geschichte mit der NVA. Weil zu der Zeit, wo da über den Drill in der NVA berichtet wurde, in der Zeit hab ich meinen Bundes-, meinen Wehrdienst in der Bundeswehr machen müssen. Und da waren noch die ganzen alten Nazis in der Bundeswehr, vor allem so diese höheren Ränge, also Major, Oberstleutnant, Oberstleutnant – alte Nazis, die waren in der Wehrmacht und das war der gleiche Ton, der gleiche Drill wie früher die Schikanen in der Wehrmacht. Und dann dachte ich: Ja, also mit der NVA, das war sicher schlimm, aber Bundeswehr war nicht besser, das war, das war dasselbe, ne?219 Auch in dieser Passage werden wieder Ausstellungsmedien mit biografischen Erinnerungen verknüpft. Das Muster gleicht dabei jenem aus dem Gesprächsauszug zu den Bergmann-Borsig-Turbinen: Die Ausstellung dient nicht nur als Impulsgeberin für die Erinnerung, sondern das Verhältnis von Erinnerung und Ausstellung ist ein wechselseitiges, in dem die erstere auch der Deutung und Bewertung der letzteren dient. Herr Tander schaut sich »diese Geschichte mit der NVA« an und wird dadurch an seine eigene Wehrdienstzeit erinnert, die ihn an »die ganzen alten Nazis in der Bundeswehr« denken lässt. Und da ihm diese Kontextualisierung (d.h. der Vergleich mit den Verhältnissen in der BRD) im Museum in der Kulturbrauerei fehlt, nimmt er die Darstellung der NVA »mit einer gewissen Revolte« auf. Dies lässt sich ferner mit seiner Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte erklären. Nach dem Tod seines Vaters, so erzählte Herr Tander zu Beginn des Interviews, habe er dessen Briefe von der Ostfront erhalten, wo sein Vater bei einer militärischen Aufklä-
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Die Ausstellung zeigt mehrere unbeschriftete Fotos (vermutlich von Fabrikhallen des VEB Bergmann-Borsig) sowie eine Kleindampfturbine und einen »bebo sher«-Rasierapparat des Betriebs und thematisiert anhand dieser zwei Exponate die Produktion von Konsumgütern durch die Schwerindustrie in der DDR. Ebd.
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rungseinheit gedient habe. »Und das hat mich also, also sehr, sehr bewegt, so diese Abgründe des menschlichen Verhaltens, die man da gesehen hat. […] Also das hat mich irgendwie sehr irritiert und in mir eigentlich so ausgelöst […] ein tiefes Ablehnen von all diesen Formen von Gewalt.«220 Herr Tander betritt das Museum in der Kulturbrauerei also mit einem sehr starken Eingangsnarrativ das die Grundlage für seine Aneignung der Ausstellung bildet. Charakteristisch ist dabei die Rolle, welche die vom Museum intendierte Vorzugslesart für Herrn Tanders Decodierung der Ausstellungsmedien spielt. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Wenn Herr Tander über die Turbinen-Fotos aus dem VEB Bergmann-Borsig spricht, dann ist ihm dabei relativ egal, in welche Narrative diese Fotos in der Ausstellung eingebettet sind. Denn schließlich lädt er sie selbst mit einer Bedeutung auf, die problemlos neben der Bedeutungszuschreibung der Ausstellungsmacher*innen bestehen kann. In diesem Fall lässt sich sein Zugang zur Ausstellung daher zutreffend als »eigensinnig« – gemäß der oben skizzierten Verwendung dieses Begriffs – charakterisieren. Mit der Vorzugslesart des Museums wird hier vordergründig auf die gleiche Weise umgegangen, wie es auch bei der Aneignung einer Ausstellung als Erinnerungsanlass der Fall ist: Sie wird zwar zweifellos registriert, kann aber leicht beiseite geschoben werden. Darüber hinaus lässt sich in Herrn Tanders Aussagen jedoch häufig eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Ausstellungsnarrativen ausmachen, die in ihrer Struktur eindeutig Stuart Halls oppositioneller Lesart folgt. Wie bereits geschildert, umfasst diese Lesart zum einen die »Enttotalisierung« einer Nachricht »mittels des bevorzugten Kodes« (die Nachricht wird also verstanden) und zum anderen ihre »Retotalisierung« »innerhalb eines alternativen Bezugsrahmens« (der Nachricht wird eine abweichende, konträre Bedeutung zugeschrieben).221 Dieses Muster zeigt sich bereits an Herrn Tanders Thematisierung der NVA: Er decodiert die entsprechenden Ausstellungsmedien im Sinne des Museums (»Drill«, »war sicher schlimm«), ordnet sie dann aber in einen anderen Bezugsrahmen ein, innerhalb dessen der Umgang mit dem Nationalsozialismus in DDR und BRD das ausschlaggebende Kriterium für Werturteile darstellt. Dabei ist zu beachten, dass sich innerhalb dieses alternativen Bezugsrahmens die Bewertung der NVA nicht zwangsläufig ändert: Der »Drill« bei der NVA kann immer noch als »schlimm« angesehen werden, die konnotative Dimension der Ausstellungsmedien als Zeichenträger also unverändert bleiben. Was sich ändert ist vielmehr ihre metakommunikative Dimension: In der oppositionellen Lesart bezeugen die Ausstellungsmedien auf dieser Ebene die ideologische Schlagseite des Museums, welche sich im Verschweigen der noch schlimmeren Zustände bei der Bundes-
220 Ebd. 221 Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 77–80.
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wehr manifestiert.222 Noch einmal stärker verdeutlichen lässt sich die Struktur der oppositionellen Lesart, wenn Herr Tander anschließend auf das Thema Mangelwirtschaft zu sprechen kommt, welches in der Kulturbrauerei ganz besonders präsent ist (vgl. die Ausstellungsanalyse in Kapitel 3.4): Und zu dieser Geschichte, also es gab keinen Mangel. Es gab Mangel in den Fabriken und so weiter […] – das sind jetzt meine Reaktionen auf die Ausstellung –, man hatte Mangel an Produkten und so weiter. Das war ja so, zu der Zeit war ja der Kalte Krieg und die Comecon-Länder, also die Sowjetunion und dieser ganze Handelspakt, der wurde von den westlichen Ländern mit USA vorneweg, wurde der eigentlich wirtschaftlich systematisch geschwächt. Das war dann so, es durften, bestimmte Produkte durften gar nicht geliefert werden in diese Länder, also Computer zum Beispiel. Das wurde aber dann umgangen, also auch in der Firma, in der ich damals gearbeitet hab, wurde das umgangen und die Sachen wurden auf irgendwelchen Schleichwegen zum fünf- bis zehnfachen Preis verkauft. Also das war eigentlich nicht… Also das war gewollt, das war gewollt und Intention, dieses alternative Gesellschaftsmodell oder Wirtschaftsmodell, dass das scheitert.223 Auch hier wird das Narrativ der Ausstellung zunächst im Sinne ihrer Vorzugslesart entschlüsselt: Das zentral gesteuerte sozialistische Wirtschaftssystem der DDR sei ineffizient, häufiger Materialmangel in der Industrie und eine Unterversorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern die Folge davon gewesen. Herr Tander enttotalisiert nun diese Botschaft und retotalisiert sie im Rahmen des Sabrowschen Fortschrittsgedächtnisses, das eine gegenteilige Erklärung für den »Mangel in den Fabriken« bereithält. In diesem Bezugsrahmen erscheinen die wirtschaftlichen Probleme der DDR (bzw. der staatssozialistischen Länder insgesamt) nicht in erster Linie hausgemacht, sondern als das Resultat eines konzertierten Wirtschaftskrieges der kapitalistischen Industrienationen gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell. Zugleich zeigt sich, dass Herr Tander zu allen Ausstellungsbereichen, die er anspricht, persönliche Bezüge herstellt: Zur NVA über seine Erfahrungen bei der Bundeswehr; zur Mangelwirtschaft über seinen früheren Arbeitgeber, der Produkte »zum fünf- bis zehnfachen Preis« an die Staaten des Ostblocks verkauft habe; zu den Turbinen-Fotos über seine Arbeit für ein Unternehmen, das Bergmann-Borsig nach der Wende übernommen und »plattgemacht« habe. Diese Bezugnahmen unterscheiden sich jedoch insofern von den im Kapitel »Erinnerungsanlass« beschriebenen, als dass sie weniger auf einer lebensweltlichen, als vielmehr auf einer 222 Zu den Begriffen Konnotation und Metakommunikation in der Ausstellungsanalyse vgl. Kapitel 2 sowie Scholze: Medium Ausstellung, S. 32–39. 223 Interview 2, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019.
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systemischen Ebene operieren. An Herrn Tanders Erzählung lässt sich gewissermaßen die von Habermas beschriebene »Kolonialisierung der Lebenswelt«224 durch das System im Kleinen beobachten: Überall war Herr Tander dabei, und überall stand er – so zumindest seine Selbstbeschreibung – auf der falschen Seite, ohne dabei irgendeinen nennenswerten Einfluss auf die Geschehnisse gehabt zu haben, in die er involviert war. Warum also ist Herr Tander ins Museum in der Kulturbrauerei gekommen? Sicherlich nicht, um von diesem etwas Neues über den Alltag in der DDR zu erfahren. Und auch der Begriff des Erinnerungsanlasses wird der spezifischen Beziehung zwischen Erinnerung und Decodierung der Ausstellungsmedien nicht wirklich gerecht. Am treffendsten scheint mir daher eine Charakterisierung seines Besuchs als »Identitätsarbeit« zu sein: Herrn Tanders Schilderungen sind dazu geneigt, ein Selbstbild zu entwerfen, das den selbsterklärten äußeren Anschein meines Gesprächspartners (reicher Westdeutscher, ehemaliger Bundeswehrsoldat, Nutznießer des Niedergangs des Ostblocks usw.) konterkariert. Und dabei liegt auf der Hand, dass seine Schilderungen zwei Adressaten haben, die den zwei Bestandteilen der Identitätsarbeit bei Rounds (1. »construct, maintain, and adapt our sense of personal identity, and [2.] persuade other people to believe in that identity«) entsprechen: einerseits mich als Interviewer und andererseits sich selbst als Ausstellungsbesucher. »We explain ourselves to ourselves«, schreibt Rounds diesbezüglich.225 Und weiter: The museum […] offers a perfect setting for public performance of identity. It is a space designed for the display and performance of meaning. Visitors take advantage of that character to enact their own identities, borrowing for those identities a bit of the aura of special importance held by the objects on display.226 Mit der »Aura« der Objekte dürfte es in der Kulturbrauerei nicht weit her sein, doch an der grundsätzlichen Funktion der Objekte beim Ausstellungsbesuch im Modus der Identitätsarbeit ändert das nichts. Die Psycholog*innen Joanna Garner, Avi Kaplan und Kevin Pugh schlagen zur besseren Bestimmung der Beziehung zwischen Ausstellungsmedium und Besucher*in ein einfaches »konzeptuelles Kontinuum« vor, welches die folgende Abbildung veranschaulicht.
224 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns Bd. II. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1981, S. 476. 225 Rounds: Doing Identity Work in Museums, S. 136. 226 Ebd., S. 142.
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»A conceptual diagram of targets of visitors’ engagement within a museum exhibit.«227
Garner, Kaplan und Pugh bezeichnen dieses Schema deshalb als »Kontinuum«, weil sich keine Form der Ausstellungsrezeption je eindeutig einem seiner beiden Pole (Beschäftigung mit dem Objekt oder Beschäftigung mit dem eigenen Selbst) zuordnen lässt. Würde es beim Museumsbesuch ausschließlich um die Objekte gehen und das Selbst keine Rolle spielen, dann könnte man ebenso gut die Ausstellungsrezeption von gefühllosen Robotern statt von Menschen untersuchen. Umgekehrt wäre ein Museumsbesuch, bei dem die Objekte überhaupt keine Rolle spielen, obsolet. Dennoch lassen sich natürlich Schwerpunktsetzungen vornehmen. Von den drei hier bisher erörterten Arten der Ausstellungsaneignung befindet sich »Orientieren und Vergleichen« am weitesten links im Kontinuum, denn die Ausstellungsmedien üben hier einen vergleichsweise großen Einfluss auf die Sinnbildungsprozesse der Besucher*innen aus. Eher auf der rechten Seite befindet sich hingegen die Nutzung von DDR-Museen als »Erinnerungsanlass«, bei der die Objekte weitestgehend auf die Rolle von Impulsgebern für die eigensinnigen Erinnerungen der Besucher*innen reduziert sind. Irgendwo dazwischen ist die »Identitätsarbeit« angesiedelt.228 Für diesen Aneignungsmodus sind die Ausstellungsmedien zwar von zentraler Bedeutung, doch wird ihnen – anders als im Modus »Orientieren und Vergleichen«, keine besondere Autorität, keine privilegierte Sprecherposition, zuerkannt. Es geht vielmehr um eine Auseinandersetzung der Besucher*innen mit den Museumsobjekten, über die erstere sich ihrer eigenen Identitätsentwürfe vergewissern können. »The museum visit aims not only at new insights into informational content but also
227 Garner, et al.: Museums as Contexts for Transformative Experiences, S. 342. 228 Das »konzeptuelle Kontinuum« von Garner, Kaplan und Pugh lässt sich auch auf die Forschungsebene übertragen: »Museums […] are often described as informal learning environments, underscoring the conviction that one of the major contributions of such institutions to society is to educate visitors«, so die Autor*innen. »Typically, museum education research has focused on ways to increase the sophistication of visitors’ thinking about artifacts and topics.« Während also die lernfokussierte Besucher*innenforschung größtenteils auf der linken Seite des Schemas verortet werden kann, ist meine Arbeit stärker an jenen Aneignungsprozessen interessiert, die sich weiter rechts und im Zentrum des Kontinuums abspielen, ebd., S. 341–342.
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at […] how the visitors perceive and interact with the world and view themselves«, so Garner, Kaplan und Pugh.229 Zurück zum Interview mit Herrn Tander in der Kulturbrauerei. Die konstitutive Beziehung zwischen persönlichen Erinnerungen und oppositioneller Ausstellungslesart für diesen spezifischen Fall der Identitätsarbeit im Museum wurde bereits hinlänglich beleuchtet. Doch wie verhält es sich mit der eigentümlichen Betonung von Herrn Tanders Nähe zu »Leuten, die auf dem Land, in der Mark Brandenburg, leben«, zu Beginn des Interviews? Möglicherweise kann sie als die Konstruktion eines Gegenpols zu Herrn Tanders Arbeit für westliche Unternehmen gelesen werden, die sich in seinen Augen an den staatssozialistischen Ländern bereichert haben. Denn generell war der Verweis auf persönliche Beziehungen zu Ostdeutschen ein wiederkehrendes Motiv in meinen Interviews mit (westdeutschen) Besucher*innen, welches meist der Authentisierung der eigenen Sprecherposition diente. Erinnert sei etwa an Herr Ludwig aus Niedersachsen, der im ZFL angab, er habe »nach der Wende gleich Freunde hier in Eisleben kennengelernt«.230 Und im gleichen Museum erklärte der 58-jährige Nürnberger Herr Peetz, sich »auch hier viel mit Menschen – Obstverkäufer oder Verkäuferin auf’m Wochenmarkt oder in Läden oder im Hotel« zu unterhalten.231 »Einige meiner besten Freunde sind Ostdeutsche«, bemerkte die im Forschungsprojekt arbeitende Studentische Hilfskraft beim Codieren der Interviews dazu ironisch. Auf meine abschließende Nachfrage, ob er noch etwas über die Ausstellung erzählen wolle, antwortete Herr Tander: Also ich fand’s eigentlich schon geschickt […]. Was eigentlich auch so ganz geschickt war, das war so ein bisschen dieses Versöhnliche zu zeigen. Also ich sag mal, dieses Brautpaar, was tanzt […] oder auch diese Kinderfreizeiten […], Flaggenappell bei den Pionieren und so weiter. Das hab ich genau so als Kind in Amerika erlebt. [Interviewer: Mhm.] Da gab’s diese Freizeiten vom YMCA, da war ich so bisschen älter als die Kinder da, und dann wurde die Fahne hochgezogen und dann musste man die Fahne grüßen.232 Herr Tander nimmt mit dem »Brautpaar, was tanzt« auf eine Videoinstallation gegen Ende der Ausstellung Bezug, die eine Szene aus Volker Koepps Defa-Dokumentarfilm Feuerland (1988) zeigt. Der circa 27-minütige Film zeigt Szenen aus der Oranienburger Vorstadt, die früher »wegen der lärmenden Großschmieden der BorsigFabriken […] auch Feuerland« genannt wurde.233 Hauptschauplatz ist das Borsig-
229 230 231 232 233
Ebd., S. 342. Interview 5, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Interview 3, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, 26.06.2020. Interview 2, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. Koepp, Volker: Feuerland, 1988, 3:40-3:50.
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Eck. Hier treffen sich tagsüber, so der Wirt, »die Rentner und die, naja, die Krankgeschriebenen«.234 Später füllt sich die Kneipe mit Punks und Arbeiter*innen. Ein ehemaliger Berliner Schachmeister und KZ-Überlebender spielt von früh bis spät um kleine und größere Einsätze gegen die Kundschaft, ein leidenschaftlicher Pilzesammler zeigt dem Kamerateam seine Ausbeute. Etwa in der Mitte des Films wird eine Hochzeitsgesellschaft im Hinterraum der Kneipe beim Tanzen gezeigt. Dies ist die Szene, die auch im Museum in der Kulturbrauerei zu sehen ist.235 Die Thematisierung des Films und die Lesart, hier werde »so ein bisschen dieses Versöhnliche« gezeigt, fügen sich natürlich bestens in Herrn Tanders Schilderung seiner Beziehung zu Bergmann-Borsig ein – wobei nicht anzunehmen ist, dass ihm Feuerland bekannt gewesen wäre oder er den gezeigten Drehort identifiziert hätte. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass Herr Tander die Ausstellung tatsächlich dahingehend »missverstanden« hätte, dass sie Verbindendes zwischen der DDR und westlichen Staaten (Pioniere und YMCA, das tanzende Brautpaar) herausstellen und dadurch die unversöhnliche Systemkonkurrenz beiseiteschieben wollte. Die Lesart der Ausstellung ist vielmehr ein spezifischer Ausdruck seiner Besuchsmotivation und einer Aneignungsweise, die die narrative Arbeit am eigenen Selbst in den Mittelpunkt des Museumsbesuchs stellt.
7.7 »Von wem wurde das geschrieben?« Ausstellungslesarten, DDR-Gedächtnisse und ein Metabesuch im DOK Eisenhüttenstadt Die letzten drei Kapitel haben sich der Nutzung des Museums Ort für Identitätsarbeit und als Erinnerungsanlass sowie dem Stellenwert des Eingangsnarrativs für die Ausstellungsaneignung gewidmet. Dabei habe ich die Frage erörtert, wie unterschiedliche Besuchsmotivationen und biografische Prägungen sich auf den Umgang mit dargebotenen Ausstellungsnarrativen auswirken und wie Besucher*innen in Museen Bestätigung suchen und – möglicherweise widrigen Bedingungen zum Trotz – finden. Die dabei analysierten Interviews hätten allerdings auch unter einem leicht veränderten Gesichtspunkt betrachtet auch eine andere, recht naheliegende Frage aufwerfen können: die Frage nach dem Verhältnis von Halls LesartenModell und Sabrows Gedächtnistrias. Auf den ersten Blick scheint der Fall eindeutig zu sein: Fortschrittsgedächtnis und oppositionelle Lesart, Arrangementgedächtnis und ausgehandelte Lesart sowie Diktaturgedächtnis und dominant-hegemoniale
234 Ebd., 5:38-5:46. 235 Im Original [13:48-14:29] läuft dabei im Hintergrund Horizont von Udo Lindenberg (1987). Im Museum in der Kulturbrauerei wurde der Ton durch Musik einer unbekannten Band aus einer späteren Filmszene [24:29-25:10] ersetzt. Eine Anfrage an das Museum für den Grund dieser Veränderung blieb unbeantwortet.
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Lesart gehen Hand in Hand. Beide Modelle wären somit hinsichtlich der Rezeption von Ausstellungen zur DDR-Geschichte kongruent zueinander. Zumindest die Interviews mit Herrn Tander (Fortschrittsgedächtnis und oppositionelle Lesart) und Frau und Herrn Reuss (Diktaturgedächtnis und dominant-hegemoniale Lesart) lassen sich problemlos in dieses Schema einfügen. Doch bereits bei Frau und Herrn Bogner tun sich erste Probleme auf. Zumindest ihre Schilderung der »Töpfchendebatte« folgt noch mehr oder weniger der ausgehandelten Lesart, die ja »mit den Ausnahmen zur Regel« arbeitet, indem sie auf einer allgemeinen Ebene »die Legitimität der hegemonialen Definitionen« anerkennt, jedoch »auf einer begrenzteren, situationsbedingten Ebene […] [ihre] eigenen Grundregeln aufstellt«.236 Frau Bogner sagt nicht: »An der Darstellung der Töpfchendebatte zeigt sich die antikommunistische Verbohrtheit des Museums« (oppositionell), sondern: »Das mag vielleicht in Einzelfällen so sein – will ich nicht abstreiten«.237 Doch von diesem Gesprächsausschnitt abgesehen tanzen Herr und Frau Bogner mit ihrer eigensinnigen Zeitreise durch das DDR-Museum ziemlich aus der Reihe und entziehen sich auch einer eindeutigen Zuordnung zu einem der drei sabrowschen DDR-Gedächtnisse. Und auch der Zusammenhang zwischen oppositioneller Lesart und Fortschrittsgedächtnis ist weniger eindeutig, als er zunächst scheinen mag. Schauen wir uns hierzu ein Interview aus dem Dokumentationszentrum Alltagskultur mit Frau Faber, einer 29-jährigen Kunstgeschichtsstudentin aus Westberlin und ihrem ca. zehn Jahre älteren Freund Herrn Roth aus Ostberlin an. »Wir machen so ein bisschen Ausstellungshopping und gucken uns und vergleichen auch und diskutieren danach auch immer: Wie war die Ausstellung konzipiert, wie hat’s funktioniert, wie sehr hat sie uns ermüdet oder uns begeistert?«, erklärte Herr Roth ihr generelles Interesse für Museen.238 Eisenhüttenstadt hatten die beiden im Sommer 2019 besucht, nachdem sie im Radio von einer Sonderausstellung zum Bauhaus im Dokumentationszentrum Alltagskultur gehört hatten. Während Frau Faber angab, sie habe gefühlt eigentlich »nichts [mit der DDR] zu tun«, zeigte sich Herr Roth »total geflasht, weil ich jetzt ne Freundin aus’m Westen hab, die sich für den Osten interessiert und mit mir sehr weit in den tiefen Osten fährt, um sich ne Planstadt anzugucken.«239 Frau Faber: Ja, ich interessiere mich viel für […] deutsche Geschichte und finde es auch einfach so abgefahren, gerade aus der Perspektive meiner Eltern. Die waren so, joa DDR? […] War halt so waaas? Hä? […] Und mir ist auch immer so stecken geblieben, dass im Unterricht an der Schule DDR halt so von oben herab behandelt 236 237 238 239
Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 79. Interview 12, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019. Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Ebd. Die folgenden Interviewauszüge betreffen allesamt die Dauerausstellung, die sich meine beiden Gesprächspartner*innen ebenfalls angeschaut hatten.
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wird. […] Meine Lehrerin meinte – im Abiturjahrgang – ich bin einmal in die DDR gefahren und es war wirklich alles grau. Und natürlich haben wir alle gelacht und irgendwie hat man dann so gedacht: Ja stimmt, also wenn sie’s wirklich so erlebt hat, dann ist es nicht nur irgendwie ein Vorurteil. Aber sowas eckt bei mir an, da denk ich so: Nee, das kann doch nicht sein, das ist doch Blödsinn. Herr Roth: Und selbst hier in der Ausstellung, gerade da beim Durchgehen, gab’s so Formulierungen, die schon… Also ist natürlich ne DDR-kritische Ausstellung, aber…240 Bevor wir uns die entsprechenden »Formulierungen« anschauen, möchte ich ein paar erste Beobachtungen festhalten. Frau Faber erklärt ihr Interesse an DDR-Geschichte mit einer Art Leerstelle: Obwohl ihre Eltern in Westberlin aufgewachsen seien, hätten sie keinerlei Berührungspunkte mit der DDR gehabt. Und in der Schule sei ihr lediglich ein sehr stereotypes DDR-Bild vermittelt worden (»es war wirklich alles grau«). Ihr Freund spannt den Bogen von Elternhaus und Schule dann weiter zum Dokumentationszentrum Alltagskultur, dessen Ausstellung an das schulisch geprägte Bild der grauen DDR anknüpfe. Dass diese Verbindung von Schule und Ausstellung so problemlos geknüpft wird, deutet darauf hin, dass beide von einer Hegemonie des Diktaturgedächtnisses im DDR-Erinnerungsdiskurs ausgehen. Denn die Verbindung von Schule und Ausstellung erscheint nicht als zufällig, sondern als geradezu notwendig: »natürlich« handele es sich um eine »DDR-kritische Ausstellung.« Gleichzeitig deutet Herrn Roths Wortwahl darauf hin, dass er sich von einer historischen Ausstellung trotzdem eine differenziertere Darstellung erwartet hätte. Es ist nicht die Kritik an der DDR an sich, die ihm missfällt (die wurde ja erwartet), sondern die Einseitigkeit und Pauschalität, mit der diese vorgebracht werde, wie der weitere Gesprächsverlauf zeigt. Kommen wir also zurück zu den »Formulierungen«: Herr Roth: Also ist natürlich ne DDR-kritische Ausstellung, aber… Frau Faber: Also komm, wir haben ne Formulierung oder… Diese eine Formulierung hab ich gefunden. Herr Roth: Genau, wie die Kinder im Kindergarten, wie die, ähm… Frau Faber: Also dieses – wie heißt der Bär? Herr Roth: Bummi, Bummi. Frau Faber: Bummi-Bär? Also irgendwie bei dieser Medienstation […] stand da: Die Kinder wurden – also so ist es bei uns angekommen oder bei mir vor allem – 240 Ebd.
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die Kinder wurden dann hier mit Strafe irgendwie, wurden die Strafe angedroht, dass sie dann zurückgestuft werden, wenn sie nicht leise auf’m Treppenhaus sind und selbst ihre Matratzen wegräumen. Ich denk so: Wann wurde und von wem wurde das geschrieben? […] Also meiner Meinung ist es in Ordnung, wenn Kindern halt gesagt wird in der Gruppe: Ihr sollte ruhig sein, ihr sollt eure Sachen wegräumen. Klar, wenn denen dann angedroht wird »ihr werdet zurückgestuft« und so… Aber ich glaub, es müsste vielleicht ein bisschen differenzierter gesehen werden, diese Quelle halt. Oder mehr in den Kontext gestellt oder halt wirklich erklärt werden. […] Herr Roth: Weil man überlegt halt natürlich, wenn Leute von, also die, weiß nicht, aus Westdeutschland kommen oder die überhaupt aus’m Ausland und die damit noch nie in Berührung gekommen sind, die denken natürlich: Oh, was war das denn für ein totalitärer Staat, der schon bei den Kindern so streng, also mit den Kindern so umgegangen ist? […] Frau Faber: Vielleicht ist man da noch empfindlicher, weil man schon so oft halt den Eindruck hat, die DDR wird, ähm… Herr Roth: So verteufelt. Frau Faber: Ja verteufelt. Also natürlich so Nachwendezeit war da natürlich im Vordergrund: Das war ne Diktatur und das wird halt auch von der neuen Bundesrepublik dann gesehen und aufgearbeitet […] und das ist ja auch richtig so […]. Aber ist auch das, was du immer sagst oder was ich auch immer wusste, ist, dass na, es gab ja Leute, denen ging’s in Ordnung, also denen ging’s nicht schlecht. […] Und dann denk ich auch so: Oah, immer zu hören so, das war alles irgendwie Drangsalierung, man wurde abgehört und durfte keine Witze erzählen, viel ja immer so… Herr Roth: So ein bisschen einseitig. Frau Faber: Gemein, einseitig. Herr Roth: Und so ein bisschen pauschalisierend. Frau Faber [gleichzeitig]: Pauschalisierend. Herr Roth: Und, also damit wird sich’s halt leicht gemacht, das einfach so in eine Ecke zu stellen und, und puh…241
241 Ebd.
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Bei den Ausstellungsmedien, auf die Frau Faber und Herr Roth sich hier beziehen, handelt es sich um einen im Namen des Bummi-Bären handschriftlich verfassten Brief einer Erzieherin und einen kommentierenden Begleittext, die sich unter der Überschrift »Disziplin im Kindergarten« auf einer der zahlreichen Medienstationen des DOK finden lassen. In dem Begleittext heißt es: Bummi-Hefte gehören heute zu den Hinterlassenschaften der DDR, die überwiegend positiv bewertet werden. Der Bär »Bummi« selbst galt – ähnlich wie das Sandmännchen – als anerkannte Autorität. Die Absenderin des vorliegenden Glückwunsch-Briefs an die Gruppe eines unbekannten Kindergartens macht sich diese Autorität zunutze. Als Glückwunsch getarnt, sollen die Kinder, die als zu laut oder zu wenig hilfsbereit gelten, diszipliniert werden. Dies zeigt die Kehrseite der garantierten Kinderbetreuung für alle. Große Gruppen erforderten, dass die Kinder sehr früh lernten, sich der Gruppe unterzuordnen und »pflegeleicht« zu sein. Dieses Ziel wurde »mit Zuckerbrot und Peitsche« durchgesetzt. Lob für die angepassten Kinder, Drohung mit Konsequenzen bis zur Rückstufung für die »anstrengenden«. Der Brief verweist auf die Ansprüche, denen die Kinder der mittleren Gruppe gehorchen müssen: Sie sollen »ganz leise durchs Haus gehen.« Auch wird von ihnen erwartet, dass sie beim täglichen Auf- und Abbau der Liegen für den Mittagsschlaf mithelfen. »Lauten« und »faulen« Kindern wird mit Versetzung in die Gruppe der kleineren Kinder gedroht.242 Brief, Begleittext und Interviewausschnitt bieten Ansatzpunkte für eine ganze Reihe an Fragestellungen, beginnend mit dem ärgerlichen Umstand, dass der Begleittext augenscheinlich aus Teilen des Briefes zitiert, die in der Ausstellung überhaupt nicht gezeigt werden. Davon abgesehen könnte man danach fragen, inwiefern Disziplinarmaßnahmen gegenüber lauten und wenig hilfsbereiten Kindern tatsächlich ein Spezifikum der Kindererziehung in der DDR waren oder ob Topoi wie Autorität, Unterordnung und Anpassung die Interpretation des Briefes einfach deshalb dominieren, weil sie sich besonders gut in das DDR-Bild des oder der Autor*in einfügen. Kann der Bummi-Bär-Brief als paradigmatisch für einen in der DDR vorherrschenden Erziehungsstil bezeichnet werden und/oder verrät uns der Begleittext eher etwas über gegenwärtige Erinnerungsdiskurse? Analog dazu könnte ein weiterer Fokus auf den nahezu ununterbrochenen Redefluss und das beständige Ergänzen meiner beiden Gesprächspartner*innen gelegt werden, was Herrn Roth am Ende geradezu physisch zu erschöpfen scheint (»puh…«). Im Folgenden werde ich meine Betrachtungen jedoch auf zwei Punkte beschränken, die sich an der Schnittstelle von 242 Disziplin im Kindergarten, Objekttext auf einem Touchscreen im Bereich »Bildung«, DOK Eisenhüttenstadt (fotografiert am 24.09.2022).
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Ausstellungsgestaltung einerseits und Ausstellungsaneignung andererseits befinden. Der erste Punkt betrifft den Zusammenhang zwischen Halls Lesarten-Modell und Sabrows Erinnerungstypologie. Lassen sich die Ausführungen Frau Fabers und Herrn Roths einem der drei DDR-Gedächtnisse zuordnen? Sicherlich nicht dem Diktaturgedächtnis. Das Fortschrittsgedächtnis scheidet ebenfalls aus, denn schließlich lassen sich keine explizit positiven Bezugnahmen auf das sozialistische System der DDR ausmachen. Für das Arrangementgedächtnis könnte zwar die Erwähnung von Leuten, denen es »in Ordnung, […] nicht schlecht« ging einerseits und die »Drangsalierung« andererseits ins Feld geführt werden, allerdings erfolgt diese Erwähnung nicht in der für das Arrangementgedächtnis typischen Gegenüberstellung. Frau Faber geht es nicht um »die Mühe des Auskommens mit einer […] Parteiherrschaft«, sie erzählt nicht »von alltäglicher Selbstbehauptung unter widrigen Umständen« – Topoi, die einen zentralen Platz in Martin Sabrows Charakterisierung dieses Gedächtnistyps einnehmen.243 Frau Faber sagt nicht: Es gab Leute, denen ging es damals trotz Überwachung und Repression gut; sondern: Es gab Leute, denen ging es gut und diese Leute kommen in den heute dominanten Geschichten von Überwachung und Repression nicht vor. Wir haben es hier also mit einer DDR-Erinnerung zu tun, die sich im Gegensatz zu Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis nicht in erster Linie über diesen oder jenen positiven Gehalt definiert, sondern über ihre Negation des hegemonialen Erinnerungsdiskurses. Dieser sei »einseitig«, »pauschalisierend«, ja sogar »gemein«. Allerdings ist er – und das ist der Unterschied zum Fortschrittsgedächtnis – für Herrn Roth und Frau Faber nicht per se faktisch falsch. Wenn wir dieses Interview mit meinem Gespräch mit dem Aachener Herrn Tander im Museum in der Kulturbrauerei vergleichen, dann fällt auf, dass in dessen Argumentation stets ein Bezugsrahmen präsent ist, der bei Frau Faber und Herrn Roth vollkommen fehlt. Herr Tander sagt: Der »Drill in der NVA […] war sicher schlimm, aber Bundeswehr war nicht besser«.244 Oder: »Man hatte Mangel an Produkten«, aber dadurch, dass die sozialistischen Staaten »von den westlichen Ländern […] wirtschaftlich systematisch geschwächt« wurden.245 Wie bereits erläutert, folgt Herrn Tanders Lesart der Ausstellung in der Kulturbrauerei also einem klaren Muster: Er »enttotalisiert die Nachricht mittels des bevorzugten Kodes« – decodiert Ausstellungsmedien also im Sinne der dominant-hegemonialen Vorzugslesart – »um sie daraufhin innerhalb eines alternativen Bezugsrahmens zu re-totalisieren.«246 Dieser alternative Bezugsrahmen lässt sich mit Schlagwörtern wie Systemkonkurrenz, Kalter Krieg
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Sabrow: Die DDR erinnern, S. 19. Interview 2, Museum in der Kulturbrauerei, 16.04.2019. Ebd. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 80.
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usw. auf den Punkt bringen und ist dadurch gekennzeichnet, dass die DDR in ihm die Manifestation einer »legitimen [wenn nicht überlegenen] Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung« darstellt.247 Dieses beständige Zusammenspiel von Enttotalisierung und Retotalisierung gibt es in dieser Form im Gespräch mit Frau Faber und Herrn Roth nicht. Es geht den beiden nicht um die Frage, ob die DDR nun besser oder schlechter als die BRD gewesen sei, weshalb Frau Faber auch ohne Probleme konstatieren kann, dass die DDR »ne Diktatur« gewesen und deren Aufarbeitung nach 1990 daher »ja auch richtig« gewesen sei.248 Ihr Bezugsrahmen ist ein anderer – einer, in dem es nur nachrangig um die DDR selbst und vorrangig um deren heutige diskursive Aushandlung geht.249 So gesehen ist es auch nicht verwunderlich, dass Frau Faber und ihr Freund nach der Aufregung über die Darstellung der Kindererziehung zunächst kaum etwas über den weiteren Inhalt der Ausstellung zu sagen wissen. Im Anschluss an Herrn Roths ermattetes »und, und puh…« lenkt seine Partnerin ein: Frau Faber: Obwohl ja hier geht es um Alltagskultur und eigentlich ist es ja ein anderer Gesichtspunkt, ne? Eigentlich ist es… So Alltagskultur in der DDR ist ja eigentlich das Aufarbeiten von dem, was soHerr Roth: Wie der Alltag war. Frau Faber: -wie der Alltag war und, und dass es den gab [Herr Roth: Mhm] und dass… joa. [alle lachen]250
247 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 19. 248 Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. Eine Rolle spielt dabei zweifellos auch die »Erwartungserwartung«: Vor dem Hintergrund des hegemonialen DDR-Diskurses und allgemeiner Gesprächskonventionen muss Frau Faber davon ausgehen, dass ich von ihr erwarte, dass sie die DDR als Diktatur bezeichnet. Ihre Aussage sollte daher auch als eine Technik gelesen werden, mit der sie ihre Kritik am Diktaturgedächtnisdiskurs dadurch absichert, dass sie einen vermuteten Rahmen des Sagbaren präventiv affirmiert. 249 Und ihre Argumentationsebene ist nicht die der historischen Faktizität, sondern folgt eher Jaques Lacans vielzitiertem Diktum »that, even if what a jealous husband claims about his wife (that she sleeps around with other men) is all true, his jealousy is still pathological.« Analog dazu: Auch wenn alle Topoi des hegemonialen DDR-Diskurses (Totalitarismus, Diktatur, Indoktrination usw.) der Wahrheit entsprächen, wäre der Diskurs dennoch pathologisch. Denn es ginge ihm überhaupt nicht um diese Wahrheit, sondern um die ideologische Absicherung der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Žižek, Slavoj: Jacques Lacan’s Four Discourses (ohne Datum), URL: https://www.lacan.com/zizfour.htm (letzter Zugriff: 18.01.2021). 250 Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019.
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Es gab Alltag und »joa« – viel vernichtender kann die Zusammenfassung eines alltagsgeschichtlichen Museums wohl kaum ausfallen.251 Zugegeben: Frau Fabers Urteil kann auf einige kontingente Gründe zurückgeführt werden. Sie fällt es im Anschluss an einen langen, aufgeregten Gesprächsfluss, weshalb es ihr schwerfallen dürfte, ihre Gedanken plötzlich auf ein anderes Thema zu fokussieren. Zudem dürfte Frau Fabers ablehnende Reaktion auf die Bummi-Bär-Geschichte (die sich relativ am Anfang der Ausstellung befindet) ihre weitere Ausstellungsrezeption stark mitgeprägt haben. Dennoch denke ich, dass der generelle Bezugsrahmen dieser Rezeption für Frau Fabers wortkarge Zusammenfassung der Ausstellung von entscheidender Bedeutung ist. Ich würde diesen mit dem Begriff »Anti-Diktaturgedächtnis« bezeichnen. Sein wesentlicher Unterschied zum Fortschrittsgedächtnis besteht darin, dass es dem hegemonialen DDR-Diskurs keine positive Gegenerzählung entgegensetzt, sondern seine Struktur einfach aus der Ablehnung des als selbstgefälligen Siegerdiskurs empfundenen Diktaturgedächtnisses gewinnt. Dieser Bezugsrahmen ist in den Reaktionen meiner Gesprächspartner*innen auf die Ausstellung im Dokumentationszentrum Alltagskultur stets in Form einer reflektierenden Metaebene präsent: Einerseits schildern sie (insbesondere Frau Faber) ein Bild der DDR, wie es ihnen von Elternhaus, Schule und Ausstellung vermittelt worden sei und zum anderen reflektieren sie beständig dieses Bild, seine Vermittlung und ihren Umgang damit. So fragt sich etwa Herr Roth, wie die Ausstellung wohl auf Menschen ohne DDR-Bezug wirke (Stichwort »was war das denn für ein totalitärer Staat«) und Frau Faber erklärt ihre negative Reaktion auf die Bummi-Bär-Geschichte damit, dass sie durch den hegemonialen Erinnerungsdiskurs vermutlich besonders sensibilisiert für negative Darstellungen der DDR sei. Und gegen Ende des Interviews fragt sie sich, ob das Dokumentationszentrum »vielleicht ja DDR-kritisch sein muss, weil’s ja auch Fördergelder bekommen hat […]. Oder, ich weiß nicht, ob dann irgendwie, was dann für ein Konzept vorgelegt werden muss […]. Ich denke, die wurden vielleicht auch von der Gedenkstätten- äh, -konzeption hier, des, des Staates gefördert und dann muss man sicher […] zeigen sein Konzept, dass man kritisch das aufarbeitet.«252 251
Dabei ist anzumerken, dass dieses Urteil im weiteren Interview-Verlauf etwas abgeschwächt wird und meine beiden Gesprächspartner*innen einige Ausstellungsmedien wohlwollend erwähnen. 252 Ebd. Das DOK wird in der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 2008 unter Punkt drei »Gesellschaft und Alltag« lobend erwähnt und erhielt für die aktuelle Dauerausstellung u.a. eine Projektförderung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Eine institutionelle Förderung durch den Bund besteht allerdings nicht. Vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/staatsministerin-fuer-kult ur-und-medien/weiterentwicklung-der-gedenkstaettenkonzeption-461682 sowie die Website des Museums: https://www.alltagskultur-ddr.de/ueber-uns/#foerderer (letzter Zugriff: 18.01.2021).
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
An derartigen Äußerungen zeigt sich eine Zugangsweise zum Museum, die für Expert*innen auf dem fraglichen Gebiet typisch sein dürfte und die der Historiker Marcus Gräser in einem kurzen Aufsatz zum »Historiker als Museumsbesucher« veranschaulicht hat.253 Gräser reflektiert darin seine eigene Rezeption stadtgeschichtlicher Ausstellungen, wobei er die »Lücke« zum zentralen Topos erklärt. Ihm zufolge seien Historiker*innen meist weniger an den Exponaten an sich interessiert als vielmehr an den Schwächen, Leerstellen, Ungereimtheiten des Ausstellungsnarrativs und dessen Umsetzung. Der Zweck des Besuchs bestehe dann nicht in einem möglichen Informationsgewinn, sondern in der Hinterfragung der wissenschaftlichen Autorität des Museums als Erzähler. Somit müsse »jene einfach schauende, genießende »Naivität« [der gewöhnlichen Besucher*innen] von vornherein fast unmöglich erscheinen«, so Gräser.254 Folgt man dieser Lesart, dann ist bei einem solchen Ausstellungsbesuch nicht das Was sondern vor allem das Wie der musealen Narration von Interesse. Der Ausstellungsbesuch gerät zu einer Art formalistischem Meta-Besuch. Abgesehen davon, dass die »einfach schauende, genießende »Naivität« als Modus der Ausstellungsaneignung in der Praxis wohl kaum vorkommt und ihre Annahme eher einen latenten Elitismus offenbart, lassen sich Gräsers Überlegungen bestens auf mein Gespräch mit der Kunsthistorikerin Frau Faber und ihrem Partner übertragen. Ich erinnere an Herrn Roths eingangs getätigte Beschreibung eines typischen Museumsbesuchs, in der die Präsentationsweise einer Ausstellung deutlich mehr Raum einnimmt als ihr Inhalt: »Wir […] gucken […] und vergleichen auch und diskutieren danach auch immer: Wie war die Ausstellung konzipiert, wie hat’s funktioniert, wie sehr hat sie uns ermüdet oder uns begeistert?«255 Die Charakterisierung von Frau Fabers und Herrn Roths Ausstellungsaneignung als eine Art Meta-Besuch kann wesentlich zum Verständnis ihrer harschen Kritik am Dokumentationszentrum Alltagskultur beitragen. Zusammengefasst erscheint dieses im Gespräch als höriger Vollstrecker eines in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes verankerten, pauschalisierenden und diffamierenden DDR-Diskurses. Kein Wunder also, dass das Museum über die profane Feststellung »Alltag gab es« nicht hinauskomme. Leser*innen, die in der DDR-Museumslandschaft bewandert sind, mag dieses Urteil verwunderlich, ja sogar »gemein« vorkommen, gilt das Dokumentationszentrum doch weithin als der Stein gewordene Beweis dafür, dass eine differenzierte Musealisierung der DDR jenseits von verharmlosender Nostalgie einer-
253 Gräser, Marcus: »Aber etwas fehlt«. Der Historiker als Museumsbesucher, in: Schnittpunkt. Ausstellungstheorie & Praxis (Hg.): Storyline. Narrationen im Museum, Wien 2009, S. 144–150. 254 Ebd., S. 144. 255 Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019.
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seits und totalitarismustheoretischer Verteufelung andererseits möglich ist.256 Der entscheidende Punkt ist aber folgender: Wenn Frau Faber und Herr Roth sich durch das Dokumentationszentrum Alltagskultur bewegen, dann gehen sie nicht nur von Raum zu Raum, durchlaufen nicht nur eine Ausstellung, sondern sie bewegen sich zugleich bewusst durch einen größeren Diskursraum, zu dem sie immer wieder Bezüge herstellen. Dieser Diskursraum beinhaltet etwa staatliche Geschichtspolitik (wie beispielsweise die Gedenkstättenkonzeption des Bundes) und durch Schule, Museen, Medien und Familie vermittelte Bilder der DDR. Der Museumsbesuch findet gewissermaßen auf zwei Ebenen statt: Auf der ersten Ebene geht es um eine Auseinandersetzung mit der vom Museum erzählten Geschichte der DDR. Auf einer übergeordneten zweiten Ebene geht es um die Form und Voraussetzungen dieser Geschichte, um das Museum als Manifestation seines erinnerungskulturellen Kontextes. Anders ausgedrückt ist die Ausstellungsrezeption meiner beiden Interviewpartner*innen nicht nur von den Exponaten, Texten und sonstigen Medien des Dokumentationszentrums selbst abhängig, sondern ebenso sehr von der Verortung des Museums in erinnerungskulturellen Diskursen. Folgerichtig verglichen Frau Faber und Herr Roth das DOK gegen Ende des Interviews auch mit einem weiteren DDR-Museum, das sie kürzlich besucht hatten – dem Museum in der »Runden Ecke« in Leipzig, welches Herr Roth als »Präzedenzfall für schlimme, unkontrollierte Museums- [Frau Faber: Ausstellungen] -ausstellungen« bezeichnete, »weil es da noch zehnmal schlimmer [ist], mit vielen kleinen Texten, sehr alten Tafeln […], hunderttausend Wandzeitungen nebeneinander. […] Bei der dritten von hundert Wandzeitungen, hat’s mich schon so überfordert«.257 Diese Kritik steht in einem auffälligen Gegensatz zu der Art von Museumsvergleichen, die andere von mir interviewte Besucher*innen zogen. Da wären beispielsweise Frau und Herr Paulsen aus Hessen, die das DOK mit dem Stadtmuseum Lübbenau verglichen. Die dort gezeigte Ausstellung »Urlaub in der DDR« hätten sie interessanter gefunden, »weil das ein besonderer Aspekt war.«258 Ebenfalls in Eisenhüttenstadt berichtete Herr Kerner aus Brandenburg von einer Sammlung alter Autos aus der DDR bei Wittenberge, die aber »nicht besonders sehenswert« sei. Und die bereits 256 »Anders als etwa das DDR-Museum Berlin, das in seiner primär eher als Anfass- und Erinnerungsschau gestalteten Ausstellung, allenfalls auf eine plakative Gegenüberstellung von Alltag und Diktatur setzt, unternimmt das DOK in seiner neuen Dauerausstellung den ungleich diffizileren Versuch, den DDR-Alltag in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit darzustellen«, so etwa Christian Gaubert in seiner Besprechung der Ausstellung. Gaubert: Alltag: DDR. Rezension. 257 »Das war deftig!«, so Frau Faber zustimmend. Und als ihr Freund mir später einen Besuch der »Runden Ecke« empfahl, ergänzte sie: »Schocken lassen!« Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. 258 Herr Paulsen, Interview 2, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. »Ja, das stimmt«, pflichtete Frau Paulsen ihm bei.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
mehrfach zitierten Herr und Frau Werneke, die das DOK wegen der Sonderausstellung zum Thema Bauhaus in der DDR besucht hatten, sahen in dieser eine gelungene »Ergänzung« zum Bauhaus-Museum Weimar, denn letzteres »deckt also die Gründung des Bauhauses ab, bis dann Weimar also zu Ende war, man nach Dessau gegangen ist. Und hier fängt es ja jetzt quasi mit der Nachkriegszeit an. Das heißt also, das nächste Stück«.259 In all diesen Fällen geht es um einen dezidiert inhaltlichen Vergleich der jeweiligen Ausstellungen, wohingegen Herr Roth sich explizit auf die Ebene der Darstellung (»hunderttausend Wandzeitungen«) bezieht. An der Art dieser Vergleiche – inhaltlich einerseits und formal andererseits – lässt sich eine eindeutige Korrelation zu der Aufgabe ablesen, die unterschiedliche Besucher*innen einem historischen Museum zuschreiben. Wie zu Beginn von Kapitel 7.5 erörtert, erwarten Personen, die ein DDR-Museum vor allem als Erinnerungsanlass nutzen, von diesem in der Regel nicht ein Erzählen von Geschichte(n), sondern eine möglichst originalgetreue Abbildung von Vergangenheit. Ohne den Konstruktionscharakter von Geschichte stellt sich aber auch die Frage nach deren Darstellung nicht.260 Umgekehrt erwarten sich Frau Faber und Herr Roth inhaltlich nichts Besonderes vom Besuch des DOK.261 Stattdessen wird die Ausstellungsrezeption meiner beiden Gesprächspartner*innen von Fragen geleitet, die eben diesen Konstruktionscharakter hervorheben: Wie ist die Ausstellung gestaltet? Von wem wurde sie finanziert? Muss sie DDR-kritisch sein? Wer hat die Begleittexte geschrieben? All diese Fragen zielen auf eine Ebene der Ausstellung ab, die Jana Scholze mit dem Begriff der »Metakommunikation« zusammengefasst hat. Auf dieser Ebene beziehen sie sich »weder direkt auf die Objektgeschichte […] noch auf die Ausstellungsthematik, sondern auf der Präsentation zugrundeliegende akademische, museologische, politische und individuelle Standpunkte.«262 Was folgt aus alldem nun für die Beziehung zwischen Ausstellungslesarten und DDR-Gedächtnissen? Ich denke, dass die hier vorgenommene Interviewanalyse vor allem neue Bezugsrahmen zum Vorschein gebracht hat. In der Typologie Martin Sabrows besteht die einzige Verbindung zwischen Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis in ihrem unmittelbaren Bezug auf die DDR. Davon abgesehen 259 Interview 4, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. 260 Das bedeutet nicht, dass Besucher*innen, die sich historische Ausstellungen als Erinnerungsanlass aneignen, keine Kritik am Gezeigten formulieren würden. Wie wir beispielsweise an der »Töpfchendiskussion« gesehen haben, tun sie dies zweifellos. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass sich diese Kritik auf einer inhaltlichen Ebene, anstatt auf der Ebene der Präsentationsform, bewegt. 261 Zwar erwähnt auch Herr Roth im Interview Wiedererkennungsmomente bei der Betrachtung von ausgestellten Spielsachen (»Mensch ey, das hatte ich auch!«), doch sind diese Momente insgesamt eher randständig. Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. 262 Scholze: Medium Ausstellung, S. 46.
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stehen sie jedoch merkwürdig unverbunden nebeneinander. Die DDR ist für Sabrow zwar ein »Kampfplatz der Erinnerungen«,263 doch gleicht dieser Kampfplatz einem Niemandsland, auf dem die unterschiedlichen Gedächtnistypen nie miteinander in Berührung kommen. Eine wechselseitige Beeinflussung, wie sie in einem politisch derart aufgeladenen erinnerungskulturellen Diskurs zu erwarten wäre, lässt sich in dem Modell kaum erkennen.264 Auf genau diese Leerstelle zielt der Begriff des Anti-Diktaturgedächtnisses ab, dessen Bezugsrahmen nicht die DDR, sondern der hegemoniale erinnerungskulturelle Diskurs selbst ist. Im Interview mit Frau Faber und Herrn Roth fand sich dieses Anti-Diktaturgedächtnis mit einer Lesart der Ausstellung gekoppelt, die in erster Linie auf einer Metaebene operiert, welche vor allem Kontext und Form der Ausstellung in den Blick nimmt. Mit Hall gesprochen ist das Charakteristische dieser Lesart nicht allein ihre Opposition zur hegemonialen Bedeutung eines Ausstellungsnarrativs, sondern darüber hinaus auch ihre Bezugnahme auf den »professionellen Code« – d.h. auf die Art und Weise, in der »scheinbar neutral-technische Belange«, wie etwa Fragen der Ausstellungsgestaltung, zur Produktion hegemonialer Bedeutungen beitragen können.265 Man könnte sie daher vielleicht als »professionelle Lesart« bezeichnen, wobei dieser Begriff leider etwas missverständlich ist.266 Jedenfalls stellt ihre Kopplung mit dem Anti-Diktaturgedächtnis zwar sicherlich keine notwendige Beziehung dar, völlig zufällig ist sie aber auch nicht, denn schließlich operieren beide Begriffe auf einer Ebene, die in ihrem jeweiligen Ursprungsmodell nicht vorgesehen ist: Das Anti-Diktaturgedächtnis betritt den vormals leeren »Kampfplatz der Erinnerungen«, indem es nicht die DDR, sondern einen bestimmten DDR-Diskurs zu seinem Referenzpunkt erklärt. Es geht ihm weniger um die historische Triftigkeit dieses Diskurses und mehr um dessen Grundlagen und Funktionen. Auf vergleichbare Weise ist die professionelle Lesart nicht allein an der inhaltlichen Decodierung eines Ausstellungsmediums interessiert, sondern zugleich an der das Ausstellungsnarrativ tragenden Form.
263 Sabrow: Die DDR erinnern, S. 16. 264 »Seit der Wende zum 21. Jahrhundert aber geraten die drei kulturellen Deutungslager zunehmend in heftigen Disput«, heißt es bei Sabrow zwar, doch fehlt dem Modell der Begriffsapparat, um diesen Disput auch adäquat nachzeichnen zu können, ebd., S. 20. 265 Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 78. 266 Das Problem ist, dass er einen exklusiven Zugang für eine bestimmte Gruppe von Expert*innen, für akademisch gebildete Ausstellungsbesucher*innen, nahelegt. Insofern wäre der Ausdruck »technische Lesart« möglicherweise treffender, da es ja um die Entschlüsselung der Techniken geht, mit denen der intendierte Sinngehalt einer Nachricht abgesichert werden soll. Dadurch würde allerdings der sprachliche Bezug zu dem von Hall verwendeten Begriff »professioneller Code« verloren gehen.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
7.8 »Geschichtliches war viel«. Funktionen von Museen in den Augen ihrer Besucher*innen »Das Museum ist sozusagen – je moderner desto notwendiger – das funktionale Äquivalent des Teddybären für den modernen Menschen.«267 Ich möchte abschließend noch auf eine Frage zu sprechen kommen, die strenggenommen aus der Struktur meiner Arbeit herausfällt und jenseits meines ursprünglichen Erkenntnisinteresses liegt. Ich habe sie allerdings in den vorangehenden Kapiteln immer wieder gestreift, weshalb sie gewissermaßen als Nebenprodukt aus der bisherigen Analyse hervorgeht. Es geht um die Frage, welche Funktionen Museen von ihren Besucher*innen zugeschrieben werden. Zum ersten Mal ist uns diese Frage im Zusammenhang mit der Konzeption des Museums als Speicher- und Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft begegnet. Ich hatte dort zwei kurze Interviewauszüge miteinander kontrastiert und gezeigt, dass das jeweils besuchte Museum von den beiden Interviewten auf zwei sehr unterschiedliche Arten genutzt wurde: Das eine Mal als Reservoir von Erinnerungen, das andere Mal als Vorlage zum Herstellen von Gegenwartsbezügen. Die beiden Gesprächsauszüge verrieten vor allem etwas über die unterschiedlichen Zugänge, mittels derer sich die beiden Interviewten (Frau Kuhn im Berliner DDR-Museum, Frau Ohlberg im ZFL) die von ihnen jeweils besuchte Ausstellung aneigneten. Implizit geben sie jedoch auch Aufschluss über das, was zeithistorische Museen in den Augen ihrer Besucher*innen eigentlich zu leisten haben und deuten mögliche Funktionen an, die ich im Folgenden in zwei kurzen Unterkapiteln aufschlüsseln möchte. Wie wir bereits gesehen habe, war es für Frau Kuhn offenbar wichtig, dass das Museum ihr zahlreiche Erinnerungsanlässe in Form von authentisch inszenierten Exponaten bot. Deshalb zeigte sie sich auch ein wenig enttäuscht darüber, dass das Museum »ein Geschichtliches« gewesen sei – »also Geschichtliches war viel«, so Frau Kuhn. Die Trennung zwischen großer Geschichte und der eigenen vergangenen Lebenswelt war ein typisches Motiv für jene Formen der Ausstellungsaneignung, die ich unter dem Begriff der Erinnerung zusammengefasst habe. Vor dem Hintergrund einer solchen Trennung können dem Museum im Wesentlichen zwei Aufgaben zugeschrieben werden, die auf den ersten Blick gleich erscheinen: Einerseits zu erinnern und andererseits nicht zu vergessen. Diese identisch erscheinenden Aufgaben unterscheiden sich fundamental dahingehend, dass sich das Erinnern auf die (eigene) alltägliche Lebenswelt bezieht, wohingegen das NichtVergessen auf einer explizit als politisch markierten Ebene angesiedelt wird, auf
267 Marquard: Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur, S. 917.
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der es darum geht, das Gedenken an vergangenes Unrecht und seine Opfer wachzuhalten. Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass das Erinnern mit dem Nicht-Vergessen in Konflikt geraten kann, wenn letzteres der Besuchsmotivation zuwiderläuft (s. etwa das Kapitel »Die gestörte Erinnerung«), dass andererseits aber auch beide Praktiken harmonisch nebeneinander bestehen können. »Aber ich finde es gut, dass es so DDR-Museen gibt« (Frau Bogner) oder »ich find das auch gut ja, dass nichts verflossen ist« (Herr Bogner) sind durchaus typische Aussagen von Besucher*innen, die sich Ausstellungen zur DDR in erster Linie als Erinnerungsanlass aneignen, den dort präsentierten Narrativen tendenziell kritisch gegenüberstehen, sich einer Auseinandersetzung mit diesen aber weitgehend zu entziehen wissen. Und wie in Kapitel 7.5.3 (»Ambivalenzen der Erinnerung«) anhand meines Interviews mit Frau Albrecht gezeigt, kann die Dominanz des Nicht-Vergessens im Ausstellungsnarrativ sogar eine entlastende Funktion für das Erinnern erfüllen: Das Opfer-Gedenken beim Museum in guten Händen zu wissen, erleichtert möglicherweise einen relativ unbeschwerten Zugang zu (auch politisch aufgeladenen) Alltagsgegenständen als Erinnerungsanlass. Auch bei anderen Formen der Ausstellungsaneignung taucht der Topos des Bewahrens immer wieder in unterschiedlichen Facetten auf. Beispielsweise zeigte sich Frau Fiehring (Mitte 60, aus Süddeutschland) im DDR-Museum Pforzheim besorgt über das allmähliche Verschwinden von Zeitzeug*innen aus der DDR, wodurch »Führungen […] von jemandem, der eben selber betroffen war« in Zukunft immer seltener möglich sein würden. Sie verglich diese Entwicklung mit der des Pforzheimer Technikmuseums: »Weil da war’s ja ähnlich. […] Da haben sie […] die ganzen Maschinen und so nicht nur ausgestellt, sondern es gab da alte Rentner, die eben noch dann das vorgeführt haben. Und das war viel lebendiger dann.«268 Wir haben es bei der Vorstellung, ein Museum solle vor allem vergangene Lebenswelten konservieren, scheinbar mit einem vorkonstruktivistischen Geschichtsverständnis zu tun. Vom Museum wird nicht erwartet, dass es Geschichte (re-)konstruiert bzw. erzählt (und tatsächlich kann zu viel textgebundene Erzählung schnell als negativ wahrgenommen werden), sondern dass es seinen Besucher*innen mittels Konservierung und Präsentation von Vergangenem Erinnerungsanlässe zur Verfügung stellt. »Es ist wirklich sehr gut gemacht, nicht zu viel und gut erklärt«, äußerte sich etwa Frau Martin (Ende 70, aus Süddeutschland) im Interview über das DDR-Museum Pforzheim.269 Gut gefallen habe ihr das »Wiedererkennen, was im Museum immer wichtig ist. Dass man sagt: Ja gut, das hab ich auch gehabt und das haben wir in die DDR geschickt und da haben wir Besuche gehabt,
268 Interview 6, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. Frau Fiehring schildert hier eine Präsentationsweise, die für Volkskunde- und Technikmuseen durchaus typisch ist. 269 Interview 4, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
ja.«270 Das Wiedererkennen war auch Frau Greinert (Mitte 70, aus Sachsen) im DOK Eisenhüttenstadt wichtig: »Es waren schöne Sachen dabei, die man kennt«, so meine Interviewpartnerin. »Aber ich kenne noch ein anderes, so ein Gebäude, wo es auch, also bei uns im Ort. Da ist natürlich mehr, nicht mehr geschrieben, viel mehr Ausstellung.« Im DOK war für Frau Greinert hingegen »viel zu lesen gewesen« – ein Umstand, den auch ihre Schwester Frau Haller kritisierte (»Ja, ist anschaulicher. Ich mag nicht so viel lesen«).271 Der Begriff Ausstellung wird hier in seiner wörtlichen Bedeutung verwendet: Dinge werden an einem Ort präsentiert (ausgestellt), und je mehr Dinge präsentiert werden, umso mehr handelt es sich bei dem Ort um eine Ausstellung. Texte und andere kontextualisierende Medien werden dabei nicht als elementarer Bestandteil einer Ausstellung aufgefasst, sondern eher als Beiwerk, welches den Ausstellungscharakter des Ortes sogar verwässern kann. Die Exponate selbst verlieren unter diesem Begriffsverständnis ein Stück weit ihren spezifisch musealen Zeichencharakter, wie er ihnen von der semiotischen Ausstellungsanalyse zugeschrieben wird. Will sagen: Sie sind zwar weiterhin Träger von Bedeutung, allerdings erwächst diese Funktion nicht aus ihrer Verortung innerhalb eines komplexen musealen Zeichensystems, sondern aus der je spezifischen Relevanz, die sie für die Erinnerungen verschiedener Besucher*innen besitzen. Dieses Phänomen habe ich bereits ausführlich anhand meines Interviews mit Herrn Kerner im DOK Eisenhüttenstadt im Kapitel »Erinnerung und Eigensinn« analysiert. Um meine Argumentation zu präzisieren: Es geht hier nicht um einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Geschichte und Erinnerung – denn auch wenn das Museum lediglich Vergangenes konservieren und abbilden soll, werden ja Geschichten erzählt. Die Frage ist vielmehr die nach der Erzählinstanz: Ist es Aufgabe des Museums, ein Narrativ zu entwerfen? Oder hat es die Aufgabe, seinen Besucher*innen die Bausteine (Exponate) für ihre eigenen Narrative an die Hand zu geben? Die erinnernde Ausstellungsaneignung beantwortet diese Frage in letzterem Sinne und ist damit recht nah an der in Kapitel 5.3 erörterten Konzeption der Ausstellung als Drama, in der es ja auch »der Besucher« ist, der »den Dingen, je nach seinem Wissen und seiner Erfahrung seine Stimme leiht«.272 Allerdings führt die Vorstellung, dass ein Museum vor allem vergangene Lebenswelten konservieren und abbilden soll zu dem Paradox, dass es dafür mitunter besonders stark konstruktivistisch agieren muss: Wie beispielsweise im Museum in der Kulturbrauerei oder im Berliner DDR-Museum stellen sich Authentizitätsfiktionen gerade durch die Präsentationsform der Inszenierung ein. Bei einer derartigen Ausstellungsgestaltung geht es Brauer zufolge darum, »Vorstellungsbilder entstehen zu lassen und sie mit einer besonderen 270 Ebd. 271 Interview 5, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 23.09.2022. 272 Hanak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 106.
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Glaubwürdigkeit, einer Autorität der Authentizität zu versehen […]. In diesem Sinne sind historische Sinngebungen [der Museumsbesucher*innen] gesellschaftlich und kulturell vorstrukturiert«.273 Was als Abbildung vergangener Wirklichkeit erscheinen mag, ist also tatsächlich das Resultat einer gestalterisch ausgefeilten Konstruktion eines musealen Erlebnisraums. Und wie insbesondere das vorhergehende Kapitel gezeigt hat, sind manche Besucher*innen gerade an dieser Konstruktion selbst, am »professionellen Code« des Museums, interessiert. An dieser Stelle ist besondere Vorsicht geboten, will man nicht in die lernfokussierte Konzeption von Museumsbesucher*innen als unbeholfenen Mängelwesen mit größtenteils allenfalls »basal« ausgeprägten historischen Kompetenzen zurückfallen. Diese Gefahr rührt nicht zuletzt daher, dass der Begriff der Abbildung in der Geschichtswissenschaft (und insbesondere in der Geschichtsdidaktik) einen schweren Stand hat, schwingen in ihm doch Vorstellungen von einem unverstellten und objektiven Blick auf die Vergangenheit mit, die mit dem narrativistischen Paradigma grundsätzlich unvereinbar sind. So erklären etwa die Autor*innen des FUER-Modells, dass »historische Narrationen« immer »Konstruktionen« seien, »die Vergangenes weder abbilden können noch wollen.«274 Zur Entwicklung der historischen Orientierungskompetenzen gehöre es daher beispielsweise, eine Vorstellung von Geschichte als »möglichst vollständige Abbildung »der« als Gesamtzusammenhang gedachten »Vergangenheit« zugunsten eines Bewusstseins für die Perspektivgebundenheit historischer Erzählungen hinter sich zu lassen.275 Das ist einerseits sicherlich richtig, andererseits hat ein mit Bedacht genutzter Abbildungsbegriff gerade im Kontext des Museums durchaus analytisches Potenzial: In der Mathematik bezeichnet der Begriff Abbildung eine Zuordnung zwischen den Elementen zweier Mengen. Jedem Element aus der einen Menge wird dabei ein Element aus der anderen Menge zugeordnet. Eine Abbildung kann zum Beispiel so aussehen:
273 Brauer: »Heiße Geschichte«?, S. 38. 274 Schreiber, et al.: Historisches Denken, S. 52. 275 Ebd., S. 25.
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Eindeutige Abbildung
Oder auch so:
Nicht-eindeutige Abbildung
Ich denke, dass wir in der Geschichtswissenschaft bzw. -didaktik in der Regel die erste Zeichnung vor Augen haben, wenn wir an das Wort Abbildung denken. Wir fürchten, dass sich Menschen mit einem »mangelhaft« ausgeprägten Geschichtsbewusstsein unter der linken Menge die Vergangenheit vorstellen und unter der rechten deren eindeutige Repräsentation – ihr originalgetreues Abbild – in der Gegenwart.276 Und dann sagen wir mit gutem Recht: Nein, nein, so funktioniert Geschichte aber nicht. Allerdings verliert diese Vorstellung viel von ihrer Dramatik, wenn wir den Abbildungsbegriff eher im Sinne der zweiten Zeichnung verstehen. Wie zu sehen ist, besteht der entscheidende Unterschied zu ersterer darin, dass es sich hier
276 Vielleicht sehen wir vor unserem geistigen Auge Leopold von Ranke aus seinem Grab aufsteigen, um den Unkundigen mit dieser Abbildung zu erklären, »wie es eigentlich gewesen« ist.
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nicht um eine vollkommen eindeutige Zuordnung von Elementen der linken zu Elementen der rechten Menge handelt.277 Wenn wir die beiden Mengen wieder als Vergangenheit und Gegenwart verstehen, haben wir nun den Fall, dass wir von einem Element in der rechten Menge – also einem gegenwärtigen Repräsentanten der Vergangenheit – nicht mehr eindeutig sagen können, was es denn repräsentiert. In diesem Fall rückt der Abbildungsbegriff in die Nähe von Paul Ricoeurs Überlegungen zur »Spur« als »Vorbedingung für die historische Praxis.«278 Für Ricoeur ist Geschichtswissenschaft nur deshalb möglich, weil »die Vergangenheit eine Spur hinterlassen hat […], weil früher ein Mensch oder Tier dort vorüberging, bzw. ein Etwas gewirkt hat.« Die Spur ist »hier und jetzt sichtbar, als Fährte oder Markierung« und »lädt dazu ein, ihr zu folgen, sie zurückzuverfolgen […]; man kann die Spur verlieren; sie kann sich selbst verlieren oder nirgendwo hinführen; sie kann sich auch verwischen […]. Die Spur zeigt somit hier, im Raum, und jetzt, in der Gegenwart, das Vorübergegangensein lebendiger Wesen an«, so Ricoeur. Die Spur ist somit in letzter Instanz unbestimmt. Sie steht weder eindeutig noch an sich für etwas konkretes, sondern muss aufgegriffen und interpretiert werden, um aus ihr einen »Zeugen der Vergangenheit« zu machen.279 Nehmen wir zum Beispiel die zahlreichen Exponate und Fotos zum Thema »Pioniere« im DDR-Museum Pforzheim. Wofür stehen sie? Für politische Indoktrination und Anpassungsdruck in der DDR-Vergangenheit? Für unbeschwerte Kindheitserinnerungen und Gemeinschaftssinn? Für eine Kombination ganz unterschiedlich gewerteter Aspekte (»irgendwo schön, aber irgendwo so alles auf’s System abgestimmt«, wie Frau Albrecht erklärte)? Prinzipiell lassen sie sich auf all diese Weisen ausdeuten bzw. zurückverfolgen. Und es ist diese potenzielle Vieldeutigkeit des Abbildungsbegriff, die noch einmal neue Perspektiven auf den Semiophoren-Charakter von Ausstellungsmedien einerseits und Halls LesartenModell andererseits eröffnet: Als Semiophoren sind die Exponate Zeugen vergangener Wirklichkeiten. Doch was sie über welche vergangene Wirklichkeit bezeugen, ist nirgends eindeutig kodifiziert. Welche Verbindungen zwischen ihnen und ihren vergangenen »Urbildern« letztlich aktualisiert werden, ist immer das (vorläufige) Resultat eines erinnerungskulturellen Kampfes um Bedeutung. Analytisch lässt sich dieser Kampf einerseits im Moment der Codierung fassen, indem wir danach fragen, mit welcher Bedeutung ein Museum ein bestimmtes Exponat/ 277 Der Begriff der Eindeutigkeit ist hier insofern etwas irreführend, als dass mathematisch betrachtet jede wohldefinierte Abbildung eindeutig ist (kein Element aus der linken Menge darf auf mehrere Elemente aus der rechten Menge abgebildet werden). Korrekt müsste es daher heißen: Die erste Zeichnung zeigt eine injektive Abbildung, die zweite eine nicht-injektive Abbildung. 278 Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Band 3: Die erzählte Zeit, München 1991. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Spurbegriff vgl. auch Brauer: »Heiße Geschichte«?, S. 37–38. 279 Ricoeur: Zeit und Erzählung, S. 191–192.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Objektarrangement/usw. wie aufzuladen gesucht hat – was für eine Geschichte es also mit ihm erzählen will, welchen Teil der Vergangenheit es aktualisieren will. Und andererseits lässt sich der Kampf um Bedeutung im Moment der Decodierung einer Ausstellung beobachten – dann also, wenn die Besucher*innen versuchen, eine Umkehrabbildung von Menge B zu Menge A aufzustellen, wenn sie den Repräsentanten einer unbestimmten und vielgestaltigen Vergangenheit bestimmte Ausschnitte aus dieser zuordnen. Beispielsweise kann ein blaues Pionier-Halstuch durch unterschiedliche Museumsbesucher*innen280 als Abbild von Konformitätsdruck und Ideologisierung oder aber von Gemeinschaft und einer umsorgten Kindheit aufgefasst werden. Und in keinem der beiden Fälle hätten wir es notwendigerweise mit einem »Missverständnis«, einem »naiven« oder vorkonstruktivistischen Geschichtsbewusstsein zu tun. Und auch die »professionelle Lesart« einer Ausstellung lässt sich mit dem Abbildungsbegriff adäquat beschreiben: Sie ist weniger daran interessiert, was wohin abgebildet wird, sie sucht nicht nach den Urbildern der musealen Bedeutungsträger. Stattdessen gilt ihre Aufmerksamkeit vor allem der Abbildungsvorschrift selbst, also der Frage, wie (mit welchen Mitteln) es einer Ausstellung gelingt, Exponaten etc. Bedeutung zuzuordnen (sie zu Semiophoren zu machen) und welche Rückschlüsse sich daraus auf die Vermittlungsabsicht und erinnerungskulturelle Positionierung des Museums ziehen lassen. Diese politische Funktion des Museums, die (ihm zugeschriebene) Rolle als Akteur historisch-politischer Bildung, möchte ich nun abschließend betrachten. Als ich Frau und Herrn Schubert im DDR-Museum Pforzheim nach dem Grund ihres Besuchs fragte, antwortete mir letzterer: Also eigentlich wollte meine Frau schon länger her. Mich hat’s nicht ganz so stark interessiert, muss ich gestehen. […] Und schlussendlich hat jetzt aber den Ausschlag gegeben, dass wir hierherkommen, […] dass es eigentlich auch sehr stark um die Demokratie geht.281 Und wie bereits in Kapitel 7.3 erörtert, hatte Herr Schubert das Museum laut eigenem Bekunden als »ein Museum der Demokratie […] empfunden«, dass ihm bewusst gemacht habe, »wie gut es uns eigentlich geht, dass wir wählen dürfen und, und, und, und.«282 In diesem Zitat erscheint das Museum weder als Reservoir für persönliche Erinnerungen noch besteht seine Funktion darin, das Gedenken an politisch Verfolgte wachzuhalten. Es soll auch nicht einfach über unterschiedliche Facetten der DDR informieren – all das hat Herrn Schubert offenbar nicht besonders interessiert. Stattdessen ist ein gutes Museum für ihn vor allem ein Akteur der politischen Bildung. Aufgabe des Museums ist es, anhand von Erzählungen über die 280 Oder auch durch eine einzige Person. 281 Interview 3, DDR-Museum Pforzheim, 29.08.2021. 282 Ebd.
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Vergangenheit ein Licht auf die Gegenwart zu werfen. Diese Funktion ist natürlich eng verknüpft mit der in Kapitel 7.3 erörterten Aneignungsweise des Orientierens und Vergleichens: Wer sich ein Museum im Modus der exemplarischen Sinnbildung als Orientierungspunkt für die Gegenwart aneignet, wird von diesem erwarten, dass es Geschichten bereithält, aus denen sich Handlungsmaximen für die eigene Lebenswelt und Gegenwart ableiten lassen. Hinsichtlich der Rolle des Museums als Erzählinstanz sind in dieser Hinsicht allerdings mehrere Optionen denk- und identifizierbar. Erstens: Das Museum soll über die Vergangenheit informieren. Es soll Informationen bereitstellen, mittels derer Besucher*innen sich ihre eigenen gegenwartsbezogenen Geschichten erzählen können – Informationen über die Vergangenheit also, die zur Orientierung in der Gegenwart nutzbar gemacht werden können. Diese Rolle des Museums lässt sich beispielsweise in meinem Interview mit Herrn Bok identifizieren, der die Erzählungen des Berliner DDR-Museums über Überwachung, Mauerbau und Planwirtschaft in der DDR zur Erklärung und Beurteilung von Datenschutz in der heutigen BRD, dem US-amerikanischen Mauerbau an der Grenze zu Mexiko und den Risiken kapitalistischer Monopolbildung heranzog.283 Auch Frau Ohlbergs Rezeption des »Flüchtlingswagen[s]« im ZFL entspricht diesem Muster. Und weder Herr Bok noch Frau Ohlberg erwarten von dem jeweils besuchten Museum, dass dieses die entsprechenden Gegenwartsbezüge selbst herstellt. Das Museum fungiert hier als ein Ort der Bildung, ohne dass ihm jedoch ein explizit politischer Charakter zugeschrieben wird. Anders verhält es sich bei der zweiten idealtypischen Rolle des Museums, in der ihm auf affirmative Weise eine Funktion der politischen Bildung zugeschrieben wird. Diesem Verständnis zufolge ist es nicht nur Aufgabe eines zeithistorischen Museums, seinen Besucher*innen Informationen über die Vergangenheit an die Hand zu geben, sondern es soll diese Informationen auch selbst einordnen, deuten und auf dieser Grundlage gegenwartsbezogene Werturteile und Handlungsmaximen nahelegen. Herrn Schuberts soeben skizzierte Zugangsweise zum DDRMuseum Pforzheim ist paradigmatisch für dieses Museumsverständnis, das ja auch dem Selbstverständnis des DDR-Museums Pforzheim als »Lernort Demokratie« entspricht. Dieses formuliert auf seiner Eingangstexttafel zwei Ziele: Es wolle erstens »DDR-Geschichte erklären, nicht verklären«. Und zweitens setze es sich »damit auseinander, wie wir uns aktiv für Menschenrechte und Demokratie in unserer Gesellschaft einsetzen können.« Die in der Ausstellungsanalyse in Kapitel 3.2 thematisierten Sprechblasen auf zahlreichen Texttafeln des Museums sind ein naheliegendes Beispiel für ein Ausstellungsnarrativ, das sich selbst auf normative Weise auf die Gegenwart überträgt.
283 Interview 10, DDR-Museum Berlin, 18.03.2019.
7. Die Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen
Die dritte Sichtweise auf das Museum ist inhaltlich deckungsgleich mit der zweiten: Auch hier wird das Museum als eine Institution mit politischem Bildungsauftrag aufgefasst, auch hier werden vom Museum gegenwartsbezogene Werturteile erwartet – erwartet, aber nicht gutgeheißen. Diese Haltung zeigte sich beispielsweise in meinem Interview mit Frau Faber, die sich im DOK Eisenhüttenstadt fragte, ob dieses »vielleicht ja DDR-kritisch sein muss, weil’s ja auch Fördergelder bekommen hat.«284 Noch deutlicher trat die Haltung in meinem Interview mit dem Ehepaar Pfeifer und seinen zwei Freundinnen zutage, in dem Herr Pfeifer seine Wahrnehmung eines allmählichen Wandels des Museums von einem Ort für Alltagserinnerungen hin zu einer staatstragenden Einrichtung beschrieb: Früher habe es dort »mehr Ausstellungsgegenstände und/oder Erklärungen zum eigentlichen Sachgegenstand« gegeben, »aber jetzt wird’s immer im politischen Kontext gesehen, nicht? […] Und dann wird natürlich dann immer die Meinung geschrieben, die jetzt gilt, ne? Ja, also ich sage mal Staatsdoktrin.«285 Wir können sehen, dass sowohl Frau Faber als auch Herr Pfeifer den Ausstellungsnarrativen des DOK Eisenhüttenstadt äußerst kritisch gegenüberstehen. Gleichwohl erwarten sie von diesem nichts anderes – vielleicht »muss« es ja so agieren (Frau Faber), »natürlich« ist es ein Sprachrohr offizieller Geschichtspolitik (Herr Pfeifer). Dieser Umstand kann vehement kritisiert (Frau Faber: »Von wem wurde das geschrieben?«) oder als unvermeidbar hingenommen und übergangen werden (Herr Pfeifer: »überliest man«). In beiden Fällen existiert ein Bewusstsein für die Eingebundenheit des Museums in politische Strukturen, innerhalb derer es sich bewegen muss.
284 Zur Erinnerung: Frau Faber vermutete, dass das DOK »vielleicht auch von der Gedenkstättenkonzeption, hier, des, des Staates gefördert« wurde »und dann muss man sicher […] zeigen sein Konzept, dass man kritisch das aufarbeitet«. Interview 3, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 25.05.2019. 285 Interview 5, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt, 23.09.2022.
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8. Fazit
Ich habe in dieser Arbeit drei miteinander verflochtene Argumentationsstränge verfolgt. Erstens ging es mir darum, Ausstellungs- und Rezeptionsanalyse miteinander zu verbinden. Eine Zusammenführung dieser zwei allzu oft voneinander getrennten Forschungsfelder erschien mir erkenntnistheoretisch aus zwei Perspektiven gewinnbringend: Auf der einen Seite sollte die Wiedereinführung der Besucher*innen in die leeren Museen der Ausstellungsanalyse dazu beitragen, die Konstruktionsbedingungen von musealen Erzählweisen differenzierter beschreiben zu können. Werden unterschiedliche Rezeptionsweisen bei der Ausstellungsanalyse von vornherein mitgedacht, so erscheint die Bedeutungsproduktion im Museum nicht als alleiniger Akt der Kurator*innen, die die Exponate ein für alle Mal mit bestimmten, unveränderlichen Bedeutungen versehen. Stattdessen wird die Ausstellung zu einem durch die museale Vorzugslesart vorstrukturierten Feld, auf dem gleichwohl eine Vielzahl unterschiedlicher und unerwarteter Sinngebungsprozesse stattfinden können. Auf der anderen Seite war es meine Absicht, für die Spezifika des Ortes Museum zu sensibilisieren, in dem sich Besucher*innen mit einer Ausstellung auseinandersetzen. Nicht zuletzt um der von Alexander Geimer kritisierten »Überbetonung von Kreativität in der Rezeption« vorzubeugen, war es mir wichtig, Museen eingangs als erinnerungskulturell umkämpfte, durch äußere Einflüsse mitbestimmte und gleichwohl wirkmächtige geschichtspolitische Akteure zu zeichnen, die mehr als nur neutrale Aufbewahrungsorte von Vergangenheit sind. Diese Charakterisierung trifft grundsätzlich auf alle Museen zu, gewann aber durch den Fokus meiner Untersuchung auf DDR-Museen besondere Bedeutung – etwa dann, wenn Interviewte die von ihnen besuchte Ausstellung in größere Diskursräume einordneten oder im Gespräch versuchten, Sagbarkeitsräume zu antizipieren und auszuloten. Als »Kampfplatz der Erinnerungen« (Sabrow) zeigte sich die DDR insbesondere dann, wenn Besucher*innen sich eine Ausstellung als Erinnerungsanlass aneigneten und sich dabei auf die ein oder andere Weise zu dem ihnen präsentierten Ausstellungsnarrativ verhalten mussten. Die Ausstellungsanalysen in Kapitel 3 haben gezeigt, wie sich alle hier untersuchten Museen mit ihren Ausstellungen auf mehr oder weniger eindeutige Weise in den hegemonialen Diskurs des Diktaturgedächt-
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nisses eingeschrieben haben. Im Erzählmodus der Synekdoche erschien die DDR dabei stets als ein in ihrem Wesenskern unveränderliches System, welches daher anhand eines bestimmten Zeitausschnitts umfassend charakterisiert werden könne (Kulturbrauerei, DDR-Museum Berlin, Untergeschoss im DDR-Museum Pforzheim) oder das in der Zeit seines vierzigjährigen Bestehens lediglich unterschiedliche Facetten seines Unterdrückungscharakters gezeigt habe (DOK, ZFL, Erd- und Obergeschoss im DDR-Museum Pforzheim). In den von mir geführten Interviews spielten Topoi von Überwachung und Unterdrückung hingegen eine viel untergeordnetere Rolle. Wenngleich sie in allen Interviews zumindest latent waren, so boten die besuchten Ausstellungen meinen Gesprächspartner*innen doch auch häufig Gelegenheit, sich an ein Leben von »Friede, Freude, Eierkuchen«1 in der DDR zu erinnern, wie eine Besucherin sich ausdrückte. In einem zweiten Argumentationsstrang habe ich daher das Zusammenspiel von Codierung und Decodierung bei Sinngebungsprozessen in Museen zur Geschichte der DDR verfolgt. Ziel war vor allem eine Perspektivenverschiebung innerhalb der Besucher*innenforschung: Ich habe gezeigt, dass die Rezeption von zeithistorischen Ausstellungen ein facettenreicher und von zahlreichen unterschiedlichen Kontexten abhängiger Prozess ist, dessen Erfassung einen methodisch vielseitigen Zugang und ein darauf abgestimmtes begriffliches Rüstzeug erfordert. Und ich habe dafür argumentiert, dass der Lernbegriff dafür denkbar ungeeignet ist, da er – auch in seinen elaborierteren Spielarten – eine unzulässige Verengung der Forschungsperspektive mit sich bringt, in der die eigensinnigen Umgangsweisen von Besucher*innen mit Ausstellungen häufig als suboptimale Nutzung des Museums erscheinen. Aus dem Anspruch, Menschen sollen in Museen lernen, wird nicht selten unbewusst darauf geschlossen, dass sie es auch tun. Dieser umgekehrte normativistische Fehlschluss resultiert dann in Fragen danach, wie Menschen in Ausstellungen lernen, wie derartige Lernprozesse gemessen und wie sie verbessert werden können. Wie jedoch in Kapitel 4 gezeigt, läuft eine solche Forschung häufig ins Leere, da sie die grundlegende Frage überspringt, ob Menschen in Ausstellungen überhaupt lernen wollen oder ob sie sie nicht aus ganz anderen Motiven besuchen und auf ganz andere Weisen nutzen. In Anlehnung an Julia Thyroff habe ich daher für eine Verwendung des Begriffs der Aneignung zur Beschreibung von Rezeptionsprozessen in Ausstellungen plädiert. Dieser Ansatz zielte darauf ab, »Gegenwart und Lebenswelt« der Besucher*innen als »Ausgangs-, Ziel oder Referenzpunkt, als Motor des Denkens beim Museumsbesuch«2 in den Blick zu nehmen. In Verknüpfung mit Stuart Halls Codieren/ Decodieren-Modell und dem von Lynn Dierking und Howard Falk entwickelten Contextual Model of Learning erlaubte mir dies, den Museumsbesuch als ein multikontex1 2
Frau Kuhn, Interview 2, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Thyroff: Facetten des Denkens, S. 1.
8. Fazit
tuales Ereignis zu analysieren, welches nicht in einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Geschichtspräsentationen im Museum aufgeht. Denn als soziales Ereignis, als Form der Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und als Praxis der Selbstvergewisserung wird der Verlauf der Ausstellungsaneignung von zahlreichen sozial-situativen Faktoren geprägt, wie ich in Kapitel 7 gezeigt habe. Mein Ziel bestand daher darin, einen Schritt zurückzutreten, den Blick auf das Feld der Ausstellungsrezeption zu weiten und sehr grundsätzlich danach zu fragen, was Menschen dazu bewegt, ein Museum zur Geschichte der DDR zu besuchen und was sie dort machen. Ich habe diese Frage mit einem klassischen Instrument der qualitativen Sozialforschung zu beantworten gesucht – dem qualitativen, leitfadengestützten Interview. Diese Herangehensweise war unter anderem dadurch motiviert, etwas Abstand zu einem auf Anwendungsbezug ausgerichteten und in Teilen noch immer stark an behavioristischen Ansätzen orientierten Forschungsfeld zu gewinnen. Der dritte Argumentationsstrang meiner Arbeit verlief daher auf einer methodologischen Ebene und verfolgte das Ziel, Erkenntnispotenziale einer qualitativhermeneutischen Untersuchungsmethode für die Besucher*innenforschung herauszuarbeiten. Diese Potenziale habe ich nicht im Hinblick auf eine mögliche »Verbesserung« der untersuchten Museen ergründet. Es ging mir nicht darum, Vorschläge zu entwickeln, wie zeithistorische Museen für ihre Besucher*innen attraktiver werden oder wie Lernprozesse in Museen angestoßen und effizienter gestaltet werden können. Ich habe stattdessen argumentiert, dass eine solche Fokussierung auf die Generierung anwendungsbezogenen Wissens zur Optimierung des Museums auf der irrigen Annahme beruht, dass Menschen in Museen vor allem lernen und lernen wollen. Ist dieser Fokus einmal gesetzt und sind die entsprechenden Forschungsinstrumente darauf abgestimmt, (ausbleibende) Lernerfolge zu messen und zu steigern, geraten zwangsläufig all jene Rezeptionsweisen aus dem Blick, die sich nicht unter den Lernbegriff subsumieren lassen – oder sie erscheinen in stark verzerrter Form als Tollpatschigkeit und kommunikative Missverständnisse zwischen Museen und ihren Besucher*innen. Ich habe daher nicht nur für eine Verschiebung der Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand der Besucher*innenforschung plädiert, sondern auch für eine Anpassung der dafür erforderlichen Instrumente – weg von einer an naturwissenschaftlichen Gütekriterien orientierten Verhaltensforschung und hin zu einer am narrativistischen Paradigma der Geschichtsdidaktik angelehnten Forschungsmethode. Dass auch diese ihre Schwächen hat – etwa hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit von Ergebnissen oder einer stark ausgeprägten Kognitionslastigkeit –, liegt auf der Hand. Und im Sinne der Hermeneutischen Dialoganalyse war ich bestrebt, derlei Schwächen durch ihre Anerkennung und Reflexion zum Ausgangspunkt für modifizierte Forschungsfragen und neue Erkenntnisse zu machen. So habe ich beispielsweise gezeigt, dass die Art, wie Besucher*innen über ihren Ausstellungsrundgang erzählen, in hohem Maße vom gewählten Forschungssetting ab-
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hängig ist: Während etwa Thyroffs Methode des Lauten Denkens zu »Kleinschrittigkeit und Momentbezogenheit des Sich-Äusserns im Museum« führte, bei der »übergreifende, den gesamten Ausstellungsbesuch überspannende Erzähllinien […] eher selten auf[tauchten]«,3 begünstigte die von mir gewählte Form des qualitativen Interviews überblickartige Beschreibungen des besuchten Museums, zu deren Illustration meist nur wenige einzelne Exponate herangezogen wurden. Und es wäre vermessen, zu behaupten, diese oder jene Methode wäre näher an der Wahrheit. Vielmehr erfassen beide unterschiedliche Aspekte und Momente der Ausstellungsrezeption, weshalb ihre Schlussfolgerungen auch widerspruchsfrei nebeneinander bestehen können. Ähnliches gilt für die Analyse von Gesprächsdynamiken im Interviewmaterial. Die vorangegangenen Kapitel haben immer wieder gezeigt, dass die Erzählungen der Interviewten über ihren Ausstellungsbesuch ganz wesentlich von sozial-situativen Rahmungen, von »Erwartungserwartungen«, ungewissen Vorannahmen und vorsichtigem Herantasten an das jeweilige Gegenüber geprägt waren. In mancherlei Hinsicht teilten sie somit Gemeinsamkeiten mit formloseren oder anders gearteten Gesprächen über politisch kontroverse Themen, zu denen der erinnerungskulturelle Umgang mit der DDR ja zweifellos gehört. Es wäre daher nicht nur forschungspraktisch unmöglich, sondern auch vollkommen kontraproduktiv gewesen, mich selbst aus der Analyse des Interviewmaterials auszuklammern. Und die Hermeneutische Dialoganalyse bot mir die Möglichkeit, all die vermeintlich störenden und verzerrenden Einflüsse der oben genannten Rahmungen, Erwartungen, Vorannahmen und Interaktionen im Interview-Kontext selbst wiederum in zu ergründendes Datenmaterial umzukehren. Entsprechende Beispiele hierfür finden sich etwa in den Kapiteln 6 und 7.2. Die drei hier rekapitulierten Argumentationsstränge meiner Arbeit habe ich in Kapitel 7 zusammengeführt, um anhand qualitativer Interviews danach zu fragen, auf welche Weisen sich Besucher*innen Ausstellungen zur Geschichte der DDR aneignen. Dabei wurde das Zusammenspiel von – mit Falk und Dierking gesprochen – sozialen, persönlichen und materiellen Kontexten des Ausstellungsbesuchs in der Rezeption sichtbar. Ich habe gezeigt, wie sehr die soziale Besuchssituation (mit Freund*innen, Familienmitgliedern, als spontane oder geplante und genormte Freizeitaktivität) beeinflusst, womit und auf welche Weise sich Besucher*innen mit Ausstellungsmedien beschäftigen und wie sie darüber kommunizieren. Als ebenso wirkmächtig haben sich biografische Prägungen, Vorerfahrungen und damit zusammenhängende Eingangsnarrative der Besucher*innen erwiesen: In der Regel fanden die Interviewten, was sie sich vom Museum erhofften. Es erzählte ihnen die Geschichten, für die sie gekommen waren oder ermöglichte ihnen zumindest, sich selbst diese Geschichten anhand passender Exponate zu erzählen. Wo das 3
Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung, S. 617–618.
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Ausstellungsnarrativ und dessen Aneignung in Widerspruch zueinander standen, vermochte ersteres lediglich punktuell, die Deutungsabsichten der Besucher*innen zu durchkreuzen und sich als Störung Gehör zu verschaffen. Der Grund hierfür – auch das hat die Analyse gezeigt – ist jedoch weder in einem kommunikativen Scheitern des Museums noch in mangelhaft ausgebildeten geschichtskulturellen Kompetenzen der Besucher*innen zu finden. Entgegen dieser impliziten Annahme der lernfokussierten Besucher*innenforschung fanden sich im Interviewmaterial durchweg klare Anzeichen dafür, dass die allermeisten Besucher*innen die ihnen präsentierten Ausstellungsnarrative durchaus verstanden, dass sie sich über die jeweilige museale Vorzugslesart im Klaren waren. Und es lag einfach nicht in der Absicht der meisten Besucher*innen, die jeweilige Ausstellung wie ein Buch zu lesen und sich von ihr etwas beibringen oder sich belehren zu lassen. Die Interviewten nutzen die Ausstellungen – oftmals auf überraschende und von den Museen wohl kaum intendierte Weise. Deutungsabsichten und Besuchsmotivationen waren dabei insgesamt deutlich entscheidender für die Art der Ausstellungsaneignung als die Vermittlungsabsicht und Ausstellungsgestaltung der analysierten Museen. Meine Arbeit liefert keine Antwort darauf, wie dieser Dissens zwischen musealer Vermittlungs- und rezipierender Deutungsabsicht, zwischen Codierung und Decodierung, zu beheben wäre. Sie tut es aus dem einfachen Grund nicht, weil sie diesen Dissens nicht als zu behebendes Problem ansieht. Ich habe bei der Darlegung meiner Untersuchungsergebnisse meine starke Skepsis gegenüber dem Drang formuliert, gegebene Widersprüche zu einer harmonischen Einheit hin aufzulösen. Nicht die eigensinnige Aneignung von DDR-Museen durch ihre Besucher*innen ist das Problem, sondern die Vorstellung, eine Gesellschaft benötige ein einheitliches und durch Museen materialisiertes kulturelles Gedächtnis und Museumsbesucher*innen, deren Bedeutungsproduktionen mit den musealen Vermittlungsabsichten konform gehen. Zum Problem für Forschung und Museen wird das nonkonforme Verhalten der Besucher*innen erst dann, wenn die Autorität des Museums als Erzählinstanz absolut und Lernen als einzig anerkannter Zweck des Museumsbesuchs gesetzt wird. Demgegenüber habe ich die Vielzahl der Funktionen beleuchtet, die der Besuch einer zeithistorischen Ausstellung erfüllen kann: Den Interviewten boten die besuchten Ausstellungen Orientierung für die eigene Gegenwart und Lebenswelt, Erinnerungs- und Erzählimpulse, sie förderten Praktiken der Identitätsarbeit und schufen Anlässe für Rollenaushandlungs- und Verständigungsprozesse. Und mir erschien es weder analytisch sinnvoll noch praktisch durchführbar, diese verschiedenen Umgangsweisen mit DDR-Museen in eine Art Typologie zu pressen. Konzepte wie Sabrows Gedächtnistrias oder Halls Lesarten-Modell dienten eher der Strukturierung meiner Analyse als der Kategorisierung ihrer Ergebnisse. Die verschiedenen Modi der Ausstellungsaneignung, die ich in Kapitel 7 erörtert habe, beschreiben daher auch keine einander ausschließenden Besuchstypen, sondern unterschiedliche, sich oftmals ergänzende und überlappen-
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de Aspekte der Rezeption: Eine Besucherin kann sich etwa eine DDR-Ausstellung als Erinnerungsanlass aneignen, dabei zugleich ihre mitgebrachten Einstellungen bestätigt sehen und diese Bestätigung zur Orientierung in der Gegenwart nutzen. Und sie kann sich mit den gezeigten Exponaten identifizieren, sie auf ihre eigene Biografie beziehen und ihre eigene Lebensgeschichte mit ihnen erzählen, ohne notwendigerweise in der DDR aufgewachsen zu sein. Tatsächlich war es mit Herrn Howell ein englischer Tourist, der sich von allen Interviewten möglicherweise am stärksten in der von ihm besuchten Ausstellung widergespiegelt sah: »We could look at that and say: That was me in the North of England at that age in 1975«, so Herr Howell über das Berliner DDR-Museum.4 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Übertrag- und Verallgemeinerbarkeit der hier präsentierten Ergebnisse. Besitzen sie – zumindest in groben Zügen – auch Gültigkeit für andere zeithistorische Ausstellungen? Hätten sich die gleichen Aneignungsmodi beispielsweise auch im Bonner Haus der Geschichte oder im Ruhr Museum Bochum identifizieren lassen? Und wie verhält es sich diesbezüglich mit den kleinen ostdeutschen Amateurmuseen zur DDR, die auch in dieser Arbeit wieder einmal vernachlässigt wurden? Wie werden sich Schwerpunkte verschieben und welche neuen Formen der Ausstellungsaneignung werden möglicherweise hinzutreten, wenn in Zukunft das Gros der volljährigen Besucher*innen die Zeit des Bestehens der DDR nicht mehr selbst erlebt haben wird? Meine Untersuchung liefert zu all diesen Fragen kaum belastbare Anhaltspunkte. Und auch eine der größten Zielgruppen museumspädagogischer Arbeit – Schüler*innen, häufig als besuchende im Klassenverband – lag jenseits des Fokus meiner Analyse, ebenso wie die Frage, wie museumspädagogische Zusatzangebote wie Führungen oder Audioguides die Ausstellungsrezeption beeinflussen. »Ist die DDR ausgeforscht?«, fragte Thomas Lindenberger bereits 2014 in einem Beitrag für Aus Politik und Zeitgeschichte.5 Zumindest in Bezug auf den musealen, erinnerungskulturellen Umgang mit ihr kann diese Frage also eindeutig verneint werden. Einige Jahre vor Lindenberger hatte Sabrow im Nachgang der Debatte über die Empfehlungen der von ihm geleiteten Expertenkommission von der »insgesamt immer weiter wachsenden Bedeutung« geschrieben, die in modernen Gesellschaften »der Repräsentation der zeitgeschichtlichen Vergangenheit […] zukommt.«6 Dass diese Beobachtung auch heute noch Gültigkeit besitzt, davon zeugt sicherlich auch die beachtliche Anzahl von 14 Forschungsverbünden zur DDR-Geschichte, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2018 ins Leben rief und in deren
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Interview 3, DDR-Museum Berlin, 11.03.2019. Lindenberger, Thomas: Ist die DDR ausgeforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer Ausblick, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (24–26/2014), URL: https://www.bpb.de/shop/zeitsc hriften/apuz/185607/aufbruch-89/(letzter Zugriff: 21.12.2022), S. 27–32. Sabrow: Zur Entstehungsgeschichte des Expertenvotums, S. 15.
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Rahmen auch diese Arbeit entstanden ist. Und meine Analyse von Prozessen der Ausstellungsaneignung in DDR-Museen hat auch gezeigt, wie viele unerschlossene Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns dieser vielschichtige Themenkomplex noch in sich birgt. Denn meine Arbeit ist das Resultat einer interviewbasierten Rezeptionsforschung, die darum bemüht war, ihren Untersuchungsgegenstand vor allem von den Besucher*innen aus zu denken – und die ihre Ergebnisse zugleich nur auf einen recht exklusiven Teil des Museumspublikums stützen kann. Sie hat sich Museen zur DDR-Geschichte als Bühnen eines erinnerungskulturellen Kampfes und Orte der Hegemonieproduktion genähert – und dabei zugleich all jene in der Forschung oftmals belächelten Amateurmuseen ausgeklammert, die die Hegemonie des Diktaturgedächtnisses möglicherweise unterlaufen. Die Ergebnisse meiner Untersuchung beanspruchen also weder Vollständigkeit noch Endgültigkeit. Sie sind ein erster Aufschlag, der als Impuls für weitergehende Forschung dienen mag. In diesem Sinne möchte ich abschließend einige zentrale Implikationen meiner Analyseergebnisse festhalten. Erstens: Für die semiotische Ausstellungsanalyse ist es von zentraler Bedeutung, die Vielfalt möglicher Rezeptionsweisen von Ausstellungsmedien und deren Rahmenbedingungen immer schon mitzudenken. Sie muss die Produktion von Bedeutung im Museum nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch als ein Zusammenspiel von Codierungs- und Decodierungsprozessen begreifen, die von diskursiven und sozial-situativen Rahmungen entscheidend beeinflusst werden. Eine solche Herangehensweise kann wesentlich dazu beitragen, den grundsätzlich politischen Charakter des Museums, seine Handlungsrahmen sowie seine Wirkmächtigkeit auf dem Feld gesellschaftlicher Hegemonieproduktion in den Blick zu nehmen. Will die Ausstellungsanalyse nicht in eine belanglose Exegese der von individuellen Kurator*innen intendierten Vermittlungsabsichten verfallen, muss sie also für das sensibilisiert sein, was Scholze die metakommunikative Dimension von Ausstellungsmedien nennt. Sie muss die Ausstellung also als ein geschichtskulturelles Produkt begreifen, dass in eine Vielzahl von Kontexten eingeschrieben ist, das von unterschiedlichen Faktoren determiniert wird und das unterschiedliche Ziele verfolgen kann. Ich habe beispielsweise in Anlehnung an Sharon Macdonald argumentiert, dass die »virtuellen Besucher*innen« – also bewusste und unbewusste Vorstellungen über die Besucher*innen – die Ausstellungsgestaltung signifikant mitprägen. Und die Ausstellungsanalysen in Kapitel 3 haben gezeigt, dass diese virtuellen Besucher*innen in den untersuchten DDR-Museen in der Tendenz besitzend, weiß, männlich und nicht von staatlicher Gewalt betroffen sind.7 Eine hegemoniekritische Ausstellungsanalyse sollte daher sowohl nach den virtuellen
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Präzisierend sei hinzugefügt, dass diese Beobachtung auf die untersuchten Museen in unterschiedlicher Stärke und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zutrifft.
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Besucher*innen als auch nach möglichen Rezeptionsperspektiven tatsächlicher Besucher*innen sowie nach Spannungen zwischen diesen fragen, um ein Bewusstsein für das Ringen um Bedeutung in historischen Museen zu entwickeln. Zweitens: Eine ergebnisoffene Besucher*innenforschung muss noch viel konsequenter dazu übergehen, ihren Untersuchungsgegenstand von den Museumsbesucher*innen selbst her zu denken. Sie muss sich von der Vorstellung lösen, bereits zu wissen, was das Beste für die Besucher*innen ist und sollte ihre Aufgabe nicht darin sehen, vermeintlich suboptimale Nutzungsweisen von Ausstellungen durch ihre Besucher*innen zu korrigieren. Stattdessen gilt es, die Besucher*innen, ihre Absichten und Handlungsweisen ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt der Forschung zu machen. Mit einem solchen Ansatz geht eine Perspektivenerweiterung einher, welche sich von der Fokussierung auf Lernen im Museum verabschiedet und dadurch ihren Blick für eigensinnige Sinnbildungsprozesse öffnen kann. Mir ist verschiedentlich nahegelegt worden, dass meine Untersuchung dem Potenzial zeithistorischer Ausstellungen ein vernichtendes Zeugnis ausstelle. Ich selbst möchte mich diesem Urteil nicht anschließen. Ich denke vielmehr, dass die Interpretation meiner Forschungsergebnisse diesbezüglich vor allem davon abhängt, welche Vorstellung wir uns von den Funktionen zeithistorischer Museen machen. Wenn die Aufgabe von Museen ausschließlich darin besteht, Kompetenzen historischen Lernens zu vermitteln oder bestimmte Geschichtsbilder zu kodifizieren, dann muss wohl tatsächlich konstatiert werden, dass davon bei den Besucher*innen recht wenig ankommt. Allerdings hat meine Untersuchung sehr deutlich gezeigt, dass ein bedeutender Teil der Interviewten nicht in die Museen ging, um historische Kompetenzen und Sachwissen zu erwerben oder um ihre politische Beurteilung der DDR zu modifizieren. Für sie erfüllte das Museum andere, nicht weniger wichtige Funktionen – für die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst, als Erinnerungsanker, als Ort der Rückversicherung oder der Unterhaltung und sozialen Interaktion.8 Und in diesen zugeschriebenen Funktionen liegt ein enormes Potenzial für zeithistorische Museen, welches diese zum Teil bereits deutlich besser erkannt haben, als es die Besucher*innenforschung bisher getan hat. Drittens habe ich gezeigt, wie sehr ein selbstreflexiv-hermeneutischer und besucher*innen-zentrierter Forschungsansatz zur Ergründung dieses Potenzials beitragen kann. Die Hermeneutische Dialoganalyse ermöglichte es mir, Kommunikationsdynamiken in Interviews aufzuschlüsseln und für Zwischentöne, Andeutun-
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In diesem Zusammenhang noch eine letzte Anmerkung zum Lernbegriff: Einige der genannten Funktionen lassen sich selbstverständlich unter elaborierte Vorstellungen von historischem Lernen subsumieren. Allerdings hat meine Studie erstens gezeigt, dass diese Funktionen nie vollständig im Lernbegriff aufgehen und zweitens, dass die Besucher*innenforschung Lernen in der Praxis für gewöhnlich doch vor allem als Wissenserwerb begreift und beforscht.
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gen und latente Bedeutungsebenen im Interviewmaterial zu sensibilisieren. Dadurch konnte beleuchtet werden, wie die Interviewten die von ihnen besuchten Ausstellungen in größeren Diskursräumen verorteten und wie die Wahrnehmung dieser Diskursräume sowohl den Ausstellungsbesuch als auch das Sprechen darüber beeinflusste. Ich konnte in diesem Zusammenhang aufzeigen, wie enorm wichtig wechselseitig antizipierte Gesprächserwartungen und Rollenzuschreibungen häufig für den Interviewverlauf waren. Denn die Geschichte der DDR ist ein politisch umstrittenes und emotional stark aufgeladenes Feld, auf dem mutmaßliche Sagbarkeitsräume je nach Kontext stark variieren. Und in den vorangegangenen Kapiteln wurde immer wieder deutlich, wie sehr die gewählten Kommunikationsstrategien – vom vorsichtigen Herantasten bis zum unbeschwerten Erzählen von Anekdoten – davon abhingen, wie die Interviewten mich lasen und ich sie. Dank der Hermeneutische Dialoganalyse musste ich diese Kommunikationsdynamiken nicht als vermeintlich störende und verzerrende Einflüsse auf meine Forschung zu unterdrücken versuchen, sondern konnte sie selbst als analysierbare Forschungsdaten begreifen und produktiv nutzen. Zugegeben, ein »schneller Impact«, wie ihn das BMBF kürzlich von Forschungsprojekten forderte,9 ist von einem solchen Ansatz nicht zu erwarten. Ich denke auch nicht, dass es der Besucher*innenforschung notwendigerweise darum gehen sollte, Museen zu »verbessern« und ihnen praktische Ratschläge zu erteilen. Sie sollte sich nicht dem »administrativen Ziel« (Hall) verschreiben, die Wirkungsweise einer bestehenden Institution zu optimieren und auf normativ vorgefasste Ziele auszurichten. Das erste Ziel meiner Arbeit bestand daher darin, die Grundannahmen der museumsbezogenen Besucher*innenforschung zu hinterfragen und zeithistorische Museen als geschichtspolitisch wirkmächtige Akteure auf dem Feld gesellschaftlicher Hegemonieproduktion in den Blick zu nehmen. Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden die untersuchten Museen dann als Bühnen auf dem Kampfplatz der DDR-Erinnerung sichtbar. Und die Besucher*innen, die auf diesen Bühnen auftraten, entwickelten die ihnen präsentierten Skripte in neue, oftmals überraschende und eigensinnige Richtungen weiter, machten sie sich zu eigen, eigneten sie sich an.
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Boldt, Christine: »Ich bin als Forscherin irritiert«. Interview mit Marianne Braig und Reine Schönenberg zum Förderstopp durch das BMBF (11.07.2022), URL: https://www.fu-berlin.de /campusleben/forschen/2022/220711-interview-foerderstopp-biotip/index.html (letzter Zugriff: 27.01.2023).
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