Erfahrung und Geschichte: Historische Sinnbildung im Pränarrativen 9783110240436, 9783110240429

In the interdisciplinary discourse between philosophy and historical, literary, and cultural studies this book explores

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German Pages 379 [380] Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
„Narrative Referenz“
Experience, Experientiality, and Historical Narrative
Erleichterte Erkenntnis
Die wechselseitigen Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer im Prozess des historischen Erzählens
Erfahrung und Geschichte
Die Erfahrung des bäuerlichen Jahreslaufs
Welt-Geschichte
Inkorporierung, Objektivierung, Akkumulation
In Verteidigung der Geschichtserfahrung
Sinnerfahrung
Die Geschichte geht in Spuren
Fireside storytelling beim Symposion
„Unmögliche Antike“
Telling the Unthinkable
Die Erzählbarkeit der Erfahrung am Beispiel von Veda Slovena
„Luftstrom aus alten Städten“
Historische Erfahrung
Backmatter
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Erfahrung und Geschichte: Historische Sinnbildung im Pränarrativen
 9783110240436, 9783110240429

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Erfahrung und Geschichte

Narratologia Contributions to Narrative Theory

Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ ngel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Jose´ A Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert

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De Gruyter

Erfahrung und Geschichte Historische Sinnbildung im Pränarrativen

Herausgegeben von Thiemo Breyer Daniel Creutz

De Gruyter

ISBN 978-3-11-024042-9 e-ISBN 978-3-11-024043-6 ISSN 1612-8427 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Erfahrung und Geschichte : historische Sinnbildung im Pränarrativen / edited by Thiemo Breyer, Daniel Creutz. p. cm. ⫺ (Narratologia ; 23) Papers presented at a symposium held in Oct. 2008 at the Freiburger Liefmannhaus. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-024042-9 (alk. paper) 1. Literature and history ⫺ Congresses. 2. History in literature ⫺ Congresses. 3. Narration (Rhetoric) ⫺ Congresses. I. Breyer, Thiemo. II. Creutz, Daniel, 1978⫺ PN50.E74 2010 8091.93358⫺dc22 2010017496

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Inhaltsverzeichnis

THIEMO BREYER / DANIEL CREUTZ Einleitung ...............................................................................................

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ERZÄHLTE ERFAHRUNGEN JONAS GRETHLEIN „Narrative Referenz“ Erfahrungshaftigkeit und Erzählung ...................................................... 21 MONIKA FLUDERNIK Experience, Experientiality, and Historical Narrative A View from Narratology ...................................................................... 40 EGON FLAIG Erleichterte Erkenntnis Wie man narratistisch den realen Ballast abwirft und die Wissenschaft loskriegt .............................................................. 73 HANS-JÜRGEN PANDEL Die wechselseitigen Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer im Prozess des historischen Erzählens .................................................. 93

LEBENSWELTLICHE ERFAHRUNGEN FRIEDERIKE RESE Erfahrung und Geschichte Ein notwendiger Zusammenhang? ........................................................ 111 KORBINIAN GOLLA Die Erfahrung des bäuerlichen Jahreslaufs Form und Sinn des ‚Bauernkalenders‘ in Hesiods Erga ....................... 132

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Inhaltsverzeichnis

TOM GEBOERS Welt-Geschichte Raum- und Zeiterfahrung als Grunderfahrung von Geschichtlichkeit Eine Betrachtung im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger ....................................................................... 149 ERNST-CHRISTIAN STEINECKE Inkorporierung, Objektivierung, Akkumulation Über den Zusammenhang von Erfahrung und Geschichte aus Sicht einer historisch-kultursoziologisch orientierten Anthropologie des Ausdrucks ................................................................ 167 LÁSZLÓ TENGELYI In Verteidigung der Geschichtserfahrung Zur Auseinandersetzung von Paul Ricœur mit Hayden White .............. 185

TRADIERTE ERFAHRUNGEN THOMAS ARNE WINTER Sinnerfahrung Zur Dialektik von Tradition und Geschichte ......................................... 203 JOHANNA SPRONDEL Die Geschichte geht in Spuren Verfolgen, Neudeuten und Stolpern ....................................................... 217 OLAF SCHLUNKE Fireside storytelling beim Symposion Erfahrung und Geschichte im archaischen und frühklassischen Griechenland ......................................................... 237 CHRISTOPHER MEID „Unmögliche Antike“ Erfahrung von Kulturgeschichte in Hugo von Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland .............................................................. 257

Inhaltsverzeichnis

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KRISENHAFTE UND IDENTITÄTSSTIFTENDE ERFAHRUNGEN JOHANNES NIEHOFF-PANAGIOTIDIS Telling the Unthinkable Niketas Choniates’ Account of the Fourth Crusade .............................. 277 MIGLENA HRISTOZOVA Die Erzählbarkeit der Erfahrung am Beispiel von Veda Slovena Die wandelbare Identität der Pomaken .................................................. 301 ANIELA KNOBLICH „Luftstrom aus alten Städten“ Geschichte und Erfahrung des Dichters bei Durs Grünbein .................. 317 THIEMO BREYER / DANIEL CREUTZ Historische Erfahrung Ein phänomenologisches Schichtenmodell ............................................ 332 Personenregister ..................................................................................... 365 Über die Autoren ................................................................................... 369

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Inhaltsverzeichnis

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Einleitung THIEMO BREYER / DANIEL CREUTZ Erfahrung und Geschichte sind eng miteinander verknüpft: Wie jede neue Erfahrung ihre eigene Geschichte hat und überhaupt nur vor dem Hintergrund historisch gewachsener Erfahrungsdispositionen auftreten kann, unterliegt die Historiographie dem Anspruch, ihre retrospektiven Konstruktionen mit den Erfahrungen der historischen Akteure abzugleichen und sie durch die fortgesetzte Prüfung ihres Empiriegehalts als Rekonstruktionen auszuweisen. Ihr Gegenstand zeichnet sich zunächst durch eine rein temporale Bestimmung aus, nämlich die, ,vergangen‘ zu sein. Deshalb greift Historiographie zum Zwecke ihrer Erfahrungsbindung auf ,Quellen‘ zurück, die ein vielfach angemahntes Vetorecht für ihre Repräsentationsabsicht besitzen. Die historiographische Textproduktion muss sich demnach stets dem potentiellen Einspruch anderer Texte und den von ihnen transportierten Bedeutungen und Erfahrungen stellen, die selbst in einem engen Bezug zu historisch bedingten Deutungen stehen. Das Verhältnis von Erfahrung und Geschichte ist komplex und keineswegs linear. Dieser Ausgangsbefund wird erhärtet, sobald eine dritte Größe hinzutritt: die Erzählung. Dass Geschichte kein fester Bestand empirischer Fakten ist, sondern sich als Geschichte überhaupt nur in vielfältigen Deutungen, Brechungen und Medialisierungen konstituieren kann, dass sie sich im Einzelgedächtnis oder im Zuge kollektiver Praktiken unter Maßgabe ihrer eingeschliffenen Auslegungsmuster aktualisiert und dass die wichtigste mediale Grundform solcher Vergegenwärtigungen diejenige der Erzählung ist – diese Einsichten gehören zum Grundbestand des heutigen Diskurses über Historiographie und Geschichte als Gegenstand geschichtstheoretischer Besinnung sowie literaturwissenschaftlich-narratologischer Forschungen. Sie neu und auf gefestigter kategorialer Basis zur Geltung gebracht zu haben ist insbesondere das Verdienst der sogenannten ,Narrativisten‘ unter den Geschichts- und Literaturtheoretikern, die, ursprünglich aus so unterschiedlichen Lagern wie der angelsächsischen analytischen

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Philosophie oder der strukturalen Semiotik stammend, seit den 1960er Jahren die Reflexion auf die narrative Formung von Geschichte sowie die kontingenzkompensierende und kontinutiätsstiftende Sprachhandlung des Erzählens als Grundstruktur des Geschichtsbewusstseins maßgeblich vorangetrieben haben. Allerdings zog die Rehabilitierung der im Zuge methodischer Verwissenschaftlichungsprozesse lange Zeit marginalisierten Erzählstrukturen der Geschichtsschreibung und die gleichzeitige Betonung der strukturellen Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zwischen Historiographie und Literatur auch wieder eine gewisse Verkürzung des Geschichtsbegriffs nach sich. Besonders deutlich wurde das in den mitunter harsch und hektisch geführten Diskussionen um Hayden Whites Projekt einer Tropologie und Poetik der Geschichtsschreibung, das sich ausgehend von der synthetisierenden Funktion der Einbildungskraft seitens des Historikers, die stets von ästhetischen, kognitiven und ideologischen Präferenzen bestimmt ist, auf eine Analyse der nicht aus dem zu bearbeitenden historischen Feld selbst zu entnehmenden ,Tiefenstrukturen‘ historischer Erzählungen konzentrierte. In letzter Konsequenz führte dies dazu, Scheidelinien zwischen Historiographie und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen und der Geschichte unter Anlegung eines selbst wiederum empiristischen Wissenschaftsbegriffs ihren Status als Wissenschaft erneut abzusprechen.1 Die bei White und anderen (postmodernistischen) Anwälten des ,linguistic turn‘ zu beobachtende Tendenz zu einer einseitigen Konzentration auf die literarischen, fiktionalen und rhetorischen Elemente historischer Sinnbildung, die sich aus einer Infragestellung der Transparenz sprachlicher Repräsentationsmedien speist und auf eine Hervorhebung ihrer Eigenintentionalität zielt, werden hier – ungeachtet der unterschiedlichen Intensitätsgrade und argumentativen Nuancen der einzelnen Positionen – indikatorisch unter der Sammelbezeichnung eines ,narrativistischen Paradigmas‘ zusammengefasst.2 Bleibt es ohne Korrektur, so führt es in eine im Anschluss an Lyotard zu konstatierende „Repräsentationskrise“3, wie sie besonders in den Debatten um den Status ,historischer Wirklich–––––––––––––– 1

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In aller wünschenswerten Deutlichkeit bringt White 1991 [1974] diese Tendenz auf den Punkt. Für eine Rekapitulation der Grundthesen seines für die geschichtstheoretische Narrativitätsdiskussion einschlägigen Werks Metahistory (1973) sowie der theorieimmanenten Gründe für die darin auszumachende Vernachlässigung des Problems ,historischer Referenz‘ vgl. den Beitrag László Tengelyis in diesem Band. Für einen Überblick über die relevanten Positionen vgl. Meuter 2004. Ankersmit 1997: 99.

Einleitung

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keit‘ greifbar wurde, da die Referenz des historischen Textes auf die Wirklichkeit der Vergangenheit in seiner literarischen Konstruktivität aufgehoben wird. Historische Sinnbildung ,im Pränarrativen‘ zu thematisieren heißt demnach, die Einsichten der ,Narrativisten‘ in die Abhängigkeit der Historiographie von Eigenlogiken des Erzählens und von kulturellen Deutungsfiguren sowie ihre Angewiesenheit auf fiktionale Darstellungskomponenten in die geschichts- und erzähltheoretische Reflexion zu integrieren, die Verkürzungen dieser Positionen jedoch durch konzise Untersuchungen zum charakteristischen Erfahrungsbezug derjenigen Darstellungen zu korrigieren, die den Anspruch erkennen lassen, Vergangenheit zu repräsentieren. Reichlich Einspruch gefunden haben die provokanten Einseitigkeiten der – inzwischen von White selbst partiell revidierten oder zumindest abgeschwächten4 – narrativistisch-tropologischen Thesen sowohl in der Geschichtstheorie als auch der Erzählforschung. Denn die besonderen Wahrheits- und Authentizitätsansprüche der Geschichtsschreibung, die sich letztlich auf einen prononcierten Bezug zwischen historischen Erfahrungen und ihrer durch reflektierte forschungsspezifische Prozeduren geführten Repräsentation stützen und ihren Komplementärpart in der Erwartung der Rezipienten haben, eine ,wahre‘, d.h. ausweisbare und überprüfbare, aber auch korrigierbare Erzählung präsentiert zu bekommen, bleiben auf eklatante Weise unterbestimmt, wenn man sie nur als ,Effekte‘ einer bestimmten kulturell etablierten Schreibweise und einer machtverschleiernden „Referenzillusion“5 verwirft. Der (forschungspraktischen) Konstitution und den sie bestimmenden Konventionen sowie der (politisch–––––––––––––– 4

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Konfrontiert mit der Frage nach den Grenzen, denen die Interpretation und Darstellung des Holocaust unterliegt, differenziert White (2000 [1992]: 162ff.) seine skeptische und relativistische Position mit Bezug auf ein Konzept ,kultureller Modernität‘: Während der klassische Realismus nicht mehr geeignet sei, die neuartigen (mitunter totalitären) Erfahrungsqualitäten darzustellen, könnten spezifisch moderne Weisen ,intransitiven‘ Schreibens in einem ,Stil des Mediums‘ (Barthes, Derrida) eine adäquate literarische Antwort auf die Herausforderungen einer nicht zuletzt durch den Holocaust radikal veränderten Realität bilden. Als entscheidendes Kriterium der Adäquatheit einer Darstellung wird also nun ihre Affinität zu einer bestimmten Art von historischer Erfahrung angesetzt: „Damit soll nicht angedeutet werden, daß wir die Anstrengung aufgeben wollen, den Holocaust realistisch darzustellen, sondern eher, daß unser Begriff von dem, was eine realistische Darstellung ausmacht, so revidiert werden muß, daß er sich Rechenschaft gibt von Erfahrungen, die für unser Jahrhundert einzigartig sind und für die die älteren Darstellungsweisen sich als unangemessen erwiesen haben.“ (White 2000 [1992]: 166) Barthes 2005 [1967]: 154.

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sozialen) Wirkung historischer Erkenntnis wird nicht Rechnung getragen, wenn man in Argumentationen zurückfällt, wie sie noch das frühe 19. Jahrhundert prägten, und Geschichtsschreibung als reines Kunstprodukt deklariert. Aber auch aus narratologischer Sicht untergräbt die allein am narrativen Charakter von Historiographie orientierte Engführung der Diskussion eine differenziertere und aspektreichere Untersuchung des Verhältnisses von fiktionalen und faktualen Erzählformen, da mit der pauschalen Identifizierung von sprachlicher Formung und Fiktionalität Fragen nach ihren unterschiedlichen Erfahrungsbezügen, verschiedenen Referenzmodi und Wahrheitsansprüchen, kontextuellen wie institutionellen Zwängen und nicht zuletzt fundamentalen Differenzen auf textueller wie paratextueller Ebene bereits im Ansatz ausgeblendet werden.6 Die Forderung nach einer „historiographie-spezifischen Narratologie“7 ist deshalb nach wie vor ebenso berechtigt wie diejenige nach einer erneuten geschichtstheoretischen Vermittlung von erfahrungsmäßig vorgegebenen Anstößen zur aktiven historischen Sinnbildung und ihrer narrativen Umsetzung und Weiterbildung, wie sie bereits von der Begriffsgeschichte des Kollektivsingulars ,Geschichte‘ nahegelegt wird, in dem bekanntlich die beiden Seiten des geschichtlichen Geschehens (res gestae) einerseits und seiner nachträglichen Auffassung und Darstellung (historia rerum gestarum) andererseits verschmolzen sind. Der Rekurs auf den Erfahrungsbegriff zur Ausweitung und Korrektur des ,narrativistischen Paradigmas‘ bietet sich schon deshalb an, da das griechische historein, ähnlich dem deutschen Wort ,Erfahrung‘, sowohl Weisen der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung als auch der bewussten Leistung des Erforschens abdeckte, also eine passiv hingenommene Kunde von historischer Wirklichkeit ebenso wie ihre aktive Erkundung.8 Mit der einseitigen Betonung der aktiv formenden Erzählprozesse gerät ––––––––––––––

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Vgl. Nünning 1999: 364ff. Nünning 1999: 378. Allerdings ist inzwischen eine diesbezügliche Intensivierung der Forschung zu konzedieren: Jaeger (2002) z.B. stellt den möglichen Nutzen einer um Kontextanalysen erweiterten Narratologie für die geschichtstheoretische Frage nach einer Neubestimmung der Analyse-, Verfahrens- und Darstellungstechniken in der Geschichtswissenschaft heraus. Eine Zusammenschau über die Rezeption der narrativistischen Theorien innerhalb der Geschichtswissenschaft mit einem am Beispiel der Weimargeschichtsschreibung erprobten Vorschlag für ein narratologisches Modell zur historiographiegeschichtlichen Textanalyse gibt Eckel 2007. Rüth (2005) hat eine narratologische Analyse der Umsetzung einer durch die Annales-Geschichtsschreibung verfolgten ,longue durée‘-Forschung auf der Erzählebene anhand exemplarischer Werke vorgelegt. Vgl. Koselleck 2000: 27.

Einleitung

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jedoch der passiv herausfordernde und damit auch Interpretationsspielräume begrenzende Aspekt einer Erfahrung von Geschichte, ihre vorgängige Wirkung und Wirksamkeit, ebenso außer Blick wie die Charakteristika der prekären Dimension des Historischen selbst und der besondere Status historischer Erzählungen innerhalb der unterschiedlichen, in einer Erinnerungskultur kursierenden identitätspräsentierenden Geschichten. Ohne die Annahme erfahrungskonstitutiver historischer Sinnbildungsprozesse diesseits der aktiven Sinnstiftung, die ein menschliches Erzählbedürfnis überhaupt erst hervorrufen und also auch den jeweiligen konkreten Spielraum narrativer Formung von Geschichtserkenntnis präformieren können, lässt sich der Eigenheit historischer Erzählungen und ihrer spezifischen Referentialität geschichtstheoretisch nicht beikommen. Freilich sagt diese Ausgangsthese, die in den Beiträgen dieses Bandes auf ihre theoretische wie praktische Erprobung gestellt wird, weder Genaueres über die Beschaffenheit und Qualität einer Erfahrung aus, der begründet das Prädikat ,historisch‘ beigestellt werden könnte, noch über den konkreten Zusammenhang einer solchen Erfahrung mit ihrer narrativen Formung und Vermittlung. Dass diese Kategorie aber gewinnbringend als notwendiges Komplement der Geschichtstheorie und Erzählforschung zur Geltung gebracht werden kann, das wollen die hier versammelten Beiträge auf ihre je eigene Art erweisen. Neuland betreten sie damit insofern, als eine zu beobachtende Rückkehr des Erfahrungbegriffs in die geschichtstheoretische Diskussion bislang kaum explizit mit erzähltheoretisch fundierten Ansätzen zusammengebracht wurde. Zudem stellt ein differenzierter und geschärfter Begriff historischer Erfahrung ein Desiderat der Geschichtstheorie wie der Narratologie dar. Im Folgenden zeichnen wir einige der von den Beiträgen eröffneten Perspektiven auf den Zusammenhang von Erfahrung, Geschichte und Erzählung vor, wie sie sich unter vier genauer zu profilierenden Grundcharakteristika historischer Erfahrung gruppieren lassen. Von den sich ergebenden vielfältigen Bezügen und Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen her gesehen, hat diese Einteilung jedoch eher analytisch-artifiziellen Charakter. Auch erschöpfen die herausgestellten Leitlinien den Gehalt und Argumentationsreichtum der Beiträge selbstverständlich nicht annähernd.

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Erzählte Erfahrungen Wie lässt sich von einer abgeschlossenen Geschichtserzählung noch auf die Erfahrungen rückschließen, die darin ihren Ausdruck gefunden haben? Gibt es überhaupt genuin historische Erfahrungen? Und wie eng ist das jeweilige Band geknüpft, das sie mit unterschiedlichen historischen Darstellungsformen und Erzählstrategien verbindet? Ausgehend vom Befund eines wechselseitigen Bezugs von Erfahrung und Erzählung, die füreinander ,Grenzwerte‘ darstellen, insofern Erzählungen auf Erfahrungen angewiesen sind, sie aber gleichzeitig kreativ transformieren und darin ihre Prägnanz und Offenheit doch nie vollständig einholen können, widmet sich Jonas Grethlein in seinem Beitrag der Frage, durch welche narrativen Verfahren Geschichtserzählungen sich in den Stand setzen, Erfahrungsqualitäten historischer Ereignisse darzustellen und dem Rezipienten zu vermitteln. Dabei richtet er sein besonderes Augenmerk auf diejenigen zeitlichen Dynamiken der Narration, die – ihren Eigenschaften der Retrospektivität und teleologischen Ausrichtung zum Trotz – der erzählten historischen Erfahrung ihre ursprüngliche Unabgeschlossenheit zu restituieren suchen. Er findet eine narrative Technik des ,side-shadowing‘, die bewusst auf Zukunft erschließende Prolepsen verzichtet und sich dem kontingenten Charakter historischer Erfahrung anpasst, exemplarisch bei Thukydides verwirklicht. Verbunden mit dieser Technik ist ein verstärkter Rückgriff auf fiktionale Elemente – z.B. erfundene Reden oder Bewusstseinsvorgänge –, die den Repräsentationsbestrebungen der Historiographie nicht zuwiderlaufen, sondern sich im Gegenteil im Modus einer ,narrativen Referenz‘ zweiter Ordnung auf die Erfahrungshaftigkeit vergangener Wirklichkeit beziehen. Indem sie die Rezipienten in der Form eines fiktiven ,Als-ob‘ in die Spannung von Erwartung und Erfahrung rückversetzen, ermöglichen sie – grenzwertig – eine Erfahrung von Vergangenheit als Gegenwart. Monika Fludernik diskutiert anschließend das Verhältnis von Erfahrung und Erfahrungshaftigkeit in der Erzähltheorie. Hatte sie in ihrem Buch Towards a ‚Natural‘ Narratology (1996) aufgrund ihrer Definition von Erzählung auf der Basis von Erfahrungshaftigkeit (,experientiality‘) die akademische Historiographie an einem degré zéro von Narrativität verortet, schlägt sie in ihrem aktuellen Beitrag ein Skalenmodell von Erfahrungshaftigkeit vor, das es erlaubt, bei der Analyse von Geschichtserzählungen auch verschiedene Grade an Narrativität zu differenzieren. Damit rückt die Frage in den Vordergrund, ob experimentelle historische Darstellungen, die darauf angelegt sind, mit neuen narrativen Techniken

Einleitung

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die Erfahrung historischer Akteure einzuholen, auch gleichzeitig einen höheren Grad an Erfahrungshaftigkeit und damit Narrativität aufweisen. Bezogen auf das Problem historischer Sinnbildung versucht die Autorin – ausgehend von einer theoretischen Differenzierung des Begriffs historischer Erfahrung – ihre These neuartig einzulösen, nach der historische Texte eher nicht erfahrungshaft sind, und analysiert dazu narratologisch die Weisen, wie historische Erfahrung in literarischen und historiographischen Texten vermittelt wird, denen es allesamt um die vielschichtige Rekonstruktion der kurzen Zeitspanne eines einzigen Jahreslaufs zu tun ist. Mit gewohnt gespitzter Feder und unter Rückgriff auf den Kategorienapparat des Neukantianismus formuliert Egon Flaig seinen massiven Widerspruch gegen die epistemologischen Reduktionismen des ,Narrativismus‘ aus Sicht des praktizierenden und geschichtstheoretisch geschulten Historikers. Haben die Versuche, den rhetorischen und semantischen Aspekten von Sprache transzendentale Funktion zuzuerkennen, dazu geführt, dass man die entscheidenden Auffassungsleitungen in die sprachliche Formung verlegte und auch historischen ,Tatsachen‘ nurmehr linguistische Existenz einräumte, so steht unter Rückbesinnung auf die Einsichten der Transzendentalphilosophie nicht mehr der Kurzschluss von sprachlichen Aussagesystemen und tatsachengenerierenden Bewertungen im Mittelpunkt des Problems kulturwissenschaftlicher Interpretation, sondern werden ,Wertideen‘ im Sinne Max Webers wieder als die umfassenden ,diskursiven‘ Formationen ausgewiesen, die die Perspektivität des Erkennens – und damit auch seine empirische Korrigierbarkeit – bedingen. Denn wenn Wertideen auch bereits auf der Ebene der Wahrnehmung selektive Funktionen erfüllen, so sind sie logisch doch von der Beobachtungsebene, die – in der historischen Erkenntnis natürlich vermittelt durch Zeugnisse und Spuren – eine Referenz auf objektive Realität besitzt, zu trennen. Durch die Distinktion eines sachbezogenen Verifizierens von Tatsachen und ihrer wertanalytischen Deutung, die auch für die Umwandlung von Erfahrung, d.h. hier erlebtem Geschehen, in begriffene Geschichte konstitutiv ist, wird ein Interpretationsbegriff geschärft, der gerade wegen seines perspektivischen Charakters an sein sachliches Korrelat gebunden bleibt, sich so der Falsifizierbarkeit öffnet und der Beliebigkeit entzieht. Einen anderen Weg, die Spezifik historischen Erzählens reflexiv einzuholen, beschreitet Hans-Jürgen Pandel, der in seinen kompetenztheoretischen Überlegungen das Interaktionssystem von Ansprüchen auf Erzählerseite und Bedürfnissen auf Hörer- bzw. Leserseite analysiert, wie es sich bereits seit präliteraler Zeit herausgebildet hat und dann auch die Schrift-

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kulturen prägt. Nur die Gesamtheit der aufeinander bezogenen Erfahrungen und Erwartungen von Produzenten und Rezipienten, die jeweils rollenspezifische Fähigkeiten, aber auch Zurückweisungsmöglichkeiten freisetzen, machen historisches Erzählen in seiner Eigenart zureichend beschreibbar, so seine These. In seiner Untersuchung unterscheidet er vier verschiedene Felder einander korrespondierender Kompetenzen, die sich durch die Nachvollziehbarkeit, den Wahrheitsgehalt, die Situationstauglichkeit sowie die Geltungsprätentionen historischer Erzählungen strukturieren. In jedem dieser Felder gibt es dabei Spannbreiten der Zustimmung oder Ablehnung, über die aber letztlich im Bereich normativer Implikationen von faktualen Geschichten entschieden wird, von denen sich der Leser auch distanzieren kann – gerade das bildet seine zentrale Befähigung. Dass diese Distanzierungskompetenz auch impliziert, sich letztlich nur selber, nach Maßgabe seiner bildungs- und d.h. erfahrungsgestützten Urteilsfähigkeit, orientieren zu können, wird besonders im bislang weitgehend ausgeklammerten Phänomen des ,Selbsterzählens‘ greifbar.

Lebensweltliche Erfahrungen Lebensweltliche Erfahrungen, also Erfahrungen, die der Mensch innerhalb seiner mit anderen geteilten sozialen Alltagswelt macht, prädisponieren auch den Verständnisspielraum von Erzählungen. Die Naturwissenschaft etwa entfernt sich in ihren methodischen Abstraktionsleitungen weit von dieser lebensweltlichen Erfahrungsdimension. Dagegen ist keineswegs geklärt, ob die nichtwissenschaftliche Erfahrung von Geschichte und ihre wissenschaftliche Aufarbeitung tatsächlich so radikal voneinander zu scheiden bzw. einander so nachgeordnet sind, wie es die Phänomenologie in ihren Fundierungsanalysen nahe legt, und es für den Bereich der Natur auch durchaus einsichtig erscheint. In ontologischer Stoßrichtung und in Auseinandersetzung mit klassischen Philosophen wie Aristoteles, Hegel, Husserl und Heidegger führt Friederike Rese die Geschichtlichkeit der Erfahrung auf die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz zurück und konstatiert daher für Erfahrung und Geschichte einen letztlich notwendigen Zusammenhang. Jegliche Erfahrung ist eingebettet in einen je spezifischen Vergangenheits- und Zukunftshorizont, in deren Zusammenwirken sich der Sinn der Gegenwart erst erschließt. Mit dieser Gebundenheit der Erfahrung an die Zeitstruktur des Daseins verweist die Autorin auf das Problem der Retrospektivität und Reflexivität in der Betrachtung und Aufarbeitung von

Einleitung

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Erfahrung. Für die Erfahrung ist der Rückblick konstitutiv, da jede Erfahrung als solche in ihrer Ganzheit nur als bereits gemachte, also abgeschlossene Erfahrung betrachtet werden und sich ein Wissen darüber, dass man überhaupt eine Erfahrung gemacht hat, allein auf diese Weise einstellen kann. Erfahrung im eigentlichen Sinne wäre dann Erfahrung nur als begriffene. Damit wird einerseits die Vergegenwärtigungsleistung der Erinnerung für die Reflexion und die Geschichtsbetrachtung, andererseits die Notwendigkeit einer Vermittlung des als Erfahrung sich in der Vergegenwärtigung Ausweisenden in den Blick gerückt. Die Erzählung erweist sich als diejenige Vermittlungsform, die, als ,Austrag‘ der Geschichtlichkeit der Erfahrung selbst, vergangenen Erfahrungen erst ihre endgültige Gestalt gibt, wobei diese performative und komplettierende Funktion der Erzählung in ihrem mimetischen Moment gründet. Korbinian Golla geht in seiner Interpretation der Erga Hesiods davon aus, dass die Kategorie der lebensweltlichen Erfahrung sich als wesentlicher Bestandteil der Hermeneutik im sogenannten ‚Bauernkalender‘ – ein lange Zeit lediglich als agrikulturelles Handbuch verstandener Teil der Erga – zur Geltung bringen lässt. Neben den paränetischen, also eine Anweisungs- und Anleitungsfunktion im Hinblick auf einen gelingenden landwirtschaftlichen Jahreslauf erfüllenden Qualitäten, kommen solche Aspekte zum Tragen, die in literarischer Überformung Zeiterfahrung und mit ihr bestimmte Erfahrungsqualitäten im Bezug auf die Jahreszeiten, Gewinne und Verluste der Arbeit, sowie Krisen und die Ausgeliefertheit des Menschen an die Unbilden der Natur vermitteln. Der Kalender erfüllt hier eine wichtige Übersetzungsleistung zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung, zwischen Geschichtszeit und der Zeit menschlichen Handelns. Ist dabei im archaischen Griechenland das Gefühl der Ephemerität allgemeiner Ausdruck einer Herrschaft der Zeit über den Menschen, so gibt Hesiod einen neuartigen Impuls, wenn er die kalendarische Zeit als eine sich dem Menschen bietende Chance der Transzendierung seiner Geschichtlichkeit präsentiert und ihn gleichsam auffordert, das eigene Schicksal gemäß dem Kairos, dem für die Entscheidung günstigen Zeitpunkt, in die Hand zu nehmen. Die von Hesiod vermittelten Erfahrungen sind dabei erstens pränarrativ und zweitens historisch: pränarrativ, da sie auf den konkreten praktischen Vollzug des Arbeitsalltags der Bauern verweisen und sich ihre Wirkungen in der Lebenswelt bereits diesseits ihrer potentiellen Erzählung entfalten (wenn etwa eine nicht zum rechten Zeitpunkt erfolgte Arbeitsaufnahme Ernteeinbußen hervorruft), und historisch, da sie

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einen universellen Geltungsanspruch haben, der in der Kondition endlicher Möglichkeiten begründet liegt, die es zur rechten Zeit zu ergreifen gilt. Im Zuge seiner teils philosophiehistorisch, teils systematischen Überlegungen zur „Raum- und Zeiterfahrung als Grunderfahrung von Geschichtlichkeit“ entfaltet Tom Geboers die Thematik dieses Bandes am Leitfaden einer metatheoretischen Reflexion auf die Erfahrung der Geschichte in philosophischer Einstellung, also zunächst auf eine ‚begriffsgeschichtliche‘ Erfahrung. Dabei stellt er vor, wie in den Geschichtsphilosophien Schellings, Nietzsches und Heideggers jeweils die Erfahrung konzipiert wird, die der Mensch zu verschiedenen Zeiten, abhängig von religiösen, kulturellen und wissenschaftlichen Vorentscheidungen, mit der Weltgeschichte als ganzer macht. Zum einen eröffnet sich hierdurch ein Blick auf das in unterschiedlichen Weltbildern (z.B. dem antiken griechischen, dem christlichen oder neuzeitlichen) vorherrschende Hierarchieverhältnis von Raum und Zeit sowie dessen jeweilige Interpretation und Einordnung im weltgeschichtlichen Kontext von Seiten der genannten Philosophen, zum anderen wird aber gerade auch die eigentümliche Erfahrung des Denkens aufgewertet, aus der ein anderweitig nicht zu gewinnender Bezug zur Geschichte erwachsen kann. Im Ausgang von Heideggers Bestimmung des Raumes vom Land her wird in einem ökologischphilosophischen Aufriss ein Ausblick auf die möglichen und gerade heute in einer globalisierten Welt immer relevanter werdenden Fragen nach der Erfahrung des Menschen mit seiner Umwelt gegeben, wobei die Geschichtlichkeit dieser Erfahrung im Vollzug des Wohnens gesehen wird. Ernst-Christian Steinecke führt in seinem Aufsatz, der sich methodologisch im Bereich einer historisch-kultursoziologisch orientierten Anthropologie des Ausdrucks situiert, in das für ein Verständnis historischer Erfahrung zentrale Bezugsgeflecht von naturalen und historischen Vorbedingungen, kulturellen Deutungen, sozialen Normierungen und konkreten Aushandlungen in der menschlichen Expressivität ein. Unter Einbeziehung klassischer Autoren der Sozialtheorie (Bourdieu) und Diskursanalyse (Foucault), aber auch der phänomenologischen Tradition (Waldenfels), wird die Komplexität der Modalitäten aufgezeigt, in denen sich historische Erfahrung einerseits als inkorporierte bzw. habitualisierte, andererseits als objektivierte bzw. institutionalisierte Erfahrung manifestieren kann. Das eingeführte systematische Modell non-verbaler Expressivität hilft hierbei, eine differenzierte Analyse unterschiedlicher Formen expressiven Verhaltens zu ermöglichen. Die Beziehung zwischen Erfahrung und Geschichte wird formal, im Anschluss an Foucault, als „dynamische Kor-

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relationsstruktur von Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen“ bestimmt, in welchem Rahmen der jeweilige individuelle Erfahrungshaushalt stets strukturiert wird von sozialen, kulturellen und medialen Mustern. Diese Strukturen haben aber selbst nur Bestand in der Umsetzung durch expressive Aktanten, die zugleich auf ihre Umstrukturierung hinwirken können. Die argumentativen Einseitigkeiten eines rein narrativistischen Zugangs zur Geschichte haben unter Einbezug lebensweltlicher Erfahrungen gerade auch im Bereich der neueren Hermeneutik und hier besonders prominent bei Paul Ricœur Einspruch erhalten. Im Beitrag von László Tengelyi geht es um eben jene systematischen Linien, die von Hayden Whites für das ,narrativistische Paradigma‘ maßgeblichem Werk Metahistory zur Geschichtshermeneutik Ricœurs führen und welche philosophischen und geschichtstheoretischen Implikationen in dieser Auseinandersetzung greifbar werden. Während Ricœur in Zeit und Erzählung selbst eine narrative Theorie der Geschichtsschreibung entwickelt, welche diese mit fiktionalen Erzählformen in engen Bezug setzt, gleichwohl aber gegen White auf dem „Primat der Referenz“ geschichtlicher Narration beharrt, versucht er in seinem Spätwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen den dynamischen Strukturalismus, wie er von White in Metahistory vertreten wird, durch eine hermeneutische Phänomenologie der Geschichtserfahrung im Hinblick auf die ontologische Kategorie einer ‚conditio historica‘ zu ersetzen. Nachdem er Spuren einer unausdrücklich bleibenden Geschichtserfahrung auch noch bei White nachweisen konnte, stellt Tengelyi ausgehend vom späten Ricœur die konstitutive Leistung der Erinnerung für den im historischen Erzählen vorausgesetzten Vergangenheitsbezug heraus. Die Erinnerungsarbeit zeichnet das Leben in der Geschichte und vor der Entstehung eines Diskurses über die Geschichte aus. Zwar eignet der Erinnerung stets ein Moment der Retroaktivität und Sinnmodifikation, doch der Erfahrungsgehalt als solcher bleibt in der Zeugenschaft des Gedächtnisses bestehen, wodurch sich eine genuine Geschichtserfahrung auch im Angesicht unterschiedlicher Modi der narrativen Transformation bewahrheiten und erhalten kann.

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Tradierte Erfahrungen Die Tatsache, das Erfahrungen konserviert und weitergegeben werden können, bildet die Bedingung unseres kulturellen Gedächtnisses und die Grundlage kulturellen Lernens. In welchen Modi aber vollzieht sich die Weitergabe von Erfahrungen und wo liegen die kritischen Punkte, an denen eine Identifikation mit diesen Erfahrungen nicht mehr gelingen kann, weil sie von der Geschichte ,überholt‘ wurden? „Tradition ohne Geschichte ist leer, Geschichte ohne Tradition ist blind.“ Unter diesem programmatischen Motto verdeutlicht Thomas Arne Winter die Relevanz einer philosophischen Traditionstheorie für die Analyse des Zusammenhangs von Erfahrung und Geschichte. Die Komplexität pränarrativer Geschichtserfahrung lässt sich demzufolge nur hinlänglich ausloten, wenn man sie in ihren vielfältigen Bezügen zu traditionellen Lebensformen und Deutungsweisen betrachtet. Im Vergleich zweier, diametral einander gegenüberstehender Positionen – derjenigen Gerhard Krügers und derjenigen HansGeorg Gadamers – zeigt Winter sowohl die Einseitigkeiten auf, die diesen Konzeptionen eignen, als auch Möglichkeiten zu deren Überwindung. Während in Krügers konservativem Traditionsbegriff Religion und Tradition gleichgesetzt werden und der Geschichte aufgrund des ihr beigelegten Charakters der Novität ein traditionszersetzendes Potential zugesprochen wird, ist bei Gadamer Geschichte als Sinngeschehen grundsätzlich positiv konnotiert, was letzten Endes wiederum zu einer vereinfachenden Gleichsetzung von Tradition und Geschichte führt. Gegenüber diesen polaren Simplifizierungen untersucht Winter das Phänomen der Geschichtlichkeit von Tradition bzw. der Traditionalität von Geschichte anhand eines Modells, das strukturkonservative und strukturprogressive Formen sowie sinngebende und sinnentziehende Phasen von Traditionalität integriert und damit, neben dem theoretischen Ertrag einer systematischen Aufgliederung, ebenfalls Wege zu einer detaillierteren Erforschung konkreter empirischer Traditionsformen eröffnet. Johanna Sprondel untersucht in ihrem Beitrag zum Konzept historischer ,Spuren‘, das in den letzten Jahren verstärkte geschichtstheoretische Beachtung gefunden hat, verschiedene Weisen, in denen sich Vergangenes in der Gegenwart in Form von Spuren anzeigen kann und wie sich in den Modalitäten des Bezugs zu ihnen – Verfolgen, Neudeuten und Stolpern – spezifische Zugangsarten zu dieser Vergangenheit, mithin Erfahrungen von Geschichte eröffnen. Nach einführenden theoretischen Erwägungen zum Status der Spur im Anschluss an Paul Ricœurs Mimesis-Zirkel aus Zeit und

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Erzählung werden diese ,Gangarten‘ anhand von drei Beispielen illustriert: dem Roman Ulysses von James Joyce, dem Topos des Denkmals sowie der Ballade Die Kinderschuhe aus Lublin von Johannes R. Becher. Der von historischen Referenzen durchsetzte Ulysses ermöglicht, ja verlangt geradezu die rekonstruktive Leistung des Lesers und rückt dessen Tätigkeit im Bezug auf den Text einerseits in die Nähe der historischen Quellenarbeit, andererseits aber in den Bereich der Mythologie und der Mythentransformation. Das Beispiel von Denkmälern verdeutlicht die rückwirkende Kraft des Lesens von Spuren im Hinblick auf den historischen Sinn, der in der Gegenwart erscheinendem Vergangenen zugemessen wird. Je nachdem, welche Spur aufgenommen und neugedeutet wird, erhält das Denkmal erst seinen Status oder verändert seine Bedeutung für ein Erinnerungskollektiv. Das Stolpern in Spuren verweist weiterhin auf krisenhafte oder gar katastrophale Erfahrungen, in denen der Erwartungshorizont im Bezug auf einen zur Erscheinung kommenden historischen Sinn in der Spur durchbrochen wird. Bei all dem zeigt sich, wie Spuren im Lesen entstehen und der Leser als Spuren-Leser sowohl refigurierende als auch konfigurierende Funktionen für die historische Erfahrung erfüllt. Vor dem Hintergrund der modernen Gedächtnisforschung befragt Olaf Schlunke antike Quellen zum speziellen Erzählort des Symposions und den dort anzutreffenden Gesprächs- und Erzählformen auf ihre Bedeutung für eine Theorie der Geschichtserfahrung. Als Ausgangspunkt seiner Analyse dienen die Repräsentationen katastrophaler Generationenerfahrungen, wie sie für die griechische Archaik kennzeichnend sind. Die Erzählung solcher Erfahrungen, etwa der Eroberung einer Polis und der damit einhergehenden Vernichtung, Versklavung oder Vertreibung ihrer Bürger, diente der Bewältigung des so geschaffenen Sinndefizits, dem in der griechischen Vorstellungswelt der Status einer Urkatastrophe zukam. Hierbei wird als Zentralort der narrativen, intentionalen wie nichtintentionalen Verfertigung von Vergangenheit die Erzählsituation des Symposions ausgewiesen. Anhand zweier Fragmente des spätarchaischen Dichters Xenophanes beschreibt Schlunke den dialogischen Prozess von eingespielten Frage- und Antwortschemata, der es den Teilnehmern erlaubt, über ihre traumatischen Erfahrungen zu berichten und sie als Kollektiverfahrung von Geschichte zu verarbeiten. Neben dem ästhetischen Moment solcher Narration, kommt also deren therapeutische Wirkung zum Tragen. Die Erfahrung von Geschichte konstituiert sich in dieser Konstellation als Zusammenwirken von erzählten individuellen Erfahrungen und zeithistorischer Zeugenschaft im

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Hinblick auf die Produktion fester und somit tradierbarer Kommunikationsrituale. Die geistesgeschichtliche und literarische Situation in Deutschland um 1900 transportiert die Vorstellung einer tiefen geistigen Verbundenheit zwischen Deutschland und Griechenland, verbunden mit einem Glauben an die prinzipielle Affinität zwischen Antike und Moderne und an die durch Tradition und herausragende Bildungsgüter vermittelte Möglichkeit einer nahtlosen Anknüpfung an die Antike. Christopher Meid untersucht in seinem Beitrag Hugo von Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland im Hinblick auf das dort sich abzeichnende Bild des Verhältnisses von Kulturgeschichte, Tradition und Erfahrung. Gegenüber dem Vertrauen auf die Kontinuität der griechischen Kultur im sinnlichen Erleben des vorgebildeten Reisenden schildert Hofmannsthal seine Frustration beim Anblick der verfallenen Monumente aus alter Zeit. Der Versuch einer Annäherung an die griechische Kultur scheitert für ihn zunächst kläglich. Ein einziger mystischer Moment im Anblick archaischer Skulpturen lässt ihn schließlich die gesuchte Verbindung herstellen – jetzt aber nicht mit der klassischen Antike des bildungsbürgerlichen Vorstellungsraums, sondern mit seiner eigenen, ins Überzeitliche gesteigerten Subjektivität. Die literarische Überformung dieses zufällig zustande gekommenen ästhetischen Erlebnisses deutet Meid als Abrechnung mit einem unreflektierten Griechenkult. Die quasi-mystische Vereinigung mit den archaischen Koren verbindet eine überzeitliche Vorzeit mit der Gegenwart und lässt die selbstvergessene „Rückkehr in unbekannte Regionen der Psyche“ als eigentümliche Form ins Ahistorische gewandter historischer Erfahrung erscheinen.

Krisenhafte und identitätsstiftende Erfahrungen Die Erinnerung an geteilte historische Erfahrung stiftet Gemeinschaften und Identitäten. Insbesondere bei krisenhaften oder gar katastrophalen Geschichtserfahrungen stellt sich jedoch die Frage, wie die von ihnen ausgehende anhaltende Verunsicherung thematisiert und vermittelt und eventuell sogar zu einem identitätsstabilisierenden Faktor transformiert werden kann. Ferner ist zu bedenken, ob ein krisenhaftes, verstörendes Moment, das zu einer aktiven Auseinandersetzung aufruft, nicht ein Charakteristikum jeder historischen Erfahrung darstellt, an das zu erinnern exklusiven Identitätszuschreibungen entgegenwirken kann. Die katastrophalen, ja traumatischen Konsequenzen, die der Vierte Kreuzzug von 1204 und die

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Eroberung durch lateinische Christen für Byzanz und in der Folge für die griechische Christenheit zeitigten, untersucht Johannes Niehoff-Panagiotidis anhand der Reaktion der byzantinischen Historiographie am herausragenden Beispiel von Niketas Choniates – der Hauptquelle dieses ,undenkbaren‘ Ereignisses aus der Sicht der Besiegten. Dabei stehen nicht wie bislang in der Forschung die darin transportierten Fakten im Vordergrund, sondern vielmehr die metahistorische Frage, wie auf diesen Text applizierte literaturwissenschaftlich-narratologische Methoden die tiefgreifenden Wandlungen präzisieren können, die diese Krisenerfahrung innerhalb der byzantinischen Historiographie hervorrief. Denn der hochgebildete Vertreter eines byzantinischen imperialen Diskurses, der die identitätsstiftende Rolle von Byzanz als legitimer Erbe des antiken Griechenlands und des römischen Imperiums von christlichen und jüdischen Traditionen zugleich in der Memorialkultur verankern sollte, stieß bei seinen narrativen Bewältigungsversuchen an die Grenzen der übernommenen antiken historiographischen Traditionen, seiner Sprache sowie der ihm von daher zur Verfügung stehenden Deutungs- und Erklärungskapazitäten. Dies wird besonders eindrucksvoll in der Existenz von vier verschiedenen Handschriftenklassen gespiegelt, deren letzte drei einen von der Erfahrung von 1204 ausgelösten Versuch des stetigen Umschreibens seiner Geschichte bezeugen. Im Lichte dieser Erfahrung werden sowohl die sich verschiebenden Urteile über führende Persönlichkeiten neu deutbar als auch nicht zuletzt die scheinbare Brechung historischer Narration und ihre Rücknahme in die Dimension von Theologie und Häresiologie, wie sie dem veränderten Geschichtsbild entsprechen. Den im südosteuropäischen Raum gehäuft auftretenden historischen Krisenerfahrungen sowie den damit verbundenen narrativen Kompensationsversuchen und Identitätstransformationen geht Miglena Hristozova weiter an einem konkreten ethnohistorischen Beispiel nach, der Volksepossammlung Veda Slovena und der Bevölkerungsgruppe der Pomaken auf dem Balkan. Dabei erhellt sich die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern, bei der auf religiöse, historische sowie aus dem Bereich der Volkskultur stammende Motive zurückgegriffen wird. Für die Pomaken war und ist die Abgrenzung von anderen Gruppierungen sowie die entsprechende Modellierung und intentionale Verfestigung ihrer Identität von besonderer Bedeutung, da sie ihren Status als bulgarischsprachige Muslime im Osmanischen Reich sowie in der Folgezeit stets aufs Neue behaupten mussten. Hierbei spielt die Erzählung ihrer Umsiedlung eine tragende Rolle als Gründungsmythos und als Ordnungsmodell für kollektive Erfahrun-

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gen sowie für die Bewältigung von Identitätswandel. In der narrativen Konstruktion der Donau als gleichermaßen ritueller, mythischer und sozialer Raum wird eine kollektive Raumerfahrung evoziert und ein sich anschließender Diskurs gestaltet, durch den die Hybridität der pomakischen Identität zugunsten einer einheitlichen Vorstellung überwunden werden soll. Im Rückbezug auf Raummodelle vergangener Zeiten und in der Konstruktion einer sakralen Parallelgeschichte trägt die Veda einerseits zur Krisenbewältigung bei, andererseits führt sie aber auch zum Verzicht auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit konkreten historischen Geschehnissen und Erfahrungen. Aniela Knoblich widmet sich in ihrer Analyse der Dichtung Durs Grünbeins der Verquickung von Geschichte, persönlicher Erfahrung des Dichters, lyrischer Gestaltung und sich in ihr ausdrückender poetologischer Reflexion. In den herangezogenen Gedichten vollzieht sich bei Grünbein eine allmähliche Hinwendung zur Antike, die als Identitätssuche der Dichterfigur zu deuten ist und mit der sich eine spezifische Aufarbeitung historischer Erfahrungen verbindet, auch und gerade wenn diese außerhalb der Lebenszeit des Dichters zu verorten sind und ihr Sinngehalt einen Teil des kulturellen Gedächtnisses darstellt. Der Luftangriff auf Dresden, den Grünbein selbst nicht miterlebt haben kann, ist ein prägnantes Beispiel hierfür. Die Erfahrung der Zerstörung der Stadt beschreibt Grünbein, bis in ihre somatischen Aspekte, als durchaus real und vergleicht das historische Ereignis mit dem Untergang etwa von Troja und Pompeij. Hierin erkennt Knoblich eine Entwicklung in Grünbeins Schaffen, die von biographischsubjektiven Themen zu einer Stilisierung und Typisierung führt, in der Zeiten und Räume überschritten werden und in der sich die Dichterpersona in Anlehnung an große Vorbilder entwickelt. So verbindet beispielsweise die erhöhte Sensibilität für äußere Eindrücke und die damit einhergehende Schlaflosigkeit das lyrische Ich in Nach den Satiren mit dem römischen Satiriker Juvenal. Zwar sind diese und andere Begegnungen in der Gegenwart und an wichtigen Stätten von Grünbeins Autobiographie situiert, doch findet die eigentliche Synthese zum Typus des Dichters in einer überzeitlichen und überräumlichen Konstellation – einem ‚ewigen Rom‘ – im Austausch mit poetischen Identifikationsfiguren statt. Dabei ist es die lyrische Form, die den geeigneten Rahmen für eine solche Verflechtung von Autobiographie und überhöhter Dichterexistenz bieten kann. Obwohl in den geschichtstheoretischen Debatten der vergangenen Jahre vielfach eine Rehabilitierung des Erfahrungsbegriffs angestrebt wurde,

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die einer einseitigen Orientierung an narratologischen und intertextualitätstheoretischen Aspekten der Historiographie und mithin dem ,linguistic turn‘ entgegenwirken sollte, blieb der ausgerufene ,experiential turn‘ ohne zureichende systematische und phänomenologische Fundierung und konnte deshalb auch keine genuinen forschungspraktischen Neuansätze ermöglichen. Der abschließende Beitrag von Thiemo Breyer und Daniel Creutz reagiert auf die Schwachstellen sowohl des ‚narrativistischen Paradigmas‘ als auch dieser geschichtstheoretischen Diskussionen um den Erfahrungsbegriff mit einem Schichtenmodell historischer Erfahrung, das ausgehend von einer phänomenologischen Analyse der allgemeinen Grundstrukturen von Erfahrung eine Verbindung zu Kosellecks Theorie der Zeitschichten herstellt. In diesem dreigliedrigen Modell wird der reale Erfahrungsgehalt in eine Schicht des aktuellen Machens von Erfahrungen (Kurzfristigkeit), in eine Schicht der Erfahrenheit, d.h. der sozialen und kulturellen Habitualitäten und Dispositionen (Mittelfristigkeit), und schließlich in eine Schicht der strukturalen Bedingungen im biologisch-anthropologischen wie im geographisch-umweltlichen Sinne (Langfristigkeit) differenziert. Historische Erfahrung stellt sich den Überlegungen der Autoren gemäß genau dann ein, wenn in einer gegebenen Situation mindestens zwei dieser Schichten so miteinander in Konflikt geraten, dass sich eine reflexive Distanz des historischen Subjekts zu seinem Erfahrungshaushalt ergibt, in der die temporalen Schichten aus ihrer vorgängigen Implizitheit heraustreten. Kritisch oder gar krisenhaft ist dieser Moment der Kollision von Erfahrungsschichten in zweifacher Hinsicht: zum einen treten die beteiligten Schichten auseinander und lassen sich in ihrer spezifischen Funktionsweise voneinander unterscheiden, zum anderen bewirkt der Konflikt eine kritische Stellungnahme, die einen inhärenten Teil historischer Erfahrung bildet.

*** Die in diesem Band versammelten Texte sind aus Tagungsbeiträgen hervorgegangen, die anlässlich des wissenschaftlichen Symposiums „Erfahrung und Geschichte“ im Oktober 2008 im Freiburger Liefmannhaus vorgestellt und diskutiert wurden. Finanziell und personell getragen wurde das Symposium vom Promotionskolleg „Geschichte und Erzählen“ der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Als Organisatoren der Tagung und Herausgeber des Tagungsbandes möchten wir uns für die große Unterstützung bei der Verwirklichung unseres Vorhabens bedanken, insbesondere bei der Sprecherin des Kollegs Frau Prof. Monika Fludernik. Ein freundschaftli-

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cher Dank geht an den damaligen wissenschaftlichen Koordinator des Kollegs, Herrn Dr. Mirko Kirschkowski, für seinen tatkräftigen und ideenreichen Einsatz bei der Überwindung der organisatorischen Hürden. Für einen großzügigen Druckkostenzuschuss haben wir der Graduiertenschule „Europäische Kulturen und interkulturelle Vernetzungen“ der Universität Freiburg zu danken. Herrn Prof. Wolf Schmid danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Narratologia-Reihe sowie dem Verlag de Gruyter für die reibungslose Drucklegung. Schließlich gilt unser herzlicher Dank den Autorinnen und Autoren, nicht nur für die gewissenhafte und termingerechte Ausarbeitung Ihrer Vorträge, sondern auch für Ihre diskussionsfreudige Offenheit, die ein produktives Arbeitsklima und im vielstimmigen Dialog gelungene Interdisziplinarität ermöglicht hat. Bibliographie Ankersmit, F.R. (1997). „Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung“. In: K.E. Müller/J. Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 98–117. Barthes, R. (2005). „Der Diskurs der Geschichte“ [1967]. In: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 149–163. Eckel, J. (2007). „Der Sinn der Erzählung. Die narratologische Diskussion in der Geschichtswissenschaft und das Beispiel der Weimargeschichtsschreibung“. In ders./T. Etzemüller (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft. Göttingen: Wallstein, 201–229. Jaeger, S. (2002). „Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft“ in V. Nünning/A. Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: WVT, 237–263. Koselleck, R. (2000). Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Meuter, N. (2004). „Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften“. In: F. Jaeger/J. Straub (Hg.). Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart/Weimar: Metzler, 140–155. Nünning, A. (1999). „,Verbal Fictions?‘ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur“. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 40, 351–380. Rüth, A. (2005). Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung. Berlin/New York: de Gruyter. White, H. (1991). „Der historische Text als literarisches Kunstwerk“ [1974]. In: ders.: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart: Klett-Cotta, 101–122. White, H. (2000). „Historische Modellierung (emplotment) und das Problem der Wahrheit“ [1992]. In: R.M. Kiesow/D. Simon (Hg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M.: Campus, 142–167.

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„Narrative Referenz“ Erfahrungshaftigkeit und Erzählung*

JONAS GRETHLEIN Das enge Verhältnis von Erzählung und Erfahrung liegt auf der Hand. In einer langen Tradition, die von Aristoteles bis Auerbach reicht, hat man versucht, Erzählungen als Akte der Mimesis zu verstehen. Ein besonders differenziertes Modell hat Paul Ricœur entwickelt, der in „Temps et récit“ drei Ebenen der Nachahmung unterscheidet, eine prätextuelle, eine textuelle und eine rezeptive.1 Doch gibt es auch nicht-mimetische Ansätze, welche das Verhältnis von Erzählung zu Erfahrung untersuchen. Zum Beispiel kritisiert Wolfgang Iser im „Akt des Lesens“ Mimesis-Theorien ebenso wie Deviationsästhetiken und versteht stattdessen den fiktionalen Text als „eine Reaktion auf die von ihm gewählten und in seinem Repertoire präsentierten Sinnsysteme“.2 In seiner literarischen Anthropologie unterscheidet er dann Selektion, Kombination und Selbstanzeige als die drei Akte des Fingierens.3 Ebenso wie Hans-Robert Jauß zieht Iser das Konzept des Horizontes dem Modell der Mimesis vor.4 Während die genannten Ansätze das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit im allgemeinen erörtern, bezieht sich Monika Fludernik in ihrer „natural narratology“ spezifischer auf Erfahrung und Erzählungen, wenn sie Erfahrungen als Gegenstand von Erzählungen beschreibt und Narrativität als „mediated experientiality“ definiert.5 Erzählungen sind nicht nur auf Erfahrungen angewiesen, sondern umgekehrt bedürfen auch Erfahrungen der Erzählungen. In Anlehnung an ––––––––––––––

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Daniel Creutz, Friederike Rese, Sandra Richter und László Tengelyi danke ich für Anregungen und Kommentare. Ricœur 1983–1985: I, 105–169. Iser 41994: 120. Iser 1991: 24–51. Iser 41994: 161–174; Jauß 1982: 657–703. Fludernik 1996: 20–52.

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Maurice Merleau-Pontys Paradox des Ausdrucks6 spricht Bernhard Waldenfels vom „Paradox der Erzählung“: „Die Erzählung bezieht sich auf eine Erfahrung, die erst im Erzählen und Wiedererzählen Gestalt gewinnt.“7 Um die Diskrepanz zwischen Erfahrung und Ausdruck näher zu bestimmen, greift László Tengelyi auf das Begriffspaar von Sinnbildung und Sinnstiftung zurück und stellt fest, dass „die Sinnstiftung, von der die begriffliche Erfassung und der sprachliche Ausdruck der Erfahrung getragen ist, von der Erfahrung selbst als Sinnbildungsvorgang wie durch eine Kluft getrennt bleibt. Denn sie setzt einen in sich mannigfaltigen und sich ständig wandelnden Sinn einheitsstiftend fest.“8 Folgen wir Waldenfels und Tengelyi, so können wir feststellen, dass Erzählungen Erfahrungen eine Form geben. In der Geschichtstheorie ist die Angewiesenheit von Erfahrung auf Erzählung unterschiedlich bestimmt worden. Hayden White betont die Bedeutung des „emplotment“, die aus objektiven Fakten und Daten Geschichten macht.9 David Carr dagegen argumentiert, dass bereits Erfahrungen narrativ sind. Ausgehend von Edmund Husserls Analyse der inneren Zeitstruktur des Bewusstseins, zeigt er, dass elementare Erfahrungen als Anfang, Mitte und Ende konfiguriert sind, und überträgt dies auf komplexere Erfahrungen.10 Die These, Erfahrungen selbst sei eine narrative Struktur eingeschrieben, scheint die Grenze zwischen Erfahrung und Erzählung zu verwischen. Trotzdem sind Erfahrung und Erzählung nicht identisch, sie bedingen sich vielmehr in der Form von Grenzwerten wechselseitig, ohne dass diese Reziprozität spiegelbildlich ist. Auf der einen Seite beziehen Erzählungen sich auf Erfahrungen, auf der anderen gewinnen Erfahrungen ihre Gestalt durch Erzählungen. Der Erfahrungsfülle, die sich der Narrativisierung entzieht, entspricht der kreative Ausdruck, mit dem die Erzählung Erfahrung transformiert. Erzählungen lassen ihre Rezipienten auch Erfahrungen machen. Der Charakter solcher ästhetischer Erfahrungen ist von Hans-Robert Jauß herausgearbeitet worden, der die ästhetische Einstellung mit dem Rollenverhalten im Alltag und seiner Analyse durch Helmuth Plessner vergleicht. „Für beide Erfahrungsweisen wird vom Menschen erfordert, sich mit der Aufnahme einer vorgegebenen Rolle zu verdoppeln“; es gibt aber auch –––––––––––––– 6 7 8 9

Merleau-Ponty 1966: 442–447. Waldenfels 2004: 50. Tengelyi 2007: 19. White 1973. Damit bleibt Whites Kritik am Positivismus in dessen Voraussetzungen verstrickt. Vgl. Grethlein 2006: 185. 10 Carr 1986.

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einen Unterschied, denn das ästhetische Rollenverhältnis „macht nurmehr die Verdoppelung, die allem Rollenverhalten inhärent ist, kontrastiv bewusst und ermöglicht es, sich selbst in der Erfahrung der Rolle zu genießen.“11 In der ästhetischen Distanz, so Jauß, ist die Wirkung von Fiktion begründet: „Ästhetischer Genuß, der sich derart in der Schwebe zwischen uninteressierter Kontemplation und erprobender Teilhabe vollzieht, ist eine Weise der Erfahrung seiner selbst in der Erfahrung des anderen.“12 Wichtiger als die Erfahrung seiner selbst scheint mir ein Aspekt zu sein, dem Jauß kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat, die zeitliche Struktur der Rezeptionserfahrung.13 Im folgenden möchte ich zuerst die temporale Dynamik der Rezeption beleuchten und argumentieren, dass sie einen wichtigen Baustein zu einer Phänomenologie der Erzählung liefert (I). Ein Unterschied zwischen lebensweltlicher und Rezeptionserfahrung wird uns dann zum Sonderfall der Geschichtsschreibung führen (II). Am Beispiel des Thukydides wird gezeigt, wie die Form der Narration es Geschichtsschreibung erlaubt, die Erfahrungshaftigkeit von Geschichte darzustellen, die in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft nur wenig Beachtung findet (III). Abschließend wird „narrative Referenz“ als Konzept dafür vorgeschlagen, dass Erzählungen durch ihre zeitliche Struktur die Erfahrungshaftigkeit geschichtlichen Geschehens zum Ausdruck bringen können (IV).

I. Die Duplikation der Erfahrung in Erzählungen Bestimmen wir zuerst genauer, was Erfahrungen sind, und knüpfen an bei den Überlegungen, die Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode anstellt, um das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein zu erhellen.14 Gegen die wissenschaftstheoretischen Tendenzen, die Erfahrung ihrer geschichtlichen Dimension zu berauben, um ihr so Objektivität zuschreiben zu können, entwickelt Gadamer Hegels Erfahrungsbegriff weiter. Während Ga––––––––––––––

11 Jauß 1982: 226f. 12 Jauß 1982: 85. S.a. Bubner (1989, 102) zur „Entspannung“ durch Ästhetisierung und Scheffel (2004) zur „Mischung aus kognitiver Distanz und emotionaler Partizipation“. Die Distanzierung von Erfahrung in der Rezeptionserfahrung erstreckt sich auch auf die beteiligten Sinne. Neben dem Gesichtssinn kann, bei lautem Lesen, auch der Hörsinn involviert sein, aber der Tastsinn, in dem nach Waldenfels (2002: 90) die pathische Seite von Erfahrung hervortritt, ist nicht beteiligt. 13 Die Überlegungen bei Jauß (1982: 39f.) bleiben vag. 14 Gadamer 1986: 352–368.

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damer das Sich-Wissen als Ziel der Erfahrung ablehnt, übernimmt er von Hegel die Annahme, Erfahrungen kehrten das Bewusstsein um: „Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung. So enthält das geschichtliche Sein des Menschen als ein Wesensmoment eine grundsätzliche Negation, die in dem wesenhaften Bezug von Erfahrung und Einsicht zutage tritt.“15 Gadamer nimmt nur schmerzvolle Erfahrungen in den Blick, aber es ist offensichtlich, dass die Negativität von Erfahrung eher struktureller als inhaltlicher Natur ist. In seiner Phänomenologie der Aufmerksamkeit bemerkt Waldenfels: Dieses Pathische kann sowohl gewaltsame, leidvolle und verletzende wie auch beglückende und beschwingende Züge annehmen; es schillert vom Dunklen ins Helle, vom Hellen ins Dunkle hinüber. Daß bei solchen Widerfahrnissen das Moment des Widrigen, des Gefährdenden und Gewaltsamen überwiegt, wie es sich in dem sprichwörtlichen ]$'+- μ$'+- andeutet, hat nichts mit einer pessimistischen Lebensauffassung zu tun, die stets mit dem Schlimmsten rechnet, sondern es rührt daher, dass alles, was uns aus dem Vertrauten und Gewohnten herausreißt, Erwartungen enttäuscht, dass es in bestimmte Ordnungen einbricht, ohne sich naht- und schmerzlos in sie einzufügen.16

Wir können also festhalten, dass Erfahrungen stets Erwartungen korrespondieren.17 Die zeitliche Struktur des Bewusstseins mit ihrer Kette von Retentionen und Protentionen lässt Menschen Erwartungen an die Zukunft richten, die dann durch Erfahrungen eingeholt werden, indem sie entweder bestätigt18 oder aber enttäuscht werden. Selbst völlig Unerwartetes, etwas das nicht einmal als unwahrscheinlich galt, widerlegt eine Erwartung, genauer den Erwartungshorizont. Erzählungen treiben die Spannung zwischen Erwartungen und Erfahrungen auf zwei Ebenen hervor. Die Rezipienten machen Erfahrungen, indem sie Erwartungen an den plot richten, die erfüllt oder enttäuscht werden können. Zugleich werden auf der Ebene der Handlung Erfahrungen gemacht. Was eine Erzählung ist, wird ganz unterschiedlich definiert, aber menschliche oder menschenähnliche Charaktere sowie eine zeitliche Entwicklung sind zentrale Bestandteile. Nicht nur die Rezipienten, sondern –––––––––––––– 15 Gadamer 1986: 362. 16 Waldenfels 2004: 55. 17 S.a. die Reflexionen zum Begriffspaar Erwartung und Erfahrung bei Koselleck 1979: 349–375. 18 Tengelyi (2007: 9) betont, dass selbst in diesem Falle Erfahrungen Neues beinhalten: „Auch diese Erfahrungen bringen jedoch etwas Neues mit sich, wenn dieses Neue auch nur darin besteht, dass sie in concreto aufweisen, was wir bis dahin in abstracto wussten.“

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auch die Charaktere einer Erzählung haben Erwartungen und machen Erfahrungen. Die Duplikation von Erwartungen und Erfahrungen auf den Ebenen der Handlung und der Rezeption gibt Erzählungen ihre besondere temporale Dynamik, für deren Analyse sich das Begriffsarsenal der strukturalistischen Narratologie anbietet. Grundlegend für die technische Analyse von Erzählungen ist die Unterscheidung der russischen Formalisten zwischen „fabula“ und „sjuzhet“, zwischen der Geschichte in einfacher chronologischer Reihenfolge und ihrer narrativen Präsentation.19 Wenn auch nur ein Konstrukt, lenkt der Begriff der „fabula“ doch unsere Aufmerksamkeit darauf, dass dieselben Ereignisse in verschiedener Weise erzählt werden können.20 Gerard Genette beispielsweise unterscheidet drei Kategorien, in denen eine „fabula“ in ein „sjuzhet“ transformiert wird, „temps“, die Gestaltung von Zeit durch Reihenfolge, Dauer und Frequenz, „mode“, die Auswahl der Information und ihre Fokalisation, und „voix“, die Erzählinstanz.21 Den Analysen der strukturalistischen Narratologie haftet eine gewisse Sterilität an. Feststellungen wie, Ulysses werde von einem homodiegetischen Erzähler erzählt oder À la recherche du temps perdu enthalte ein dichtes Netz an Anachronien, müssen mit interpretatorischen Ansätzen verbunden werden, um unser Verständnis der Texte zu bereichern. Der hier vorgestellte Ansatz macht die narratologische Analyse fruchtbar nicht nur für die Interpretation spezifischer Texte, sondern für die narrative Rekonfiguration menschlicher Zeit durch die doppelte Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung.22 Zeit, Fokalisation und Stimme sind genau die Kategorien, welche das Verhältnis zwischen Erfahrungen auf der Ebene der Handlung und der Ebene der Rezeption regulieren. Beispielsweise kann ein Erzähler durch Prolepsen den Lesern einen Einblick in die Zukunft und damit einen Vorsprung vor den Charakteren geben, ein Fall, dem wir immer wieder im homerischen Epos begegnen.23 Während hier die durch keine Überraschung erschütterte Rezeption den bitteren Erfahrungen der –––––––––––––– 19 20 21 22

Vgl. Sternberg 1978: 10–13. Vgl. Chatman 1978: 37 und Culler 1980. Genette 1972: 67–268. Der Gedanke, Zeit werde in Erzählung rekonfiguriert, stammt von Ricœur 1983– 1985, aber abweichend von Ricœur meine ich, dass die Rekonfiguration von Zeit in narratologischen Strukturen festgemacht werden kann, vgl. Grethlein 2006: 180–191. Zur Möglichkeit, philosophische und technische Narratologie zu verbinden und für eine Untersuchung von Zeit und Erzählung fruchtbar zu machen, s. Grethlein (im Druck b). 23 Vgl. Grethlein 2006: 207–257.

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Charaktere gegenübersteht, kennen wir aus Detektivgeschichten den Fall, dass der Erzähler den Lesern Informationen vorenthält und damit Spannung erzeugt.24 Die Erfahrungen der Rezipienten nähern sich denen der Charaktere wiederum in Erzählungen an, welche die Handlung stark durch diese fokalisieren. Die Spannung zwischen Erwartungen und Erfahrungen im Leseprozess lässt sich durch Sternberg’s Definition von Narrativität spezifizieren: “I define narrativity as the play of suspense/curiosity/surprise between represented and communicative time (in whatever combination, whatever medium, whatever manifest or latent form).”25 „Suspense“ beruht auf Erwartungen, die auf die Zukunft gerichtet sind („prospection“), „curiosity“ entwickelt sich aus Erwartungen über Vergangenes („retrospection“) und „surprise“ markiert die Enttäuschung einer Erwartung („recognition“). Der Germanist Scheffel hat zwei Funktionen genannt, die Erzählen zu einer anthropologischen Universalie machen, neben der „Stiftung und Erhaltung sozialer Gemeinschaften“ die „Orientierung in Zeit und Raum“.26 Dabei kommt, so meine ich, der Zeit eine besondere Bedeutung zu, unterscheidet doch, wie bereits Lessing in seiner viel rezipierten Laokoon-Analyse herausgearbeitet hat, Sequentialität Erzählung von anderen Medien wie darstellender Kunst.27 Genauso wie Erfahrungen erstrecken sich Erzählungen zeitlich und bieten sich daher als Medium ihrer Repräsentation an.28 Ein wichtiger Aspekt der temporalen Orientierung scheint mir die soeben beschriebene Duplizierung der Spannung zwischen Erwartungen und Erfahrungen zu sein. Durch sie können die Rezipienten über Erfahrung in der Form von Erfahrung selbst reflektieren. Man erfährt von Erfahrungen, allerdings im sicheren Rahmen des „als-ob“ der ästhetischen Einstellung. Die „Schwebe zwischen interessierter Kontemplation und erprobender Teilnahme“ beschreibt auch die zeitliche Struktur der Rezeption von Erzählungen, ja, sie gewinnt gerade dadurch ihre Bedeutung; Erzählungen bieten die menschliches Leben bestimmende Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung in “ein[em] von ––––––––––––––

24 Die Dynamik zwischen Erwartung und Erfahrung auf der Ebene der Rezeption wird durch Sternbergs (1992) drei „master-strategies“ beschrieben: „suspense“ durch die Erwartungen an die Zukunft, im Falle von „curiosity“ Erwartungen bezüglich der Vergangenheit und bei Enttäuschung von Erwartungen „surprise“. 25 Sternberg 1992: 529. 26 Vgl. Scheffel 2004 (Zitat: 131). 27 Lessing 1974 [1766], VI: 7–187. 28 Wolf (2002) bietet einen interessanten Versuch, auch in Musik und bildender Kunst Ansätze der Sequentialität herauszuarbeiten.

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tung und Erfahrung in “ein[em] von lebensweltlicher Pragmatik entlastete[n] Widerspiel”.29

II. Die uneinholbare Nachzeitigkeit der Erzählung gegenüber der Erfahrung Die Erfahrungen der Rezipienten unterscheiden sich nicht nur darin von den Erfahrungen der Charaktere, dass sie im „als-ob“ stattfinden, sondern auch durch die uneinholbare Nachzeitigkeit des Erzählens gegenüber der Erfahrung. Erzählzeit und erzählte Zeit fallen nie zusammen. Das Praeteritum als das gebräuchlichste Erzähltempus markiert, dass aus der Retrospektive erzählt wird. Dies wird besonders deutlich, wenn den Rezipienten durch Prolepsen Einblicke in die Zukunft gewährt werden, die den Charakteren verwehrt sind. Aber auch ohne Prolepsen zeigt sich die Nachzeitigkeit des Erzählens im teleologischen Aufbau vieler Erzählungen. Auch wenn Autoren bereits lange vor der Postmoderne begonnen haben, mit solchen Erwartungen zu spielen, erlaubt das gros der Erzählungen den Lesern die Annahme, dass die Informationen, die sie erhalten, nicht irrelevant sind, sondern der Entwicklung des plot zu seiner „closure“ dienen.30 Der Revolver im Schreibtisch, der im zweiten Kapitel en passant erwähnt wird, findet spätestens im Schlusskapitel Verwendung. „Die Erzählung bezieht sich auf eine Erfahrung, die erst im Erzählen und Wiedererzählen Gestalt gewinnt.“31 Greifen wir Waldenfels’ Feststellung noch einmal auf, so können wir jetzt erkennen, dass die zeitliche Abgeschlossenheit und Ausrichtung auf ein Telos ein wichtiger Aspekt der Gestaltung von Erfahrungen durch Erzählungen ist.32 Die Nachzeitigkeit des Erzählens gegenüber der Erfahrung gewinnt im Fall der Geschichtserzählung eine besondere Qualität. Hier ist der Leser nicht auf Prolepsen oder die teleologische Struktur der Narration angewiesen, um an der zeitlichen Überlegenheit des Erzählers zu partizipieren, sondern kennt zumindest in groben Zügen das Geschehen, welches die Erzählung wiedergibt. –––––––––––––– 29 30 31 32

Iser 1991: 404. Morson 1994: 7f. Waldenfels 2004: 50. Echterhoff (2002: 268) sieht in Narrativität eine Form der Kontingenzreduktion. Wolf (2002: 49) bemerkt, dass das Präteritum als Erzähltempus weniger „einer (vorgeblichen) historischen Verortung des Erzählten“ als „der Suggestion oder dem Versprechen von Sinnabgeschlossenheit“ diene.

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Die Bedeutung der Nachzeitigkeit für Geschichtsschreibung lässt sich aus der analytischen Geschichtsphilosophie von Arthur Danto ablesen. Nach Danto ist eine Gruppe von Sätzen, von ihm als „narrative sentences“ bezeichnet, charakteristisch für Geschichtsschreibung.33 Narrative Sätze beziehen sich auf mindestens zwei zeitlich getrennte Ereignisse in der Vergangenheit, von denen sie aber nur das erste beschreiben. Die Feststellung „Der 30jährige Krieg begann 1618“ thematisiert das Jahr 1618, mit dem Namen „30jähriger Krieg“ kommen aber auch die Dauer und das Ende des Krieges in den Blick. Ein anderes Beispiel: „Der Autor von Sein und Zeit wurde 1889 geboren.“ Gegenstand des Satzes ist das Geburtsjahr von Heidegger, zugleich antizipiert die Bezeichnung „Autor von Sein und Zeit“ das Jahr 1927. Die doppelte zeitliche Referenz, die Danto in narrativen Sätzen entdeckt, ist grundlegend für Geschichtsschreibung im allgemeinen. Historiker erzählen Geschichte stets von einem oder mehreren tele aus, die entweder den Endpunkt ihrer Erzählung bilden oder nach diesem liegen. Dabei prägt die Wahl dieses narrativen Fluchtpunktes die Darstellung grundlegend. Wie beispielsweise eine Geschichte Deutschlands in den 20er Jahren aussieht, wird vom Zielpunkt abhängen, den der Historiker ins Auge fasst. Die literarische Tätigkeit des NSDAP-Vorsitzenden in der Festung Landsberg wird in einer Darstellung, die nicht über das Jahr 1930 hinausblickt, ein anderes Gewicht haben, wenn sie überhaupt Erwähnung findet, als in einer Geschichte, deren Perspektive Auschwitz miteinschließt. Es ist nicht zuletzt die Retrospektive, die den Historiker den historischen Akteuren überlegen macht: die Kenntnis der „vergangenen Zukunft“ – der Vergangenheit, die für die historischen Akteure noch Zukunft ist – erlaubt es dem Historiker Verbindungen zu sehen, die für die Handelnden noch nicht ersichtlich sind. In dem Maße wie die Historiographie aber sich ihre überlegene Perspektive zunutze macht, entfernt sie sich von der Perspektive der historischen Akteure und gibt die Erfahrungshaftigkeit von Geschichte auf. Vor allem hat eine Vergangenheit, die unter den Vorzeichen späterer Ereignisse geschrieben wird, nicht mehr die Offenheit, die sie für die historischen Akteure hatte, wohnt der Retrospektive doch die Tendenz inne, Kontingenz zu reduzieren und Geschichte eine teleologische Gestalt zu geben. Die geringe Bedeutung der Erfahrungen historischer Protagonisten in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung zeigt sich beispielsweise in Fluderniks „natural narratology“. Während die Definition –––––––––––––– 33 Danto 1965: 143–181.

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von Narrativität als „experientiality“ Dramen und mündliche Erzählungen als Gegenstände der Narratologie zulässt, schließt sie Geschichtsschreibung aus: „History, by definition, is that area of study which interprets, orders, analyses and attempts to explain human experience, but it does not set out to represent such experience.“34 Erfahrungshaftigkeit, die Weise wie historische Akteure Erfahrungen machen, und die Offenheit der Vergangenheit, als sie noch eine Gegenwart war, mag in den meisten Darstellungen zeitgenössischer Historiker keine Rolle spielen, aber darin ist weniger eine Notwendigkeit als vielmehr ein Defizit zu sehen. Die Erfahrungen vergangener Menschen sind, wenn auch nicht der einzige, so doch ein wichtiger Gegenstand historischer Rekonstruktion. In seiner „Neuen Annalistik“ plädoyiert beispielsweise Lucian Hölscher dafür, in einer „Archäologie“ durch die Schichten früherer Deutungen zu den Ereignissen selbst vorzudringen und sie im Horizont ihrer eigenen Zeit zu sehen: Um dieser anhaltenden Vernichtung vergangener Zukunftsperspektiven zu entgehen, ist es für die Geschichtswissenschaft notwendig, einen Blick für die Vergangenheit als Gegenwart zu gewinnen. Was daher im Rahmen einer Historischen Zukunftsforschung geleistet werden muss, ist ein kalkuliertes Absehen von dem, was später tatsächlich geschah, ohne die Standortgebundenheit jeden historischen Urteils zu leugnen bzw. zu verlieren.35

Die Dominanz der Retrospektive und die damit einhergehende Marginalisierung von Kontingenz in der Geschichtsschreibung sind nicht ohne Kritik geblieben. Bernstein beispielsweise kritisiert seine Kollegen dafür, die Shoah als zugleich unvorstellbar und unvermeidlich darzustellen.36 Ferguson beklagt, die teleologischen Konstruktionen in der Geschichtswissenschaft führten dazu, dass Kontingenz vernachlässigt werde.37 In fast allen historischen Schulen, so Ferguson, wird das, was sich einer kausalen Analyse entzieht, an den Rand gedrängt. Da Geschichte immer von einem Ende aus geschrieben werde, gehe leicht die Fülle der möglichen Entwicklungen verloren. Als Gegenmittel empfiehlt Ferguson den Ansatz der „virtual history“. Ansätze, Geschichte im Irrealis zu erzählen, scheinen ihm ebenso verpönt unter seinen Kollegen wie hilfreich, Kontingenz mehr Beachtung zu schenken. –––––––––––––– 34 35 36 37

Fludernik 1996: 41. Hölscher 2003: 52. Bernstein 1994: 23. Ferguson 1997.

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Auch Gumbrecht geht es in seinem Buch 1926 darum, Vergangenheit erfahrbar zu machen, in diesem Falle „ein Jahr am Rand der Zeit“.38 Er wählt dafür einen nicht-narrativen Modus der Darstellung. So sei didaktische Geschichtsschreibung mit der Form der Narration verknüpft, und da der Topos historia magistra vitae seine Plausibilität eingebüßt habe, sei auch die Erzählung als Form der Darstellung fragwürdig geworden.39 Stattdessen beschreibt Gumbrecht „Dispositive“ wie „Amerikaner in Paris“ oder „Ozeandampfer“, „Codes“, u.a. „Authentizität versus Künstlichkeit“, sowie „zusammengebrochene Codes“, beispielsweise „Handeln = Ohnmacht (Tragik)“, um die Vergangenheit erfahrbar zu machen. So interessant Gumbrechts Versuch auch ist, die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken, so erstaunlich ist, dass er sich dafür programmatisch auf dichte Beschreibungen beschränkt und die Form der Narration ausschließt. Aus der Bedeutung der Narration für ein didaktisches Geschichtsbild abzuleiten, mit der Diskreditierung dieses Geschichtsbildes sei auch die Erzählung desavouiert, ist schlicht ein logischer Fehlschluss, der durch Gumbrechts Beschreibungen selbst entlarvt wird, die viel von ihrer Eindrücklichkeit den in sie eingebetteten Narrativen verdanken. Im folgenden soll gezeigt werden, dass gerade die Narration die Möglichkeit gibt, der Vergangenheit etwas von ihrer Gegenwärtigkeit zu restituieren und Geschichte in ihrer Erfahrungshaftigkeit darzustellen.

III. „Side-shadowing“ bei Thukydides Während in vielen Gattungen aus der zeitlichen Überlegenheit des Erzählers gegenüber den Charakteren narratives Kapital in der Form von tragischer Ironie geschlagen wird, gibt es auch Erzählungen, die sich darum bemühen, die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, als sie noch eine Gegenwart war, zu rekreieren. Gary Saul Morson hat für solche Versuche den Begriff des „side-shadowing“ geprägt.40 Gegen das sich durch die Retrospektive des Erzählens leicht einstellende Gefühl der Zwangsläufigkeit markieren die Strategien des „side-shadowing“ die Kontingenz des erzählten Handlungsverlaufs. Als Beispiele dienen Morson die Romane von Dostojewski und Tolstoi. Gerade Tolstoi ist bemüht darum, an jedem ––––––––––––––

38 Unsere Versuche, die Vergangenheit erfahrbar zu machen, wurzeln nach Gumbrecht (2003: 466) im „Wunsch, die uns von dem Zeitraum vor unserer Geburt trennende Grenze zu durchdringen.“ 39 Gumbrecht 2003: 9. 40 Morson 1994.

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Punkt die Offenheit der Handlung herauszuarbeiten. Es ist nicht einfach für den Leser, ohne die Hilfe einer klaren Struktur oder Prolepsen einen Weg durch das Labyrinth von Krieg und Frieden zu finden, mit seinen zahlreichen sich teils überlappenden, teils nicht zu Ende geführten Handlungssträngen.41 Sowohl die Form der Produktion als auch der Publikation dienten Tolstoi dazu, der narrativen Tendenz zu Teleologien entgegenzuwirken. Er veröffentlichte Krieg und Frieden zuerst seriell und wählte, wie er in einem Essay zur Entstehung des Romans ausführt, auch den Anfangs- und Endpunkt willkürlich.42 Während es, wie Fluderniks Ausschluss der Historie aus dem Gegenstandsbereich der „natural narratology“ und Fergusons Klage über die Marginalisierung von Kontingenz signalisieren, schwierig ist, „sideshadowing“ bei zeitgenössischen Historikern zu finden, gibt es zahlreiche Beispiele in der antiken Geschichtsschreibung. Interessanterweise bemüht sich auch und gerade Thukydides, der vor allem als Begründer einer kritischen Methode gewürdigt worden ist, darum, die Vergangenheit so erscheinen zu lassen, wie sie als Gegenwart war. Im folgenden möchte ich einige Strategien des „side-shadowing“ an Hand seiner Darstellung der Sizilischen Expedition vorstellen. Im Jahre 415 v. Chr. entschieden sich die Athener dazu, den Bewohnern von Segesta gegen das mächtige Syrakus zu helfen und eine gewaltige Flotte nach Sizilien zu senden. Die Erwartungen der Athener, die eigene Macht erweitern und große Reichtümer gewinnen zu können, erfüllten sich nicht, sondern die großen Verluste, die in der finalen Niederlage bei Syrakus im Jahre 413 kulminierten, schwächten Athen entscheidend. Das Scheitern einer überheblichen militärischen Unternehmung ist ein Motiv, das in Herodots Darstellung der Perserkriege immer wiederkehrt, und ebenso wie in Episoden der herodoteischen Historien hat man in der Sizilischen Expedition, wie sie von Thukydides dargestellt wird, die Struktur einer Tragödie erkannt.43 Trotzdem fallen im Vergleich zu Herodot Unterschiede in der narrativen Technik auf, allen voran das weitgehende Fehlen von Prolepsen.44 Wird der Leser der Historien durch auktoriale Vorverweise, Vorzeichen auf der Handlungsebene und sich wiederholende ––––––––––––––

41 Vgl. Morson 1994: 159. 42 Vgl. Morson 1994: 169. 43 Zur tragödiengleichen Struktur der Sizilischen Expedition s. Cornford 1907, zu tragischen Strukturen bei Herodot s. Chiasson 2003. S. aber auch Grethlein 2008 dazu, dass Thukydides sich in der Sizilischen Expedition bewusst von Herodot absetzt. 44 Für einen ausführlichen Vergleich, s. Grethlein (im Druck a).

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Muster auf den weiteren Verlauf des plot vorbereitet, so sucht man dergleichen bei Thukydides, der weitgehend ohne Vorgriffe die Ereignisse des Krieges Jahr für Jahr erzählt, vergeblich. Stattdessen gibt Thukydides seinen Lesern einen genauen Einblick in die Erwartungen der Charaktere, ja, man könnte fast meinen, dass er die Leser die Sizilische Expedition aus der Perspektive der Charaktere erleben lassen möchte. Zwei Redetriaden, die eine in Athen, die andere in Syrakus, beleuchten genau die Erwartungen und Motive der Handelnden. In der athenischen Volksversammlung rät zuerst Nikias von der Unternehmung ab, indem er die Risiken und Gefahren ausführt. Als aber Alkibiades mit einem enthusiastischen Plädoyer die Versammelten für eine Expedition einnimmt, versucht Nikias sie mit einer übertriebenen Forderung nach den erforderlichen Mitteln abzuschrecken, aber auch dieser Versuch scheitert und die Athener beschließen die Unternehmung. Ohne dass Nikias’ und Alkibiades’ Argumente vom Erzähler evaluiert werden, ergibt ihre Gegenüberstellung, bereichert durch Korrespondenzen mit der Narration, ein komplexes Bild von den Motiven der Athener. Das Verständnis der Situation wird noch vertieft durch eine parallele Redentriade der Syrakusaner, in der Hermokrates vor dem drohenden Angriff warnt, Athenagoras einen solchen als höchst unwahrscheinlich darstellt und schließlich ein anonymer General entscheidet, zwar nicht, wie von Hermokrates gefordert, Truppen auszusenden, sich aber doch für den Fall eines Angriffes zu wappnen. Die Leser sind gegenüber den Charakteren dadurch privilegiert, dass sie Einblick in beide Lager haben – beispielsweise Hermokrates’ Schwierigkeiten, sich vorzustellen, die Athener könnten sich tatsächlich auf ein solches Unternehmen einlassen, beleuchten die Fragwürdigkeit der athenischen Entscheidung. Dennoch hilft Thukydides seinen Lesern nicht mit auktorialen Kommentaren oder Prolepsen auf das desaströse Ende, sondern lässt sie allein die verschiedenen Positionen der Charaktere abwägen. Die genaue Darstellung der Handlungsoptionen bringt die Leser dazu, das Geschehen aus der Perspektive der Charaktere zu verfolgen. Dadurch wird, soweit dies möglich ist bei Ereignissen, die abgeschlossen und den Lesern vertraut sind, der Vergangenheit die Gegenwärtigkeit, die sie einmal hatte, wiedergegeben. Eine weitere „side-shadowing“-Strategie sind „Beinahe-Episoden“, also Handlungsstränge, die in eine andere Richtung weisen als der tatsächliche Handlungsverlauf und damit die Möglichkeit eines ganz anderen En45 des vor Augen rücken. In einer berühmten Passage betont Thukydides, –––––––––––––– 45 Zu „Beinahe-Episoden“ bei Thukydides s. Rood 1998: 173; Rengakos 2006: 294f.

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wie nah die Athener daran waren, Syrakus zu erobern, als Gylippos mit spartanischer Verstärkung eintraf und damit eine Wendung des Geschehens herbeiführte (7.2.4): Es traf sich aber, dass er [i.e. Gylippos] genau in dem Augenblick eintraf (6+,.4#/G%), als die Athener von einer doppelten Mauer zum großen Hafen fast eine Meile fertig hatten. Es fehlte nur ein kleines Stück zum Meer hin, daran bauten sie noch, und längs des übrigen Rings am Trogilos gegen das andere Meer waren schon weitgehend die Steine hingeschüttet, einiges auch schon halbhoch und einzelnes sogar fertig liegen gelassen. So nahe waren die Syrakusaner der Gefahr gekommen.

Auch wenn die Leser den Ausgang der Sizilischen Expedition kennen, ruft ihnen diese Passage doch ins Bewusstsein, dass das Disaster nicht zwangsläufig und ein athenischer Erfolg durchaus denkbar gewesen wäre. Wie nahe ein solches Ende war, unterstreicht neben dem6+,., das betont am Beginn des Satzes steht, die vorangehende Passage: …Gongylos, einer der Anführer der Korinther, fuhr mit einem Schiff als letzter ab, und kam als erster in Syrakus an, kurz vor Gylippos und unmittelbar vor einer Volksversammlung, die über die Beilegung des Krieges beschließen sollte.

Wäre Gongylos, der doch als letzter losgefahren ist, nicht rechtzeitig vor der Volksversammlung gekommen, hätten die Syrakusaner sich wohl dem gewaltigen Druck der Belagerung gebeugt, den Athenern wäre die verheerende Niederlage im Hafen von Syrakus erspart geblieben und sie hätten in den folgenden Jahren mehr Kraft gehabt, vielleicht sogar genug, um die Spartaner in die Knie zu zwingen… Indem Thukydides seine Leser zu solchen Überlegungen anleitet, verdeutlicht er die Kontingenz des Handlungsverlaufes, die in der Retrospektive leicht verloren geht. In Thukydides’ Darstellung ist das Scheitern in Sizilien ein entscheidender Schritt auf Athens Weg in die Niederlage 404 v. Chr. Nach seiner Einschätzung wäre Athen jedoch bereits zu einem früheren Zeitpunkt fast zusammengebrochen. Im Jahr 411 v. Chr. führte der Abfall des Heeres in Samos zu einem akuten Mangel an Schiffen wie Männern, und als schließlich Euboia ins Lager der Peloponnesier überlief, machte sich in Athen große Verzweiflung breit (7.96.3–4): Ihre nächste und größte Angst aber war, ob die Feinde wagen würden, nach ihrem Sieg geradewegs gegen sie, gegen den schiffleeren Piräus zu fahren, und sie meinten, jeden Augenblick würden sie da sein. Wären die Peloponnesier kühner gewesen, sie hätten das auch leicht tun können und hätten, vor der Stadt kreuzend, die innere Spaltung noch vergrößert oder auch durch eine beharrliche Sperre die Flotte in Ionien gezwungen, trotz ihrer Feindschaft gegen den herrschenden Adel doch ihren Angehörigen und der gesamten Stadt zu Hilfe zu eilen, und hätten damit den

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Hellespont gehabt, Ionien, die Inseln, alles bis Euboia und sozusagen das ganze attische Reich.

Aber wieder sind die Spartaner zu zögerlich und geben Athen einmal mehr die Möglichkeit, sich wieder aufzurappeln. Der Irrealis impliziert, dass die Spartaner Athen nicht direkt angriffen, aber die kontrafaktische Aussage markiert, dass ein anderer Verlauf möglich gewesen wäre. Wir finden hier auf der Ebene des Satzes die elaborierten Gedankenexperimente von Fergusons „virtual history“ präfiguriert. Ebenso wie die Fokalisierung der Handlung durch Charaktere, besonders in Redepaaren, und „BeinaheEpisoden“ tragen kontrafaktische Aussagen dazu bei, der Vergangenheit etwas von der Offenheit wiederzugeben, die sie hatte, bevor sie Vergangenheit wurde. Bereits in der Antike wurde die enargeia, die Anschaulichkeit, der thukydideischen Erzählweise gelobt,46 und auch moderne Leser werden noch von seiner narrativen Vergegenwärtigung des Peloponnesischen Krieges in Bann geschlagen, wie ein Kommentar von Green bezeugt: „Whenever I re-read Book VII of Thucydides I keep hoping it’ll go the other way this time.“47 Trotz aller Bemühungen, den Peloponnesischen Krieg in seiner Gegenwärtigkeit darzustellen, kennen die Leser seinen Ausgang und einige auktoriale Reflexionen verraten, dass auch Thukydides seine Erzählung mit Blick auf den Fall Athens im Jahre 404 v. Chr. verfasst hat. Zum Beispiel greift er in der Würdigung des Perikles, den er den nachfolgenden Politikern gegenüberstellt, auf die Niederlage in Sizilien und die Niederlage Athens vor (2.65.10–12): Aber die Späteren, untereinander eher gleichen Ranges und nur bemüht, jeder der erste zu werden, gingen sogar so weit, die Führung der Geschäfte den Launen des Volkes auszuliefern. Daher wurden immer wieder, bei der Größe der Stadt und ihrer Herrschaft, viele Fehler begangen, vor allem die Fahrt nach Sizilien… Und nachdem sie in Sizilien eine solche Streitmacht und vor allem den größten Teil der Flotte eingebüßt hatten und in der Stadt die Parteikämpfe nun ausgebrochen waren, behaupteten sie sich trotzdem noch zehn Jahre lang sowohl gegen ihre bisherigen Feinde wie gegen die neuen von Sizilien, dazu gegen ihre meistenteils abtrünnigen Verbündeten und schließlich sogar Kyros…

Erzählungen können versuchen, vergangenes Geschehen zu vergegenwärtigen, aber durch die unaufhebbare Nachzeitigkeit des Erzählens bleibt die Erfahrung für sie ein Grenzwert. Ebenso wie Erfahrungen durch Erzählungen transformiert werden, bleibt für diese die Offenheit der Erfahrung –––––––––––––– 46 Vgl. Plut. De glor. Ath. 347a–c. In der modernen Forschung, s. Morrison 1999; Dunn 2007: 111–150. 47 Green 1970: xii.

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letztendlich uneinholbar. Dennoch zeigt das Werk von Thukydides, wie weit Erzählkunst in dem Bemühen kommen kann, der Geschichte ihre Erfahrungshaftigkeit wiederzugeben.

IV. „Narrative Referenz“ Thukydides genießt bei modernen Historikern hohes Ansehen wegen seiner methodischen Ansprüche. Man sollte aber vorsichtig damit sein, Thukydides’ Methodologie mit einem positivistischen Objektivismus zu verwechseln. Er bemüht sich um eine akkurate Darstellung der Vergangenheit nicht um ihrer selbst willen, sondern weil er meint, dass seine Leser nur aus solchen Darstellungen lernen und dadurch Nutzen haben können (1.22.4). Zuletzt hat Marshall Sahlins in seinem ikonoklastischen Vergleich einer polynesischen Stammesfehde im 19. Jahrhundert mit dem Peloponnesischen Krieg gezeigt, dass Thukydides die kulturelle Konstruktion von Geschichte vernachlässigt und einem essentialistischen Geschichtsbild verpflichtet ist.48 Trotzdem bietet das Werk des Thukydides noch Anregungen für die moderne Geschichtstheorie, im besonderen für die Frage nach der Darstellung von Geschichte, die seit Hayden Whites Metahistory mit besonderer Vehemenz diskutiert wird. Die zeitgenössische Geschichtswissenschaft ist hoch diversifiziert und Mikrohistoriker bemühen sich um die Alltagsperspektive von Individuen, aber die meisten Strömungen, von der politischmilitärischen Ereignisgeschichte über die Sozial- zur Mentalitätsgeschichte, vernachlässigen, wie die Diagnosen von Bernstein und Ferguson zeigen, Kontingenz. Das Bemühen um kausale Erklärungen, der Fokus auf Strukturen und der Versuch, kollektive Plausibilitätsstrukturen zu dechiffrieren, nehmen der Vergangenheit die Offenheit, die sie hatte, und berauben Geschichte ihrer Erfahrungshaftigkeit. Wir haben dagegen gesehen, dass Thukydides in seiner elaborierten Narration der Vergangenheit etwas von ihrer Gegenwärtigkeit zurückgibt. Es ist also nicht Thukydides’ methodische Strenge, sondern seine Erzählkunst, die auch heute noch geschichtstheoretische Überlegungen anregen kann. Die in die Historie eingebetteten Reden illustrieren, dass das thukydideische „side-shadowing“ sogar mit den Vorstellungen positivistischer Geschichtswissenschaft kollidiert. Weder ist es Generationen von Gelehrten gelungen, dem Redensatz in 1.22.1 ein Bekenntnis zur wortge–––––––––––––– 48 Sahlins 2004.

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treuen Wiedergabe von Reden abzuringen, noch lassen die engen Korrespondenzen mit anderen Reden und der Narration Zweifel an ihrer Fiktivität zu. Den Beitrag, den solche fiktive Elemente für eine Geschichtswissenschaft leisten können, deren Ziel es doch ist zu rekonstruieren, „wie es wirklich gewesen ist“, möchte ich mit dem Konzept einer „narrativen Referenz“ erfassen, das hier nur kurz vorgestellt werden kann. Der Begriff „narrative Referenz“ ist analog zu Ricœurs „metaphorischer Referenz“ gebildet. In seiner siebten Studie zur Metapher führt Ricœur aus, dass Metaphern aus dem Scheitern des wörtlichen Sinns einen metaphorischen Sinn und analog dazu aus der suspendierten Referenz eine Referenz zweiter Ordnung entfalten.49 In ähnlicher Weise kommt auch den Reden in der Historie eine referentielle Funktion zweiter Ordnung zu. Auch wenn sie nicht die Worte wiedergeben, die gesagt wurden, so erzeugen sie doch die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit. Durch sie gelingt es Thukydides, Offenheit und Kontingenz zu rekreieren und damit einen wichtigen Aspekt der Vergangenheit wiederzugeben. Die Referenz auf die Erfahrungshaftigkeit der Geschichte wird durch fiktive Elemente geleistet, aber die Fiktionalisierung kann einer kritischen Methode unterworfen werden. So gibt Thukydides in seinen Reden das wieder, was „ein jeder in seiner Lage etwa sprechen musste“ (1.22.1). Bewusstseinsvorgänge und Reden, welche die Erfahrungshaftigkeit von Geschichte ausdrücken, sind im Rahmen einer Rekonstruktion der allgemeinen wie spezifischen Bedingungen von Erfahrung zu rekonstruieren. Dadurch wird ihre Fiktionalität zwar nicht aufgehoben, aber doch Gegenstand einer kritischen Rekonstruktion. Die „narrative Referenz“ als Möglichkeit, durch Narration der Vergangenheit ihre Gegenwärtigkeit wiederzugeben, illustriert die Bedeutung der Erzählung für Geschichte. Hayden White hat in seiner Metahistory demonstriert, dass die Darstellung von Geschichte auf „emplotment“ angewiesen ist. Ich meine, dass jenseits der Tropologie die zeitliche Struktur ein weiterer Aspekt ist, durch den Erzählung unabdingbar für Geschichte ist. Der Historiker ist der Geschichte nachzeitig, aber dank der Duplikation der zeitlichen Struktur menschlichen Lebens in der Erzählung kann er der Vergangenheit etwas von ihrer Offenheit restituieren. Während antike Historiker wie Thukydides mit der „narrativen Referenz“ auf die Erfahrungshaftigkeit von Geschichte abzielten, machen zeitgenössische Historiker nur wenig Gebrauch von ihr. Heute findet sich die –––––––––––––– 49 Ricœur 1975: 273–321.

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„narrative Referenz“ eher in historischen Romanen, die in der Form von „historiographic meta-fiction“ ein neues Reflexionsniveau erreicht haben.50 Autoren wie Julian Barnes und Salman Rushdie verbinden den Gebrauch fiktionaler Mittel mit einem dokumentarischem Anspruch, indem sie die Spannung durch Reflexionen auf die Fiktionalität ihrer Erzählung wie der von Geschichtserzählungen im allgemeinen ausbalancieren. Sie zeigen damit, wie Fiktionalisierung für eine narrative Referenz verwandt und zugleich zum Gegenstand kritischer Reflexion gemacht werden kann.

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–––––––––––––– 50 Vgl. Hutcheon 1988; Nünning 1995.

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Experience, Experientiality, and Historical Narrative A View from Narratology

MONIKA FLUDERNIK Since Hayden White’s metahistorical theorizing as part of a linguistic turn in the historical sciences, the role of narrative in historiographical discourse and its relevance for the conception of history as a construct that bears only a tangential relation to historical reality have been very much in the forefront of discussions about history and the historians’ profession. Narratologists and theoreticians like Ricœur have generally been in agreement with Hayden White. History as the actuality of the past cannot be recuperated by narrative; it can only be (re)constructed, in fact invented, in close reliance on the available sources. As Dorrit Cohn1 demonstrates in a very convincing fashion, the historian constructs a story from the existing sources (documents, witness accounts), and then, as do all narrators, produces a discourse from that story. The discourse is a literary fiction in the sense of fictio in Werner Wolf’s distinction between the fictio and fictum quality of fictionality – a poiesis, to use Aristotle’s term.2 The fictivity of historical discourse in no way detracts from the referential nature of his–––––––––––––– 1

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See Cohn 1999: 18–37. See also Ankersmit 2005: xiii–xiv, who endorses the critique of what he calls “narrativism”, i.e. the idea “that the historical text is, essentially, a narrative, or a story as we may find it in novels, legends, or fairy tales” (xiii; my emphasis). As Ankersmit goes on to note, narrativist theories about historical representation are “a supplement to what was said in the 1950s and 1960s about the truth of statements about the past or about causal explanation and not a replacement of it” (xiv; original emphasis). See Wolf 1993: 38–9, 55. According to Wolf, nonfictional texts are ontologically different from the ‘reality’ they refer to (fictio), whereas fictional texts additionally display referential alterity since they are a fictum (55). Fictio thus refers to fiction as an ‘artificially made’ product created by an author or artist rather than occurring naturally; fiction(ality) as fictum contrasts the real with the irreal or not existing in terms of a lack of specific reference: “Ich möchte nun diese potentielle Erfundenheit im Sinne einer fehlenden Einzelreferenz […] den ‘fictum’-Aspekt der Kunst nennen” (39).

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torical narration, which is linked to the sources. Although the story constructed from the sources is a fictio, an invention in terms of its chronological and motivational-causal reconstruction of events in a storyline, it is not a fictum (as in literary narrative) since it refers to a ‘reality out there’. A fictio projects cause and effect patterns, selects key points of the narrative, and it structures events into a series of nodal points linked in an intrigue connecting beginning, middle and end. Although that construction of a storyline in historiography is a fiction (fictio), it is one that has a factual basis: historical discourse in its narrative manifestations can only fill the gaps of knowledge by speculation; it must not invent counterfactual events. My own narratological proposals have relegated historiography in the scholarly mode of twentieth-century academic historiography to a subsidiary role in the realm of narrativity3; in my model, historical narrative is less experiential than fictional, particularly literary, narrative. While some traditional, particularly nineteenth-century, histories are composed much in the same way as novels and – as Carlyle and Michelet amply demonstrate – accommodate a high degree of experientiality, academic historiography, on the other hand, which focuses on putting sources first and keeping speculation within very narrow limits, predominantly operates as narrative argument. Academic historiography has also been known to dispense with narrative altogether, to replace narrative with statistics and their analysis, or to shift narrative to a level of quasi-characters,4 or to focus on the longue-durée agencement of non-individualist actants like institutions, trade, geography. Cultural history, merging with the history of ideas and mentalities, is often concerned with the development of collective understandings and concepts, looking at the shaping and persistence of communal experience through the centuries. Examples of this type are Ariès’ work on the history of childhood, books on menstruation5, suicide6, or on what people perceive to be things7. Such histories, by eluding the grip of the individual subject and its experientiality, end up focusing on collective experience and usually rely on a mass of ego-documents which reflect the experiential parameters of individual lives in the historical past. The ex–––––––––––––– 3 4 5 6

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See Fludernik 1996: 24, 39. Ricoeur 1984–88: I 200–201. See, for instance, Hohage 1998; Shail 2005; Zinn-Thomas/Stolle 1998. See, for instance, Bailey 1998; Berman 1999; MacDonald/Murphy 1990; Minois 1999. See, for instance, Blackwell 2007; Johnson 2008; Myers 2001; Wall 2006.

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perientiality of the source is thus sublimated and transformed into collective experience as a historical object of analysis. What I would like to do in this paper is to focus in closer detail on the relationship between experience and experientiality in historical writing and to discuss the notion of historical experience on the example of some recent experiments in historical texts that treat one particular year as a topic of their research. These innovative histories will be compared with a more literary text. I start with a few theoretical distinctions.

1. The Historiographical Text as a Palimpsest Historically speaking, the notion of historical experience can be applied to two distinct levels of time. On the one hand, one can speak of our presentday experiencing of the Afghan War or, in history, of the Elizabethans’ experience of the war in Ireland. What is meant by such a use of the term can be defined as people receiving information and reacting to this information both cognitively and emotionally during the extended present of their current situation. Naturally, such experience may include direct involvement in certain processes or events, as when the people concerned happen to be soldiers sent to the war zone. My example for the first type of experience, to be called contemporary historical experience, may strike the reader as odd, since one tends to associate direct experience with physical participation in events. In common parlance, one would conceive of politicians deciding on how many soldiers are to be sent to Afghanistan, or of village folk seeing the tanks roll into their market square, or of families receiving body bags, as “experiencing” history directly. It needs to be noted, however, that for contemporary experience to have any general meaning at all, such direct involvement cannot be required as a precondition, since this would tend to narrow down historical experience to physical immersion. (One may want to create a third category for this kind of direct physical experience of processes and events such as raw experience.) The example of war is, in fact, a very special case, since it radicalizes the notion of direct involvement as physical agency and/or suffering. However, for a collective sense of historical experience, the example of a war far away (in Afghanistan, in Ireland) proves much more useful since it highlights the fact that many historically relevant figurations are experienced by contemporaries only vicariously and through the media, i.e. indirectly. Thus, those directly involved are often witnesses of events, whereas

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those experiencing them as contemporaries often have merely a ‘feel’ for events, in fact already recognize these occurrences as part of momentous changes or incisive moments in present-day history. Thus, watching the American moon landing in 1969, television viewers clearly appreciated the historic moment that they were witnessing on screen, and viewers of recent documentaries on the fall of the Berlin Wall on German television were able to re-experience their former emotions, to remember (at least if they were old enough) how they felt at the time and to revise their memories on the basis of the additional historical information provided in the documentaries. Not one German or American citizen was unclear on the significance of Barack Obama’s election to the American presidency, but contemporary experience of it for the overwhelming majority of Americans and Germans did not include close physical involvement in making it come about.8 Such contemporary experience is discussed by Frank Ankersmit in his book Sublime Historical Experience (2005). He quotes at length Francesco Guicciardini’s comments on the French King Charles VIII’s invasion of Italy on the invitation of the Duke of Milan in 1494, an event that Guicciardini saw as a terrible “entry into a new world” (Ankersmit 357); Guicciardini, as a victim, was given the “profundity of insight” to perceive this event as a crucial turning point in Italian history: We should recognize that this truly is the heart of modern historical consciousness, of how we relate to our past and why we want to know about it. Modern historical consciousness arises from the experience of this discrepancy between the perspective of the past and that of the present. The past can become a suitable and legitimate object of historical research only if it is seen as essentially different from the present […] (357)

This takes us to my second category. Type two of historical experience, which I would like to call past historical experience, corresponds to our present-day experience of historicity when encountering representations of historical subjects and/or periods. This type of historical experience is always mediated and is in fact the result or effect produced by historical representation. When we read a history of Elizabethan England or a Shakespeare play or see a film about Elizabeth I or a documentary on Henry VIII, or when we read Hilary ––––––––––––––

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The boundary between direct and indirect participation is of course notoriously fuzzy, since watching a televised report of events in Washington conveys a feeling of actually witnessing the events; on the other hand, such broadcasts in fact elicit strong emotional involvement, which clearly must be characterized as experiential.

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Mantel’s new novel about Thomas Cromwell (Wolf Hall), then we activate historical experience of type two, namely, the experience of the past as past, of life as it used to be at a given period. Such experience of something as history is a historical experience of the second order, a reflexive and mediated type of experience which can only be characterized in contrast or opposition to our contemporary experience. The earlier example of the moon landing in the anniversary documentary in fact combines the memory of contemporary historical experience (type one) with the historical experience of the past (type two). For viewers too young to have been around to watch Neil Armstrong walk on the surface of the moon in 1969, the documentary conveyed pure historical experience of the past; only for those who had watched it the first time round could the documentary evoke memories; but these would, of course, have been overlaid by the historical representation of the NASA programme and by a recognition of the historicity of the film extracts, which had now turned into historical documents and sources and were beginning to carry obvious qualities of their datedness, their non-contemporaneity. Most prominently, that could be true of the make of the computers pictured in the documentary, but also – less noticeably so – of the clothing and haircuts of the crew manning the NASA ground control. As Ankersmit so clearly expresses, past historical experience can only be perceived as such on the background of the difference of the past from the present. From a constructivist view, the past cannot in fact be experienced: “[…] we cannot have experience or experiential knowledge of the past itself for the simple but decisive reason that the past could not possibly be an object of experience because it no longer exists”.9 The attempt to recuperate past experience or what Ankersmit calls the “expérience vécue” (citing Richard Rorty and Thomas Nagel’s essay “What Is It Like to be a Bat?”) therefore betrays a particularly paradoxical nature. Whereas for Jacob Burkhardt historical experience could only serve as a complement to historiography (173), there certainly is more continuity between historism and contemporary historical writing than is often admitted. Historians nowadays wish to convey to their readers an inkling of “what it was like” or “what it felt like” to be a thirteenth-century inhabitant of Montaillou (Le Roy Ladurie) or a nineteenth-century bourgeois (Gay) – and these are, in the end, typically historist questions. For historism, history is, essentially, the history of the expérience vécue, and experience is therefore the no-

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Ankersmit 2005: 113.

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tion that is absolutely central in the historist conception of the aims and purposes of historical writing.10

Ankersmit’s example of historical experience is Jan Huizinga’s The Waning of the Middle Ages (1919) which, according to Ankersmit, documents the fact “that it would [not] under all circumstances be impossible to scrape off the crust of interpretation sedimented on the great work of art and to experience it as if a whole civilization saw it for the first time”.11 It is this notion of a recuperated experience of life in the past that I am discussing here under the term past historical experience. I find the conjunction of lived with historical somewhat paradoxical. In fact, as Ankersmit himself notes, when we read a (historical) text, the meaning of that text is not in the text itself but arises from, or rather during, our experience of reading it (96–8). Representation therefore is the obligatory precondition for the constitution of meaning, and the experience of the past can therefore only arise as part of the experience of reading or seeing a historical document or a historiographic text. One notes here how the two types of historical experience that I have distinguished actually keep getting intertwined since both presuppose an awareness of the past as past, though in retrospect for the past historical experience and in anticipation for contemporary historical experience. Two aspects of historical experience are especially noteworthy. For one, all historical experience is mediated – direct experience affects only very few people, and in the twentieth century, modern mass media have begun to occupy the pole position in our perception of contemporary reality, especially with reference to political events. This insight can help us shed a more critical light on simplistic notions of direct experience in former centuries. Since people then did not have television, they possibly had to rely on hearsay and confidential gossip in order to learn of major developments, even when they were, say, members of the court. Clearly, a peasant in the sixteenth century would have had a much less extended historical experience, focusing on events at home and some news from travellers, with major historical events in Europe figuring only vaguely on the mental horizon. The quality of contemporary historical experience is therefore distinctly varied and culturally and historically variable. ––––––––––––––

10 Ankersmit 2005: 69–70. 11 Ankersmit 2005: 127. Ankersmit goes on to distinguish between historical experience and historical intuition (127–8), but what he calls “intuition” is actually an inspiration about a grand récit, and does not concern us here.

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Another major point to note concerns the innate reflexivity of all historical experience. In order to become ‘historical’ experience (rather than mere experience of things happening to impinge on one), events or processes need to be cognized as either significant (which will cause them to be experienced as historic even though they are only just evolving) or as past and therefore as lying in that “foreign country” in which “they do things differently”12. This is a major characteristic that historical experience shares with narrative. One can report on what is currently happening, as in a football game or a riot, but one can only narrate them if they are viewed as a story retrospectively, just as one can only experience events as historic by seeing them in a historical perspective. Both conceptualizations require a stepping back from the events (something one cannot do while kicking the ball into the goal or throwing a Molotov cocktail at a tank) and are based on an incipient configuration of the context which positions the ongoing events as a functional moment within that configuration. That narrative and experience from the perspective of expérience vécue are opposed to one another and that history conjoins these two incompatible objects, conquering their ineluctable and sublime difference, is in fact the major thesis of Ankersmit’s book, aptly named Sublime Historical Experience: But now we have, with the sublime, a philosophical category legitimating the question of how to conceive of this apparently impossible creative interaction of narrative and experience. Next, we can make a most trivial but nevertheless momentous observation about this creative interaction. The observation in question is that such a creative interaction could never be reached when we have either only narrative (and no experience) or only experience (and no narrative). This creative interaction always and necessarily is some mixture of the two of them. However, no rules are available for fixing this juste milieu. Suppose we had such rules. In that case these rules could be said to be a tertium comparationis of both narrative and experience. And if such a tertium comparationis would exist [sic!], narrative and experience would no longer be incommensurable – and this would be in contradiction with our premises. It follows that if we accept the category of the sublime as a meaningful category, a creative interaction of narrative and experience must exist, although we will never be able to figure out a priori where to find it.13

This insight is later expanded to link narrative with representation (and language) and its fraught relationship with reality: ––––––––––––––

12 Hartley 1995: 7. The paradox of the very concepts of history and experience is also thematized by Egon Flaig in the opening of his contribution to this volume: one cannot, from a logical perspective, ‘experience history’. 13 Ankersmit 2005: 174–5; original emphasis.

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When we hit upon this sublime indeterminacy in the relationship between language and reality, at that very moment the past makes its entrance in our minds. The past does not exist prior to this sublime indeterminacy, the past does not cause this indeterminacy – the past is this indeterminacy, the past constitutes itself in this indeterminacy; and temporal distance is, therefore a merely accidental and additional property of what we experience as past.14

Insofar as historical experience, like all experience, is an experience in the here and now, it does not actually involve the past. However, as I will argue later in connection with my example texts, past experience can indeed be evoked artistically, though not as past but as a resuscitation of former present experience, which is now no longer available. Like all narrative, historical writing is designed to provide meaning for our human experience in this world, which is especially true for our experiences of contingency and crisis. I wonder whether that kind of experience is per se historical or whether it could not be seen as a transhistorical catalyst for historical experience. As Thiemo Breyer and Daniel Creutz note in their contribution to this volume (echoing Rüsen 2001), the crucial achievement of historiography and narrative is to shape pre-narrative material into a form that allows it to offer post-narrative options for an active engagement with the world. Let me briefly turn to the representational rather than mimetic element in historical writing. Just as there are several types of historical experience, there are also several types of historical narrative. Starting with myth, that is to say: with the res gestae as conveyed in oral storytelling, historical writing moves through several developmental stages from biography (Plutarch’s Parallel Lives; or, in the English tradition, Thomas More’s Life of Richard III) to the historical novel and on to more self-reflexive historiography (already Polybius) and, in the twentieth century, to the use of statistics and other non-narrative strategies of presentation.15 Where do we find experience in these texts? The challenge of academic historiography has been to combine methodological empiricism with a representation or evocation of experience and experientiality. The term experience here does not necessarily refer to historical experience, although this might be included, but to the quality of what it was like to live in a former age. Although readers of historical texts (and especially of historical novels!) expect to learn about such experience, novels and histories have to go about providing it quite differently. There also is an important ambiguity involved in the very notion of experience in –––––––––––––– 14 Ankersmit 2005: 177; original emphasis. 15 Note, though, as Philippe Carrard has shown, that even the Annales School historiography is not completely anti-narrative.

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the past. For the contemporary reader, there exists the illusion that one could delve into the experience of, say, sixteenth-century men and women, immersing oneself in their alterity. However, the clear quality of otherness that dominates such empathy with a historical reference point from the start destroys access to that experience. The farmer who lived in the 1530s would naturally have experienced his surroundings as familiar rather than strange. Although one could argue that the trick is to take over an unfamiliar perspective on life, to imaginatively adopt an alien world view, and to then see life from that farmer’s viewpoint, in practice alterity is bound to dominate since the attractivity of history lies precisely in the exoticism of the past as that foreign country in which things are done differently from the way we are used to. On the whole, historical writing of the mentalities school has been more successful in conveying a feel of experience in that sense of familiarizing us with the set of mind current in a period before the modern world. By citing numerous documents, explaining the import of philosophical and religious doctrines, and by describing people’s everyday habits, newer historians have managed to outline alterity in such welldocumented detail (where documents exist) that an immersion in the world of a former age is almost achieved. More traditional historians focussing on individual agents, on the other hand, have stressed the familiar rather than the different in terms of personal qualities of political canniness (universal human intelligence and the ability to survive in politics) since their concentration on political events, wars and decisions made by parliaments, kings or governments positioned specific human subjects at the core of historical events. Like novels, their immersive techniques therefore focus on the universally human rather than on the alterity of the past. In contrast to historiography, the historical novel and historical films highlight the life of individuals from the very start. Much of this literature also focuses on the figures of kings, queens or other persons of elevated rank. When presenting ordinary people, such work comes closer to an evocation of the experiential quality of life in the past. However, unlike recent ‘history from below’ and the histoires des mentalités, novels and fiction films tend to foreground the universally human in past experience. Immersion in the past operates mostly through the reader’s or viewer’s imaginative projection into some protagonists’ minds. In order to be suitable objects of empathy, these protagonists need to be ‘one of us’; their psychology has to work in recognizable manner for the reader to transfer his/her imagination into their situation. Despite the exotic alterity of the

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past in historical fiction (and films), the rationale of this writing on the whole lies in evoking an imaginative transfer into the mind of the fictional characters. The reader is led to put him/herself inside that figure and therefore experiences the fictional world of the past vicariously, as if he or she had stepped into it, evincing personal and emotional reactions to it. These may be positive and harmonious – for instance, when endorsing the character’s jealousy or cunning; they may also be distancing ones when the unfamiliar intrudes. (The reader’s reaction to the violent bloodshed in early modern battles or to the ubiquity of vermin will tend to be one of horror and disgust and clearly differ from a sixteenth-century person’s inurement to such facts of life.) Paradoxically, therefore, although fictional representations of the past, owing to their focus on individual characters as objects of empathy, achieve a great immersive experience for the reader, they nevertheless precisely on this account fail to entirely familiarize the unfamiliar. The more familiar the historical past, the less ‘past’ is it. In fact, to overfamiliarize the past could be argued to be counterproductive – who wants to read a historical novel if it does not differ from a contemporary one? The double bind of preserving alterity and trying to familiarize the past for the contemporary subject can be solved neither by history nor by fictional representation.16

2. Experience vs. Experientiality In Towards a ‘Natural’ Narratology I had proposed to define narrativity, that which makes a text narrative, as based on a maximum evocation of what I called experientiality17. That term was coined to characterize that quality of narrative which links the tellable on the one hand with the point of the story on the other: The dynamics of experientiality as it surfaces in the narrativity of natural narratives reposes not solely on the changes brought about by external developments or effected through the self-monitored (goal-oriented) actions of a central intelligence

–––––––––––––– 16 László Tengelyi’s paper in this volume introduces Freud’s concept of Erinnerungsarbeit as a crucial aspect of historical experience. This aspect of rememorization clearly plays a cardinal role both for narrative and for historical writing. Since memory has so far been largely neglected in narratology, except as memory by various fictional personae, I have had to leave this point aside. A consideration of the place of memory in the dialectic between story and discourse would provide meat for a whole book. 17 Fludernik 1996: 20–30; 12–13, 30.

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or consciousness. On the contrary, this dynamic is related particularly to the resolution effect of the narrative endpoint of the tale and to the tension between tellability and narrative ‘point’.18

In conversational narrative, and much less in fiction, the interest lies not in detailing a sequence of events, but in their affective quality and their relevance to the current situation.19 Stories reproduce the experience of how it was (which triggers the affective impact of tellability) and they also are told in order to position that experience within a larger framework or context that helps to control or provide a point for experience, which is characteristically messy and threatens to overwhelm the experiencing subject. Experientiality thus includes experience in its affectivity and immediacy and at the same time brings in its rational, didactic and explanatory reworking. The dynamics (or dialectic) between these two elements constitutes experientiality. Towards a ‘Natural’ Narratology went on to argue that academic historiography in its ideal academic mode with its emphasis on argument and on the analysis of sources largely eschewed experientiality and therefore occupied a zero degree of narrativity.20 As a consequence, academic historiography was considered not to be fully ‘narrative’ in the sense of optimal experientiality; one can further argue that it overemphasizes point to the detriment of experientiality. Since 1996 I have done extensive analyses of early texts, some of which allow one to document levels of incipient narrativity in letters, criminal records and histories.21 Since my earlier interest in the positing of experientiality connected with revisions of classical definitions of narrative and narrativity, my focus was on the prototypical case. More recent work on nonfictional narrative, especially legal and historical, has foregrounded the basic storytelling features of such texts, though I still would not assess their narrativity as extremely high. However, instead of seeing historical writing generally as having zero narrativity (owing to a lack of experientiality), I would now argue that experientiality (and hence narrativity) occurs on a scale, and that the more academic a historical text is, the less experientiality there will be. This conclusion is corroborated by an analysis of the representation of experience in narratives. Fictional narratives clearly put a premium on –––––––––––––– 18 On the notion of narrative point see Labov 1972. See also Fludernik 1991; Fludernik 1996: 27. 19 For a recent similar view see Velussig 2008. 20 See Fludernik 1996: 328–329. 21 See Fludernik 2004 and 2007.

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seeing the world through the eyes of a character and hence on centrally focusing on their experience; historical narratives of the prototypical academic type only contain representations of experience when they cite from ego-documents or write extensive history ‘from below’. However, as Breyer and Creutz note in their phenomenological investigation, narrative is also intrinsically linked to experience. Thus there can be no narrative without experience since experience structures the pre-narrative material that narration transfers into the narrative discourse. (To what extent this is true of historical narrative, however, might be a point of debate.) On the other hand, experience can also be said to be in turn structured by narrative insofar as we resort to the cognitive category of time in our apperception of events which constitute lived experience. Thirdly, narrative mediates experience, and the reception of narrative can in itself constitute an experience. These arguments are proffered from a phenomenological rather than merely narratological or cognitivist perspective; they do not, I think, support a close correlation between narrative and experience. In this context, looking at experimental historiography may give us an additional perspective on how experience can emerge or be presented in historical writing. As a narratologist, the additional question for me will be whether such experimental techniques constitute or enhance the text’s narrativity, or – in other words – whether these techniques, by foregrounding the experience(s) of the historical subjects, at the same time boost their experientiality. The problem is an interesting one theoretically, too. We have seen earlier that a lack of human experience in the narrative representation of the historical past entails an absence of experientiality in that narrative or produces a lower grade of narrativity. The present case study will allow us to test whether in historiography the adding of ‘experience’ on the level of the represented world automatically engenders an increase in experientiality and narrativity.

3. Experiments in the Writing of History: The Modernist Paradigm in Historical Discourse My case study concerns history books that focus on a single year, a recent trend or fashion. I will also briefly look at Simon Schama’s Dead Certainties (1991), a novelistic history. Literary modernism is often defined as follows (I am quoting from the entry on Modernism in the Oxford Companion to English Literature):

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The Modernist novel is often non-chronological, with experiments in the representation of time such as sudden jumps, temporal juxtaposition, or ‘spatialization of time’, in Joseph Frank’s phrase (in which many different moments of time are presented with an effect of simultaneity), or studies of duration (making a great deal occur within a small amount of text, or stretching a small amount of action over a large textual space). Instead of upholding the realist illusion, the Modernists break narrative frames or move from one level of narration to another without warning; the works may be reflexive, about their own writing, or they may place one story inside another (a device known as interior duplication or mise-en-abyme, placing into the abyss). Instead of plot events, there is an emphasis on characters’ consciousness, unconsciousness, memory, and perception [...]. Instead of using closure and the fulfilment of reader expectations, or following genre conventions and formulas, Modernists often work towards open endings, or unique forms: they utilize enigma, the ellipsis, the narrative gap, and they value ambiguity and complexity.22

Modernist writing thus thrives on fragmentation, juxtaposition and a lack of plot, substituting for it texture and deep detail (to pun on Clifford Geertz) as well as an extensive focusing on consciousness. Another key feature of Modernist texts is the choice to present one day in the life of the protagonist rather than to treat a whole life or at least a span of several years, if not a sequence of generations of a family. Not all Modernist novels employ this pattern; famous examples focusing on one day like James Joyce’s Ulysses (1922), Andrey Bely’s St. Petersburg (1910–1911) and Virginia Woolf’s Mrs. Dalloway (1922) can be contrasted with the more expansive handling of time in Thomas Mann’s Buddenbrooks (1901), Dorothy Richardson’s Pilgrimage (1915–1967) and Marcel Proust’s Recherche (1913–1927). However, the representative focus on one day in the life of the hero(ine) is a notable Modernist pattern that has influenced later fiction as well (e.g. One Day in the Life of Ivan Denisovich by Alexander Solzhenitsyn). Most Modernist masterpieces constructed on this model compensate for the lack of temporal breadth on the plot level by a wealth of detail in introducing numerous settings and groups of characters and shifting between them. They additionally counteract the narrowness of the plot by providing psychological depth, smuggling in a more extensive time frame by means of memory and recollective depiction of times past. Modernist texts additionally employ a strategy of extensive juxtaposition and fragmentation in order to shift between the various settings and groups of characters. The city in which the one-day novel is located is presented from numerous angles, like a cubist painting. –––––––––––––– 22 Drabble 1998: 654.

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The decision to write history by concentrating on one year clearly echoes Modernist features of narrative. Although there have been historical studies of one event before (like books on the French Revolution, the Council of Trent, etc.), these histories have on the whole remained resolutely chronological within the period of several years which they cover and have provided neat sequences of actions, cause and effect patterns, and an overall structure of beginning, middle and end. The new type of history that has been recently popularized with Karl Schlögel’s Terror und Traum: Moskau 1937 (2008) clearly echoes such Modernist tenets and strategies. Schlögel envisages a drastic spatialization of the historical text: Der Blick auf die Karte zeigt am besten, was Gleichzeitigkeit von Geschehnissen an einem Ort heißt. Alles findet in dichtester Abfolge und in unmittelbarer Nachbarschaft statt. Die Karte bildet räumlich ab, was die Gliederung des Buches als zeitliches Narrativ entfaltet. Da die Karte aber nicht die kumulative Radikalisierung, die Beschleunigung der Ereignisse wiedergeben kann, bekommt sie ihre Aussagekraft erst in Zusammenschau mit der Legende, d.h. der Erzählung der Ereignisse, die der zeitlichen Abfolge folgt. Erst zusammengenommen ergeben sie jene Raum-Zeit-Einheit, von der neue Erkenntnisse erwartet werden können.23

Moscow is presented from above, with all the significant locations visible from the air and juxtaposed in a visual pattern based on the Bakhtinian chronotope, to which Schlögel alludes.24 The structure of the book and its visual metaphor relate to the “intrinsic connectedness” between time and space that Bakhtin’s concept of the chronotope unfolds, though Bakhtin uses this notion to refer to “temporal and spatial relationships that are artistically expressed in literature”.25 Schlögel posits an equivalence between Bakhtin’s “inseparable connection of space and time” (“untrennbarer Zusammenhang von Raum und Zeit”26) and his own mode of representing ––––––––––––––

23 Schlögel 2008: 27. Translation: ‘Looking at the map, one sees most clearly what the simultaneity of events within one location might mean. All events are happening in close chronological sequence and in the immediate vicinity of one another. The map mirrors spatially what the structure of the book [its chapter division] unfolds temporally as a narrative. Since the map cannot represent the cumulative radicalization and increasing tempo of events, in order to become maximally instructive it needs to be supplemented by a subscription, a legend or narrative that puts the events into a chronological sequence. Only the conjunction of spatial and temporal representation allows that unity of setting and chronology that bids fair to produce innovative insights into the history of the Terror.’ (My translation) 24 Schlögel 2008: 24–27; Bakhtin 1981: 84–258. 25 Bakhtin 1981: 84. 26 Schlögel 2008: 25.

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Stalin’s terror in 1937, in which very many different things happen in Moscow at the same time and in a variety of different places. Yet, whereas what Bakhtin is really talking about is genre, for instance the prototypical constituents of the Greek romance, which include temporal and spatial features welded together with themes and stylistic options, Schlögel is more interested in the fullness of life at a particular historical moment. His aim is therefore closer to the Modernist novel, though as the author of a historiographical text he does not represent the consciousness of his protagonists, but has to rely on a juxtaposition of sources, of events, of descriptions of everyday life, of suffering, betrayal and mystery in that critical year of the Terror. The importance of a literary model for the book is underlined by the fanciful reference to Mikhail Bulgakov’s novel The Master and Margarita,27 the third draft of which was written during 1937, the fatal year (though work on the novel had started in 1928); after Bulgakov’s death in 1940, the final text was posthumously completed by his wife in 1941 and could appear only in censored form in instalments in 1966–1967. Bulgakov’s critique of the Soviet system and the novel’s view over Moscow from the air when Margarita rides her witch’s broomstick make this a congenial analogue for Schlögel’s purposes. The allusion, however, also indicates that Schlögel is aware of literary precedents. In his introduction, in particular, he notes two other books that attempt similarly disorienting non-diachronic presentations of history. The first of these references is to Hans Ulrich Gumbrecht’s In 1926: Living at the Edge of Time (1997), a panorama of culture in 1926 which is arranged alphabetically like a handbuch or lexicon of key terms. Schlögel’s definition of the genre he is writing is that of “simultaneous narration” (“ein ‘Narrativ der Gleichzeitigkeit’”28), an oxymoronic formula since history is usually conceived of as diachronic. Gumbrecht, as Schlögel notes in a footnote,29 uses an alphabetical principle for his montage, a technique which Schlögel does not find very convincing as a structuring principle and considers to be “unterkomplex”, ‘not sufficiently complex’.30 Gumbrecht, clearly inspired by experimental postmodernist novels such as Milorad Pavic’s lexicon novel Dictionary of the Khazars (1984), indulges in allusion and the ironic undermining of readers’ expectations, for instance by providing cross–––––––––––––– 27 28 29 30

Schlögel 2008: 26. Schlögel 2008: 24. Schlögel 2008: 714, n. 12. Schlögel 2008: 25.

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references to other entries where the connection to the current text is entirely fanciful and even spurious. Such strategies of deliberate disorientation and such violations of the relevancy principle, to use a linguistic term, can be found also in literary postmodernist texts like Vladimir Nabokov’s Pale Fire (1962), where the ostensible annotations to a poem mutate into the autobiographical tale of the annotator, a madman. The other montage text that Schlögel explicitly rejects as a model is Walter Kempowski’s four-volume collection of wartime documents and correspondence, Das Echolot (‘The Echo Sounding Machine’). Two of the four parts of this quadrilogy focus on a single day (respectively the German attack on Russia on 22 June, 1941; and 20 April 1945); the two others on a period between one and two months each in 1943 and 1945, respectively. Kempowski, who is a professional novelist, in this collage documents the simultaneity of very different attitudes and beliefs, the contiguity of knowledge and ignorance, of good and evil, of public and private – all within a very brief span of time. Schlögel rejects such a panorama or juxtaposition because they would fail to highlight the sinister power structures and processes set in motion during 1937, which find their apogee in the disappearance of people into prisons, gulags and graves. Schlögel, instead, is after another literary effect, that of the uncanny: Die meisten Figuren Bulgakows sind ganz gewöhnliche Menschen […]. Ihnen widerfährt aber Ungewöhnliches. Daher bevölkern den Schauplatz gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Zeiten. Mit ihnen geschieht etwas, aber sie können nicht sagen, was. Irgendetwas passiert, aber es lässt sich nicht definieren. Über allem liegt eine Atmosphäre der Ungewissheit, der Unsicherheit, des Verdachts und der Verdächtigung. Niemand kann mehr genau sagen, wo die Wirklichkeit anfängt und das Phantastische beginnt.31

Let us look in more detail at Schlögel and his two shadows, Giusto Traina (428 A.D.: An Ordinary Year at the End of the Roman Empire – 2007) and Suzannah Lipscomb (1536: The Year That Changed Henry VIII – 2009). What do these texts do to present history, how do they achieve synchronicity, and what is the added value of their innovative technique? ––––––––––––––

31 Schlögel 2008: 50. Translation: ‘Most characters in Bulgakov are ordinary human beings […]. They have extraordinary experiences. One could therefore say that the book depicts common people in a time of uncommon, strange events. They are bound up in events that affect them, but they do not know what is happening to them. Something is going on, but it eludes definition. Over all there lies an atmosphere of uncertainty, insecurity, of mistrust and suspicion. Nobody knows anymore where reality begins and where fantasy ends.’ (My translation)

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3.1. Moscow 1937 Schlögel’s text is modelled on the modernist narrative technique of juxtaposition, spatial mapping and symbolic unification of disparateness and displacement. A comparison with James Joyce’s Ulysses (1922) may prove instructive. Joyce concentrates on Dublin, June 16, 1904, for his fictional world, compressing everything into one day. During that day he follows a great number of characters through Dublin, mapping their moves across the city, the intersecting of their paths, and their encounters, arranging these patterns both thematically and spatially, as the central “Wandering Rocks” chapter highlights in almost graphic manner. These disparate centrifugal plot strands are welded into a superimposed unity by having Stephen Dedalus and Leopold Bloom cross paths several times and finally meet and connect after chapter 15. An overarching frame is additionally imposed through the Ulysses story and the mythic method, the parallels with the Homeric plot. One could argue that Bulgakov’s novel serves a purpose quite similar to this function of Homeric myth in Joyce’s text. As Schlögel notes,32 Bulgakov’s plot includes many spies and a large number of inhabitants of Moscow who denounce their neighbours; it also invokes the Russian secret police by depicting the institution (“Behörde”) that secretly arrests people: Unentwegt verschwinden Menschen, das ganze Personal der Handlung. Das Verschwinden verdichtet sich in der Wohnung Nr. 50. “Genau vor zwei Jahren auch [sic] hatten unerklärliche Ereignisse eingesetzt: Menschen verschwanden spurlos aus der Wohnung. […]”33

Besides the disappearance of people, the novel also foregrounds executions, dwelling on the gruesome, macabre and bizarre elements of physical annihilation. These deaths leave a trace of shock and fear in the witnesses’ minds, resurging, for instance, in the nightmares of Professor Ivan Nikolayevich Ponyryow, who appears in the epilogue of Bulgakov’s text.34 For Schlögel, Bulgakov’s novel thus serves the function of a template that symbolically echoes and condenses the events of 1937 and provides a counterpoint to the narration of his study, which by employing fragmentation in fact mirrors the uncanny of unpredictable past historical experience. ––––––––––––––

32 Schlögel 2008: 52–53. 33 Schlögel 2008: 53. “And it was two years ago that inexplicable things began happening in the apartment: people started disappearing without a trace” (Bulgakov 1995: 63). 34 Schlögel 2008: 57–8; Bulgakov 1995: 332–4.

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To put this differently: Bulgakov has a similar function for Schlögel as Homer does for Joyce. Unlike Joyce, Schlögel is a master of the Kafkaesque and bizarre. Individual people living their lives as if reading a wellknown plot are surprised and overtaken by their coincidental confrontation with the secret police and an alternative reality of terror and fear. Rational expectations, ordinary life plans and normal courses of action are thus brought up short by the uncanny simultaneity with the suffering of others at the hands of a secret political mission. In the chapters that follow Schlögel’s opening gambit of a close reading of Bulgakov’s novel,35 Schlögel runs through a long list of settings, events and processes. We start with a delineation of Moscow’s architectural renewal: new streets are built with new representational architecture, all geared towards the new modes of transport: the car, the tram, the metro. Sewage canals, water pipes and electricity lines, hospitals, libraries and cinemas mushroom. Schlögel emphasizes the fantastic quality of this destruction and reconstruction process, its political impact (Stalin as the provider of these wonders, the elimination of dissidents), and the reality of less than optimal living conditions for those Moscovites residing outside the circumference of the new Moscow.36 This new architecture becomes an imaginary centre of the Russian state, symbolized above all by the Palace of the Soviets, the imaginary Stalinist centre of Moscow. This building displaces the Cathedral of Christ the Saviour, built after the 1812 victory over Napoleon and symbol of the old Orthodox Russia.37 Ironically, the attack on Russia by Hitler in 1941 stopped the completion of the Palace project, and after an interlude as swimming pool, the location was finally chosen for the building of a new Christ the Saviour Cathedral in 1995– 2000. The centre of Russian Stalinist power is therefore a displaced one, an elusive trace that the book follows through various channels. Chapter 3 (on the Moscow telephone directory and the elimination of large numbers of citizens in the purges) picks up on another Joycean allusion, since Joyce himself used Thom’s Dublin Post Office Directory (1886) to support his factual references in the novel.38 Schlögel goes through the lists of party members elected to the central committee (110 out of 139 were arrested39). The wave of arrests is “surreal”,40 thus exem––––––––––––––

35 36 37 38 39 40

Schlögel 2008: 33–57. Schlögel 2008: 82–5. See Schlögel 2008: 692–697. See Gunn/Hart 2004. Schlögel 2008: 97. Schlögel 2008: 99.

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plifying the ‘dream and terror’ conjunction of Schlögel’s title. At a different point, Schlögel notes the random boundary between truth and fiction in reference to the show trials: Es passt zu einer Geschichte, in der sich die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Fiktion auf lebensgefährliche Weise aufgelöst hatte, dass es von purer Willkür abhing, ob man in einem Prozess als Ankläger oder Angeklagter, als Richter oder Hingerichteter endete.41

The uncanny, the surreal, utopian dreams and horror-filled nightmares, truths that drift into fictionality and fictions imposed as quasi-truths – these are the qualities of lived experience in Moscow’s 1937. This oxymoronic collocation of antithetical elements reflects the simultaneity of the differential – the contemporaneous presence of, on the one hand, the contemporary advanced and, on the other, of the old-fashioned or obsolete, of the modern and the atavistic. It also echoes the citizens’ experience of the mundane, the normal and everyday, together with (and interrupted by) the unexpected, the mysterious, the extraordinary and the terrible. The chapters in their juxtaposition of topics mirror this simultaneity of seemingly irreconcilable opposites. The terror is thematized in one set of chapters that alternate with other everyday chapters, such as a chapter on the Pushkin anniversary (chapter 9) or on the Bolshoy Ballet (chapter 35). Celebratory occasions like the opening of the Moscow-Volga Canal (chapter 18) or Moscow’s pavilion at the World Exhibition in Paris (chapter 12) are juxtaposed with depictions of the Red Square as execution arena (chapter 13) or the exile and death of Georgy Dimitrov (chapter 26), and are in turn flanked by chapters on idyllic trips by boat down the Volga (chapter 21) or Arcadian holidays in Stalin’s Lunar Park (chapter 27). To summarize: Schlögel’s attempt to explain the ‘feel’ of 1937 embraces a wide range of different areas of life, but metonymically focuses on Moscow in 1937 as a turning point in Soviet history while metaphorically trying to characterize the specific atmosphere of shifting ground – the radical exposure to uncertainty, fear, loss and extermination undergone by the inhabitants of Moscow. Schlögel does not primarily describe personal experiences but a hypostatized collective atmosphere, drawing the reader into a web of imaginings which allow the contemporary audience to catch ––––––––––––––

41 Schlögel 2008: 197. Translation: ‘It is very appropriate that, at a time when the line between reality and fiction had started to dissolve in scaring and lifethreatening ways, it should be entirely arbitrary whether during the ongoing trials one found oneself to be prosecutor or defendant, in the role of the judge or that of the condemned man about to be executed.’ (My translation)

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a whiff of what it must have been like to have lived in those heady and fearful times. The book does not allow itself to be read as a particularly experiential rendering of history, though. Despite the fact that the text includes some sections that can claim to reflect experiential aspects of life in 1937 in Moscow, the overall thrust of the study – one could not really characterize it as either a ‘narrative’ or an ‘argument’ – targets the level of a reconstruction of collective fear. The occurrences are all eminently tellable, but their point, to some extent, remains out of reach; after all these years, the foremost impression, even for the well-informed historian, is that of a fata morgana, an illusion, rather than of a process that can be explained and therefore mastered through narrative or argument.

3.2. 428 AD: An Ordinary Year at the End of the Roman Empire Giusto Traina’s book on the year 428 AD, originally published in 2007, is a historical tour de force which seems to use the same strategy as Schlögel, but nevertheless achieves a quite different effect and uses the device for entirely different purposes. The book portrays the historical situation of the Mediterranean in 428 AD, moving anti-clockwise from Antioch via Armenia and Asia Minor to Constantinople and on to Rome, to Gaul and Spain, to North Africa, and back to the Sassanid empire. By these means, it evokes a panorama of different political and religious facets that were significant at the time. In the Preface, Averil Cameron argues that this tour d’horizon of the Mediterranean “encourages us to rethink our ideas about overall historical causation.”42 Moreover, by choosing the rather unobtrusive year 428 AD, Traina “in a single stroke cuts through and turns upside down the huge mass of current writing about periodization.”43 As somebody who is not trained in ancient history, I fail to appreciate the radical reorientation afforded by Traina’s book. However, from a literary perspective, I could observe that the geographically circular arrangement of the chapters is underlined by an additional device, that of recurrent allusion. Traina keeps referring to major figures of the world of 428 in his chapters. These references thread the discourse like a superimposed network, connecting the different regions by means of symbolic, political, religious or cultural influences. Travel is a major means of linking the regions, but so are the ––––––––––––––

42 Cameron 2009: ix. 43 Cameron 2009: x.

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figures of emperors, priests, theologians and generals. The unity of the Mediterranean is evoked by means of preparing for the later treatment of a major figure already several chapters ahead of its thematic prominence, and by referring back to people who had already figured prominently in earlier chapters. This technique does not give us contemporary experience in 428 AD (or experientiality), but it helps to convey an impression of unity to the reader absorbing the information. Providing a collage of disparate areas of the Roman Empire in 428 AD, Traina by these crossreferences manages to sketch a field of force in which what happens in Constantinople reverberates in Spain, and what St. Augustine writes down in North Africa has repercussions in East and West alike. To give the present reader some indication of how this works, one can point to the relationship of the first five chapters with one another. Chapter 1 deals with a trip undertaken by the head of the Roman army in the East, Flavius Dionysius, on a secret mission involving the Sassanid empire and Armenia. Hence, the role of the Sassanids – to be the endpoint of Traina’s journey round the Mediterranean – are already treated in detail. Flavius Dionysius visits St. Simeon Stylites (and is healed by him) before starting his trip, and St. Simeon reappears in chapter 2, which is devoted to Nestorius and his journey to Constantinople. This trip along the pilgrims’ road through Galatia with its capitol Ancyra alludes to the Celts (to figure prominently after chapter 6); it is, moreover, described on the basis of an earlier source, the Itinerarum Burdigalense from 333, a travelogue by a lady from Bordeaux. (Bordeaux will figure in chapter 7.) Chapter 4 on Constantinople, the destination of Nestorius’ trip, introduces more religious concerns, but even more importantly puts Theodosius II on stage. Theodosius will be mentioned in all chapters that follow, up until chapter 8, which dwells extensively on St. Augustine. In chapter 4 we also already encounter a first reference to Augustine in a quotation from The City of God. The technique is used throughout the book. Mention of the Goths and Vandals, Ravenna, Pope Celestine, Pelagius, Aetius, Prosper of Aquitaine and other places and names is employed in the function of pieces in a mosaic that subtly invoke connections between geographical locations, power blocks and theological positions. 428 AD therefore uses the same technique of choosing one year, but does so for entirely different ends, achieving a striking historiographical effect that is to some extent the opposite of Schlögel’s. Where Schlögel is much closer to cultural history in trying to evoke life in 1937, even though taking a visual position from above, Traina chooses a bird’s eye view on

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the Mediterranean combined with a zoom on particular figures to draw historical connections that often would have had no reality in the minds of the people he depicts. As a historiographical text, Traina’s book also shies away from representing experience except when quoting directly from egodocuments. Thus the city of Antioch is not described at all; instead it is emphasized that different perspectives on it could be discovered: It is, in fact, very difficult to recognize the Antioch of Nestorius in the one so closely tied to the traditions of the Greek polis that is evoked in the works of Libanius, the great pagan rhetorician who died around 393 (the year of Theodoret’s birth). But Libanius’ world was only one of this great city’s many faces. With more than two hundred thousand inhabitants, the city, which had once been the capital of the mighty Seleucid Empire, was made up of a composite and multilingual population in which Hellenic and also Aramaic pagan traditions coexisted with fervent Christianity that often bordered on heresy. On the other hand, both pagans and Christians agreed in depicting the city as a breeding ground for vices and temptations, the ‘inevitable defects’ of the great cities of all times. In his evocative writings, Peter Brown has defined Antioch as ‘a world of its own.’ Both center and periphery, this metropolis clearly reflected the tensions in the area – the military frictions that troubled the eastern sector, and the development of the caravan trade to Central Asia and the Far East.44

At the end of reading this passage, we do not have a clearer sense of what Nestorius actually saw in Antioch; what we get is a reconstructed kaleidoscope of a metropolis that is based on a speculative combination of elements gleaned from the various sources. At another point in the text we do get a reference to what Theodosius thinks, but it is not his raw experience that lies at the heart of the chosen passage which recounts an episode in the life of Shenute, “a leading figure in Coptic monasticism”45: His [Shenute’s] works and the hagiography written in Coptic by his disciple Besa, contain numerous details on everyday life of the time, but unfortunately we cannot date them with the desired accuracy […]. The exception is the reference to his participation in the council of Ephesus, at which the abbot is supposed to have supported Cyril against Nestorius, although we cannot be certain that this was in fact the case. Besa portrays his spiritual father as a smallholder’s son who was profoundly attached to his land. This is demonstrated by his reaction to the arrival of a messenger of Theodosius’. The emperor wished to have the holy man’s blessing for himself and for Constantinople, and is supposed to have sent an official to bring him to the palace. But Shenute did not like to leave his land, particularly when he was ordered to. So God, the biographer tells us, had him perform a mysti-

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44 Traina 2009: 9. Footnotes 7–10 referring to sources and historical research on Antioch have been eliminated from this quotation. 45 Traina 2009: 96.

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cal flight to appear before Theodosius, bless him and convince him to discharge the military escort that had been sent to bring him to the palace.46

This passage tells us little about Theodosius’ experience, though much about political tactics, and it is therefore quite representative of historiography, as being endowed with very little narrativity. Traina, one can therefore argue, uses the choice of a year less to foreground specific events or a momentous experience, but to provide an overview of Late Antiquity, the ‘feel’ of the Mediterranean as a multicultural realm embraced by a common culture that is being eroded by forces from outside that have already made their way into the empire. In a sense, then, whereas Schlögel caters to past historical experience by giving us at least an analogue of histoire vécue, Traina projects contemporary historical experience on late Roman antiquity and provides a video show of snapshots made possible by historical research and our retrospective viewpoint.

3.3. 1536: The Year that Changed Henry VIII Suzannah Lipscomb’s study of Henry VIII is a much more traditional historical work; its mode of writing is argumentative. Lipscomb tries to present her thesis that 1536 was the year in which Henry VIII changed his character, had Anne Boleyn executed, and started on a career of tyranny. The choice of the year is the main thesis of the book; in fact, the study starts with a summary of Henry’s early life and continues into 1537 and the Pilgrimage of Grace (the Northern Rebellion). The study is therefore narrative, but also very discursive in considering the available evidence and previous scholarship on each and every point of that story. Despite clearly differing from 1937 and 428, Lipscomb’s 1536 also provides a tableau from different perspectives on Henry’s character and on the possible events that might have triggered the change. This structure is innovative, to the extent that it focuses less on a chronology of events than on detective work of a historical and psychological nature. Thus, the seventh chapter discusses the possibility that Anne Boleyn only had a phantom pregnancy or produced a malformed foetus, which she lost.47 Despite the ostensibly innovative form, this history is nevertheless fairly traditional in its focus on Henry VIII, in its historiographical ductus, and in its Brit––––––––––––––

46 Traina 2009: 96. 47 Lipscomb 2009: 67, 69.

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ish48 attempt at popular appeal through a highly accessible (even journalistic) writing style. Lipscomb, one could argue, participates in the current trend only through coincidence; her choice of a particular year is not motivated by innovative historiography but thematically and factually by her subject. She is also the most traditional in her use of narrative as discourse mode, in opposition to the descriptive preferences of Schlögel and the reduced narrative scope of Traina.

4. 1926 and All That We have been looking at a number of experiments in historiography that use the choice of a particular year to spatialize the discourse. As already noted above, the techniques employed by Gumbrecht, Schlögel and Traina result in a Modernist, and sometimes postmodernist, aesthetic that deploys juxtaposition as one of its major textual strategies, utilizing the resulting fragmentation as a symbolic source. While Traina mirrors actual disparateness and separation and weaves into his discourse a pattern of crossreferences and motifs that limit the geographical dispersion, Schlögel harnesses the ambivalence of presence and absence that his geometric vision of power affords to the dominant theme of the Stalinist terror, which is the main focus of his study. Gumbrecht, in a much more literary move, indulges in associative cross-reference (here a parallel to Traina), but actually produces a deliberate dispersal of meaning (rather than Traina’s connecting web), a dispersal that – like the gap between dream and terror, modernity and atavism in Schlögel – underlines insecurity and emotional upheaval. A brief look at Gumbrecht is instructive. To call the book a literary history is in fact misleading. It is an extravaganza, a feat in literary free association. Let us take Gumbrecht’s entry on “Ocean Liners”, for instance. Rather than starting to tell us about the make of ocean liners in 1926, who was generally apt to travel on them, or what a passage cost, the entry begins with a consideration of Agatha Christie’s famous novel The Murder of Roger Ackroyd (1926),49 which has no ocean liner setting. The reference refers to a fairly marginal reference in the detective story, which is, however, crucial to the plot: the murderer, Dr. James Sheppard, has received a phone call in the presence of his sister, which gives him an alibi. ––––––––––––––

48 I am particularly contrasting Lipscomb with the much more scholarly German style used by Schlögel. 49 Gumbrecht 1997: 164.

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However, this phone call was not put through by the butler of the murdered Roger Ackroyd but by the steward sailing away on an ocean liner, who is suitably out of reach. Gumbrecht continues: Of course the content of the telephone call, which, under some pretext, Sheppard asks his American patient to put through to him, has nothing to do with the crime. But its function in Christie’s novel reveals the ambiguities and liminalities of travelling on ocean liners. Passengers on ocean liners are indeed ‘well out of the way,’ beyond the reach of the laws and of many other everyday constraints. The world of ocean liners – a world without stable ground – is an unreal world. [see Uncertainty vs. Reality] This is why Sheppard can legitimately hope that the steward who sails on the Orion will never testify against him. But passengers on ocean liners are out of the everyday world only for a limited time, and, given the latest developments in communications technology [see Wireless Communication], they are never totally unreachable. Poirot’s exchange of wireless messages with the steward, who has unwittingly come to play such an important part in Sheppard’s plot, leads to the conviction of the murderer.50

This motif of the liminality (being between two worlds, in a nowhere space) is then elaborated and examined for other motifs that it often occurs with: the social hierarchy on ship (hands vs. first-class passengers), the passage as a black box when the ship is used by a stowaway51 and as a moment of escape that turns out to be illusory (like Dr. Sheppard’s failed trick, which does not fool Poirot); in fact, the traveller is often arrested on arrival.52 Ships also serve as job opportunities for boxers and artists. The entry ends with a quotation from B. Traven’s Totenschiff (1926), illustrating yet another motif, that of death and transcendence (“[see Immanence=Transcendence (Death)]”)53 associated with the ocean, and therefore with ocean liners. Gumbrecht’s entry thus provides a delineation of an educated reader’s literary associations regarding the topic of ocean liners in works published in 1926, invoking also what people would have known about them as an idée reçue in 1926. This results in a text which has only a tangential relation to literary history, although it might be closer to a cultural history of literary motifs. As Gumbrecht explains in the preface (called “User’s Manual” – perhaps in allusion to Georges Perec’s La vie mode d’emploi, 1978), the book is meant to “cater”, as he puts it, to the specific desire […] ‘to speak to the dead’ – in other words, a desire for first-hand experience of worlds that existed before our birth. In catering to this desire, the

–––––––––––––– 50 51 52 53

Gumbrecht 1997: 165. Gumbrecht 1997: 167. Gumbrecht 1997: 166. Gumbrecht 1997: 170.

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book brings forth – more implicitly than explicitly – certain features of what ‘we’ (educated people within the Western culture of 1997) imagine ‘history’ to be.54

Further down on the same page, Gumbrecht moreover labels this approach as one “concerned with historical simultaneity” – an oxymoron since history usually is conceived as diachronic rather than synchronic. One can immediately see how appealing that must have been to Schlögel and to Traina (if he was inspired by Gumbrecht, which I do not know). The cited passage also illustrates Gumbrecht’s use of crossreferencing, which is very different from that in actual reference works, where the idea is to help the reader get more in-depth information on a particular topic or person. Not only does Gumbrecht’s book have no entries on persons except for the three ruling minds of the book, Heidegger, Hans Friedrich Blunck and Carl van Vechten (tucked away in the final “Frames” section); the cross-references are especially galling to those who expect relevancy and informational bite. In fact, in a section preceding the discussion of Heidegger, Blunck and van Vechten, Gumbrecht expatiates on the obsolescence of historical learning – one can no longer learn anything from history; and this attitude certainly seems to link with the extensive and notable absence of facts in this pseudo-reference book. As Gumbrecht opines on page 420, “since the 1970s, however, what we perceive as ‘the present’ has been considerably extended – transforming itself into a space of simultaneity”, a simultaneity which he argues to be incompatible with subjectivity.55 This stance explains not only the curious irrelevancy of the cross-references, which set the reader on a journey of associative discovery, but also the strange combination of Gumbrecht’s notable subjectivism in his associative weaving of the text with the absence of events and experiences. The book in fact has no definable experientiality and it also treats of historical experience only to the extent of contemporary historical experience; past historical experience or experience vécue fail to emerge since there are no historical subjects to whom such experience could be attributed, except for the characters in the books discussed, whose fictional experience – if at all – only indirectly hints at people’s experience of life around them in 1926. Of the three histories – and I think one can leave Lipscomb aside –, the Gumbrecht “literary history” is most representative of (literary and cultural) experience, though very much in the manner of Bouvard and Pécuchet’s histoire des idées reçues and focusing on present-day history ––––––––––––––

54 Gumbrecht 1997: xii. 55 Gumbrecht 1997: 420.

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experience; Schlögel’s Moscow fantasia also conveys much actual experience, though the bird’s eye view that is superimposed on it again splits that experience in interesting ways, introducing an ‘omniscient’ historian and observer from above who distorts the individual’s viewpoint on the ground. Traina, finally, can be positioned even further from the historical subject’s experience. What these different experiments document is not an increase in historiography’s experientiality in the narratological sense, but an enhancement of readerly empathy through indirect means. Instead of a ruling chronology, these texts institute a ruling geography or geometry. Sequence is replaced by contiguity. In this way, they adapt and expand Le Roy Ladurie’s Mediterranean model of geographic primacy, but take off in entirely different directions after that initial step of privileging space over time. If one wants to find a text that foregrounds experience and experientiality, one needs to look at Walter Kempowski’s quadrilogy. This experiment gathers together all sorts of texts, the large bulk of them personal ego-documents like diaries, letters and reminiscences. In the volume on June 1941, which I would like to focus on here, immediate experience is evoked by brief letters from the front like the following: Der Leutnant Walter Melchinger 1908–1943

Ukraine

Die Bilder rechts und links der Strassen sind die gleichen wie gestern. Krieg. Ganz rührend ist die Bevölkerung. Sie bringt uns Blumen, weint vor Freude, kniet vor uns nieder und küsst unsere Hände, bringt uns Milch, Eier, Wasser zum Waschen. Dem fliehenden Feind dicht auf den Fersen. Immer noch [nach?] [sic] vorne. Es ist eine Lust, Soldat zu sein. Tag und Nacht. Keine Zeit zum Schreiben. So hab ich’s ersehnt. Es ist die Erfüllung aller Wünsche.56

Juxtaposition in Kempowski is used primarily to imply a moral evaluation of the events, although the juxtaposition operates not merely in immediate contiguity but also across the entire seven-hundred page book. Thus, Melchinger’s naïve pro-war attitude is contrasted with Evgenia Ivanova’s narrative of her family’s flight and evacuation from Hangö, Finland, to Tallinn, a trip in insanitary ships on which passengers suffer from a lack of water;57 but it is also to be contrasted with Ukrainian, Litovian and German massacres (e.g. 228–30, 260–1, 323) and the terrible fate of starvation endured by the inhabitants of Leningrad during the siege (e.g. 457–61, –––––––––––––– 56 Kempowski 2002: 136. 57 Kempowski 2002: 128.

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701–2), rendered in documents full of hair-raising scenes of misery that are in turn tellingly juxtaposed with letters from Germany where life seems to go on much as usual (e.g. 528–9, 571–2). Another interesting contrastive experiment that actually focuses on experientiality in the narratological sense is Simon Schama’s Dead Certainties: Unwarranted Speculations (1991), a text which he himself regards as a purely fictional text. Dead Certainties is constructed on two basic principles: multiperspectivism in the specifically narratological sense 58, and juxtaposition. The juxtaposition concerns the fact that the book deals with two main topics which are separated in time and space: the death of General James Wolfe at the siege of Quebec in 1759; and the trial of John Webster, Harvard professor of chemistry, for the murder of George Parkman. These two topics are linked in the most tenuous fashion by the fact that the first part on Wolfe contains a section on the testament of Francis Parkman, the explorer, whose uncle George Parkman “had just recently been murdered by a debtor of his who happened to be a Harvard Professor of Chemistry.”59 Francis Parkman, moreover, also wrote a history of General Wolfe, cited in Part I. The feature of multiperspectivism is extremely prominent in the text. Unlike the Schlögel and Traina experiments, it is, however, not primarily achieved by means of juxtaposition or the superimposition of a quasiomniscient perspective, but by the extensive use of internal focalization in the portrayal of historical subjects. Thus, in Part I, the viewpoint that opens the narrative is that of a foot soldier in Wolfe’s army; this is followed by a passage largely from Wolfe’s perspective but with some ‘authorial’ comments; then there is a section on Benjamin West’s portrait of Wolfe dying on the battlefield; then the Francis Parkman insert, which is chronologically also much later; and, finally, the perspective of the messenger on Wolfe as he lies dying on the battlefield when he delivers the news of the British victory. Part II tells the detective story of the Parkman murder, alternating between passages that are written from the consciousness of the prosecutor George Bemis, the defence counsel Ned Sohier, the concierge Ephraim Littlefield, and of a member of the crowd, giving us the public opinion on the accused. The montage of different viewpoints suggests that ––––––––––––––

58 On multiperspectivisms see Neuhaus 1971, Schönert/Segeberg 1988, Nünning/ Nünning 2000 and Surkamp 2003. Schama’s use of multiperspectivism has been discussed with great insight by Doleel 2007 in a brilliant essay on postmodernist historiography. 59 Schama 1991: 57.

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Webster may be innocent, a prey to the machinations of Littlefield, but the author does not come to a clear verdict one way or the other. Schama thus alternates personal narrative (“‘Twas the darkness that did the trick, black as tar, that and the silence, though how the men contriv’d to clamber their way up the cliff with their musket and seventy rounds on their backs, I’m sure I don’t know even though I saw it with my own eyes and did it myself before very long”60) with a narratorial voice: It was the light that did the trick; a clean, shrewdly directed radiance illuminating the face of the martyr and bathing the grieving expressions of his brother officers in a reflection of impossible holiness. Benjamin West picked up this piece of artfulness from the stage (along with his device of arranging spectators on a platform projecting through the picture space as though it were a proscenium). In the theatre, candle-footlights or a hooped chandelier would highlight action on centre stage against a background of carefully darkened obscurity from which characters would emerge or dissolve. West went one better by tearing back a patch of black cloud to expose a space of cerulean, celestial blue sky through which the sun shone; a light of sacred purity that seemed to embrace the expiring Hero. It was a stupendous piece of drama: brilliance and gloom, victory and death, saintly sacrifice and inconsolable sorrow set side by side, the sunlit sky of the imperial future banishing the grim clouds of past dissatisfactions.61

and with passages of internal focalisation How would he dare face Amherst, the commander of the expedition, or Pitt, who had been so criticized for putting his faith in a stripling major-general still in his thirties? He dreaded the jeering of the merciless coffee-house press; the caricaturists for whom his peculiar physiognomy must have seemed heaven-sent; the howling catcalls of the theatre as some half-drunk actor bawled a profane air at his expense. How could he greet his betrothed, who overlooked his curious phiz and figure and his graceless manner as the eccentricities of one born for a heroic fate? How could he look his father, the General, in the eye, and worst of all what would he say to his exacting, adamant mother?62

with passages that seem authorial: By seven o’clock the low clouds and drizzle that hung over the Heights of Abraham had given way to a gentle sunshine. Wolfe and his three brigadiers – Murray, the dependable Monckton and the erratic Townshend – had placed their lines in battle order. For the first time in the whole campaign, it was the British who waited, the French who had to react. A stillness descended on the grassy plain,

––––––––––––––

60 Schama 1991: 3 (the footsoldier’s perspective). 61 Schama 1991: 21–22 (opening of chapter 2) 62 Schama 1991: 10 (reporting Wolfe’s thoughts and anxieties).

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broken only by the occasional crack of musket fire coming from Indian and Canadian shooters hidden in the woods to the left of the British lines.63

There is additionally the evocation of public opinion, for instance the common man’s impression of Professor Webster: Skyrocket Jack? Oh, he was affability itself, was Professor John Webster, a man who lived to make others cheerful. You could see it in his frame and deportment, an endomorph: plump and padded, curly haired, a beaming countenance; expansive salutations, a warm handshake, an open door, a thoughtful host, a dab hand at whist (careful to lose to the ladies), a man with a firm grip on the neck of the decanter and a constantly inviting expression. In the cause of conviviality he was resourceful, too. Was he not the inventor of the Class Day Spread – a feast of pasties and dainties and summer punch set out on crisp linen in Harvard Yard? Had he not insisted on fireworks to mark the inauguration of handsome President Everett? His was the other face of Yankeedom; as genial and open as George Parkman’s was austere and closed.64

All of these different styles serve to immerse one in the ‘feel’ of Quebec during the battle and of Cambridge/Boston, and they do so by focusing the situation through the people involved but supplemented by the knowledgeable retrospective viewpoint of the historian novelist. For the purposes of this article and its leading question concerning experience and experientiality, Schama’s book is a treasure trove: it displays a manifest emphasis on the experience of historical subjects rendered in extremely verisimilar manner; and it is also an example of historiographic experientiality that echoes that of the modernist novel. But, even in Schama’s own view, the text is a novel, and not history. All of which tends to suggest that experientiality does not in fact play an important role in real historical texts after all. Kempowski’s montage of ego-documents does not falsify this conclusion; it rather corroborates it since it is no historiographic text in the academic sense but merely a collection of sources out of which a historian might construct a history. As a summary of my journey into historiography, I can now report that experimental history writing, even at its most experience-focused, is still not particularly experiential. At most the collective experience of a segment of the population can be conveyed by very literary techniques; when the emphasis on individual consciousness gets too extensive, though, the resulting experientiality immediately comes to do battle with the notions of verisimilitude and the scholarly requirement of truthfulness and reliance on ––––––––––––––

63 Schama 1991: 8 (passage following the section heading “The Life of General Wolfe”). 64 Schama 1991: 139 (opening of chapter 4 of Part II).

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sources. My conclusion is therefore that what the analysed experiments do achieve at best is not a rendering of experientiality but of historical experience, mostly past historical experience, conveyed by means of juxtaposition, analogy and symbolism. Paradoxically, the model for Schlögel and, possibly, Traina, Gumbrecht’s 1926, actually focuses on contemporary rather than past historical experience. The model has therefore been one of form in its emphasis on simultaneity; in other respects this new mode of experimental historiography (if one can call it that) displays considerable aesthetic and qualitative diversity and therefore does not necessarily recommend itself as an innovative writing style useful for a wide array of subjects and themes.

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Erleichterte Erkenntnis Wie man narratistisch den realen Ballast abwirft und die Wissenschaft loskriegt*

EGON FLAIG Fachliche Unterschiede in den Kulturwissenschaften einzuebnen, methodische Differenzen zu verwischen, indem man alle Ausdrucksweisen als ‚Sprache‘ deklarierte, dieser Trend ist in jenem Sand ausgelaufen, auf dem lediglich die letzte Welle Spuren hinterlässt. Eine Gestalt des Lebens ist alt geworden, wie Hegel sagt, und kann sich dem kalten Blick nicht mehr entziehen, mit welchem die Eulen der Minerva in der Dämmerung sie streifen. Rückbesinnung also. Diese gleitet in diesem Aufsatz auf einer reflexiven Schlaufe vom erzählenden Produzieren von ‚Erfahrung‘ und deren orientierender Funktion hin zur Frage nach der ‚Tatsache‘ in den historischen Kulturwissenschaften, vorbei an der Dekonstruktion, welche links liegen bleibt.

I Geschichte wird nicht erfahren. Erfahren wird Geschehendes. Es wird erfahren insofern, als Akteure es erleben und während des Erlebens schon mit Bedeutung versehen. Doch der Erinnerung, welche das Erlebte nun als Erfahrenes zu speichern sucht, wird es nicht gelingen, es später so zu reproduzieren, wie es erfahren wurde. Die Bedeutungen verschieben sich unablässig; und ihre Verschiebungen erfassen die Erfahrung selbst, ja sie entwerten vielleicht erlebte Einzelheiten in einem solchen Grade, dass die Erinnerung sie nicht mehr aktivieren kann.1 Erst im Rahmen eines kollektiven Gedächtnisses wird individuell Erlebtes überhaupt beziehbar auf –––––––––––––– * 1

Einige der hier vorgetragenen Argumentationen finden sich bereits in Flaig 2007a. Vgl. Ricœur 2000: 98f.

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‚Geschichte‘.2 Und in diesem Rahmen sind Erinnerungen konstitutiv, die das Subjekt gar nicht selber haben kann, Erfahrungen, die es selber gar nicht gemacht hat. Freilich spielen Narrative in diesem Rahmen eine hervorstechende Rolle. Denn durch Narrative entstehen Erfahrungen, die von den weitererzählenden Individuen nicht gemacht wurden, aber weitergegeben werden, als seien sie ‚betroffen‘. Politische Kollektivsubjekte zelebrieren ihre Gedächtnisorte; und die realen Individuen, welche diesen Kollektiven zugehören, eignen sich die erzählten Geschehnisse an. Dabei droht Reminiszenz manchmal in Reviviszenz umzuschlagen, insbesondere beim Evozieren jener kollektiven ‚Leiden‘, welche mit den Biographien der jetzt lebenden Angehörigen so gut wie nichts zu tun haben, aber beschworen werden zum Zwecke der Identitätsstabilisierung. Dass hierbei politischer Sprengstoff sich anhäuft, braucht nicht erwähnt zu werden; indes, hier beginnen auch die geschichtstheoretischen Probleme. Der heimkehrende Odysseus wird vom Schweinehirten Eumaios zum Mahl geladen, damit er von seinem Leiden erzähle – denn nichts sei doch wohltuender als Erlittenes zu erzählen; tatsächlich bekommt Eumaios gar nicht genug. Angenommen Odysseus hätte so Schreckliches erlebt, dass sein gesamter Sinnhorizont zerstört worden wäre. Dann hätte er Eumaios bitter enttäuschen müssen; denn Odysseus wäre stumm geblieben. Erzählen setzt nämlich voraus, dass man das eigene Leid in eine sinnvolle Kohärenz von Widerfährnissen einfügen kann. Aber solche Kohärenz kann sich nicht ergeben, wenn mit einem Schlag aller bisherige Sinn verloren ist. Mit gutem Grund lässt sich der Begriff des Traumas mit demjenigen der Katastrophe sachlogisch konnektieren: Ein Trauma besteht genau darin, dass das katastrophale Ereignis außerhalb desjenigen Sinnzusammenhangs steht, den man zur Verfügung hat.3 Es ist somit an eine ‚absolute‘ Katastrophe gebunden.4 Bei dieser versagt die Maxime des Schweinehirten Eumaios. Eine Gemeinschaft, deren kollektive Identität von fatalen Ereignissen angeschlagen wurde, hat die Katastrophe narrativ zu bewältigen, falls ihr eben diese Identität nicht abhanden kommen soll.5 Gewiss. Denn die Funktion, Orientierung für ganze Kollektive in Zeit und Raum zu geben, hängt in hohem Maße an den Erzählungen. Aber gerade darum heizten die frenetischen Beschwörungen der ‚identity‘ – vorhandener oder erst diskursiv zu –––––––––––––– 2 3

4 5

Vgl. hierzu Flaig 1999: 31ff. Vgl. hierzu umfassend: Rüsen 2001: 29–38, 145–179 und v.a. die brillanten Ausführungen 148–157. Vgl. zu diesem Begriff Flaig 2007b. Vgl. Straub 1998 sowie Ricœur 1985: 439–448.

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erschaffender – unweigerlich die Produktion von Narrativen an, welche die globale Welt der Printmedien und Flimmerbilder überschwemmt. Diese narrative Überproduktion mit entregelten Kämpfen um die Absatzmärkte haben eine Weile auf manche Sparten der Geschichtswissenschaft gelegentlichen Druck ausgeübt, auf andere überhaupt nicht. Nun ist Wissenschaft begrifflich. Begriffliches ist unanschaulich. Begriffene Geschichte ist darum grundsätzlich und radikal unanschaulich. Aber Historie, die orientieren will, muss anschaulich sein. Auf der Fachdisziplin lastet der Druck, narrative Darstellungen zu liefern, d.h. sinnhaft zugerichtete Repräsentation von Vergangenem zur ästhetischen Aneignung. Dieser wird zugemutet, Orientierung zu erzeugen. Wird diese Leistung verweigert, droht als Strafe der Entzug von öffentlicher Aufmerksamkeit. Und ein solcher Entzug hat für den Wissenschaftsbetrieb direkte Folgen. Die notwendige Unanschaulichkeit der Wissenschaft und die geforderte ästhetische Konsumierbarkeit widersprechen sich also. Die Versuche, Historie aufs Erzählen zu festzulegen, um ihr dann die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, erfolgen nicht mehr so heftig, haben aber dennoch nicht aufgehört. Jene ‚Krise der Repräsentation‘, von welcher einige Zeit die Rede war, hat in der Fachwissenschaft kaum Spuren hinterlassen. Historiker forschten in den 1990er Jahren und schrieben – teilweise auf beachtlichem Niveau – ihre Werke, ohne sich um die Krise zu kümmern. Überwiegend haben sie diese Krise gar nicht bemerkt. Vielleicht lag das daran, dass diese Krise sich vor allem in interdisziplinären Zentren ereignete. Sehr aufmerksam verfolgten die Fachkollegen aber die ‚Krise der Zeugenschaft‘, als sich immer wieder herausstellte, wie brüchig – um es milde auszudrücken – die Erinnerungen waren, auf welche man sich stützte, um zeitgeschichtliche Themen zu erforschen, insbesondere solche im Umkreis der Shoah. So bereits beim Prozess gegen Frank Walus, der nach Zeugenaussagen in Polen als Gestapo-Agent tätig gewesen sein sollte, und der hinterher rehabilitiert werden musste, weil sich in seinem Fall 12 Zeugen geirrt hatten.6 Doch anstatt behutsamer zu handeln, erklärte Elie Wiesel der Geschichtswissenschaft den Krieg: „Any survivor has more to say than all the historians combined about what happened.“7 –––––––––––––– 6

7

Das brachte David Geller, ein Vorstandsmitglied des American Jewish Committee, zur Befürchtung: „One of our greatest concerns regarding the development in this case is that the fact of having 12 witnesses proved wrong will have a very negative spill-over effect on the credibility of such witnesses in similar cases.” (D. Geller zu Abe Karlikow, 19. Febr. 1980, AJCommittee Files, BGX, 1980, Nazis). Cargas 1986: 5.

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Den ‚Zeugen‘ zum Halbgott zu erheben, konnte nicht gut gehen; diese Mystifizierung führte bloß dazu, dass die Halbgötter sich wild vermehrten. In beinahe ebenso steilem Gefälle stieg das Misstrauen von professionellen Historikern in die Gewährsqualität der Überlebenden; freilich erfolgte dieser Anstieg eher unspektakulär. Doch es sind die unspektakulären, molekularen Verschiebungen, die sich langfristig bemerkbar machen, in den Kautelen, den kleinen forschungspraktischen Selektionen. Erfahren wird vieles. Aber wenn die Erinnerung trügt, dann ist die Erfahrung, obwohl ergreifend erzählt, für den Historiker teilweise oder vollkommen wertlos. Der bittere Satz von Primo Levi, die Geretteten vermochten nicht für die Untergegangenen Zeugnis abzugeben, war leise gesprochen; er gewann an Schallstärke je länger er in den Resonanzkästen der Reflexion zirkulierte. Freilich wussten Historiker ohne schmalspurige Ausbildung das schon immer. Das Zeugnis des Zeugen ist vor allem Selbstzeugnis. Eine Erzählung, die ‚subjektive Wahrheit‘ beansprucht, ist deswegen noch lange nicht wahr. Damit ist der Daumen auf die neuralgische Stelle gesetzt: Für die Geschichte als Wissenschaft ist es von kardinaler Bedeutung, ob eine Erzählung wahr ist oder nicht. Für Literaturwissenschaften ist das unwichtig. Hier verläuft die Kluft.

II Schon 1858 betont Johann Gustav Droysen in seiner Historik die Wirkungen der Perspektive. Er bemüht sich, ein fundamentales Missverständnis auszuräumen, nämlich den Köhlerglauben, Perspektivismus und Wahrheit schlössen einander aus. Das Gegenteil ist wahr. Zwar können Tatsachen nur innerhalb von Perspektiven, ergo von Interpretationsrahmen überhaupt auftauchen. Sie sind aber auf etwas bezogen, was allererst der Interpretation ihre Anhaltspunkte liefert, und was daher der Unterscheidung richtig/falsch unterworfen bleibt. Sogar Georg Simmel behält diese empirische Rückbindung des Wahrheitsbegriffes bei: „Und tatsächlich haben wir gar kein anderes definitives Kriterium für die Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden, als daß die auf sie hin eingeleiteten Handlungen die erwünschten Konsequenzen ergeben“.8 Diese Unterscheidung – richtig/falsch – konstituiert den Wahrheitsbegriff Kants, im Unterschied zur späteren hermenutischen Tradition im Gefolge Heideggers und Gadamers. –––––––––––––– 8

Simmel 1989: 103.

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Um ein Beispiel von Chris Lorenz aufzugreifen: Wenn am 22. Januar 1793 ein Pariser Dienstmädchen sagte: „Gestern haben sie meinen König ermordet“, dann berichtete sie eine Tatsache; sie machte eine wahre Aussage. Wenn ein jakobinischer Magistrat am selben Tag mitteilte: „Gestern wurde der Bürger Louis Capet hingerichtet“, dann berichtete er ebenfalls eine Tatsache; auch er machte eine wahre Aussage.9 Beide Aussagen sind konträr, sie entspringen einer unterschiedlichen Perspektive. Aber beide Aussagen sind nicht kontradiktorisch; sie beziehen sich in richtiger Weise auf einen Sachverhalt. Der jeweilige Interpretationsrahmen ist außerstande, diesen Sachverhalt zu modifizieren; er lässt kontradiktorische Aussagen darüber nicht zu. Falsch wäre die Beziehung zwischen Aussage und Sachverhalt, wenn der Sprecher sich im Datum irrte, oder bestritte, dass der Hingerichtete (Getötete) jemals die Position eines Königs von Frankreich innegehabt hätte, usw. Aus beiden konträren Aussagen lassen sich Sachverhalte erschließen, die dem Historiker wichtig sind, nämlich den Verlauf der Hinrichtung Ludwigs XVI. oder die Einstellungen zu dieser Hinrichtung. Die unterschiedlichen Perspektiven tilgen nicht die Richtigkeit von Tatsachen, nämlich jener Sachverhalte, welche den konträren Tatsachenaussagen vorgeordnet sind. Das Beispiel veranschaulicht das Verhältnis von Perspektive und Wahrheit. Gerade weil alles Erkennen perspektivisch ist, ist es objektiv. Da wir nicht Gott sind, sondern endliche Wesen, ist unser Erkennen standortgebunden. Und gerade deswegen können wir irren. Aber weil wir irren, gibt es Wahrheit. Angesichts dieser Überlegung wird offensichtlich, wie unsinnig es ist, die Ungewissheit als spezifisches Merkmal derjenigen Gegenstände zu bezeichnen, mit denen es die historischen Wissenschaften zu tun haben: „Weil die Vergangenheit kein Bereich menschlicher Erfahrung, kein Bereich innerhalb der Erfahrungswelt ist, bleiben historiographische Konstruktionen unsicher, hypothetisch, spekulativ.“10 Wer einigermaßen bewandert ist in Philosophie und ein wenig mit Transzendentalphilosophie vertraut, muss hier stutzen. Denn gerade dort, wo Menschen Erfahrungen machen, irren sie. Empirie ermöglicht Urteile; und diese sind überholbar durch andere Erfahrungen. Nichts beweist die Existenz von ‚objektiver Realität‘ besser als der Irrtum: Eine Aussage oder Einsicht ist nur deswegen ein Irrtum, weil sie ihren Gegenstand verfehlt, weil andere Aussagen evident richtiger sind. ––––––––––––––

9 Vgl. Lorenz 1997: 28–33. 10 Rusch 1987: 441.

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Erkennen ist perspektivisch; und doch liefert die eine Perspektive wahrere Erkenntnisse als die andere, weil sie zu richtigeren Ergebnissen führt. Perspektiven sind erkenntnistheoretisch nicht gleichwertig, sondern manche lassen viel mehr zum Vorschein kommen als andere. Für Droysen war es selbstverständlich, dass die „historische Wahrheit freilich nur relativ die Wahrheit [ist] […] in meiner Gegenwart“11. Die Geltungsansprüche der historischen Forschung gehen nicht deswegen verloren, weil wir andere Vorstellungen haben vom Hellenismus als Droysen. Warum werden dann nicht bei jedem Perspektivenwechsel die bisher erreichten Bestände an Wissen einfach über Bord geworfen? Weil die fachliche Organisation der Wissenschaft das verhindert, indem sie die erreichten Standards verteidigt. Wie das? Mit universalisierbaren Argumenten und Methoden. Bezeichnenderweise übernimmt Max Weber von Droysen das Bild des wandernden Lichtkegels,12 welcher – von Wertideen gesteuert – das Vergangene anstrahlt: Was nicht mehr angestrahlt wird, gerät in Vergessenheit und Bedeutungslosigkeit. Das berührt die innerfachliche Sicherung von Beständen: Die Wissenschaft kann sich nicht dagegen wehren, unablässig wieder Wissen zu verlieren; denn die kulturellen Veränderungen verschieben die Wertideen, somit auch die Aufmerksamkeit für Erscheinungen. Da semantisch entwertetes Wissen nicht mehr messbar ist, wissen wir nie, wie viel Wissen wir verlieren. Doch innerhalb des disziplinär organisierten Wissenschaftsbetriebs bleiben in der Regel theoretisch gesicherte Standards erhalten, selbst wenn Wissensinhalte verloren gehen; solches Wissen wird abgelagert in jenen Speichern, auf die man im alltäglichen Betrieb der Wissenschaften kaum noch zugreift. Wenn genügend Ressourcen für die Fachgeschichte vorhanden sind, fällt solches Wissen in deren Zuständigkeit. Die immer weitere Aufspaltung der Wissenschaften kann den ständigen Verlust von entwertetem Wissen nicht verhindern, aber seine Wirkungen abschwächen. Der Fortschritt besteht ja nicht in immer größerer Akkumulation von Wissensbeständen, sondern in immer tauglicheren Theorien, um das Gewusste systematisch zu verbinden. Das Eingeständnis, einem Fallibilismus unterworfen zu sein, schadet der Wissenschaft nicht, sondern ist konstitutiv für den Begriff des wissenschaftlichen Fortschritts.13 Entgegengesetzte Interpretationen bedrohen ––––––––––––––

11 Droysen 1977: 230f. 12 Droysen 1977: 10. Vgl. Weber 1988: 214. 13 Vgl. Habermas 1985: 247: „Mit diesem Fallibilismus verzichten wir, Philosophen und Nichtphilosophen zumal, keineswegs auf Wahrheitsansprüche. Diese lassen sich in der performativen Einstellung der ersten Person gar nicht anders als in der Weise erheben, daß sie – als Ansprüche – Raum und Zeit transzendieren. Wir wis-

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daher den Begriff der Wahrheit nicht. Thomas Kuhn hat darauf hingewiesen, dass Erkenntnisse in der Regel innerhalb von epistemischen Systemen gemacht und beibehalten werden, welche er ‚Paradigmen‘ nennt.14 Diese ‚Paradigmen‘ seien freilich untereinander inkommensurabel: „Consider [...] the men who called Copernicus mad because he proclaimed that the earth moved. They were not either just wrong or quite wrong. Part of what they meant by ‚earth‘ was fixed position. Their earth, at least, could not be moved“.15 Träfe das zu, dann enthielte jedes Paradigma in sich selber diejenigen Kriterien für richtig oder falsch, die innerhalb seiner Semantik sinnvoll sind. Dann wäre allerdings wissenschaftlicher Fortschritt nicht mehr nachweisbar. Denn der Begriff ‚Fortschritt‘ enthält die Vorstellung eines Übergangs von einem ersten Zustand in einen anderen, welcher dem ersten – in einer bestimmten Hinsicht – überlegen ist. Paul Feyerabend hat aus der These der Inkommensurabilität nicht unrichtig geschlussfolgert, dass dann alle Wissenssysteme gleichwertig seien: ob Woodoo oder Atomphysik, das eine ist so mythisch verfasst wie das andere. 16 Das von Kuhn angeführte Beispiel reicht aus, um die behauptete Inkommensurabilität prüfen zu können:17 Eine astronomische Hypothese, in welcher die Erde ein Himmelskörper ist, trifft auf Gegner, für welche die Erde etwas anderes ist als ein bloßer Himmelskörper. Die Venus war für Astrologen mehr als nur ein Planet; sie war ein Akteur, der innerhalb von Konstellationen mit anderen Himmelskörpern auf das irdische Geschehen und auf die psychischen Dispositionen von menschlichen Individuen Einfluss nahm. Dennoch hat dieser enorme semantische Überschuss, mit dem die Planeten befrachtet waren, die Astrologen nicht daran gehindert, die Bahnen so genau als möglich zu errechnen. Nicht bloß das. Die ersten Astronomen, welche das kopernikanische System akzeptierten, waren ––––––––––––––

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sen aber auch, daß es keinen Null-Kontext für Wahrheitsansprüche gibt. Diese werden hier und jetzt erhoben und sind auf Kritik angelegt. Deshalb rechnen wir mit der trivialen Möglichkeit, daß sie morgen oder an anderem Ort revidiert werden. Die Philosophie versteht sich nach wie vor als Hüterin der Rationalität im Sinne eines unserer Lebensform endogenen Vernunftanspruchs.“ Die von Kuhn erörterten Problematiken wurden erstmalig scharf und systematisch erörtert im Umkreis der Wissenssoziologie von Karl Mannheim und v.a. von Ludwig Fleck (1983 [1929]). Vgl. dazu Oexle 1998: 129–139. Die Kuhnsche Problemstellung hat Jörn Rüsen (1983: 24ff.) aufgenommen und – begrifflich schärfer gefasst – auf eine neue Basis gestellt mit der Kategorie der ‚disziplinären Matrix‘. Kuhn 1970: 149. Vgl. Feyerabend 1975: 285–308. Die schlampige Sprache, welche den Unterschied zwischen logischer Widerlegung eines Paradigmas oder einer These einerseits und anderseits den sozial bewirkten Ausschlüssen verwischt, wird von David Stove (1982: 30–41) gerügt.

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Astrologen.18 Es war – unter astronomischen Gesichtspunkten – sehr wohl denkmöglich, die Erde sowohl als Planeten als auch als fixes Zentrum aufzufassen. Nicht innerastronomische, sondern außerastronomische Rücksichten erschwerten oder verboten das. Kuhn unterscheidet nicht zwischen diesen Rücksichten. Dass zur Definition der Erde ihre fixe Stellung gehöre, galt eben nicht für die astronomische Dimension der Frage. Andernfalls hätten die Gegner Kopernikus semantisch gar nicht verstanden. Sie verstanden aber sehr wohl, was er meinte, weil das Wissensgebiet, auf dem sie ebenso wie Kopernikus sich bewegten, bereits ein relativ autonomisiertes war: Innerhalb dieses Wissensgebietes hatte man seit Jahrhunderten nach besseren Erklärungen gesucht für die ‚störenden‘ Phänomene bei den Planetenumläufen. Die Gegner verstanden, weil beide Paradigmen – innerhalb dieses relativ autonomisierten Wissensgebietes – kommensurabel waren. Damit ist nicht gesagt, dass es keine Inkommensurabilitäten geben könne. Aber innerhalb ein und desselben Wissensgebietes bleiben sie kaum dauerhaft bestehen. Auge in Auge mit einer bedrängenden Schwierigkeit, gemeinsam empfunden, welcher Art sie auch sei, sind alle angebotenen Lösungen kommensurabel.

III Die Debatte um die regulative Funktion der Kategorie ‚Wahrheit‘ hat einen deutlichen intellektuellen Gewinn erbracht: Es hat sich abermals unser Bewusstsein davon geschärft, welche Rolle der kategoriale Apparat spielt beim ‚Zugriff‘ auf jene bestrittene ‚objektive Realität‘. Dabei ist ein Umstand zu beobachten, der bald seine geschichtstheoretischen Folgen zeitigen dürfte: Die Probleme von Konstruktion, Modellbildung und Kategorien haben mit Rhetorik sehr wenig zu schaffen. Nirgendwo hat die Theorie der Tropen von Hayden White unserer Forschungspraxis auch nur den geringsten methodischen Impuls versetzt. Der letzte Grund hierfür liegt in der fundamentalen Differenzverwischung, die White vorgenommen hat, als er forderte, man solle „nicht zwischen der Tätigkeit der historischen Forschung (der Archivsuche des Historikers nach Informationen über die Vergangenheit) und der Tätigkeit der Niederschrift (dem Entwickeln eines Diskurses und seiner Übersetzung in eine schriftliche Form durch den Historiker) unterscheiden.“19 Wer diese Unterscheidung vom Tisch wischt, ––––––––––––––

18 Vgl. Knappich 1967: 207–214. 19 White 1996: 75.

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liquidiert die Geschichtswissenschaft, denn diese besteht eben vor allem aus Forschung. Nicht allein Marx hat darauf insistiert, dass Forschungsmethode und Darstellungsmethode auseinanderfallen; Droysen hat diese grundsätzliche Scheidung umfassend begründet. Doch White hat es planmäßig vermieden, sich jemals damit auseinanderzusetzen. Die Konsequenz ist klar: wenn man den Unterschied zwischen Forschung und Darstellung tilgt, dann reduziert sich Geschichtswissenschaft auf Geschichtsschreibung. Und dann regieren die Prinzipien der Darstellung. Diese sind gewiss teilweise rhetorischer und poetischer Natur, teilweise sind sie es jedoch nicht. Whites Theorie der Formen wird dann zwar möglich, jedoch nicht unbedingt plausibel – seine Analysen von Burckhardt, Mommsen oder Gibbon glänzen vor geschichtstheoretischer Ahnungslosigkeit, wenn man unter Geschichtstheorie eben mehr versteht als bloß die Systematik der rhetorischen Formen. Vergleicht man Whites Analysen mit den strukturalen Analysen eines Lévi-Strauss, dann stellt man fest, dass die sonderbaren Kegelschnitte, die Lévi-Strauss etwa am ÖdipusMythos vornimmt, weitaus aussagekräftiger und konzeptionell weitreichender sind als die Ausführungen Whites zu Burckhardt oder zu Gibbon. Es ist demnach ein intellektueller Absturz, wenn man Theoriefragen auf die Untersuchung der rhetorischen Strategien reduziert. Gewiss, schon in der alten Sophistik reduzierten manche die Theorie auf Rhetorik. Und Derrida folgte in mancher Hinsicht dem Gorgias. Aber Theoriefragen haben an sich mit Rhetorik nichts zu tun. Ein Echtheitsbeweis beruht auf logischer Eleganz, wie eine mathematische Abhandlung. Die ‚geneigte Leserschaft‘ kann mit einem Echtheitsbeweis nichts anfangen. Aber für die Forschung hängt daran eventuell alles. Indes, Sachfragen auf rhetorische Probleme zu reduzieren, geht schnell und bringt im interdisziplinären Austausch immer einen Vorsprung, denn man muss sich nicht mit denjenigen theoretischen Voraussetzungen beschäftigen, die den Sachverhalt konzeptionell konstituieren. Dieser Vorteil wird freilich um den Preis erkauft, auf strenge Begrifflichkeit in den Problemstellungen zu verzichten. Das haben Platon und Aristoteles den rhetorisch orientierten Sophisten vorgeworfen; und dieser Vorwurf aktualisiert sich unweigerlich, sobald die alten Gegnerschaften wieder auftauchen. Bezeichnend für jene Theoretiker, die White folgen, ist eine radikale Abkehr von strenger philosophischer Sprache und damit ein Wortgebrauch, der sich im Ungefähr bewegt. So wäre nach Hans-Jürgen Goertz, falls man keine Vergangenheit voraussetzte, „der historische Diskurs kein tatsachengebundenes Artefakt, sondern ein Artefakt, das Imaginäres produziert, nicht aber Vergangenes zur Erkenntnis bringt. Ontolo-

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gisch wird durchaus eine Realität vorausgesetzt, erkenntnistheoretisch erscheint sie in sprachlicher Gestalt.“20 Wie aber soll eine Realität, die vergangen ist, überhaupt ‚erscheinen‘? Erscheinen kann nur empirisch Wahrnehmbares, also Existierendes. Aber das Vergangene existiert ja nicht mehr. Dass eine Supernova, die sich vor 50.000 Jahren ereignet hat, dennoch heute zu sehen ist – also erscheint –, liegt an dem Umstand, dass das Licht nicht unendlich schnell ist. Daher sehen wir in an dieser Stelle tatsächlich tief in die Vergangenheit. Doch ansonsten liegen uns lediglich – wie Droysen prägnant sagte – ‚Spuren‘ des Vergangenen vor; diese sind empirisch wahrnehmbar, ‚erscheinen‘ also. Nicht bloß die Aussage, wonach vergangene Realität ‚erscheine‘, ist eine unsinnige Behauptung, der gesamte Inhalt des Satzes – die vergangene Realität erscheine „erkenntnistheoretisch in sprachlicher Gestalt“ – ist drollig. Denn wenn ich etwas Reales – und sei es vergangen – bezeichne und in sprachlicher Form kodiere, um es mitzuteilen, dann vollziehe ich eine semiotische Operation. Semiotik ist aber nicht Erkenntnistheorie. Der Ausdruck etwas ‚erscheine erkenntnistheoretisch‘ ist somit in sich bereits sachlich falsch. Außerdem bedienen sich semiotische Operationen häufig der Sprache; doch sie tun es nicht notwendigerweise, denn es gibt andere Zeichensysteme. Manche Aussagen über Vergangenes lassen sich in diesen Systemen besser kodieren als in der Sprache. Was Goertz eigentlich sagen wollte, ist der einfache Satz: „Die Sprache ist transzendentale Bedingung für das Erkennen von Vergangenem.“ Doch fehlen ihm offenbar die kategorialen Mittel, dies zu sagen. Doch selbst wenn er sie besäße, wäre die Aussage, wie unten dargelegt wird, schlicht falsch. Es darf nicht Wunder nehmen, vom selben Autor zu vernehmen: „Nur in dieser tropologischen Form kommt es zu historischer Erkenntnis. Die Tropen sorgen dafür, daß die Fakten in einer narrativen Ordnung zueinandergefügt werden und in einen Bedeutungszusammenhang geraten, in dem sie so nicht wirklich standen, sich uns aber nur so zu erkennen geben.“21 Wollten Historiker dem folgen, würden sie wahnsinnig. Es gibt nämlich Zusammenhänge, die sich auf ‚Bedeutungszusammenhänge‘ nicht reduzieren lassen, obwohl alle Zusammenhänge eine semantische Dimension haben. Dass der Zusammenhang zwischen einem politischen Konflikt und einer plötzlichen Kriegserklärung kein ‚sachlicher‘ – also in der Logik politischer Beziehungen liegender – sei, kann nur ein Schwachkopf annehmen. Weder ist ein sachlicher Zusammenhang darauf angewiesen, dass wir ihn erkennen – er wirkte auch ohne ––––––––––––––

20 Goertz 2001: 17. 21 Goertz 2001: 17.

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unser Zutun –, noch erkennen wir ihn mittels der rhetorischen Tropen. Das Verständnis von Sachlogiken kann ich mir nicht aneignen, indem ich mit Tropen operiere. Wäre es anders, könnten Ignoranten römische Wirtschaftsgeschichte schreiben. Indes, das sollen sie ja können, da es für White und seine Anhänger auf die fachwissenschaftliche Fähigkeit zur Modellbildung nicht ankommt. Die Absicht, den Tropen in der Geschichtswissenschaft jenen Status zu verleihen, die den transzendentalen Kategorien für das Denken zukommt, nährt sich aus der völligen Gleichgültigkeit gegenüber der innerfachlichen Konkurrenz um sachliche Fortschritte. Wen wundert’s wenn derselbe Autor fortfährt: „Im Sinne einer abbildgetreuen Wiedergabe des einst Geschehenen könnte eine solche Geschichte nicht erzählt werden, da die am Geschehen Beteiligten noch nicht das Ende des Geschehens kannten, in das sie verwickelt waren. [...] Sowohl der Anfang als auch die Mitte und das Ende eines Geschehens sind ‚unvermeidlich poetische Konstruktionen‘, nicht Abbilder, sondern ein ‚Neuschreiben‘ des Geschehensablaufs. Dem Geschehen wird vom Ende her eine Struktur eingezogen, die es realiter nicht aufweisen konnte.“22 Die offensichtliche Ahnungslosigkeit von Metier und Gegenstand des Historikers beeindruckt. Erstens wäre bereits eine abbildgetreue Wiedergabe der gestrigen Mittagsstunde in einer Berliner Kneipe unmöglich, wer solches auch bloß versuchte, würde verrückt. Die Unendlichkeit des Geschehens ist uneinholbar sowohl für die Miterlebenden als auch für die Schreibenden. Zweitens hängt die Erzählbarkeit eines Geschehens keineswegs daran, ob es für die Miterlebenden ein klares Ende hat oder nicht: Soldaten, die im Schützengraben einen Krieg erleben, können sehr wohl das Geschehen, welches sie umschlingt, als ‚Krieg‘ identifizieren, obwohl sie fallen, bevor er endet. Menschliches Handeln vollzieht sich zumeist in Handlungssequenzen, die kulturell vorstrukturiert sind: Saat und Ernte, Hausbau, Eheschließung, Gesandtschaften, Krieg usw. Sinnvoll sind Geschehensabläufe bereits für die Akteure, nicht erst für den Historiker; denn ohne Sinngebung könnten die Akteure überhaupt nichts meinen, glauben, bevorzugen, ablehnen und entscheiden. Dieser Sinn ist allerdings – bei zureichender Quellenlage – rekonstruierbar, wohingegen ein konkreter Geschehensablauf immer nur konstruierbar ist, weil wir niemals eine ausreichende Datenmenge haben werden, um einen Ablauf minutiös wiederzugeben und weil eine solche Rekonstruktion vollkommen sinnentleert wäre, wie Luis Borges uns an jener Karte im Maßstab von 1:1 verdeutlicht. Drittens ist falsch, dass die ‚die am Geschehen –––––––––––––– 22 Goertz 2001: 20.

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Beteiligten‘ das ‚Ende eines Geschehens‘ nicht kennen konnten, ‚in das sie verwickelt waren‘. Denn Menschen überleben Inflationen, Vertreibungen, Kriege und Neugründungen von Staaten. Der Ablauf einer Seeschlacht – obgleich sie vor 2450 Jahren passierte – folgt sachlichen Logiken, welche die Schlacht strukturieren, ohne dass die Beteiligten ihr ‚vom Ende her eine Struktur‘ einziehen müssten, ganz zu schweigen von den Historikern, die sich sehr viel später darüber den Kopf zerbrechen, warum bestimmte sachliche Faktoren den Ausgang der Schlacht stärker bestimmten als andere. Wer wenigstens einen blassen Schimmer hat von philosophischen Grundannahmen weiß, dass die Handelnden niemals das Geschehen überblicken – denn das kommt einzig dem intellectus originarius zu bzw. Gott –, die Grundbedingung der menschlichen Existenz ist es eben, das sich ereignende Geschehen nicht überblicken zu können. Trotzdem gibt es wenige Ereignistypen, deren kohäsive Struktur darauf angewiesen ist, dass die Akteure sie durchschauen.

IV Unsere Kategorienprobleme bewegen sich innerhalb der logischen Grenzen des Neukantianismus; sie gehören zum Konstruktionsthema, das Max Weber systematisch 1904 umrissen hat. An diesem Punkt sind wir über Max Weber nicht hinausgekommen und können theoretisch auch nie über ihn hinauskommen, so lange wir den Anspruch haben, Wissenschaft zu treiben.23 Eine der elementaren Regeln, die man in geschichtstheoretischen Proseminaren lernt, lautet, behutsam mit dem Begriff des Zeugnisses und der Tatsache umzugehen. Dozenten ziehen dazu wohl am häufigsten einen Text heran, den Droysen um die Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“24 Nicht einmal die Niederlage der Römer in der Schlacht bei Cannae ist eine ‚vorliegende Tatsache‘; Droysen leugnet damit aber keinesfalls die ,objektive Realität‘. Denn nach seiner Definition war die Schlacht bei Can–––––––––––––– 23 Das liegt daran, dass der Wirklichkeitsbegriff der Transzendentalphilosophie nicht mehr kritisch zu unterbieten ist. 24 Droysen 1977: 422. Die Objekte der historischen Erkenntnis sind insofern immer durch Definitionen limitiert, konturiert und insofern ‚konstruiert‘. Vgl. Ricœur 2000: 232f.

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nae sehr wohl eine ‚objektive Tatsache‘, obschon sie in ihrer Realität unserer Forschung nicht mehr vorliegt. Indes, sie lag schon den Mitwirkenden nicht mehr als Tatsache vor, als Karthago 14 Jahre später kapitulierte. Die Auffindung einer Leiche macht aus dem Mord, den sie bezeugt, keine ‚vorliegende‘ Tatsache. ‚Zu tun‘ haben wir es – nach Droysen – in der Tat nicht mit einer ‚vorliegenden‘ Schlacht oder einem ‚vorliegenden‘ Mord. Wir haben es zu tun mit Zeugnissen, Spuren und Hinweisen. Allerdings genügen diese – bei hinreichender Dichte und Aussagekraft – den Mord oder die militärische Niederlage zweifelsfrei zu erschließen. Solcherweise erschlossen, werden daraus Tatsachen. Denn ermittelte Tatsachen sind ebenso gewiss und objektiv wie ‚vorliegende‘. Aus diesem Konstruktionsproblem haben manche Geschichtstheoretiker den fraglichen Schluss gezogen, Tatsachen gingen in ihrer Interpretation auf. Dieses Verhältnis gilt es nochmals zu prüfen. Nehmen wir noch einmal jenes Beispiel vor, an dem Chris Lorenz diese fragwürdige These expliziert: Zwei Beobachter, die in gegnerischen politischen Lagern stehen, beobachten die Hinrichtung Ludwig XVI., wobei der eine notiert, König Ludwig werde vom Pöbel ermordet, der andere hingegen, Bürger Capet werde hingerichtet.25 Lorenz betont, dass weder der eine Satz noch der andere „eine korrekte Spiegelung der Wirklichkeit“ sei. Daraus folgert er richtig, dass die Wirklichkeit niemals direkt wahrgenommen wird. Wer am 21. Januar 1793 einen Mord beobachtete – so führt Lorenz aus –, sah etwas anderes als wer einer Hinrichtung zusah: „Das heißt, daß Tatsachenaussagen immer für Uminterpretationen offen bleiben und daß auch das Tatsachenwissen nicht in der Beobachtung begründbar ist. Die Einsicht in den interpretativen Charakter von Beobachtungsaussagen bringt also unvermeidlich die Einsicht in die Vorläufigkeit und die Fehlbarkeit der Beobachtungserkenntnis mit sich. [...] Auch eine anscheinend ‚objektive‘ Beobachtung ist also immer selektiv! Und das bedeutet – paradoxerweise – daß auch ‚objektive‘ Beobachtungen nicht frei von subjektgebundenen Wahlelementen sind. [...].“26 Seit Kant ist klar, dass Erfahrungen subjektiv sein müssen, da nur Subjekte Erfahrungen machen können: Eben in diesen subjektiven Erfahrungen werden Erkenntnisse gewonnen, die objektiv, universal und notwendig sind. Die gesamte Urteilslehre basiert auf dieser Voraussetzung.27 Doch führt die selektive ––––––––––––––

25 Vgl. Lorenz 1997: 28f. 26 Vgl. Lorenz 1997: 30f. 27 Weber (1988: 183f.) drückt das so aus: Zwar seien Wertideen ‚subjektiv‘, doch daraus folge keineswegs, „daß auch die kulturwissenschaftliche Forschung nur Er-

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Wahrnehmung zu einer ¸Beobachtungserkenntnis‘, die bloß ¸vorläufig‘ wäre? Aus dem Gesamt des ablaufenden Geschehens können die Zuschauer nur einen winzigen Ausschnitt beobachten; ihre Aufmerksamkeit richten sie darauf, was – für sie – bedeutsam ist. Außerdem beobachtet jeder anderes, darum differieren die Beobachtungen. Trotzdem sind sie nicht kontradiktorisch. Alles was die Befürworter der Hinrichtung sehen, ist genauso richtig wie das, was die Royalisten sehen. Royalisten, die in den Wochen nach dem 21. Januar zu Jakobinern werden, müssen ihre wahrgenommenen und in der Erinnerung vorhandenen Beobachtungen – obwohl diese selektiv waren – nicht verändern; denn diese waren richtig und führten zu richtigem Wissen über Sachverhalte. Lorenz schlussfolgert: „Der selektive oder interpretative Charakter der Tatsachenaussagen läßt sich also auf die verwendete Sprache zurückführen: Sprache verweist immer auf bestimmte Aspekte einer Erscheinung und nicht auf die Erscheinung in ihrer Ganzheit. [...] Die Sprache ist also kein Spiegel der Wirklichkeit, sondern verkörpert eine bestimmte Brille oder ein bestimmtes Raster, durch das wir die Wirklichkeit wahrnehmen.“28 Trifft das zu? Beide Beobachter sprechen Französisch. An der Sprache liegt es nicht, dass der eine den Hingerichteten als ‚König‘ bezeichnet, der andere als ‚Bürger Capet‘. Deutsche Jakobiner hätten sich in ihrer Sprache ähnlich ausgedrückt wie französische. Die Behauptung, die Sprache verweise auf die semantisch privilegierten Aspekte, ist falsch. Das leisten die politischen Einstellungen, in Webers Worten die ‚Wertideen‘. Hätte Lorenz nicht ‚Sprache‘ gesagt, sondern ‚Diskurs‘ – im Foucaultschen Sinne – , dann wäre seine These erwägenswert gewesen. Denn Diskurse lassen sich von der jeweiligen Sprache nicht einengen; sie schaffen sich – wenn man ihnen für einen Augenblick Subjektcharakter einräumt – die fehlenden sprachlichen Ausdrucksmittel, sei es durch Neologismen, sei es durch Lehn- oder Fremdwörter. Aber Diskurse sind Aussagesysteme, die in hohem Maße von dem regiert werden, was Weber ‚Wertideen‘ nennt. Letztlich ist der Kurzschluss von der Sprache zum Akt des Bewertens entscheidend. Zu diesem Kurzschluss neigt, wer – wie z.B. Gadamer oder Roland Barthes – der Sprache eine transzendentale Funktion zuspricht, welche sie niemals haben kann, da diese Funktion den Wertideen zu––––––––––––––

gebnisse haben könne, die ‚subjektiv‘ in dem Sinne seien, daß sie für den einen gelten für den andern nicht.“ 28 Lorenz 1997: 29.

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kommt.29 Royalisten und Jakobiner beobachten nicht anders, sondern sie bewerten anders. Lorenz vermengt folglich zwei verschiedene Arten des Tatsachenwissens. Die Vermengung rührt daher, dass er das Problem der Selektion und das Problem der Bewertung in eine einzige Kategorie packt, nämlich in diejenige der Interpretation.30 Indem er hinter die begriffliche Differenzierung von Max Weber zurückfällt, bleibt er unterhalb der von Weber markierten Problemhöhe. Dieser mahnt, die intellektuellen Operationen auseinander zu halten: „Diese ‚Interpretation‘ [...] kann nun zwei faktisch fast immer verschmolzene, logisch aber scharf zu scheidende Richtungen einschlagen: Sie kann und wird zunächst ‚Wertinterpretation‘ sein, das heißt: uns den ‚geistigen‘ Gehalt [...] ‚verstehen‘ lehren [...]. Die Deutung des sprachlichen ¸Sinns‘ eines literarischen Objekts und die ¸Deutung‘ seines ‚geistigen Gehalts‘, seines ‚Sinns‘ in dieser, an Werten orientierten Bedeutung des Wortes, mögen faktisch noch so oft und aus guten Gründen Hand in Hand gehen: sie sind dennoch logisch grundverschiedene Vorgänge, der eine, die sprachliche ‚Deutung‘ ist die – nicht etwa dem Wert und der Intensität der dazu erforderlichen geistigen Arbeit, wohl aber dem logischen Sachverhalt nach – elementare Vorarbeit für alle Arten der wissenschaftlichen Bearbeitung und Verwertung des ‚Quellenmaterials‘, sie ist, vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen, ein technisches Mittel, ‚Tatsachen‘ zu verifizieren: sie ist Handwerkszeug der Geschichte [...]. Die ‚Deutung‘ im Sinne der ‚Wertanalyse‘ [...] steht jedenfalls in dieser Relation zur Geschichte nicht.“31 Daher verlangt er, die „kausale Bedeutung“ eines untersuchten Gegenstandes scharf zu scheiden von seiner „universellen Bedeutung“.32 Diese Scheidung will Lorenz wegwischen: „Zwischen Registrierung und Inter––––––––––––––

29 Erinnert sei an den Fundamentalsatz von Weber (1988: 180): „Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ‚Kultur‘ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.“ Das gilt mutatis mutandis nicht bloß für den Forscher, sondern für alle Menschen überhaupt. Die Kulturbedeutung der konkreten Erscheinungen (z.B. einer Hinrichtung) beruht aber auf den immer schon vom Individuum mitgebrachten Wertideen. 30 Daher auch das seltsame Wort ¸Beobachtungserkenntnis‘. Dieses Wort suggeriert: Weil ein auf gelenkter Wahrnehmung (so ist Beobachtung zu verstehen) beruhendes Urteil vorläufig ist – was zutrifft –, verschafft die Beobachtung kein sicheres Wissen. Das aber ist ein Trugschluß. Wenn der Beobachter seine Meinung über den Vorgang ändert, dann bewertet er das Beobachtete neu, genauer: er fügt das schon Gewusste ein einen neuen Kontext und bewertet es auf neue Weise. 31 Weber 1988: 245–248. 32 Weber 1988: 253.

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pretation gibt es nämlich keine Grenze, ein jeder, der wahrnimmt und registriert, interpretiert zugleich auch.“33 Doch das erweist sich als unhaltbar, wofern man auf einer strengen Verwendung des Begriffs ‚Interpretation‘ besteht. Dass Bewertungen sich auswirken auf die Wahrnehmung, ist damit nicht bestritten. Wertideen helfen, beim Wahrnehmen zu selektieren.34 Aber sie gehören der Beobachtung nicht an; sie bleiben von ihr getrennt, auch wenn sie deren transzendentale Bedingung sind. Es ein logisches Erfordernis, die Bedingung vom Bedingten zu unterscheiden. Und jede Unterscheidung ist eine gedankliche Trennung, eine logische Angelegenheit: Das „technische Mittel, ‚Tatsachen‘ zu verifizieren“ ist ein ‚Interpretieren‘ ganz anderer Art als die „Deutung im Sinne der Wertanalyse“. Erstere führt zu Interpretationen, die – bei hinlänglicher Information – unbestreitbar sind. Doch es gibt umstrittene Interpretationen derselben unstrittigen Sachverhalte; und genau dabei handelt es sich um jene „Deutungen im Sinne der Wertanalyse“. Hier ergibt sich die Umstrittenheit etwa aus kulturell, religiös oder politisch unterschiedlichen Wertideen. Anders gesagt, diese Interpretationen resultieren aus unterschiedlichen Perspektiven und sind somit sehr viel voraussetzungsreicher als jene. Interpretationen zweiten Grades – „Deutungen im Sinne der Wertanalyse“ – sind methodisch sauber abzutrennen vom „Verifizieren von Tatsachen“ –, also von den unstrittigen Sachverhalten selber. Ficht man diese Trennung an, so vermag man Tatsachen auf ihre Interpretationen zu reduzieren. Dann ist es allerdings legitim, auf der einen Seite Tatsachen zu leugnen, auf der anderen Seite alle Interpretationen als gleichwertig anzusehen.

–––––––––––––– 33 Lorenz 1997: 32. 34 Nun weist schon Weber (1988: 111) darauf hin, dass die Perspektivität des Erkennens bewusst wird, sobald unterschiedliche Ansichten aufeinanderprallen: „Die logische Struktur einer Erkenntnis zeigt sich aber erst dann, wenn ihre empirische Geltung im konkreten Fall, weil problematisch, demonstriert werden muß.“ Versucht man, diese Strittigkeit zum Hebel zu machen, um die Tatsachen ununterscheidbar zu machen von der Interpretation, dann geht das nur, indem man sich hinter erreichte begriffliche Standards zurückfallen läßt. Im Hinblick auf die unterschiedliche Bewertung der Hinrichtung Ludwigs XVI. betont Lorenz (1997: 31) zu Recht: „[Eine] selektive Beobachtung wird jedoch nicht als subjektiv erfahren, da sich ihre Apperzeption des Ereignisses auf Aspekte bezieht, die im Gegensatz zum rechtlichen Aspekt nicht strittig sind.“ Indes, den rechtlichen Aspekt kann man eben nicht beobachten. Der rechtliche Aspekt fällt vollkommen aus der Beobachtung heraus. Er gehört der Bewertung an.

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V Für die Umwandlung von ‚Erfahrung‘ in Geschichte ist das Medium der Narration gewiss nicht unwichtig. Aber an ihm bemisst sich nicht die Güte der Interpretation. Wer behauptet, keine Interpretation sei einer anderen überlegen, und alle Perspektiven seien gleichwertig, negiert die ‚objektive Möglichkeit‘ und das Korrigieren von Thesen. Aber das geht nur, wenn man den Bezug auf eine Realität tilgt. Hayden White beteuert zwar, dass er keineswegs die Vergangenheit als ‚objektive Realität‘ leugne; doch alle Beteuerung nützt nichts, wenn die logischen Voraussetzungen negiert sind. Wenn Interpretationen sich auf nichts beziehen, dann sind sie in der Tat alle gleichwertig; und wenn sie alle gleichwertig sind, dann hat ihre Referenz auf Realität keinen logischen Wert, d.h. dann beziehen sie sich auf nichts. Es war kein geringerer als Paul Ricœur, der sehr früh entdeckte, dass White die Referenz auf Realität logisch nicht berücksichtigt; Ricœur betonte dagegen entschieden den „primat de la visée référentielle“.35 Und 15 Jahre später formuliert Ricœur ein unerbittliches Verdikt: „Je déplore l’impasse dans laquelle H. White s’est enfermée“; denn dieser lasse die wissenschaftlichen Prozeduren außer Acht, das „moment référentiel“ unterschlagend, was ganz einfach heißt: „Il y a là une véritable category mistake.“36 Damit ist über den theoretischen Wert von White’s Theorie alles gesagt. Es dürfte nicht zuletzt an einem generellen Schwund an philosophischer Bildung liegen, dass die simpelsten skeptizistischen Positionen sich als ‚kritisch‘ gerieren dürfen – ohne Rücksicht auf die Maßstäbe, welche die Transzendentalphilosophie für jegliche Kritik aufgestellt hat. Die Folgen dieses Schwunds lesen sich dann folgendermaßen: „Der historische Referent hat keinen Ort in der Vergangenheit, er findet ihn nur im Vorgang der Erzählung hier und jetzt, so bei Hayden White, im Diskurs, wie bei Michel Foucault, oder in kognitiv-intersubjektiver Verständigung, wie bei den Radikalen Konstruktivisten. [...] Kriterien, welche darüber entscheiden, welcher Versuch gelungen ist, welcher noch verbessert werden könnte und welcher verworfen werden muß, bringt nicht der traditionelle Referent herbei; solche Kriterien wachsen uns in dem Bemühen um die Beziehung zu, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt wird.“37 Man stelle sich das vor: wir schreiben eine Geschichte der Sklaverei, in der die Schwarzafrikaner nicht versklavt wurden, sondern ihrerseits die arabischen ––––––––––––––

35 Ricœur 1985: 279. 36 Ricœur 2000: 328. 37 Goertz 2001: 115.

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Invasoren versklavten und womöglich an die Europäer verkauften, welche die arabischen Opfer in den Plantagen der Karibik als Arbeitskräfte gebrauchten. Da der historische Referent – die Transportlisten, Zolldokumente usw. – nicht als Kriterium für die Richtigkeit dieser Behauptung gilt, brauchen wir uns bloß zu bemühen um eine Beziehung zur Vergangenheit, in der das sagbar wird, was die Dokumente und Berichte uns zu sagen verbieten. So einfach ist das. Ohne überprüfbare Verweisung gerät der Kulturwissenschaftler in eine Situation radikaler Unbestimmtheit. Auf die oft gestellte Frage: „Wie konnte all jener ‚Elegante Unsinn‘38 so nachhaltig wissenschaftliche Geister vernebeln?“ findet sich die Antwort hier. Die Dekonstruktion eignet sich ausgezeichnet dazu, als Leitideologie von Sonderforschungsbereichen und Graduiertenkollegs zu dienen. Dort ist die Interdisziplinarität zu einem kategorischen Imperativ des Forschens und miteinander ‚Umgehens‘ geworden. Gilt es doch vor allem eines zu vermeiden: den deutlichen Einspruch und den Widerspruch. Um widersprechen zu können, benötigt man eine Gegenständlichkeit, die als Kriterium dienen kann, um zwischen den widersprechenden Behauptungen eine ‚Entscheidung‘ herbeizuführen. Am Widerspruch ist zu erkennen, dass es um Inhaltliches geht. Doch kaum geht es um Inhaltliches, ist die Disziplinarität der Interdisziplinarität überlegen – weit überlegen. Wer interdisziplinäre Veranstaltungen genau beobachtet, weiß das. Um den Postulaten des interdisziplinären Umgangs zu folgen, und den inhaltlichen Widerspruch auszuschließen, ist eine Sprache vonnöten, die nichts sagt, und mit der man dennoch ‚kommuniziert‘ – nämlich die Botschaft zirkulieren lässt: wir gehören alle zu einer community der ‚Kritischen‘. In dieser Symphonie der Allgültigkeit darf jeder einzelne Interpret in dezisionistischer Haltung seinen Part spielen: Ein jeder Wissenschaftler muss sich für eine Interpretation entscheiden, obwohl sie sich nicht begründen lässt. Und die einzige faire Verhaltensweise der Interpretierenden ist die, alle anderen Interpretationen gelten zu lassen, da auch diese weder zu begründen noch zu widerlegen sind. Indes, braucht man die Kulturwissenschaften noch als Wissenschaften? Sie abzuschaffen erbringt einen habituellen Gewinn: Die Gleichgültigkeit als intellektueller Habitus, das ¸anything goes‘ als Maxime gegenseitiger ¸Anerkennung‘, verabschiedet das Abmühen an den Ansprüchen universaler wissenschaftlicher Verbindlichkeit, und ersetzt es durch eine wundersame Leichtigkeit des (anti-)intellektuellen Seins. –––––––––––––– 38 Vgl. Sokal/Bricmont 1999.

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Die wechselseitigen Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer im Prozess des historischen Erzählens HANS-JÜRGEN PANDEL „In gewissem Sinne sind alle Menschen Historiker“ Thomas Carlyle (1830)

Im Laufe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft haben sich im Erzählen von Geschichte(n) unterschiedliche Erwartungen herausgebildet, die auf den wechselseitigen Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer miteinander beruhen. Der Erzähler weiß, welche Erwartungen der Zuhörer an sein Tun knüpft, und der Zuhörer kennt die Ansprüche, die der Erzähler an ihn selbst stellt, wenn er ihm eine Geschichte erzählt. Diese wechselseitigen Erfahrungen haben ein System von Ansprüchen und Erwartungen herausgebildet, das für historisches Erzählen spezifisch ist. Dieses Interaktionssystem ist nicht an das Aufkommen moderner Historiographie in Antike und Aufklärung gebunden, sondern ist vermutlich wesentlich älter. Es hat sich sowohl in oralen wie literalen Kulturen etabliert. Die Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer haben sich bereits in den schriftlosen Kulturen herausgebildet und die Regeln und Anweisungen spiegeln sich in vielen oral weitergegebenen Mythen und Legenden wieder. In den literalen Kulturen sind diese zwar verschriftlicht, aber auch in Schriftkulturen tradieren sich diese Regeln ebenfalls im lebensweltlichen Vollzug und bleiben nicht nur Eigentum von Wissenschaft. Erzählen ist neben Sprechen und Schreiben eine Kompetenz, die kulturkonstituierend ist. Es ist deshalb Ziel dieser kompetenztheoretischen Überlegungen, jenes System von erfahrungsbasierten Ansprüchen und Bedürfnissen darzustellen, in dem sich das faktuale im Gegensatz zum fiktionalen Erzählen vollzieht. Dieser kompetenztheoretische Ansatz fragt, was ein in einer Kultur kompetenter Erwachsener können muss, wenn er erzählte Geschichte verstehen und selbst Geschichte erzählen will. Ausgangspunkt einer solchen Betrachtung ist eine Analyse der realen (Erzähler

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und Zuhörer) und virtuellen (Schreiber und Leser) Erzählsituation. Eine Erzählung ist nur in jenem Diskurssystem zu beschreiben, das aus Erzähler und Zuhörer, Autor und Leser sowie aus Geschichtslehrer und Schüler gebildet wird. Es reicht nicht hin, allein Textmerkmale einer Erzählung anzugeben, sondern es müssen auch Zuhörererwartungen einbezogen werden. Erst in einem solchen besonderen Diskurssystem ist Erzählen möglich und zureichend beschreibbar. Der für die Geschichtsdidaktik zentralen Frage, wie Kinder und Jugendliche diese Kompetenz lebensgeschichtlich erwerben und wie sie didaktisch gefördert werden kann, wird hier nicht nachgegangen. Um mit einem Beispiel aus einer oralen Kultur zu beginnen. Die nordamerikanischen Indianer vom Stamme der Seneca erzählen sich folgenden Ursprungsmythos: Ein Junge zieht auf die Jagd um Vögel zu schießen. Als er nach Hause zurückkommt, hat er aber nur sehr wenig Beute gemacht. Und da er am nächsten Tag mit noch weniger bei seinem Stamm erscheint, beschließt man, ihm das nächste Mal jemanden heimlich hinterherzuschicken: Man will herausfinden, warum der Junge so wenig Jagdglück hat. Der Spion, der hinter ihm her schleicht, erlebt nun, wie der Junge zwar eine Menge Vögel schießt, die meisten davon aber einem Stein bringt. Er wird Zeuge, wie der Stein als Gegenleistung beginnt, dem Jungen Geschichten zu erzählen. Dies berichtet er dem Stamm. Am nächsten Tag folgen einige Männer heimlich dem jungen Jäger, und auch sie sehen und hören, wie der Stein erzählt und dafür seinen Anteil an der Jagdbeute des Jungen erhält. Einen Tag später versammelt sich dann das ganze Dorf um den Stein, und dieser beginnt jetzt für sie alle zu erzählen. Er berichtet ihnen „von all dem, was früher war“. Dann gibt er ihnen die Anweisung, am nächsten Abend und auch in Zukunft sich diese Geschichten gegenseitig weiterzuerzählen. Diejenigen, die am besten erzählen können, sollen dafür mit Fleisch und anderen Speisen belohnt werden.1

Dieser Mythos erzählt das Aufkommen des professionellen Erzählers, der von dem Mühen des Nahrungserwerbs freigestellt, sich nur auf das Erzählen konzentriert. Arbeitsteilung und Rollendifferenzierung nehmen so ihren Anfang, Dieser professionelle Erzähler ist ein Historiker, denn er erzählt „von all dem, was früher war“. Die hier dargestellte Erzählsituation wird durch mehrere Ansprüche des Erzählers und Bedürfnisse des Zuhörers/Lesers gebildet: Sinnbildungsangebot und Verstehensbedürfnis; Authentizitätsansprüche und Vergewisserungsbedürfnis; Situationsangemessenheit und Orientierungsbedürfnis; Geltungsansprüche und Distanzierungsbedürfnis. –––––––––––––– 1

Merkel/Nagel 1982: 18.

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1. Sinnbildungsangebot und Verstehensbedürfnis Historisches Erzählen ist ein Sinnbildungsprozess, der zeitlich getrennte Ereignisse sinnhaft mittels semantischer Konnektive zu einer Erzählung verknüpft. Es verwandelt kontingente Ereignisse in einen sinnvollen sprachlichen Zusammenhang. Der Historiker macht mit seiner Erzählung ein Sinnbildungsangebot für die Leser bzw. Zuhörer. Er bietet ihnen an, eine bestimmte (chronologisch, topographisch, und thematisch eingegrenzte) Ereignismenge auf bestimmte Weise zu deuten. Solche Sinnbildungsangebote beruhen auf der Interpretationsleistung und Deutungsfähigkeit des Erzählers. Ohne das Angebot der Erzählers sieht der Leser/Hörer vielleicht nur ein Chaos unverbundener Ereignisse. Auch wenn er einen Erzählzusammenhang erkennt, kann der Erzähler ihm abweichende Sinnangebote machen. Es macht einen Unterschied, ob man eine Reihe von Ereignissen wie die Industrialisierung als Erfolgsgeschichte oder Verlustgeschichte erzählt; es ist nicht belanglos, ob man diesen Ereigniszusammenhang „von oben“ (aus der Sicht der Krupps) oder „von unten“ (der Sicht der Krauses) darstellt. Dass über den gleichen Ereigniskomplex unterschiedliche Sinnbildungen möglich sind, beruht auf den drei bekannten „Hilfsmitteln“ der Sinnbildung: Perspektivierung (Sichtweise von oben oder unten, aus der Sicht der Gewinner oder Verlierer etc.), Theoriegebrauch (Modernisierungstheorie, Theorie der legitimen Herrschaft etc.) und Erzählmuster (Anfänge, Untergänge, Fortschritt etc.). Historisches Erzählen ist narrativ sinnvoll, indem es Ereignisse zu einem sinnvollen narrativen Zusammenhang verknüpft. Erst dadurch wird eine Geschichte verständlich. Die Verknüpfung von Ereignisbeschreibungen zu einer verstehbaren Narratio geschieht stets durch einen Erzählplan, dessen Sinngehalt, auf die Ereignisbeschreibungen angewandt, mehr Sinn produziert, als in dem Plan ohne Ereignisse enthalten ist. Ein solcher Erzählplan kann sowohl aus (trivialen, tradierten, lebensweltlichen) Alltagstheorien wie auch aus ausgearbeiteten sozialwissenschaftlichen Theorien bestehen. Da es keinen abschließenden und zeitunabhängigen Sinn gibt, sind über eine bestimmte Ereignismenge nur konkurrierende Sinndeutungen möglich. In pluralen Gesellschaften kann es nicht einen verpflichtenden Sinn geben, sondern nur unterschiedliche Vorschläge. Insofern besteht zwischen den einzelnen Historikern Deutungskonkurrenz. Der nächste Autor macht neue Sinnbildungsangebote. Der eine deutet das Dritte Reich als Gefälligkeits- (wie Götz Aly), der andere als Zustimmungsdiktatur (wie Ian Kershaw).

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Eine Erzählung muss narrativ sinnvoll sein, weil sie Verstehensbedürfnisse der Leser befriedigen will. Verstehen ist ein anthropologisches Grundbedürfnis, das die Andersartigkeit früherer und fremder Erfahrungen in die eigene Erfahrung einholt. Dem Sinnbildungsangebot des Erzählers steht somit ein Verstehensbedürfnis des Lesers gegenüber. Der Leser geht an Texte der Geschichtsschreibung heran, um Probleme von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Er wendet sich an die Historiker als Spezialisten für bestimmte Fragen. Er will beispielsweise wissen, wie es zum Kulturbruch Holocaust gekommen ist. Wenn jede Erzählung einen verstehbaren Sinn enthält, heißt das noch nicht, dass der vom Leser/Hörer der Erzählung verstandene Sinn schon mit dem Erzählsinn identisch sein muss. Der Leser weiß aufgrund früherer Erfahrungen, dass man jede Erzählung auch ganz anders erzählen kann, ohne dass die zugrunde liegenden Ereignisse andere sein müssen. Hier ist es die Fähigkeit, zu wissen, dass man eine erzählte Geschichte auch anders erzählen kann, anders erzählt hat und in Zukunft auch wieder anders erzählen wird. Das Verstehensbedürfnis kann man nicht „fest“-stellen, es lässt sich nicht abschließend befriedigen.

2. Authentizitätsansprüche und Vergewisserungsbedürfnis Historische Erzählungen treten mit einem Authentizitätsanspruch auf; sie beanspruchen, dass das, was sie erzählen, sich auch tatsächlich zugetragen hat. Der Geschichtsschreiber erzählt eine Geschichte und erhebt dabei den Anspruch, dass es die Personen tatsächlich gegeben hat, die Handlungen sich so zugetragen haben wie sie berichtet wurden und die Äußerungen der handelnden Personen tatsächlich gefallen sind. Darüber hinaus nimmt er für sich in Anspruch, dass die Geschichte so zu deuten ist, wie er es tut. Dieser Anspruch ist für die Geschichtsschreibung konstitutiv und grenzt sie damit von anderen Erzählformen ab. Bei der Gattung „historisches Erzählen“ handelt sich nicht um eine beliebige Erzählung, deshalb kann man sie nur mit guten Gründen bestreiten. Postmoderne Theoretiker versuchten Geschichtsschreibung als Form der Literatur, als Schreiben von Texten über Texte ohne Referenz auf etwas außerhalb der Erzählung darzustellen. Der Ansatz scheiterte, da Authentizitätsansprüche von historischen Erzählungen nicht zu trennen sind. Sie sind nicht nur notwendig, sondern manchmal auch überlebensnotwendig. Ihre Missachtung kann sogar lebensgefährlich sein, wie folgende Inuitlegende warnt:

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Es war einmal ein Fänger, der hieß Kuta. Er war so ungläubig, daß er nie glaubte was man ihm erzählte, ob es nun Geschichten waren, oder etwas, woran Menschen glauben müssen, um leben zu können. [...] Ein andermal wurde erzählt, daß bei einem Wohnplatz ein Knabe sei, so tüchtig im Bogenschießen, daß er alle Vögel, auf die er ziele, ins Herz treffen könne, obgleich er nur eine Seehundsrippe als Pfeil habe. Gleich fiel der ungläubige Kuta ein, daß es eine Lügengeschichte und nichts weiter sei. Er wolle sich selbst überzeugen und zu dem Ort fahren, wo der Knabe wohnte. Als er zu dem Wohnplatz kam, versteckte er sich hinter einem Felsenkamm, sprang ab und zu schnelle hervor und rief: „Schieß nach mir, triff mich ins Herz, wenn du es kannst!“ Und wenn er gerufen hatte, sprang er schnell wieder zurück. Der Knabe aber sagte: „Ich will nicht schießen, denn man macht sich Feinde, wenn man jemanden tötet.“ Der Mann aber, der Kuta begleitete, sagte: „Schieß nur, damit er eine Lehre bekommt, er ist so ungläubig, daß er nichts in der Welt glauben will.“ Da legte der Knabe an, und als Kuta das nächste Mal vorsprang und höhnend rief: „Schieß zu, schieß mich mitten ins Herz!“, da schoß der Knabe seinen Pfeil ab. Als man hinlief, um zu sehen, was aus Kuta geworden war, sah man ihn im Todeskampf über einen Felsblock rollen, mit einem Pfeil mitten im Herzen. So starb Kuta, der Ungläubige, der nie glauben wollte, was erzählt wurde.2

Der übergroße Zweifel an dem Authentizitätsanspruch der Erzählung kostete Kuta das Leben; seine radikalisierte Ungläubigkeit war tödlich. In dieser Inuitlegende geht es um die prinzipiell prekäre Balance zwischen Glauben und Skepsis. Ein solches Dilemma, in das uns historisches Erzählen stürzt, bringt keine andere Art des Erzählens hervor. Ein zu großer Vertrauensvorschuss, den wir dem Erzähler und seiner Erzählung entgegenbringen, lässt uns auf Lügengeschichten hereinfallen. Der radikale Zweifel dagegen nimmt der historischen Erzählung die Orientierungsfunktion, die sie beabsichtigt. Radikaler Zweifel ist mit der Gattung „historisches Erzählen“ unvereinbar. Bei aller Skepsis ist die Gattungserwartung, auch wenn man sich kritisch verhält, auf Glauben ausgerichtet. Der sogenannte „Historische Pyrrhonismus“3 des 16. Jahrhunderts trieb den Zweifel so weit, dass historischen Büchern überhaupt keinen Glauben mehr geschenkt wurde. Er radikalisierte den Zweifel derart, dass keine glaubwürdige Erzählung mehr entstehen konnte. Jeder Zweifel war da schon Grund genug, den dargestellten Tatbestand zu verwerfen. Den Authentizitätsansprüchen entspricht beim Hörer/Leser der Geschichte ein Vergewisserungsbedürfnis, das ihn aus dem Dilemma von Gutgläubigkeit und Zweifel herausführen soll. Der Leser will Belege dafür, dass das, was erzählt wird, wahr ist. Im 18. Jahrhundert beginnt die Geschichtswissenschaft ihre modernen wissenschaftlichen Belegstrukturen –––––––––––––– 2 3

Rasmussen 1922: 150ff. Genannt nach dem griechischen Skeptiker Pyrrhon (360–270 v. Chr.).

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auszubilden. Sie bezieht sich auf kritisch geprüfte Quellen und nicht mehr auf Autoritäten, denen man nur deshalb glaubte, weil es eben Autoritäten waren. Diesem Vergewisserungsbedürfnis des Lesers kommt der Historiker durch Fußnoten, Literaturangaben und Beilagen entgegen. Zum Belegen gehört auch, dass der Historiker ausweist, dass er nicht allwissend ist. Wissenschaftliche Formen des Erzählens arbeiten seither mit Abstufungen des Wahrheitswertes durch Angabe von Faktualitätsgraden: tatsächlich, belegt, gewiss, möglich, wahrscheinlich, denkbar, nicht auszuschließen, vermutlich, zweifelhaft, unbewiesen, ungeklärt etc. Der Erzähler gibt zu erkennen, was sicher und belegbar ist und was er nur vermutet. Solche Belegelemente oder durchgehende Belegstrukturen sind Merkmale historischen Erzählens. Es belegt deshalb seine Aussagen und macht dadurch seine empirische Triftigkeit transparent. Um aus dem Dilemma von allzu großer Gläubigkeit und radikaler Skepsis herauszukommen, verlangt das historische Denken vom Erzähler Belege. Solche Belege helfen, unsere Ungläubigkeit zu suspendieren. Authentizitätsansprüche und Vergewisserungsbedürfnisse sind nicht nur Merkmale der Wissenschaft, sondern auch des Alltags. Im lebensgeschichtlichen Erzählen tritt der Erzähler auch ungefragt den Beweis für die Wahrheit seiner Erzählung an. Er zeigt unaufgefordert die blauen Flecken und Narben, die er in einer erzählten Begebenheit davongetragen hat, präsentiert Fotos, Erinnerungstücke, Souvenirs. Lebende Zeugen und glaubwürdige Gewährsleute werden benannt. Auf diese Weise macht der Erzähler seine Erzählung triftig und sichert sich gegen Ungläubigkeit ab. Beobachtungen aus einem Projekt mit autobiographischem Erzählen bestätigen diesen Sachverhalt: Immer wieder zeigten uns die Informanten Objekte, durch die sie den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte unterstreichen wollten. In anderen Fällen sollte die Erzählung durch ein Objekt als zusätzliches Mittel der Veranschaulichung noch illustrativer ausfallen. Man kann diese beiden Motive kaum sinnvoll auseinander halten. In der Praxis erfüllte das Belegen offensichtlich beide Funktionen. Es werden vor allem Familienfotos, Hobbyangelegenheiten, Zeitungsausschnitte, Bastelarbeiten, die unsere Erzähler uns an entsprechenden Passagen vorwiesen bzw. von der Ehefrau heranschaffen ließen. Aber immer wieder geschah es, daß wir körperliche Verletzungen, etwa Kriegsverwundungen oder Unfallfolgen zu sehen bekamen.4

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Lehmann 1983: 71.

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3. Situationsangemessenheit und Orientierungsbedürfnisse Geschichtsschreibung ist nicht zeitlos. Geschichte, die von Vergangenem handelt, wird immer in einer Gegenwart erzählt, die Autor und Leser gemeinsam ist. Der Autor beansprucht deshalb, dass seine Geschichte, die er erzählt, in diese Gegenwart „passt“, dass sie „zeitgemäß“ ist, auf die Herausforderung dieser Gegenwart antwortet und eine Bereicherung für die Leser dieser Gegenwart darstellt. Er behauptet, dass es endlich „an der Zeit“ sei, dass diese Geschichte, die er erzählt, erzählt werden muss. Das betrifft sowohl den wissenschaftlichen als auch den gesellschaftlichen (politischen, kulturellen und ethischen) Diskurs. In Rezensionen ist immer wieder zu lesen, dass dieses oder jenes Buch hinter dem Stand der Diskussion zurückbleibe oder ihm angemessen sei. Dieses Merkmal der Situationsangemessenheit verlangt, dass eine Erzählung zur richtigen Zeit und am richtigen Ort erzählt wird. Situation ist ein weiter, gestaffelter Begriff. Er kann sowohl die heutige weltgeschichtliche Situation (z.B. Globalisierung, Terrorismus) wie die nationale Situation (z.B. Massenarbeitslosigkeit, Modernisierungsmangel) meinen. Die Situation kann aber auch aus einer einfachen Gedenkveranstaltung an einem ganz konkreten Ort bestehen. Bei dem Konzert zum Gedächtnis der Buchenwald-Opfer mit dem seit drei Jahren das Kunstfest Weimar regelmäßig eröffnet wird, hielt der Ministerialdirektor Hermann Schäfer, seines Zeichens Vertreter des Kulturstaatsministers, eine Rede, die den Anlaß nicht einmal am Rande streifte. Statt der Häftlinge zu gedenken, die den Deutschen zum Opfer fielen, verweilte Schäfer vornehmlich bei den Opfern, die Deutsche während des Krieges und in der Nachkriegszeit brachten. Eine solche Vertauschung der Rollen von Tätern und Opfern an einem solchen Ort, vorgetragen von einem Amtsträger der Bundesregierung, kann nur die finstersten Befürchtungen wecken. Das Publikum reagierte spontan und entsetzt. Hermann Schäfer, während des Vortrages noch verblendet und wie gelähmt, entschuldigte sich tags darauf mit gewundenen Erklärungen.5

In diesem Fall wurde nicht die Darstellung des Redners kritisiert. Das, was er vorbrachte, kann korrekt, empirisch belegt, gut begründet gewesen sein. Es war aber nicht der Situation einer Gedenkveranstaltung für die von Deutschen ermordeten Häftlinge in Buchenwald angemessen. Wenn eine Geschichte der Situation angemessen ist, sprechen wir davon, dass die

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Jessen 2006.

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Geschichte „wichtig“ ist.6 Dabei zeigt sich, dass Situationsangemessenheit kein Kriterium wie empirische Triftigkeit ist, sondern die Rezeption meint. Hinter dem Merkmal Situationsangemessenheit verbirgt sich ein zentrales didaktisches Problem. Sind die Geschichten, die im Schulbuch stehen und von den Lehrplänen vorgeschrieben werden, der Situation angemessen, in der sich unsere Schülerinnen und Schüler heute befinden? Sind unsere vom Lehrplan geforderten Geschichten zwar richtig, aber Geschichten zur falschen Zeit? „Was hat das mit mir zu tun?“ ist die entsprechende zweifelnde Schülerfrage.7 Der Situationsangemessenheit der Erzählung entspricht auf der Seite des Lesers ein Orientierungsbedürfnis. Man braucht Karten, um sich im Raum und Erzählungen, um sich in der Zeit zu orientieren. Der Leser will sich in den wechselnden Situationen seiner Gegenwart zurechtfinden; das kann er aber nur, wenn die Erzählung der Situation, in der er lebt, angemessen ist. Er verlangt Situationsangemessenheit, weil er sich in Fragen der politischen Richtung, der kulturellen Beteiligung, normativer Entscheidungen und individueller Lebensführung orientieren will. Hinter dem Begriff Orientierung verbirgt sich die traditionelle Frage, ob man aus der Geschichte lernen könne8 Heute wird sie in der Regel in folgender Weise beantwortet: „Die Geschichtswissenschaft kann dem, der sich ihre Zusammenhänge intensiv aneignet, ein ungemein breites, tiefgestaffeltes Orientierungswissen verschaffen”9. Der Begriff Orientierungswissen lädt allerdings zu Missverständnissen ein. In Geschichtswissenschaft wie Geschichtsdidaktik wurde er seit den beiden Weltkriegen objektivistisch und instrumentell verengt.10 Seine Blickrichtung wurde umgekehrt. Aus dem Orientierungsbedürfnis der Schüler und Bürger wurde unter der Hand ein Orientierungsanspruch der Geschichtswissenschaft. Nicht die Schüler und Bürger hätten Orientierungsbedürfnisse wird behauptet, sondern die Geschichtswissenschaft besäße einen „Orientierungsanspruch“. Die Geschichtswissenschaft wird dabei in die Rolle eines Oberlehrers gedrängt, der stets weiß, wo es lang geht. Dass “die” Geschichtswissenschaft orientiert, ist zudem ein frommer Wunsch der Historiker und eine Ausrede der Geschichtslehrerinnen, wenn ––––––––––––––

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Auch bei Geschichten, die vor längerer Zeit geschrieben worden sind, sagt man bisweilen, sie seien „immer noch wichtig“. 7 Thurn 1993. 8 Wehler 1988. 9 Wehler 1988: 13. 10 Vgl. die Sektion „Orientierung durch Geschichte?!” auf dem Historikertag in Aachen 2000, in: Kerner 2001: 343ff.

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sie von Schülern nach der Situationsangemessenheit ihres Lernstoffes gefragt werden. „Die“ Geschichte orientiert nicht, denn das kann sie aufgrund ihrer Retrospektivität gar nicht. Außerdem besteht „die“ Geschichte aus den Stimmen von vielen hundert Historikern, die eine „zankende Zunft“11 darstellen. Wer liefert die historische Orientierung? Hans-Ulrich Wehler, Hans Mommsen, Michael Wildt, Saul Friedländer oder Ian Kershaw? Die Nennung dieser Namen macht zudem die Verengung auf Zeitgeschichte offensichtlich. Ägyptische, römische, mittelalterliche Geschichte über Mumien, Sklaven und Kaiser erlauben wohl kaum eine Situierung eines einzelnen in der heutigen politischen Gegenwart. Historische Orientierung besteht somit weder aus den erhobenen Zeigefingern der einzelnen Historiker noch aus deren Werken. Die Attitüde mancher Historiker, wenn sie sich in die Talkshows drängeln und behaupten, sie wüssten wie die Geschichte weitergeht, ist pure Anmaßung. Kein Historiker kann Prognosen über den zukünftigen Verlauf der Geschichte geben. Der Begriff „Orientierungswissen“ für jenes Wissen, das die Geschichtswissenschaft vermittelt, ist nur im eingeschränkten Sinne zweckmäßig. Es „orientiert“ uns, was damals los war, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat und kann genau so gut als Bildungswissen bezeichnet werden. Historisches Wissen ist zudem zeitlich gebunden. Es gibt einen Erkenntnisfortschritt oder auch – bei skeptischer Betrachtungsweise – eine ständig neue Interpretation bekannter Sachverhalte. Ein endgültiges historisches Wissen ist somit nicht möglich. Das Orientierungsbedürfnis besteht aber lebenslang. Orientieren hat aber ein subjektives Fundament.12 Der Leser will sich selbst orientieren und nicht von einen anderen belehrt werden, der vorgibt seine Bedürfnisse zu kennen. Deshalb ist an Kants Begriff des „SichOrientierens“13 festzuhalten, der subjektives Bedürfnis und eigenes Denken verbindet. Kant illustriert das an der Orientierung im Raum. Man muss wissen, wo Norden ist,14 obwohl man dort nicht hin will. Mit diesem Wissen kann man sich aber nach allen Himmelsrichtungen hin orientieren. Man orientiert sich nicht durch Übernahme des Wissens, das Historiker in ihren Erzählungen bereitstellen. Man benötigt es zwar, um sich zu informieren, aber dieses Wissen ist nicht schon die Orientierung selbst, die erst –––––––––––––– 11 12 13 14

Große Kracht (2005). Kant 1980: 267–283. Kant 1980: 269. Zu Kants Zeiten war noch nicht die Nordung, sondern die Ostung üblich, deshalb geht der Begriff „Orientierung“ auf „Orient“ zurück.

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im Denken des Lesers entsteht. Ein Leser lässt sich informieren, aber orientieren muss er sich selbst, denn niemand kann ihm die Aufgabe abnehmen, sich selbst in seinem eigenem Leben zu orientieren. „Orientierung ist notwendig unter Ungewissheit. Sie hilft, mit ihr umzugehen, hebt sie jedoch nicht auf. Und sie muss in jeder neuen Situation wieder unter neuer Ungewissheit zustande kommen.“15

4. Geltungsansprüche und Distanzierungsfähigkeit Geltungsansprüche sind das Recht des Erzählers, vom Leser Zustimmung für die seiner Erzählung zugrundeliegenden Normen zu verlangen. Seine Sinnbildungsangebote, Authentizitätsbeteuerungen und Behauptungen der Situationsangemessenheit des historischen Erzählens folgen Normen, deren Gültigkeit und intersubjektive Verbindlichkeit der Erzähler voraussetzt. Für sie erhebt er Geltungsansprüche. Der Begriff Geltung16 hat sich für intersubjektive Verbindlichkeit eingebürgert. In jede Geschichte gehen normative Elemente ein. Es können ethische, politische oder ökonomische, aber auch narrative Normen sein. Sinnbildende, auf Authentizität und Angemessenheit bedachte Konstruktionen folgen Regeln und erheben Geltungsansprüche, d.h. sie behaupten die Gültigkeit von Normen. Mit den Regeln, denen der Historiker folgt, gibt er zu erkennen, dass er nicht eine beliebigen Geschichte darstellt, sondern eine ganz bestimmte. Der Normenbezug kann auf vier Ebenen liegen. Zuerst seien explizite Wertungen genannt. Sie machen in der Geschichtsschreibung nur einen Randbereich aus; in der Geschichtskultur treten sie dagegen gehäuft auf. Solche Werturteile suchen Historiker in der Regel zu vermeiden, da sie prinzipiell keinen intersubjektiven Charakter tragen. Der Historiker kann zwar seine Erzählung mit ihnen anreichern, sie sind aber nicht Ergebnis seiner wissenschaftlichen Rationalität. Wenn er es doch tut, dann ist er nicht als Wissenschaftler, sondern als ganz normaler Bürger der Gesellschaft, in der er lebt, tätig. Er ist zwar über den Sachverhalt, über den er urteilt, besser als der Normalbürger informiert, ihm kommt aufgrund seines Status als Wissenschaftler aber in Wertfragen kein größeres Gewicht zu. Er kann seine Geschichte – metanarrativ – im Erzählen bewerten („Ich komme jetzt zu einem der finstersten Kapitel der deutschen Geschichte“). Er ––––––––––––––

15 Stegmaier 2005: 15. 16 Schönrich/Balzer 2002.

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kann auch die Personen und Ereignisse seiner Erzählung bewerten („Der transatlantische Sklavenhandel war ein Verbrechen“). Die Empfehlung von Normen, d.h. die Aufnahme von regulativen Sprechakten ist in der modernen Geschichtsschreibung eine Zutat, sie ist kein notwendiger Bestandteil der Erzählung. Anders verhält es sich mit dem impliziten Normengebrauch. Erzählungen enthalten Normen, die wir umgangssprachlich die „Moral von der Geschichte“ nennen. Der Erzähler will uns etwas sagen, er hat eine „Botschaft“, seine Geschichte enthält eine Lehre, sie empfiehlt eine Verhaltensweise. Das geschieht weniger durch metanarrative Aussagen, sondern narrativ in dem eine besondere Geschichte erzählt wird. Wir müssen narrative von Sollsätzen unterscheiden. In konstativen Sprechakten wie dem Erzählen werden die Normen im Erzählen erst erzeugt und nicht schon vorausgesetzt. Sinnbildungsangebote werden stets durch Bezug auf Normen konstituiert.17 Wenn ein Historiker den Holocaust als Kulturbruch darstellt, nimmt er implizit auf die Menschenrechte Bezug. Dabei ist der Historiker – in nichttotalitären Systemen – behutsamer als andere Erzähler. Der Holocaust und der Sklavenhandel kann als unmenschliche Praxis beschrieben werden. Wenn ein Historiker den transatlantischen Sklavenhandel des 18. Jahrhundert, oder den Holocaust als menschenverachtende Praxis beschreibt, dann macht er dies unter Bezug auf die Norm der Menschenrechte. Der Sinnbildungsprozess ist ohne Bezug auf Normen nicht denkbar. Technikgeschichten folgen der Norm der technischen Effizienz, Wirtschaftsgeschichten oder der ökonomischen Nützlichkeit. Eine Geschichte der Schule unterstellt Bildung als positives Ziel. Eine Geschichte der Demokratisierung folgt dem Kriterium der Erweiterung von Partizipationschancen. Der Erzähler macht in der Regel solche Normen nicht explizit, sondern er folgt ihnen einfach. Jeder Erzählung, wenn sie sich als historische Erzählung ausweisen will, muss bestimmten narrativen Normen folgen, die als intersubjektiv verbindlich gelten, wenn das Interaktionssystem Erzählen zustande kommen soll. Die Geltungsansprüche des historischen Erzählens selbst beruhen auf narrativen Erwartungen, die wir als Verständlichkeit, Richtigkeit und Angemessenheit bezeichnen. Die Norm der erzählerischen Sinnbildungen verlangt Kohärenz. Authentizität wird durch die Norm der wissenschaftlichen Rationalität (Methode, Quellenkritik) erzeugt und Situationsangemes––––––––––––––

17 Das war in der frühen Neuzeit, zur Zeit der exemplarischen Geschichtsschreibung der Fall, die erzählt, um eine Norm durch eine Beispielgeschichte anschaulich zu machen und zu bestätigen.

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senheit muss durch Diskursbezug sichergestellt werden. Jeder Erzähler folgt den Normen der Verständlichkeit, Triftigkeit, Angemessenheit und Gültigkeit. Die vom Erzähler erhobenen Ansprüche können vom Leser bezweifelt und bestritten werden. Der Rezipient kann einer Erzählung zustimmen, er kann sie aber auch zurückweisen; er besitzt Zustimmungsfähigkeit, aber auch Distanzierungsmöglichkeiten. Er kann die vom Erzähler unterstellte intersubjektiven Verbindlichkeiten aufkündigen, indem er sich von deren Geltung distanziert. Er verweigert seine Zustimmung, wenn er die Erzählung für unverständlich, falsch, unangemessen und unwichtig hält. Der Rezipient kann dem Geltungsanspruch zustimmen, er kann sich aber auch verweigern und sich davon distanzieren. Er ist nicht überzeugt von dem, was der Autor sagt. Er hat Bedenken und Einwände; er kann sogar empört sein. Es zeugt von Inkompetenz, wenn der Leser allen konkurrierenden Deutungs- und Sinnbildungsangeboten der Historiker, Schriftsteller, bildenden Künstler, Filmregisseuren in gleicher Weise zustimmt. Aufgrund narrativer Kompetenz kann man alle Darstellungen von Geschichte verstehen, man muss ihre Ansprüche aber noch lange nicht akzeptieren und sich zu eigen machen. Geltungsansprüche müssen sich einlösen lassen. Nur „Ansprüche, die anerkannt sind, gelten“18. Wer sie erhebt, muss sie mit Gründen verteidigen. Das geschieht durch überzeugende Argumente. Das muss nicht metanarrativ geschehen, sondern nur in einer Erzählweise, die den Leser überzeugt. Wenn die vom Erzähler unterstellten Geltungsansprüche auf der inhaltlichen und der formalen Ebene bezweifelt werden, dann muss er sich mit Argumenten rechtfertigen und sein Vorgehen begründen. Das kann auf zweierlei Weise geschehen. Einmal kann der Erzähler schon beim Schreiben die Vermutung haben, dass seine Darstellung auf Widerspruch stoßen wird. Er wird dann die Kritik vorwegnehmen („mancher könnte dagegen einwenden, dass ...“; „um einem Missverständnis vorzubeugen...“). Die zweite Form zeigt sich dann in wissenschaftliche Kontroversen, die in der Mehrzahl argumentativ, weniger häufig narrativ (indem eine Gegengeschichte erzählt wird) ausgetragen werden. Hier ist bisher nur von den seriösen geschichtswissenschaftlichen und geschichtskulturellen Darstelllungen die Rede gewesen. Es gibt aber auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische revisionistische Geltungsansprüche, die nur von Minderheiten geteilt werden. Manche Geltungsansprüche lösen beim Leser auch Belustigung aus wie Erich von Dänikens –––––––––––––– 18 Habermas 1984: 129.

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Außerirdische, mache auch nur Kopfschütteln wie Heribert Illigs Behauptung der erfundenen 300 Jahre. Der Leser kann die erzählte Geschichte verstehen und dennoch ihre normativen Implikationen zurückweisen. Er teilt dann nicht den Anspruch des Erzählers, eine überzeugende Deutung eines historischen Phänomens geliefert zu haben. Überzeugend, wahr und wichtig sind die Ansprüche, die der Erzähler an seine Erzählung stellt. Das sind auch die Normen, die den Schulbüchern zugrunde liegen. Alle diese Geltungsansprüche erheben die Schulbücher, aber wie wir wissen kann nicht jedes Schulbuch sie einlösen. Der Leser – als Schüler wie als Erwachsener – muss folglich über die Fähigkeit verfügen, diese Ansprüche zurückzuweisen, er muss eine Distanzierungsfähigkeit besitzen. Historiographische Erzählungen sind verständlich, empirisch triftig, wichtig und gültig – oder sie sind es eben nicht. Das zu unterscheiden gehört zur narrativen Kompetenz: verstehen, vergewissern, orientieren und distanzieren.

5. Selbsterzählen – Ansprüche an sich selbst Das hier beschriebene Interaktionssystem der narrativen Kompetenz beruht in erster Linie auf einem Dialog zwischen zwei Partnern, einem Erzähler und einem Zuhörer, die natürlich ihre Rollen tauschen können. Es wird aber im Narrativitätsdiskurs weitgehend der Tatbestand übersehen, dass Erzähler und Zuhörer auch die gleiche Person sein können. Das ist kein seltener Fall, sondern findet tagtäglich und massenhaft statt. Aufgrund seines Verstehensbedürfnisses macht sich der Einzelne selbst Sinnbildungsangebote, folgt Authentizitätsansprüchen und hat Vergewisserungsbedürfnisse. In der Beschleunigung von Geschichte, dem schnelleren gesellschaftlichen Wandel, aber auch durch die Globalisierung, die uns immer mehr Ereignisse zumutet, wartet unser Geschichtsbewusstsein nicht, bis uns die professionelle Geschichtswissenschaft oder Fachjournalistik diese Prozesse aufarbeitet und narrativ darstellt. Verstehensbedürfnisse lassen sich nicht über einen längeren Zeitraum suspendieren. Die ersten, die uns Ereignisse berichten, sind die Medien. Sie liefern zwar Informationen, aber sie erzählen keine Geschichte. Wir müssen uns selbst diese Geschichten erzählen, wenn wir diese aktuellen Ereignisse, Vorgänge, Krisen verstehen wollen. Das ist bisher als ausschließlich politologische Aufgabe missverstanden

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worden. Selbsterzählen ist aber eine Funktion des historischen Denkens. Wir vollziehen dabei prinzipiell die gleichen Denkoperationen wie die professionellen Historiker. Diese besitzen allerdings bessere quellenkritische Verifizierungsmethoden, kennen ausgefeilte theoriegesättigte Erzählmuster und lassen sich bei ihrem Erzählen oft viele Jahre Zeit. Wir erfahren die Ereignisse einer Geschichte nicht in der Reihenfolge, in der sie sich ereignen hat. Wir erfahren auch nicht gesicherte Fakten, sondern oft nur Gerüchte. Wir wissen zunächst auch nicht, wann die Geschichte begonnen hat, sondern müssen uns selbst den Anfang suchen. In der Regel stammen unsere Informationen aus den Meldungen der Medien und nicht von den agierenden Parteien selbst. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Während der olympischen Spiele 2008 brachten die Medien am 8. August die Nachricht, dass Russland mit zwei Panzerkolonnen seiner 58 Armee in das Nachbarland Georgien eingedrungen sei. Erst zwei Tage später erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass in der Nacht vom Donnerstand auf Freitag (7. bis 8. August) der georgische Präsident Micheil Saakaschwili mit eigenen Truppen zum Sturm auf Zschiwali, der Hauptstadt von Südossetien, eingedrungen sei. Georgische Truppen griffen mit 27 Raketenwerfern, Artillerie und Kampfflugzeugen an. Sie sollen Zschinwali in Schutt und Asche gelegt haben. Mehrmals bringen die Medien Informationen mit dem Hilfsverb „sollen“. Die Russen „sollen“ Minen gelegt, geplündert und geächtete Streubomben eingesetzt haben. Auch die Georgier sollen Streubomben eingesetzt haben. Tage später erfährt der Zeitgenosse, dass 160 USMilitärberater (stationiert im georgischen Verteidigungsministerium und untergebracht im Hotel Sheraton in Tiflis) die georgische Armee reorganisiert haben. Südossetien gehört seit 1992 völkerrechtlich zu Georgien. Südossetien hatte sich als „Republik Südossetien“ von Tiflis losgesagt. 2  Jahre Krieg nach 1992. Im November 2006 hatten sich in einem Referendum 99% der Südosseten für die Unabhängigkeit von Georgien gestimmt. Im April 2008 hatte George W. Bush auf dem Nato-Gipfel in Bukarest die Aufnahme Georgiens in die Nato gefordert. Die Amerikaner haben die Georgische Arme mit über 30 Millionen Dollar jährlich unterstütz und deren Soldaten trainiert. Juli 2008 gab es ein gemeinsames Manöver der 4. georgischen Infanteriebrigade mit 1000 US-Soldaten im Süden Georgiens unter dem Namen „Direkte Antwort 2008“. Was waren die Motive des Georgischen Präsidenten zum Militärschlag. Amerikanische Zeitungen mutmaßen, dass die Bushadministration Georgien zu einer begrenzten Provokation ermutigt hat, um den Republikanern Vorteile im Wahlkampf zu verschaffen. Russland reagierte wie gewünscht. Revolution von Saakaschwili 2003 („Rosenrevolution“).

Historisches Denken versucht in diese Ereignisse einen narrativen Sinn zu bringen. Jeder einzelne erzählt sich selbst die Geschichte des „Ossetienkonfliktes“ – so gut er kann. Die Reihenfolge, in der wir diese Informationen empfinden, entspricht nicht der temporalen Struktur, die wir für unsere Selbsterzählung brauchen.

Die wechselseitigen Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer

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Die Chronik der Ereignisse erfahren wir aus den Medien nicht in der kalendarischen Reihenfolge. Wir müssen eine narrative Umgliederung von Zeit vornehmen. Anfänge und Ursachen erfahren wir oft erst nach den Folgen. Auch Authentizitätsansprüche erheben wir, und drücken mache Aussagen konjunktivisch aus. Auch wenn sich bestimmte Handlungen („sollen eingesetzt haben“) als unwahr herausstellen, können sie nicht einfach aus der zu erzählenden Geschichte gestrichen werden. Solche Aussagen gehören zur psychologischen Kriegsführung, zur Propaganda, um den Gegner ins Unrecht zu setzen. Ehe professionelle Erzähler wie Historiker und Fachjournalisten uns die Geschichte vom Ossetienkonflikt erzählen, erzählen wir sie uns selbst. Wir wollen diese Ereignisse als einen Zusammenhang verstehen, der die einzelnen Ereignisse in einen verstehbaren Sinnzusammenhang bringt. Dabei stellen wir Authentizitätsansprüche und habe Triftigkeitsvorbehalte. Insofern hat der englische Historiker Thomas Carlyle Recht: „Im gewissen Sinne sind alle Menschen Historiker“.

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LEBENSWELTLICHE ERFAHRUNGEN

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Erfahrung und Geschichte Ein notwendiger Zusammenhang?

FRIEDERIKE RESE Sind Erfahrung und Geschichte nur zufällig aufeinander beziehbar? Etwa in derselben Weise, wie man alle möglichen Phänomene mit dem Begriff der Erfahrung kombinieren kann, also zum Beispiel: Erfahrung und Natur, Erfahrung und Literatur, Erfahrung und Kultur, etc.? Oder besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen diesen beiden Phänomenen, und wenn ja, welcher? Im folgenden Beitrag möchte ich zeigen, dass es einen notwendigen Zusammenhang von Erfahrung und Geschichte gibt und dass dieser in der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz begründet liegt. Als ein Geschehen, das in der Zeit statthat, ist Erfahrung wesenhaft geschichtlich. Erfahrung ist geschichtlich, weil der Mensch ein Lebewesen ist, das in der Zeit lebt. Um das Verhältnis von Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit genauer zu betrachten, werde ich Martin Heideggers Analyse dieses Verhältnisses aus Sein und Zeit aufnehmen.1 Überträgt man diese Analyse auf das Phänomen der Erfahrung, zeigt sich, dass Erfahrung selbst geschichtlich ist. Mit dieser Einsicht ist eine These verbunden: Weil Erfahrung selbst geschichtlich ist, kann sie nur retrospektiv in ihrer Ganzheit aufgefasst werden und ist sie in ihrer Interpretation auch durch den Blick auf die Zukunft bedingt. In der Deutung der Erfahrung sind Zukunfts- und Vergangenheitshorizont derart vermittelt, dass es immer auch von den gegenwärtigen Fragen bzw. vom Zukunftshorizont abhängt, wie etwas Gewesenes betrachtet und als Erfahrung verstanden wird. Die Geschichtlichkeit der Erfahrung bewegt den Erfahrenden dazu, die Geschichte seiner oder ihrer Erfahrung zu erzählen. Doch durch die Geschichte, die der Erfahrende erzählt, gewinnt auch das Geschehen der Erfahrung selbst erst seine Gestalt, die niemals, solange wir leben, eine endgültige ist, und zu –––––––––––––– 1

Vgl. Heidegger 1993: 372–404.

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der, wie Hannah Arendt in Vita activa sagt,2 immer auch die Erzählungen der anderen beitragen. Deshalb führt die Betrachtung der Geschichtlichkeit der Erfahrung am Ende beinahe wie von selbst zu der Frage nach der Individualität bzw. der Kollektivität von Erfahrung. Mein Beitrag ist entsprechend gegliedert: Im ersten Teil werde ich den Begriff der Erfahrung definieren und Erfahrung als ein Geschehen in der Zeit betrachten. Im zweiten Teil des Beitrags werde ich zur Thematik der Geschichtlichkeit der Erfahrung hinleiten, indem ich das Vermögen der Erinnerung betrachte. Denn Erinnerung ist für Erfahrung konstitutiv, und in der Erinnerung, welche sich in der Gegenwart vollzieht, werden die Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft miteinander vermittelt. Hiermit ist die Thematik der Geschichtlichkeit der Erfahrung eingeführt. Und dies erlaubt es, im dritten Teil des Beitrags die Geschichtlichkeit der Erfahrung ausdrücklich zu thematisieren. In diesem Teil werde ich zeigen, dass die Geschichtlichkeit der Erfahrung in der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz begründet liegt. Für diesen Teil der Argumentation ist Heideggers Analyse des Verhältnisses von Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit maßgeblich. In einem vierten und letzten Teil soll schließlich ein Blick auf die Verbindung zwischen der hier vorgelegten ontologischen Analyse der Geschichtlichkeit der Erfahrung und einer eher narratologisch orientierten Betrachtung des Verhältnisses von Erzählung und Erfahrung geworfen werden. Meine These zum Verhältnis der beiden Betrachtungsweisen lautet: Erst im Erzählen gewinnen vergangene Erfahrungen ihre endgültige Gestalt. Das Erzählen selbst kann als ein Austrag der für die Geschichtlichkeit der Erfahrung bezeichnenden Vermittlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begriffen werden.

Erfahrung als ein Geschehen in der Zeit Dass Erfahrung ein Geschehen in der Zeit darstellt, wird deutlich, wenn man die einzelne Erfahrung als einen Vorgang im Bewusstsein begreift, der durch die Begegnung mit etwas in der Welt angestoßen wird und seinerseits eine zeitliche Struktur aufweist. Erfahrung stellt aber auch dann ein Geschehen in der Zeit dar, wenn man eine Vielzahl von Erfahrungen vor Augen hat und ihre Synthese zu einem Wissen der Erfahrung betrachtet. Denn auch die Synthese einer Vielzahl von Erfahrungen zum Wissen der Erfahrung setzt Zeit voraus. Außerdem ist sowohl die Deutung der –––––––––––––– 2

Vgl. Arendt 1997: 222–234.

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einzelnen Erfahrung als auch die Synthese einer Vielzahl von Erfahrungen zum Wissen der Erfahrung durch die verschiedenen Horizonte der Zeit – den Vergangenheitshorizont, den Gegenwartshorizont sowie wie den Zukunftshorizont – bedingt. In dieser Beschreibung sind bereits zwei verschiedene Erfahrungsbegriffe am Werk, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Mit dem Begriff der Erfahrung kann nämlich einerseits eine einzelne und ausgezeichnete Erfahrung gemeint sein, welche sich als ein Prozess im Bewusstsein explizieren lässt, der durch die Begegnung mit etwas in der Welt angestoßen worden ist. Auf diesen Typ von Erfahrung beziehen wir uns, wenn wir davon sprechen, eine Erfahrung zu machen oder gemacht zu haben. Zum anderen kann mit dem Begriff der Erfahrung aber auch eine Form des Wissens gemeint sein, die auf einer Reihe ähnlicher Erfahrungen beruht und den Erfahrenen dazu befähigt, in zukünftigen Situationen, die den vergangenen Situationen ähnlich sind, Tätigkeiten leichter auszuüben oder leichter auf diese Situationen reagieren zu können. Von einem solchen Menschen sagen wir, er oder sie sei erfahren in etwas. Man sieht, dass der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Typen von Erfahrung darin besteht, dass es sich bei der singulären und außergewöhnlichen Erfahrung um eine Erfahrung handelt, die sich nicht ohne Weiteres in die Reihe einer Vielzahl ähnlicher Erfahrungen einordnen lässt; bei diesem Typ von Erfahrung überwiegt der Prozesscharakter bzw. das Moment der einschneidenden Veränderung des Bewusstseins. Bei dem anderen Typ von Erfahrung hingegen, mit dem auf ein Wissen der Erfahrung verwiesen ist, welches über eine längere Zeit erworben wurde, ist der Gesichtspunkt der Wiederholung ähnlicher Situationen und Handlungen entscheidend; bei ihm überwiegt das resultative Moment.3 Wenn man diese Unterscheidung zweier verschiedener Typen von Erfahrung zugrundelegt, dann steht die Thematik der Geschichtlichkeit der Erfahrung sicher in einem größeren Bezug zu der einzelnen und außergewöhnlichen Erfahrung. Und doch ist sie auch für den anderen Erfahrungsbegriff relevant. Denn auch für die Synthese einer Vielzahl ähnlicher Erfahrungen zum Wissen der Erfahrung ist Zeit erforderlich, und auch diese Synthese weist Züge auf, die sich im weitesten Sinne der Geschichtlichkeit –––––––––––––– 3

Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Rese 2006: 61ff. Den beiden verschiedenen Erfahrungsbegriffen sind außerdem zwei Kapitel meiner Habilitationsschrift gewidmet, die voraussichtlich unter dem Titel Der Begriff der Erfahrung im Verlag Mohr Siebeck erscheinen wird. Auch Lázló Tengelyi unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen des Wortes Erfahrung: Erfahrung als Ereignis und Erfahrung als Einstellung, vgl. Tengelyi 2007: 9f.

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der Erfahrung zuordnen lassen. Da aber der zuerst genannte Erfahrungsbegriff, demzufolge Erfahrung einen Prozess im Bewusstsein darstellt, den Geschehenscharakter der Erfahrung reiner vor Augen führt und sozusagen in nuce enthält, soll er im Folgenden als Ausgangspunkt gewählt werden. Ein klassischer Denker, der Erfahrung als einen Prozess im Bewusstsein begriffen hat, ist Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel. In der Einleitung zu seiner Phänomenologie des Geistes hat Hegel Erfahrung als einen Prozess im Bewusstsein dargestellt, der sich aus der Perspektive des phänomenologischen Betrachters auch als eine „Umkehrung des Bewußtseins“4 beschreiben lässt. Doch wie gelangt Hegel zu diesem Erfahrungsbegriff? Für Hegel zerfällt jedes Wissen in die beiden Momente des Bewusstseins und des Gegenstands des Bewusstseins.5 Denn Wissen ist immer Wissen um etwas, und es gibt immer jemanden bzw. ein Bewusstsein, das um etwas weiß. Also gibt es bei jedem Wissen ein Bewusstsein und einen Gegenstand. Wenn das Bewusstsein den Gegenstand zu erkennen versucht, dann ändert sich sein Wissen über diesen Gegenstand. Man könnte auch sagen: Es ändert sich seine Sicht des Gegenstands. So wie der Gegenstand dem Bewusstsein zunächst erschienen ist, so erscheint er ihm jetzt nicht mehr. Vielmehr ist das Bewusstsein zu einer anderen, veränderten Sicht des Gegenstands gelangt. Hegel beschreibt diesen Erkenntnisfortschritt unter Zuhilfenahme der Unterscheidung zwischen dem Gegenstand „an sich“ und dem Gegenstand „für es“;6 mit dem zweiten Gegenstand ist der Gegenstand gemeint, so wie er für das Bewusstsein erscheint. Das Bewusstsein versucht den Gegenstand „an sich“ zu erkennen. Dabei wird es bemerken, dass seine bisherige Sicht, die es von dem Gegenstand hatte, nicht hinreichend ist. Es wird also die Differenz zwischen dem Gegenstand, wie er ihm, dem Bewusstsein, also „für es“, zunächst erschienen ist und wie er ihm jetzt erscheint, bemerken. Auf diese Weise versucht es, sich dem Gegenstand „an sich“ anzunähern. Doch jeder weitere Entwurf des Begreifens des Gegenstandes „an sich“ schlägt im Verlauf des Erkennens in die Einsicht um, dass es den Gegenstand wiederum nur als einen solchen erkannt hat, wie er „für es“ erschienen ist. Deshalb beschreibt Hegel den Erkenntnisweg des Bewusstseins als einen „Weg des Zweifels“7 bzw. als einen „Weg der Verzweiflung“8. Im –––––––––––––– 4 5 6 7 8

Hegel 1986: 79. Vgl. Hegel 1986: 76. Vgl. Hegel 1986: 76f. Hegel 1986: 72. Hegel 1986: 72.

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Erkennen versucht das Bewusstsein, die Differenz zwischen dem Gegenstand an sich und dem Gegenstand für es zu überkommen und gelangt doch immer wieder nur zu einer Sicht des Gegenstandes, in dieser ihm der Gegenstand auf eine bestimmte Weise erscheint, eben einem Gegenstand „für es“. Erst im absoluten Wissen hat es die Differenz zwischen dem Gegenstand an sich und dem Gegenstand für es überkommen. Wenn sich im Erkennen die Sicht des Gegenstandes ändert, dann ändert sich für das Bewusstsein aber nicht nur der Gegenstand, sondern auch sein Wissen von diesem. Diesen Fortschritt im Erkennen hat Hegel als eine dialektische Bewegung der Erfahrung beschrieben. Die entsprechende Textpassage aus der Phänomenologie des Geistes lautet: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“9 Was an dieser Beschreibung sofort auffällt, ist, dass der Gegenstand dem Bewusstsein in Hegels Ansatz nicht äußerlich in der Welt begegnet, in der das Bewusstsein zufällig auf einen Gegenstand seines Erkennens trifft, sondern dass der Gegenstand bereits ein Moment des Wissens des Bewusstseins darstellt. Die Erfahrung, die das Bewusstsein in Hegels Ansatz macht, kommt nicht durch die Begegnung mit einem fremden Gegenstand in der Welt zustande, sondern sie wird im Hinblick auf einen Gegenstand gemacht, der bereits in das Wissen des Bewusstseins gehört. Für Hegel besteht die Erfahrung des Bewusstseins darin, dass sich sein Verständnis von einem Gegenstand, auf den es im Erkennen schon ausgerichtet ist, ändert. Diese Änderung lässt sich, wenn man sie nicht aus der Innenperspektive des Bewusstseins, sondern aus der Perspektive des Phänomenologen, der der Erkenntnisbewegung des Bewusstseins von außen zuschaut, betrachtet, als eine „Umkehrung des Bewußtseins“10 beschreiben. Denn in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Erkennens schlägt die Sicht, die das Bewusstsein vom Gegenstand seiner Erkenntnis hat, in das Gegenteil um, so dass man, wenn man sich auf den Wissenszustand des Bewusstseins bezieht, auch von einer Umkehrung des Bewusstseins sprechen kann. Mit der Struktur der Umkehrung des Bewusstseins, so wie sie Hegel in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes unter dem Begriff der Erfahrung vorgestellt hat, ist ein allgemeines Merkmal von Erfahrung ge––––––––––––––

9 Hegel 1986: 78. 10 Hegel 1986: 79.

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troffen.11 Allerdings muss man, wenn man Hegels Struktur der Umkehrung des Bewusstseins als ein grundsätzliches Charakteristikum von Erfahrung aufnehmen möchte, meines Erachtens einige Einschränkungen vornehmen: Erstens ist die Prämisse, die für Hegels Ansatz wesentlich ist und derzufolge der Gegenstand des Erkennens dem Bewusstsein immanent ist und immer schon einen Teil des Wissens des Bewusstseins darstellt, in Klammern zu setzen. Denn Erfahrung soll im Folgenden, anders als bei Hegel, als etwas begriffen werden, das im Bewusstsein des Erkennenden gerade durch die Begegnung mit einem externen, in der Welt begegnenden Gegenstand angestoßen wird. Zweitens ist die Struktur der Umkehrung des Bewusstseins, wenn mit dieser eine vollkommene Umkehrung des gesamten Systems der Überzeugungen des Bewusstseins gemeint ist, für eine bestimmte Ausprägung von Erfahrung zu reservieren, nämlich für die Ausprägung, in der Erfahrung tatsächlich eine vollkommene Wende der gesamten Sicht der Welt und seiner selbst bezeichnet. Dies scheint mir aber nur die radikalste Möglichkeit von Erfahrung zu sein. Daneben sind andere Ausprägungen oder Intensitätsgrade von Erfahrung denkbar, bei denen sich entweder nur ein Teil der Überzeugungen des Erfahrenden ändert oder sich nur deren Gewissheit verändert oder aber der Erkennende bloß zu einer anderen Ordnung seines Wissens gelangt, etwa wenn sich die Hierarchie der Überzeugungen des Erfahrenden verändert und eine andere Überzeugung wichtiger wird als eine zuvor gehabte. Diese drei weiteren Formen der Änderung des Wissens, d.h. die Änderung eines Teils der Überzeugungen, der Gewissheit der Überzeugungen oder ihrer Anordnung, können alle ebenfalls mit dem Begriff der Erfahrung bezeichnet werden, nur dass sie nicht eine solche radikale Form von Erfahrung meinen wie diejenige, welche mit einer vollkommenen Umkehrung des gesamten Systems der Überzeugungen verbunden ist. Wenn Erfahrung aber grundsätzlich als eine Veränderung des Systems der Überzeugungen im Erfahrenden beschreibbar ist, dann ist es erforderlich, den Geschehenscharakter der Erfahrung und deren Zeitlichkeit im Rückgang auf den ontologischen Begriff der Veränderung genauer zu durchdenken. Der ontologische Begriff der Veränderung wurde in der Geschichte der Philosophie grundlegend und für alle weiteren Erörterungen maßgeblich von Aristoteles untersucht. Deshalb werde ich mich im ––––––––––––––

11 Ähnlich auch Lázló Tengelyi, vgl. Tengelyi 2007: 13. Tengelyi interpretiert Erfahrung – im Sinne von Erfahrung als Ereignis – als einen unausdrücklichen Sinnbildungsvorgang, in dem sich etwas als etwas anderes erweist, als es sich zuvor dargestellt hat.

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Folgenden auf Aristoteles’ ontologische Analyse von Veränderung beziehen. Auch wenn Aristoteles in seiner Physik vor allem Ortsveränderungen und Zustandsänderungen von Gegenständen vor Augen hat, so lässt sich seine grundsätzliche Analyse der Veränderung bzw. des Umschlags (metabolhv) und der Zeitlichkeit dieser Veränderung doch auf die im Prozess der Erfahrung geschehende Veränderung übertragen. Eben diese Übertragung werde ich im Folgenden durchführen. Ein Umschlag (metabolhv) kann sich für Aristoteles in verschiedenen Bewegungen ereignen. Charakteristisch für die Gedankenfigur des Umschlags ist, dass sich etwas vor dem Umschlag bzw. vor der Veränderung in einem anderen Zustand befunden hat als danach. Deshalb ist der Umschlag für Aristoteles das Kennzeichen einer bestimmten Art von Bewegung, die er in der Physik mit dem Begriff der kivnhsi" bezeichnet,12 und in der Metaphysik von einer anderen Bewegung abhebt, nämlich der Bewegung der ejnevrgeia. Während in der Bewegung der kivnhsi" der Ausgangszustand und der Endzustand von etwas voneinander verschieden sind, verhält sich etwas in der Bewegung der ejnevrgeia immer auf dieselbe Weise und ist dennoch nicht unbewegt.13 In einigen Bewegungen von der Art der kivnhsi" gibt es über die Verschiedenheit von Anfangs- und Endzustand hinaus einen Punkt, an dem etwas von dem Ausgangs- in den Endzustand umschlägt. Eben diesen Punkt benennt Aristoteles mit dem Begriff des Umschlags, der metabolhv.14 Da der Umschlag die Bewegung der kivnhsi" in zwei schneidet, lässt sich in dieser Bewegung eine frühere von einer späteren Phase unterscheiden. Der Umschlag bildet eine Zäsur, welche es ermöglicht, zwei verschiedene Phasen voneinander abzuheben. Dies gilt auch für die Bewegung der Erfahrung. Auch in ihr lässt sich eine Phase vor der einschneidenden und für die Erfahrung charakteristischen Veränderung des Bewusstseins von einer Phase nach der Veränderung unterscheiden. Sobald man aber die Verschiedenheit dieser beiden Phasen im Prozess der Erfahrung wahrgenommen hat, tritt die zeitliche Struktur dieses Prozesses zutage. Es ist dieselbe Struktur, die für jede Art von Veränderung charakteristisch ist. Und deshalb soll Aristoteles’ Analyse der Zeitlichkeit von Veränderung hierzu ––––––––––––––

12 Vgl. Aristoteles, Physik V 1: 224b10–15. 13 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 6, 1048b28–35. 14 Vgl. Aristoteles, Physik V 1: 224b35–225a3: „Wenn nun aber jeder Umschlag (metabolhv) von einem Zustand zu einem anderen Zustand führt – dies ist auch schon im Namen offenkundig, denn etwas ist hier nach anderem (met’ a[llo), und offenkundig gibt es einerseits ein Früheres und andererseits ein Späteres – dann ist das Umschlagende in den Umschlagenden wohl vierfach.“

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zitiert werden: „Da jede Veränderung von einer Sachlage zu einer anderen führt, muß der Gegenstand der Veränderung, sobald er die Veränderung hinter sich hat, sich im neuen Zustand befinden. Denn der Gegenstand verlässt in der Veränderung seinen Ausgangszustand und die Veränderung ist entweder mit diesem Verlassen überhaupt identisch oder aber sie zieht es unmittelbar nach sich. Zieht also die Veränderung das Verlassen des alten Zustandes nach sich, so die abgeschlossene Veränderung die Vergangenheit des vorausliegenden Zustands. Beide Verhältnisse entsprechen einander ja völlig.“15 Nun muss man nur noch den in der Welt befindlichen Gegenstand durch das Bewusstsein ersetzen. Dann ist die Bedeutung dieser Textpassage für die Analyse der zeitlichen Struktur der Bewegung der Erfahrung deutlich. Ebenso wie bei der Veränderung eines Gegenstandes ändert sich in der Bewegung der Erfahrung der Zustand des Bewusstseins, so dass sich zwischen einem alten und einem neuen Zustand des Bewusstseins unterscheiden lässt und das Eintreten des neuen Zustands des Bewusstseins die Vergangenheit des alten Zustands impliziert. Wenn diese Veränderung des Zustands des Bewusstseins aber für die Bewegung der Erfahrung charakteristisch ist und zwei Phasen in dieser Bewegung voneinander zu unterscheiden erlaubt, wann weiß derjenige oder diejenige, die eine Erfahrung gemacht hat, eigentlich, dass er oder sie eine Erfahrung gemacht hat? Die Antwort auf diese Frage liegt nahe oder fällt leicht und ist dennoch von zentraler Bedeutung für meine Argumentation. Der Erfahrende weiß darum, dass er eine Erfahrung gemacht hat, eigentlich erst im Rückblick auf diese. Denn nur im Rückblick auf den ––––––––––––––

15 Aristoteles, Physik VI 5, 235b6–13, zitiert in der Übersetzung von Hans Wagner mit der folgenden Modifikation: Den Begriff des Prozesses habe ich durch den Begriff der Veränderung ersetzt. Dies ist meines Erachtens zulässig, weil im Griechischen mit verschiedenen Formen des Verbs metabavllein auf den Begriff der metabolhv, des Umschlags, bezuggenommen wird, und ich in meiner Argumentation den Begriff der Veränderung synonym zu dem Begriff des Umschlags verwendet habe. Im aristotelischen Text der Physik könnte man, wenn man es genau nimmt, zwischen Umschlag (metabolhv) und Veränderung (ajlloivwsi") unterscheiden. Die Veränderung im Sinne der ajlloivwsi" stellt dann nur einen Typ einer Bewegung dar, welche einen Umschlag aufweist. Mit ihr ist allein die qualitative Veränderung bezeichnet, vgl. Aristoteles, Physik III 1: 201a11–12. Allerdings kann man den deutschen Begriff der Veränderung auch in einem weiteren Sinne begreifen, so dass er die anderen Arten des Umschlags (Ortsbewegung, quantitative Veränderung sowie die Bewegung des Entstehens und des Vergehens, vgl. Aristoteles, Physik III 1: 201a9–15) miteinschließt. Dann kann er als ein synonymer Begriff zu dem des Umschlags verstanden werden, und in eben diesem Sinne habe ich ihn hier verwandt.

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vergangenen Zustand seines Bewusstseins und im Vergleich dieses vergangenen Zustands mit dem gegenwärtigen Zustand des Bewusstseins kann jemand von sich sagen, er habe eine Erfahrung gemacht. Was dem Bewusstsein in Hegels Phänomenologie des Geistes erst ganz am Ende der Phänomenologie möglich ist, nämlich im Schlusskapitel der Phänomenologie des Geistes, in dem sich der Geist der vorangehenden Stufen seines Wissens erinnert,16 ist auch dem Lebenden im Alltag nur mit Hilfe der Erinnerung des vorangehenden Zustands seines Bewusstseins möglich. Nur diese erlaubt es ihm oder ihr zu diagnostizieren, eine Erfahrung gemacht zu haben. Das Vermögen der Erinnerung holt aber nicht nur den vergangenen Zustand des Bewusstseins hervor – und erlaubt auf diese Weise den Vergleich mit dem gegenwärtigen Zustand – sondern es hat zuvor auch dazu beigetragen, dass der vergangene Zustand des Bewusstseins überhaupt aufbewahrt wurde.17 Erst durch die Erinnerung im Sinne der Wiederhervorholung ist aber der Vergleich des vergangenen mit dem gegenwärtigen Zustand möglich. Deshalb ist das Vermögen der Erinnerung für das Phänomen der Erfahrung konstitutiv. Man könnte anstelle von Erinnerung auch von Reflexion sprechen. Denn es findet hier offensichtlich eine Zurückbeugung des Bewusstseins auf einen vergangenen Zustand dieses Bewusstseins statt. Allein, das Bewusstsein bzw. der Lebende bleibt in der Erfahrung nicht in der Vergangenheit verhaftet, sondern hat sich bereits über diese hinaus zu einem neuen Zustand seines Bewusstseins bewegt, welchen er nun in der Rückschau als einen neuen Zustand seines Bewusstseins erkennt. Dies erlaubt es ihm oder ihr, im Nachhinein zu sagen, er oder sie habe eine Erfahrung gemacht. Wenn es aber so ist, dass Erinnerung für Erfahrung in diesem Sinne konstitutiv ist, dann muss das Vermögen der Erinnerung sowie die in ihr geschehende Vermittlung des gegenwärtigen oder auch des zukünftigen zeitlichen Horizontes mit dem vergangenen Horizont genauer betrachtet werden. Eben dies soll im nächsten Teil meines Beitrags geschehen.

–––––––––––––– 16 Vgl. Hegel 1986: 590f. 17 Hegel unterscheidet an dieser Stelle nicht, wie etwa Aristoteles, zwischen den beiden Vermögen des Gedächtnisses und der Erinnerung. In seiner Schrift De memoria et reminiscentia hatte Aristoteles dem Gedächtnis die Funktion der Aufbewahrung von Vergangenem zugeschrieben, der Erinnerung hingegen die Funktion der Wiederhervorholung und Vergegenwärtigung von Vergangenem, vgl. Aristoteles 2004: 11–20. Bei Hegel kommen beide Funktionen dem Vermögen der Erinnerung zu.

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Bedeutung von Erinnerung für Erfahrung Erst durch Erinnerung wird Erfahrung vollständig konstituiert. Denn nur so, nämlich als begriffene, existiert Erfahrung eigentlich und nicht als etwas, das sich einfach bloß ereignet hat. Die Erinnerung gibt von dem vergangenen und dem gegenwärtigen Zustand des Bewusstseins ein bestimmtes Bild. Für dieses Bild, welches die Erinnerung entwirft, ist aber auch der Blick auf die Zukunft entscheidend. Denn der Blick auf die Zukunft hat Auswirkungen auf die Erinnerung des Gewesenen bzw. die Wahrnehmung des Gegenwärtigen. Edmund Husserl hat die Bedeutung der Zukunft für die Erinnerung erkannt, und sie in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins unter dem Titel „Protentionen in der Wiederinnerung“18 behandelt. Diese Vorlesungen hat Martin Heidegger als Husserls ehemaliger Assistent im Frühjahr 1928, also ein Jahr nach dem Erscheinen von Sein und Zeit, herausgegeben.19 Die Struktur der Protention in der Wiedererinnerung – also der Vorwärtsgeneigtheit auf die Zukunft in der Erinnerung – ist auch für Heideggers Konzeption von Geschichtlichkeit in Sein und Zeit entscheidend. In Heideggers Ansatz begegnet sie in Gestalt des Vorlaufens zum Tode, welches allererst ein eigentliches Verständnis des Gewesenen und des Gegenwärtigen ermöglicht. Doch bevor ich Heideggers Konzeption von Geschichtlichkeit vorstellen möchte – dies soll im nächsten Abschnitt geschehen –, soll in diesem Abschnitt zunächst Husserls Analyse der Bedeutung der Erinnerung für die Konstitution von „Zeitobjekten“20, und damit auch für die Konstitution von Erfahrung, betrachtet werden Husserl unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Arten von Erinnerung, der primären und der sekundären.21 Während die primäre Erinnerung sich direkt an die Wahrnehmung anschließt und das Noch-im-Sinne-Sein des gerade Wahrgenommenen meint, welches Husserl auch mit dem Begriff der „Retention“ zu erfassen versucht,22 ist mit der sekundären Erinnerung die „Wiedererinnerung“ gemeint, welche ein längst Vergangenes ––––––––––––––

18 Vgl. Husserl 2000: 410. 19 Vgl. Heidegger, Vorbemerkung des Herausgebers, in: Husserl 2000: 368. Die Vorlesungen wurden von Husserl im WS 1904/05 in Göttingen gehalten und waren Heidegger zur Zeit der Abfassung von Sein und Zeit bekannt. 20 Husserl 2000: 384: „Unter Zeitobjekten im speziellen Sinn verstehen wir Objekte, die nicht nur Einheiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich enthalten.“ 21 Vgl. Husserl 2000: 295. 22 Vgl. Husserl 2000: 395.

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aktiv wiederhervorholt und vergegenwärtigt. Diese aktive Vergegenwärtigung kann aber auch durch einen Blick auf die Zukunft mitbedingt sein. Das heißt: In der Wiedererinnerung wird das Vergangene nicht bloß reproduziert, sondern diese Reproduktion kann zusätzlich zu der Orientierung an den Geschehnissen in der Vergangenheit durch eine gewisse Ausrichtung auf die Zukunft des Wiedererinnerten mitgeprägt sein. Um diese Verschränkung der verschiedenen Zeitstufen in der Erinnerung besser zu verstehen und ihre Relevanz für das Phänomen der Erfahrung zu erkennen, zitiere ich die entsprechende Textpassage aus Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins: „Die Wiederinnerung ist nicht Erwartung, sie hat aber einen auf die Zukunft und zwar auf die Zukunft des Wiedererinnerten gerichteten Horizont, der gesetzter Horizont ist. Dieser Horizont wird im Fortschreiten des wiedererinnernden Prozesses immer neu eröffnet und lebendiger, reicher. Und dabei erfüllt sich dieser Horizont mit immer neuen wiedererinnerten Ereignissen. Die vordem nur angedeutet waren, sind nun quasigegenwärtig, quasi im Modus der verwirklichenden Gegenwart.“23 In dieser Beschreibung wird die Wiedererinnerung von Husserl zunächst von der Erwartung abgegrenzt. Während die Wiedererinnerung auf das Gewesene gerichtet ist, ist die Erwartung auf das Zukünftige gerichtet. Beide haben statt in der Gegenwart, und beide sind Funktionen eines mentalen Vermögens, mit dessen Hilfe der Erkennende das Gegenwärtige transzendieren und Gewesenes vergegenwärtigen sowie Zukünftiges antizipieren kann. Nicht ohne Grund gibt es in Augustinus’ Confessiones ein Vermögen, mit dessen Hilfe sich der Lebende und der Erkennende auf die drei Aspekte der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) beziehen kann: die memoria.24 Doch auch ohne dieses Vermögen zu identifizieren, mit dessen Hilfe der Erkennende sich in der Gegenwart auf das Gewesene und das Zukünftige beziehen kann, kennt Husserl ebenfalls eine solche Bezugnahme auf das Gewesene in der Erinnerung und auf das Zukünftige in der Erwartung. Allerdings: Auch wenn die Erinnerung, oder genauer gesagt: die Wiedererinnerung, auf diese Weise von der Erwartung verschieden ist, ist auch ihr ein Bezug auf Zukünftiges zueigen. Und auch hier fasst Husserl die Sache noch präziser: Es ist nicht die Zukunft schlechthin, die für die Wiedererinnerung relevant ist, sondern die Zukunft des Wiedererinnerten. Diese Zukunft des Wiedererinnerten erläutert Husserl auch als ––––––––––––––

23 Husserl 2000: 411. 24 Augustinus 1960: 506–509, Liber X, Cap. 8, 14.

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einen „Horizont, der gesetzter Horizont ist“25. Außerdem soll dieser Horizont „im Fortschreiten des wiedererinnernden Prozesses immer neu eröffnet und lebendiger, reicher“26 werden. Diese Beschreibung ist zunächst rätselhaft. Um hier etwas Licht ins Dunkel zu bringen, soll das Verhältnis von Protention und Wiedererinnerung betrachtet werden, so wie es Husserl in § 24 der Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins beschrieben hat. In diesem Paragraphen betont Husserl, dass bereits jeder Wahrnehmungsvorgang von Protentionen, und das heißt: Ausrichtungen auf Zukünftiges, „beseelt“ sei.27 Protentionen sind also schon für den Wahrnehmungsvorgang von Bedeutung. Diese Protentionen werden hier als Leerintentionen erläutert, welche das Kommende auffangen und durch es erfüllt werden. Der Inhalt der Protention ist im Wahrnehmungsvorgang mehr oder weniger bestimmt; er kann auch gänzlich unbestimmt sein. Wenn man beispielsweise ein Gebäude wahrnimmt, so kann man eine gewisse Vorstellung davon haben, wie die andere Seite des Gebäudes wohl aussehen mag. Und doch wird man erst dann, wenn man um das Gebäude herumgegangen ist, wissen, wie sie tatsächlich aussieht. Es liegt also eine Erwartung vor, die mehr oder weniger bestimmt sein kann und sich aus der bisherigen Kenntnis von Gebäuden speist. Sie wird dann durch die tatsächliche Beschaffenheit des Gebäudes bestätigt oder auch widerlegt. Das bedeutet aber: Auch für den Vorgang der Wahrnehmung sind Protentionen von Bedeutung. Nur aufgrund von ihnen kann etwas als ein Ganzes und in sich Zusammenhängendes von bestimmter Gestalt wahrgenommen werden. Dasselbe gilt nun für die Erinnerung. Auch sie ist von Protentionen bestimmt. Allerdings sind die Protentionen in der Wiedererinnerung von anderer Beschaffenheit. Denn der Gegenstand oder das Ereignis war ja bereits als Ganzes gegeben. Es werden also auch die früheren Protentionen und deren Erfüllung wiedererinnert.28 Darüber hinaus ist die Wiedererinnerung aber auch von Erwartungen bestimmt, die sich auf die Zukunft des Erinnerten richten. Und hier gewinnt die Sache an philosophischem Gewicht. Denn mit der Betonung der Zukunft des Wiedererinnerten hat Husserl meines Erachtens gezeigt, dass der Vorgang der Erinnerung nie abgeschlossen ist, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Gegenwart jeweils neu aufgenommen werden kann. Dann, wenn er wiederaufgenom––––––––––––––

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Husserl 2000: 411. Husserl 2000: 411. Husserl 2000: 410. Vgl. Husserl 2000: 410.

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men wird, hat sich aber auch dasjenige, was wiedererinnert wird, weiterentwickelt bzw. bereits eine bestimmte Geschichte gehabt. Diese wird ebenso miterinnert wie auch das, was in der Zukunft hinsichtlich des Erinnerten erwartet wird. Dabei ist der Zukunftshorizont des Wiedererinnerten immer ein gesetzter, das heißt, er beruht auf bestimmten Annahmen und Vermutungen. Verdeutlichen wir uns dies an einem Beispiel: Es kann zum Beispiel ein historisches Ereignis auf verschiedene Weise erinnert werden. Am prominentesten ist in der deutschen Geschichte sicher das Beispiel des Holocaust. Wie dieses maßlose Verbrechen an deutschen Mitbürgern erinnert werden wird, hängt immer auch von den auf die Zukunft gerichteten Intentionen des Erinnernden ab. Wird der Holocaust als ein bloßes Mahnmal der Geschichte erinnert, welches die Menschheit in Zukunft vor ähnlichen Verbrechen bewahren soll? Oder wird er als die Geschichte verschiedener Religionsgemeinschaften erinnert, die auch das zukünftige Verhältnis von Juden und Christen belasten wird? Oder wird er erinnert, um die Deutschen auf ihre ewige Schuld aufmerksam zu machen, von der sie sich auch durch noch so viele politisch gutzuheißende Taten nicht befreien können? Wie auch immer vom Holocaust gesprochen wird: Der Blick auf die Vergangenheit ist hier jeweils auch durch die Absicht des Sprechers und den Blick auf die Zukunft bedingt. Nun könnte man aber auch ein weniger brisantes Beispiel wählen, um die Bedeutung der Protentionen in der Wiedererinnerung zu veranschaulichen, nämlich das Beispiel der Lebensgeschichte des einzelnen. Auch hier wird jeder das Phänomen kennen, dass er oder sie Ereignisse, die bereits vergangen sind, anders wiedererinnert, je nachdem, wie sich die Bezüge, in denen jemand steht, weiterentwickelt haben und welche zukünftige Entwicklung jemand antizipiert. Diese Überlegung gibt nun aber auch einen Anhaltspunkt, um die rätselhaften Sätze, die Husserl am Ende der oben zitierten Textpassage äußert, zu interpretieren. Wenn es hier von dem Zukunftshorizont in der Wiedererinnerung heißt, dass er sich „im Fortschreiten des wiedererinnernden Prozesses immer neu eröffnet und lebendiger, reicher wird“29, dann könnte dies bedeuten, dass der Prozess der Wiedererinnerung durch die bereits stattgefundenen Wiedererinnerungen und durch die sich ständig verändernde Perspektive auf die Zukunft fortlaufend angereichert und insofern lebendiger und reicher wird. Es kann damit aber auch gemeint sein, dass Ereignisse, die zunächst im Schatten des zuerst erinnerten Ereignisses standen, durch den jeweils anderen Blick –––––––––––––– 29 Husserl 2000: 411.

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auf die Zukunft in den Vordergrund geraten. Hierauf deuten die letzten beiden Sätze der oben zitierten Textpassage hin: „Und dabei erfüllt sich dieser Horizont mit immer neuen wiedererinnerten Ereignissen. Die vordem nur vorgedeutet waren, sind nun quasigegenwärtig, quasi im Modus der verwirklichenden Gegenwart.“30 Der Blick auf Husserls Analyse der Zeitlichkeit der Erinnerung sollte gezeigt haben, dass auch in der Erinnerung die Ausrichtung auf die Zukunft des Erinnerten bzw. auf die zukünftige Entwicklung des Erinnerten von wesentlicher Bedeutung ist. Ein Historiker, der auf eben diese Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft ebenfalls aufmerksam gemacht hat, ist Reinhart Koselleck. In seiner Monographie Vergangene Zukunft ist das Schlusskapitel genau dieser Thematik gewidmet.31 Es trägt den Titel Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – Zwei historische Kategorien. Wie man schon am Titel des Kapitels erkennen kann, werden hier nicht Erinnerung und Erwartung, sondern Erfahrung und Erwartung einander gegenübergestellt. Erfahrung wird von Koselleck vorläufig als „gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können,“32 erläutert, während Erwartung sich auf die Zukunft bezieht und von Koselleck als „vergegenwärtigte Zukunft“33 erläutert wird. Auch Koselleck weist daraufhin, dass Vergangenheit und Zukunft in der Betrachtung der Geschichte miteinander verschränkt sind. Es gibt eine Passage, in der Koselleck, ähnlich wie ich dies oben versucht habe, die rückwirkende Bedeutung von Erwartungen für die Interpretation von Erfahrungen hervorhebt: „auch einmal gemachte Erfahrungen können sich mit der Zeit ändern. […] Erfahrungen überlagern sich, imprägnieren sich gegenseitig. Mehr noch, neue Hoffnungen und Erwartungen schießen rückwirkend in sie ein. Also auch Erfahrungen ändern sich, obwohl sie als einmal gemachte immer dieselben sind. Dies ist die temporale Struktur der Erfahrung, die ohne rückwärtswirkende Erwartung nicht zu sammeln ist.“34 –––––––––––––– 30 Husserl 2000: 411. Diese Deutung findet auch einen Rückhalt in einem Manuskript, das in dem Band der Husserliana mit den Bernauer Manuskripten (Bd. 33 der Husserliana) unter der Nr. 21 veröffentlicht ist, vgl. Husserl 2001: 361–368. Denn dort beschreibt Husserl, wie aus den sogenannten ‚toten Erinnerungen‘, die als Einfall ins Bewusstsein gelangen, ‚lebendige Erinnerungen‘ werden können, welche aktiv wiedererinnert, oder wie Husserl hier auch sagt: lebendig konstituierend wiedererinnert werden, vgl. Husserl, 2001: 363; zu der Opposition ‚tote‘ vs. ‚lebendige Erinnerungen‘ vgl. Husserl 2001: 364. 31 Vgl. Koselleck 1979: 349–375. 32 Koselleck 1979: 354. 33 Koselleck 1979: 355. 34 Koselleck 1979: 358.

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Dieser Beschreibung kann ich nur emphatisch zustimmen. Dennoch würde ich, anders als Koselleck, nicht mit dem Gegensatz von Erfahrung und Erwartung, sondern mit dem Gegensatz von Erinnerung und Erwartung arbeiten. Dies hat den Vorteil, dass man die Bedeutung von Erinnerung für Erfahrung thematisieren und gerade in ihr den Bezug auf die Zukunft erkennen kann, den auch Koselleck hervorhebt. Außerdem würde ich vorschlagen, statt von vergangener Zukunft eher von zukünftiger Vergangenheit zu sprechen. Denn es ist die Vergangenheit, die sich in der Zukunft ändert. Sie ändert sich, weil der Blick des Historikers sich verändert. Aber selbstverständlich ändert sie sich immer nur bis zu einem bestimmten Grad. Denn Fakten kann man nicht leugnen. Doch welche Fakten erinnert und wie sie interpretiert werden, hängt immer auch vom Deutungshorizont des Historikers ab. Dass Geschichte ein Phänomen ist, welches derart auf das Gewesene und auf das Zukünftige bezogen ist, hat auch Martin Heidegger gesehen. Allerdings fehlt in seiner Beschreibung der Begriff der Erfahrung. Dennoch lassen sich seine grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit, wie er sie im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit vorgestellt hat,35 auf das Phänomen der Erfahrung übertragen. Eben dies soll im nächsten Teil meines Beitrags geschehen.

Geschichtlichkeit der Erfahrung Die Geschichtlichkeit der Erfahrung liegt in der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz begründet. Diese Einsicht hat Martin Heidegger in Sein und Zeit auf exemplarische Weise zu formulieren gewusst. In der ihm eigentümlichen Art vermag Heidegger die Leser wachzurütteln und ihnen vor Augen zu führen, dass das bisherige Geschichtsverständnis, welches die durchschnittlichen Leser bis dahin gehabt haben, unzureichend ist und durch ein tiefsinnigeres und ontologisch fundierteres Geschichtsverständnis überkommen werden muss. Während das „vulgäre Verständnis der Geschichte“36 die Geschichte auf das Vergangene reduziert und trotz der Wahrnehmung ihres Geschehenscharakters den Bezug auf die Zukunft nicht berücksichtigt,37 kann der ontologisch tiefsinnigere Denker die Abkünftigkeit der Geschichte von der Geschichtlichkeit des menschlichen ––––––––––––––

35 Vgl. Heidegger 1993: 372–404. 36 Heidegger 1993: 378. 37 Vgl. Heidegger 1993: 378f.

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Daseins erkennen.38 Gerade weil das Dasein selbst geschichtlich ist, kann es eine Geschichte haben, oder in Heideggers Worten: „Das Dasein hat faktisch je seine ‚Geschichte‘ und kann dergleichen haben, weil das Sein dieses Seienden durch Geschichtlichkeit konstituiert wird.“39 Die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins liegt aber in der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz begründet. Denn nur weil der Mensch in der Zeit existiert, kann er sich auf das Vergangene und auf das Zukünftige beziehen. Ebenso wie Husserl in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins liegt Heidegger in Sein und Zeit daran, die Bedeutung der Zukunft für die Deutung des Vergangenen bzw. des Gewesenen zu betonen. Hierzu werde ich jetzt eine längere Passage zitieren, die für Heideggers Verständnis des Verhältnisses von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit aufschlussreich und für meine Argumentation wichtig ist. Heidegger schreibt: „Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann, das heißt nur Seiendes, das als zukünftiges gleichursprünglich gewesend ist, kann, sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ‚seine Zeit‘. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, das heißt eigentliche Geschichtlichkeit möglich.“40 Heidegger hebt in dieser Passage vor allem die Bedeutung des Vorlaufens zum Tode für die Deutung des Gewesenen hervor. Seine These ist, dass nur im Lichte des eigenen Todes die jeweils faktischen Möglichkeiten, welche durch die faktischen Lebensumstände, unter denen ein Mensch existiert, bedingt sind, als eigene übernommen werden können. Erst durch die Antizipation des eigenen Todes werden jeweils faktische Möglichkeiten beurteilbar und im Lichte des eigenen Lebens ergreifbar oder vernachlässigbar. Nur wer die Endlichkeit der eigenen Existenz vor Augen hat, kann eigentlich wählen. Und nur diesem oder dieser ist es möglich, so etwas wie ein Schicksal, das heißt, eine eigentliche Form von Geschichtlichkeit zu haben. Um diese Passage zu verstehen, muss man sich an Heideggers Erläuterung zur Bedeutung der öffentlichen Ausgelegtheit des menschlichen Seins für die Existenz des einzelnen und jeweils jemeinigen Daseins erinnern.41 ––––––––––––––

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Vgl. Heidegger 1993: 379–382. Heidegger 1993: 382. Heidegger 1993: 385. Vgl. Heidegger 1993: 126–129.

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Was Heidegger im ersten Abschnitt von Sein und Zeit im Kapitel über das Vorlaufen zum Tode42 und auch im Zusammenhang mit der Befindlichkeit der Angst erläutert,43 kommt auch hier wieder, im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit, zum Tragen: Nur dasjenige Dasein, das um die Endlichkeit des eigenen Seins weiß und die faktischen Möglichkeiten im Licht des zukünftigen Endes der eigenen Existenz betrachtet, vermag sich „eigentlich“44 zu diesen Möglichkeiten zu verhalten. Die Figur der eigentlichen Geschichtlichkeit wiederholt im Grunde genommen die Frage der Eigentlichkeit der menschlichen Existenz, nur im Kontext der Betrachtung der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins. Jedoch wird der Gedanke der Eigentlichkeit der menschlichen Existenz erst in diesem Kontext vollkommen verständlich. Doch selbst wenn man den Gedanken der Eigentlichkeit der menschlichen Existenz nicht teilt, ist die Vermittlungsstruktur des Gewesenen und des Zukünftigen für das Phänomen der Erfahrung charakteristisch. Erfahrung wird konstituiert – im Hier und Jetzt, im Rückblick auf Gewesenes und in Antizipation des Zukünftigen. Die so vorgenommene Vermittlung ist in sich selbst bereits sprachlich verfasst. Sie verlangt nach Erzählung. Und insofern hat die Erfahrung aufgrund ihrer Geschichtlichkeit einen Zug zur Erzählung. Erfahrung drängt geradezu danach, erzählt zu werden. Denn erst in der Erzählung ist die für die Erfahrung konstitutive Geschichtlichkeit ausdrücklich gefasst. Oder genauer gesagt: Erzählung legt das Geschehene aus im Hinblick auf etwas und ist somit für die Sicht des Geschehenen von maßgeblicher Bedeutung. Auf diese Weise trägt sie, nämlich die Erzählung, den geschichtlichen Charakter der Erfahrung aus und gibt ihm eine jeweils bestimmte Gestalt. Dass die Erzählung dies vermag, liegt im mimetischen Moment der Erzählung begründet. Und eben dies mimetische Moment der Erzählung soll im letzten Teil meines Beitrags genauer betrachtet werden. Da Erzählung aber immer gegenüber Anderen stattfindet und diese Anderen eventuell selbst mit ihren Erzählungen zur Rekonstruktion des Geschehenen beitragen können, kann Erfahrung via Erzählung auch intersubjektiv konstituiert sein.

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42 Vgl. Heidegger 1993: 260–267. 43 Vgl. Heidegger 1993: 184–191. 44 Zum Gegensatz von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit vgl. auch Heidegger 1993: 126–130.

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Narrativität und Erfahrung Aristoteles hat das mimetische Moment einer dichterischen Komposition, sei es nun ein Drama oder eine Erzählung, klar hervorzuheben gewusst. In seiner berühmten Definition der Tragödie heißt es, diese sei eine „Darstellung (mivmhsi"), nicht von Menschen, sondern von Handlungen und von Leben“45. Die Darstellung der Handlungen in der Tragödie ist jedoch ein Werk des Dichters, und sie kann eben deshalb etwas über die dargestellte Wirklichkeit aussagen. Gerade weil der Dichter in der Anordnung der Handlungen frei ist, kann er mehr von den Zusammenhängen enthüllen, die auch alltägliches Handeln bestimmen, als dies der Geschichtsschreiber je könnte.46 Er kann die Handlungskonstellationen und Handlungsverläufe gewissermaßen idealtypisch anlegen. Dies gilt auch für den Erzähler. Auch der Erzähler kann der dargestellten Wirklichkeit durch seine Darstellung einen bestimmten Sinn geben. Auch von ihm gilt: Gerade weil der Erzähler bis zu einem gewissen Grad gegenüber dem Material seiner Erzählung frei ist, kann er der Handlung, die er zur Darstellung bringt, eine bestimmte Deutung geben. Aber was besagt dies nun für die Darstellung von Erfahrung durch Erzählung? Im Grunde genommen kann man die soeben gemachten Aussagen auf die Erfahrungsthematik übertragen. Erfahrung kommt in der Erzählung zur Darstellung. Mit Paul Ricœur könnte man auch sagen: Erzählung ist „Konfiguration“47 von Erfahrung. Eine Schwierigkeit bei dem Begriff der Konfiguration ist aber, dass er einen zu großen Anteil des Dichters an der Hervorbringung der Erfahrung durch Erzählung nahelegt. Wenn Erfahrung allererst durch Erzählung konfiguriert wird, dann liegt der Gedanke nahe, dass Erfahrung ohne Erzählung gar nicht existieren könnte. Man könnte pointiert fragen: Gibt es dann keine der Erzählung vorausliegende Erfahrung, auf die die Erzählung rekurrieren könnte bzw. von der sie erzählen könnte? Meines Erachtens liegt die richtige Antwort auf diese ––––––––––––––

45 Aristoteles, Poetik 6: 1450a16–17. 46 Vgl. hierzu Aristoteles’ berühmte Unterscheidung zwischen Dichter und Geschichtsschreiber, Aristoteles, Poetik 9, 1451b5–7. 47 Ricœur 2007: 88f., 103. Ricœur unterscheidet in seinem Ansatz zwischen drei Stufen der Mimesis. Die erste Stufe der Mimesis sieht er bereits in der alltäglichen Handlungswirklichkeit gegeben, in der sich bestimmte Handlungsmuster und – strukturen sowie Deutungen herausbilden. Die zweite Stufe der Mimesis verortet Ricœur im vom Dichter hervorgebrachten Kunstwerk und die dritte Stufe der Mimesis in der Rezeption durch den Leser. Der Begriff der Konfiguration dient Ricœur auch zur Erläuterung der zweiten Stufe der Mimesis, vgl. Ricœur 2007: 104–113.

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Frage auf keiner der vermeintlich einander gegenüberliegenden Seiten – also: Es ist weder überzeugend zu behaupten, dass Erfahrung nur vor der Erzählung und ihr klar vorausliegend gegeben sein muss, um von Erfahrung im eigentlichen Sinne sprechen zu können. Noch ist es überzeugend zu behaupten, dass Erfahrung allein und ausschließlich aufgrund von Erzählung existieren könnte. Vielmehr ist auch die alltägliche Erfahrung bereits vom Sprechen und von der Deutung durchzogen. Im Sprechen und in der Erzählung des Geschichtsschreibers oder des Dichters aber erhält sie eine andere, man könnte auch sagen, eine ausdrücklichere Gestalt. Dass Erzählung der Erfahrung eine ausdrücklichere Gestalt zu verleihen vermag, liegt im mimetischen Moment der Erzählung begründet. Die Mimesis des Dichters oder des Geschichtsschreibers unterliegt nun aber wiederum denselben zeitlichen Bedingungen wie der Prozess der Erfahrung selbst. Auch für sie ist charakteristisch, dass in ihr ein bestimmter Vergangenheitshorizont mit einem bestimmten Zukunftshorizont in der Gegenwart vermittelt wird. Eben deshalb ist die Erzählung geeignet, die für die Erfahrung charakteristische Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart auszutragen. Das für die Erfahrung charakteristische Vermittlungsgeschehen kann der Erzählung zwar auch vorausgehen. In der Erzählung wird es allerdings noch einmal und in einem ausdrücklicheren Sinne ins Werk gesetzt und zur Vollendung gebracht. Diese These lässt sich folgendermaßen begründen: Erzählen findet jeweils in der Gegenwart statt. Der Dichter und der Geschichtsschreiber sind deshalb auf eine gewisse Weise immer in die „Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“48 gestellt, in der sie sich sowohl gegenüber der Vergangenheit als auch gegenüber der Zukunft behaupten müssen. Als Geschichtsschreiber und Dichter sind sie gleichwohl auch positiv auf Vergangenheit und Zukunft bezogen. Denn sie erzählen von Ereignissen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben oder welche fiktiv in einer fiktionalen Vergangenheit verortet werden. Und: Sie erzählen von diesen Ereignissen aus der Perspektive ihrer jeweiligen Gegenwart und für ihre jeweils gegenwärtigen Leser. Diese Gegenwart ist ihrerseits auf die Zu––––––––––––––

48 Diese Redewendung stammt von Hannah Arendt, vgl. Arendt 1994: 7. Arendt greift in ihrem Vorwort zu dem Sammelband Zwischen Vergangenheit und Zukunft eine Parabel von Franz Kafka auf, in der eine Person, die einfach „er“ genannt wird, sich im Kampf sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft befindet, welche als zwei Gegner porträtiert werden. Sie sieht in der Parabel ein Sinnbild für die Situation des Denkers, welcher sich in der zeitlichen Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet, vgl. Arendt 1994: 16f.

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kunft hin offen. Denn die Gegenwart des Erzählers und seiner Zeitgenossen ist bereits durch die von ihnen antizipierte Zukunft geprägt. Im Lichte dieser Zukunft bringen der Dichter oder der Geschichtsschreiber vergangene Erfahrungen zur Darstellung – welche allerdings aufgrund von ihrer Darstellung in der Gegenwart wiederum zu gegenwärtigen Erfahrungen werden, deren Deutung durch den Blick auf die Zukunft mitgeprägt ist, welcher dem Dichter oder dem Geschichtsschreiber zueigen ist. Auf diese Weise setzen Dichtung und Geschichtsschreibung die Konfiguration von Erfahrung fort, welche sich schon in der Wirklichkeit des alltäglichen Lebens zuträgt, durch Dichtung und Geschichtsschreibung allerdings erst vollendet wird. Die Gestalt, die Dichtung und Geschichtsschreibung der Erfahrung geben, mag eine Gestalt sein, die der Erfahrung bereits vor der Erzählung innewohnt. Erst in der Erzählung erhält sie allerdings eine endgültige Form. Auch von dieser endgültigen Gestalt muss man jedoch einräumen, dass sie stets durch den Prozess der Rezeption und durch die weitere Adaption desselben historischen oder literarischen Stoffes transformierbar bleibt. Die Werkform macht die Geschichtserzählung oder die fiktive Erzählung dennoch zu Gegenständen, auf die auch die Nachwelt immer wieder zurückkommen kann und an denen sie ihr Verständnis vergangener Ereignisse formen kann. Der intersubjektive Charakter, welcher bereits der mündlichen Erzählung innewohnt, wird durch die schriftliche Erscheinungsweise noch verstärkt. Denn als geschriebenes Werk ist die fiktive oder die historische Erzählung für viele Leser verfasst und vielen Lesern über die Dauer der Zeit und in verschiedenen historischen Epochen zugänglich. Auf diese Weise bewahrheitet sich die Intersubjektivität, die der Erfahrung bereits durch die mündliche Erzählung zukommt, im Werk, welches der dargestellten Erfahrung eine noch umfassendere Intersubjektivität verleiht. Trotz dieser größeren Intersubjektivität aufgrund der Werkform bleibt aber darauf hinzuweisen, dass die historische Erfahrung, so wie sie den Zeitgenossen eines historischen Ereignisses zuteil wurde, immer nur bis zu einem gewissen Grad rekonstruierbar ist. Denn wenn es so ist, dass der Leib des Menschen eine wesentliche Voraussetzung von Erfahrung bildet, so kann die leibliche Anwesenheit der Zeitgenossen bei einem historischen Ereignis durch keine wie auch immer geartete Quelle ersetzt werden. Eben deshalb lässt sich die historische Erfahrung des einzelnen oder auch eines Kollektivs nie vollständig in Erzählung übersetzen. Die Erzählung, und hier ist vor allem die Geschichtserzählung gemeint, kann allenfalls versu-

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chen, verschiedene Aspekte des Erfahrenen zu rekonstruieren und so der jeweiligen Gegenwart sowie den zukünftigen Lesern zugänglich zu machen.

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Die Erfahrung des bäuerlichen Jahreslaufs Form und Sinn des ‚Bauernkalenders‘ in Hesiods Erga

KORBINIAN GOLLA Spätestens seit Hesiods legendenhaftem Sieg über Homer, von dem im Certamen Homeri et Hesiodi berichtet wird,1 gelten seine ‚Werke und Tage‘ (gr. , kurz: Erga) als untrennbar mit dem Landbau verbunden2 und sollen die Gattung des Lehrgedichts begründet haben.3 Diese auch im 20. Jahrhundert noch weitverbreitete Meinung4 dürfte sich zuvorderst dem Verständnis der Verse 383–618 verdanken, den „proprement dits“,5 die nicht selten als ‚Bauernkalender‘, d.h. als Handbuch zur Vermittlung prak-

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Obgleich die heutige Form des Certamen ins 2. Jahrhundert n. Chr. datiert wird, reicht der Ursprung des Stoffes eines Dichterwettkampfes zwischen Homer und Hesiod bis ins 6. Jahrhundert zurück; vgl. Heldmann 1982: 9. Anders als ‚Homer‘ wird Hesiod entgegen mancher Tendenz der neueren Forschung (vgl. dazu Clay 2003: 3) als historische Person verstanden und mit dem Erzähler der Erga gleichgesetzt (auch wenn sein Name, anders als in der Theogonie, in den Erga nicht auftaucht). Das Bild des Bauerndichters bestimmte lange Zeit die Rezeption Hesiods, wie z.B. Ar. ran. 1030–1036 zeigen; erinnert sei auch an die Bezeichnung Ascraeum carmen (z.B. Verg. georg. 2, 176: das ‚askräische‘ Gedicht – wie Erga 640 nahelegt, kam Hesiod aus Askra), mit dem das in Rom zu hohen Ehren gelangte Lehrgedicht angesprochen ist; einen das philosophische Element in Hesiods Dichtung betonenden Fall stellen Daniel Heinsius’ (1580–1665) in griechischer Sprache verfasste Epigramme auf Hesiod dar; vgl. Golla 2008. Der ‚Neue Pauly‘ (s.v. ‚Epos‘) qualifiziert die Erga als „Lehrepos“, ohne zu spezifizieren, was darunter zu verstehen sei; weitaus präziser verfährt von Albrecht (1979, 4) im ‚Kleinen Pauly‘ (s.v. ‚Didaktische Dichtung‘), der von „praktische[r] Lebensbewältigung durch Erfahrungswissen“ spricht; darunter ließen sich sowohl Verhaltensanleitungen wie Arbeitsanweisungen fassen; heute werden die Erga oft als ‚Paränese‘ bezeichnet, z.B. von Schmidt 1986. Zum Hesiod-Bild der Forschung vgl. Stoddard 2004: 1–33. van Groningen 1958: 286; Fränkel 21962: 137: „Kernstück“; andere sehen im vorausliegenden Teil lediglich eine „Ouvertüre“; vgl. Beall 2005: 246, Anm. 61.

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tischen Wissens, apostrophiert wurden.6 Die dichterische Dimension wurde darüber jedoch kaum beachtet, da sie offenbar nicht als mit einem solchen kompatibel erachtet wurde. Zwangsläufig musste diese Annahme dazu führen, dem ‚Kalender‘ Ungeordnetheit, Lückenhaftigkeit und andere Defizite zu unterstellen.7 In der Tat trifft man – besagtes Verständnis vorausgesetzt – auf nicht wenige Inkonsistenzen, die kaum mit einem Handbuch in Einklang zu bringen sind, dessen Zweck ja darin besteht, ausführlich und präzise über bestimmte Arbeiten zu informieren. Dass diese vermeintlichen Defizite aber weitergehenden darstellerischen Absichten gehorchen könnten, wurde überhaupt erst mit fortschreitender Erforschung dieses lange Zeit vernachlässigten Teils in Erwägung gezogen.8 Gerade die beiden letzten Jahrzehnte haben neue Herangehensweisen gezeitigt, die Ansätze zu einem besseren Verständnis hervorbrachten.9 So zog z.B. Stephanie Nelson mit Blick auf die Form des ‚Kalenders‘ den eigentlich naheliegenden Schluss: „Hesiod’s section on farming may fail as agricultural instruction simply because this is not what it is intended to do.“10 Hesiods Hauptziel sei es gewesen zu zeigen „not how farming –––––––––––––– 6

Entsprechende Literatur nennen Nelson 1996a: 45, Anm. 1; Stoddard 2004: 27–33. Für Nelson (1998: 50) erweckt die Gestaltung des ‚Kalenders‘ den Eindruck, als handle es sich um Arbeitsanweisungen – trotzdem darf gefragt werden, ob ein zeitgenössischer Bauer überhaupt Anweisungen dergestalt, wie sie in den Erga vorliegen, bedurfte; vgl. Schmidt 1986: 56, Anm. 77. 7 Repräsentativ hierfür Fränkel (21962: 139): „[...] nicht übersichtlich und nicht wohlgeordnet“; ähnlich urteilt West (1978: 252): „remarkably sketchy and lacunous“. Riedinger (1992: 121) betont die oft als mangelnd empfundene thematische Anbindung an das Vorausgehende; doch ist der Ackerbau bereits in Vers 20 eingeführt (vgl. Wilamowitz 1928: 45), der bei Athetierung der Verse 25f. (gute Argumente dafür bei Blümer 2001: 42ff.) nicht nur deutlicher, sondern sogar allein in den Mittelpunkt tritt. Nelson (1996a, 46) streicht das häufig als unausgewogen empfundene Verhältnis von dargestellter Arbeit und Länge ihrer Darstellung im Text heraus. Unter Hinweis auf entsprechende Stellen in den homerischen Epen macht West (1978: 53) die auch im ‚Kalender‘ mit Voranschreiten freier und lückenhafter werdender Ausführung aufmerksam. Schließlich werde die Chronologie nicht immer eingehalten (vgl. Nelson 1996a: 47), weshalb Aussagen aufhorchen lassen, die den ‚Kalender‘ als „am chronologischen Faden des Jahreslaufs augefhängt“ verstehen; vgl. die bei Nicolai (1964: 88) angeführten Beispiele aus der älteren Literatur. 8 Abgesehen von eher beiläufigen und lediglich allgemeinen Bemerkungen ist der ‚Kalender‘, zumindest in der älteren Forschung, nur von Nicolai (1964) ausführlich behandelt worden. 9 So z.B. (mit Blick auf unser Vorhaben): Riedinger 1992; Nelson 1996a, 1996b, 1998; Marsilio 1998; Beall 2005. 10 Nelson 1996a: 45; bereits Harder (1931: 488) hatte dies in seiner Rezension zu Wilamowitz’ Erga-Kommentar klar ausgesprochen: „W. zeigt, daß nicht einmal die Arbeitsanweisung für den Landbau konkrete praktische Beruflehre geben will

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looks, but how it feels“11; der ‚Kalender‘ wird als „dramatic reenactment of the farmer’s year“ verstanden.12 Damit lieferte die amerikanische Forscherin einen wichtigen Hinweis auf die richtige Deutung, verfolgte ihre Gedanken aber nicht konsequent weiter. Vorliegender Beitrag möchte, dies aufgreifend, die Erfahrung als zentrales Moment der Hermeneutik des ‚Bauernkalenders‘ erweisen; genauer gesagt: die Erfahrung der Zeit bzw. wie Hesiod diese pränarrative Erfahrung – ‚pränarrativ‘ insoweit, als ihr essentielle Bedeutung im Lebenszusammenhang des Menschen zufällt – dichterisch umsetzt.13 Schließlich ist es die Zeit, die eine basale Herrschaft über den Menschen ausübt,14 weshalb Michael Theunissen mit Blick auf das frühe Griechenland auch von einer „Theologie der Zeit“ spricht, „die den unbekannten Gott vornehmlich in der Zeit sucht“ und bestrebt ist, beide, Zeit und Gott, „einander gleichzusetzen.“15 In einem ersten Schritt wird nach dem Zusammenhang zwischen der Erfahrung (von Zeit) und dem Kalender gefragt werden, außerdem, warum ein solcher Eingang in ein dichterisches Werk wie die Erga gefunden hat. In einem zweiten Schritt sollen dann am Text selbst einige zentrale darstellerische Mittel dingfest gemacht werden, anhand derer sich die wichtige Rolle, die der Erfahrung für die Hermeneutik des ‚Kalenders‘ zukommt, aufzeigen lässt. Einerseits drückt sich die Zeitherrschaft negativ als Gefühl der Ephemerität aus, das die Texte des archaischen Zeitalters geradezu leitmotivisch durchzieht.16 Ephemerität meint dabei nicht nur, wie Hermann Fränkel

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wie ein Bauernkalender oder dergleichen; überall wird nur herausgegriffen, was den Dichter interessiert [...] und es wäre einem praktischen Landwirt dies Buch so wenig als Leitfaden anzuraten gewesen wie Vergils Georgica.“ Nelson 1996a: 48; den Eindruck, den der ‚Kalender‘ vermittelt, beschrieb West (1978: 252) ähnlich: „we have a real sense how it looked and felt at different stages of the year.“ Mit der Verwendung von Verben, welche die Sinneswahrnehmung betonen, berührte West den für die Hermeneutik des gesamten Teils sicher zentralen Punkt. Nelson 1996a: 45; Clay (2003: 44) sieht in der „jerky technique“ der Komposition ein Mittel, „[that] creates a sense of urgency and haste during the busy periods of the year, spring and fall, and emphasizes the farmer’s dependence on the imperatives of time.“ Baumgartner 1994: 189: „All unseren Vorstellungen von Zeit, wie detailliert sie auch begrifflich ausgearbeitet sein mögen, liegt eine bestimmte Weise von Zeiterfahrung zugrunde.“ Vgl. Theunissen 2000. Theunissen 1998: 28. Vgl. Theunissen 1998: 31.

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annahm,17 das Preisgegebensein des Menschen an den Tag, sondern auch die menschliche Todesverfallenheit und insbesondere das Verborgensein der Zukunft.18 Andererseits wird Zeit, wie im vorliegenden Fall, als kalendarische für den Menschen berechenbar, da er sich dem Imperativ, den der Kalender gleichzeitig darstellt, fügen muss. Wie beim Phänomen der Ephemerität, bei welcher der Tag als Bezugspunkt für die Erfahrung fungiert,19 markiert auch bei einem Kalender der Tag den Mittelpunkt der Sorge.20 Er ist die ursprünglichste Einheit, mit der gerechnet wurde. Gerade in einer agrarischen Gesellschaft war er die Maßeinheit, an der man die Arbeit ausrichtete. 21 So verwundert es nicht, dass auch die Reflexionen Hesiods dieser Tatsache Rechnung tragen. Überdies kann er durch der Wahl eines in der Lebenswelt verankerten Phänomens auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont mit seinem Publikum verweisen. Ein jeder seiner Zuhörer wusste, wovon der ‚Kalender‘ sprach, weil ein jeder seine eigenen Erfahrungen mit den Phänomenen, die dort beschrieben wurden, gemacht hat. Gerade die „Erfahrung des täglichen Lebens, wie sie von jeher gemacht wurde“ zeichnet sich durch eine besondere „Schärfe“ aus.22 ‚Erfahrung‘ meint hierbei zweierlei: einerseits diejenige, bei der im grundlegendsten Sinn ein Ereignis (bisweilen auch eine Einstellung) angesprochen ist, „das eine neue Einsicht aufkommen läßt und dadurch eine ––––––––––––––

17 Vgl. Fränkel 31968; vgl. dazu und zur Bedeutung des Adjektivs ephemer (< gr. e)pa/meroj) Theunissen 2000: 45ff. 18 Oder, wie es in den Texten (z.B. Od. 18, 137; Archil. fr. 131/132 W2) heißt: das Verborgensein dessen, was der neue Tag „heraufführen“ werde; dieser Aspekt wird bei Sem. fr. 1, 1–5 W2 stark betont. Den Menschen fehle, so dieser Dichter weiter, der Noos, die Einsicht, weshalb sie wie Vieh ephemer dahinlebten – der Noos wird also ephemerem Sein entgegengestellt; Hesiod indes hebt die Befähigung des Menschen zum noei=n (Verb zu Noos) hervor, z.B. Erga 293f.: „Der ist von allen der beste (pana/ristoj), der alles selber erkennt und bedenkt (au)to\j ... noh/sei, | frassa/menoj) was dann als besseres zum Ziele führt.“ 19 Theunissen 1998a: 31: „Die zuerst hervortretenden Zeitformen sind die elementarsten [...]. Demnach ist die auch in der Sache ursprünglichste Form die Tageszeit, die Zeit eines von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang währenden Tages mitsamt allem, was an ihm geschieht [...].“ 20 Ricœur 1985 I: 102: „Der Tag ist jedoch kein abstraktes Maß, sondern eine Größe, die unserer Sorge und der Welt entspricht, in der es ‚Zeit ist‘, etwas ‚zu‘ tun, und wo ‚jetzt‘ ‚jetzt, da...‘ bedeutet. Es ist die Zeit der Werke und Tage.“ 21 Vgl. Schmitz 2004: 27–104 (auch die Lyrik behandelnd); allerdings sollte diese Tatsache nicht dazu verleiten, falsche Schlüsse über die formale und inhaltliche Qualität des Werkes wie dessen Schöpfers zu ziehen; für manche markiert Hesiod gar den Anfang des philosophischen Denkens bei den Griechen. 22 Vgl. Tengelyi 2007: 9 (in Absetzung vom wissenschaftlichen Erfahrungsbegriff).

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vorgehende Erwartung durchkreuzt.“23 Hesiods Auswahl der beschriebenen „actions“24 zielt offenbar auf diejenigen Erfahrungen, welche auf Seiten der Zuhörer auch qualitativ negativ gewesen sein mussten. Meistens wird herausgegriffen, worin der Mensch auf seine schwache Natur verwiesen ist; 25 d.h. Hesiod wählt und gestaltet die einzelnen Punkte so, dass der Mensch in seiner Bedürftigkeit erwiesen wird (z.B. angesichts klimatischer Bedingungen) und von daher in die Pflicht genommen ist, den Erfordernissen, welche die Dike als Ordnung des Seins – Nelly Tsouyopoulos sieht daher in der Dike zu Recht diejenige Macht, „worauf die gesamte Wirklichkeit sich bezieht“26 – an ihn stellt, nachzukommen. Es ist leicht einsehbar, weshalb die Dike „zum Zentralbegriff der hesiodischen Welt“ avanciert. „Sie erscheint zugleich als Möglichkeit des Menschen, überhaupt zu sein: der Mensch kann ihr nicht ausweichen, ohne sich selbst wesentlich zu schaden.“27 Andererseits werden Erfahrungen über die Zeit hin zur Erfahrenheit angereichert; sie dürfte mit der aristotelischen Empeiria identisch sein, die eben im Bereich der Praxis und der Poiesis verortet ist, d.h. im Bereich ––––––––––––––

23 Tengelyi 2007: 10; Erfahrungen sind also der Struktur nach negativ; inhaltlichqualitativ können sie aber durchaus positiv sein. 24 Riedinger (1992: 127) spricht nicht von ‚Arbeiten‘ („travaux“), sondern von „actions (à accomplir)“; offenbar ging es Hesiod um das zugrundeliegende Prinzip, nicht die einzelne Arbeit (sie dient ihm jeweils nur als Beispiel und Verständnisbrücke; vgl. dazu Anm. 63); wie Ricœur (1985 I, 102) anmerkt, „bestimmt das Besorgen und bestimmen nicht die Gegenstände unserer Sorge den Sinn der Zeit.“ Ähnlich Tsouyopoulos 1966: 63: „Dem Dichter geht es offenbar nicht um das ‚wie‘ der einzelnen Arbeit; was er zeigen will, ist das Maß des Ergon: die richtige Anpassung an die Zeit.“ 25 Der Mensch wird in seiner natürlichen Umwelt dargestellt, in der er deren Unbilden (Hitze, Kälte, Wind, Regen) ausgeliefert ist, gegen die es sich zu wappnen gilt; zudem hat er sich auf sich immer verändernde Situationen einzustellen; vgl. Riedinger 1992: 126. 26 Tsouyopoulos 1966: 58; entscheidend ist hier die bereits von ihrer Genealogie (vgl. Hes. Th 910f.: Dike als Tochter des Zeus und der Themis, als Schwester der Eunomia und Eirene) herrührende Ausprägung der Dike als Hore; als solche stellt sie „auch das Maß für das Ergon des Sterblichen“ dar: „Das e)rga/zesqai (das Ergon vollbringen) wird zum Grundmodus des Im-Recht-Seins. Das Maß des Ergon ist die hora, – das zeitgemäße Vollbringen. So ist die Dike des Menschen [...] grundsätzlich Hora (schöpferisch-sein gemäß der Zeit).“ (Tsouyopoulos 1968: 59). Zum Dike-Verständnis der Erga vgl. auch Nelson 1996b: 22ff. Hier zeichnet sich bereits ihr allumfassender Charakter ab, der eben nicht nur den Aspekt der „Gerechtigkeit“ beinhaltet. 27 Tsouyopoulos 1966: 62; besonders evident wird das Beschriebene in der Art hesiodischer Frömmigkeit: „[D]as neue Bewußtsein wird geprägt von der Notwendigkeit der Verbindung des Gottes mit einer Ordnung und von der Verantwortung des Menschen für eine dieser Ordnung gemäße Haltung.“ (Tsouyopoulos 1966: 57)

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„des alltäglichen Handelns und Hervorbringens [...]. Sie erwächst aus der Gewöhnung als jenes Sich-Auskennen, das die Menschen bei ihrem Herstellen und Hantieren, ihrem Hervorbringen und Wirken und bei der gewohnten Einrichtung des Lebens leitete.“ 28 Als für den ‚Bauernkalender‘ besonders relevant erweist sich die Tatsache, dass durch die Erfahrung „dem Lebewesen jener Bereich der Natur erschlossen [ist], in dem sein Handeln und Vollbringen sich zu bewegen hat.“29 Und dieser Bereich spielt auch für den Kalender eine zentrale Rolle. Wie Paul Ricœur gezeigt hat, kommt dem Kalender hinsichtlich der Zeiterfahrung (anders lässt sich Zeit für den Menschen nicht rationalisieren) eine vermittelnde Rolle zu: „Die kalendarische Zeit ist die erste Brücke, die von der historischen Praxis zwischen der erlebten und der kosmischen Zeit geschlagen wird.“30 Neben dem Aspekt des Ordnens wird für den Menschen ein Gleichheit verbürgender und Verbindlichkeit gewährender Horizont geschaffen. Der Mensch weiß sich fortan eingepasst in diese festgelegte und umfassende Ordnung der Zeit, an der er sein Handeln orientieren kann, oder vielmehr: orientieren sollte. Die Übersetzung der objektiven Zeit, die als Zeit des Kosmos und daher als Zeit des Göttlichen vorzustellen ist und dem Menschen als eine für ihn nicht fassbare, da seinen Horizont transzendierende erscheint,31 wird durch die Einführung des Kalenders in die historische Zeit (Geschichtszeit) übersetzt; diese ist zugleich die Zeit der Handlung: „Die Personzeit er–––––––––––––– 28 Picht 1958: 8; es heißt weiter: „empeiria ist kein theoretisches Verhalten [...] das eigentümliche Wesen der Erfahrung liegt für Aristoteles darin, daß sie keinen logos hat, d.h. daß sie über ihr Vorgehen keine Rechenschaft ablegen kann.“ Es handelt sich also um eine Art pränarrativer Erfahrung; offenbar rechnet Hesiod mit ihr auf seiten seiner Zuhörer, da er seine Darstellung an ihr ausrichtet. 29 Picht 1958: 9; weiter: „Aristoteles nennt diesen Bereich ta endechomena kai allos echein – das, was sich auch anders verhalten kann, das Veränderliche.“ Das meint das Phänomen der Kontingenz, welches sich jedoch, folgt man der impliziten Logik von Hesiods Worten, durch Befolgung seiner Paränese minimieren lasse; vgl. Anm. 38. Überaupt läßt es die Belehrung durch den Erfahrenen (schon bei Homer mit ei)dw/j bezeichnet, immer unter Angabe des Bereiches, in dem diese Erfahrung liegt: z.B. Il. 12, 229; 15, 411–412), als der sich Hesiod präsentiert, vermeidbar werden, selber (schlechte) Erfahrungen zu machen; zur Wort- und Sinnverbindung paqei=n – maqei=n, die auch als pa/qei ma/qoj, „durch Leiden lernen“, den Kern Aischyleischer Theologie markiert, vgl. Dörrie 1956 (zu Hesiod: 316f.); Gadamer 3 1972: 339 u. passim. 30 Ricoeur 1985 III: 166; daran lässt sich ermessen, welch fundamentale Kulturleistung die Einführung eines Kalenders für das Leben des Menschen bedeutet; vgl. Kerkhoff 1973: 256f. 31 Was sich z.B. im Epitheton der Götter (ai)e\n e)o/ntej, „immer Seiende“, z.B. Erga 718) greifen lässt.

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wächst aus der Erfahrung des Sich-entscheiden-Müssens und des faktischen Sich-Entscheidens. [...] Entscheidungen bilden markante Punkte, die die Geschichtlichkeit des Subjekts konstituieren.“32 Als Zeit der Handlung nämlich soll der Mensch Zeit erfahren; sie ist die seiner Natur entsprechende Zeit,33 was konkret bedeutet: in der einzelnen für seinen Bios (d.h. „Lebensunterhalt“ und „Leben“ – beide Aspekte sind hier angesprochen) relevanten, d.h. seinen Bios sichernden Arbeit. Zwar kann der Mensch sich der Eingebundenheit in diese zeitliche Ordnung, die zugleich auch Rechtsordnung ist,34 nicht entziehen, doch steht ihm die Möglichkeit der Entscheidung zu einem an diese Regelhaftigkeit gebundenen Handeln und daher Sicherheit gewährenden Leben offen. Nimmt er das Angebot an, d.h. arbeitet er, wie es ihm die Götter aufgetragen,35 beachtet er ferner die vorgegebenen Parameter seines Tuns (‚rechte[r]‘ Zeit[punkt], ‚Modus‘ der Arbeit, z.B. Sorgfalt),36 so handelt er im Einklang mit der Dike. Der Mensch erfährt so die Zeit im Kalender als eine sich ihm darbietende

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32 Baumgartner 1994: 194; seine „Personzeit“ ist eine andere Bezeichnung für die ‚Geschichtszeit‘. 33 Obgleich der Kalender ein zyklisches Zeitverständnis nahelegt und in den Erga mehrere Zeitformen identifizierbar sind (Darbo-Peschanski [2000: 102] spricht von drei: 1. „l’éternité divine“; 2. „le rythme régulier du cosmos“; 3. „celle [sc. la temporalité] de la punition ou de la récompense qui suit l’acte accompli et détermine ainsi l’avenir de la lignée de l’agent“), bleibt die Geschichtszeit für das menschliche Leben entscheidend. Die schwierige Frage, ob man berechtigt sei, für das frühe Griechenland bereits von „Geschichte“ zu sprechen, bejaht Theunissen (1998: 29): 1. kennten die Griechen „eine Geschichte, die über das Leben von Individuen hinausreicht [...], also nicht nur Lebensgeschichte ist“; 2. schreite „der anvisierte Prozeß insofern geschichtlich voran, als er nicht nur überindividuell ist, sondern auch keine zyklische Struktur besitzt [...]. Solon denkt einen genreativen Zusammenhang, in den die Strafe des Gottes [...] unvorhersehbar und keineswegs nach dem Gesetz von zyklisch geregelten Naturvorgängen hineinschlägt. [...] Die so konzipierte Geschichte ist für die Dichterdenker der archaischen und noch der klassischen Epoche die bevorzugte Wirkungsstätte eines Gottes, auf den die Hoffnung sich richtet, daß er den schuldverstrickten Gang der Dinge zum Guten wende.“ 34 Vgl. S. 9 mit Anm. 66. 35 Wie z.B. Erga 309 zeigt: kai\ t’ e)rgazo/menoj polu\ fi/lteroj a)qana/toisin („wer arbeitet, ist den Unsterblichen viel lieber“); nachdrücklich auch im ‚Gleichnis von den zwei Wegen‘ (Erga 287–292). 36 Erga 471b–472: eu)qhmosu/nh ga\r a)ri/sth | qnhtoi=j a)nqrw/poij, kakoqhmosu/nh de\ kaki/sth („Sorgfalt ist nämlich für sterbliche Menschen das Beste, Nachlässigkeit aber verderblich“); vgl. Anm. 20; 64. Auch der ‚Modus‘ bezeichnet etwas Grundsätzliches (d.h. Tsouyopoulos’ Worten [vgl. Anm. 24] wird hiermit nicht widersprochen, im Gegenteil; treffend Nicolai 1964: 103: „Die Schlußsentenz 471f betont die Wichtigkeit solchen scheinbar nebensächlichen Tuns (Sorgfalt!).“

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Chance zur Transzendierung seiner Geschichtlichkeit,37 als er es (zumindest weitgehend)38 selbst in der Hand hat, über sein Schicksal zu entscheiden – das ist es, was Hesiod zu verstehen gibt: „[he] converted necessity into choice“.39 Darin unterscheidet er sich grundlegend von den Vertretern der archaischen Lyrik.40 Die im ‚Kalender‘ (und, mit nochmals gesteigerter Emphase, in den ‚Nautilia‘)41 vorgebrachten Regeln bringt Hesiod schließlich in Vers 694 ––––––––––––––

37 Als ‚Geschichtlichkeit‘ wird nicht nur die menschliche Endlichkeit verstanden, sondern seine existentielle Bedingtheit; auf die frühgriechische Weltsicht angewandt, spiegelt sie sich insbesondere im Verhältnis zur Sphäre des Göttlichen wider; vgl. Stallmach 1968: 26. 38 So gibt es in den Erga auch nur zwei Fälle (einen positiven, einen negativen), die Hesiod im Rahmen der von ihm entworfenen Ordnung nicht rationalisieren kann: 1. Erga 479–492 findet er keine Erklärung, weshalb es für den Säumigen, der zu spät pflügt, am Ende doch noch gut ausgehen könnte – er schreibt es dem für Menschen kaum ergründlichen Noos des Zeus zu (483f. – beide Verse beziehen sich m.E. nur auf die „fünfte Zelle“ [479–492, nach Nicolai 1964: 105f.] und sollten nicht als grundsätzliche Aussage verstanden werden; es geht hier allein um die Möglichkeit guten Ausgangs bei ursprünglich nicht ‚Ordnungs-gemäßem‘ Verhalten, spricht zu spätem Arbeitsbeginn); 2. Erga 667f. führt er Schiffbruch, welcher in der für die Seefahrt eigentlich rechten Zeit (665: w(rai=oj ... plo/oj) erfolgt, auf den ‚Vorsatz‘ Poseidons oder Zeus’ zurück. Erga 473f., wo es heißt, Ähren neigten sich in Fülle zu Boden, „wenn der Olympier selbst [= Zeus] sie am Ende glücklich reifen“ lasse (ei) te/loj au)to\j o)/pisqen )Olu/mpioj e)sqlo\n o)pa/zoi), sollte m.E. nicht als zu eindeutig das kontingente Moment betonend verstanden werden, wie es z.B. Nicolai (1964: 105) tut; es scheint mir eher Zugeständnis an die Erfahrung denn gewollte und Hesiods Ordnung stützende Aussge zu sein. 39 Beye 1972: 37. 40 Was nicht nur auf das paränetische Element der Erga zurückgeführt werden darf; Hesiod entwirft eine ‚kognitive Landkarte‘ (Raible 2005) des Typus Mensch und betont dabei die Möglichkeiten menschlichen Handelns; eine herausgehobene Rolle misst er dem Noos (diesen hat der Mensch mit den Göttern gemein!) bei, der, wie Arbogast Schmitt (1990: 211) es fomuliert, „das eigentliche Selbst des Menschen“ konstituiere: er wird zur Bedingung erfolgreicher Lebensbewältigung (vgl. Anm. 18), oder anders ausgedrückt: „Hesiod understood human beings to participate in the cosmos through their ability to comprehend it.“ (Nelson 1998: 126). 41 In den ‚Nautilia‘ (Erga 618–694: oft als ‚Seefahrtsanweisungen‘ interpretiert; vgl. dazu aber Nelson 1996a: 46) werden die Gefahren für das menschliche Leben durch die Seefahrt betont; das Meer ist der Bereich, welcher sich menschlicher Erkenntnis entzieht (weshalb Hesiod auch auf das Wissen der Musen zurückgreifen muss, da ihm die persönliche Erfahrung abgeht; vgl. Erga 661f.). Beide Teile, ‚Kalender‘ und ‚Nautilia‘, bilden eine untrennbare Sinneinheit (bereits strukturell: der Kairos steht sowohl im ‚Proömium‘ des ‚Kalenders‘ [383–414; vgl. Nicolai 1964: 92] wie in 694 im Mittelpunkt, wodurch ein weitausgreifender Ring entsteht; vgl. Beall 2005: 233 Anm. 9); Nicolai (1964: 123ff.) versteht die ‚Nautilia‘ als Gegenstück zum ‚Bauernkalender‘, sachlich und ‚moralisch‘. Beide Bereiche (Landarbeit, Seefahrt) lassen sich zudem exakt jenen beiden Archetypen des Erzählers zuordnen, wie sie Walter Benjamin (2007: 104) identifiziert hat: dem „seßhaften

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auf den Punkt: („Halte die Maße ein; rechte Wahl ist bei allem das Beste.“)42 Diese „resümierende Gnome“43 führt die „Leitideen“ beider Teile nochmals deutlich vor Augen: „die Idee der Ordnung (vgl. 628,670), das heißt: der rechten Zeit (630, 642, 665), des rechten Maßes (648, 694; vgl. 689f.), und der rechten Wahl (694).“44 All diese kulminieren im Begriff des Kairos. Anders als oft behauptet, entbehrt er nämlich nicht einer zeitlichen Komponente,45 da er auch auf einen Punkt in der Zeit hin ausgerichtet ist (vgl. auch Anm. 77): „To see into a given situation, to know the requirements it makes of the human agent, to recognize the limitations it imposes and the opportunities it offers, and then to respond adequatly, that is .“46 Im Kairos eröffnet sich für den Menschen die Chance der Teilhabe am Kosmos; er ist eine privilegierte Form der Zeit, in der sich göttliche und menschliche Zeit berühren. Fraglos ist er der Leitbegriff des ‚Kalenders‘ und der ‚Nautilia‘.47 Wie nun gestaltet Hesiod den ‚Kalender‘?48 Zuallererst sticht der anschauliche Charakter ins Auge, der in keinem anderen Teil des Werkes so stark ausgeprägt ist.49 Die Anzahl beschreibender Passagen ist hoch.50 Überdies trägt der Aufbau – man könnte sagen, der ‚Kalender‘ sei aus mehreren Bildern gefügt – zu diesem Eindruck bei.51 Die einzelnen Szenen, obschon für sich je statisch, bilden im Ensemble ein dynamisches –––––––––––––– 42 43 44 45 46 47

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Ackerbauern“ und dem „handeltreibenden Seemann“. (Für diesen Hinweis danke ich Hans-Jürgen Pandel.) Übers. Fränkel 21962: 141 (er versteht den Kairos nicht temporal); anders Theunissen 2000: 808: „Maße beachten! Der rechte Punkt ist bei allem am besten.“ Nicolai 1964: 148. Fränkel 21962: 141; obgleich er sich auf die ‚Nautilia‘ bezieht, dürfen seine Aussagen auf den ‚Kalender‘ ausgeweitet werden. Wie oft behauptet wird, z.B. von Kerkhoff (1973: 258). Otten 1956: 11f. Prier (1976: 163) betont, dass die Metra durch Erfahrung vermittelt seien, wie auch die anderen Erga-Stellen (132, 349f., 600, 648) nahelegten. van Groningen (1958: 286f.) steht mit der Betonung des „moment propice“ als des zweiten Leitmotivs (das erste: Arbeit) beider Abschnitte weitgehend allein (eine Ausnahme: Fernández Delgado 1982); doch setzt er hinzu: „il n’est pas impossible qu’Hésiode ait considéré cette seconde idée comme la plus importante des deux.“ Zum Aufbau vgl. Nicolai 1964: 87ff. Fränkel 21962: 139, Anm. 1: „Das Gedicht lädt wie kein anderes frühgriechisches Werk dazu ein, mit kleinen Bildchen am Rande illustriert zu werden.“ Auch West (1978: 252) weist auf die „pictorial quality“ des Teiles hin. Nelson (1996a: 52, Anm. 23) qualifiziert folgende Verse als „descriptive“: „on fall, 414–21; on the crane, 448–52; on sowing, 467–69; on the harvests, 475–90; on poverty, 496–99; on winter, 504–35 and 547–56; on the swallow, 564–69; on the snail, 571–72; on the dawn, 578–81; on the picnic, 582–96.“ Die angelsächsischen Beiträge sprechen nicht selten von „vignettes“ (z.B. Nelson 1996b: 19), in die der ‚Kalender‘ unterteilt werden könne.

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Ganzes.52 Insgesamt entsteht so der Eindruck größter Unmittelbarkeit,53 der noch durch das paränetische Element verstärkt wird; schließlich bleibt der Erzählrahmen der Erga – mag die Kalenderform uns auch darüber hinwegtäuschen – „eine einzige große Lehr- und Mahnrede“,54 die von einem in der 1. Person sprechenden Erzähler vorgebracht wird.55 In der Wahl dieser beider Erzählmodi (deskriptiv und präskriptiv) liegt ein wesentlicher Grund der als so unmittelbar empfundenen Wirkung. Im Rezeptionsakt stellt sich folglich ein direkterer Zugang zur transportierten Aussage ein; die Wahrscheinlichkeit, damit zu überzeugen, steigt. Aufgrund dieser Bildhaftigkeit ließe sich von einem „neue[n] Sehen in entdeckender Funktion“56 sprechen. Der Grund, weshalb Hesiod sich dieses Vorgehens bedient haben könnte, wird aus einer Bemerkung in der aristotelischen Poetik (vgl. 1448b15ff.) schnell ersichtlich: Die Menschen empfänden Lust bei der Betrachtung von Bildern, „weil sie beim Betrachten lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei“. Obgleich diese Aussagen aus späterer Zeit stammen, dürften sie doch den Kern des vorliegenden Falls treffen: Anschaulichkeit und Lebendigkeit konstituieren Kategorien, mit denen bei Dichtung gerechnet wurde, mehr noch: die ausschlaggebend dafür waren, dass Dichtung als gut qualifiziert wurde. Dies gilt schon für die Zeit Hesiods, wie entsprechende poetologische Aussagen in der Odyssee zeigen.57 Der Zuhörer sollte sich in die Lage versetzt sehen, das, wovon das Werk sprach, möglichst lebensecht zu erfahren, dabei aber, infolge der durch das Wort erzeugten Distanz (bei Ilias und Odyssee würde man von ‚epischer Distanz‘ sprechen) Terpsis zu empfinden.58 „Erst auf –––––––––––––– 52 Vgl. Nelson 1996b: 19 („vivid sense“). 53 Zum Stichwort ‚Unmittelbarkeit‘ vgl. Martinez/Scheffel 52003: 50. Die Erwähnung eigentlich irrelevanter Details wie z.B. des Sklavenjungen (569–71) oder des thrakischen Weines (Diskussion von Biblinos = thrakisch [?] bei West 1978: 306) vermag dies zu unterstützen; vgl. Nelson 1996a: 49. 54 Jaeger 1933: 100. 55 Vgl. Tengelyi 2007: 9; zur Bedeutung des (auto-)biographischen Elements für die Glaubwürdigkeit des Erzählten vgl. Zimmermann 2007: 7 (zu Odysseus’ Trugreden in der Odyssee). 56 Jauß 1991: 32; obgleich sich Jauß auf ein Phänomen aus der Welt des Mittelalters bezieht, sind sich beide Fälle ähnlich: Findet dort „eine Entdeckung der Natur durch die bildende Kunst“ statt, ist es hier die Erschließung der Natur in ihrer Erfahrbarkeit für und durch die Dichtung. 57 Vgl. Puelma 1989: 65–73 (über die ‚Sängerszenen‘ der Odyssee); aufschlussreich für die ‚Poetik‘ der Erga S. 68f.: „[...] die Kunst des homerischen Mythensängers versteht sich selbst als die Kunst der nachbildenden Vergegenwärtigung von Lebenssituationen, die jeder Hörer nach- und mitzuerleben imstande sein sollte.“ 58 Nicht nur die Odyssee, sondern auch die hesiodischen Werke nennen als ihr Ziel die Terpsis, das „Sich-Ergötzen“; vgl. Heath 1985. In der Odyssee lässt sich grund-

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der reflexiven Ebene der ästhetischen Erfahrung wird der Betrachter in dem Maße, wie er bewußt die Zuschauerrolle einnimmt und diese mitgenießt, gerade auch wiedererkannte oder ihn selbst betreffende lebensweltliche Situationen ästhetisch genießen und genießend verstehen.“59 Einen weiteren Bereich, in dem auf die Geschichtlichkeit des Menschen verwiesen wird, markiert die Gestaltung der Jahreszeiten.60 Zwei Punkte verdienen besonders hervorgehoben zu werden. Während beim Frühjahr und Herbst die Emphase auf dem Beginn (414ff., 568) bzw. Ende (448ff.) liegt,61 steht sowohl beim Winter (493–564) als auch beim Sommer (582–596) die Dauer im Vordergrund.62 Frühling und Herbst sind die Jahreszeiten, in denen es vor allem um eines geht: die Arbeit anzupacken und zwar zur rechten Zeit, um nicht später des Ertrags verlustig zu gehen; sie sind grundlegend für die Bereitstellung des Bios: Pflügen und Säen einerseits, die Ernte andererseits. Deshalb beginnt der Kalender im Herbst, mit der Aussaat bzw. mit den dafür notwendigen Vorarbeiten.63 Die Bereit––––––––––––––

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sätzlich ein (gegenüber der Ilias) gestiegenes Interesse an der Befriedigung geistiger Bedürfnisse feststellen; vgl. Latacz 1968: 217. Fehlt diese Distanz, was insbesondere bei (auto-)biographischen Erzählungen der Fall sein kann (bestes Beispiel sind Odysseus’ Reaktionen auf die Erzählungen des Sängers Demodokos in der Phaiakis der Odyssee), wenn sie „zu nahe an der Lebenserfahrung der Rezipienten sind“, so „lösen sie nicht te/ryij, sondern – ganz der gorgianischen Logos-Theorie entsprechend – Erschütterung, Schauder und Tränen aus.“ (Zimmermann 2007: 8) Im Hinblick auf den ‚Kalender‘ wäre auch diese Intention denkbar, gerade vor dem Hintergrund der Paränese. Jauß 1991: 33. Gerade im Bereich der Dichtungsrezeption zeigt sich die Wichtigkeit des Noos für Hesiod; m.E. lässt sich so auch die Form des ‚Kalenders‘ erklären: Es geht darum zu erschließen, was gesagt sein soll; träfe dies zu, ließe sich hierin bereits eine Vorform herakliteischen Sprachgebrauchs erkennen; vgl. dazu Hopkins 2009. Riedinger (1992: 124) bemerkt, dass es sich weniger um Jahreszeiten als vielmehr um „unités climatiques“ handle, womit einmal mehr die Wirkung auf den Menschen betont wird. Vgl. Riedinger 1992: 124. Beim Sommer indes nicht so emphatisch; wie Beall (2005) zeigt, sind es hier – anders als man bei der idyllischen Sommerszene erwartet – andere Momente, welche die latente Bedrohung menschlicher Exististenz darstellen: die sengende Hitze, die den Mann kraftlos macht; der schrille Gesang der Zikade, der die Bedrohung odysseischer Sirenen evoziere etc. Vgl. z.B. Erga 457; Hesiod misst den Vorbereitungen ebensolche Wichtigkeit zu wie den eigentlichen Arbeiten; Erga 414–447 beschreiben Vorarbeiten der herbstlichen Feldarbeit, lediglich 465–471 die Arbeiten selbst; vgl. Neslon 1996a: 46. Nicolai (1964: 97) macht die fundamentale Beobachtung, dass bei Beschreibungen (hier: am Beispiel der Gerätschaften zum Beginn des ‚Kalenders‘) „Sein in Handlung“ aufgelöst werde, sowie eine „Trennung in Vorarbeiten und Aktion“ erfolge;

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stellung des Bios aber, oder besser, da dieser vorausliegend: die Sorge um sie,64 ist die Bedingung aller Handlungen, die das menschliche Leben betreffen, und somit für das Leben selbst: ut sementem feceris, ita metes, „wie die Saat, so die Ernte“, heißt es bei Cicero (de or. 2, 261). „Die Polarität von Saat und Ernte ist der Kern bäuerlicher Arbeit schlechthin und symbolisiert darüberhinaus jede menschliche Tätigkeit.“65 Der Kalender besitzt also auch eine metaphorische Dimension. In der Tat spielt der Konnex von Säen und Ernte, oder, allgemeiner formuliert: von Tun und Ergehen, für die – vom menschlichen Standpunkt aus besehen – zeitliche Ordnung der Erga eine wichtige, um nicht zu sagen: die zentrale Rolle.66 Es gibt nichts, was nicht dieser Relation unterläge.67 Die Erga sind ein Gedicht, die diese fundamentale Einsicht anhand ihrer im menschlichen Leben sich auf unterschiedliche Weise manifestierenden Formen zur Sprache bringen. Dass der Nachdruck bei Sommer und Winter auf der Dauer liegt, folgt einem einsehbaren Prinzip: Hesiod weist auf diese Weise auf das vom Menschen empfundene Lasten dieser Jahreszeiten hin.68 Nicht nur der Mensch, der sich in Anbetracht dieser ‚inhumanen‘69 Zeit in einer passiven Situation der Defensive befindet (es spielt sich denn auch die gesamte den Menschen direkt betreffende Szene im Inneren des Hauses ab),70 sondern sogar das von Natur aus mit schützendem Fell versehene Vieh hat unter

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auch er spricht von „Handlung“, nicht von der jeweiligen konkreten Arbeit; vgl. dazu Anm. 24. Erga 412b: mele/th de/ toi e)/rgon o)fe/llei („Sorge läßt das Werk wachsen“); zum Aspekt der Sorge vgl. Anm. 20; 36. Nicolai 1964: 89. Diese Zeitordnung ist nämlich zugleich Rechtsordnung; vgl. Theunissen 2000: 640; die Bezeichnung „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ ist v.a. in der alttestamentlichen Wissenschaft geläufig. Besonders deutlich wird dies im „Weltaltermythos“ der Erga (106–201). Vgl. Nelson 1996a: 52; sie betont auch die „conditions of the seasons“, die im ‚Kalender‘ beschrieben werden (und zwar in 95 von insgesamt 203 Versen!); ähnlich bereits Riedinger (vgl. die folgende Anm.). Riedinger 1992: 125: „l’hostilité de la saison, et son caractère pour ainsi dire ‚inhumain‘.“ Marsilio (1997) streicht, vielleicht ein wenig ‚genderlastig‘, die Bedrohung des Bauern durch das im Hause verbliebene Mädchen hervor (durch ihre sexuellen Reize, die breit beschrieben werden, ziehe sie seine Aufmerksamkeit von der Arbeit ab); zudem dürfe, so Hesiod, der Winter nicht als Anlass dazu dienen, nichts zu tun (vgl. Erga 493–503): Bezeichnenderweise ist der Winter durch die Abwesenheit jeglicher Arbeit(sanweisung) charakterisiert; vgl .Nelson 1996a: 50.

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dieser Situation zu leiden.71 Drastischer lässt sich die Verletzlichkeit des Lebens gegenüber der Allmacht der Natur kaum in Szene setzen. Weiterhin aufschlussreich ist die Länge des Winterbildes (492–569): Mit seinen annähernd 80 Versen entspricht es ca. 10% des Umfangs der Erga. Man kommt nicht umhin, die erzählte Zeit (d.h. den Winter in seiner Länge) und die Erzählzeit (also die fast 80 Verse) miteinander in Beziehung zu setzen:72 Durch die als geradezu übertrieben empfundene Länge der Schilderung wird auch in der Rezeption das Auf-dem-MenschenLastende erfahren. Wie Michael Theunissen für das Epos betont, erscheint „eine lang sich hinziehende Zeit [...] im Epos als die, in der eine negative Welterfahrung sich niederschlug“73. Es soll hier die Erfahrung der Dauer dieser zugleich auch unterschiedliche Bedrohungen bereitshaltenden Jahreszeit betont werden, womit auch die Negativität dieser Erfahrung unterstrichen wird. Wir erfahren also auch noch im Akt der Rezeption die Wirkung der Jahreszeit auf den Menschen, als eine sich lange hinziehende, scheinbar nicht zu Ende gehende. Der Mensch wird auch hier in seiner ganzen Bedürftigkeit erwiesen; seine Existenz ist angesichts dieser Unbilden der Natur besonders gefährdet. Bei den Zeitangaben des ‚Kalenders‘ belässt es Hesiod in den meisten Fällen nicht bei der alleinigen Nennung der Gestirne, wie z.B. im Einleitungsteil, wo es nur heißt (383): („Wenn das Gestirn der Plejaden, der Atlasgebornen, aufsteigt“).74 Oft führt er noch einen oder mehrere andere Zeitindikatoren an (z.B. den Ruf eines Vogels, das Blühen einer Pflanze),75 d.h. es werden über die sich so einstellenden kurzen Zeitperioden, die zwischen diesen Zeitpunkten stehen, Handlungsspielräume eröffnet, die ihrerseits der menschlichen Erkenntnisfähigkeit des Noos Rechnung tragen ––––––––––––––

71 Vgl. Erga 512–515a; die einzige Ausnhame bilden die Schafe, durch deren Pelz kein Wind zu dringen vermag; vgl. Erga 515b–518a. 72 Genaueres zu diesen beiden von Günther Müller geprägten Termini bei Martinez/Scheffel 52003: 31. 73 Theunissen 2000: 519. 74 Die an sich schlichte Zeitangabe wird indes dichterisch meisterhaft umgesetzt: vgl. z.B. Klangwirkung der Vokale, v.a. in den Genitiven; Drei-Wort-Vers, der äußerst selten ist, etc. Wie das eingangs erwähnte Certamen zeigt, waren es die den ‚Kalender‘ eröffnenden Verse (das Certamen selbst zitiert die Verse 383–392), welche die Waagschale zu Gunsten Hesiods haben ausschlagen lassen; obgleich als Argument für den Sieg Hesiods angeführt wurde, er habe zum Landbau und daher zum Frieden aufgerufen, wird der Wohlklang der Worte mit Sicherheit seinen Teil dazu beigetragen haben, was wiederum das Dichterische in Hesiods Komposition betont. 75 Vgl. Riedinger 1992: 122f. (unter Nennung entsprechender Stellen).

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sollen.76 Der Mensch sieht sich nicht auf einen exakten Punkt verwiesen; vielmehr steht ihm ein Zeitfenster für das Ergreifen der Initiative zum Handeln offen.77 Damit scheint die Zeit der Handlung eine auf die menschlichen Fähigkeiten zum Erkennen und auf ein den Bereich des Erkannten berücksichtigendes Treffen von Entscheidungen ausgerichtete zu sein. Für den Menschen erweist sich dieser kurze Zeitraum somit als Chance – ergreift er sie, vermag er sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und dadurch Zukunft zu gestalten. Natürlich ließen sich die Beobachtungen, die am Beispiel des ‚Kalenders‘ gemacht wurden, fortsetzen, wozu hier aber der Platz fehlt. Eines sollte jedoch bereits aus ihnen ersichtlich geworden sein: Hesiod greift im zweiten großen Hauptteil der Erga nicht auf traditionelle Erzählungen wie z.B. den Mythos zurück, sondern legt der Gestaltung der einzelnen Szenen des ‚Kalenders‘ bewußt jene Erfahrungen zugrunde, die der lebensweltlichen Wirklichkeit entstammen und ihrer Qualität nach als besonders einscheidend empfunden wurden, da sie den Menschen auf seine Existenz verwiesen: Eine nicht zum rechten Zeitpunkt begonnene Arbeit konnte schlimmstenfalls zu Ernteausfall führen und somit zur Wehe einer gesamten Gemeinschaft beitragen. Es sind vor daher pränarrative Erfahrungen, die gerade vor dem Hintergrund der Paränese – abgesehen von der dichterischen Dimension des Terpein liegt Hesiod in der Tat und vor allem daran aufzuzeigen, was unter Dike-gemäßen Leben zu verstehen ist – dazu auffordern, dichterisch umgesetzt zu werden. Als ‚geschichtlich‘ qualifizieren lassen sie sich aufgrund ihres – zeitlich besehen – allumfassenden Geltungsanspruchs; ihr geschichtlicher Sinn liegt insbesondere in der Kondition endlicher Möglichkeiten, die es gilt, im rechten Moment zu ergreifen. Dass Hesiod diese Umsetzung dichterisch gelungen ist, die vermeintliche ––––––––––––––

76 Wie Nicolai (1964: 96) mit Blick auf den eigentlichen Beginn des ‚Kalenders‘ (414ff. – aufgrund dieser Anfangsstellung darf man reinen Zufall ausschließen) herausarbeitet, kann dies soweit führen, dass Hesiod alle bekannten Methoden der Zeitbestimmung verwendet: „Meteorologie 414f, Anthropologie 416f, Astronomie 417–419, Zoologie 420 (Ungeziefer) und Botanik 421 [...].“ 77 Dabei wäre es aber falsch, dieses Zeitfenster mit dem Kairos gleichzusetzen; dieser ist und bleibt immer ein Punkt (vgl. die ‚Ursprungssituation‘ des Wortes in der Webersprache, die bei Theunissen 2000: 800ff. referiert wird), der zwar auf etwas Konkretes hinzielt, allerdings immer an ein bestimmtes Subjekt rückgebunden bleibt, daher nicht als ausschließlich objektiv zu verstehen ist. Entsprechend äußert sich van Groningen (1953: 2, Anm. 2): „It is, I think, essential to see that kairo/j always denotes a moment considered in relation to another thing; it is never abstract, always concrete. When kairo/j is put into relation with man, it always indicates the point at which this person expressly inserts himself or is inserted into the xro/noj. Kairo/j has no value except as a present moment, a ‚now‘.“

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Ungeordnetheit dieses Teils also durchaus einem weitergehenden Sinn folgt, dürfte damit klar geworden sein.

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Welt-Geschichte Raum- und Zeiterfahrung als Grunderfahrung von Geschichtlichkeit Eine Betrachtung im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger

TOM GEBOERS Wenn der Begriff der ‚Erfahrung‘ in Bezug auf die ‚Geschichte‘ verwendet wird, dann gelangt auch er in den doppeldeutigen Bereich der ‚Historia‘. Diese bezieht sich nämlich seit Herodot einerseits auf die ‚Ereignisse‘ der Geschichte (denen der Mensch untersteht) selbst, andererseits jedoch auf die ‚Kunde‘, ‚Erzählung‘ und ‚Auffassung‘ dieser Geschichte von Seiten des Menschen.1 Wenn von der ‚Erfahrung der Geschichte‘ die Rede ist, kann deshalb einerseits von der spezifischen Art und Weise, auf welche sich Erfahrung in der Geschichte selbst zeigt, die Rede sein. In diesem Fall meint die ‚Erfahrung der Geschichte‘ das Betroffen-Werden des strebenden und ‚duldenden‘ Menschen von (un)erwarteten Ereignissen. Die Erfahrung der Geschichte betrifft dann in eminentem Sinne den befremdenden und überwältigenden Charakter dieser Ereignisse. Andererseits kann die Geschichte als Instanz verstanden werden, durch welche der Mensch die Zeitlichkeit der Welt repräsentiert und erzählt. Diese narratologische Herangehensweise versteht Geschichte primär als Leistung des menschlichen Geistes. Wenn der Begriff der Erfahrung mit dieser Auffassung von Geschichte enggeführt wird, dann meint er die Art, auf welche die Auffassung von Geschichte selbst den Weltaufenthalt des Menschen zutiefst prägt. ‚Erfahrung von Geschichte‘ besagt dann die Erfahrung des Begriffs der Geschichte, d.h. das, was dem Menschen Geschichte bedeutet, und wie er diese auslegt.

–––––––––––––– 1

Zu dieser Unterscheidung vgl. den Titel ‚Geschichte und Geschichten‘ von Walter Margs Übersetzung der Historiai (Herodot 1973: Vorwort); vgl. auch Schelling 1856–1861 (2/1): 235.

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Die Doppeldeutigkeit des Geschichtsbegriffs liegt in der ‚Sache‘ selbst begründet.2 Das menschliche Verstehen der Geschichte prägt auch das unmittelbare Erleben der Ereignisse der Geschichte. Außerdem kann gerade die jeweilige Auffassung der Geschichte (die doch tendenziell als aktive Leistung des Bewusstseins verstanden wird) selbst als eine erfahrene Geschichte des Menschen verstanden werden. In diesem Fall träfen die beiden Seiten des überlieferten europäischen Geschichtsbegriffs in einer ‚Ereignisgeschichte‘ zusammen, die zugleich die ‚Begriffsgeschichte‘ wäre. In den großen Entwürfen der deutschen Geschichtsphilosophie (d.h. auch bei Schelling, Nietzsche und Heidegger) wird, wenn von Geschichte die Rede ist, immer in letztgenanntem Sinne über Geschichte gesprochen. Dies bedeutet, dass das Denken dieser Philosophen sich angesichts des geläufigen Diskurses über den Zusammenhang von Erfahrung und Geschichte auf einer Meta-Ebene befindet, die für diese Philosophen jedoch der eigentliche Bereich der Geschichte ist. Falls dies so ist, dann könnte jedoch das Gegeneinander-Ausspielen der Geschichtsphilosophien Schellings, Nietzsches und Heideggers die Wandlung einer philosophischen Grunderfahrung von Geschichte einsichtig machen, die uns zugleich ‚in medias res‘ in diese Wesensgeschichte hineinversetzt. Dieser Versuch macht die Perspektive aus, durch welche hier zur Erörterung des Gesamtproblems von ‚Erfahrung und Geschichte‘ beigetragen werden soll. Wenn man nicht bloß nach der ‚Erfahrung von Geschichte‘ fragt – dies ist eine Frage, die selbstverständlich selbst schon schwer genug ist, und die sich in mehrfacher Hinsicht entfalten ließe – sondern nach der Grunderfahrung von Geschichte, dann stellt man die Frage nach demjenigen, was Geschichte als solche konstituiert. In seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) stellt Schelling antike und christlich-moderne Welterfahrung einander entgegen.3 In der ersten, so Schelling, werde eine ‚ewige Natur‘ behauptet, die das Neue und Einmalige der Geschichte umfasst und wieder in sich einbezieht. In der antiken Welterfahrung werde dementsprechend die Zeit als dem Raum unterworfen erfahren.4 Dementsprechend wird in der Antike eher eine ‚geschichtliche Welt‘ als eine ‚Welt-Geschichte‘ erfahren. Seit der Entstehung des Christentums dagegen wird die Welt zunehmend als vorübergehender Zustand erfahren und von dieser Grunderfahrung her –––––––––––––– 2 3 4

Vgl. dazu auch Koselleck 1979: 48–49, 300 zur Doppeldeutigkeit des Begriffs ‚Geschichte‘. Schelling 1856–1861 (1/5): 290. Schelling 1856–1861 (1/5): 350ff.

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immer mehr der ‚Geschichte‘ unterworfen.5 Seit dem Christentum wird die ‚geschichtliche Welt‘ zunehmend als ‚Weltgeschichte‘ erfahren: Die zeitliche Dimension der welt-geschichtlichen Erfahrung beherrscht zunehmend die räumliche. Diese Erfahrung konstituiert laut Schelling die ‚Geschichte‘ seit der Entstehung des Christentums. Nietzsche macht eine Feststellung, die mit dieser Behauptung übereinstimmt, wenn er in seiner Kritik des Christentums in Morgenröthe feststellt, dass bei Paulus der Gedanke aufkommt, die irdische Natur sei durch Leben und Tod Christi anfänglich aufgehoben. Nur „noch kurze Zeit“ müsse der Mensch ‚inmitten dieser Verwesung‘ ausharren, bevor er von ihr im ‚jüngsten Gericht‘ erlöst werde.6 Diesem Gedanken setzt Nietzsche entschlossen den ‚Willen zur Macht‘ als ewige, unentrinnbare Natur, der man sich zu stellen hat, entgegen. Die Gemeinsamkeit beider Gedanken, nämlich die Assoziation des Christentums mit der Erschütterung einer ‚Natur‘, die davor als unentrinnbar, danach als überwindbar empfunden wird, und die Folgen dieser Erschütterung für die ‚welt-geschichtliche‘ Erfahrung des Menschen, durchzieht auch das Denken Heideggers. Von ihm wird dieser Gedanke vor Allem auf das neuzeitliche ‚Welt‘-Bild übertragen. Schelling und Nietzsche bewegen sich für Heidegger beide noch innerhalb dieser weltgeschichtlichen Grunderfahrung der Neuzeit. Für Schelling gilt dies, insofern er in seinem Bestreben nach einem ‚System der Freiheit‘7 an einer universalen Welt-Geschichte festhält. Schellings Naturphilosophie und Die Weltalter gehen von einer Genese des Universums aus, worin die Erde vorerst ein ‚wüster und leerer‘ Planet ist, der in diesem Universum umherkreist.8 Zwar weicht Schelling diesem Gedanken noch aus, wenn er ihn als einen Anfangszustand setzt, von welchem ausgehend er in der Naturphilosophie dennoch eine auf den Menschen ausgerichtete Teleologie der organischen Naturentwicklung aufbaut.9 Diese Entwicklung gelingt ihm, indem er die Kluft verschweigt, die zwischen dem in unzählbaren Galaxien zerstreuten Universum und der Entstehung des organischen Lebens auf Erden liegt. Dennoch führt schon –––––––––––––– 5 6 7

8 9

Schelling 1856–1861 (1/5): 288f. Nietzsche 1954 (1): 1058. Die Behauptung, Schellings Philosophie strebt das ‚System der Freiheit‘ an, ist die Ausgangsthese von Heideggers Schelling-Interpretation aus dem Jahre 1936. Vgl. Heidegger 1988: z.B. 118. Schelling 1856–1861 (1/8): 330f. Deutlich zeigt z.B. Wolfram Hogrebe, dass bei Schelling immer von einem solchen Universum ausgegangen werden muss. Vgl. v.a. Hogrebe 1989: 99–105. Schelling 1856–1861 (1/10): 111.

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Schellings Konzeption einer Universalgeschichte unausgesprochen zu Nietzsches Worten am Anfang von Über Wahrheit und Lüge in außermoralischem Sinn (1873). In diesem Text spricht Nietzsche nämlich die Grundempfindung aus, die inzwischen zum ‚normalen’ weltgeschichtlichen Empfinden der Öffentlichkeit geworden ist: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben.“10 Vorerst kann darauf hingewiesen werden, dass Nietzsche in dieser Textstelle das Wort ‚Weltgeschichte‘ nennt. Aber er nennt es nicht nur, er setzt es in Anführungszeichen. Die ‚Weltgeschichte‘, das ist hier das ‚in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossene Weltall‘, in dem ‚einmal‘, ‚eine Minute lang‘, ‚kluge Tiere‘ entstanden und wieder zugrunde gingen. Nietzsche setzt ‚Weltgeschichte‘ in Anführungszeichen, weil diese ‚Weltgeschichte‘ nur noch wenig gemeinsam hat mit dem, was man bis dahin darunter verstand, nämlich eine Geschichte, die den Menschen als Krone der Schöpfung auffasst und die in ihrem Verlauf eine Teleologie oder einen Fortschritt aufzeigt, der vom Menschen als geschichtlicher Auftrag übernommen werden kann. Die ‚Weltgeschichte‘, die Nietzsche in Anführungszeichen setzt, kann sogar nur schwerlich eine ‚Geschichte‘, geschweige denn die ‚Geschichte einer Welt‘ genannt werden. In ihr gibt es weder ein die ‚Geschichte‘, noch ein die ‚Welt‘ durchwaltendes ‚Prinzip‘, das es erlauben würde, von einer Geschichte bzw. einer Welt zu sprechen. Für Heidegger steht diese ‚Weltgeschichte‘ jedoch in Kontinuität mit der christlichen Erfahrung. Andererseits lässt sich allgemein feststellen, dass es für Heidegger aus bestimmten Gründen möglich ist, unmittelbar über die von Nietzsche skizzierte ‚Weltgeschichte‘ hinwegzugehen und über das ‚chaotische Universum‘ zu schweigen. Dies lässt sich nur erklären, wenn man Heideggers Auffassung des Wesens der Neuzeit und des Weltaufenthalts, zu welchem er in seinem Denken übergeht, genauer untersucht. Nietzsches Beschreibung der Weltgeschichte entstammt für Heidegger dem modernen ‚Wesen der Wahrheit‘; dieses ‚Wesen‘ ist selbst ein geschichtlicher Weltaufenthalt. Dies umso mehr, da für Heidegger die ‚Weltgeschichte‘ Nietzsches nur ein Aspekt des umfassenden Wesens dieses –––––––––––––– 10 Nietzsche 1954 (3): 309.

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modernen Weltaufenthalts ist, und insofern seine ganze Wahrheit erst aufzeigt, wenn es im Zusammenhang dieses umfassenden Wesens erscheint. Dieses umfassende Wesen ist – so Heidegger – im Ausgang von Descartes’ Festlegung des ‚ego cogito, ergo sum‘ als ‚Subjektivität‘ einsichtig. Diese Feststellung muss als Umriss eines sicheren, unbezweifelbaren Bereichs des Erkennens aufgefasst werden. Die moderne Subjektivität ist Heidegger zufolge als der Bereich zu bestimmen, in welchem die Gegenstände des Erkennens so erscheinen, dass sie für den Menschen eine sichere Habe sind, von der er ausgehen kann und auf die er nicht mehr zurück zu kommen braucht. Dieser Bereich muss bewusst festgestellt und umrissen werden, um danach als Fundament des Erkennens zu dienen. Die moderne ‚Subjektivität‘ ist jedoch nicht bloß der Ich-Punkt, sondern der gesamte Vorstellungsbereich, innerhalb dessen das ‚Ich‘ die Gegenstände vorstellt, d.h. worin diese ihm als durchsichtig und messbar erscheinen. Der Bereich, innerhalb dessen die Seienden auf diese Art dem Ich erscheinen, ist der ‚mathematische Vorstellungsraum‘. Die Setzung des ‚ego cogito‘ als Subjektivität ist also zugleich die Versetzung der Welt in den ‚mathematischen Vorstellungsraum‘. Dementsprechend behauptet Heidegger bezüglich ‚Descartes’ cogito‘: „Die Sicherheit des Satzes cogito sum [cogito ens cogitans] bestimmt das Wesen alles Wissens und Wissbaren, d.h. der mathesis, d.h. des Mathematischen […] Das mathematisch Zugängliche, sich Errechenbare an dem Seienden, das der Mensch nicht selbst ist, an der leblosen Natur, ist die Ausdehnung (das Raumhafte), die Extensio, wozu sich Raum und Zeit rechnen lassen.“11 Erst ausgehend von dieser unbedingten Setzung des mathematischen Vorstellungsraums wird, Heidegger zufolge, das Ganze der neuzeitlichen Dynamik einsichtig. Doch wird nicht nur das neuzeitliche Bild der Weltgeschichte auf diesem Hintergrund verständlich, sondern auch, weshalb in der Neuzeit das ‚Seiende im Ganzen‘ unter dem Anspruch der radikalen Umstellung und Umschaffung in Funktion der schrankenlosen Selbstsicherung des Menschen erscheint. Dass der Mensch sich und die Welt vom ‚ego cogito‘ her betrachtet und von dorther das ‚Seiende im Ganzen‘ unter dem Anspruch der unbedingten Sicherstellung auf sich zu versammelt, dies sagt primär etwas aus über das neuzeitliche Weltverhältnis des Menschen. Das neuzeitliche Weltverhältnis ist, Heidegger zufolge, die letzte, vollendete Gestalt des metaphysischen Weltverhältnisses. In diesem Weltverhältnis verzerrt der Mensch auf stets steigernde Weise das anfängliche Weltverhältnis und verunstaltet es ins Maßlose. Das Christentum ist für Heidegger zur Meta–––––––––––––– 11 Heidegger 1997: 145.

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physik gehörig, insofern im Christentum die Welt zur Schöpfung eines letztendlich überweltlichen Gottes wird, der sich selbst im Bereich des ‚Metaphysischen‘ aufhält. Die neuzeitliche Setzung der Subjektivität ist dann bekannterweise die Verlagerung der metaphysischen Instanz in die menschliche Vernunft. Dementsprechend ließe sich behaupten, für Heidegger sei der eigentliche Weltaufenthalt des modernen Menschen der ‚mathematische Vorstellungsraum‘. Erst von diesem ausgehend kommt der moderne Mensch auf das ihm sinnlich unmittelbar Begegnende zu. Dieser ‚Weltaufenthalt‘ erklärt sowohl die Heimatlosigkeit des modernen Menschen, als auch die Erscheinung der Welt-Geschichte ausgehend von ihrem weitesten und allgemeinsten Bereich, nämlich dem unendlichen Universum. Dies würde dann zugleich bedeuten, dass dieser Weltaufenthalt nur hinterfragt und überwunden werden kann, wenn er selbst in seiner Wahrheit fragwürdig wird und auf etwas hin gedacht wird, das wesentlicher und unhintergehbarer ist als er selbst. Dieses Wesentlichere ist für Heidegger das anfängliche Weltverhältnis des Menschen, das unausgesprochen jedem Weltverhältnis in seiner Möglichkeit zugrunde liegt. Vorerst gilt es dem nachzugehen, was der moderne Weltaufenthalt für die moderne Konzeption der Weltgeschichte bedeutet. Einerseits heißt dies, dass der Begriff der ‚Welt‘ für die moderne Geschichtsauffassung unbestimmt bleiben muss, weil er sich einerseits auf eine unendlich ausgedehnte Welt bezieht. Andererseits wird dadurch die ‚Welt‘ zugleich zu einem Begriff, dem nur noch eine ‚pragmatische‘ Bedeutung zukommt, weil sie als der jeweilige ‚Umwelt‘- bzw. ‚Kontext‘-Bereich bestimmt wird, in welchem sich eine Geschichte abspielt. Hierin bekundet sich für Heidegger aber gerade die Wahrheit, dass die Willkür des Vorstellens letztendlich den modernen Umgang mit ‚Geschichte‘ bestimmt. Dies bedeutet für die zeitliche Dimension der Welt-Geschichte, dass einerseits die Zeit als dasjenige konzipiert wird, was eine jeweilige Welt transzendiert. In der modernen Geschichte als solcher liegt, mit Schelling gesprochen, der Begriff einer „unendlichen Progressivität“12. Andererseits ist die Zeit dennoch in den mathematischen Vorstellungsraum hineinversetzt, insofern dieser die ‚leerste Allgemeinheit‘ darstellt. D.h. wenn wir die ‚Welt‘ als eine wesenhaft begrenzte setzen (und diese Setzung ist für den modernen Weltaufenthalt eine pragmatische), dann ist sie Zeit und Geschichte unterworfen. Deshalb versteht der moderne Mensch die ‚Welt‘ als einen vorübergehenden Zustand. Wenn die Welt jedoch als leerste All–––––––––––––– 12 Schelling 1856–1861 (1/3): 592.

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gemeinheit des mathematischen Vorstellungsraums verstanden wird, umfasst sie wiederum Zeit und Geschichte. Die Welt-Geschichte (in neuzeitlichem Sinne) wird daher immer schon im Hinblick auf die allgemeinste Raum-Zeit-Achse, d.h. in einem fundamental mathematischen Sinne gedacht. Das sehen allerdings schon Schelling und Nietzsche und für beide erweist sich dies als problematisch. In der Philosophie der Offenbarung behauptet Schelling, die neuzeitliche Geschichtsauffassung sei dadurch geprägt, dass sie unfähig ist, einen Anfang und ein Ende der Geschichte zu denken.13 Aufgrund dieser Unfähigkeit sei sie schließlich dazu gezwungen, die Sinnlosigkeit der Geschichte zu behaupten. Geschichte ist für Schelling wesentlich als ‚Epochè‘, als das SichEntziehen eines unmittelbaren Sinns in der Gegenwart zu verstehen.14 Die Abwesenheit unmittelbarer Sinnerfüllung in der Gegenwart konstituiert die Geschichte, verweist jedoch gerade auf eine vergangene und eine mögliche zukünftige Sinnerfüllung; ‚Welt-geschichte‘ ist demzufolge die aufgespannte Raumzeit bzw. der Zeitraum, in welchem eine Gegenwart wesenhaft im Horizont von Vergangenheit und Zukunft und von diesen her als ‚Auftrag‘ erscheint. Die Konzeption eines Anfangs und eines Endes der Geschichte sei deswegen notwendig, damit die Gegenwart im Horizont eines Auftrags erscheint; erscheint sie nicht innerhalb eines solchen Auftrags, dann ist dies insofern katastrophal, da dann nur die von Sinn entleerte Gegenwart übrig bleibt. Diese werde dann selbst wiederum auf die ganze geschichtliche Zeit ausgedehnt, und so zur ewigen Gegenwart; dadurch werde der gegenwärtige Zustand der Menschheit übereilt zur allgemeinen, anthropologischen Konstante der Geschichte ausgerufen. Dies führe, so Schelling, unweigerlich zur geschichtlichen Grundbefindlichkeit des Prediger-Spruchs, dass nichts Neues unter der Sonne geschehe. Schelling verschweigt allerdings, was Nietzsche eine Generation später aussprechen wird, nämlich: dass gerade die sinnentleerte Gegenwart der christlichen Auffassung der ‚Welt-Geschichte‘ entstammen könnte. Auch Nietzsche fasst eine bloß ins Unendliche zurückgehende und ins Unendliche Fortgehende Geschichte als problematisch auf. Auch er geht von der Augenblickserfahrung aus, die Geschichtlichkeit als solche konstituiert.15 Er interpretiert diese Erfahrung auf dem Hintergrund des Gedankens der ‚ewigen Wiederkunft des Gleichen‘ unchristlich. Nietzsche leugnet die ––––––––––––––

13 Schelling 1856–1861 (2/1): 229f. 14 Schelling 1856–1861 (2/3): 6f. 15 Nietzsche 1972–1980 (7/2): 6f.; Nietzsche 1954 (2): 202f.; vgl. dazu auch Heidegger 1996: 318.

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Unendlichkeit der Welt thesenhaft und kommt schließlich zum Ergebnis, dass Vergangenheit und Zukunft sich hinter dem scheinbar ins Unendliche verlaufenden Horizont zusammenschließen, d.h. dass die Zeit schließlich als Kreislauf zu denken ist. Dennoch ist auch hier der Gedanke des Augenblicks fundamental: Vergangenheit und Zukunft laufen nicht bloß weg ins unendlich Ferne; sie stoßen auch im Augenblick der Gegenwart aufeinander; das Ganze des Kreislaufs der ‚ewigen Wiederkunft‘ wird im Augenblick vermittelt. Im Augenblick können sich Ewigkeit und Zeit in höchster Erfüllung zusammenschließen. In dieser Erfüllung wächst dann die große Bereitschaft, so Nietzsche, „mit der Tragödie [...] anzufangen“16. Heideggers Auffassung der eigentlichen Zeitlichkeit in Sein und Zeit17 hat eine tiefe Verwandschaft mit diesen Zeiterfahrungen. Heidegger bestätigt dies selbst, wenn er in seinen frühen Schelling- und NietzscheInterpretationen (Mitte der 1930er Jahre) die Grundeinsichten von Sein und Zeit zur Erläuterung von Schellings Freiheits- und Nietzsches Augenblickserfahrung verwendet.18 Überhaupt betrachtet Heidegger Schelling in der ersten Auslegung der Freiheitsschrift und Nietzsche in Der Wille zur Macht als Kunst und die Auslegung der ‚ewigen Wiederkunft‘ noch als seine nächsten Verwandten.19 In welcher Hinsicht ließe sich jedoch der Unterschied zwischen Heideggers Denken der Geschichte und Schellings und Nietzsches Geschichtsauffassungen am Eindeutigsten erklären? Heideggers Kritik des ‚Willens‘ sowie seine Infragestellung der metaphysischen Auffassung des Seins als ‚allgemeinster und leerster Begriff‘ einerseits und als ‚Wille zur Macht‘ andererseits sind bekannt. Heideggers Kritik des ‚Willens‘ orientiert sich primär an den Willensbegriffen, wie sie gerade bei Schelling und Nietzsche zustande kommen. Bei beiden wird der ‚Wille‘ als das ‚Sein des Seienden‘ betrachtet, mit der Folge einer schrankenlosen ‚Vermenschlichung des Seins des Seienden‘. Aber Heideggers Kritik von Schellings und Nietzsches Willenskonzeptionen richtet sich an erster Stelle nicht gegen diese Auffassung. Wenn Heidegger über den ‚Willen‘ spricht, dann immer ausgehend von der ‚klassischen Formulierung‘ des Seins als Wille, wie sie bei Schelling in der Freiheitsschrift zu finden ist: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein, ––––––––––––––

16 Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 342 „Incipit tragoedia.“ In: Nietzsche 1954 (2): 203. 17 Heidegger 1976–2009 (2): 509. 18 In Bezug auf Schelling vgl. z.B. Heidegger 1988: 268f.; in Bezug auf Nietzsche vgl. z.B. Heidegger 1996: 41. 19 Vgl. Heidegger 1988: 5.

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und auf dieses allein [nämlich das Wollen] passen alle Prädikate desselben [nämlich des Urseins]: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.“20 Wenn man jedoch der Willenskonzeption Schellings inhaltlich nachgeht, wird schnell deutlich, dass Schelling hier diejenige Gestalt des Willens vor Augen hat, die er in Die Weltalter als „der Wille, der nichts will“21 benennt. Es handelt sich dabei um den nichtaktivierten Willen, die Gottheit Gottes, wie dieser bei-sich-selbst war, bevor die Schöpfungsdynamik sich in Bewegung setzte; diese Gestalt ist jedoch nicht die einzig mögliche Gestalt des Willens; in einer anderen Gestalt ist der Wille nämlich gerade die Zeitlichkeit als solche, nämlich das schmerzerfüllte Streben des Menschen im Zustand der wesenhaften Abwesenheit von Erfüllung.22 Allerdings bleibt bei Schelling diese Gestalt des Willens auf den ‚nicht-wollenden Willen’ als seine ersehnte Erfüllung angewiesen.23 Heideggers Willenskritik richtet sich nicht so sehr gegen die Gestalt des Willens als schmerzerfülltes Streben, sondern vor Allem gegen diejenige Konzeption, die den Willen ausgehend vom Seinsbegriff als ‚Grundlosigkeit‘, ‚Ewigkeit‘, ‚Unabhängigkeit von der Zeit‘ und ‚Selbstbejahung‘ denkt und den Willen als schmerzerfülltes Streben im Voraus innerhalb dieses Horizonts erscheinen lässt. Dieser Seinsbegriff ist der ‚metaphysische‘. Durch ihn wird der strebende Wille selbst erst metaphysisch und d.h. innerhalb den Bereich unbedingter Erfüllung gestellt. ‚Grundlosigkeit‘, ‚Ewigkeit‘, ‚Unabhängigkeit von der Zeit‘ und ‚Selbstbejahung‘ werden dadurch zu Zwecken menschlichen Wollens, die den Menschen in den radikalsten und unversöhnlichsten Widerspruch zu seinem irdischen Dasein setzen, indem sie ihn in eine Unruhe versetzen, die ihn zur schrankenlosen Umstellung alles Seienden drängen, damit schließlich derjenige Zustand des Wollens herbeigeführt werden möge, der im metaphysischen Seinsbegriff als solchem liegt.24 Dasselbe behauptet Heidegger in Bezug auf Nietzsches Willensbegriff; er behauptet, Nietzsches Konzeption des ‚Willens zur Macht‘ sei letztlich eine solche, in der der ‚Wille‘ zum ‚Willen zum Willen‘ wird. Der Wille will keinen ‚Zweck‘ mehr, bei welchem er sich beruhigen könnte, sondern er will nur noch sich selbst in ständiger Selbsterhöhung. Jeglicher ‚Be–––––––––––––– 20 21 22 23 24

Schelling 1856–1861 (1/7): 350. Schelling 1966: 27. Schelling 1966: 31. Schelling unterscheidet hier ausdrücklich zwei Willen. Schelling 1856–1861 (1/8): 235. Vgl. dazu Heidegger 1961: 35f.

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stand‘ des Seienden ist nur noch da, um überwunden zu werden. Dadurch wird das Ganze des Seienden in einem ‚Strudel‘ ständiger Umwälzung, in einem permanenten Umbruch fortgerissen. Der Wille wird zum ‚Willen zum Willen‘, weil Nietzsche gerade in Bezug auf das ‚Sein‘ behauptet, dass dieses vom ‚Werden‘ her verstanden und deshalb schließlich als ‚ewige Wiederkunft des Gleichen‘ zu denken sei.25 Die ‚Selbstbejahung‘ des ‚Willens‘ wird dabei ermöglicht ausgehend vom Empfinden eines Bereiches reiner, ewiger Lust hinter aller Freude und allem Leiden.26 Nietzsches Behauptung, dass das Seiende im Ganzen letztendlich lustvoll sei, muss in Bezug auf sein ganzes Denken verstanden werden. Für Nietzsche ist schließlich auch das Leiden noch Lust.27 Diese Lust ist aber letztendlich ungetrübter dem Anorganischen als dem Organischen zugehörig. Erst im Bereich des Organischen tun sich Gegensätze wie Leben und Tod, Freude und Leid auf. Erst im Bereich der organischen Natur entsteht ein Widerspruch zwischen dem Leben und dem rein affirmativen Wesen des Universums.28 Für Heidegger dagegen läuft Nietzsches Willensbegriff auf nichts anderes als die ‚Verwüstung der Erde‘ hinaus, weil das Irdische im Bereich des Willens zum Willen der schrankenlosen Entbergung und dem Verbrauch ausgeliefert wird. Der ‚Wille zum Willen‘ läuft nicht nur auf eine Überforderung des Wesens des Menschen, nämlich, Sterblicher zu sein, hinaus, sondern auf eine Überforderung der gesamten organischen Erdnatur.29 Für Heidegger gehört die erwähnte Äußerung Nietzsches zur ‚Weltgeschichte‘ in den Bereich des ‚Willens zum Willen‘ und der ‚ewigen Wiederkunft des Gleichen‘. Die Tatsache, dass die wesentliche Weltgeschichte vom ‚Universum‘ her auf die Erde zu gedacht wird, hat zur Folge, dass einerseits die Weltgeschichte in den mathematischen Vorstellungsraum, und andererseits diese ‚Weltgeschichte‘ in den Bereich des absoluten Wollens versetzt wird.30 –––––––––––––– 25 Heidegger 1977: 236ff. 26 Zum Begriff der Ewigkeit vgl. Löwith 1958: 212: „Das Problem der Ewigkeit, wie sie die ewige Wiederkunft meint, ist aber auf dem Wege zu finden, auf dem Nietzsche zugleich mit dem ‚Menschen‘ die ‚Zeit‘ überstieg.“ Meines Erachtens liegt diese Spur mit ihren Implikationen am Handgreiflichsten im Begriff der ‚ewigen Lust‘, worin sowohl das Dionysische, die ewige Wiederkunft, der Wille zur Macht sowie die Kosmologie Nietzsches unmittelbar anklingen. 27 Nietzsche 1954 (1): 93. 28 Nietzsche 1972–1980 (8/1): 31f. 29 Heidegger 2000: 96. 30 Dies lässt sich wohl am Besten durch den Sachverhalt aufzeigen, dass Nietzsches Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘ von Heidegger in einen unmittelbaren Bezug

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All dies wird von Heidegger auf dem Hintergrund eines anderen Seinsbegriffs hinterfragt. Wenn Heidegger das Sein als die ‚Lichtung‘ ins Offene des Sich-Verbergenden versteht, und den Menschen als denjenigen, vor dem sich diese Lichtung ereignet, dann ist dies mehr als eine bloße Redewendung, die aus einer Wortspielerei mit dem griechischen Wort für Wahrheit, Alètheia, entsprungen ist.31 Diese Worte bedeuten nämlich, dass der Bereich, den der Mensch in der Neuzeit als seinen Eigensten bestimmt hat, nämlich die Subjektivität, letztendlich ein geschichtlicher ist und dem ‚Seinsgeschehen‘ angehört. Dieses ‚Seinsgeschehen‘ besteht aber notwendigerweise in der Einheit von Geschenk und Entzug. Wie muss mit Heidegger das anfängliche Wesen der Wahrheit als ‚Lichtung des Sich-Verbergenden‘ gedacht werden? Vorerst kann darauf hingewiesen werden, dass dieses Wesen der Wahrheit in Bezug zu einem Weltaufenthalt gedacht werden muss, in welchem der Mensch seiner Wesensbestimmung genügt, Sterblicher zu sein und in der irdischen Physis zu verbleiben.32 Diese Wesensbestimmung ist nicht nur die Aufgabe der Wahrheitsbestimmung, sondern sie ist die anfängliche Wahrheitsbestimmung. Auch die Wahrheit muss dementsprechend erstens als eine endliche, andererseits als Geschehen innerhalb des ‚Wesens‘ der Physis gedacht werden. Die Wahrheit steht dabei stets in Bezug zur Physis, d.h. sie ist nie sicherer Besitz des Menschen, sondern gehört dem Geschehen der Physis selbst an. Dabei sind Physis und Alètheia im Grunde sogar dasselbe. Physis ist das Geschehnis der Mitte, das Hervorkommen des sich Verbergenden in die Offenheit: der Bereich der Mitte zwischen Himmel und Erde. Nun ist dieses Hervorkommen der Physis zugleich geschichtlich zu denken, und zwar als Anfang der abendländischen Geschichte.33 Die Physis ist also nicht bloß als das tägliche Aufgehen der Sonne, sondern zugleich als das Aufgehen der Wahrheit zu verstehen; dieser Aufgang ist, so könnte man sagen, die Dämmerung eines Kulturbereichs, der einer ganzen Geschichte das Maß vorgibt.34 Im Sinne Heideggers hieße das: die Dämmerung des Wahrheitsbereichs, von welcher die ganze abendländische Geschichte ausgegangen ist und innerhalb dessen sie verbleibt. Im Denken ––––––––––––––

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zum ‚Wesen der Technik‘ im Sinne des ‚Gestells‘ gebracht wird: In Was heißt Denken? behauptet Heidegger, dass das Wesen der modernen Technik „die ständig rotierende Wiederkehr des Gleichen“ sei (Heidegger 1961: 47). Vgl. die Parmenides-Vorlesung (WS 1942/43): Heidegger 1982. Heidegger 2000: 163. Heidegger 1979: 88, 146. Für diesen Gedanken ist v.a. Heideggers Interpretation des Anaximander-Spruchs aufschlussreich. Vgl. Heidegger 1977: 321–374.

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des Anfangs, das zugleich die ‚Lichtung‘ selbst ist, gelangten einfache Wesensbezüge des Seins zur Sprache, die die ganze darauffolgende Geschichte wesenhaft bestimmt haben, ja, diese Geschichte in gewissem Sinne sogar in sich enthalten. Dies impliziert, dass das Wesen des Seins selbst geschichtlich ist: Das geschichtliche Wesen des Seins west als ‚Stimmung‘, die vorerst schweigend, sprachlos auf dem Menschen lastet, ihn aber gerade dadurch beauftragt, dieses Lastende zur Sprache zu bringen. Die Stimmung ist dabei als das Verhältnis des Seins selbst zu denken, die atmosphärische Spannung, die im Weltganzen als solchem liegt, die jedoch selbst durchsichtig ist, die erfahrbar, entdeckbar ist. Heidegger legt dies auch im Hinblick auf den platonischen Eros aus, das Aufeinanderangelegt-Sein der Seienden, das sich auch im ekstatischen Wesen des Menschen wiederholt.35 Das Zur-Sprache-Bringen ist dabei als die Art und Weise zu verstehen, wie der Mensch sich die Fremdheit der Stimmung näherbringt, sich diese ‚aneignet‘. Diese Aneignung selbst geschieht wiederum durch eine ‚Bergung‘, nämlich die Bergung der erfahrenen Wahrheit in der Sprache. Dadurch erlangt die Wahrheit möglicherweise wiederum eine Fremdheit, nämlich durch die Grundstrukturen der Sprache.36 Erst vom Bereich der Lichtung her erhält der Mensch eine ‚Welt‘. ‚Welt‘ darf dabei jedoch nicht ‚universal‘, sondern muss ‚erdbezogen‘ und ausgehend von den in ihr waltenden Bezügen verstanden werden. Dabei wird der Mensch als in das Geschehen der waltenden Erdnatur einbezogen gedacht. Diese Einbezogenheit zeigt sich zu allererst in der menschlichen Sterblichkeit. Gleichwohl zeigt sich aber gerade darin, dass der Mensch einen Bezug zu etwas hat, das dieser Sterblichkeit unmittelbar entzogen ist; zugleich kann der Mensch sich selbst als in diesem Bezug stehend wahrnehmen. Und ausgehend von dieser Wahrnehmung kann er dann feststellen, dass diese Bezüge von ihm wahrheitsmäßig übernommen werden müssen, weil er einsieht, dass er diese Bezüge nicht ohne Weiteres aushält. Dieser Bereich einer ursprünglichen ‚Freiheit‘ des Menschen, die mit einer gewissen Notwendigkeit, diesen Weltbezug zu erfüllen, in Zusammenhang steht, ist ebenfalls konstitutiv für Heideggers Denken der WeltGeschichte.37

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35 Heidegger 1996: 197f. 36 Vgl. Heidegger 1982: 108. 37 Heidegger 1977: 338.

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Die Welt wird von Heidegger als ‚Geviert‘ benannt, als Begegnungsstätte von ‚Himmel‘ und ‚Erde‘, ‚Göttlichen‘ und ‚Sterblichen‘.38 Die Geschichte ereignet sich wesenhaft zwischen diesen vier Instanzen. Zwar ist der ‚Himmel‘ das Offene der Lichtung und so der eigentliche Ursprungsbereich der Wahrheit und auch der Abstraktion der Offenheit als solcher, nämlich des mathematischen Vorstellungsraums. Der Himmel besteht jedoch allein im schöpferischen Streit mit der Erde, die in ihrer Dichte, ihrem Grund-Sein für die freie Beweglichkeit ihrer Bewohner, zugleich die Sich-Verschließende, überhaupt die Instanz des Sich-Verbergens ist. Von hier aus wird auch der Gegensatz von Göttlichen und Sterblichen verständlich. Die Göttlichen sind die Seligen, die im Bereich der reinen Offenheit zu Hause sind und sich deshalb in der reinen Beweglichkeit dieser Seligkeit erfreuen dürfen.39 Der Mensch als der Sterbliche dagegen ist der Erde verhaftet. Zwar weiß auch der Mensch um die ‚Seligkeit‘ der Götter und neigt ihnen gegenüber zu Neid, weil er nicht bleibend an ihrer Seligkeit teilhat. Umgekehrt brauchen aber die Götter den Menschen als den ‚Abgründigen‘, um die ‚Seligen‘ sein zu können. Die Seligkeit der Götter steht wesenhaft in Bezug zum Leid der Menschen. Zugleich kann der Mensch jedoch im Tod die Geborgenheit seines Lebens erkennen, und ausgehend von ihr den ‚Tod als Tod‘ vermögen.40 Erst aufgrund dieses Vermögens entdeckt er seine Wesenseigenheit und vermag es, seinen Götterneid zu überwinden, indem er sich in der Zugehörigkeit zur Erde geborgen weiß und zugleich einsieht, dass die ‚Seligen‘ ihn als den dem Leid und dem Tod Ausgesetzten brauchen, um ihrer Seligkeit nicht überdrüssig zu werden. Heidegger denkt das ‚Sein‘ und den ‚Menschen‘ im Voraus innerhalb dieser Verhältnisse. Es stellt sich ihm die Aufgabe, ausgehend von diesen Bezügen auch Raum, Zeit und Geschichte zu denken. Der ‚Raum‘ ist dabei grundsätzlich anders als ein dreidimensionales Koordinatensystem zu denken, ja, nicht einmal Schellings Bestimmung des Raumes als durch Schwerkraft gehemmte und gehaltene Expansion41 wird von ihm übernommen. Heidegger denkt den Raum letzten Endes vom Land her, von der hierarchischen Sammlung dieses Landes als Gegend um Dinge, Orte und Stätten. Erst von dieser sammelnden Mitte des Raumes her sind die ‚Gren––––––––––––––

38 Vgl. Heidegger 1976–2009 (7): 180ff. und auch Heidegger 1989: 310ff. Zur Interpretation des Gevierts im Hinblick auf das Denken des ‚Seins‘ vgl. Mattéi 2008: 117–139. 39 Vgl. Heidegger 1980: 269. 40 Heidegger 2000: 152. 41 Vgl. Schelling 1966: 156.

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zen‘ des Landes zu bestimmen. Diese Ordnung bestimmt letzten Endes auch das Wesen der ‚Polis‘ als ‚Pol‘.42 Diese Raumbestimmung muss schärfstens von der sich im Römertum entschieden anbahnenden imperialen Raumbestimmung, die den Raum idealiter als Fläche einer freien Beweglichkeit der Herrschenden auffasst, unterschieden werden; der imperiale Raum ist in Bezug auf Omnipräsenz gedacht und wird von der Grenze her bestimmt; während der Raum im ersten Falle die ‚Sphäre‘ des Heiligen ist, wird er im zweiten Fall im Prinzip zur beliebig ausdehnbaren ‚Einflusssphäre‘. Erst von der letzteren Raumauffassung her gelangt die Eroberungssucht zur Evidenz.43 ‚Zeit‘ und ‚Geschichte‘ müssen in eigentlichem Sinne als endlich verstanden werden. Anfang, Augenblick und Ende ‚begegnen‘ sich in der eigentlichen Zeitlichkeit und werden in ihr übernommen. Diese Übernahme ist ein geschichtlicher Auftrag, dessen Notwendigkeit sich gerade am eindringlichsten in der Freiheit bekundet, dass der Mensch diesen Auftrag auch nicht übernehmen kann. Der Auftrag der ‚Geschichtlichkeit‘ ist nichts anderes als die ‚Geschichtlichkeit‘ selbst. Die ‚Geschichtlichkeit‘ ist kein bloß faktischer Zustand des Menschseins, sondern ein Zustand, der zu übernehmen ist.44 Die Geschichtlichkeit besteht also im Vollzug des Wohnens des Menschen unter dem Himmel, auf der Erde. Dieses Wohnen ist nicht bloß ein ‚Faktum‘, sondern wesenhaft ein Anspruch, der verfehlt werden kann. Die menschliche Freiheit ist wesenhaft als Möglichkeit der Nicht-Erfüllung dieses Anspruchs zu denken. Das Wohnen muss ‚gestiftet‘ werden. Der Mensch muss dabei vor allem die Wesensbezüge, in denen er steht, zur Sprache bringen. Diese ausgesprochene Wahrheit ist eine Stiftung der Wesensbezüge des menschlichen Weltaufenthaltes, die es den Menschen ermöglicht, diesen Aufenthalt auszuhalten. Die Verfehlung dieser Aufgabe in der abendländlischen Geschichte macht das bisherige Wesen dieser Geschichte aus. Für Heidegger liegt es in der Wahrheit dieser Verfehlung, dass sie sich als eine unendliche Entwicklung betrachten muss. Die Verfehlung versteht nicht, dass auch sie noch im Seinsgeschehen eingebunden und einbehalten ist; stattdessen meint sie, sie sei in eine universale Bahn geraten, in welcher alles nur noch ––––––––––––––

42 Heidegger 1982: 132f. 43 Vgl. Heidegger 1982: 60ff. 44 Vgl. dazu Heideggers Betrachtungen zum ‚Brauch‘ im Aufsatz „Der Spruch des Anaximander“ (Heidegger 1977: 368).

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vom Menschen abhänge.45 Die Katastrophen, denen sie auf dieser Bahn begegnet, kann sie nicht mehr in ihrem Wesen bedenken, sondern nur noch als Unfälle betrachten. Gerade dieser Wahn ist jedoch die Selbstverblendung der Hybris. Auf sie wartet die Nemesis, die sich gerade von der Mitte, dem „Herd des Seins“46 her ereignet. Die moderne Geschichte ist also Heidegger zufolge keine Entwicklung ‚ad infinitum‘, sondern auch sie wird ein Ende haben, ein Ende, von dem aus ein ‚anderer Anfang‘ möglich werden wird.47 Zugleich ist die Adikía (Unfug), die in der Geschichte als solcher liegt, wesenhaft im Seinsgeschick einbehalten: In der Adikía bzw. in dem, was sie zeitigt, liegt gerade der stille Anspruch der Seinsfuge.48 Was würde dies für die Erfahrung der ‚Welt-Geschichte‘ implizieren? Sie müsste primär als ‚geschichtliche Welt‘ erfahren werden. Sie müsste weniger als eine Raumzeit, die letztendlich in einen absoluten Raum einzupassen wäre49, sondern vielmehr als eine Aufgabe verstanden werden, die von einer gestifteten Welt ausgehen würde, und wäre ein Vollzug dieses Weltverhältnisses. Dies würde allerdings bedeuten, dass die Zeitlichkeit in einer Räumlichkeit einbehalten bliebe, die jedoch ausgehend von der Einmaligkeit des So-Seins des Landes her betrachtet werden müsste.50 –––––––––––––– 45 Eine ähnliche Feststellung macht Carl Schmitt übrigens in Bezug auf die Geschichte des europäischen Völkerrechts. Vgl. Schmitt 1950: 206, 208. 46 Heidegger 1984: 140. 47 Vgl. dazu Heidegger 1989: 178. 48 Heidegger 1977: 368. 49 Zum Begriff der Neuzeit als Übergangszeit bzw. zur Dominanz der ‚Bewegungsbegriffe‘ im Selbstverständnis der Neuzeit vgl. Koselleck 1979: 347. Koselleck betont v.a. die neuzeitliche Öffnung der Zukunft als reine Möglichkeit im Ausgang von der Feststellung ihrer Unbekanntheit. Zugleich behauptet er, dass die Geschichte als (vergangenheitsbezogene) Überlieferung in Frage gestellt wird zugunsten der Geschichte als gegenwartsbezogene, reale Wirklichkeit der Entscheidung. Dies scheint die Auffassung einer Ausdehnung der Gegenwart und einer Auflösung von Vergangenheit und Zukunft als stabile Gegenwartshorizonte bzw. Gegenwartsbegrenzungen zu bestätigen. 50 Seit einiger Zeit wird es immer deutlicher, dass das Denken Heideggers, das, gemäß dem Titel des sogenannten ‚ersten‘ Hauptwerks Sein und Zeit meistens im Hinblick auf eine radikale Temporalisierung des ‚Seins‘ verstanden wurde, eigentlicher als ein Denken des ‚Ortes‘ und d.h. der Räumlichkeit zu verstehen ist. Nochmals möchte ich darauf hinweisen, dass der umstrittene Denker des Rechts, Carl Schmitt, in seinem wichtigen Werk Der Nomos der Erde im Jus Publicum Europaeum den Verlust des spezifisch erdgebundenen Raumbewusstseins im Ausgang von der Feststellung beklagt, dass ‚Ordnung‘ und ‚Ortung‘ untrennbar sind (z.B. Schmitt 1950: 40). Auch sei hier auf die Ausgabe 650 der Zeitschrift Les Temps Modernes verwiesen, die Heideggers Denken des ‚Ortes‘ (lieu) zum Thema hat (v.a. Dastur 2008).

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In dieser ‚verwurzelten Geschichtlichkeit‘51 käme es darauf an, das Land selbst in seiner Einmaligkeit zur Wahrheit zu bringen, seine heiligen Stätten zu hüten und sich an ihrem Rande anzusiedeln.52 In Bezug auf die ‚Welt-Geschichte‘ würde dies bedeuten: ein Wiederlokal-Werden der globalisierten Menschheit, ein vielfältiges Volk-Werden der Menschheit ausgehend von einer Zuwendung zum Einzigartigen des Nächstliegenden, die umgebende Landschaft in ihrer jeweiligen ‚Physis‘. Diese ‚Implosion‘ der Weltgeschichte in eine Vielfalt geschichtlicher Welten wäre das Ende dieser Geschichte als solcher. Dennoch wäre dies die Konsequenz der fundamentalen Ökologie der Geschichte, die die Geschichte der Menschheit primär vom Wohnen des Menschen auf der Erde her denkt.53

Schlusswort Die Geschichtlichkeit von Erfahrung verweist auf die Frage, wie in einer Epoche der Geschichte jeweils ‚Welt‘ und ‚Geschichte‘ selbst verstanden wurden. Dabei ist die Frage, was für uns Moderne Welt-Geschichte bedeutet, von höchster Wichtigkeit, weil diese Bestimmung auch unsere Erfahrung von Geschichte, die immer schon gedeutete Erfahrung ist, zutiefst bestimmt. Im Ausgang von dieser Frage werden auch die ‚geschichtlichen Philosophien‘ von Schelling, Nietzsche und Heidegger in ihrer Bedeutung verständlich: Sie sind als Arbeit an den Grundbedeutungen von Geschichte und so auch an den Grundmustern unserer geschichtlichen Erfahrung zu bestimmen. Ihr Denken mitvollziehen heißt, an unseren eigensten, impliziten Auffassungen zu arbeiten und diese durch diese Arbeit zu verwandeln. Einen solchen Vollzug hat vorliegende Betrachtung versucht. Aus ihr wird ––––––––––––––

51 Dem gegenüber steht Heideggers Begriff der modernen ‚Entwurzelung‘ (Heidegger 1989: 97ff.; zum Begriff der ‚Geschichtlichkeit‘, vgl. Heidegger 1977: 505ff.). 52 Hier sind wiederum die Parallelen zur ‚mythischen Landschaft‘ und zu Hölderlin unübersehbar. Vgl. dazu Hübner 1985: 172. 53 Zur Nähe von Heideggers ‚eigentlichem‘ politischen Denken zu einem ‚ökologischen‘ Denken konkludiert Gebert: „Die Versuche, aus einem ‚ökologischen‘ Denken heraus neue Bindungen zu schaffen, scheinen zur Zeit abzuflauen. Sie müssten vor dem Hintergrund des aufgezeigten Unterschieds von Weltanschauung und Philosophie auf ihren Status untersucht werden, der doch zumeist der einer der Positivität verhafteten Weltanschauung sein dürfte. Bezüglich der Bindungsproblematik könnten die Spätschriften Heideggers, insbesondere der Gedanke des Gevierts, möglicherweise Ansätze zur Ermittlung einer dem Wesen des Menschen und der Zeit angemessenen Bindung bieten.“ (Gebert 1991: 196)

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deutlich, dass im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger die Stützen der modernen Geschichtsauffassung in stets weitergehenden Schritten in Frage gestellt werden können. Unsere Geschichtsauffassung erscheint so als ein schwer von uns selber durchschaubarer Zusammenhang von Gedanken und Begriffen, die unsere Erfahrung von Geschichte im vornhinein bestimmen. Gerade unsere Auffassung von Geschichte offenbart sich als dasjenige, was wir zutiefst ‚austragen‘ und schließlich sogar ‚erleiden‘. Das Denken, unser ‚eigenstes‘ Vermögen, konstituiert so zugleich unsere tiefste ‚Ohnmacht‘. Die Verwandlung unserer Auffassung von Geschichte, die von Schelling, Nietzsche und Heidegger erstrebt wird, geht in die Richtung einer ReEtablierung der spezifischen Räumlichkeit des ‚irdischen‘ Daseins des Menschen, die seit dem Christentum, aber endgültig seit dem Anfang der Moderne, im Verfall begriffen ist. Diese Räumlichkeit jenseits von allzu einfachen politischen Kategorien als Grunderfahrung menschlichen Daseins plausibel zu machen, und zu zeigen, wie in der Erfahrung dieser Räumlichkeit Antworten auf höchste Nöte liegen, dies bleiben weiterhin unerfüllte Aufgaben von größter Wichtigkeit.

Bibliographie Dastur, F. (2008). „Heidegger: Espace, Lieu, Habitation“. Les Temps Modernes 650, 140–157. Gebert, S. (1991). Negative Politik. Zur Grundlegung der politischen Philosophie aus der Daseinsanalytik und ihrer Bewährung in den politischen Schriften Martin Heideggers von 1933/34. Berlin: Duncker & Humblot. Heidegger, M. (1961). Was heißt Denken? Tübingen: Niemeyer. Heidegger, M. (1976–2009). Gesamtausgabe (Band 2: Sein und Zeit (1977); Band 5: Holzwege (1977); Band 6/1–2: Nietzsche (1996–1997); Band 7: Vorträge und Aufsätze (2000); Band 39: Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘ (1980); Band 42: Schelling (1988); Band 53: Hölderlins Hymne ‚Der Ister‘ (1984); Band 54: Parmenides (1982); Band 55: Heraklit (1979); Band 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1989)). Frankfurt a.M.: Klostermann. Herodot (1973). Geschichte und Geschichten. Zürich/München: Artemis. Hogrebe, W. (1989). Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ‚Die Weltalter‘. Frankfurt: Suhrkamp. Hübner, K. (1985). Die Wahrheit des Mythos. München: C. H. Beck. Koselleck, R. (1979). Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Löwith, K (1958). Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Kohlhammer.

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Inkorporierung, Objektivierung, Akkumulation Über den Zusammenhang von Erfahrung und Geschichte aus Sicht einer historisch-kultursoziologisch orientierten Anthropologie des Ausdrucks

ERNST-CHRISTIAN STEINECKE

1. Einleitung: Die Begriffe der ‚inkorporierten‘ und ‚objektivierten‘ Geschichte Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen – hinter diesem Titel verbirgt sich ein von der zeitgenössischen Moralphilosophie Christian Wolffs (1679–1754) nachhaltig beeinflusstes und in teils empirisch-deskriptiver, teils normativer Absicht verfasstes frühneuzeitliches Kompendium sozialer Umgangsformen und Interaktionsmuster, dessen Autor Julius Bernhard von Rohr (1688–1742) als einer der einflussreichsten deutschsprachigen Exponenten entsprechender Schrifttätigkeit vor der Entstehung von Adolph Freiherr Knigges (1752–1796) Werk Über den Umgang mit Menschen (1788) gelten darf. Für die vorliegende Untersuchung nun ist die genannte Abhandlung deshalb von Interesse, weil sie neben jenen Passagen, die sich mit zu erwartenden Problemstellungen wie der Konversationskunst, der höfischen Geselligkeit überhaupt, den Pflichten eines Gastgebers oder aber den Typen sozialer Rituale befassen, auch umfangreiche Überlegungen zu den dezidiert körperlichen Aspekten all dieser Themenkomplexe enthält. So rücken etwa im siebten Kapitel des ersten Teils1 die allgemeinen Manieren bey den Geberden und Stellungen des Leibes in den Fokus der Betrachtung, an denen – wie zu lesen ist – grundsätzlich „sehr viel gelegen [sei], sintemahl das äusserliche einem –––––––––––––– 1

Vgl. Rohr 1728: 179–201.

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andern zuerst in die Augen fält.“2 Eben deshalb müsse, wer zu den vom Autor adressierten ‚jungen Kavalieren‘ gezählt werden möchte, sich nicht allein darum bemühen, „die Falten seines Gesichts [...] so einzurichten, daß andere Leute nach der Beschaffenheit ihrer Urtheile, die sie insgemein zu fällen gewohnt sind, gütig davon urtheilen mögen“, sondern zudem darauf achten, nur solche „Minen anzunehmen, die sich vor seine Umstände, und nach seiner Lebens-Art schicken.“ Und wenn es auch nicht „in der Macht eines Menschen [beruht], sein Gesicht zu ändern“, so könne man dem Text zufolge doch immerhin „durch die Bemühung eine und die andere Geberde ändern, und durch öfftere Wiederhohlung eine die uns erstlich fremde und schwehr war, so angewöhnen, daß sie uns mit der Zeit eigenthümlich wird.“3 Selbstverständlich sucht von Rohr auch deutlich zu machen, zu welchem Ende die hier geforderten Einübungsprozeduren durchgehalten und an welchem Vorbild sie orientiert werden sollen. Nämlich weder pedantisch noch nachlässig, sondern ‚vernünftig‘ und ‚maßvoll‘, auf ‚Anstand‘, ‚Ehrbarkeit‘ und ‚Schicklichkeit‘ bedacht – genau in dieser Art und Weise müsse die eigenen Mienen und Gebärden sowie Haltungen des Körpers gewohnheitsgemäß handzuhaben wissen, wer über eine dem ‚Erkenntnisstand‘ der Zeremonialwissenschaft entsprechende Kompetenz zur Handlungsregulierung zu verfügen beansprucht. Man kann durchaus, muss aber nicht erst an den von Norbert Elias geprägten Begriff des ‚Bewusstseins- und Affekthaushalts‘4 und an seine Wurzeln in dessen Studien zur Soziogenese der Umgangsformen im frühneuzeitlichen und modernen Europa denken oder aber Michel Foucaults Konzepte der ‚Diskursformation‘ und des ‚Dispositivs‘ heranziehen,5 um in der zitierten Passage ein ‚heterogenes Ensemble‘ einander überlagernder Reflexe, Effekte, Motive und zugleich doch auch Motivationen historisch partikularer Wahrnehmungs-, Denk-, Gefühls- und Handlungsmatrizen zu erkennen. In einem mittleren Bereich zwischen konkreten Körpertechniken, wie sie in die Habit"s historischer Interagenten sich integriert finden,6 auf der einen und –––––––––––––– 2 3 4 5

6

Rohr 1728: 179. Zitate bei Rohr 1728: 189f. Vgl. Elias 1997: II 332, 383, 389. Vgl. zum Begriff der ‚Diskursformation‘ u.a. Foucault (1973: 115–171) sowie zum Konzept der ‚Dispositive‘ Foucault (1978: 119–125). Einen Begriff des Habitus, welcher der kulturellen und historischen Partikularität ebenso wie der soziogenetischen Dimension in der Modellierung nicht allein des psychischen, sondern auch des physischen Apparats der Interagenten ausreichend Rechnung trägt, entwickeln auf je eigenem und voneinander weitgehend unabhängigem Wege Elias (1997: II 326f.), Mauss (1989: 202f.) und v.a. Bourdieu (1976: 199f.)

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deren nicht allein durch die diskursiven und medialen Eigenlogiken ihrer Repräsentation, sondern auch durch die grundlegende Polysemie des verwandten Zeichensystems7 mehrfach gebrochener Emergenz als ‚epistemisches Ding‘8, d.h. (hier) als zeremonialwissenschaftlicher Gegenstand auf der anderen Seite wird genau dasjenige greifbar, was der späte Foucault mit dem Begriff der ‚Erfahrung‘ belegt wissen möchte, nämlich eine in sich unbeständige Korrelationsstruktur, welche „in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht.“9 Die kulturelle Erfahrung der beschriebenen ‚privatzeremoniellen‘ Praktik hält demnach einerseits Anschluss an ‚die Dinge‘, andererseits an ‚die Worte‘, einerseits also an die sich bewegenden und handelnden Körper, andererseits an diejenigen sprachlichen Register, welche im Text gezogen werden, um ebendiese Körper zu problematisieren, sei es mit dem Ziel, ihre Bewegungen zu beschreiben und zu erklären, sei es sogar, um sie zu beeinflussen und ganz bestimmten Normierungsprozessen oder ‚Disziplinarapparaten‘10 zu unterwerfen. Beim Versuch, kulturelle Erfahrung und Geschichte aufeinander zu beziehen, empfiehlt es sich daher, die beiden ‚Anschlussstellen‘ der in ein Geflecht aus Wissen, Macht und Körperlichkeit eingespannten Erfahrungsstrukturen terminologisch voneinander abzuheben und ihr wechselseitiges Verhältnis eingehender zu betrachten. Wollte man es pointiert formulieren, so dürfte man hierbei geradezu von zwei ‚Aggregatzuständen‘ sprechen, in denen so etwas wie ‚Geschichte‘ vorliegen kann. Dies nämlich ist sowohl in Form von auf kulturell spezifische Subjektivierungsweisen, Normativitätstypen und Wissensbereiche hin relativem (körperlichen) Verhalten als auch in Form von auf dieselben drei Faktoren kultureller Partikularität hin relativen ‚Vergegenständlichungen‘ entsprechenden Verhaltens der Fall. Im Anschluss an Pierre Bourdieu11 möchte ich diese beiden ‚Aggregatzustände‘ fortan als ‚inkorporierte‘ oder auch ‚Habitus gewordene‘ und als ‚objektivierte‘ bzw. ‚institutionalisierte‘, d.h. als „im Laufe der Zeit in den Dingen [...] akku–––––––––––––– 7

Die durch Diskursivität, Medialität und Polysemie zu charakterisierende, dreifache materielle Eigenlogik entsprechender Texte (oder vermeintlicher ‚historischer Quellen‘) betont z.B. Sarasin (2003: 37f.). 8 Auf die heuristische Bedeutung einer Konstruktion von ‚Repräsentationsräumen‘, in welchen Modelle und Objekte bzw. Diskurse und Praktiken sich wechselseitig herstellen und darstellen, um die Emergenz ‚epistemischer Dinge‘ zu befördern, stellen etwa die Arbeiten von Rheinberger (1992: 67–86) und Latour (2008: 40ff.) ab. 9 Foucault 1989: 10. 10 Vgl. hierzu insb. Foucault 1977: 173–201. 11 Vgl. dazu Bourdieu 1987: 101–105 und Bourdieu 1997.

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mulierte Geschichte“12 bezeichnen. Vor dem Hintergrund gängiger Abgrenzungsbemühungen zwischen einzelnen kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen könnte eine solche Trennung inkorporierter und objektivierter Geschichte(n) sich freilich leicht mit Unterscheidungen methodologischen Zuschnitts gleichgesetzt finden. Historiker jedweder Couleur dürften sich dann etwa für das ‚Studium der Quellen‘, also für Untersuchungen von Formen und Typen objektivierter Geschichte zuständig fühlen, wie sie u.a. in technischem Gerät, Kunstgegenständen, Architektur oder Texten vorliegt. Was dagegen den besagten zweiten ‚Aggregatzustand‘ anbelangt – die inkorporierte Geschichte –, so fiele dessen sachund problemorientierte Zuordnung auf den ersten Blick nicht minder kategorisch aus. Denn mit der Erklärung und Auswertung von Formen und Typen des Verhaltens, wie sie in den Gesten, Bewegungen, Sprechakten und Handlungssequenzen des sozialen Alltags, ferner im Kontext ritueller wie zeremonieller Performanz zur Geltung kommen, müssten sich allem Anschein nach exklusiv solche Wissenschaften befassen, denen die Anwendung empirisch gesättigter Methoden nach Art einer ‚teilnehmenden Objektivierung‘13 offensteht, also z.B. die Ethnologie oder Soziologie. Unter Bezugnahme auf Bourdieus Darstellung lässt sich allerdings jede derart einfache Reduktion der analytischen Differenzierung zwischen Inkorporierungs- und Objektivierungsprozessen auf einen heuristischen Trennungsstrich zwischen einerseits historischen sowie andererseits kulturund sozialwissenschaftlichen Beschreibungsverfahren und Erklärungsmodellen nicht aufrechterhalten. Dass in beiden Fällen von ‚Geschichte‘ die Rede ist, macht nicht allein auf nomenklatorischer Ebene deutlich, wie viel eher es ihm um eine strukturelle Komplementarität als um eine zu methodischen Inkongruenzen (hier namentlich zwischen Quellenkritik und Feldforschung) führende Differenz beider Phänomene geht. Schließlich soll für das Verhältnis zwischen inkorporierter und objektivierter Geschichte zumeist dasjenige als charakteristischer Grundzug gelten, was er eine ‚ontologische Komplizenschaft‘ nennt. Gemeint ist damit, dass etwa die Bewegungen und Haltungen, die Mimik und Gestik, das Sprechen und Handeln individueller und kollektiver Agenten auf der einen sowie die Objektivierung dieser Bewegungen, Haltungen und (Sprach-)Handlungen in Artefakten, Texten oder Institutionen auf der anderen Seite letztlich nur zwei Aspekte je einheitlich strukturierter historischer Prozesse seien, welche miteinander nach Art einer wechselseitigen Widerspiegelung zwischen ––––––––––––––

12 Bourdieu 1997: 28. 13 Vgl. dazu Bourdieu/Wacquant 1996: 287–294.

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Strukturierungs- und Strukturiertheitseffekten kommunizierten. In ebendiesem Sinne aber reflektiert die in den Körpern nicht weniger als in den Dingen, d.h. die in nurmehr partikularen Formen ihrer Subjektivierung nicht weniger als in solchen ihrer Objektivierung akkumulierte Geschichte, wie Bourdieu sie begreift, sich immerzu in sich. Fortwährend nämlich ‚entdecke‘ die „Geschichte als ‚Subjekt‘ [...] sich in der Geschichte als ‚Objekt‘“, erkenne sie sich wieder in „den vor jeder strukturierenden Operation und jedem sprachlichen Ausdruck strukturierten Strukturen.“ Die ‚ontologische Komplizenschaft‘ meint daher einen Aspekt historischer Prozesse, demgemäß „der von der Geschichte angeeignete Körper sich die von derselben Geschichte bewohnten Dinge auf unbedingte und unmittelbare Weise aneignet.“14 Das Widerspiel von strukturierenden Operationen und vorgängig strukturierten Strukturen, als welches die Aneignung der objektivierten Geschichte durch die von derselben Geschichte durchdrungenen Körper hier beschrieben wird, kann im Kern durchaus als die um einen emphatischeren Praxisbegriff ergänzte Entsprechung zur Foucault’schen Korrelationsstruktur von Normativitätstypen, Wissensbereichen und Subjektivitätsformen betrachtet werden. Die inkorporierte Geschichte und die in den Dingen, Institutionen, Regelsystemen und Wissensbeständen akkumulierte objektivierte Geschichte, d.h. die Praktiken und Diskurse bzw. die artikulatorischen Praxen und die diskursiven Totalitäten15 stehen zueinander demnach in einem spezifischen Verhältnis, welches nicht nur die historische Erfahrung individueller und kollektiver Interagenten konstituiert, sondern gleichzeitig auch die verschiedenen, soziokulturell kontingentierbaren Prozesse der ‚Ausdruckgewinnung‘16 ermöglicht und bestimmt. Das vermeintliche ‚Subjekt‘ des sprachlichen, körperlichen, technischen oder ästhetischen Ausdrucks ist, mit anderen Worten, zwar insofern historisches Agens, als die strukturierten Strukturen (die ‚Systeme‘ oder ‚Stile‘ der Sprache, Gesten, Technik oder Künste) stets seiner praktischen Betätigung bedürfen, um wirksam sein zu können. Es verfügt dabei aber dennoch niemals frei über die Mittel und überschaut niemals vollständig die Folgen dieser seiner Agenzialität, da es sich und sein mögliches ‚Ausdruckswollen und -begehren‘ – wie Rolf-Dieter Hepp ––––––––––––––

14 Zitate bei Bourdieu 1997: 29. 15 Vgl. dazu Laclau/Mouffe 1991: 155–167. 16 Von ‚Ausdruckgewinnung‘ spreche ich hierbei in Analogie zu Waldenfels’ (2006: 38) Begriff der ‚Sinngewinnung‘ (statt Sinngebung, Sinnstiftung o.ä.), welcher deutlich machen soll, dass möglichen intentionalen Strukturen eines ‚Sinngeschehens‘ zum Trotz stets vom Primat fremder Ansprüche und entsprechend von der Heterogenese des ‚Sinns‘ auszugehen bleibt.

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im Anschluss an Bourdieu und Jacques Lacan erklärt – je schon „in eine vorgegebene Zeichenstruktur“ eingewoben sieht und in allen „Akten der Herausbildung seiner Identität sich bereits im Bereich [...] der Ordnung der Regeln gesellschaftlicher Sinnbezüge“17 befindet. Daher haben es Ausdrucks- und Symboltheorien immer schon mit zwei zueinander komplementären Phänomenen zu tun. Nämlich auf der einen Seite mit jener von Marx beschworenen ‚erborgten Sprache‘ der Vergangenheit18, d.h. mit der nurmehr relativ fixierten, strukturierten Totalität des Diskurses (eines Symbolsystems) und seiner differentiellen Momente; auf der anderen Seite aber mit jenen von den Interagenten vollzogenen, artikulatorischen (bzw. ‚strukturierenden‘) Praxen, deren Elemente durch die differentiellen Momente der jeweiligen Diskursformation niemals vollständig absorbiert werden, die also immer einen gewissen, nur partiell begrenzbaren signifikativen ‚Überschuss‘ in diese Formation mit einbringen.19 Demnach müsste ein bedeutungstheoretisches Konzept promoviert werden, welches in Bezug auf den sprachlichen Ausdruck dem reziproken Charakter zwischen langue und parole, in Bezug auf Ausdrucksformen im Allgemeinen der Polarität zwischen strukturierten Strukturen und strukturierenden Praktiken Rechnung trüge.20 Im Ausgang von der Einsicht in die gegensinnige (gleichsam ‚dialektische‘) Ermöglichungsbedingtheit zwischen „Dispositionen des Ausdrucks und institutionalisierten Ausdrucksmitteln“21 jedenfalls möchte ich im Folgenden skizzenartig einige Thesen zum methodologischen und theoretischen Ort einer historisch sowie kultursoziologisch orientierten Ausdrucksanthropologie vortragen, um anschließend deren Perspektiven zu ermessen und die hierbei gewonnenen Ergebnisse schlussendlich auf den Stellenwert hin zu überprüfen, welcher ihnen im Kontext von Fragen nach dem Verhältnis zwischen Erfahrung und Geschichte zukommen sollte. ––––––––––––––

17 Hepp 2000: 67f. Die Re-Segmentierung des unter dem Zeichen des ‚Subjekts‘ gefassten ‚Inhalts‘ im Rahmen von semiosischen Prozessen und dynamischen Entwicklungen der den ‚Subjekten‘ gegenüber je schon vorgängig strukturierten Zeichenfunktionen betont z.B. auch Eco (1985: 75f.). 18 Dass Marx (1960: 115) an dieser Stelle teilweise diskursanalytische Argumente antizipiert, hebt z.B. Sarasin (2003: 7ff.) hervor. 19 Dieses ‚Überfließen‘ oder ‚Überschießen‘ von Diskursuniversen behandelt etwa Serres (1987: 248f.). 20 Damit ist ein Anspruch formuliert, wie ihn neben vielfältigen post- bzw. neostrukturalistischen Ansätzen vor allem die sprachanalytische Gebrauchstheorie des späten Ludwig Wittgenstein zu erfüllen vermag. Vgl. Wittgenstein 1984 sowie dazu u.a. Gebauer 1971 u. Schneider 1999. 21 Bourdieu 1987: 106.

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2. Methodologische Thesen zum ‚Projekt‘ einer Anthropologie des Ausdrucks Ich schlage erstens vor, im Rahmen einer solchen Anthropologie auf jede Form des Introspektionismus zu verzichten. Unter einem ‚Ausdruck‘ darf somit gerade nicht ein in der ‚Außenwelt‘ gegebener Vorgang oder Gegenstand begriffen werden, der in eindeutiger Beziehung zu ‚inneren‘ Gefühlen, Absichten oder Vorstellungen stünde. Das heißt natürlich nicht, dass mit dem spezifischen Ausdrucksverhalten oder mit spezifischen Ausdrucksobjekten in keinem Falle affektive Regungen oder Darstellungs- und Mitteilungsbedürfnisse sich verbinden ließen. Die formulierte These soll vielmehr nur darauf aufmerksam machen, dass eine Möglichkeit der Reduktion von ‚äußeren‘ Sachlagen auf ‚innere‘ Zustände weder vorweg unterstellt noch aber nach dem Schema einer eindeutigen und unveränderlichen Beziehung konzipiert werden darf. Insofern entspricht die Absage an den methodischen Introspektionismus einer primären ‚Unbewusstheitsannahme‘, wie sie letztlich jede Untersuchung wird voraussetzen müssen, welche mit den ‚Eigenlogiken‘ jeweiliger Medien, Dispositive, ‚Systeme‘ oder ‚Stile‘ des Ausdrucks rechnet. Zweitens werde ich keine universalistischen Thesen formulieren. Hinweise auf ‚das Wesen‘ oder auf ‚Wesenszüge‘ ‚des‘ Ausdrucks ‚an sich‘ müssen also unterbleiben, insofern derlei Redensarten keiner historischkritischen Überprüfung standhalten können. Das gilt auch für solche universalen Erklärungsmodelle, die nicht apriorisch, sondern empirisch verfahren, d.h. in diesem Falle aus vorzugsweise ethologischer Perspektive Möglichkeiten der kausalen Ableitung von sogenannten ‚Ausdrucksbewegungen‘ zu erschließen versuchen. Bei aller vermeintlichen Berechtigung einzelner ihrer Thesen zielen diese Konzepte zumindest nicht auf die zeichentheoretische Relevanz und die historische Entwicklung expressiver Phänomene ab. Sie liegen, was ihre Fragestellungen und ihre Verfahrensweisen anbetrifft, deshalb gewissermaßen ‚abseits‘ der vorliegenden Untersuchung. Die methodischen Prämissen komplettiert endlich drittens, dass eine Ausdrucksanthropologie jeglicher Form des Subjektivismus nicht weniger als des Objektivismus entraten, dass sie Menschen also weder einseitig die Rolle geschichtsmächtiger ‚Subjekte‘ noch nicht minder einseitig die Rolle ohnmächtiger Strukturepiphänomene zugedenken sollte. Die falschen Alternativen von Objektivismus und Subjektivismus zu umgehen, verlangt dafür, umso deutlicher zu betonen, dass ‚subjektive‘ Affektionen und In-

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tentionen sich nicht realisieren lassen, wenn nicht objektive Strukturen nach Art der wirksamen Zeichendispositive dies zugleich ermöglichen, dass aber diese ‚objektiven‘ Strukturen wiederum weder strukturierend wirksam werden noch selbst überhaupt je strukturiert sein könnten, wenn sie sich nicht je schon durch Agenten inkorporiert, ausagiert und praktisch umgesetzt fänden.

3. Sprachkörper und Körpersprache(n): Zum Gegenstand der Ausdrucksanthropologie Das Kernproblem einer Ausdrucksanthropologie besteht nun darin, ihren Gegenstand zu fixieren, also danach zu fragen, was alles überhaupt ‚Ausdruck‘ sei. Habe ich unter diesem Begriff Praktiken und Produktionen (körper-)sprachlicher wie künstlerischer ‚Natur‘ unabhängig vom Bestand einer mentalen Repräsentation ihrer Bedeutung seitens der historischen Agenten zusammengefasst, so deshalb, weil ich gewisse Vorbehalte teile, welche Jacques Derrida gegenüber einem Zeichenbegriff angemeldet hat, wie ihn Edmund Husserl im Rahmen seiner Logischen Untersuchungen entwirft.22 In Die Stimme und das Phänomen argumentiert Derrida bekanntlich, dass der von Husserl postulierte Unterschied zwischen Ausdruck und Anzeichen, d.h. zwischen dem ‚ausdrücklich‘ bedeutungshaften und (inter-)subjektiv intendierten Zeichensein auf der einen sowie dem zwar sinntragenden, aber nicht bedeutungshaften, sondern allein ‚anzeigenden‘ Zeichensein auf der anderen Seite zu relativieren bleibe.23 In die vorliegende Problemstellung übersetzt, ließe sich also sagen, dass das Wort ‚Ausdruck‘ sowohl dasjenige, was Husserl ‚Anzeichen‘ nennt (etwa unwillkürliche körperliche, aber auch durch Interaktion als handlungsleitend und insofern verständlich bestimmbare gestische und mimische Äußerungsformen), als auch dasjenige, was bei ihm allein ‚Ausdruck‘ heißt (nämlich in erster Linie sprachliche Begriffszeichen), zutreffend benenne. Am Leitfaden eines strukturellen ‚Umschlags‘ zwischen Sprechen im weiteren und ‚Verkörpern‘ im durchaus engeren Sinne will ich diesen Gedanken nun ausführlicher entwickeln. Bernhard Waldenfels nämlich untergliedert das zwischen körperlicher Disposition und sprachlichem Diskurs sich erstreckende Ausdrucksspektrum schlüssig in die Teilmomente des Sprachkörpers, der Körpersprache sowie des leiblichen Ausdrucks und ––––––––––––––

22 Vgl. Husserl 1984: 30–38. 23 Vgl. Derrida 2003: 28–39 sowie Kristeva 1969: 97f.

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stellt zwischen diesen folgende Bezüge her: „Der Körper ist am Sprechen und Schreiben als ein Sprachkörper beteiligt, der eine implizite Körpersprache spricht, und die Sprache wird zur expliziten Körpersprache, wenn der Körper das Zeichenmedium ablöst und zum alleinigen Medium wird.“24 Die drei ‚Stufen‘ der Medialisierung des Körpers nehmen sich also wie folgt aus. Zunächst verleiht der Körper der Sprache ihre Materialität, die sich wiederum in zwei Aspekten zeigt, deren einer die paralinguistische Körperlichkeit – d.h. sämtliche ‚begleitenden‘ Vorgänge und Merkmale des Sprechens wie etwa den Tonfall, das Metrum und den Rhythmus, die ‚Melodie‘, die Stimme und Sprechgeschwindigkeit25 –, deren anderer hingegen die intralinguistische Körperlichkeit betrifft, sprich, die einfache Artikulation von ‚Lauten‘ und ‚Marken‘, welche, wie Waldenfels sagt, aufgrund „sprachlicher Regelungen als Phoneme bzw. Grapheme fungieren und zur sprachlichen Sinnbildung beitragen“26 helfen. Intra- ebenso wie paralinguistische Phänomene gehören demnach der Ebene des Sprachkörpers an, wobei letztere bereits Anschluss zur Ebene der Körpersprache finden, insofern einfache Elemente der Vokalität wie der Tonfall oder Rhythmus zugleich als Mittel sprachlicher Sinngewinnung in Betracht kommen. Hauptsächlich aber sind mit dem Begriff ‚Körpersprache‘ entweder der demonstrativen bzw. illustrativen Markierung dienende Gebärden und Gesten sowie mimische Verstärkungen bzw. ‚Vereindeutigungen‘ (aber auch Kontrastierungen) des Sprechens – also Bestandteile dessen, was sich mit Herbert Paul Grice als die ‚konversationale Implikatur‘, mit Karl Bühler als sympraktisches bzw. synsemantisches Umfeld sprachlicher Äußerungen bezeichnen ließe27 – oder die vollständige Ablösung des sprachlichen durch das körperliche Medium, d.h. der Übergang von einer impliziten zur expliziten Körpersprache gemeint. Die Vorgänge des ersten Typs nennt Waldenfels treffend semilingualistisch, diejenigen des zweiten extralinguistisch. Sprachwissenschaftler sprechen hierbei von einerseits komitativen, andererseits eigenlinigen bzw. verselbständigten Typen nonverbaler Kommunikation.28 Mit der Verselbständigung des non-verbalen –––––––––––––– 24 Waldenfels 1994: 467. 25 Vgl. zur allgemeinen Definition z.B. Poyatos (1993: 130), der unter paralinguistischen Phänomenen „the nonverbal voice qualities, modifiers and independent sounds and silences“ versteht, „with which we support or contradict the simultaneous or alternating linguistic and kinesic structures.“ 26 Waldenfels 1994: 467. 27 Vgl. Grice 1975: 248ff., 254f., 264f.; Bühler 1934: 154–168. 28 Vgl. Kühn 2002: 45f.

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Elements ist schließlich auch die Ebene einer ‚genuinen Körpersprache‘ erreicht, zu welcher u.a. „der Gesichtsausdruck, der Blickkontakt, die Gestik, die Mimik, die Pantomimik, der Gang, die Körperhaltung als Stehen, Sitzen und Liegen, schließlich die Aufmachung in Kleidung und Putz“29 gehören. Das Spektrum dessen, was sich in Vorgängen sozialer Kommunikation als Ausdruckselement erweisen kann, ist also breit und verlangt nach einem systematisierenden Zugriff. Versuchte man deshalb etwa im Anschluss an die Linguistin Christine Kühn30 ein Schema aller Möglichkeiten zur Handhabung des körperlichen Ausdrucksvermögens zu erstellen, ergäbe sich folgendes Bild (Abb. 1):

(1) Verbaler Ausdruck (2.1) Vokaler (‚sprachkörperlicher‘) Ausdruck

(2) Non-verbaler Ausdruck

(2.2) Non-vokaler (‚körpersprachlicher‘) Ausdruck

––––––––––––––

29 Waldenfels 1994: 468. 30 Vgl. hierzu Kühn 2002: 43–53.

(2.1.1) Paralinguistischer Ausdruck

(2.1.2) Intralinguistischer Ausdruck

(2.2.1) Semilingualistischer Ausdruck

(2.2.2) Extralinguistischer Ausdruck

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Besonderes Interesse verdient hierbei der Bereich des non-verbalen und non-vokalen Ausdrucks. Im Rückgriff auf Studien von Kühn sowie von Harald Wallbott31 möchte ich diesen Bereich deshalb unter dem Aspekt der je betroffenen perzeptiven Kanäle noch einmal gesondert aufschlüsseln, wobei sich für den explizit körpersprachlichen, extralinguistischen Ausdruck (Abb. 1/2.2.2) sowie den implizit körpersprachlichen, semilingualistischen Ausdruck (Abb. 1/2.2.1) folgende Binnendifferenzierungen anbieten (Abb. 2):

Körpersprachlicher Ausdruck

Motorische Kanäle - Mimik - Gestik - Blick - Bewegung/Haltung

Physiochemische Kanäle - Olfaktorik/Gustatorik - Haptik

Ökologische Kanäle - Proxemik - Objektbezug

––––––––––––––

31 Vgl. Wallbott 1982: 75. Ich habe die Skizze von Wallbott der Übersichtlichkeit wegen teilweise vereinfacht.

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Festzuhalten ist hierbei nun, dass die expressiven ‚Belegungen‘ der motorischen, physiochemischen und ökologischen Kanäle gewissen Einschränkungen unterliegen, die mit der Differenzierung zwischen inkorporierter und objektivierter Expressivität zu tun haben. Denn der körpersprachliche Ausdruck gehört zwar eindeutig dem Bereich der inkorporierten Expressivität an. Mit den physiochemischen und ökologischen Kanälen aber wird zugleich doch eine Zone der Körperlichkeit umrissen, welche mit den von den Hautflächen umschlossenen Grenzen des Körpers nicht zusammenfällt, sondern diese Grenzen entweder auf die Umwelt hin diffundieren oder aber sie von sozialen und kulturellen Objekten gleichsam ‚imprägniert‘ sein lässt. Gerade an diesen Stellen also beginnen inkorporierte und objektivierte Expressivität sich zu amalgamieren, etwa wenn der körpersprachliche Ausdruck motorischen Typs mit objektbezogenen und olfaktorischen Phänomenen interferiert. Die wichtigste Form des Objektbezugs besteht dabei in allen erdenklichen Variationen der von Waldenfels angesprochenen ‚Aufmachung in Kleidung und Putz‘. Mode und Schmuck sind hierfür beispielhaft. In kulturhistorisch und -anthropologisch ebenso wie schichten- oder gruppensoziologisch oft ungemein aufschlussreichen Sachverhalten wie bestimmten Frisuren und Haartrachten oder Spielarten der Körperkunst (z.B. Tätowierungen) müssten dagegen Grenzfälle objektbezogener Körpersprache gesehen werden, insofern das einbezogene Objekt hier der Körper bzw. ein Teil des Körpers selbst ist. Steht bei Kleidung und Schmuck der Effekt einer objektbezogenen und überindividuellen ‚Erweiterung‘ der Personensphäre, wie sie Georg Simmel beschrieben hat, als Eigenart im Vordergrund, so muss bei Tätowierungen, aber auch bei Frisuren nämlich genau umgekehrt die ‚unbedingte Enge‘ und physische Unvertauschbarkeit der Ausdrucksform hervorgehoben werden.32 Hier macht es also besonderen Sinn, mit dem Psychoanalytiker Tilmann Habermas von Identitätsobjekten und -symbolen zu sprechen.33 Was wiederum die Unterart olfaktorischer Expressivität angeht, so findet man weniger in den physischen Sekretionsmechanismen der apokrinen Drüsen als vielmehr in der Überfrachtung der durch sie hervorgerufenen körpereigenen Gerüche mit Hilfe von Parfümen deren wohl charakteristischsten Reflex. Folgendes Ergebnis haben, wie ich denke, die Ausführungen zur Unterscheidung mehrerer Kanäle des originär körpersprachlichen Ausdrucks somit erbringen können: ––––––––––––––

32 Vgl. Simmel 1992: 415ff. 33 Vgl. dazu Habermas 1996: 231–235.

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Die inkorporierte Expressivität bezieht sich in ‚Reinform‘ offenbar auf motorische Phänomene. Hierzu zählen neben der allgemeinen Haltung und Bewegung des Körpers vor allem Mimik und Gestik. Auch über die physiochemischen Kanäle kann sie sich mitunter in Ergänzung zu den motorischen entwickeln, wie beispielsweise der Vorgang eines Händedrucks verdeutlichen mag. In all diesen Fällen handelt es sich um konkret körperliche Dimensionen des Bourdieu’schen Habitus, d.h. um strukturierte wie strukturierende Strukturen desjenigen Gebrauchs, den Agenten erfahrungsund einübungsabhängig von ihrem Körper zu machen pflegen. Die objektivierte Expressivität in ‚Reinform‘ kann dagegen als die Summe an Produkten kultureller Praktik definiert werden. Man mag hierunter insbesondere Architektur, Mobiliar, Kunstwerke, Texte und Gebrauchsgegenstände aller Art verstehen, wobei spezifisch performative Künste wie etwa der Tanz oder imponderable Produkte kultureller Praktik wie die Sprache Hybridisierungen von Inkorporierung und Objektivierung darstellen, insofern sie nicht einfach in ‚dinglichen Aggregatzuständen‘ resultieren, sondern stets der praktischen Ein- und Umsetzung bedürfen. Einen dritten Typus stellen zudem spezifische Produkte dar, die nicht dinglich aggregiert, aber auch nicht durch objektbezogene Praktiken unmittelbar inkorporiert, d.h. wie Sprache oder Tanz in körperliche Apparaturen integriert und über diese Apparaturen zugleich kreativ ausagiert werden. Tätowierungen, Kleidung, Schmuck, Frisuren und Parfüme sind als Beispiele genannt worden. Nun ließen sich insbesondere Kleidung, Schmuck und Parfüm aufgrund ihrer Nähe zu Gebrauchs- und Kunstgegenständen umstandslos auch den Formen objektivierter Expressivität zurechnen. Allein die Art des Gebrauchs, welcher von ihnen zu machen ist, lässt sich doch von demjenigen unterscheiden, wie er für Werkzeuge, Möbel, Musik, Malerei, Literatur usw. typisch ist. Man könnte ihre Ausdrucksleistung in Anlehnung an das Bild von der ‚Erweiterung‘ der personalen Körpersphäre deshalb stimmig unter die Kategorie einer konkorporierten oder akkorporierten Expressivität rechnen, die im Falle ihrer Diskursivierung bzw. ihrer ‚diskursiven Verdoppelung‘ – hier sei allein an die von Roland Barthes so akribisch untersuchte Sprache der Modezeitschriften34 erinnert – natürlich nicht weniger als die inkorporierte oder auch die objektivierte Expressivität einem Ensemble bestehender Normen und Wissensformen angegliedert werden kann.

–––––––––––––– 34 Vgl. Barthes 1985.

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4. Ausblick: Differenzen in Erfahrung und Ausdruck Da die zuletzt erwähnten diskursiven Verdoppelungen zugleich auf den Umstand aufmerksam machen, dass die relationale Positionierung des jeweiligen ‚Werts‘ objektivierter, akkorporierter und inkorporierter Ausdruckselemente beständig Gegenstand sozialer und kultureller Auseinandersetzungen um die Etablierung neuer oder um die Aufrechterhaltung überkommener Klassifikationsprinzipien ist, möchte ich abschließend auf die eingangs erwähnte Beziehung zwischen Erfahrung und Geschichte zurückkommen, die ich mit Foucault als eine dynamische Korrelationsstruktur von Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen definiert habe. Freilich braucht es, um einen groben Eindruck vom Stellenwert historischer, kultureller und sozialer Erfahrung zumal im Zusammenhang mit akkorporierten und objektivierten Expressivitätsformen zu gewinnen, noch nicht zwingend der Betrachtung diskursiver Verdoppelungen. Denn Präferenzen für und in diesem Sinne Brauchbarkeits- oder Geschmacksurteile über bestimmte Maschinen, Werkzeuge, Möbel, Innenausstattungen, Geschirr, Gebäude, Kunstwerke, Bücher, Theateraufführungen, Musikgenres, Kleidungsstücke, Frisuren oder Parfüme bestehen doch in vielen Fällen sichtbar, ohne dass die/der dieser Art Präferierende und praktisch ‚Urteilende‘ sich selbst darüber Rechenschaft zu geben und ihre/seine Vorlieben zu explizieren, geschweige denn, zu begründen oder herzuleiten wüsste. Schließlich meint ein methodischer Verzicht auf introspektive Argumentationsebenen auch, dass es zunächst einmal irrelevant und daher allein im Einzelfall zu untersuchen bleibt, ob ein Agent sich seiner Haltung, seiner Bewegungen und Blicke ‚bewusst‘ oder ob ferner der aktuelle, differentiell bestimmte Ausdruckswert der von ihm präferierten Kulturprodukte durch ihn einkalkuliert worden ist. Es stünde aber zu erwarten, dass die Möglichkeit nicht allein der diskursiven Verdoppelung, sondern auch überhaupt einer Bewusstheit und eines entsprechenden Kalküls mit der zeitlichen und räumlichen Einengung der für die relationale Bestimmtheit des Ausdruckswerts relevanten Gesamtheit an Praktiken und Produkten zunehmen und im Falle der Synchronie und Isotopie entsprechender Praktiken oder Produkte schon deshalb am größten sein dürfte, weil den sozialen Interagenten gemeinhin nur dort so etwas wie eine ‚selbstreflexive‘ oder ‚autofokale Perspektivenübernahme‘35 gelingt. So mag eine Krawatte, welche ––––––––––––––

35 Zum Modus der ‚selbstreflexiven und autofokalen Perspektivenübernahme‘ in der Verwendung von Identitätsobjekten vgl. auch Habermas 1996: 235–243.

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ein in einer mitteleuropäischen Gegenwartsgesellschaft akkulturierter und sozialisierter Konzertbesucher männlichen Geschlechts trägt, im Hinblick auf die synchrone und isotope Struktur des konkreten Anlasses bewusst ausgewählt und als Mittel nicht nur der akkorporierten Expressivität, sondern insbesondere auch der möglichen Distinktion gegenüber anderen Besuchern oder aber der Assimilation an andere Besucher desselben Konzerts gezielt in Ansatz gebracht worden sein. Im Hinblick auf diachrone und heterotope Strukturen darf eine gezielte Entscheidung dafür, das Krawattentragen zum Ausdrucksmittel beispielsweise für die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Gesellschaftsformation zu machen, grundsätzlich als unwahrscheinlich und dabei sogar als desto weniger wahrscheinlich gelten, je größer die entsprechenden zeitlichen und räumlichen Differenzen sind. In diesem Falle kommt eher der spontanen Neigung des Habitus, die interiorisierten Strukturen, d.h. qua historischer, kultureller und sozialer Erfahrung erworbene Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster fraglos zu übernehmen sowie durch deren Exteriorisierung in kulturellen Praktiken die objektiven Bedingungen der Interiorisierung (d.h. die kulturellen Schemata und sozialen Strukturen) selbst zu perpetuieren, praxeologisch das größte Gewicht zu.36 Der Habitus korreliert daher mit bestimmten ‚Moden‘, deren Adaption, wie das Beispiel des Krawattentragens zeigt, ebenso ein unbewusstes Merkmal wie auch ein bewusst zur Anwendung gebrachtes Prinzip der Genese nicht allein ästhetischer, sondern z.B. auch technischer, dialektaler oder soziolektaler Dissonanzen und Konsonanzen in Abhängigkeit von heterogenen oder homogenen ‚Erfahrungshaushalten‘ darstellen kann. Was jeweils ‚Mode‘ ist, vermag daher ‚vergemeinschaftende‘, aber genauso gut individualisierende und partikularisierende Effekte mit sich zu bringen. Ein ambivalentes Phänomen, das schon Simmel sehr deutlich gesehen hat. Die Mode nämlich tauge, wie er schreibt, auf der einen Seite zur „Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung [...]. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-abheben.“37 Die Formen inkorporierter, akkorporierter und objektivierter Expressivität lassen sich durch den Begriff der Mode also dahingehend besser bestimmen, dass ihre verbindenden und unterscheidenden Elemente, ihre –––––––––––––– 36 Vgl. zum Modell der Komplementarität zwischen Interiorisierung der Exteriorität und Exteriorisierung der Interiorität insb. Bourdieu 1976: 147f. Ein mitunter vergleichbares ‚dialektisches‘ Modell der Internalisierung und Externalisierung gesellschaftlichen Wissens bieten Berger/Luckmann 1969. 37 Simmel 1995: 11.

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womöglich klassen-, sicherlich aber doch gruppenspezifischen ‚Zugehörigkeitsmerkmale‘ und ‚Ausschlussregeln‘38 nicht zuletzt auf einer (mit kulturellen Alteritäten sowie mit der sozialen Differenzierung korrelierten) Pluralität von Lebensstilen beruhen. Unter diesem Begriff sollen in Bourdieus Worten39 oszillierende und historisch partikulare Systeme von ‚Geschmacksrichtungen‘ verstanden werden, welche der „Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen“ ebenso wie der Umwandlung „der kontinuierlichen Verteilungen in diskontinuierliche Gegensätze“40 als praktische Operatoren dienen. Erst durch die von historischen, kulturellen wie sozialen Differenzierungsprozessen ausgehenden Wirkungen auf Geschmackspräferenzen und Ausdrucksmöglichkeiten geraten demgemäß auch „die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen“41, werden besagte kontinuierliche Unterschiede oder Differenzen in diskontinuierliche Unterscheidungen oder Distinktionen transformiert. Expressivität also umschließt eine Summe an Medien und an Formen nicht allein der historischen und kulturellen, sondern zumal der sozialen Differenzierung, insofern die Verwendung, Erzeugung und Bewertung dieser Medien und Formen ja auch an historisch, kulturell und sozial je partikulare Erfahrungshaushalte gebunden und mit dem Vermögen oder dem Willen zur Aneignung und Anerkennung der diesen Medien und Formen entsprechenden Wissensbestände und Normen verquickt ist. Unbeantwortet bleiben muss hier allerdings die Frage, inwieweit ein strukturdynamisches Ausdrucksmodell, welches spezifische Verfahren der phänomenologischen Deskription sowie der Analyse struktureller Homologien und Transformationen mit methodischen und methodologischen Arbeiten insbesondere auf den Gebieten der Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften zusammenzuführen beabsichtigt, tatsächlich auch am empirischen Material sich zur Anwendung bringen und erhärten ließe. Hierzu bedürfte es noch zahlreicher Detailstudien, die sich den objektivierten, akkorporierten und inkorporierten Formen und Medien menschlicher Expressivität nicht nur auf materieller Grundlage widmeten – etwa im Sinne einer historischen Anthropologie der Künste, des Handwerks, der Technik, aber auch der Parfüme und Öle, des Kostüms und der Kleidung, des Schmucks sowie natürlich vor allem der Haltungen, Gesten und Gebärden –, sondern sie ––––––––––––––

38 39 40 41

Vgl. zu diesem Begriffspaar Berking/Neckel 1987: 48f. Vgl. zum Folgenden Bourdieu 1982: 280–286. Bourdieu 1982: 284. Bourdieu 1982: 284.

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immer auch schon zugleich unter dem Aspekt ihrer ‚doppelten Artikulation‘, d.h. in vorwiegend historischer Perspektive mit Hilfe diskursanalytischer Instrumente, in vorwiegend kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive dagegen mit Hilfe praxeologischer Erkenntnisverfahren zu befragen und somit die Prozesse ihrer Genese ebenso wie ihre generativen Strukturen sukzessive zu beschreiben und systematisch zu erschließen versuchten. Bibliographie Barthes, R. (1985). Die Sprache der Mode. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Édition du Seuil, 1967). Berger, P.L./Luckmann, Th. (1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer (orig. Garden City, NY: Doubleday, 1966). Berking, H./Neckel, S. (1987). „Politik und Lebensstile“. Ästhetik und Kommunikation 65/66, 47–57. Bourdieu, P. (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Genf: Droz, 1972). Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Les Éditions de Minuit, 1979). Bourdieu, P. (1987). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Les Éditions de Minuit, 1980). Bourdieu, P. (1997). „Der Tote packt den Lebenden“ [1980]. In: Ders.: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2. Hamburg: VSA, 18–58. Bourdieu, P./Wacquant, L.J.D. (1996). Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Édition du Seuil, 1992). Bühler, K. (1934). Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer (ND Stuttgart: Lucius & Lucius, 31999). Derrida, J. (2003). Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Edmund Husserls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Presses Univ. de France, 1967). Eco, U. (1985). Semiotik und Philosophie der Sprache. München: Fink (orig. Turin: Einaudi, 1984). Elias, N. (1997). Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1973). Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Gallimard, 1969). Foucault, M. (1977). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Gallimard, 1975). Foucault, M. (1978). Dispositive der Macht. M. F. über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Foucault, M. (1989). Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit 2). Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. Paris: Gallimard, 1984).

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In Verteidigung der Geschichtserfahrung Zur Auseinandersetzung von Paul Ricœur mit Hayden White*

LÁSZLÓ TENGELYI Hayden Whites Metahistory1, das im Jahre 1973 veröffentlicht wurde, hat zu einem Bruch mit einer Strömung innerhalb der analytischen Philosophie der Geschichte geführt, die in den 1960er Jahren darum bemüht gewesen war, die Eigentümlichkeiten einer als „narrativ“ bezeichneten Erklärungsweise herauszustellen. Autoren wie William Dray, Georg Henrik von Wright oder Arthur Danto hatten zwar die Erklärung durch historische Erzählung von der nomologischen Erklärungsweise der Naturwissenschaften abgegrenzt, aber sie hatten am wissenschaftlichen Charakter der Geschichtsforschung durchaus festgehalten. Dagegen betrachtete White die Geschichtsforschung nicht als Wissenschaft;2 vielmehr bestimmte er das Geschichtswerk als ein „literarisches Artefakt“,3 brachte damit die Geschichtsschreibung in die Nähe fiktionaler Erzählung und verwischte zugleich die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie. White stützte sich dabei auf eine vertiefte und verfeinerte Analyse der als „narrativ“ bezeichneten Erklärung. In Metahistory wird in der Tat gezeigt, dass diese Erklärung keineswegs bloß die Leistung narrativer Sequenzbildung (Bildung der story-line) ist, sondern auch andersartige Erklärungsmodi umfasst: die Erklärung durch narrative Modellierung oder Fabelkomposition (emplotment4), die Erklärung durch formale Schlussfol–––––––––––––– * 1 2 3 4

Eine französische Fassung dieses Aufsatzes ist in der Zeitschrift „Laval philo sophique et théologique“ (65/3 (2009), 463–477) erschienen. White 1973a. White 1973a: 21: „history is not a science, it is at best a protoscience with specifically determinable nonscientific elements in its constitution“; White 1991: 38. Siehe White 1973b. White 1973a: 8: „every history, even the most ‚synchronic‘ or ‚structural‘ of them, will be emplotted in some way“; vgl. White 1991: 22.

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gerung (formal, explicit, or discursive argument5) und die Erklärung durch ideologische Implikation (ideological implication6). Diese Komplexität der explikativen Strukturen ist der eigentliche Grund dafür, dass White es für unmöglich hält, eine eindeutige Grenzlinie zwischen Geschichtsschreibung, fiktionaler Erzählung und Geschichtsphilosophie zu ziehen. Verständlicherweise fesselt diese Auffassung die Aufmerksamkeit des Verfassers von Zeit und Erzählung.7 Paul Ricœur hebt ja selbst den narrativen Charakter der Geschichtsschreibung hervor, indem er Strukturen herauszustellen sucht, die der Geschichtsschreibung und der fiktionalen Erzählung gemeinsam sind. Gleichwohl betrachtet er den metahistorischen Ansatz nicht ohne Vorbehalte. Bringt White die Geschichtsschreibung bedenkenlos in die Nähe fiktionaler Erzählung, so wirft dieses Verfahren für Ricœur die Frage auf, ob „es möglich ist, die Geschichte derart als literarischen Kunstgriff [artifice] einzustufen, ohne sie als Erkenntnis mit wissenschaftlichem Anspruch abzuwerten“8. Im Gegensatz zu White hält Ricœur schon in Zeit und Erzählung am „Primat der Referenz“9 fest. Deshalb geht er bereits in diesem Werk auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Verfasser von Metahistory ein. Die Grundfrage, um die sich seine Debatte mit White zu dieser Zeit dreht, ist, ob und wie die Geschichtsschreibung zu einer „Neubeschreibung“ (redescription) oder „Neugestaltung“ (refiguration) vergangener Ereignisse beitragen kann. Im vierten Teil von Zeit und Erzählung wird der Begriff von Neugestaltung (refiguration) der Wirklichkeit in Gegenüberstellung zu Whites Idee einer Kodierung (oder „Enkodierung“, wie es in der Übersetzung von Ricœur (1983–85, Bd. I) heißt) des historischen Feldes durch die grundlegenden Tropen entwickelt. Fünfzehn Jahre später, im Werk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen,10 geht Ricœur auf Whites tropologische Theorie nicht mehr ausführlich ein. Es wird aber aus diesem Werk deutlich, dass Ricœur nach wie vor weit davon entfernt ist, den „dynamischen Strukturalismus“11, den er dem Verfasser von Metahistory zuschreibt, einfach zu verwerfen; vielmehr hält er diesen Strukturalismus für „völlig plausibel“12 –––––––––––––– 5 6

White 1973a: 11; White 1991: 25. White 1973a: 24: „Just as every ideology is attended by a specific idea of history and its processes, so too, I maintain, is every idea of history attended by specifically determinable ideological implications.“ Vgl. White 1991: 40. 7 Ricœur 1983–85. Das Werk liegt auch auf Deutsch vor: Ricœur 1988–91. 8 Ricœur 1983–85, Bd. I: 288; Ricœur 1988: 243. 9 Ricœur 1983–85, Bd. III: 279. 10 Ricœur 2000. Dt. Übersetzung: Ricœur 2004. 11 Ricœur 2000: 327; Ricœur 2004: 389. 12 Ricœur 2000: 327.

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– zumindest, wenn der Akzent auf dessen dynamischen Charakter gelegt wird. Gleichwohl wird in diesem Werk der Gegensatz zu Whites Gesamtkonzeption schärfer als früher hervorgekehrt. Die Änderung des Tons hängt wohl damit zusammen, dass sich Ricœur von der allzu „narrativistischen“13 Position, die er in Zeit und Erzählung eingenommen hatte, inzwischen entfernte. Jetzt ist die Zielscheibe seiner Kritik nichts Geringeres als die Idee einer narrativen Erzählung selbst; er bedauert, dass „sich White in eine Sackgasse verrannt hat, wenn er von den Operationen der Fabelkomposition als erklärenden Modi spricht, die für die wissenschaftlichen Prozeduren des historischen Wissens bestenfalls gleichgültig sind, schlimmstenfalls aber an deren Stelle treten können“14. Mehr noch als in Zeit und Erzählung besteht Ricœur in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen auf dem Primat der Referenz, indem er hervorhebt, dass es dringend geboten sei, „das referentielle Moment, das die Geschichte von der Fiktion unterscheidet, spezifisch herauszuarbeiten“15, und indem er hinzufügt: „Diese Unterscheidung kann aber nicht getroffen werden, wenn man im Bereich der literarischen Formen verbleibt.“16 Dabei stellt sich das Problem der Referenz in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen auf eine neue Weise. Es wird in diesem Werk gezeigt, dass die Neugestaltung der Wirklichkeit nicht allein von den Anstrengungen historischer Erkenntnis abhängig ist, sondern sich mehr noch auf jene ontologische Zugehörigkeit zur Geschichte gründet, die Ricœur nunmehr als „condition historique“ bezeichnet. Der Rückgang auf diese ontologische Dimension verleiht der Auseinandersetzung von Ricœur mit White in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen einen neuen Sinn. Die Debatte dreht sich nunmehr um die Frage, wie sich überhaupt das historische Feld konstituiert. Ricœur geht davon aus, dass sich das historische Feld in der lebendigen Erfahrung konstituiert und dass es sich vermöge der Erinnerungsleistung des Gedächtnisses für die Arbeit des Historikers überhaupt erst zugänglich wird. Der Refiguration historischer Ereignisse kommt in diesem Ansatz die Bedeutung einer Rekonstruktion lebendiger Erfahrung durch die Geschichtsschreibung zu. Ricœur bestimmt daher die historische Erkenntnis als einen Versuch, „die Vergangenheit wahrheitsgemäß zu repräsentieren“17. Es ist nur eine Folge der neuen Auffassung von der Konstitution des historischen Feldes, wenn –––––––––––––– 13 14 15 16 17

Ricœur 2000: 245, Anm.; Ricœur 2004: 296, Anm. Ricœur 2000: 328; Ricœur 2004: 390 (Hervorhebung nicht im Original). Ricœur 2000: 328. Ricœur 2000: 328. Ricœur 2000: 170f.; Ricœur 2004: 212.

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Ricœur den dynamischen Strukturalismus von White deutlicher als früher zu überwinden und durch eine hermeneutische Phänomenologie der Geschichtserfahrung zu ersetzen sucht. Diese verwandelte Ansicht über die Konstitution des historischen Feldes gibt der Auseinandersetzung, der wir uns zuwenden wollen, auch heute noch ein philosophisches Interesse.18 Im Folgenden behandeln wir diese Auseinandersetzung vom Gesichtspunkt einer Erfahrung der Geschichte aus. Erstens soll dazu Whites Auffassung von der Konstitution des historischen Feldes näher betrachtet werden. Zweitens kann dann die Frage gestellt werden, wieweit die Geschichtserfahrung selbst noch am dynamischen Strukturalismus von White zumindest manche Spuren hinterlassen hat. Drittens wollen wir die wichtigsten Einwände ins Auge fassen, die Ricœur gegen den metahistorischen Ansatz von White vorbringt. In unserer Betrachtung über Ricœur sollen die Hauptakzente zunächst auf den Begriff einer Refiguration vergangener Ereignisse und dann auf die Idee einer Rekonstruktion historischer Erfahrung gelegt werden.

1. Die Konstitution des historischen Feldes Ricœur stützt sich auf Reinhard Koselleck, um zu zeigen, dass die Geschichtserfahrung „der Epoche der Moderne eigen“19 ist. Denn diese Erfahrung bezieht sich auf die Geschichte „als Kollektivsingular, der die speziellen Geschichten unter einem gemeinsamen Begriff verbindet“20. Es gibt aber erst vom Ende des 18. Jahrhunderts an das, was die Franzosen als „une histoire une“ (als „eine und nur eine Geschichte“) bezeichnen.21 Koselleck weist darauf hin, dass allem Anschein nach Kant als erster den Terminus Fortschritt geprägt hat, und man weiß zugleich, dass er zum ersten Mal nach einer Erfahrung zu forschen begann, die sich als Geschichtszeichen verstehen lässt.22 Es ist kein Zufall, dass in Der Streit der ––––––––––––––

18 Neben Metahistory bezieht sich Ricœur auf zwei Aufsatzsammlungen von White (White 1986 und 1987). Er lässt auch die wichtigsten Zeitschriftenartikel (White 1966 und 1972) und die berühmtesten Beiträge zu Sammelbänden (White 1992) keineswegs unbeachtet. Die Seiten, die Ricœur in Zeit und Erzählung bzw. in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen einer Auseinandersetzung mit White widmet, sind wie folgt: Ricœur 1983–85, Bd. I: 286–301, Ricœur 1983–85, Bd. III: 273–282 und Ricœur 2000: 324–339. 19 Ricœur 2000: 392; Ricœur 2004: 463. 20 Ricœur 2000: 392; Ricœur 2004: 463. 21 Ricœur 2000: 391; Ricœur 2004: 462. 22 Kant 1983: 356.

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Fakultäten die Französische Revolution als ein derartiges Geschichtszeichen in Anspruch genommen wird. Denn in der Epoche der Moderne ist es in der Tat die Französische Revolution, die „als Mutter sämtlicher Brüche“ die meisten „Erlösungsverheißungen“ über die zukünftige Menschheit ausgestreut hat.23 Ricœur hebt zugleich hervor, dass sich die Erfahrung der Geschichte am Ende des 18. Jahrhunderts mit der Idee einer „weltlichen Religion“ verbindet, wie es bereits die Gleichsetzung der Geschichte mit der Vernunft bei Hegel deutlich zeigt.24 Es heißt in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen: „Koselleck kann auch insofern von Erfahrung der Geschichte sprechen, als der Geschichtsbegriff den Anspruch erheben kann, den zuvor von der Religion eingenommenen Raum auszufüllen.“25 Die neuen Möglichkeiten, die sich damit dem Denken eröffnen, werden zunächst durch die idealistische Geschichtsphilosophie ergriffen. Dieses Ereignis ist zugleich der Ausgangspunkt der Geschichte, die in Metahistory erzählt wird. Der Weg, der von Kant und Herder zu Hegel führt, ist der Gegenstand des ersten Teils von Whites Werk. Ähnlich wie Koselleck und Ricœur versteht White diese Zeit als eine Übergangsperiode, die den Grund des Historismus des 19. Jahrhunderts legt. Eine Erfahrung der Geschichte wird aber in Metahistory nicht ausdrücklich zur Sprache gebracht. Dieser Unterschied ergibt sich aus Whites Auffassung von der Konstitution des historischen Feldes, die weder von Koselleck noch von Ricœur geteilt wird. Im Mittelpunkt dieser Auffassung steht der Gedanke einer Präfiguration (oder Vorstrukturierung) des historischen Feldes. White geht davon aus, dass sich der Historiker vor die Aufgabe gestellt sieht, einen Diskurs über die Geschichte aufzubauen. Er findet dabei die Gesamtheit der Ereignisse vor, die ihm durch die aufbewahrten Dokumente überliefert sind. Sein Ziel ist es, diese Ereignisse zu erklären. Dazu unterzieht er sie erstens einem Auswahlverfahren, wobei er ihnen zugleich eine narrative Ordnung aufprägt, das heißt: in der Gesamtheit ausgewählter Ereignisse Anfang, Mitte und Ende voneinander unterscheidet; er führt zweitens in diese narrative Ordnung eine bestimmmte Erzählstruktur, ein Schema der Fabelkomposition ein; drittens macht er von formellen, expliziten, diskursiven Argumenten ebenfalls Gebrauch, und er deutet schließlich auch noch die ideologischen Implikationen seiner Erzählung an. Aber diese vierfach bestimmte Erklärungsoperation setzt bereits die Konstitution des historischen Feldes ––––––––––––––

23 Ricœur 2000: 395; Ricœur 2004: 466. 24 Ricœur 2000: 395; Ricœur 2004: 466. 25 Ricœur 2000: 395; Ricœur 2004: 466.

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als „ein von bestimmten Gestalten besiedeltes Terrain“ voraus.26 Hier ist die Übersetzung von „ground“ durch „Terrain“ insofern nicht ganz glücklich, als sie die Tatsache verschleiert, dass White ein Verhältnis von Gestalt und Grund im Sinne der Gestalttheorie im Auge hat. Es handelt sich dabei auf jeden Fall um ein Terrain, das den Anblick „einer in sich schlüssigen Totalität“27 bietet; es weist eine „Konsistenz und Kohärenz“28 auf, die ihm eigentümlich ist und den es besiedelnden Gestalten vorhergeht. Deshalb ist der Ausdruck „Präfiguration“ (oder auch „Vorstrukturierung“) des historischen Feldes durchaus treffend. Diese Gedanken sind vom Problem einer Erfahrung der Geschichte nicht unabhängig. Ein Beleg dafür ist es, dass White die Geschichte als „Gegenstand einer geistigen Wahrnehmung“ auffasst.29 Das Wort „Wahrnehmung“ ist hier nur ein anderes Wort für „Erfahrung“. Aber das eigentliche Problem verbirgt sich im Beiwort „geistig“. Dieses Beiwort verweist auf einen Überschuss gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung. Worin besteht jedoch dieser Überschuss? Die phänomenologische Tradition bietet den Begriff einer kategorialen Anschauung an, um ihn zu erfassen; aber der traditionelle Terminus „Kategorie“ passt wenig zur Beschreibung einer Erfahrung der Geschichte. Im vierten Teil von Zeit und Erzählung schlägt Ricœur eine verwandte, aber terminologisch weniger belastete Bezeichnung vor, indem er die wittgensteinsche Idee eines „Sehen als…“ aufgreift und dabei den historischen Ereignissen ein korrelatives „Sein als…“ zuschreibt.30 Es handelt sich dabei um eine Variante derjenigen Als-Struktur, die nicht erst bei Heidegger, sondern bereits bei Husserl den Sinn überhaupt definiert. Ricœur verwendet den Begriff „Sein als…“ dazu, die metahistorische Idee einer Präfiguration des historischen Feldes begreiflich zu machen.31 Von diesem Gesichtspunkt aus stellt sich das gesamte Unternehmen, das in Metahistory in Gang gebracht wird, als ein Versuch dar, das „Sein als…“ der historischen Ereignisse eher durch ein tropologisches Gitter als durch ein kategoriales Netz abzudecken.32 In der Tat sind für White die Tropen Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie die eigentlichen Träger der Präfiguration des historischen –––––––––––––– 26 27 28 29 30 31 32

White 1973a: 30; White 1991: 49. White 1973a: 30; White 1991: 48f. White 1973a: 30; White 1991: 49. White 1973a: 30; White 1991: 49. Ricœur 1983–85, Bd. III: 281. Ricœur 1983–85, Bd. III: 279. Ricœur 1983–85, Bd. III: 279: „grâce à la grille tropologique, l’être—comme de l’événement passé est porté au langage.“

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Feldes. White begründet die Wahl der Tropen für diese Funktion durch Analysen, die Ricœur nicht ohne Grund als „subtil, aber nicht selten dunkel“ findet.33 Der Ausgangspunkt dieser Analysen ist offensichtlich die Überzeugung, dass der Sinnüberschuss, der den Ereignissen im präfigurierten historischen Feld zukommt, ein ausschließliches Produkt der Sprache ist. Zur Erhärtung dieser Überzeugung wird in Metahistory allerdings kein ausdrücklicher Beweisgrund angeführt. Es handelt sich vielmehr um eine Voraussetzung, die das tropologische Unterfangen von White in die Nähe des Strukturalismus bringt, selbst wenn die von Jacobson, Lévi-Strauss und Lacan angenommene Reduktion aller Tropen auf die beiden Grundtropen „Metapher“ und „Metonymie“ in Metahistory scharf kritisiert und ausdrücklich verworfen wird.34 Eine weitere Voraussetzung, die Whites Tropologie ebenfalls nur in die Nähe des Strukturalismus bringt, ist die Annahme, dass sich die Sinngenese in der Sprache im Ausgang vom ideellen Sprachsystem vollständig erfassen lässt, ohne dass ein Rückgriff auf das, was Merleau-Ponty als „fungierende Rede“ bezeichnet, nötig wäre.35 Diese beiden Voraussetzungen veranlassen White dazu, die Präfiguration des historischen Feldes als eine sprachliche Kodierung vergangener Ereignisse zu verstehen. Da die Aufgabe dieser Kodierung den vier genannten Tropen zufällt, ist es eine Folge dieses Ansatzes, dass der Akt der Präfiguration des historischen Feldes in Metahistory als ein poetischer Akt begriffen wird, der in der „Ökonomie“ des Bewusstseins des Historikers der Erkenntnis und der Kritik vorhergeht.36 Die philosophischen Konsequenzen der tropologischen Option sind schwerwiegend. Ricœur stellt sie in seiner Auseinandersetzung mit White deutlich heraus. Nach seinem Dafürhalten bleibt in Metahistory vor allem das Problem der Referenz historischer Darstellung ungelöst. An einer bezeichnenden Stelle37 vergleicht White die Aufgabe des Historikers mit dem des Sprachwissenschaftlers, der eine fremde Sprache zu beschreiben hat. Wie der Sprachwissenschaftler die Lexik, die Grammatik, die Syntax und die Semantik der fremden Sprache auszumachen hat, so hat der Historiker seinen Diskurs über die Geschichte auf den entsprechenden Ebenen zu bestimmen. Dieser Vergleich legt nahe, die Konstruktion des historischen Diskurses als eine Rekonstruktion zu verstehen, wobei allerdings unklar –––––––––––––– 33 34 35 36

Ricœur 1983–85, Bd. III: 278. White 1973: 31f.; White 1991: 50f. und 573–576. Siehe Merleau-Ponty 1964: 166–168 und 201–204. White 1973a: 30f.; White 1991: 49f. (In der deutschen Übersetzung gibt es kein Äquivalent für das Wort „economy“.) 37 White 1973a: 30; White 1991: 49.

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bleibt, ob man das historische Feld als ein Analogon einer fremden Sprache begreifen kann. Aus einer anderen Textstelle, an der White auf diesen Vergleich zurückkommt,38 geht aber eindeutig hervor, dass im metahistorischen Ansatz von einer Rekonstruktion keine Rede sein kann.

2. Spuren einer Erfahrung der Geschichte Die White’sche Theorie des historischen Diskurses steckt allerdings einen typologischen Rahmen ab, der geeignet ist, die verschiedenen Stile großer Historiker und ebenso großer Geschichtsphilosophen aus dem 19. Jahrhundert auf differenzierte Weise zu beschreiben. In Metahistory werden die vier Grundtropen zur Bezeichnung vier globaler Diskursformationen verwendet, die sich auf gewisse Affinitäten – „Wahlverwandtschaften“ – unter den grundlegenden Tropen und den verschiedenen Arten der Fabelkomposition, des formalen Arguments und der ideologischen Implikation gründen. Diese wohldifferenzierte Typologie erweist sich als ein wirkmächtiges Mittel der Analyse in den verschiedenen Kapiteln des Buches, die den vier Historikern Michelet, Ranke, Tocqueville und Burkhardt sowie den vier Geschichtsphilosophen Hegel, Marx, Nietzsche und Croce gewidmet sind. Aber sie geben keinen Aufschluss über den jeweiligen Realitätsgehalt dieser unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Geschichte. White verbietet sich in dieser Hinsicht jede Stellungnahme, weil er deutlich sieht, dass die unterschiedlichen Sichtweisen jeweils ihr eigenes Kriterium für die Entscheidung der Frage nach dem „Realismus“39 haben. Eigentlich ist Metahistory nichts anderes als ein gewaltiges Gefüge von Variationen über dieses Thema. Zunächst wird auf Hegels „Realismus“ hingewiesen;40 dann werden die vier Historiker, deren Werk ausführlich dargestellt wird, unter dem Titel „Vier Formen des ‚Realismus‘ in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts“ behandelt; schließlich trägt der dritte Teil des Buches mit den drei großen Kapiteln über Marx, Nietzsche und Croce die Überschrift „Die Zurückweisung des ,Realismus‘ durch die Geschichtsphilosophie des späten 19. Jahrhunderts“. Dabei wird das Wort „Realismus“ überall in Anführungszeichen gesetzt. –––––––––––––– 38 White 1973a: 274f.; White 1991: 357f. 39 Vgl. White 1973a: 26. Siehe auch White 1973a: 46: „One man’s “reality” was another man’s “utopia” […].“ Diese Behauptung bezieht sich auf die gesamte Periode von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. 40 White 1973a: 278; White 1991: 362.

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Die Frage nach der Referenz des historischen Diskurses ist mit diesen negativen Festlegungen allerdings noch nicht erledigt. Trotz seiner Auffassung vom „Realismus“ gelangt White in seinen Einzelerörterungen nicht selten dazu, die Realitätsnähe der von ihm untersuchten Autoren deutlich zu machen. Die Darstellung der verschiedenen Betrachtungsweisen der Geschichte in Metahistory trägt überall Spuren einer Erfahrung der Geschichte. Gerade darin zeigt sich der dynamische Charakter von Whites Strukturalismus am deutlichsten. Dieser dynamische Charakter ergibt sich aus drei Eigentümlichkeiten, die charakteristisch für Whites typologische Analysen sind: 1. Erstens werden in Metahistory die Affinitäten, die zwischen den vier grundlegenden Tropen und den verschiedenen Arten der drei untersuchten Erklärungsmodi bestehen, keineswegs als notwendige Zusammengehörigkeiten behandelt.41 Es überrascht deshalb nicht, dass in den Einzelerörterungen immer wieder Abweichungen vom Regelfall und manchmal sogar völlig atypische Singularitäten zur Sprache gebracht werden. 2. Zweitens ist eine Diskursformation zur Beschreibung des Werks eines Historikers oder eines Geschichtsphilosophen nur in gewissen Fällen hinreichend. Hinreichend ist sie etwa im Fall von Michelet, der in den Anfangsereignissen der Französischen Revolution vor allem die Manifestation einer neuen Idee von Brüderlichkeit zu entdecken meint.42 Es kann daher behauptet werden, dass Michelets Geschichtsauffassung ganz im Zeichen der Metapher steht.43 Zwar aus anderen Gründen, aber doch ähnlich verhält es sich mit Jakob Burkhardt, der nach White von der Ironie völlig durchdrungen ist.44 Dagegen muss man mehrere tropologisch– explikative Gesamtkonstellationen gleichzeitig vor Augen halten, um Geschichtsphilosophen wie Hegel oder Marx zu kennzeichnen. Sie führen ja einen ständigen Kampf gegen die Verlockungen zur Ironie und bewegen sich dabei in einem Raum zwischen Metonymie und Synekdoche, indem sie – vom Gesichtspunkt der Fabelkomposition aus betrachtet – gleichzeitig danach streben, die Tragödie in Komödie zu verwandeln.45 Aber eine –––––––––––––– 41 42 43 44

White 1973a: 29; White 1991: 47f. White 1973a: 151; White 1991: 199f. White 1973a: 150; White 1991: 198. White 1973a: 260: „this anti-Metaphorical attitude is the quintessence of Burckhardt’s Irony“. Vgl. White 1991: 341. 45 Zu Hegel siehe White 1973a: 122; White 1991: 162. Zu Marx siehe White 1973a: 281 („Irony was his point of departure“), 285 („his effort to synthesize the tropological strategies of Metonymy and Synecdoche in a comprehensive image of the historical world“) und 278 („Marx’s purpose was to translate Irony into Tragedy, and, ultimately, Tragedy into Comedy“). Vgl. White 1991: 365, 370 und 363.

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tropologisch–explikative Gesamtkonstellation ist nicht einmal dazu hinreichend, einen komplexeren Historiker wie Ranke zu charakterisieren, der, laut White, von der Metapher zur Synekdoche übergeht,46 die Argumentationsweise des Formativismus mit der des Organizismus kombiniert,47 seiner Geschichtsschreibung – ähnlich wie Hegel und Marx – letztlich die Erzählstruktur der Komödie aufprägt und, was die ideologische Implikation seines Werks angeht, sich – im Gegensatz zu Hegel und Marx – dem Konservatismus verschreibt.48 Noch verwickelter ist der Fall von Tocqueville. Für ihn ist ebenfalls eine Mischung verschiedener Diskursformationen bezeichnend. Er ist aber zugleich ein Beispiel für die dritte Eigentümlichkeit, die die in Metahistory ausgearbeitete Typologie charakterisiert. 3. Es handelt sich um eine diachronische Ansicht über die Diskursformationen, die es dem Verfasser von Metahistory ermöglicht, die intellektuellen Schicksale der von ihm behandelten Historiker und Geschichtsphilosophen deutlich zu machen. In dieser Hinsicht ist sicherlich das Kapitel über Tocqueville das aufschlussreichste. Nach White steht das tragische Bild, das Tocqueville sich vom historischen Prozess macht, ursprünglich im Zeichen der Metonymie. Bei Tocqueville läuft jedoch die Metonymie ständig Gefahr, sich in Ironie zu verwandeln,49 was zugleich die Auflösung des tragischen Dramas in einer Satire zur Folge hätte.50 Es ist vielleicht noch interessanter, dass White Tocqueville auf der Ebene der ideologischen Implikation einerseits einen verborgenen Radikalismus,51 andererseits einen wesenhaften Liberalismus52 zuschreibt, hinzufügend, dass Tocqueville auch seine Loyalität gegenüber der Aristokratie bewahrt,53 so dass es nicht verwunderlich ist, wenn er manchmal zum Konservatismus gerechnet wird.54 Man kann sich hier des Eindrucks kaum erwehren, die Analyse von Tocquevilles Fall führe zu einem Zusammenbruch der typologischen Differenzierungen, auf denen das metahistorische Unterfangen beruht. Allerdings ist dieser Eindruck täuschend. In Wahrheit brechen nur ––––––––––––––

46 White 1973a: 167; White 1991: 219. 47 White 1973a: 177f.; White 1991: 233; siehe auch White 1973a: 168; White 1991: 220. 48 White 1973a: 174; White 1991: 228. 49 White 1973a: 203 und 223f.; White 1991: 267 und 287. 50 White 1973a: 200: „shift from a plot structure that was implicitly tragic to one that was increasingly Satirical“; vgl. White 1991: 262. 51 White 1973a: 193 und 200; White 1991: 253 und 262. 52 White 1973a: 200; White 1991: 262f. 53 White 1973a: 200; White 1991: 263. 54 White 1973a: 200; White 1991: 262.

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unsere Vorurteile über die strukturalistische Methode von White zusammen, der diese Methode von Grund auf dynamisiert. Die Dynamisierung seiner Typologie verhilft dem Verfasser von Metahistory dazu, Tocquevilles Erfahrung der Geschichte ans Licht zu bringen. White untersucht die Veränderungen, die zwischen dem Erscheinungsjahr von La démocratie en Amérique (1935) und der Veröffentlichungszeit von L’ancien régime et la Révolution (1856) in Tocquevilles Denken vor sich gegangen sind.55 Er stellt fest, dass der französische Denker zwar an der Notwendigkeit, die Bedeutung der Französischen Revolution anzuerkennen, selbst noch in den fünfziger Jahren festgehalten hat, aber er setzt hinzu, dass Tocqueville nicht ohne Beängstigungen auf die fortschreitende Radikalisierung der revolutionären Ideen aufmerksam wurde, die er auf die zunehmende Rolle der weniger gebildeten und in höherem Maße vulgären Klassen zurückführte.56 Im Licht dieser neuen Erfahrung von der Geschichte zeichnet sich vor unseren Augen das Bildnis eines Intellektuellen ab, der trotz seines „verborgenen Radikalismus“ und seiner „Loyalität gegenüber der Aristokratie“ seinen selbstgewählten Standpunkt – nämlich den eines etwas ungewöhnlichen, vielleicht sogar unzeitgemäßen, aber doch „wesenhaften“ Liberalismus – niemals verlassen hat. Das Kapitel über Tocqueville ist nicht das einzige, das uns mit den Spuren einer Erfahrung der Geschichte konfrontiert. So macht etwa das Kapitel über Michelet eine Erfahrung mit seiner Zeit spürbar, die den großen Romantiker am Ende seines Lebens immer mehr in die Verzweiflung stürzte.57 Man kann noch weiter gehen und behaupten, dass Whites Metahistory so gut wie überall Spuren einer Erfahrung der Geschichte aufweist. Ebendeshalb ist dieses Buch trotz der allzu starren und bis zu einem gewissen Grad einseitigen Auffassung von der Geschichte, die von seinem Verfasser vertreten wird, ein großartiges Werk.

3. Geschichtserfahrung und Erinnerungsarbeit Wir wenden uns nunmehr der Kritik zu, der Ricœur das metahistorische Unterfangen unterzieht, um deutlich zu machen, wie die ausdrückliche Beachtung einer Erfahrung der Geschichte das Bild verwandelt, das wir uns dem metahistorischen Ansatz folgend von der Konstitution des histori––––––––––––––

55 White 1973a: 196 und 223ff.; White 1991: 257f. und 293–296. 56 White 1973a: 224; White 1991: 294f. 57 White 1973a: 155; White 1991: 204.

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schen Feldes machen konnten. Nach dem Verfasser von Zeit und Erzählung ist es die Refiguration der Geschichtserfahrung, die das „Sein als…“ historischer Ereignisse greifbar macht. Der Begriff der Refiguration schließt beinahe alles in sich, was bei White im Begriff der Präfiguration enthalten ist und was von Ricœur selbst eher als „Konfiguration“ bezeichnet wird. Refiguriert wird die Geschichtserfahrung durch die Erzählung, der als solcher immer schon eine narrative Konfiguration zukommt. Ricœur teilt die Überzeugung von White, der zufolge die narrative Sprache eine grundlegende Rolle in der Konstitution des historischen Feldes spielt. Nicht einmal die tropologische Dimension von Whites Auffassung ist Ricœur ganz fremd. Von vornherein sieht ja Ricœur die Erzählung als eine ausgedehnte Metapher an, und er führt in Zeit und Erzählung eine merkwürdige Textstelle aus Metahistory an, an der White selbst zugibt, dass Metonymie, Synekdoche und Ironie als verschiedene Arten der Metapher aufgefasst werden können.58 Aber diese Übereinstimmungen können uns nicht über den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Denkern hinwegtäuschen, der sich daraus ergibt, dass Ricœur der Metapher überhaupt die Rolle einer Neubeschreibung der Wirklichkeit und der Erzählung als ausgedehnter Metapher, spezifischer, die einer Refiguration (Neugestaltung) der Geschichtserfahrung zuschreibt. Wie der Begriff einer Neubeschreibung der Wirklichkeit im Werk Lebendige Metapher das Problem des Realitätsbezugs der Sprache aufwirft, so wirft der Begriff einer Neugestaltung (refiguration) der Wirklichkeit in Zeit und Erzählung das Problem der Referenz des historischen Diskurses auf. Beide Begriffe enthalten daher einen Überschuss gegenüber dem der Konfiguration. Dieser Überschuss hat kein Gegenstück in Whites metahistorischem Ansatz. Wir können die Neugestaltung (refiguration) der Geschitserfahrung als eine Rekonstruktion des „Seins als…“ vergangener Ereignisse auffassen. Das Wort „Rekonstruktion“ setzt voraus, dass die Ereignisse von vornherein mit der ihnen eigentümlichen Als-Struktur gegeben sind und zusammen mit dieser Als-Struktur wahrheitsgetreu erfasst werden; aber es drückt ebenfalls die Tatsache aus, dass ihr ursprünglicher Sinn durch die Erzählung bearbeitet und abgewandelt (modifiziert) wird. In Zeit und Erzählung wird dieser doppelte Bedeutung von Rekonstruktion durch den Begriff des Ähnlichen angedeutet. Laut Ranke versucht der Historiker das Vergangene so darzustellen, wie es war; er ist also darum bemüht, ein Entsprechungsverhältnis zwischen Erzählung und Wirklichkeit herzustellen. Allein dieses Bemühen zielt keineswegs auf das –––––––––––––– 58 White 1973a: 34; White 1991: 51; dazu Ricœur 1983–85, Bd. III: 275, Anm. 3.

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Unmögliche ab, an „das Vergangene selbst ohne interpretierende Vermittlung“ heranzukommen.59 Deshalb ist die Rekonstruktion, wie Ricœur es zugibt, in Wahrheit „eine vom Gang der erfassten Ereignisse abweichende Konstruktion“.60 Nur dass der Historiker sich mit einer bloßen Konstruktion niemals ganz zufrieden geben kann; „instinktiv will er, dass aus dieser Konstruktion eine Rekonstruktion wird“.61 Auf diese Weise taucht in Zeit und Erzählung die Idee einer wahrheitsgemäßen Rekonstruktion auf, aber sie steht nicht im Zeichen des Selben, sondern in dem des Ähnlichen. Nur dass die Untersuchungen, denen in Zeit und Erzählung die Aufgabe zufällt, den Schlüsselbegriff des Ähnlichen näher zu bestimmen, wie Ricœur selbst zugibt, „hie und da abstrus“ bleiben.62 Was wird jedoch in diesen Untersuchungen versäumt? Um diese Frage zu beantworten, ist es lohnenswert, die früheren Betrachtungen über das „Sein als…“ historischer Ereignisse in Kontrast zur späteren Erörterung des Problems einer wahrheitsgemäßen Rekonstruktion des Vergangenen in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen zu stellen. In diesem Werk versucht Ricœur, die „narrativistische“ Perspektive von Zeit und Erzählung zu überwinden. Der Begriff der Refiguration steht ebendeshalb nicht mehr im Mittelpunkt der Erörterungen. Das Gewicht wird statt dessen auf den „epistemologischen“ Bruch der historischen Erkenntnis mit der lebensweltlichen Erfahrung gelegt.63 Der neue Ansatz erlaubt Ricœur, die großen Tendenzen der französischen Geschichtsschreibung seit der Entstehung der Annales-Schule plastischer noch als in Zeit und Erzählung nachzuzeichnen (obgleich auch in dem früheren Werk brilliante Analysen z.B. dem Mittelmeerbuch von Fernand Braudel gewidmet waren). In Gedächtnis, Geschichte, Vergessen werden die Prozesse langer Dauer, zu denen die lebensweltliche Erfahrung aus prinzipiellen Gründen keinen Zugang hat, in den Vordergrund des Interesses gerückt. Ricœur stellt fest: „Ces durées sont construites.“64 Er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass der Gegenstand historischer Erkenntnis selbst ein objet construit ist. Im Rückblick von der neu entwickelten Geschichtsauffassung her wird nun deutlich, was in Zeit und Erzählung versäumt wurde: Es bliebt im Dunklen, wie die Geschichtserzählung das „Sein als…“ historischer Erei––––––––––––––

59 60 61 62 63 64

Ricœur 1983–85, Bd. III: 272, Anm. 1. Ricœur 1983–85, Bd. III: 273. Ricœur 1983–85, Bd. III: 273. Ricœur 1983–85, Bd. III: 273. Ricœur 2000: 232f. Ricœur 2000: 232.

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gnisse nicht nur erfassen, sondern auch bearbeiten und abwandeln (modifizieren) kann, ohne dabei die Vergangenheit zu verfälschen. In Gedächtnis, Geschichte, Vergessen liefert die Freud’sche Psychoanalyse ein Modell zum Verständnis einer derartigen Bearbeitung und Abwandlung des Vorgegebenen. Es handelt sich um das Modell der Trauerarbeit. Dieser Begriff stammt bekanntlich aus der metapsychologischen Abhandlung „Trauer und Melancholie“. Im Text „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ wird dieses Modell schon von Freud selbst auf das Gedächtnis übertragen. Das Ergebnis dieser Übertragung ist der Begriff der Erinnerungsarbeit. Es ist ein Verdienst von Ricœur, die theoretischen Möglichkeiten, die in diesem Begriff liegen, deutlich erkannt zu haben.65 In der Tat macht erst der Begriff einer Erinnerungsarbeit begreiflich, wie eine Rekonstruktion die in der Geschichtserfahrung immer schon gegebene Vergangenheit abwandeln (modifizieren) kann, ohne sie zu verfälschen. Zwei Gründe sprechen dafür, dass ein derartiges Vermögen einzig und allein dem Gedächtnis zugeschrieben werden kann: Einerseits kann ausschließlich das Gedächtnis die Wahrheit von Aussagen über das Vegangene überhaupt bezeugen. Nur das Gedächtnis kann daher die Wahrheitstreue einer abwandelnden Rekonstruktion des Vergangenen garantieren. Andererseits eignet eine rückwirkende Kraft, das heißt das Vermögen retroaktiver Wirkung, ausschließlich dem Gedächtnis. Mit dem wachsenden Abstand vom Vergangenen, unter dem Einfluss der sich in der Gegenwart neu einstellenden Ereignisse und in Abhängigkeit von sich neu erschließenden Perspektiven auf die Zukunft wandelt das Gedächtnis in der Tat ständig den Sinn ehemaliger Begebenheiten ab, ohne sie dadurch in ihrem Tatbestand zu verfälschen. Die so verstandene Erinnerungsarbeit kennzeichnet das Leben in der Geschichte, schon bevor ein Diskurs über die Geschichte ausgearbeitet wird.66 Wir machen nur deshalb überhaupt eine Erfahrung mit der Geschichte, weil wir in ihr leben. Das Gedächtnis bewahrt diese Erfahrung, indem es sie zugleich einer Erinnerungsarbeit unterwirft. Die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug historischer Erkenntnis wird von vornherein verfehlt, wenn sie nur vom Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie aus gestellt wird. Denn erst der Begriff eines Lebens in der Geschichte erweist sich als richtungweisend für diese Frage. Die ontologische Dimension unserer conditio historica verbindet den Diskurs über die Geschichte von vornherein mit der Wirklichkeit. Und Bezug nehmen kann der historische Diskurs ––––––––––––––

65 Ricœur 2000: 82–89. 66 Ricœur 2000: 330.

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sowieso nur auf eine Wirklichkeit, die in der Erfahrung und der Erinnerung gegeben ist, bevor sie durch die historische Erkenntnis erforscht wird.

Bibliographie Kant, I. (1983). Der Streit der Fakultäten. Weischedel-Ausgabe, Bd. 9. Darmstadt: WBG. Merleau-Ponty, M. (1964). Le visible et l’invisible. Paris: Gallimard. Ricœur P. (1983–85). Temps et récit. Tomes I–III. Paris: Seuil. (dt. Übersetzung 1988– 91: Zeit und Erzählung. Bd. I und II, übersetzt von R. Rochlitz (1988, 1989) München: Fink; Bd. III, übersetzt von A. Knop (1991), München: Fink.) Ricœur P. (2000). La mémoire, l’histoire, l’oubli. Paris: Seuil. (dt. Übersetzung 2004: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Übersetzt von H.-D. Gondek, H. Jatho und M. Sedlaczek, München: Fink. White, H. (1966). „The Burden of History“. History and Theory 5, 111–134. White, H. (1972). „The Structure of Historical Narrative“. Clio 1, 5–19. White, H. (1973a). Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press. (dt. Übersetzung 1991: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Übersetzt von P. Kohlhaas. Frankfurt a.M.: Fischer.) White H. (1973b). „The Historical Text as Literary Artifact“. In: H. White (Hg.): Tropics of Discourse. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press, 81–100. White, H. (Hg.) (1986). Tropics of Discourse. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press. White, H. (Hg.) (1987). The Content of the Form. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press. White, H. (1992). „Historical Emplotment and the Problem of Truth“. In: S. Friedländer (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 37–53.

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Sinnerfahrung Zur Dialektik von Tradition und Geschichte

THOMAS ARNE WINTER Für Wulf Schmidt

„Niemand wird heute meinen, die Zustände, in denen wir leben, seien normal und stabil. Auch wer seine Heimat […] nicht verloren hat, fühlt sich doch in einem tieferen Sinne heimatlos oder aufgestört: losgerissen von der Geborgenheit in vertrauten, beständigen Verhältnissen und Anschauungen, wie auf der Fahrt ins Ungewisse, auf die Zukunft gespannt. Manche Völker und Menschen machen diese Erfahrung besonders intensiv; aber wir dürfen annehmen, daß sie heute kaum irgendwo auf der Welt ganz fehlt. Heute ist unser ganzes Leben in einer Wandlung begriffen; wer heute lebt, bekommt zu spüren, was Geschichte ist.“1 Gerhard Krügers Abhandlung Die Geschichte im Denken der Gegenwart, die 1947 erschienen ist, erörtert eine Art und Weise der Geschichtserfahrung, die nicht an die Erzählung oder Historie gebunden ist. Der historischen Bildung mag aus ihrer Distanz zum eigentlichen Geschehen die Geschichte als ein „anziehendes Schauspiel“ mit dramatischer Spannung oder als „Schauplatz menschlicher Genialität und Größe“ erscheinen.2 Die existenziell erfahrene Geschichte dagegen, die bei Krüger das Eingebundensein in eine Zeit der Wandlungen und Übergänge zur Voraussetzung hat, stellt sich anders dar, denn wer persönlich von Geschichte betroffen ist, sieht die Möglichkeit der eigenen Lebensgestaltung in Frage gestellt. Geschichte wird zum Problem, weil wir sie an uns selbst erfahren. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine solche pränarrative Erfahrung der Geschichte eine Erfahrung von Sinn ist, deren Qualität durch das jeweilige Verhältnis von Geschichte und Tradition bestimmt wird, in –––––––––––––– 1 2

Krüger 1947: 6 (Hervorhebung im Original). Auf vergleichbare Arbeiten Krügers (z.B. Krüger 1948) kann ich hier leider nicht eingehen. Krüger 1947: 18 (Hervorhebung im Original).

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dem der Erfahrende sich bewegt. An den entgegengesetzten Konzeptionen von Gerhard Krüger und Hans-Georg Gadamer soll dieses Verhältnis zunächst aufgezeigt und anschließend genauer analysiert werden.

I Die problematische Erfahrung der Geschichte bleibt für Krüger nicht auf individuelle Zukunftssorgen oder das Erleben von kulturellen Krisenzeiten beschränkt. Die Geschichte selbst wird zum Problem, da sie in der Moderne ein starkes Übergewicht über die Tradition erlangt hat. Die „Macht der Tradition, die sich sonst, trotz und in allen Wandlungen der Geschichte, behauptet hatte“, ist „gründlich erschüttert“ worden, bis hin zur „Entmächtigung der Tradition“.3 Zwar begreift Krüger das Verhältnis von Tradition und Geschichte als den Antagonismus von Kontinuität und Diskontinuität. Er geht jedoch über eine nur formale Bestimmung, die den konstatierten Traditionsbruch nicht zu erklären erlaubte, hinaus, indem er Tradition als solche von einem metaphysischen Gehalt her versteht. Tradition ist für ihn nicht nur die Stabilität von Lebensformen, sondern bezieht sich auch inhaltlich auf ein Bleibendes und Feststehendes, das es erlaubt, das geschichtliche Geschehen als den Wandel innerhalb einer bleibenden Weltordnung zu begreifen, vergleichbar dem Wechsel der Jahreszeiten. Sei es in der Antike die Natur des Kosmos oder im Christentum die Ewigkeit Gottes: „Alle Veränderungen in Sinn und Ordnung des Lebens verstand man im Hinblick auf dieses Unwandelbare“.4 Doch das revolutionäre Denken der Neuzeit führt zu einem Bruch mit der Tradition, für den insbesondere die Religionskritik der Aufklärung und der historische Relativismus der Romantik verantwortlich gemacht werden. Alle übergeschichtlichen Größen wie Welt, Natur, Sein oder Gott lösen sich nun in geschichtlich determinierte, und damit relative Auffassungen des Menschen auf. Der Zweifel, ob ihnen auch etwas außerhalb unserer Vorstellungen entspricht, radikalisiert sich sodann bis hin zum Nihilismus: Wo früher ein Bleibendes gesehen wurde, das dem Leben Halt und Orientierung versprach, ist nun eine Leerstelle; der Mensch, so scheint es, steht vor dem Nichts. ––––––––––––––

3 4

Krüger 1947: 10. Krüger 1947: 8.

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Mit dem Scheitern der teleologischen Geschichtsdeutungen – man denke an das Schicksal der hegelianischen Philosophie – scheitert zugleich die letzte Möglichkeit, sich gegen den geschichtlichen Wandel mittels eines absoluten Sinns zu immunisieren. Wie alle Geschichtsdeutungen scheitert auch die Teleologie am Fortgang der Geschichte selbst, denn die Ideen von Fortschritt und Entwicklung setzen voraus, dass „die eigene Zeit und ihr Sinn feststeht.“5 Doch die Radikalität der Geschichte besteht gerade in ihrem unaufhaltsamen Weiterschreiten über jede Gegenwart hinweg und der daraus resultierenden Tatsache, dass keine Zeit und kein Sinn als endgültig beansprucht werden können. Es ist diese Kontinuität der Diskontinuität, welche die Geschichte zum unbegreifbaren Antagonisten menschlicher Sinnsuche macht und „aus ihrem Weitergehen über uns hinweg eine durch nichts mehr zu verklärende Katastrophe.“6 So wird die Geschichte, wenn die großen, sinnstiftenden Erzählungen wegfallen und der Mensch zwischen einer überholten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft hilflos und ohne Orientierung verbleibt, als „Sinnkatastrophe“7 erfahren. Der Verzicht auf Sinn würde aber laut Krüger in Selbstmord oder Wahnsinn enden müssen. Es ist daher wohl jene „metaphysisch[e] Notwehr“8, von der er spricht, wenn er eine plötzliche Kehrtwendung vollzieht und behauptet, dass die Tradition nicht gebrochen, sondern nur unterdrückt sei, da wir auch heute noch in Traditionen stehen. Gerade das historische Bewusstsein sei als „Erinnerung an die entmächtigte Tradition“9 ein Indikator für ihr Fortwirken in der Moderne. Nun müsse es zu einem neuen Vollzug der Tradition, zu ihrem authentischen Wiederaufleben kommen. Aber eine nur erinnerte Tradition ist eben gerade nicht eine vollzogene Tradition. Vor allem ist das historische Bewusstsein, das mit der romantischen Entdeckung der Geschichte aufkommt, selbst die Ursache des historischen Relativismus, der für die Auflösung der metaphysischen Tradition verantwortlich gemacht wird. Der Versuch, die Erkenntnis des Absoluten durch dessen Evokation zu ersetzen, kann nur in einem neuen Dogmatismus enden.10 –––––––––––––– 5 6 7 8 9 10

Krüger 1947: 24. Krüger 1947: 19. Krüger 1947: 21 (Hervorhebung von mir). Krüger 1947: 30. Krüger 1947: 33. Das zeigt sich an der religiösen Radikalisierung in Krüger 1948. Allerdings korrigiert er seine Interpretation des historischen Bewusstseins entsprechend und begreift es fortan als den Antagonisten der Tradition.

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Gadamer versucht in Wahrheit und Methode das Problem des historischen Bewusstseins auf eine andere Weise zu lösen. Einerseits konstatiert er ebenfalls, dass seit der Entstehung des historischen Bewusstseins „die Kontinuität der abendländischen Denktradition nur noch in gebrochener Weise wirksam“11 ist, andererseits soll sich dieses Bewusstsein nur als die „Überlagerung über einer fortwirkenden Tradition“12 erweisen. Um diesen Gedanken einzulösen, interpretiert Gadamer das Verstehen als eine spekulative Bewegung im Sinne Hegels,13 wie sich an den Begriffen der Horizontverschmelzung, der Applikation und der hermeneutischen Erfahrung verdeutlicht. So folgt das Verstehen als Horizontverschmelzung exakt dem Schema von Hegels doppelter Negation. Die Stufe der ersten Negation stellt dabei das historische Bewusstsein dar, dessen unvermittelte Gegenüberstellung von Vergangenheits- und Gegenwartshorizont sich sodann in der Erkenntnis ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedingtheit aufhebt. Das historische Bewusstsein wäre demnach nur das anfängliche „Phasenmoment im Vollzug des Verstehens“14, jene scheinbare Diskontinuität im Kontinuierlichen, welche als Fremdheit im eigentlich Vertrauten das Verstehen erst herausfordert. Mit dem Begriff der Wirkungsgeschichte verdichtet Gadamer die Zugehörigkeit zur Tradition zu einer unsere Verstehensmöglichkeiten determinierenden, geschichtlichen „Substanz“15. Die das Verstehen herausfordernde Fremdheit ist darum nur die Äußerlichkeit der eigenen geschichtlichen Substanz, eine Entfremdung, die sich in der Horizontverschmelzung aufhebt, indem man „das Andere des Eigenen und damit das eine wie das Andere“16 erkennt. Die Wechselseitigkeit der Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart stellt der Gedanke der Applikation noch deutlicher heraus. Indem der zu verstehende Text der Überlieferung jeweils auf die geschichtliche Situation angewendet werden muss, in der er verstanden werden soll, wird nicht nur er selbst verständlich, sondern auch die jeweilige geschichtliche Situation als solche erschlossen. Text und Situation erschließen sich in einer spekulativen Bewegung wechselseitig, ohne dass eine der beiden Seiten vorgängig und isoliert für sich zu fassen wäre. So zeigt sich das ––––––––––––––

11 Gadamer 1990: 4. 12 Gadamer 1990: 311. 13 Vgl. Hegel (1986: 52): „in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative.“ 14 Gadamer 1990: 312. 15 Gadamer 1990: 307. 16 Gadamer 1990: 305.

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Verstehen „in sich selbst vom geschichtlichen Wandel fortbewegt“17, denn es muss dieselbe Überlieferung in historisch differenten Situationen jeweils anders verstehen. Die Interpretation des Verstehens als hermeneutische Erfahrung zeigt jedoch, dass hierbei ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen Interpret und Text bzw. zwischen Gegenwart und Überlieferung gegeben ist. Auch der Erfahrungsbegriff Gadamers schließt an Hegel an und besteht in der am Modell der Enttäuschung orientierten Negation von Vormeinungen. Indem der Verstehende an der Überlieferung eine Erfahrung macht, werden seine Vormeinungen eines Besseren belehrt, wobei er nicht nur Einblick in die Wahrheit der Sache gewinnt, sondern auch in die Endlichkeit seines eigenen Wissens. Die Negativität der Erfahrung hat aber eine positive Kehrseite, welche in der Bestätigung der Tradition besteht, denn die Negation der gegenwärtigen Vormeinungen ist zugleich die Affirmation der verstandenen Überlieferung. Das Verstehen ist somit eine „Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war“18, es ist „Aneignung des Gesagten, daß es einem selbst zu eigen wird.“19 Gadamers spekulative Auslegung des Verstehens beschreibt also zugleich einen reflexiven Traditionsvollzug. Das Verstehen wird zu jener Aneignung der Überlieferung, in der die Tradition ihre Kontinuität auch unter den Bedingungen der Moderne sichert.20 Dieser reflexive Traditionsvollzug kann jedoch nicht mehr zwischen dem praktischen Vollzug von und dem theoretischen Bezug auf Tradition unterscheiden, was Gadamer sogar ausdrücklich fordert, wenn er die „Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr“21 propagiert. Implizit ist damit aber auch eine Gleichsetzung von Tradition und Geschichte ausgesprochen. Indem Gadamer durch die spekulative Bewegung des Verstehens jede geschichtliche Diskontinuität in der Kontinuität der Tradition aufhebt, setzt er Geschichte und Tradition einander gleich.22 Daher kann es im „geschlossenen Stromkreis des geschichtli-

–––––––––––––– 17 18 19 20

Gadamer 1990: 314. Gadamer 1990: 384. Gadamer 1990: 402. Vgl. Figal (2006a: 17): „die Wahrheit liegt [für Gadamer] nicht in der Unterbrechung, sondern in der Kontinuität, die nur durch die Unterbrechung in dem, was sie ist, hervorkommt.“ 21 Gadamer 1990: 287 (Hervorhebung im Original). 22 Vgl. Schulz (1970: 306): „Das geschichtliche Geschehen ist konkret die Tradition.“

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chen Lebens“23 keine wirkliche Diskontinuität geben. Gadamer kann einen echten Traditionsbruch gar nicht denken. Folgt man Gadamer, dann wäre demnach die Erfahrung der Geschichte die eines Sinngeschehens. Gerade die Unabschließbarkeit des Geschehens, die für Krüger den Inbegriff der Sinnlosigkeit darstellt, wird bei Gadamer positiv als die nie versiegende Quelle immer neuer Sinnproduktionen gedeutet. Indem seine Hermeneutik das Verstehen als ein Geschehen begreift, d.h. als etwas, das dem Menschen auf unverfügbare Weise widerfährt, soll zugleich auch die Bewegung der Geschichte als die spekulative Bewegung des Verstehens aufgefasst werden.24 Als Geschichte führt die Bewegung des Geschehens aufgrund ihrer Unendlichkeit die eigene Endlichkeit vor Augen. Als Tradition gibt dieselbe Bewegung Sinn und Halt durch die Zugehörigkeit zu ihr. Denn mit dem Verstehen der Überlieferung erlangt man zugleich eine partielle Einsicht in das eigene, geschichtlich bestimmte Sein. Weil nach Gadamer darauf vertraut werden darf, dass dieses Geschehen ein „Wahrheitsgeschehen“25 ist, kann man sich von der Geschichte getragen wissen. Was auch immer geschieht, es wird keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bedeuten können, sondern dem Alten neue Aspekte abgewinnen und sich mit diesem zu einem Gemeinsamen verbinden. Gadamer versucht folglich, das Problem der Geschichte durch ihre Gleichsetzung mit der Tradition zu lösen, denn alles Sinnlose wird so von vornherein ausgeschlossen. Doch dieser Lösungsversuch führt zu einem kontrafaktischen Traditionsbegriff.26 Denkt man Tradition als die inhaltlich völlig unbestimmbare Einheit alles Geschichtlichen, dann wird es unmöglich, einzelne Traditionen voneinander zu unterscheiden und inhaltlich zu bestimmen.27 Zudem führt die Gleichsetzung von praktischem Vollzug und reflexivem Bezug Tradition und Historie ad absurdum, denn wer wollte z.B. behaupten, dass der Althistoriker, der eine antike, längst ausgestorbene Religion zu verste–––––––––––––– 23 24 25 26

Gadamer 1990: 281. Vgl. Schulz 1970: 311. Gadamer 1990: 494. Gleiches gilt natürlich für den entsprechenden Geschichtsbegriff. Fellmann (1991: 11) wirft Gadamer ein „Wirklichkeitsdefizit“ vor, das in dem „Traum einer geschlossenen Bildungswelt, einer ursprünglichen Traditionswelt“ besteht, der „die Wirklichkeit in ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Realität weitgehend ausklammert.“ Nur aufgrund dieser Ausklammerung kann der Versuch, Tradition und Geschichte über das Verstehen gleichzusetzen, überhaupt Plausibilität suggerieren. 27 Auerochs (1995: 301) hebt dies deutlich hervor und kritisiert zu Recht die „Entdifferenzierung“ Gadamers.

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hen sucht, darum zu deren Anhänger werden müsse? Ferner kann Gadamers Geschehenshermeneutik weder einen wirklich kritischen Umgang mit der Überlieferung darstellen, noch die Tatsache einholen, dass auch vieles Falsche tradiert wird.28 Aber auch die für den konservativen Traditionsbegriff typische Gleichsetzung von Tradition und Religion, die uns bei Krüger begegnet, ist problematisch.29 Sie führt bei Krüger u.a. zu einer unreflektierten Spannung zwischen einem homogenen Traditionsbegriff, wenn er von der „Entmächtigung der Tradition“ spricht, und einem pluralen Traditionsbegriff, wenn er sagt, „wir stehen auch heute noch in Traditionen“.30 Positiv lässt sich an beiden Konzeptionen verdeutlichen, dass die Sinnerfahrung in ihrer Qualität wesentlich durch das Verhältnis von Tradition und Geschichte determiniert wird. Krüger und Gadamer stehen für die beiden Möglichkeiten, die Geschichte entweder als Destruktion oder als Produktion von Sinn zu erfahren. Begreift man die Geschichte als traditionszersetzend, dann stellt sie sich als Sinnkatastrophe dar, sieht man in ihr hingegen das Geschehen, in dem sich die Tradition selbst fortpflanzt, erscheint sie als ein Sinngeschehen. Erkennt man jedoch den grundsätzlich pluralen Charakter des Traditionsphänomens an, dann kann man die Möglichkeiten der Sinnerfahrung in ihrer Abhängigkeit von Tradition und Geschichte noch genauer differenzieren. Dies setzt voraus, dass man Tradition nicht vorschnell mit Religion oder Geschichte identifiziert, sondern zunächst ihre allgemeine Struktur klärt.

II Traditionstheorien denken Tradition gewöhnlich von der Weitergabe aus, da sie sich an der etymologischen Bedeutung des Begriffs orientieren.31 Aber Tradition geht nicht im Tradieren auf, denn jede traditionale Weitergabe setzt bereits eine Wiederholung voraus. Auch lassen sich zyklisch praktizierte Riten, Bräuche, Feste und Feiern primär nur von der Wiederholung und nicht von der Weitergabe aus begreiflich machen, da diese im Regelfall nicht zum Zweck ihrer generationsübergreifenden Vermittlung ausgeübt werden. Damit eine Wiederholung traditional ist, und nicht nur –––––––––––––– 28 Vgl. R. Sondereggers Kritik an Gadamers ‚Vorgriff der Vollkommenheit‘ (2003: 256ff.). 29 Zur Kritik des konservativen Traditionsbegriffs siehe Dittmann 2004. 30 Krüger 1947: 32f. (Hervorhebung von mir). 31 Für einen Überblick siehe Wiedenhofer 1990 und 1997.

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eine individuelle Gewohnheit oder gar eine Zwangshandlung, muss sie sich auf eine bestimmte Vorgabe beziehen. Eine solche traditionale Vorgabe ist ihrem Wesen nach nicht individuell, sondern wird übernommen und gemeinschaftlich geteilt. Sie hat einen verbindlichen Charakter, der nicht selten einen Anspruch auf Wahrheit einschließt. Äußerlich betrachtet manifestieren sich traditionale Vorgaben in der Regel als bestimmte Handlungs-, Sprech- oder Denkmuster. Aus der Perspektive desjenigen, der in einer Tradition steht, ist die Vorgabe dasjenige, was seiner traditionalen Lebensform ihren Sinn gibt.32 Somit beruht Tradition ihrem Wesen nach auf der Wiederholung einer sinngebenden Vorgabe. Da diesen Wiederholungen eine bestimmte Regelmäßigkeit zu Eigen ist, wir es also mit Wiederholungen von Wiederholungen zu tun haben, konstituieren Traditionen auf diese Weise die Stabilität von sinngebenden, gemeinschaftlichen Lebensformen. Traditionen sind besondere Passformen von Mensch und Welt, sie sind spezifische Weisen des In-der-Welt-seins. Während „Tradition“ ein Kontinuitätsbegriff ist, bezeichnet „Geschichte“ wesentlich ein Diskontinuitätsphänomen. Da Differenzen im Geschehen, die selbst wieder vergehen, keine Geschichte konstituieren können, kann es Geschichte nur dort geben, wo sich im Geschehen etwas dauerhaft verändert. Doch ist ihr Prinzip als bloße Veränderung unterbestimmt, denn geschichtliche Veränderung lässt nie einen bereits dagewesenen Zustand als identischen wiederkehren. Die im Gegensatz zur Tradition als das Reich des Unwiederholbaren zu charakterisierende Geschichte gründet somit wesentlich in einer Neuerung. Dabei muss der Begriff der Neuerung als ein neutraler Strukturbegriff verstanden werden, der nicht mit einem qualitativen Progress gleichgesetzt werden darf. Neuerungen im Geschehen, die auf die Wiederholungspraxis einer Tradition wirken, werden durch diese bewahrt. Insofern sind Traditionen Medien der Bewahrung von Geschichte, und nur aufgrund dieser Traditionalität der Geschichte ist es z.B. möglich, spezifische Geschichten (Geschichte der Philosophie, der Bundesrepublik, der Eisenbahn usw.) zu unterscheiden. Die Traditionalität der Geschichte konstituiert mit der Einheit einer besonderen Geschichte zugleich die Pluralität der Geschichte als solcher.33 Folglich ist zu fragen, ob die Erfahrung der Geschichte nicht ––––––––––––––

32 Zum Begriff des Sinns siehe Figal 2006b. 33 Vgl. Krüger (1948: 13): „So setzt die Geschichte als einheitlicher Zusammenhang selbst eine Tradition voraus; bricht die Tradition irgendwo ganz ab, dann beginnt eine ganz andere Geschichte.“

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durch verschiedene Traditionstypen auf eine je eigentümliche Weise vorgeprägt wird. Tatsächlich lassen sich zwei grundlegende Gattungen von Traditionen anhand diametraler Wiederholungsintentionen unterscheiden. Zielt die Wiederholung der Vorgabe nämlich auf eine möglichst identische, d.h. bewahrende Wiederholung, dann haben wir es mit einer strukturkonservativen Traditionsform zu tun, wie es z.B. bei den auf Kulten, Riten, Bräuchen, Feiern oder Spielen basierenden Traditionen der Fall ist. Am Beispiel sportiver Spiele zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass strukturkonservative Traditionen ihre Wiederholungen nach bestimmten „Spielregeln“ praktizieren, welche bewahrt werden müssen, damit überhaupt authentisch wiederholt werden kann. Würde man vor jedem Fußballspiel die Regeln neu aushandeln müssen, dann könnte sich kein einheitliches Spiel und damit auch keine Tradition desselben konstituieren. Natürlich werden sich auch strukturkonservative Traditionsformen gezwungen sehen, ihr Regelwerk im Laufe der Geschichte zu verändern. Aber dies sind erzwungene Adaptionsleistungen an neue geschichtliche Situationen, die nicht in der Wiederholungspraxis selbst intendiert sind. Anders ist es bei den strukturprogressiven Traditionen. Diese müssen ihre Spielregeln immer wieder neu bestimmen, was kein Mangel ist, sondern ihrem eigentlichen Sinn zugehört. Hier wird nicht eine ewige Wahrheit zugespielt, die bereits da ist, und die man nur sich anzueignen und symbolisch auszudrücken bräuchte. Vielmehr müssen in strukturprogressiven Traditionsformen, wie es z.B. Philosophie und moderne Kunst sind, die darzustellende Sache und ihre Darstellung, die Wahrheit und der Weg zu ihr, immer wieder erst in einer reflexiven Bewegung zueinander finden. Die Wiederholung der Vorgabe zielt hier nicht auf ihre Bewahrung, sondern auf ihre Transformation. Sie wird als Material und Ausgangspunkt einer Bearbeitung genommen. Identische Wiederholung eines Vorgegebenen wäre bei strukturprogressiven Traditionen zumindest auf Dauer nur um den Preis einer Entfremdung vom eigentlichen Anspruch möglich. Das Beispiel der modernen Kunst führt dies klar vor Augen, denn eine Kunst im Zeitalter der Moderne, die immer nach dem gleichen Muster verführe, würde man bald als bloßes Handwerk abwerten müssen. Bei der transformativen Wiederholung hat die Vorgabe also den Charakter der Möglichkeit und nicht der Notwendigkeit, wie bei der bewahrenden Wiederholung. Die Begriffe „strukturkonservativ“ und „strukturprogressiv“ sind als neutrale Beschreibungen von traditionalen Strukturen zu verstehen, die nicht mit den Begriffen „konservativ“ oder „progressiv“ identisch sind.

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Alle Ideologien, auch die revolutionärsten, sind als Traditionen strukturkonservativ, da ihnen, wie Krügers Kritik an den teleologischen Geschichtsdeutungen zeigt, eine inhärente Negation der Geschichte, ein Festhalten am Sinn der Gegenwart, zugehört. Es soll also nicht darum gehen, eine Form gegen die andere auszuspielen. Zudem sind beide Begriffe – wie alle hier entworfenen – idealtypisch, d.h. unter faktischen Traditionen wird man immer auch solche finden, die sich nicht exakt einordnen lassen. Zwischenformen und Verschiebungen sind immer möglich. Der Sinn des Idealtypus besteht darin, Ordnungskriterien bereitzustellen, welche als Kategorien für die Interpretation erst das Verständnis des Faktischen erlauben. So erschließt sich die Individualität einer faktischen Tradition gerade aus ihrer Abweichung zur idealtypischen Kategorie.34 Traditionale Wiederholungen sind nie völlig identisch, weil sie in stets neuen Situationen vollzogen werden müssen. Aber erst wenn diese Differenzen signifikant und dauerhaft werden, zeigt sich die Geschichtlichkeit einer Tradition. Die Auswirkungen derselben auf die Sinnerfahrung im traditionalen Raum lassen sich in idealtypische Stadien untergliedern, von denen im Folgenden der Übersichtlichkeit wegen nur zwei angeführt werden sollen: 1. Das Stadium der Sinngebung, in welchem die jeweilige Tradition den Sinn einer Lebensform konstituiert und authentisch vollzogen wird. Die in der Tradition Stehenden haben den Gehalt der Tradition verinnerlicht und begreifen ihn als festen Bestandteil ihrer eigenen Identität. 2. Das Stadium des Sinnentzugs, das keine notwendige, aber eine stets mögliche Entwicklung von Traditionen bezeichnet. Bedingt durch die sich ablösenden Generationen und den geschichtlichen Wandel allgemein befinden sich Traditionen in der Gefahr, in einen unauthentischen Modus zu geraten. Nicht zuletzt verändert Tradition selbst die Welt – als Teil derselben –, indem sie die kommende Generation auf ein selbstverständliches Wissensniveau erhebt, das sich die vorangehende erst erarbeiten musste. Die Antworten, welche die Alten vermitteln, entsprechen daher nicht mehr unbedingt den Fragen, welche die Jungen bedrängen. So kann aus einer Identität stiftenden Sinnquelle die Selbstverständlichkeit äußerer Formen werden, deren sinnentleerte Wiederholung bald als Last empfunden wird. Im vorrevolutionären Stadium des Sinnentzugs werden also noch die jeweiligen Riten und Bräuche aus Gründen der Konvention und Pietät prak-

–––––––––––––– 34 Zum Begriff des Idealtypus vgl. Weber 1968: 190ff.

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tiziert, aber den äußeren Handlungen und Reden entspricht keine Innerlichkeit mehr, was die Erfahrungssituation gänzlich verändert.35

III Wir haben nun zwei Traditionsgattungen (strukturkonservativ und strukturprogressiv) auf Seiten der Traditionalität der Geschichte und zwei Traditionsstadien oder -modi (Sinngebung und Sinnentzug) auf Seiten der Geschichtlichkeit der Tradition bestimmt. Wie die Dialektik von Tradition und Geschichte die sinnbezogene Geschichtserfahrung prägt, lässt sich damit anhand der folgenden vier Möglichkeiten darstellen. 1. Strukturkonservative Tradition im Stadium der Sinngebung. Die Geschichte wird hier erfahren als Sinnbestätigung. Im Falle einer teleologischen Tradition ist diese in der Lage, die Differenzen im Geschehen in ihren Sinnhorizont einzugliedern. So erscheinen Veränderungen als die notwendigen Schritte auf dem Weg zum festgesetzten Ziel. Sie stehen der Wiederholungspraxis nicht nur nicht im Wege, sondern werden sogar als deren Bestätigung erfahren. Nicht nur revolutionäre Traditionen domestizieren die Geschichte durch teleologische Deutung nach ihrem Zweck. Auch im Christentum gibt es beispielsweise die „Betrachtung der Geschichte als fortschreitender Verwirklichung des göttlichen Heilsplans“36. Im Falle von Festen, Feiern, Riten und Bräuchen, die als zyklische Wiederholungen den Jahreslauf begleiten, wird die Geschichte als jene Differenz erfahren, welche der Wiederholung als solcher selbst zu Eigen ist. Geschichte ist hier also weitgehend kalendarisch. Bei Wiederholungen, die für das Individuum singulär sind, wie z.B. den Initiationsriten, markieren diese die lebensgeschichtliche Differenz in ihrer Bedeutsamkeit und helfen dem Individuum, die Phase des Übergangs zu bewältigen. Mit der Wiederholung der Vorgabe, d.h. des jeweiligen Rituals, wird zugleich Lebensgeschichte vollzogen. Tradition und Geschichte gehen dabei harmonisch ineinander über. 2. Strukturprogressive Tradition im Stadium der Sinngebung. Auch hier sind Tradition und Geschichte miteinander versöhnt, jedoch nicht dadurch, dass das Geschehen einen vorgegebenen Sinn bestätigt, sondern dadurch, dass es als Herausforderung, als zielsetzend, als Impuls zu seiner kreativen Verarbeitung verstanden wird. Die so versöhnte Geschichte ist ––––––––––––––

35 Eine ähnliche, ebenso konzise Beschreibung findet sich in Schaeffler 1980: 39ff. 36 Funkenstein 1965: 11.

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der Motor der strukturprogressiven Traditionsformen. Geschichte wird folglich erfahren als ein Sinngeschehen. Gadamers Begriff des Sinngeschehens kann jedoch nur übernommen werden, wenn man zugleich seine Geschehenshermeneutik und ihre antisubjektiven Implikationen zurückweist. Für strukturprogressive Traditionen ist die Selbstbesinnung des Individuums wesentlich und kein „Zerrspiegel“37. Der Begriff des Sinngeschehens ist darum neu zu bestimmen. Das Geschehen gibt hier als differenzierendes Geschehen der traditionalen Praxis ihren Sinn, und nicht als bloße Kontinuität. Die Vorgabe wird nicht nur gedeutet und ausgelegt, sondern auf gleicher Augenhöhe verarbeitet, d.h. verändert, ergänzt, umgestaltet, kombiniert, selektiert, invertiert und kritisiert. Was vorgegeben ist, genießt keine sakrosankte Verbindlichkeit. Die Freiheit der Reflexion und des eigenen Weiterführens wird sogar dadurch erst eröffnet, dass es für diese Traditionen gar keine einheitliche Vorgabe gibt, sondern eine Vielzahl von Perspektiven, eine Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit für die weitere Tradition fruchtbar werden. Da strukturprogressive Traditionen also von der Verarbeitung von Differenzen leben und auch auf solche zielen, beschleunigen sie die Geschichte wesentlich. 3. Strukturkonservative Tradition im Stadium des Sinnentzugs. Krügers Beschreibung der Geschichte als Sinnkatastrophe hat hier ihren Platz. Die Geschichte wird als der Antagonist der Tradition erfahren, da sich diese nicht mehr an die sich wandelnde Welt anpassen kann. Es geschieht zuviel und zu Grundsätzliches, so dass die traditionalen Adaptionsleistungen überfordert sind, die alte Wahrheit in die neue Zeit zu übersetzen. Der Mensch steht nun zwischen einer verlorenen Vergangenheit und einer noch ungewissen Zukunft, genau so, wie Krüger es beschrieben hat. 4. Strukturprogressive Tradition im Stadium des Sinnentzugs. Georg Heym notiert am 6. Juli 1910 in sein Tagebuch: „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterlässt. [...] Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“38 Heyms Tagebucheintrag, in dem er ––––––––––––––

37 Gadamer 1990: 281. 38 Heym 1960: 138f.

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noch gegen die Regierung und den Kaiser polemisiert, dokumentiert nicht nur einen individuellen Seelenzustand, sondern lässt sich auch als eine Bemerkung zur politischen Lage der Vorkriegszeit begreifen. Politik gehört zu den strukturprogressiven Traditionen, da ihr die ständige Neujustierung der für alle geltenden „Spielregeln“ wesentlich ist, insbesondere in Form der Gesetzgebung. Somit spiegeln Heyms Empfindungen eine Geschichtserfahrung wider, die als Sinnentleerung charakterisiert werden kann. Dabei verfällt die Tradition in eine innere Erstarrung, ihre Möglichkeiten scheinen erschöpft, die kreative Verarbeitung der Welt kommt zum Erliegen. Folglich sehnt Heym zur Rettung mehr Geschichte, mehr Geschehen, mehr Differenzen herbei, während Krüger seine Hoffnungen auf den neuen Vollzug einer Tradition setzt, welche wieder ein Bleibendes und Feststehendes garantieren soll. Während also bei der Entfremdung der strukturkonservativen Traditionen zu viel geschieht, geschieht bei der Entfremdung der strukturprogressiven Traditionen zu wenig. Was der Idealfall der einen Traditionsform ist, ist der Verfall der anderen. Krügers Furcht vor Wahnsinn oder Selbstmord, Gadamers Vertrauen auf ein Wahrheitsgeschehen, Heyms Sehnsucht nach dem Rausch der Begeisterung – dies alles zeigt die Vielschichtigkeit der pränarrativen Geschichtserfahrung, deren traditionale Relativität durch die Unterscheidung in Sinnbestätigung, Sinngeschehen, Sinnkatastrophe und Sinnentleerung noch deutlicher herausgestellt werden konnte. Die Dialektik von Tradition und Geschichte lässt sich weder in einer Einheit aufheben noch in einem Dualismus verfestigen. Sie erweist sich vielmehr als ein komplexes Geflecht von Wechselwirkungen, das es zu entfalten und nicht zu reduzieren gilt. Natürlich lassen sich im obigen Raster nicht alle Geschichtserfahrungen verorten. Auch der Umstand, dass wir in mehreren, heterogenen Traditionen zugleich stehen können, verlangt eine Verfeinerung der Reflexion und des begrifflichen Apparates. Doch dies kann nur eine detaillierte Theorie der Tradition in Angriff nehmen. Traditionstheorie, von der Philosophie noch stiefmütterlich behandelt, geht nicht schon in Geschichtsphilosophie auf, sondern ist eine eigenständige Aufgabenstellung. Tradition ohne Geschichte ist leer, Geschichte ohne Tradition ist blind.

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Die Geschichte geht in Spuren Verfolgen, Neudeuten und Stolpern*

JOHANNA SPRONDEL „Die Deutung der Geschichte gewann mein Vater aus seinen eigenen Erfahrungen“1, notiert Joachim Fest in seiner 2006, wenige Tage nach seinem Tod erschienenen Autobiographie Ich nicht. Die Geschichte scheint somit als von Faktoren der subjektiven Erfahrung deutbares, ja mithin konstituierbares Gebilde. Darstellung von Geschichte also als ein Feld, in dem sich Fiktum und Faktum kreuzen? Der vorliegende Beitrag setzt es sich zum Ziel, sich dem Bereich der Erfahrung und der Erfahrbarkeit von Geschichte und damit auch deren Wechselverhältnis unter dieser Fragestellung zu nähern. Konkret soll dies mithilfe der Spur (trace) geschehen: der Spur, die hinterlassen wird, die Zeugnis des Vergangenen ist und doch erst im Lesen entsteht – was Geschichte und Geschichtsschreibung in die Nähe der Autorschaft rückt. Das Erfahren wird somit als Schlüssel zum Lesen von Spuren und gleichsam als Grundlage für ihre Beschreibung und somit für das Erzählen verstanden. Doch wenn man im Ausgang von Paul Ricœur von einem Gehen in Spuren spricht, das sich in der Geschichte und der Geschichtsschreibung vollzieht und in eben diesem Feld Vergangenheit, Gegenwart und zukünftige Erwartung zu konstruieren vermag, so stellt sich die Frage, wie dieses Gehen in den verschiedenen Vollzugsformen gedacht werden muss. Es sollen daher im Weiteren drei Formen des Gehens, drei Gangarten in Spuren beleuchtet werden: das Verfolgen von Spuren, das Neudeuten von Spuren und das Stolpern in Spuren. Diese drei Grundmodelle werden an drei Beispielen verdeutlicht: James Joyces Roman Ulysses, dem Topos ‚Denkmal‘ und Johannes R. Bechers Ballade Die Kinderschuhe aus Lublin. Zunächst jedoch will das theo––––––––––––––

* 1

Für wohlwollende Kritik und erhellende Gegenfragen danke ich Glenn W. Most. Fest 2006: 47.

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retische Feld abgesteckt sein, in dem sich die weitere Analyse bewegen soll.

Einige Überlegungen zur Spur Spricht man von der Spur, so liegt es nahe, verwandte Phänomene wie das des Symptoms oder des Indizes mitzudenken. Wird eine Spur aufgefunden, so muss eine Interpretation im jeweiligen Kontext erfolgen, in dessen Rahmen sie sodann deutbar ist – ganz ähnlich einem Symbol2, in dem sich kulturelle Prozesse, in denen die gesamte Erfahrung artikuliert wird, zeitigen.3 Doch muss die Spur als diachroner Interpretant4 gesehen werden, was sie ein Stück weit von Symptomen und Indizien entfernt, die im Jetzt verortet sind und deren Interpretation einzig zu einer Einordnung vor dem Hintergrund des Vergangenen führt (über gewonnene Erfahrung im Umgang mit ihnen). Indizien und Symptome lassen uns lediglich aufmerken (im Sinne einer attentio) und so nach dem suchen, was wir als Spur fassen. Doch was sagt dies über die Spur aus, wenn wir uns ihr über Indizien, Symptome und versteckte Hinweise nähern müssen, wenn wir sie suchen und dann lesen müssen? Bis eine genauere Interpretation erfolgt ist, figuriert ein Symbol als handlungsinterner Interpretant. Versteht man das Symbol als Interpretanten, so kann es ein Symbol nicht an sich geben, sondern nur innerhalb einer Handlung. Ebendies muss auch für die Spur angenommen werden. So, wie sich aus dem Beschreibungskontext des Symbolnetzes zugleich die Regeln ergeben, nach denen Einzelhandlungen beschrieben und interpretiert werden müssen, sind es auch mit Blick auf die Spur vorangegangene Erfahrungen und aus ihnen resultierende Erwartungen und Kenntnisse, die das Lesen der Spur in ihrem jeweiligen Kontext ermöglichen – und so mithin die Spur als Spur kennzeichnen und erkennbar werden lassen. Dies wiederum bedeutet, dass der Spur zum einen eine erkenntnistheoretische –––––––––––––– 2

3 4

Vgl. hierzu die ursprüngliche Bedeutung des Symbols als smbolon, z.B. bei Picht 2 1992: 543f. Vgl. hierzu den von Cassirer entworfenen Symbolbegriff, der jeglichen menschlichen Ausdruck der Wirklichkeit als Symbolik wertet. Cassirer 101994; vgl. auch Cassirer 1996: 47–51 und Cassirer 81994: 201–230. Ist vom Interpretanten und nicht Interpretanden (d.h. etwas, das interpretiert werden muss) die Rede, so klärt sich dies aus dem Wechselverhältnis, in dem auch das Symbol steht. Erst auf der Ebene der Rezeption wird das Symbol von außen betrachtet und schließlich interpretiert und somit zum Interpretanden.

Die Geschichte geht in Spuren

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Funktion5 zukommen kann, jedoch zum anderen auch eine erkenntnispraktische6; dass also, wenn man das Moment des Indizierens als sich im Jetzt zeitigendem Verweis auf die Spur fasst, diese als Doppelfunktion zu sehen ist: Sie zeigt auf und verweist im Aufzeigen auf das, was nicht sichtbar ist – wird somit zum Indiz. Sie ist so als Form von Zeichen, als Begriffsnetz (im Sinne von de Saussures Begriff einer paradigmatischen Ordnung7) zu fassen, das sich semiotisch deuten lässt.8 Über die Spur können insofern Unbestimmtheitsstellen oder auch Leerstellen (Iser) deutlich werden, was für die folgenden Überlegungen zentral sein wird. Für das Moment der Zeitlichkeit heißt dies folgendes: Vermittels der Spur wird Vergangenes vergegenwärtigt, und darüber hinaus wird aufgrund des Lesens und Interpretierens der Spur auf Zukünftiges hin in ihr eine Kreuzung aller drei zeitlichen Ebenen offenbar.9

Die Spur vor dem Hintergrund des Erzählens – Paul Ricœur Inwiefern nun die Trias Erfahrung, Spur und Literatur und das Zusammenwirken dieser Momente vor der Folie der Unbestimmtheitsstellen oder Leerstellen als gewinnbringend gewertet werden kann, soll an der näheren Auseinandersetzung mit Paul Ricœurs Zeit und Erzählung (1983–85) verdeutlicht werden. Hier setzt sich Ricœur mit der Geschichtskonstruktion durch das Lesen und narrative Ausdeuten von Spuren auseinander. Diese Beschäftigung schließt an seine Konstruktion des Mimesis-Zirkel an, der eine phänomenologische Erzähltheorie birgt, deren vordergründiges Ziel es ist, Zeitaporien zu überwinden. Implizit entwickelt er damit zugleich eine Geschichtstheorie, die auf dem Gedanken fußt, dass wir unsere jeweilige Positionierung in der Welt durch Erzählen bestimmen. Zentral ist hierbei die Überlegung, dass unser Geschichtsbild davon mitdeterminiert ist, wie wir als Subjekte Erfahrung rekapitulieren und wie wir sie im Erzählen weitervermitteln; dass unser Geschichtsbild damit auch immer unser –––––––––––––– 5 6 7 8 9

Vgl. hierzu den Spurbegriff von Emmanuel Levinas (1983). Vgl. Ginzburgs Indizienparadigma (Ginzburg 1995: 31ff.). Saussure 1967. Vgl. hierzu Krämer 2007: 155–181. Diese Lesart der Spur erinnert mit Recht an die Augustinische Reflexion über Zeit, in der es dem Geist im nunc zukommt, Zeit aufzuspannen und somit aus der Gegenwart über die Erfahrung (die in der Erinnerung, memoria, eingeschrieben ist) „Vergangenheit“ und über die Erwartung „Zukünftiges“ zu generieren. Vgl. Augustinus’ Betrachtungen in den Confessiones X und XI (Augustinus 1987).

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Selbstbild bestimmt, liegt auf der Hand.10 Der dreistufige Mimesis-Zirkel beschreibt auf seiner ersten Stufe (Präfiguration – Mimesis I) den Bereich des Handelns und der lebensweltlichen Erfahrung: Ein in der reellen Welt existentes Dasein, der Aktor, nimmt die Lebenswelt wahr, agiert in ihr und versteht sie somit. Diese Wahrnehmung ist selektiv, denn wir nehmen wahr und verstehen etwas aufgrund unserer Kenntnisse von der „Semantik der Handlung“11. [E]ine Handlung nachahmen oder darstellen heißt zunächst, ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln zu haben: von seiner Semantik, seiner Symbolik und seiner Zeitlichkeit. Von diesem Vorverständnis, das dem Dichter und seinem Leser gemeinsam ist, löst sich die Fabelkomposition und damit die textuelle und literarische Ebene ab.12

Dieses Vorverständnis speist sich aus dem menschlichen Erfahren. Auf zweiter Stufe (Konfiguration – Mimesis II) steht nun das Moment der Zusammenführung von Erfahrenem in Form eines Textes im Zentrum. Diese Konfiguration von Erfahrungen geschieht nach den Kriterien der Aristotelischen Fabelkomposition, und Ricœur versteht ‚Text‘ so, dass „über den Sinn der Sprache hinaus schließlich die Welt“13 vermittelt wird. Auf der dritten Stufe des Zirkels (Refiguration – Mimesis III) ist die Rolle des Lesers/Rezipienten zentral, rezipiert er doch die konfigurierte Erfahrung (Mimesis II) und führt sie zurück in den Bereich des Lebensweltlichen und der Handlung (Mimesis I). Eben dies kann aber zur Herausforderung an den Leser werden, wenn ein Text unzureichend konfiguriert ist oder Voraussetzungen hinsichtlich des Kenntnisstandes des Lesers annimmt, die dessen Wissen und/oder Erfahrung übersteigen. Zugleich wird hier die Doppelfunktion der Erfahrung deutlich: Ist sie zum einen Grundlage für ein Verstehen und Lesen von Welt, ebenso wie von Texten und Spuren – und somit Schlüssel zum Erzählen –, so wird sie zum anderen aufgrund der Rezeption von Texten erweitert. ––––––––––––––

10 Vgl hierzu Schapp 31985: 85. Schapp geht davon aus, dass der Mensch immer schon in Geschichten verstrickt ist, wobei das Subjekt eine passive Rolle einnimmt: Ihm „widerfährt“ die Geschichte – erst dann wird sie erzählt. „Verstricktsein“ wird also als „Vorgeschichte“ aufgefasst, die den Hintergrund zur Erzählung einer Begebenheit ausmacht. Diesen bildet nicht nur ein einzelnes Erlebnis des Erzählers, sondern die „lebendige Verschachtelung“ aller erlebten Geschichten des Subjektes. Durch den Akt des Erzählens kommt das „verstrickte“ Subjekt zu Tage, wird also bestimmt. So formuliert Schapp pointiert: „Die Geschichte steht für den Mann.“ (Schapp 31985: 100) 11 Ricœur 1988: 103. 12 Ricœur 1988: 103. 13 Ricœur 1988: 122.

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In seinen weiteren Überlegungen erweitert Ricœur den ReferenzBegriff hinsichtlich der Geschichtsschreibung. Doch auch hier hat diese vermittels des Moments der „gekreuzten“ oder „überkreuzten Referenz“ und der „Spur“ für die fiktionale Erzählung Bedeutung. Für den Historiographen ist die Spur aufgrund ihres Mischcharakters eine notwendige „Vorbedingung für alle Schöpfungen der historischen Praxis“14, sie ist „Zeichen und Wirkung in eins“15, auch als Verhältnis von Ursache und Wirkung verstanden: Vergangenes menschliches Handeln wird an einem Gegenstand in der Gegenwart ables- und wahrnehmbar (Wirkung), weil diese Materie von Menschen in der Vergangenheit „markiert“ wurde (Zeichen/Ursache). So bildet die Spur die Verbindung von der Vergangenheit in die Gegenwart, von der Ursache zur Wirkung, und dokumentiert beides in der Gegenwart. Indem diese Markierung im Jetzt wahrgenommen wird, erfüllt die Spur gegenüber der Vergangenheit eine „Vertretungs- oder Repräsentanzfunktion“16, die durch „indirekte Referenz“ gekennzeichnet ist, welche „typisch ist für Erkenntnisse durch Spuren“17. Die Spur arbeitet so mit zwei Verweisungsmodi: der eine ist empirisch wahrnehmbar, der andere ergibt sich aus ihrer Repräsentationsfunktion. Der „repräsentierenden“ Spur muss der Historiker folgen, wenn er die Vergangenheit rekonstruieren will, sie ist die „Signifikanz einer vollendeten Vergangenheit.“18 Vergangenheit ist so immer rezipierte, vermittelte Vergangenheit, und Geschichte als eine Darstellung der Vergangenheit kann nie etwas anderes sein als ein Konstrukt von dieser. Hinsichtlich der Überführung des Konstrukts zur Re-Konstruktion und des Akts der Konfiguration in der Historiographie knüpft Ricœur terminologisch an die fiktionale Arbeit des Romanautors an, dessen Arbeit auf die Refiguration zielt. Um der Bedeutung einer empirischen Aussage in der Vergangenheit folgen zu können, sie rück-verfolgen (re-tracer), sie ver-gegenwärtigen19 zu können, muss der Historiker mit seiner Phantasie der Spur folgen. Er muss seine „Interpretationen am Signifikanzcharakter der Spur festmachen“20, um die „Bindeglieder“ zu konstruieren, „die die Deckung des –––––––––––––– 14 15 16 17 18 19 20

Ricœur 1991: 186. Ricœur 1991: 193. Ricœur 1991: 223. Ricœur 1991: 223f. Ricœur 1991: 192. Ricœur 1991: 298. Ricœur 1991: 297f.

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Existentialen mit dem Empirischen in der Signifikanz der Spur bewirkt.“21 An ebendiesem Punkt der Theorie wird das offenbar, was eingangs als Movens für eine Auseinandersetzung mit der Spur vor dem Hintergrund der Geschichte und Erfahrung aufgezeigt wurde: In der Spur und im Interpretieren der Spur einen sich Erfahrung und Geschichte, werden Fiktum und Faktum zu einander unterstützenden Momenten, die zentral ineinandergreifend Geschichte(n) zum Gegenstand des Verstehens machen. Denn die Konfiguration bildet auch für die Geschichtsschreibung gleichsam den Angelpunkt, da diese die Phasen des kausalen Erklärens und Verstehens durchläuft.22 Aber der fiktionale Akt des Erzählens erfolgt erst mit der Darstellung des Vergangenen als Analoges:23 Die Erzählung modelliert den Zustand des „Sein, wie …“.24 So kreuzt sich der Akt des historischen mit dem des fiktionalen Erzählens, weshalb Ricœur von einer „überkreuzten“ oder „gekreuzten“ Referenz von fiktionaler und historischer Erzählung spricht.25 Dieser letzte Akt des retracer vollendet die Spur als „datiertes Dokument“, das gleichsam die Refiguration der Vergangenheit darstellt. Und die Erfahrung ist es, die den Akt des retracer ermöglicht.

Verfolgen von Spuren – der 16. Juni 1904 Dieses Konstruieren eines datierten Dokumentes soll als Verfolgen von Spuren an einem ersten Beispiel, dem Ulysses26 von James Joyce, verdeutlicht werden. Der erstmals zusammenhängend im Jahr 1922 erschienene Roman wird vom Autor selber zwischen zwei Polen verortet, die ihn zu einem mythopoetischen Werk machen, das im Spiel mit historischen Fakten und der realistischen Beschreibung eines erfundenen Alltags des Jahres 1904 aufgeht. Diese zwei Pole, die gleichsam Antike und Moderne einander gegenüberstellen und im Roman selber immer wieder miteinander in ––––––––––––––

21 Ricœur 1991: 200. 22 Ricœur 1991: 222–241. 23 Im Ausgang von Hayden Whites Tropologie und Fabelverbindung, vgl. Ricœur 1991: 241ff. 24 Ricœur 1991: 250. 25 Ricœur 1991: 294ff. 26 Ulysses ist die im englischsprachigen Raum gängige, aus dem Lateinischen übernommene Form des griechischen Namen Odysseus. Zu Recht macht Jennifer Levine darauf aufmerksam, dass dieser Titel gewissermaßen eine Signalwirkung habe, die es unmöglich macht, den Roman unabhängig von der antiken Tradition zu sehen. Vgl. Levine 22004: 122.

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einen Diskurs treten, sind der „Grundriss Odyssee“ und das Streben nach einer Transformation des Mythos Odyssee „sub specie temporis nostri“: I am now writing a book […] based on the wanderings of Ulysses. The Odyssey, that is to say, serves me as a ground plan. Only my time is recent time and all my hero’s wanderings take no more than eighteen hours.27 It is an epic of two races (Israelite–Irish) and at the same time the cycle of the human body as well as a […] storiella of a day (life). The character of Ulysses always fascinated me […]. It is also a sort of encyclopedia. My intention is to transpose the myth sub specie temporis nostri.28

Dieses Zusammenspiel bildet die Grundlage dafür, den Ulysses als einen Roman zu lesen, in dem das Nachgehen auf vielfältige Weise möglich ist. Es ergibt sich eine detaillierte Beschreibung Dublins durch Joyce: Er verlegt die Handlung in eine von ihm erlebte Zeit, wodurch die Handlungen der Charaktere authentisch und für damalige Leser nachvollziehbar sind.29 Joyce versucht diese Authentizität dadurch zu erreichen, dass er mit historischen Fakten und Zitaten operiert, die als Referenzen zu verstehen sind – also durch das Entwickeln einer chronologischen Zeit Anleihen bei der geschichtswissenschaftlichen Methodik macht. So ließe sich konstatieren, dass James Joyces Ulysses eine realistische Darstellung des Alltages in Dublin im Sommer des Jahres 1904 anstrebt, gemäß der Maxime „[i]m Ulysses [...] nahe an der Wirklichkeit zu bleiben.“30 Das Vorgehen des Autors ermöglicht es, allein aufgrund der Hinweise, die ihre Verankerung in der Historie haben oder sich aus dem durch den Autor entworfenen Bezugssystem ergeben, das Datum zu rekonstruieren, an dem die Handlungen des Ulysses stattfinden; und zwar noch vor Nennung dieses Datums in der 10. Episode „Wandering Rocks“: „Miss Dunne clicked on the keyboard: – 16 June 1904.”31 Zwar kursieren in der Joyce-Forschung vielerlei Hinwei––––––––––––––

27 Zitiert nach Budgen 1960: 15. Hervorhebung JS. 28 Ellmann/Gilbert 1966: 146. Hervorhebung JS. 29 Dass Joyce bereits in der präzisen Ortsbeschreibung Dublins eine Parallelisierung zur Odyssee sah, legen Kenner (1982: 43) und Gilbert (1952: 87) nahe, wenn sie annehmen, dass auch der antike Rezipient vom „Wiedererkennungseffekt geschmeichelt“ gewesen sein muss. Unabhängig vom spekulativen Charakter dieser Annahmen (deren Grundlage in der Odyssee bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. durch Eratosthenes widersprochen wurde) bleibt die Frage nach der Mächtigkeit der Zahl der Odysseeleser, die die vermeintliche Route hätten wieder erkennen können. 30 Power 1996: 126. 31 Joyce 1986: 10.228. Die erste Zahl gibt das Kapitel an, die zweite die Zeile nach der Gabler-Zählung.

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se, die ein solches Unternehmen als wahren historiographischen Akt erscheinen lassen, doch es soll an dieser Stelle eine (Re-)Konstruktion des Datums mit einfachen Mitteln verdeutlicht und so, mit Ricœur gesprochen, der Leser als Spuren-Leser im besonderen Sinne gekennzeichnet werden, der im Akt der Refiguration an dieser Stelle auch konfigurierende Aufgaben übernimmt; mit Mitteln also, wie sie einem Leser bei einer Erstlektüre zur Verfügung stünden. Der Wochentag ist ein Donnerstag, wie wir bereits in Episode 2 „Nestor“ erfahren, nachdem Stephen Dedalus seine Klasse geprüft hat: Talbot slid his closed book into his satchel. - Have I heard all? Stephen asked. - Yes, sir. Hockey at ten, sir. - Half day, sir. Thursday.32

Da an diesem Tag Hockey gespielt wird, kann Stephen die Schule früher verlassen und sucht den Strand auf. Wenig später – in Episode 3 „Proteus“ –, wenn Stephen am Strand von Sandymount sitzt, wird uns der nächste Hinweis gegeben: „Evening will find itself. […] Yes, evening will find itself in me, without me. All days make their end. By the way next when is it? Tuesday will be the longest day.”33 Wenn am kommenden Dienstag der längste Tag des Jahres ist, also der 21. Juni, und heute ein Donnerstag, dann liegt das Heute fünf Tage vor dem 21. Juni und ist somit der 16. Juni. Doch in welchem Jahr? Um dies zu klären, gibt es weitere Anhaltspunkte im Ulysses. Wir erfahren, dass am selben Tag ein Pferderennen stattfinden soll, wenn Bloom in Episode 5 „The Lotus Eaters“ um seine Zeitung gebeten wird: I want to see about that French horse that’s running today, Bantam Lyons said. Where the bugger is it? He rustled the pleated pages, jerking his chin on his high collar. Barber’s itch. Tight collar he’ll lose his hair. Better leave him the paper and get shut of him. - You can keep it, Mr Bloom said. - Ascot. Gold Cup. Wait, Bantam Lyons muttered. Half a mo. Maximum the second.34

Da es sich um das berühmte und alljährliche Rennen in Ascot handelt, lässt sich leicht nachvollziehen, in welchem Jahr vor 1922 – denn hier erschien der Ulysses zum ersten Mal – dieses am 16. Juni stattfand. Hinzu kommt ––––––––––––––

32 Joyce 1986: 2.32. 33 Joyce 1986: 3.56. 34 Joyce 1986: 5.87.

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die Aussage, dass ein Sturm im vorangegangenen Jahr große Schäden angerichtet hat (Episode 7 „Aeolus“) – und dass, wie Stephen vom Leiter der Schule, an der er unterrichtet, erfährt, die Maul- und Klauenseuche aufgrund ihres außergewöhnlichen Ausmaßes zum Politikum geworden ist (Episode 2). All diese Ereignisse lassen sich historisch einwandfrei einordnen – im Internetzeitalter allemal. Bedenkt man ferner, dass es zum Zeitpunkt, an dem der Ulysses spielt, bereits eine Straßenbahnlinie gibt (deren Erwähnung sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht), es Autos und Telefone gibt und dass dies alles technische Neuheiten waren, so lässt sich feststellen, dass der Ulysses am 16. Juni 1904 spielt. Über das Verfolgen der Spur mittels der Referenzen kann also eine Datierung und somit historische Verortung vorgenommen werden.

Neudeuten von Spuren – Das Denkmal In einem zweiten Schritt soll nun die Neudeutung von Spuren aufgezeigt werden. Hierfür sind die von Reinhard Koselleck geprägten Begriffe Erfahrungsraum und Erwartungshorizont instruktiv.35 Aus ihnen ist das historische Bewusstsein als Sinnstiftung ablesbar. Geschichte ist zudem als zeitenübergreifend und als Kollektivsingular zu denken, denn in der Person ihres Betrachters einen sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, und Geschichte kann so nur „die“ Geschichte sein, in der sich diese Zeiten einen, als ubiquitäres Bezugverhältnis zeitigen. Der Erfahrungsraum ist Raum-Zeit einer gegenwärtigen Vergangenheit, in der fremde wie eigene Erfahrung gesammelt wird, vermittelt über und von Generationen oder Institutionen. In der Erfahrung ist Vergangenheit verarbeitet, die jederzeit in der Gegenwart abrufbereit ist. Darüber hinaus ist Erfahrung dadurch gekennzeichnet, „daß sie wirklichkeitsgesättigt ist, daß sie erfüllte oder verfehlte Möglichkeiten in das eigene Verhalten einbindet“36. Erfahrung enthält Erinnerungen, die korrigierbar sind, denn neue Erfahrungen können andere Perspektiven freigeben, enttäuschte Erwartungen können „rückwir––––––––––––––

35 An dieser Stelle wäre es auch möglich, die Begriffe Verstehenshorizont, Horizontverschmelzung und Wirkungsgeschichte im Sinne Gadamers einzuführen. (Vgl. Gadamer 1960: 290–312.) Dass das Neudeuten von Spuren immer auch das Moment der Diskontinutität in sich trägt, ist jedoch mit Kosellecks Begrifflichkeit prägnanter zu beschreiben. 36 Koselleck 1979: 357.

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kend“37 auf sie Einfluss nehmen. Der Erfahrungsraum wird so als Kategorie deutlich, in der das Heute zeitentransparent und -überspannend erscheint, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich gegenseitig beleuchten. Ebenso ist Erwartung im Heute verankert: Koselleck definiert sie als „vergegenwärtigte Zukunft“, die auf das „Noch-Nicht“ ausgerichtet ist.38 Wie Erfahrung ist auch dieser Begriff personengebunden und interpersonal zugleich. Hoffnungen, Wünsche, Wille, Furcht und Leid konstituieren die Erwartung, aber auch rationale Analyse und rezeptive Schau sind konzeptionelle Momente und rezipieren so vergangene Erfahrung in zukünftiger Erwartung. Doch ist die temporale Struktur der Erwartung nicht gleich jener der Erfahrung, denn wie Erfahrung die Erwartung relativ bestimmt – ohne dass es sich um „symmetrische[...] Ergänzungsbegriffe“39 handelte –, ist es nur eine nicht erwartete Wendung, die zu neuen Erfahrungen führt und den Erfahrungsraum bereichert. Denn Erfahrung gereicht niemals, um die Erwartung vollends zu determinieren. Daher wählt Koselleck den Begriff Erwartungshorizont und markiert damit jene Linie, die dem Blick aus dem Heute die Zukunft versperrt. Wird sie ‚wider Erwarten‘ durchbrochen, ist die erwartete Zukunft zeitlich überholt, und hinter dem Erwartungshorizont öffnet sich „künftig ein neuer Erfahrungsraum“40. Vor diesem Hintergrund wird Neudeuten im Sinne eines engeren Intertextualitätsverhältnisses im Sinne von Gerard Genette gefasst.41 Doch sind die einzelnen Figurationen von Intertextualität, die nach Genette das Verhältnis zwischen Hypotext und Hypertext beschreiben, hier nachrangig. Das Neudeuten von Spuren ist vielmehr als ein Versuch zu verstehen, das Verhältnis einzelner Topoi – und nicht Texte – zueinander zu beschreiben und dabei die Frage ins Zentrum zu rücken, inwiefern es Konstanten gibt, die historisch und soziopolitisch auszumachen sind, und in welchem Rahmen Variationen dieser Topoi ihre Bedingung der Möglichkeit eben dieser Zuordnung im Feld der Geschichte verdanken. Es wäre, ausgehend von Maurice Halbwachs’ Annahme eines „kollektiven Gedächtnisses“42, mit Aleida und Jan Assmann nach einem „kulturellen Gedächtnis“43 und mit–––––––––––––– 37 38 39 40 41 42 43

Koselleck 1979: 355. Koselleck 1979: 355. Koselleck 1979: 355. Koselleck 1979: 356. Vgl. Genette 1982. Vgl. u.a. Halbwachs 1967: 120–140. Jan Assmann fasst kulturelles Gedächtnis als einen „Sammelbegriff für den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an WiedergebrauchsTexten, -Bildern und -Riten [...], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt. Ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich)

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hin einer Erinnerungskultur zu fragen, deren Bedingtheit sich in den Momenten der Tradition und Wiederholung verankert findet. Doch wie ist dies vor dem Hintergrund der Spur und deren Reflexion im Rahmen der Koselleckschen Termini von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zu fassen? Literaturhistorisch ließe sich das Neudeuten von Spuren an Gattungen aufzeigen, die einen Topos diachron variierend darstellen, jedoch vor dem Hintergrund von (Gattungs-)Merkmalen, die den Topos zum zeitenumspannenden machen, seine Variationen also zum diachronen Aspekt erheben. Doch soll dies an einem anderen Beispiel illustriert werden: dem Denkmal. Zunächst einmal ist anzumerken, dass ein Denkmal, im Sinne eines Mausoleums, (Gedenk-)Steins, Turmes, Reiterstandbildes, einer Statue, Stele, Villa, Inschrift oder Bildtafel vor dem Hintergrund der Annahme, dass Spuren nicht intendiert hinterlassen werden können – da sie, wie bereits erläutert, erst im Akt des „Lesens“ zur Spur werden –, nicht als Spur zu handhaben ist. Doch muss das Denkmal als Materialisation der Spur begriffen werden, die selbst wiederum im Akt der Zuordnung Spuren legen kann. Geschieht dies, so erfahren die genannten Bauten eine zusätzliche thematische44 Zuordnung zu der baulichen hinzu, werden Gedenkstätte, Grabmal, Friedhof, Kriegerdenkmal, Mahnmal, Nationaldenkmal. Bedingung für diese Zuordnung ist mithin die Verortung vor dem Hintergrund des Erfahrungsraumes – eines Individuums oder des Kollektivs. In dem Moment, wo die in der Großen Seestraße 19a im Berliner Stadtteil Wannsee stehende und von dem Architekten Paul O. A. Baumgarten entworfene Villa als Bau „gelesen“ und erkannt wird, in der am 20. Januar 1942 über die so genannte „Endlösung“ beraten wurde, wird dieser Ort vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse nicht nur zum Baudenkmal, sondern zum Ort der „Wannseekonferenz“ und somit zur Gedenkstätte. Es handelt sich also nicht mehr nur um das ehemalige Wohnhaus des Zahncremefa–––––––––––––– über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“ Vgl. J. Assmann 1988: 9, 15. Vgl. ferner A. Assmann 1999: 408– 413. 44 Denkmalschutzgesetze und die Deutsche Stiftung Denkmalschutz fassen die thematische Zuordnung als unbedingtes, zum Baulichen hinzutretendes Moment, die dabei jedoch als „gemischtes Feld“ zu sehen ist und sowohl den Zweck des Baus berücksichtigen kann, wie auch dessen gewachsene thematische Verortung. Nachfolgend ist mit thematischer Zuordnung letztere Lesart gemeint: Eine historisch bedingte Verknüpfung zwischen Erfahrung und Ort, die den Ort/den Bau so als Spur handhabbar macht. Vgl. Scharf 1984; Huse 32006.

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brikanten Marlier,45 sondern darüber hinaus um eine Stätte, an der – im Zuge der Erfahrung jener von der Konferenz ausgehenden Konsequenzen für den Verlauf der Shoah und somit der Geschichte46 – des Geschehenen gedacht werden soll: ein Denkmal. Interessant ist nun ein Aspekt, der zum Tragen kommt, wenn ein Bau bereits den Status eines Denkmals im Sinne der Spur erlangt hat, seine Bedeutung aber nur scheinbar festgeschrieben ist, es also zu Neudeutungen kommen kann, die das Wesen dieses Denkmals zentral bestimmen, ja, seine Persistenz erst ermöglichen.47 Als Beispiel hierfür sei eine Unterform des Kriegerdenkmals48 angeführt: das Grab des unbekannten Soldaten. Der Soldat figuriert hier als zeitenumspannender, ubiquitärer Erinnerungsträger, der gleichsam Personifizierung für alle Soldaten ist – und damit eben nicht für alle unbekannt. Er kann Vater, Sohn, Freund, Bruder, Onkel, Großvater … und seit einiger Zeit auch all diese in weiblicher Form sein, birgt somit eine Vielzahl von Personen in sich und wechselt zugleich mit dem Lauf der Geschichte und der in ihr gefassten Erfahrungen sein Gesicht. Der unbekannte Soldat des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 entspricht dem des Zweiten Weltkrieges, entspricht einer Soldatin, die im Irak gefallen ist – und tut es im selben Moment eben nicht. Zugleich ist der unbekannte Soldat nur als identifikatorisches Moment49 und über dies hinaus als ein als „Erinnerungsort“ denkbares „Zeugnis“ möglich und wirksam, wenn es jemanden gibt, der eine Beziehung zu ihm aufbauen kann, es Angehörige50 gibt, die seiner gedenken und so für die Persistenz ––––––––––––––

45 Alle Informationen zum Haus der Wannseekonferenz: Villenkolonien in Wannsee 1870–1945 – Großbürgerliche Lebenswelt und Ort der Wannsee-Konferenz. Berlin: Edition Hentrich 2000 (Schriftenreihe Gedenkstätte Haus der WannseeKonferenz Bd. 8). 46 Und gerade hier wird die zentrale Bedeutung des Kollektivsingulars von Koselleck augenscheinlich! 47 Mit Aleida Assmann ließe sich dann – auch wenn es sich um den von ihr ausgeklammerten „Ort“ des Denkmals handelt – aufgrund der Momente von Persistenz und damit einhergehender Auratisierung über den Symbolcharakter hinaus von einem Erinnerungsort sprechen. Assmann 1999: 337f. 48 Der Topos Kriegerdenkmal hat diese Neudeutung in der Geschichte selbst vollzogen: Künden frühe Kriegerdenkmäler von Stolz, Wehrwillen und Revancheabsichten, so verstehen sich Kriegerdenkmäler jüngeren Datums als Mahnmale. Dass frühe Kriegerdenkmäler dabei die Namen der Gefallenen aufführen und neuere Denkmäler auch ziviler Opfer und Überlebender gedenken (vgl. Vogt 1993: 24), scheint symptomatisch für das Selbstverständnis der jeweiligen Erinnerungskultur. Vgl. hierzu Koselleck/Jeismann 1994. 49 Im Sinne von Koselleck 1999a: 255–276. 50 Angehörige ist hier – so wie der unbekannte Soldat – als Feldbeschreibung zu fassen, die über den bloßen Begriff einer (Bluts-)Verwandtschaft hinausweist.

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dieses Denkmals der besonderen Art Sorge tragen. Zentral hierfür ist, dass in der jeweiligen Zeit eine Kontextualisierung und eine Gewissheit vorhanden ist, sodass eine Aktualisierung stattfinden kann – eben vor dem Hintergrund der Erfahrung. An dieser Stelle wiederum greifen zwei Momente ineinander,51 die das englische Wort für Denkmal, memorial, verdeutlicht: Die Erinnerung oder memoria, und zwar sowohl autobiographisch als auch gesellschaftlich. Dass diese zwei memoriae nie deckungsgleich sein können, liegt auf der Hand. Kann die gesellschaftliche Erinnerung (ob nun als Erinnerungskultur oder als kollektives Gedächtnis) nicht individuell geleistet werden, so kann sie doch als solche behandelt werden, indem sich eine Aktualisierung und Einordnung gesellschaftlicher Erinnerungsmomente durch persönliche Betrachtungsweisen und Erfahrungen erschließen lässt, mit ihnen in Deckung gebracht werden kann, die Spur also im Jetzt unter den individuell vermittels der Erfahrung determinierten Sichtweisen und Kriterien „gelesen“ wird.52 Oder eben nicht.

Stolpern in Spuren – Annäherungen an das Unbegreifliche Wann es zu diesem „eben nicht“ kommt und wie dies vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen zur Spur verortet werden kann – eine Annäherung an diese Problematik soll über die Einführung einer dritten Gangart erfolgen: das Stolpern in Spuren. Dahinter steht die Frage, wie mit Geschehnissen und deren Erleben, die für den Menschen nicht fassbar sind, umgegangen werden kann. Nicht fassbar, weil in bisherigen Begriffen nicht beschreibbar; nicht fassbar, weil in bisherigen lebensweltlichen Kategorien nicht denkbar53; nicht fassbar auch, weil die Menschen fehlen, die ihre Erfahrung versuchen könnten zu transportieren.54 Mit Koselleck ließe sich sagen, dass das Stolpern in Spuren jene Geschehnisse beschreibt, aufgrund derer der Erwartungshorizont, der als Grenze zu denken ist, ‚wider Erwarten‘ durchbrochen und so die erwartete Zukunft überholt wird. Tritt –––––––––––––– 51 Vgl. Halbwachs 1967: 34ff. 52 Hier wird zugleich deutlich, dass die Erinnerung (memoria) – ganz ähnlich dem Verständnis der Konstitution einer zeitlichen Kontingenz bei Augustinus (Confessiones X und XI) – als konstitutives Moment verstanden werden muss. 53 Vgl. hierzu Koselleck 1999b: 213–222. 54 Was – wie auch in der Postmoderne und vielfach ausgehend von Lyotards Le Différend und Blanchots L'Écriture du désastre diskutiert – selbstredend die Erfahrung an sich nicht angreift oder gar ihre Existenz in Frage stellt.

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dies ein, so kann von einer Krise gesprochen werden.55 Ricœur notiert zum Begriff der Krise im Ausgang von seiner Überlegung zu einer Hermeneutik des historischen Bewusstseins: In der Krise drückt sich die für das historische Sein typische Ausdehnung aus, das Analogon zur Augustinischen distentio animi. Vollständig zur Krise wird die Gegenwart, wenn sich die Erwartung in die Utopie flüchtet und die Tradition sich in ein totes Depot verwandelt. Angesichts dieser drohenden Zersplitterung der historischen Gegenwart besteht die Aufgabe […] darin, zu verhindern, daß aus der Spannung zwischen den beiden Polen des Denkens der Geschichte ein Schisma wird; also darin, einerseits die rein utopischen Erwartungen wieder der Gegenwart anzunähern und zwar durch ein strategisches Handeln, das die ersten Schritte festlegt, die in Richtung auf das Wünschenswerte und Vernünftige zu machen sind; und andererseits darin, der Verengung des Erfahrungsraums entgegenzutreten, indem man die ungenutzten Möglichkeiten der Vergangenheit freisetzt. Die Initiative besteht auf der historischen Ebene in nichts anderem als darin, zwischen diesen beiden Aufgaben zu vermitteln. Damit diese Vermittlung aber nicht bloß einen reaktiven Willen ausdrückt, sondern einen Kampf gegen die Krise, muss sie die Kraft der Gegenwart ausdrücken.56

Der sich hinter dem Erwartungshorizont öffnende „künftig […] neu[e] Erfahrungsraum“57 – um das von Ricœur beschriebene Feld, das es in diesem „Kampf“ zu erobern gilt, mit den Worten Kosellecks zu fassen – ist es, den es dann zu beschreiben gilt. Doch wie soll diese Beschreibung vonstatten gehen, wenn das Erfahren und seine Präfiguration als Schlüssel zum Erzählen gefasst werden muss? Ein Auslöser für das Stolpern in Spuren wird am eindrücklichsten durch eine „große Katastrophe“ gegeben – so wie die Shoah.58 Es gibt eine Vielzahl von Gedichten und Erzähltexten, die

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55 Koselleck merkt an, dass die Bedeutungsvielfalt des Begriffs Krise sich „seit dem 19. Jahrhundert quantitativ enorm ausgefächert [hat], während er an Klarheit oder Präzision kaum gewonnen hat.“ Vielmehr nimmt Koselleck eine „neue Form“ der Krise an, wenn er konstatiert: „Die alte Kraft des Begriffs, unüberholbare, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen, hat sich in die Ungewissheit beliebiger Alternativen verflüchtigt.“ (Koselleck 1973: 647, 649) Zum grundlegenden Begriff der Krise in der Lebenswelt vgl. Husserl 31996, zu einer Überblicksdarstellung des Begriffs vgl. Pauen 1997. 56 Ricœur 1991: 379. 57 Koselleck 1979: 356. 58 Die Problematik stellt sich jedoch auch in der jüngeren Vergangenheit (wenn auch selbstredend unter völlig anderen Vorzeichen), was Jonathan Safran Foers grandioser Roman Extremely Loud and Incredibly Close deutlich macht. Auf die Abwesenheit von zuverlässigen Spuren und Erfahrungen zurückgeworfen, schreibt Foer in seinem Roman aus der Sicht eines Kindes und konsequenterweise nur über das Indirekte gehend, sich also nur auf den Wegen des Mittelbaren bewegend.

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versuchen, sich dem Thema indirekt erzählend zu nähern.59 Will man also berichten, so muss dies unter dem Vorzeichen des Indirekten geschehen; ein Unternehmen, das Johannes R. Bechers Ballade Die Kinderschuhe aus Lublin60 auf bedrückend einfache, direkte Weise anstrebt. Von allen Zeugen, die geladen, Vergeß ich auch die Zeugen nicht, Als sie in Reihn den Saal betraten, Erhob sich schweigend das Gericht. Wir blickten auf die Kleinen nieder, Ein Zug zog paarweis durch den Saal (V. 1–6)

Es wird geschildert, wie Zeugen in einem Prozess aufgerufen werden. Ergibt sich aus der Beschreibung erst der Eindruck, es handle sich bei diesen Zeugen um Kinder (V. 7–8), entpuppt sich diese Annahme als Täuschung, der „Gang und Kindersang“ (V. 12) wird zur Illusion: Es sind Schuhe, die in einem „lange[n] bunte[n] Reigen/Der durch den ganzen Saal sich schlang“ marschieren. Und als wolle Becher dem doppeltillusionistischen Moment der Täuschung beipflichten, wenn es heißt: „[a]uch Schuhchen können lachen, weinen/Ward je ein solcher Zug gesehn!“ (V. 15f.) Hier geht ein Paar von einem Jungen, Das hat sich schon als Schuh gefühlt, Das ist gelaufen und gesprungen Und hat auch wohl schon Ball gespielt. (V. 49–52)

Becher selber formuliert die Frage, die sich unweigerlich stellt: „Was soll der Zug? Wer kann’s begreifen?/Und diese ferne Melodie…“ (V. 43–44) –––––––––––––– 59 Ihnen steht Adornos im Zuge seines Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft geschriebene Satz entgegen, der die Rolle der Poesie vor der Folie der unmittelbar vorangegangenen deutschen Geschichte beleuchtet: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (Adorno 1977: 30) Betrachtet man den zitierten Satz in seinem Gesamtzusammenhang, wird deutlich, dass Adorno selbst eine Zuspitzung der Verdinglichung der Welt beschreibt, die in der Geschichte vorgezeichnet ist und mithin nicht in Kategorien Kosellecks gedacht werden könnte. 60 Zitiert nach Berger/Püschel 1965: 351–359. Im Weiteren wird aufgrund der herangezogenen literarischen Vorlage vom KZ Lublin die Rede sein, auch wenn es korrekt wäre, vom KZ Majdanek, nach dem Vorort Lublins zu sprechen, in dem das KZ gebaut wurde.

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Ihr werden weitere Fragen an die Seite gestellt, die deutlich machen, dass die Schuhe selber auf etwas anderes verweisen (V. 61–64). Der Richter beantwortet diese, indem er „der toten Kinder Zahl“ (V. 66) nennt. Es handelt sich bei diesem Zug um Schuhe, die Kindern bei ihrer Internierung im KZ Lublin ausgezogen wurden und die bei der Befreiung des KZs gefunden wurden (V. 68–71). Die Schuhe werden als Stellvertreter für Kinder eingeführt und sagen nun an ihrer statt aus: Dem Problem des Erzählens einer Erfahrung, über die zu berichten niemand mehr geblieben ist oder im Stande wäre, wird mittels der Schuhe, die in inverser Verklärung zum Symbol werden – und im gleichen Zuge zur Personifizierung der Kinder, denen sie gehörten – begegnet.61 Hierzu lädt Becher die allegorische Bedeutung der Schuhe auf, indem er sie in lebensweltlichen, also klar abrufbaren im Feld der Erfahrung zuschreibbaren Kontexten verortet: Die Schuhe werden detailliert beschrieben (V. 21–30), ihre „Beziehung“ zum Kind wird beschrieben, und schließlich wird vermittels der Beschreibung den Schuhen ein Alter, eine Entwicklungsstufe an die Seite gestellt (V. 49– 52). Becher wechselt sodann zum Bericht, wobei historische Fakten62 mit den subjektiven Eindrücken der „Zeugen“ verknüpft werden, dem unheimlichen Sachverhalt die unheimliche Schilderung63 durch das indirekte Zeugen an die Seite gestellt wird. Die Kinder(schuhe) berichten von ihrer Deportation (V. 72–79), Entkleidung durch eine „deutsche Tante“ (V. 95), Vergasung (V. 116f.) und der Verbrennung ihrer Leichen im Krematorium (V. 123) des Konzentrationslagers Lublin. Die Zeugen, so erfahren wir, „wurden von der Sammelstelle […] in das Reich geschickt.“ (V. 119)64 Es –––––––––––––– 61 Dass Becher Schuhe erzählen lässt, ist vor dem Hintergrund der inversen Verklärung besonders hervorzuheben: sie stehen im Raum der Symbole aufgrund ihres Getragenwerdens und des damit einhergehenden Erdkontakts klar für die Gebundenheit an irdisches Leben, vertreten hier aber die Anklage toter Kinder, also dem verkehrten prototypischen Symbol für Reinheit, Naivität und Unschuld. 62 Den realen Hintergrund dieses Fundes belegen u.a. die Schilderungen des sowjetischen Kriegskorrespondenten und Schriftstellers Konstantin Simonow. Majdanek war das erste Vernichtungslager, das die Alliierten auf ihrem Vormarsch 1944 erreichten. Simonow notierte: „Zehntausend Paar Kinderschuhe, Sandalen, Schnürschuhe von Zehnjährigen, von Einjährigen“ (Simonow 1945, zitiert nach einer Broschüre des KZ Majdanek/Lublin). 63 Vgl. Freuds (1999: 227–278) Begriff des Unheimlichen. 64 In sog. „Altschuhlagern“ wurden Schuhe aus Konzentrationslagern gesammelt, repariert und in Ghettos wieder ausgegeben. Ein Bericht hierzu, der auch das „Reden“ und „Erzählen“ der Schuhe birgt, findet sich bei Moshe Pulaver, der in Gewen is a geto schreibt: „Es geschah oft, dass ich alleine vor solch einem Berg von Schuhen saß. Dann spürte ich, wie die Schuhe zu mir reden. In jedem Schuh habe ich das Gesicht eines Kindes gesehen, einen Großvater, eine Großmutter, einen

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wird so eine Vermittlung durch die „Kraft der Gegenwart“ (Ricœur) versucht, die eine Annäherung an ein Erzählen des Nichterzählbaren darstellt. Durch die Allegorisierung der Schuhe wird das Moment des erzählenden Subjektes vollends zurückgenommen, ohne dabei die Opfer und deren Anklage auszublenden.65 Für das Verhältnis von Spur, Erfahrung, Geschichte und Erzählen bedeutet dies Folgendes: die Schuhe sind eine Spur, in der man sich – eben durch das indirekte Erzählen – nur stolpernd, fragend, ungläubig fortbewegen kann. Sie kann dabei aufgrund der vermittels einer historiographisch verfolgten Spur konfigurierten Erfahrung gedeutet werden – wenn auch nur als Vermittlungsversuch. Gelingt dieser – und es ist Aufgabe des fragenden Subjekts, sich um dieses Gelingen zu bemühen – so schließt sich der Zirkel: Wir folgen über die Neudeutungen der Indizien den Spuren und können auch das vermeintlich Unbegreifliche als Geschichte und somit Geschehenes begreifen.

Schlussbetrachtung Geschichte und Erzählen können das Erfassen von Erfahrenem leisten und können so zugleich entlang von Erfahrung konstruieren, rekonstruieren und eine Präsenz von Vergangenem in der Gegenwart schaffen. Diese Präsenz ist als flexible zu handhaben, und Neudeutungen sind zur Entwicklung eines persistenten Geschichtsbegriffs aufgrund seiner Bindung an Erfahrungen unbedingt notwendig. Die Erfahrung kann dabei – und Gleiches gilt im Bezug auf die Spur – ein (übergangsweises) Manifestieren leisten. Ihre Abwesenheit oder ihre Verkehrung ins Unheimliche verschließt gleichermaßen Erzählen wie auch Geschichte – eben weil die Erfahrung durch das Subjekt und vice versa die Prägung des Subjekts durch Erfahrung zentral für Geschichte ist. Was dann bleibt, sind Formen der Einordnung vor der Folie pluraler Vermittlungsversuche. Sie können nur vor dem Hintergrund der „gekreuzten Referenz“ (Ricœur) gedacht werden, die Leerstellen und Unbestimmtheitsstellen nutzen, um das Konstruieren von Erzählung und Geschichte der Phantasie des Lesers anheim zu stellen – Annäherungen an Erfahrungen, die im indirekten und streng genommen nicht Erfahrbaren stranden. Und so bleibt es beim Versuch, die Rückerobe–––––––––––––– Vater, eine Mutter. Den ganzen Tag konnte ich mich nicht von den Schuhen befreien und auch zuhause dachte ich immer noch an sie.“ (Pulaver 1963: 40, übersetzt aus dem Jiddischen von JS) 65 Zu der Frage des Diskurses des Bezeugens vor dem Hintergrund des abwesenden Zeugens vgl. vor allem Lyotard (1983) und Derrida (1998).

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rung des „eingeengten Erfahrungsraumes“, den die Krise uns zuweist, auf den Schultern der Geschichte zu probieren – hin- und hergeworfen zwischen der Hoffnung, durch ein Stolpern zu einer Neudeutung zu gelangen, und der Gefahr, durch ein pars-pro-toto-Denken als Kollektiv die individuelle Erfahrung zu banalisieren.

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Fireside storytelling beim Symposion Erfahrung und Geschichte im archaischen und frühklassischen Griechenland

OLAF SCHLUNKE „Viel aber mitgelitten erfahren haben wir, Merkzeichen viel.“ Hölderlin, Patmos (Letzte Textstufe), V. 25

Ausgehend von M. Halbwachs’ Erkenntnissen zur mémoire collective ist die soziale Bedingtheit von Gedächtnis und Erinnerung ein zentrales Paradigma nicht nur der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Die sozialen Rahmenbedingungen des Gedächtnisses eignet sich das Individuum im Laufe seiner Sozialisation und Integration in die Gemeinschaft an, d.h. diese werden ihm von seiner Umgebung vermittelt. Ohne diese sozialen Rahmen (cadres sociaux) finden seine Erinnerungen keinen Halt und fallen dem Vergessen anheim. Als Bindeglied zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis fungieren die kommunikativen Praktiken innerhalb der sozialen Gruppe. Eine dieser Praktiken ist das schon ab der frühkindlichen Entwicklung eingeübte Erinnerungsgespräch. Im sogenannten memory talk mit Erwachsenen, v.a. den Eltern, entwickelt das Kind beim Aufbau seines autobiographischen Gedächtnisses im Reden über vergangene Erlebnisse nach und nach distinkte Begriffe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erinnerungen helfen dem Individuum dabei, sich selbst zu definieren und sich in der Zeit zu orientieren. Dabei findet die soziale Konstruktion von Vergangenheit häufig nicht absichtsvoll, sondern vielmehr en passant statt.1 Im conversational remembering, dem –––––––––––––– 1

Diese Qualität grenzt das von H. Welzer (1998, 2001a) im Anschluss an P. Burke entwickelte Konzept des sozialen Gedächtnisses von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis im Assmannschen Sinne ab, welche durch bewusste Praktiken der Kommunikation und Formung von Vergangenheit charakterisiert sind. Welzers Konzept hat den Vorteil, die alltägliche Interaktion in den Blick zu nehmen und so den Konnex zwischen individuellem, autobiographischem Gedächtnis und kollektivem Gedächtnis konkreter zu fassen. Vgl. hierzu und zum Folgenden, bes. zum

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„gemeinsamen Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch“ findet das kindliche Erinnerungsgespräch im Erwachsenenalter seine Fortsetzung. Die das Kollektiv bildenden Individuen sind gleichzeitig Adressaten wie Mit-Erzähler bzw. Mit-Erinnernde autobiographischer Erzählungen, soweit diese auf einen den Zuhörern z.B. als Angehörige einer Generation gemeinsamen Erfahrungsraum rekurrieren. Vergangenheiten werden auf diese Weise – in gegenseitiger Bestätigung wie Ablehnung, in Frage und Antwort – konversationell ko-konstruiert. Werden die neuronalen Verbindungen nicht durch das Sprechen über Erinnerungen regelmäßig verstärkt, können die durch sie repräsentierten Erfahrungen langfristig nicht gespeichert werden. Gerade hierin liegt die Anschlussfähigkeit für kognitionspsychologische Forschungen zum Gedächtnis, die den Kontexten des Erinnerns verstärkt Aufmerksamkeit schenkt. Dem Zusammenhalt der kollektiven Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft entspricht auf der Ebene des individuellen Gedächtnisses das neuronale Netzwerk. Die neuronale Vernetzung wiederum findet ihre Entsprechung im kommunikativen Abruf von Erinnerungen kollektiver Bedeutsamkeit. Die kommunikative Anschlussfähigkeit individueller Erinnerungen wird also qua kollektiver Determiniertheit hergestellt. Abgesehen von dem grundsätzlichen Problem der Erzählbarkeit von Erfahrung, stellt sich demjenigen, der nach der Verfertigung von Vergangenheit in früheren Zeiten fragt, das Problem, die Erfahrungen von Individuen nicht unmittelbar aufsuchen zu können, sondern hauptsächlich in Texten vorzufinden, die sich durch ein hohes Maß an Formung und absichtsvolle Tradierung auszeichnen. Im Folgenden soll nach der Repräsentation von Erfahrung2 in der griechischen Archaik gefragt werden. ––––––––––––––

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conversational remembering, auch Welzer 2001b, Welzer 2005, Neumann 2005: 56ff., Haubl 2008; für den Bereich des Familiengedächtnisses untersucht von Keppler 1994: 162–210. Unter Erfahrungen sollen hier „durch Aufmerksamkeit ausgezeichnete Erlebnisse“ im Sinne von Schütz/Luckmann (2003: 450) verstanden werden: „Erlebnisse heben sich im Bewusstseinsstrom ab; Erfahrungen sind durch Aufmerksamkeit ausgezeichnete Erlebnisse; manche Erfahrungen werden durch reflektierte Bewusstseinsleistungen, welche die Erfahrung zu etwas anderem in Beziehung setzen, sinnvoll.“ Zum Verhältnis von Erlebnis und Erfahrung vgl. Latzel 1997. – Geht man nach der Bedeutung des griechischen Wortes, das am ehesten mit Erfahrung zu übersetzen ist, nämlich empeiría, so verweist das gerade auf den lebenspraktischen Aspekt von Erfahrung. Als Gegensatz zur techne, jedenfalls bei Aristoteles, ist sie wohl am besten mit dem Begriff Erfahrungswissen umschrieben, Wissen, das sich aus der Erinnerung an die immer wieder gleich oder ähnlich auftretenden Sachverhalte speist (Erfahrungen als Ergebnis eines Akkumulationsprozesses, vgl.

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Hierbei bietet sich die humane Katastrophe als die für diese Epoche charakteristische negative Erfahrung schlechthin als Ausgangspunkt an. In einer Mehrzahl der Texte erscheinen die Handlungsmöglichkeiten des Individuums extrem eingeschränkt, die Stabilität und Kontinuität der bestehenden Welt wird fortwährend infrage gestellt. Dies befördert die Sensibilisierung für eine bestimmte Art von Ereignissen. In der Lebenskatastrophe des Individuums wie in der kollektiven Katastrophe ganzer Städte wird Kontingenz als „Schicksalszufälliges“ (O. Marquard) erfahren. Um sich weiter in der Zeit orientieren zu können, muss der leidende Mensch das durch die Katastrophe geschaffene Sinndefizit bewältigen.3 In welcher ––––––––––––––

3

Koselleck 2000: 35). Es ist diejenige Erfahrung, die sich in einem vorwissenschaftlichen Zugriff auf das Wissen literarisch vornehmlich in Maximen und Sprichwörtern niederschlägt. Insofern ist etwa die archaische Elegie eine besonders ‚erfahrungsgesättigte‘ Gattung, da sie häufig allgemeine Lebensregeln und Anweisungen formuliert, hierin nicht unähnlich den Erga Hesiods (vgl. den Beitrag von K. Golla im vorliegenden Band). Das Corpus Theognideum z.B, eine frühe Sammlung elegischer Dichtungen, stellt sich als eine Art ‚Handbuch‘ solchen Erfahrungswissens dar. Natürlich steht die griechische Archaik mit diesem Problem nicht alleine. „Der Mensch steht in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten ‚mitten im Tode‘. Aber nicht nur die Sichtbarkeit des Todes und die Verfügbarkeit des Wissens zur Krisenbewältigung und Tröstung in nicht zu bewältigenden Krisen (z.B. als Allgemeinwissen oder Sonderwissen) unterscheiden sich von Gesellschaft zu Gesellschaft, sondern auch schon die Anlässe der Krisen und erst recht ihre Erscheinungs- und Verlaufsformen.“ (Schütz/Luckmann 2003: 630) – Ein nicht durch menschliche Einwirkung, sondern von einem Naturphänomen hervorgerufene emotionale und geistige Erschütterung beschreibt ein Fragment des Archilochos. Es handelt sich um das Erlebnis einer wohl am 6. April 648 v. Chr. im östlichen Mittelmeerraum aufgetretenen Sonnenfinsternis (bzw. des 27. Juni 660 auf Thasos): Archilochos fr. 122,1–9 West (= 74 Diehl): xrhma/twn a)/elpton ou)de/n e)stin ou)d’ a)pw/moton / ou)de\ qauma/sion, e)peidh\ Zeu\j path\r O)lumpi/wn / e)k mesambri/hj e)/qhke nu/kt’, a)pokru/yaj fa/oj / h(li/ou †la/mpontoj, lugro\n† d’ h)=lq’ e)p’ a)nqrw/pouj de/oj. / e)k de\ tou= kai\ pista\ pa/nta ka)pi/elpta gi/netai / a)ndra/sin: mhdei\j e)/q’ u(me/wn ei)sore/wn qaumaze/tw / mhd’ e)a\n delfi=si qh=rej a)ntamei/ywntai nomo\n / e)na/lion, kai/ sfin qala/sshj h)xe/enta ku/mata / fi/lter’ h)pei/rou ge/nhtai, toi=si d’ u(le/ein o)/roj. („Es gibt nichts Unerwartetes mehr, nichts, was man ableugnen könnte, / nichts Staunenswertes, seitdem Zeus, der Vater der Olympier, / aus Mittag machte Nacht, als er das strahlende Licht / der Sonne verbarg und feige Angst die Menschen überkam. / Seitdem wird alles glaubhaft und möglich / den Menschen. Keiner von euch darf sich noch darüber wundern, / wenn er sieht, wie die Tiere auf dem Land mit den Delphinen ihre Weide tauschen / im Meer und ihnen die tosenden Wellen des Meeres / willkommener sind als das Land, diesen aber das waldreiche Gebirge.“ [Übers. R. Nickel]) – Die existentielle Verunsicherung durch dieses Naturphänomen lässt an eine andere berühmte Sonnenfinsternis der archaischen Zeit denken, nämlich die durch Thales vorhergesagte des Jahres 585 v. Chr. Wie Herodot berichtet (1,74), fiel sie zeitlich mit einer Schlacht zwischen Lydern und Medern zu-

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Art wurde diese Bewältigung im archaischen und frühklassischen Griechenland geleistet? Das Symposion darf als performativer Rahmen eines Großteils der erhaltenen Reste archaischer Dichtung auch als ein Zentralort der ‚Verfertigung von Vergangenheiten‘ angesehen werden. Bevor wir uns dem Erinnerungsgespräch während des Trinkgelages anhand dreier Fragmente des Xenophanes von Kolophon zuwenden, sei die Bedeutung von ‚Geschichte‘ für die archaische Poesie kurz umrissen. ‚Geschichtliches‘ wird in der frühgriechischen Dichtung verschiedenartig reflektiert. Einerseits durchzieht sie ein beständiges Räsonnieren über die condicio humana. Der Mensch, hineingestellt in eine Welt voller Sorgen und Widerfahrnisse, abhängig vom uneinsichtigen Willen der Götter, bildet ein zentrales Thema der archaischen Lyrik.4 Die Welt, die eine Mehrzahl der z.B. im Corpus Theognideum vereinigten Dichtungen, einer Art Quersumme elegischer Poesie der Archaik, wahrnehmen lassen, ist eine Welt voller Sorge, eine Welt zwischen Hoffnung und Gefahr.5 Die Klagen über die Unbeständigkeit der Welt und die Betonung des ungerechten Schicksals provozieren die Frage nach dem Sinn des Geschehens. Andererseits nehmen Ereignisse der nahen und fernen Vergangenheit in der archaischen Dichtung einen wichtigen Platz ein.6 In besonderem Masse gilt das für die archaische Elegie. So hat es sich eingebürgert, von einer narrativen ‚historischen‘ Elegie als einer festen Größe in der archaischen Dichtung auszugehen und daraus auch Schlüsse für Funktion und Aufführungskontext zu ziehen.7 In Analogie zur Darbietung epischer Dichtung bei Polis- und überregionalen Festen wird mit einer öffentlichen Performanz derartiger Elegien gerechnet, für die es aber nur wenige direkte Belege gibt. In den Fragmenten selbst finden sich jedoch immer wieder Hinweise auf das sympotische Setting, so dass bei diesen Dichtungen ebenfalls in erster Linie von einer Aufführung im Rahmen des Symposions ––––––––––––––

4 5 6 7

sammen. Angeblich irritierte die Verdunkelung der Sonne die Kämpfenden derart, dass sie vom Kampf abließen und Friedensverhandlungen einleiteten. Vgl. Mosshammer (1981) zum geringen Wert dieser Tradition. Vgl. Dalfen 1974. – Unter ‚Lyrik‘ ist hier – modernem Verständnis entsprechend – nicht nur die eigentliche, zur Lyra vorgetragene Dichtung (Melik) verstanden, sondern auch die nichtlyrischen Dichtungsarten (Elegie, Iambos). Theognis 637f. Hierzu Sider 2006. Verbreitung erfuhr diese Auffassung durch den Aufsatz von E. Bowie (1986), die Publikation eines Simonides-Papyrus (POxy 3965) mit den Resten einer elegischen Perserkriegsdichtung schien sie zu bestätigen. Neuerdings begegnet man der Annahme eines Subgenres ‚historische Elegie‘ mit mehr Skepsis (Sider 2006).

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auszugehen ist. Die mnhmosu/nh war also im Trinkgelage auch in der Form der Erinnerung an konkrete, für die Polis relevante Ereignisse präsent.8 Von einer Reihe archaischer ‚historischer‘ Dichtungen sind Angaben zu Titel und Umfang überliefert, die sich jedoch nicht oder nur vermutungsweise mit erhaltenen Fragmenten verbinden lassen. Beispiele sind die Archaiologia tn Samin („Urgeschichte der Samier“) des Semonides von Amorgos, Xenophanes‘ „Gründung von Kolophon“ und „Besiedlung von Elea in Italien“ sowie die Ionika des Panyassis von Halikarnassos.9 Als eine dieser ‚poetischen Stadtgeschichten‘gibt sich dem Titel nach auch die Smyrneis des Mimnermos von Smyrna, der sich zumindest einige wenige Bruchstücke zuordnen lassen.10 Von der beim archaischen Symposion zum Vortrag gebrachten Dichtung lässt sich – bei aller Spärlichkeit und Kleinteiligkeit der literarischen Überlieferung – ein hinreichend klares Bild gewinnen. Ergänzend tritt die Bilderwelt des bemalten griechischen Trinkgeschirrs hinzu, die Symposia in reicher Fülle darstellt und einen lebhaften Eindruck vom geselligen Miteinander der Zecher sowie ihrer Spiele und künstlerischen Darbietungen vermittelt. Anders verhält es sich bei den während des Symposions neben dem poetischen Vortrag verhandelten Gesprächsthemen. Hierfür stehen uns mit Platons und Xenophons „Symposia“ zwei zwar ausführliche, aber späte Zeugnisse zu Gebote.11 Zwar spielte Scherzhaftes und Erotisches, Räsonnement über den Weingenuss etc. eine wichtige Rolle sowohl in der sympotischen Dichtung als auch im Gespräch der Symposiasten, ernste Themen waren darum jedoch nicht von der Konversation ausgeschlossen. Im Gegenteil: Die Aufforderung in poetischen „Symposionslehren“, nichts über staseis und Kriege vorzubringen,12 zeigt eben nur an, dass darüber gerade nicht selten ––––––––––––––

8 9

Hierzu Rösler 1986. Die Tradition liefert z.T. phantastische Angaben zum Umfang der genannten Werke: Xenophanes’ Epen (bzw. Elegien, die Nennung e)/ph lässt beide Möglichkeiten zu) über kai\ Kolofw=noj kti/sin kai\ to\n ei)j E)le/an th=j I)tali/aj a)poikismo\n sollen zusammen 2000 Verse umfasst haben (Diogenes Laertios 9,20), Panyassis’ Ionika gar 9000 Verse in 14 Büchern. Das hat – beim Fehlen eindeutig zuweisbarer Fragmente – früh Misstrauen erregt und auf die Fälschung der Angaben durch einen gelehrten ‚Schwindelautor‘ aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. schließen lassen. Für Xenophanes zeichnet Untersteiner (1967: CCL–CCLIV) die Diskussion nach. 10 Die Veröffentlichung von Resten aus Simonides’ Perserkriegselegien im Jahre 1992 zeigen jedoch, dass man bei der Verwerfung von Testimonien nicht vorschnell vorgehen sollte. 11 Ein Versuch, Formen und Themen der Prosarede beim Symposion vor Platon zu klassifizieren, bei Bowie 1993. 12 Xenophanes fr. 1,23 West, Anakreon fr. 2,1f. West.

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gesprochen wurde. Ein anonymer Elegiker gibt den sumpo/tai a)/ndrej demgegenüber den Rat, dem Lachen und Scherzen, dem skw/ptein die spoudh\ (Ernsthaftigkeit) folgen zu lassen.13 Autobiographisches Erzählen bildete einen möglichen Bereich des Gesprächs beim Symposion, auch wenn das in den Quellen nur wenig belegt ist.14 So gibt Kimon beim Symposion eine Kriegsanekdote – eine Kriegslist – zum Besten, und auch für Alkibiades im platonischen Gastmahl ist die Zecherrunde eine Gelegenheit, Anekdoten aus seinen und Sokrates’ Erlebnissen während des Peloponnesischen Krieges mitzuteilen.15 In ein solches Gespräch über die eigene Vergangenheit führen zwei Fragmente des spätarchaischen Dichters und Philosophen Xenophanes, die im Folgenden diskutiert werden sollen. Die Chronologie des Xenophanes ist, obschon bisweilen als relativ sicherer Fixpunkt angesehen, eine der verwickeltsten unter den frühgriechischen Dichtern. Die Beziehungen zwischen ‚Selbstaussagen‘ des Dichters, den Ausführungen des Chronographen Apollodor sowie einer Handvoll weiterer Stellen zum Leben des Xenophanes konnten auch nach jahrzehntelangen Diskussionen nicht befriedigend geklärt werden.16 In der ionischen Polis Kolophon im Westen Kleinasiens ca. 570–560 v. Chr. geboren, war er in seinen frühen Jahren gezwungen, die Heimat zu verlassen17 und ein Wanderleben zu beginnen – man weiß aus der biographischen Überlieferung von Aufenthalten in Unteritalien, auf Sizilien, Malta, Paros und den Liparischen Inseln. –––––––––––––– 13 14 15 16

PBerol 13270 = Adespota elegiaca 27,7 West. Zu ‚autobiographischen‘ Elementen in der archaischen Dichtung vgl. Rösler 2005. Plutarch Kimon 9; Platon Symposion 219e–221b. Zur Chronologie des Xenophanes Thesleff 1957, Woodbury 1961, Steinmetz 1966: 13–34, kürzer Schäfer 1996: 95–99. Für das Geburtsjahr differieren die Ansätze zwischen 620 und 540 v. Chr. Akzeptiert man die Angabe des Timaios (bei Clemens Alexandrinus Stromateis 1,64,2 = 114 A 26 D.-K.), Xenophanes habe noch zur Zeit des syrakusischen Tyrannen Hieron und des Dichters Epicharmos gelebt, lässt die Frühdatierung Apollodors zweifelhaft erscheinen. Woodbury (1961) erklärt das mit einer irrigen Synchronisierung des Xenophanes. Statt mit der phokäischen Gründung Eleas habe Apollodor den Dichter zeitlich mit einem früheren Kolonisationsunternehmen der Phokäer, der Gründung Massilias im ersten Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts v. Chr., zusammengebracht. 17 Xenophanes sei wegen Asebie verbannt worden (PHerc 327 fr. 4 Crönert). Es mag jedoch sein, dass der Vorwurf der Asebie vor dem Hintergrund der Prozesse gegen Anaxagoras, Diagoras, Protagoras und Sokrates sowie der religionskritischen Äußerungen des Xenophanes selbst Eingang in dessen Biographie gefunden hat. Auch in der Xenophanes-Vita des Diogenes Laertios ist die Rede davon, Xenophanes sei aus seiner Heimat verbannt worden (D.L. 9,18).

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h)/dh d’ e(pta/ t’ e)/asi kai\ e(ch/kont’ e)niautoi\ blhstri/zontej e)mh\n fronti/d’ a)n’ E(lla/da gh=n: e)k geneth=j de\ to/t’ h)=san e)ei/kosi pe/nte/ te pro\j toi=j, ei)/per e)gw\ peri\ tw=nd’ oi)=da le/gein e)tu/mwj.18

Xenophanes teilt seinen Lebenslauf in zwei unterschiedlich lange Zeiträume auf. 67 Jahre sei er in Hellas umhergewandert – ein bestimmtes, hier nicht näher bezeichnetes Ereignis scheint diese Wanderschaft überhaupt erst begründet zu haben. Zu diesem Zeitpunkt, damals (to/te, V.3), war der Sprecher nach eigener Angabe 25 Jahre alt. Die an dieses Fragment gebundenen Spekulationen über die Lebenszeit des Xenophanes, der über 100 Jahre alt geworden sein soll, können hier außer Betracht bleiben. Das Fragment scheint – in einem übertragenen, aus metrischen Gründen natürlich keinesfalls formalen Sinne – auf ein anderes, bei Athenaios überliefertes Fragment aus seinen Silloi zu ‚antworten.‘ pa\r puri\ xrh\ toiau=ta le/gein xeimw=noj e)n w(/rhi e)n kli/nhi malakh=i katakei/menon, e)/mpleon o)/nta, pi/nonta gluku\n oi)=non, u(potrw/gont’ e)rebi/nqouj: `ti/j po/qen ei(=j a)ndrw=n; po/sa toi e)/te’ e)sti/, fe/riste; phli/koj h)=sq’, o(/q’ o( Mh=doj a)fi/keto;’19

Die Verse malen eine behagliche Szenerie beim Symposion zur Winterszeit aus. Nach genossenem Mahl liegen die Gelageteilnehmer auf gepolsterten Klinen beim Feuer und genießen süßen Wein und kleine Knabbereien.20 Einer der Zecher wendet sich an seinen Nebenmann, offensichtlich einen Besucher von auswärts, und fragt ihn nach seinem Namen, seiner Herkunft und seinem Alter. Auch möchte er von ihm wissen, wie alt er war, „als der Meder kam.“ Ganz offensichtlich ist damit ein kritischer Punkt in der Lebensgeschichte des Gastes angesprochen, was zu der ein––––––––––––––

18 D.L. 9,19 = Xenophanes fr. 8 West = fr. 8 D.-K.: „Schon aber sind es siebenundsechzig Jahre, / die umhertreiben mein Nachdenken durch das hellenische Land; / seit meiner Geburt aber waren es damals fünfundzwanzig, / wenn ich denn hierüber korrekt zu berichten weiß.“ (Übers. E. Heitsch) 19 Athenaios 2,54e = fr. 22 D.-K.: „Vor dem Kamin muß man solcherlei reden, wenn draußen es wintert – / auf dem Sofa, dem weichen, sich rekelnd, schön satt und zufrieden, / trinkend vom süßen Weine und knabbernd die knusprigen Erbsen – : / ‚Wie ist dein Name, Freund? wo kommst du her? wie alt wohl, mein Bester? / Und wie alt warst du, als damals der Meder herankam?‘“ (Übers. J. Latacz) Vgl. zu diesem Fragment Heitsch 1983: 141–143, Lesher 1992: 71–73. 20 Es war üblich, gekochte oder geröstete Hülsenfrüchte (Erbsen, Bohnen) zum Trinkgelage zu reichen, vgl. den Kontext des Xenophanes-Fragments bei Athenaios, der weitere Dichterstellen zu diesem Thema anführt. – Eine ähnliche Stimmung wie in fr. 22 wird bei Aristophanes Pax 1127–1145 sowie bei Platon Politeia 372b–d gezeichnet.

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gangs gezeichneten Atmosphäre entspannter Zufriedenheit in einem Kontrast steht. Durch die an den Gesprächspartner gerichteten Fragen in V.4 evoziert der Dichter eine Standardsituation der homerischen Epen, besonders der Odyssee.21 So bittet Telemachos im 1. Gesang der Odyssee die in der Maske des Taphierfürsten Mentes auftretende Göttin Athene zum Mahl, um ihr hernach eine Art Fragenkatalog vorzulegen: a)ll` a)/ge moi to/de ei)pe\ kai\ a)treke/wj kata/lecon: / ti/j po/qen ei)j a)ndrw=n; po/qi toi po/lij h)de\ tokh=ej; / o(ppoi/hj t’ e)pi\ nho\j a)fi/keo; [...] / kai/ moi tou=t’ a)go/reuson e)th/tumon, o)/fr’ e)u\ ei)dw=, / h)e\ ne/on meqe/peij, h)= kai\ patrw/io/j e)ssi / cei=noj [...].22 In verschiedenen Konstellationen wiederholen sich Fragen und Situation, immer wird ein Fremder nach seinen spezifischen Identitätsmarkern gefragt, und immer gibt das dem Befragten die Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen. Besonders zu nennen sind hier die Geschichte des Odysseus auf die Frage der Phaiakenkönigin hin (Od. 7) und Odysseus’ fiktive Autobiographie als Kreter dem Sauhirten Eumaios gegenüber (Od. 14). Und dieses Erzählen und Sich Erinnern ist nicht ohne Behagen. Tatsächlich ist es, wie Eumaios sagt, auch ein Sich Laben, ein Sich Ergötzen an den vergangenen Widerfahrnissen. Dieser Gedanke kommt innerhalb weniger Verse gleich zweimal zum Ausdruck und unterstreicht damit den Aspekt des ästhetischen Wohlgefallens an der Erzählung auch ‚traumatischer‘ Lebensumstände: nw=i d’ e)ni\ klisi/$ pi/nonte/ te dainume/nw te / kh/desin a)llh/lwn terpw/meqa leugale/oisi / mnwome/nw: meta\ ga/r te kai\ a)/lgesi te/rpetai a)nh/r, / o(/j tij dh\ ma/la polla\ pa/qv kai\ po/ll’ e)palhqv=.23 Dem Erinnern schmerzlicher Widerfahrnisse kann im Austausch autobiographischer Erzählungen also auch das Ergötzen, die te/ryij, eignen. Das darf wohl so verstanden werden, dass im Er–––––––––––––– 21 Die Stellen bei Arend 1933: 39 (Anm. 1) u. 44f.. Vgl. zusätzlich Odyssee 1,406. 10,325. Fränkel (1962: 371f.) führt die Fragen im Xenophanes-Fragment auf die Fragen zurück, mit denen das Publikum des epischen Sängers diesen zum Weitersingen animierte (vgl. Fränkel 1962: 13–15). Vgl. zum Folgenden den wichtigen Aufsatz von Mackie 1997. 22 Od. 1,169–176: „Doch auf! Sage mir dieses und berichte es mir zuverlässig: wer bist du und woher unter den Männern? Wo ist deine Stadt und deine Eltern? Auf was für einem Schiff bist du gekommen? […] Und sage mir auch dieses wahrhaftig, dass ich es gut weiß: kommst du neu zu uns oder bist du vom Vater her ein Gastfreund?“ (Übers. W. Schadewaldt) 23 „Wir beide aber wollen in der Hütte trinken und essen und uns an den traurigen Kümmernissen von uns beiden in der Erinnerung ergötzen. Denn hinterher ergötzt ein Mann sich auch an Schmerzen, wenn er gar viel gelitten hat und viel umhergetrieben wurde.“ (Od. 15,398–401)

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zählen selbst – nach glücklichem Ausgang – eine therapeutische Wirkung enthalten ist. Im Gegensatz zu den paradigmatischen Geschichten, die die Protagonisten der Ilias erzählen, ist das Interesse der Figuren in der Odyssee stark auf rezente Ereignisse gerichtet, der zeitliche Rahmen einer Generation wird dabei kaum überschritten.24 In der Odyssee wird beständig erzählt, v.a. in den Gesängen 6ff.; in der Hauptsache dienen diese Erzählungen dem Austausch echter oder ‚falscher‘ autobiographischer Erinnerungen.25 Das stärkere emotionale Engagement der Figuren tritt am eindrücklichsten angesichts des durch Gesänge oder Erzählungen geweckten schmerzlichen Erinnerns eigener Schicksale zutage. Die Schmerzen des Haupthelden selber (1,4) werden zu Beginn des Epos als ein Zentralthema angetönt. Die Akkuratesse des Erzählens ist ein ebenfalls in der Odyssee oft betonter Umstand. Die inhaltliche Zusammenstellung mit fr. 8 wiederum wird auch durch die Formulierung in V.4, er wolle e)tu/mwj, also wahrhaftig, berichten, gerechtfertigt, ist doch die Selbstvergewisserung über die Korrektheit auch ein Element des Erzählens der homerischen Figuren.26 Und wie Odysseus darf sich Xenophanes als Umhergetriebener, Vielgewanderter begreifen, der beim Mahl von seinen Erlebnissen berichtet.27 Die Frage nach dem Alter zur Zeit der ‚Meder‘ankunft lenkt das Interesse dabei auf ein offenbar zentrales ‚kritisches Ereignis‘ im Lebenslauf des Befragten.28 Das Leben wird in ein ‚davor‘ und ‚danach‘ unterteilt, eine Diskontinuität bewirkende Bruchstelle festgestellt, um die herum ein Lebenslauf erzählbar wird.29 Wir haben es hier fast mit einer Art von persönlicher, kalenderunabhängiger Zeitrechnung zu tun.30 –––––––––––––– 24 Vgl. die Gesänge des Phemios und des Demodokos, die die aus Sicht der Figuren jüngste Vergangenheit thematisieren. 25 Zur Bedeutung der Odyssee für die Entwicklung griechischer Autobiographik vgl. Zimmermann 2007. 26 Ein Element, das es mit späterer Geschichtsschreibung verbindet, vgl. z.B. Thukydides 1,22,2 u. Ephoros FGrHist 70 F 9. 27 Für Odysseus als ‚Rollenmodell‘ vgl. auch Theognis 1123–1128. 28 Die Entwicklungspsychologie spricht bei Ereignissen, die der Erwartung vom Verlauf einer Lebensgeschichte zuwiderlaufen, von „kritischen Lebensereignissen“ (Filipp 1995). Diese werden nach altersnormierten (age-graded), non-normativen und epochalnormierten (history-graded) Ereignissen differenziert. Epochalnormiert ist ein kritisches Lebensereignis, wenn ein zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt eintretendes Ereignis von kollektiver Tragweite (Naturkatastrophen, Kriege, wirtschaftliche Krisen) „in individuelle Betroffenheit transformiert“ wird. Vgl. auch allgemein Pillemer 1998. 29 Cavalli 1997: 455f. 30 Bei Diogenes Laertios heißt es über Anaxagoras in einer möglicherweise auf ihn selbst zurückgehenden biographischen Notiz, er sei zum Zeitpunkt von Xerxes’

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Da wie selbstverständlich gerade danach gefragt wird, ist anzunehmen, dass die Frage auf eine beiden Seiten, Fragendem und Befragtem, zugängliche, beiderseits gemachte Erfahrung rekurriert. Und da die Worte in einem Symposion gesprochen werden, dürften auch andere Symposiasten an dieser Erfahrung partizipieren, die gleiche Zäsur im Lebenslauf aufweisen. Vor dem Hintergrund des beständigen Wiederkehrens des oben erwähnten Fragensets in der Odyssee, das damit eine typische, kaum Variation in der Darstellung erfordernde Situation kennzeichnet, dürfte es sich auch hier um eine ‚Standardszene‘ sympotischer Konversation handeln. Die Frage nach den Persern zielt auf eine von vielen Individuen gemachte Erfahrung, charakterisiert die Unterredner damit als parallele Teilnehmer „am selben Abschnitt des kollektiven Geschehens.“ Im Sinne von K. Mannheims Konzept der Generation befinden sie sich durch die gemeinsame Partizipation an einem ‚historischen‘ Ereignis in einer „verwandten Lagerung.“31 Der –––––––––––––– Überschreitung des Hellespont zwanzig Jahre alt gewesen (D.L. 2,7); in der Vita des Anaximenes wiederum wird die Eroberung von Sardes durch die Perser als Epochenjahr angeführt (D.L. 2,3). Für beide Denker dürften sich diese Ereignisse, auch wenn wir über diese dürftigen Angaben hinaus nichts weiter wissen, als Schlüsselerlebnisse in ihren Lebenslauf eingelagert haben, fiel doch der Xerxeszug zeitlich mit Anaxagoras’ Eintreffen in Athen und der Aufnahme seines Philosophierens zusammen, und war Anaximenes im Jahre 546 als Einwohner Milets Augenzeuge des Übergangs von der lydischen zur persischen Oberhoheit. Eine massive Neujustierung der persönlichen Chronologie nach einem ‚kritischen Lebensereignis‘ von kollektivem Belang lässt sich z.B. auch in den amerikanischen Südstaaten nach Beendigung des Bürgerkrieges feststellen. Während im siegreichen Norden der Krieg eine Gesprächsmarginalie darstellt, bildet er im Süden den Hauptgesprächsstoff, wie Mark Twain in „Life on the Mississippi“ beobachtet: „The case is very different in the South. There, every man you meet was in the war; and every lady you meet saw the war. The war is the great chief topic of conversation. The interest in it is vivid and constant; the interest in other topics is fleeting. Mention of the war will wake up a dull company and set their tongues going, when nearly any other topic would fail. In the South, the war is what A.D. is elsewhere: they date from it. All day long you hear things ‚placed‘ as having happened since the waw; or du’in’ the waw; or befo’ the waw; or right aftah the waw; or ’bout two yeahs or five yeahs or ten yeahs befo’ the waw or aftah the waw. It shows how intimately every individual was visited, in his own person, by that tremendous episode. It gives the inexperienced stranger a better idea of what a vast and comprehensive calamity invasion is than he can ever get by reading books at the fireside“ (Twain 1883: 454f.). Auch für die Armenier teilt sich die Vergangenheit in die Zeit vor dem Genozid von 1915 und in die Zeit danach (Dabag/Platt 1993: 131). – Es sei in diesem Zusammenhang auch an die Rede von der „Stunde Null“ sowie den staatlichen Oktroi neuer Zeitrechnungs-systeme (z.B. revolutionäres Frankreich, faschistisches Italien) erinnert. 31 Mannheim 1928/29: 179f. Für eine statistische Bestätigung dieses Ansatzes (bezogen auf die Wahrnehmung zeithistorischer Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland) vgl. Heinrich 1996.

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persischen Eroberung kommt hier eine geradezu generationsbildende Kraft zu.32 Im Jahre 546 v. Chr. hatte die Expansion des nunmehr von Medien unabhängigen Perserreiches unter seinem König Kyros (559–530) mit der Eroberung der lydischen Hauptstadt Sardeis einen ersten Höhepunkt erreicht. Die griechischen Poleis in Westkleinasien, die einer früheren Aufforderung des Perserkönigs, von der lydischen Herrschaft abzufallen, nicht nachgekommen waren, wurden in der Folge durch Kyros’ General Harpagos erobert, darauf die Städte in Karien und Lykien.33 Mit Ausnahme Milets, das mit den Persern verbündet war, dürften alle Poleis das Schicksal der Eroberung erfahren haben. Der in Vers 5 genannte „Meder“ (o( Mh=doj) steht hier synekdochisch für das erobernde Kollektiv, d.h. die Perser. Die Benennung der Perser als „Meder“ war im 5. Jahrhundert ubiquitär, wie einer Mehrzahl der Siegesepigramme aus den Perserkriegen oder auch dem Gebrauch im Geschichtswerk des Herodot abzulesen ist.34 Das Auftauchen des Meders griff tief in das Leben der griechischen Städte und in die Lebensläufe seiner Bewohner ein. In der Rückschau konnte – freilich mit der Erfahrung der Perserkriege des 5. Jahrhunderts im Hintergrund – das Los der Eroberten als doulosu/nh empfunden, das Schicksal Ioniens als zweite Unterjochung (nach den Lydern) bezeichnet werden.35 Der Eindruck eines ‚epochalen Bruchs‘ mag noch in der Auffassung des Thukydides nachklingen, die Eroberung durch Kyros habe ein weiteres Anwachsen der bedeutend gewordenen ionischen Machtstellung verhindert (Thuk. 1,16). ––––––––––––––

32 Im Athen des späteren 5. Jahrhunderts v. Chr. bildeten die Marathonomachoi, die ‚alten Kämpfer‘ der Abwehrschlacht gegen die Perser bei Marathon, eine solche ‚Erlebnisgeneration‘. Wiewohl in der Alten Komödie teils ironisiert, firmieren sie als meist der Gegenwart positiv gegenübergestelltes Muster idealer Polisbürgerschaft. 33 Hauptquelle ist der Bericht des Herodot (1,162–176), vgl. hierzu Wiesehöfer 1987. 34 Vgl. hierfür Tuplin 1994 mit den Belegen. Es gibt freilich schon bald nach den Perserkriegen auch Gegenbeispiele (Aischylos’ Persai) die das Bild auch für die frühe Zeit weniger ‚total‘ wirken lassen. Die Siegesepigrammatik stellt bisweilen ebenfalls die Begriffe „Perser“ und „Meder“ nebeneinander. – Für das Xenophanes-Fragment wurde angenommen, dass sich hinter o( Mh=doj Kyros’ General Harpagos verberge (Hdt. 1,162,1: ge/noj kai\ au)to\j e)w\n Mh=doj). Das ist nicht völlig auszuschließen. Die Auffassung als Kollektivsingular findet jedoch eine Stütze in mehrmaligem Gebrauch bei Herodot (Stellen bei Heitsch 1983: 143). 35 Herodot 1,169,2: ou(/tw dh\ to\ deu/teron I)wni/h e)dedou/lwto. Die dritte Unterjochung der Ionier bei der Niederschlagung des Ionischen Aufstandes: Herodot 6,32.

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Für das Ergehen der einzelnen Poleis belässt es Herodot mit wenigen Ausnahmen bei summarischen Ausführungen.36 Vor dem Harpagoszug ereilt Priene, Magnesia und das Mäandertal die Versklavung und Plünderung, die Bevölkerungen der Städte Phokaia und Teos ziehen den Massenexodus der Eroberung vor, die lykischen Xanthier hingegen den Massensuizid. Die gewaltsame Einnahme einer Polis (a(/lwsij) mit ihren möglichen Folgen – physische Vernichtung der Stadt und ihrer Bewohner, Plünderung und Brandschatzung, Versklavung und Deportation – stellt eine literarisch oft gestaltete Urkatastrophe in der griechischen Vorstellungswelt dar, verdichtet nicht zuletzt im mythischen Bild der Eroberung Troias.37 Für das Individuum war der Untergang seiner Heimatpolis wenn nicht mit dem Tod, so doch mit Deportation oder Flucht verbunden. In der archaischen Dichtung wird das Flüchtlings- und Verbanntenschicksal in einer Vielzahl von Texten thematisiert.38 Ehrverlust, Schande, Verlust von Vermögen und Bürgerrecht, Ausschluss von der Teilhabe am Leben der Polis, rastloses Umherirren, Bettlerdasein, Versklavung, Heimweh, Trennung von Verwandten und Freunden werden dabei beklagt.39 Die Reaktion auf die unerwartete Exilserfahrung resultiert in einem verstärkten Nachdenken über den eigenen Lebenslauf mit seinen Wechselfällen, löst also autobiographisches Erinnern aus und den Versuch, das durch ein kontingentes Geschehen entstandene Sinndefizit zu bewältigen.40 ––––––––––––––

36 Herodot 1,169; Priene und Magnesia: 1,161; Phokaia und Teos: 1,162–168; Xanthos: 1,176. 37 Aischylos’ Sieben gegen Theben (aufgeführt 467) schildert v.a. in den Chorliedern der thebanischen Jungfrauen die möglichen Folgen eines Falls der Stadt in grellen Farben (bes. 321–368). Phrynichos’ Tragödie von der Eroberung Milets (Miletou halosis) hatte einige Jahre zuvor das athenische Publikum derart verstört, dass der Dichter mit einer Geldstrafe und das Stück mit einem Wiederaufführungsverbot belegt wurde (Herodot 6,21,2; vgl. hierzu Rosenbloom 1993). Quintilian malt in seinem rhetorischen Handbuch (8,3,67–70) die eversio einer Stadt nach Art der hellenistischen Geschichtsschreibung aus. Zur Bedeutung von Stadtuntergängen und menschlichem Leid für die Historiographie vgl. Strasburger 1982: 985ff. – Troia: Vgl. Flaig 2005: 219ff. 38 Zum Phänomen allgemein Seibert 1979; Exil in der archaischen Dichtung: Seibert 1979: 276–291, Bowie 2007; den ‚Dichter im Exil‘ behandelt zeitenübergreifend Zimmermann 2003; „first-person narratives adressed to strangers“ und ihre autobiographische Funktion thematisiert Most (1989: 120ff.). 39 Vgl. z.B. Homer Od. 15,343; Tyrtaios fr. 10,3–12 West; Theognis 332a–334. 783– 788. 1197–1202. 1209–1216. 40 „Der Schock der Verbannung löst autobiographische Reflexion aus, […] man kann sogar sagen, dass die Erfahrung und Verarbeitung des Exils als Ursprung der Au-

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Im Falle der persischen Eroberung der griechischen Poleis Westkleinasiens trat ein weiterer Umstand hinzu: Das ‚Kommen des Meders‘ bedeutete auch den Untergang der in diesem Raum lange etablierten Macht der Lyder. Nach der letztlich erfolgreichen Abwehr der Kimmerier im sechsten Jahrhundert und der Niederlage Phrygiens hatte Lydien unter der Dynastie der Mermnaden einen beispielhaften Aufstieg genommen. Nicht nur als Oberherr der kleinasiatischen Griechen, sondern auch kulturell strahlte Lydien in die nähere und fernere griechische Welt immens aus.41 Der Untergang des Lyderreiches und seiner Hauptstadt Sardeis, insbesondere das Schicksal des Kroisos, konnte also seinen Eindruck auf Zeitgenossen und Nachgeborene nicht verfehlen. Das erhellt nicht zuletzt daraus, dass die Kroisosfigur in quasi ‚mythisierter‘ Form Eingang in die griechische Literatur Eingang fand. Bei Bakchylides werden anhand des Lyderkönigs und des Unterganges von Sardeis die Wechselfälle des Schicksals exemplifiziert.42 Bei Herodot wiederum ist die mit legendarischen Zügen ausgestattete Figur des Kroisos der entscheidende Ausgangspunkt seines Werkes.43 Der ‚traumatische‘ Verlust der Heimat und die Eroberung durch die Perser stellte die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Geschehens. Unter den elegischen Fragmenten des Xenophanes findet sich ein Versuch des Dichters, den Untergang seiner Heimatpolis mit dem Verhalten seiner Einwohner zu erklären. a(brosu/naj de\ maqo/ntej a)nwfele/aj para\ Ludw=n, o)/fra turanni/hj h)=san a)/neu stugerh=j, h)/iesan ei)j a)gorh\n panalourge/a fa/re’ e)/xontej, ou) mei/ouj w(/sper xei/lioi w(j e)pi/pan, au)xale/oi, xai/thisin a)gallomen eu)prepe/essin, a)skhtoi=j o)dmh\n xri/masi deuo/menoi.44

–––––––––––––– 41 42 43 44

tobiographie gelten kann“ (Zimmermann 2003: 97). Zimmermann sieht diesen Mechanismus im Rang einer anthropologischen Konstante. Vgl. Crielaard 2009: 60–63; zur Bedeutung des lydischen ‚Modells‘ für die griechische Elitenkultur s.u. Bakchylides epin. 3,23–56. Herodot 1,5,3. Evans (1978: 34) betont unter Hinzuziehung von Xenophanes fr. 22 D.-K. die Bedeutung von Kroisos’ Fall für das griechische Bewusstsein, „a point of time independent of any calendar date.“ Zu diesem Phänomen s.o. Athenaios 12,526a = fr. 3 West = fr. 3 D.-K.: „[…] / doch da sie [die Bewohner von Kolophon] Prunk und Putz gelernt, unnützen, von den Lydern, / solang sie frei noch waren von verhasster Tyrannei, / stolzierten zur Versammlung sie in Mänteln ganz aus Purpur, / nicht weniger als tausend Mann im ganzen ungefähr, / von Stolz geschwellt, mit Locken prangend herrlich ondulieret, / durch ausgesuchte Crèmes von Duft geradezu getränkt!“ (Übers. J. Latacz) Vgl. zu diesem Fragment bes. Bowra 1941, Heitsch 1983: 110–116, Lesher 1992: 61–65. Das 12. Buch des

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Das de\ im ersten erhaltenen Vers macht deutlich, dass der Text einem größeren verlorenen Zusammenhang entnommen sein dürfte.45 Der kaiserzeitliche Buntschriftsteller Athenaios, dessen Deipnosophisten wir das Fragment verdanken, bezieht die Verse aus dem Historiker Phylarchos. Nach Phylarch seien die ursprünglich streng lebenden Kolophonier nach einem Bündnis mit den Lydern verweichlicht und hätten sich einer ausschweifenden Lebensweise und dem Kleiderluxus ergeben. Exzessiver Weingenuss führte zu quasi ununterbrochenen Symposia. Aus Theopomp ergänzt Athenaios die Darstellung um den Untergang der Stadt durch Tyrannis und staseis. Die Verse des Xenophanes bildeten offenbar in beiden Geschichtswerken den Ausgangspunkt für die Aussagen der Autoren zu Kolophon. Dass sich hinter den zusätzlichen Informationen ebenfalls die Elegie des Xenophanes verbirgt, ist anzunehmen, aber nicht sicher. Die Missbilligung der kolophonischen Prunksucht, ihres Kleiderluxus, der langen Haartracht und der übertriebenen Körperpflege wird aus dem erhaltenen Fragment jedoch hinreichend deutlich. Der spätere Untergang seiner Heimatstadt Kolophon, die von Xenophanes selbst miterlebte Eroberung durch die Perser unter Harpagos im Jahre 546 v. Chr., könnte hier den Rahmen abgeben für seine retrospektive Beurteilung der Kolophonier. Zumindest lässt das das Umfeld, in dem das Fragment bei Athenaios steht, vermuten sowie nicht zuletzt die später bezeugte sprichwörtliche Redensart von der „Hybris der Kolophonier“ und deren zweimalige Erwähnung im Corpus Theognideum.46 Das Xenophanes-Fragment fügt damit der schon früh in der griechischen Dichtung der Archaik anzutreffenden Vorstellung, einem Wechsel des Schicksals gehe ein transgressives Verhalten des Erleidenden voraus, eine wichtige Nuance hinzu, die sich insbesondere im Hellenismus großer Beliebtheit erfreute. Die Erklärung des Niedergangs griechischer Poleis mit ihrer a(brosu/nh bzw. trufh/ ist ein in der Historiographie oft bemühtes Modell.47 Seine ‚Kompromittierung‘ erlebte der Begriff a(brosu/nh ––––––––––––––

Athenaios ist dem Genuß und Luxus von Einzelpersonen und Völkern, Griechen und Nichtgriechen gewidmet. 45 Dass die Verse den oben erwähnten ‚Stadtgründungsdichtungen‘ des Xenophanes zugehörten, ist zwar denkbar, aber nicht zu erhärten. Schmid (1947: 24–30) weist sie der Kolophnos ktisis zu. 46 Zweimal wird hier darauf verwiesen, dass es die Hybris gewesen sei, die die Stadt Magnesia bzw. die Städte Magnesia, Smyrna und Kolophon vernichtet habe (Theognis 603f., 1103f.). Solche „narrativen Abbreviaturen“ (Rüsen 1994: 10f.), stellen, da sie der Ausführung nicht bedürfen, wichtige Indikatoren für für den Alltag belangvolle historische Erinnerungen dar („Einsprengsel der Geschichte“). 47 Bernhardt 2003: 233–238. Zur archaischen a(brosu/nh vgl. Kurke 1992.

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allerdings erst im 5. Jahrhundert v. Chr. Xenophanes markiert hier einen Wandel in der Wahrnehmung orientalischer ‚Kulturimporte‘, wenngleich schwierig zu beurteilen ist, inwieweit seine Deutung der Geschichte Kolophons mit ihrem ‚Dekadenzmodell‘ als repräsentativ gelten darf.48 Die Auseinandersetzung mit dem um 680 begründeten Lyderreich war für die kleinasiatischen Griechen teils von Krieg, Eroberung und Tributpflicht, teils aber auch von Handel und Wandel, vielfältigem kulturellem Austausch sowie nicht zuletzt der Abwehr gemeinsamer äußerer Feinde gekennzeichnet. Die lydischen Könige selbst suchten etwa durch die Stiftung von Weihgeschenken in griechische Heiligtümer (v.a. Delphi) den Kontakt mit Hellas. Die griechischen Eliten wiederum rezipierten intensiv den lydischen Lebensstil, was sich auch im Konsum von Luxusgütern äußerte. Der Luxus war in der griechischen Wahrnehmung derart fest mit den Lydern assoziiert, dass man selbst für die Perser annahm, sie hätten ihn erst nach der Eroberung Lydiens kennengelernt.49 Der sich aus der archaischen Dichtung ergebene Befund zum Verhältnis gegenüber den Lydern ist differenziert.50 Auch zum Phänomen der a(brosu/nh fällt der Befund zwiespältig aus.51 Während aus dem zitierten Xenophanes-Fragment eine starke moralische Abwertung spricht, findet sich bei Sappho die geradezu programmatisch anmutende Aussage: e)/gw de\ fi/lhmm’ a)brosu/nan (fr. 58,25 L.-P.). Überhaupt ist das Wortfeld bis ins 5. Jahrhundert fast ausschließlich positiv besetzt. Erst die Zeit der Perserkriege ändert dieses Bild grundlegend. Nicht nur die Lyder gelten nun als Inbegriff der durch einen aufwendigen Lebensstil bedingten Verweich- und Verweiblichung, auch die von ihnen affizierten Ionier geraten in Misskredit.52 Bezieht man Xenophanes fr. 22 auf fr. 8 und das ‚Kommen des Meders‘ auf die dort erwähnte Zäsur im Leben des Dichters, so gelangt man für die Datierung der Aussage etwa in die Jahre um 479/8 v. Chr., d.h. in die Zeit kurz nach den Perserkriegen. Die Eroberung der griechischen Poleis Kleinasiens musste sich vor diesem zeithistorischen Hintergrund wie ein Vorspiel zum westlichen Ausgreifen des Perserreiches unter Dareios –––––––––––––– 48 Als „Außenseitermeinung“ charakterisiert bei Bernhardt 2003: 121. Bichler (1996: 67ff.) liest das Xenophanes-Fragment als Ausdruck eines konfrontativen Orientbildes und betont die gedanklichen Verbindungen zu Herodot. Zur ‚Verweichlichung‘ der Lyder vgl. bereits Aischylos Perser 41. 49 Herodot 1,71,4. 50 Belege z.B. bei Bichler 1996: 63–66. Lydien als Inbegriff des Reichtums: Sappho 132 L.-P. 51 Hierzu ausführlich Kurke 1992, Bernhardt 2003: 19–22. 52 Literarische Belege zum Lyderbild des 5. Jahrhunderts: Bernhardt 2003: 121–124; zu den Ioniern Bernhardt 2003: 19 Anm. 8.

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und Xerxes ausnehmen und die Sicht nicht nur des Xenophanes auch auf dieses Ereignis prägen. Die retrospektive Interpretation des geschichtlichen Verlaufs der archaischen Zeit als einer Geschichte der Konflikte zwischen Hellenen und Barbaren, wie wir sie im Geschichtswerk des Herodot schließlich voll ausformuliert finden, hat ihre Anfänge im sympotischen conversational remembering. Ziel der vorstehenden Ausführungen war es, den Zusammenhang zwischen nichtintentionalen und intentionalen Formen der ‚Verfertigung von Vergangenheit‘ im Werk des Xenophanes von Kolophon aufzuzeigen. Das Fragment aus den Silloi führt uns in einen Kreis älterer Flüchtlinge aus Kleinasien.53 Die individuell wie kollektiv bedeutsame Katastrophe der Eroberung durch die Perser schließt sie als Generation zu einer Erfahrungsgemeinschaft zusammen, in der der Rekurs auf das gemeinsame Schicksal zu den kommunikativen Selbstverständlichkeiten gehört. Durch die Verknüpfung individueller Erfahrungen mit zeithistorischer Zeugenschaft zeigt sich die autobiographische Erfahrung als eine Kodierungsform historischer Deutungen.54 Das wiederholte Erzählen trägt zu einer Verfestigung der neuronalen Verbindungen und damit der episodischen Erinnerungen in Form von Anekdoten bei. Das Reden über die generationsbedingt geteilten Erfahrungen und die gegenseitige Verständigung über den gemeinsamen Erfahrungsraum können dabei – wie in der bei Xenophanes so wohlig ausgemalten Gesprächsszene beim Symposion – zur Bildung fester ‚Kommunikationsrituale‘ führen.55 Unter Rückgriff auf das von der Odyssee mit ihrer engen Verbindung von Erfahrung, Erinnerung und Erzählung bereitgestellte Modell autobiographischer Narration gelingt es Xenophanes zudem, den Zusammenhang von Erinnerung und te/ryij aufzuzeigen. –––––––––––––– 53 Als Ort des Symposions hat Cerri (2000: 45ff.) die phokäische Gründung Elea festzulegen versucht („composto ad Elea e per Elea“). Für eine Verbindung des Xenophanes zu dieser Stadt spricht seine Dichtung über die Stadtgründung (s.o.) sowie seine zwiespältig beurteilte Zugehörigkeit zur eleatischen Schule. Ob er eventuell mit den Phokäern vor Harpagos flüchtete und an ihrem Kolonisationsunternehmen teilnahm, muss dahingestellt bleiben. Für Apollodor war die Verbindung von Xenophanes und den Phokäern Ausgangspunkt für seine Datierung des Dichters, vgl. Woodbury 1961. 54 Vgl. von Borries 2001: 241f. 55 Ein vergleichbares Phänomen ist etwa unter deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten: „Die Flucht, die Flucht, immer die Flucht. Die Geschichte von der Flucht wurde jedes Mal erzählt, wenn zwei Erwachsene zusammenkamen. Sie begann mit ALS DER RUSSE KAM und endete damit, dass geweint wurde“ (Reski 2001: 149).

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In seinen Elegien scheint Xenophanes die Katastrophe seiner Heimat noch in anderer Weise verarbeitet zu haben. Unter Rückgriff auf eine in Anknüpfung an Hesiods Erga56 besonders in der elegischen Dichtung fest etablierten Denkfigur, die von einem Zusammenhang von Tun und Ergehen des Menschen ausgeht, deutete er den Untergang der Stadt Kolophon als selbstverschuldete Katastrophe.57

Bibliographie Arend, W. (1933). Die typischen Szenen bei Homer. Berlin: Weidmann. Bernhardt, R. (2003). Luxuskritik und Aufwandsbeschränkungen in der griechischen Welt. Stuttgart: Franz Steiner. Bichler, R. (1996). „Wahrnehmung und Vorstellung fremder Kultur. Griechen und Orient in archaischer und frühklassischer Zeit“. In: M. Schuster (Hg.): Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart. Stuttgart/Leipzig: B.G. Teubner, 5–4. Borries, B. von (2001). „Geschichtsbewußtsein als System von Gleichgewichten und Transformationen“. In: J. Rüsen (Hg.): Geschichtsbewußtsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 239–280. Bowie, E.L. (1986). „Early Greek Elegy, Symposium and Public Festival“. Journal of Hellenic Studies 106, 13–35. Bowie, E.L. (1993). „Greek Table-Talk Before Plato“. Rhetorica 11, 355–373. Bowie, E.L. (2007). „Early Expatriates: Displacement and Exile in Archaic Poetry“. In: J. F. Gaertner (Hg.): Writing Exile: The Discourse of Displacement in GrecoRoman Antiquity and Beyond. Leiden/Boston: E.J. Brill, 21–49. Bowra, C.M. (1941). „Xenophanes, Fragment 3“. The Classical Quarterly 35, 119–126. Cavalli, A. (1997). „Gedächtnis und Identität. Wie das Gedächtnis nach katastrophalen Ereignissen rekonstruiert wird“. In: K.E. Müller/J. Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 455–470. Cerri, G. (2000). „Senofane ed Elea (Una questione di metodo)“. Quaderni Urbinati di Cultura Classica n.s. 66, 31–49.

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56 Vgl. v.a. Hesiod Erga 237–246. 57 Die Bedeutung des aus altvorderasiatischem Denken bekannten Tun-ErgehenZusammenhangs für Darstellung und Deutung von Stadtuntergängen im archaischen Griechenland stellt Flaig (2005: 216–219) heraus. „Der intellektuelle Katalysator für genuin geschichtsträchtiges Denken ist im hellenischen Kontext somit der Untergang der Stadt: dieser kollektiven Katastrophe gilt es – im Medium der Poesie – einen Sinn abzugewinnen“ (Flaig 2005: 218). Vgl. zum Zusammenhang von Katastrophenerfahrung und Geschichte auch den Beitrag von J. NiehoffPanagiotidis in diesem Band.

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„Unmögliche Antike“ Erfahrung von Kulturgeschichte in Hugo von Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland

CHRISTOPHER MEID Wenn Hugo von Hofmannsthal in dem Essay Griechenland (1922) erklärt, die „Reise nach Griechenland [sei] von allen Reisen, die wir unternehmen, die geistigste“,1 sie sei „eine geistige Pilgerschaft“,2 so reflektiert diese Äußerung prägnant den auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitgehend ungebrochenen Griechenkult. Insbesondere im deutschen Sprachraum zählt die Ideologie einer Sonderbeziehung zwischen griechischem und deutschem Geist zu den Grundbeständen des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses,3 unberührt von den fundamentalen Einschnitten im Antikebild, die insbesondere in Nietzsches Tragödienschrift, aber auch in den Werken Bachofens, Rohdes und Burckhardts deutlich werden. Diese partiellen Umdeutungen der griechischen Kultur, die dem Winckelmannschen Klassizismus Konzepte vom dionysischen Substrat der griechischen Kultur entgegensetzen, stimulieren im Gegenteil eher die Vorstellungen einer grundsätzlichen Affinität zwischen Antike und Moderne, die auch in der Literatur um 1900 greifbar werden. Gerade Hofmannsthal gilt gemeinhin als der Autor der Jahrhundertwende, der sich vor dem Hintergrund einer gründlichen humanistischen Schulbildung4 am intensivsten und erfolgreichsten mit den griechischen Vorbildern auseinandersetzt.5 Dabei ist die Diskrepanz bemerkenswert, die zwischen dem eingangs zitierten Enthusiasmus des Griechenland-Essays und den einige Jahre zuvor entstandenen Augenblicken in Griechenland besteht, die tatsächlich ––––––––––––––

1 2 3 4 5

Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 629. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 629. Vgl. Landfester 1996. Vgl. Schmidt-Dengler 1982. Vgl. Jens 1955, Esselborn 1969, Uhlig 2003.

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eine Reise nach Griechenland beschreiben.6 Sowohl bei der Reise an sich als auch bei deren literarischen Umsetzung kommt der Vorprägung des Reisenden besondere Bedeutung zu, kann dieser doch angesichts der westlichen Bildungstradition kaum unbefangen griechischen Boden betreten. In der Literatur wird die Reise oftmals zu einer gleichsam religiös konnotierten Rückkehr zu den Wurzeln des Abendlandes stilisiert, zu einer Pilgerfahrt, die der Selbstvergewisserung des Reisenden und seiner Selbstverortung in großen historischen und geistesgeschichtlichen Kontexten dient. Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling (1908), der maßstabsetzende deutschsprachige Bericht einer Griechenlandreise, demonstriert eindrücklich, wie dies über einen durchaus autosuggestiven Gestus möglich ist, über den nahezu alle Enttäuschungserfahrungen suspendiert werden.7 Demgegenüber gestaltet Hugo von Hofmannsthal in den Augenblicken in Griechenland zwar den Versuch einer solchen Pilgerfahrt; diese allerdings scheitert auf ganzer Linie. Das moderne Subjekt kann offenbar nicht zu einer Erfahrung der griechischen Kultur gelangen; die „[u]nmögliche Antike“8 bleibt fremd und unzugänglich. Vor dem Hintergrund einer knappen Einordnung in Hofmannsthals Reiseprosa wird zu fragen sein, wie Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland die Möglichkeit einer sinnlichen Erfahrung von Kulturgeschichte werten und wie sich Vorprägung und literarische Gestaltung der Erfahrung zueinander verhalten. Leitender Gesichtspunkt ist die These, dass gerade die Augenblicke in Griechenland Dokument einer spezifisch modernen Standortbestimmung sind, einer Standortbestimmung, in der normative Setzungen zugunsten einer gleichsam spielerischen Verfügbarkeit der Kulturgeschichte suspendiert werden.

* In Hofmannsthals Werk kommt den Texten über Reisen eine besondere Bedeutung zu, wobei zwischen Reiseberichten und Reiseessays zu trennen –––––––––––––– 6

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Die drei Teile entstanden 1908 (Ritt durch Phokis. Das Kloster des heiligen Lukas; erstmals gedruckt in: Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 25, Berlin 19. 6. 1908) und zwischen 1909 und 1914 (Der Wanderer, Die Statuen). Erstmals zusammen erschienen sie 1917 im dritten Band von Hofmannsthals Prosaischen Schriften. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 677. Vgl. Hauptmann 1908. Vgl. auch Santini 2000, die allerdings eher die Gemeinsamkeiten zwischen den Reiseberichten von Hauptmann und Hofmannsthal betont. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621.

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ist. Während erstere eine Reise narrativ nachvollziehen,9 setzen sich letztere reflexiv und argumentativ mit dem Reiserlebnis auseinander.10 Hofmannsthals Reiseberichte gehören zu den faszinierendsten, aber auch hermetischsten Texten des Autors. Er selbst reflektiert den innovativen Charakter dieser Texte, wenn er in einem Brief an Paul Zifferer schreibt, in seinen Augenblicken in Griechenland sei „etwas absolut Neues gegeben“, gerade in der Beschreibung psychischer Vorgänge, die „bis ins glühende Innerste“ führe.11 Gerade diese Betonung völliger Neuheit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese oftmals dezidiert poetologischen Texte niemals die Gattungsgrenzen völlig überschreiten und sich erst im Kontext der Gattung des Reiseberichts adäquat interpretieren lassen. Hofmannsthal gestaltet in seinen Reiseberichten in hohem Maße psychische Vorgänge. Diese Wendung weg von der empirisch erfahrbaren Realität hin zu der Erforschung von Seelenzuständen – im Hintergrund steht unverkennbar Ernst Machs Empiriokritizismus – bringt aber gerade für den Reisebericht, der traditionell als in hohem Maße erfahrungsgesättigte Gattung gilt, beträchtliche Probleme mit sich. Wenn gerade die Erfahrbarkeit von Realität in Frage steht, so muss auch das Schreiben über diese fragwürdige Erfahrung neue Wege einschlagen, um die Krise ästhetisch produktiv zu machen. Im Fall Hofmannsthals wird dieses Bemühen um eine neue Form von Wirklichkeitsaneignung an der starken, gleichsam pointillistischen Betonung einzelner Sinneseindrücke deutlich, aber auch der symbolischen Erhöhung und Überhöhung der Reise.12 Bereits in den frühen Südfranzösischen Eindrücken (1892) erscheint dem Erzähler die Vergangenheit lebendig und greifbar. Hofmannsthal stellt in seinem Reisebericht nicht nur die Erfahrung des bereisten Landstrichs dar, sondern auch die mit diesem verbundene Kultur und Geschichte, allerdings nicht als referiertes Bildungsgut, sondern als etwas, das der Reisende mit erfährt: Frauen von Arles haben noch immer die feierliche römische Schönheit, die Kameenprofile und den königlichen Gang und die königlichen Gebärden; und andere haben die griechische Grazie im Stehen und Lehnen, wie die Tanagrafiguren, und griechische Koketterie in der leichtbeflügelten Rede; und andere haben den mattgoldenen maurischen Glanz und das weiche, biegsame

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9 Vgl. zum Reisebericht Brenner 1989. 10 In der Hofmannsthal-Forschung wurde dieser bedeutsame Unterschied bislang zu wenig reflektiert, so dass der eminente Unterschied zwischen Reiseberichten wie den Augenblicken in Griechenland und Essays wie Griechenland kaum beachtet wurde. 11 Hofmannsthal/Zifferer 1983: 35. 12 Vgl. Gerke 1970: 145; Weissenberger 1996.

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goldenen maurischen Glanz und das weiche, biegsame Gleiten, wie Palmen im Wind’.13

Die Bevölkerung der Provence verweist so auf die Geschichte des Landstrichs, der noch immer von der griechisch-römischen Kultur geprägt ist. Dies gilt gleichermaßen für die provenzalische Landschaft, die in Hofmannsthals Deutung zur mythischen Landschaft schlechthin wird, in der Gegenwärtiges immer auch auf Überzeitliches deutet. In Südfrankreich ist so auch der griechische Mythos präsent: Im Innern aber ist die provenzalische Landschaft eintönig, wie die griechische. […] So hat es rings um den Engpaß ausgesehen, wo Ödipus dem Vater begegnete. So um den Hügel, wo Antigone den Leichnam des Bruders besuchte. Hier hat der heutige Tag kein Eigenleben. Die Vergangenheit ist noch immer. Und es war ganz im Stile der Natur, als vor ein paar Jahren die Comédie Française nach Orange kam, um in provenzalischer Natur und auf dem steinernen Gerüst einer antiken Bühne den ‚König Ödipus‘ zu spielen.14

Die mythische Vergangenheit wirkt in die Gegenwart hinein und kann in eben dieser Wirkung sinnlich erfahren werden. Das Naturerlebnis ermöglicht ein tieferes Verständnis der Geschichte, allerdings in einem bemerkenswerten Übertragungsvorgang, der auf die Bedeutung des Kulturraumkonzepts bereits für den jungen Hofmannsthal hinweist:15 Denn schließlich reist der Erzähler eben nicht in Griechenland, besucht nicht die mythischen Stätten, sondern behauptet lediglich aus einer nicht unproblematischen Art von intuitiver Gewissheit deren Ähnlichkeit mit der provenzalischen Landschaft. Dies deutet darauf hin, dass solche auf den ersten Blick natürlich und fließend wirkenden Kontinuitätsvorstellungen ohne die entsprechende Vorprägung sowohl des Erzählers als auch des Lesers nicht denkbar wären. Erst die souveräne Verfügung über Bildungsbestände ermöglicht deren auch synkretistische Integration in Erzähltexte.

* Gerade die Augenblicke in Griechenland setzen sich mit Kernbeständen des westlichen Selbstverständnisses auseinander, allerdings in ganz anderer Weise als die Südfranzösischen Eindrücke. Wenn Rudolf Alexander Schröder Hofmannsthals „höchst problematisches Verhältnis zum eigent––––––––––––––

13 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 592. 14 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 592. 15 Vgl. Mattenklott 1990.

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lich Griechischen“16 unterstreicht, das sich in diesen Texten äußere, so scheint diese Deutung von Hofmannsthals Text geradezu herausgefordert, beklagt doch der Erzähler an exponierter Stelle die „[u]nmögliche Antike“,17 die für das moderne Subjekt fremd und unzugänglich sei. Es wäre ein leichtes, diese literarisch gestaltete Frustrationserfahrung auf den für Hofmannsthal äußerst unerfreulichen Verlauf der Griechenlandreise zurückzuführen, die er im Frühjahr 1908 gemeinsam mit Harry Graf Kessler und dem Bildhauer Aristide Maillol unternahm.18 Kessler fasst in einem Brief an seine Schwester knapp zusammen: „Hofmannsthal in Greece was a failure: il ne se retrouvait pas.“19 Allerdings muss betont werden, dass dieses Fremdheitsgefühl Hofmannsthal eben nicht nur in Griechenland erfasste; 1902 etwa erklärt er in einem Brief an seine Eltern aus Rom, er könne sich einer Reise erst im schriftstellerischen Nachvollzug vergewissern, ja der kreative Prozess der Fiktionalisierung ermögliche überhaupt erst den Genuss: “ich kann alles dergleichen eigentlich erst auf einem sehr mühsamen Umweg genießen, durch eine Art von Reproduktion, indem ich es in mich aufnehme und gleichsam aus mir hervor wieder vor mich bringe, fast wie etwas von meiner Phantasie Erfundenes.“20 Vor diesem Hintergrund scheint die Bedeutung von Hofmannsthals Verhältnis zum Griechentum für die Interpretation der Augenblicke in Griechenland sekundär; entscheidend ist vielmehr, wie der literarische Text dieses Verhältnis gestaltet. Dabei ist bemerkenswert, dass die beiden ersten Prosastücke – Das Kloster des heiligen Lukas und Der Wanderer – die Erfahrung der Antike nur sehr bedingt diskutieren. So schildert der Erzähler im Kloster des heiligen Lukas in gleichsam impressionistischen Bildern die Erfahrung einer tiefen Vergangenheit,21 die allerdings weit über die historisch fassliche griechische Geschichte hinausreicht.22 Die Erfahrung des klösterlichen Lebens hingegen, von Harmonie und Frieden, vergegenwärtigt das nahe –––––––––––––– 16 17 18 19 20 21 22

Engler 1978: 96. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621. Vgl. zu den äußeren Umständen der Reise Volke 1987. Volke 1987: 87. Hofmannsthal 1937: 90. Vgl. die genaue Stilanalyse bei Gerke 1970: 143ff. Vgl. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 608: „Wo der Abendstern stand, dort glänzte unsichtbar hinter dunklen Bergen der Parnaß. Dort, in der Flanke des Berges, lag Delphi. Wo die heilige Stadt war, unter dem Tempel des Gottes, da ist heute ein tausendjähriger Ölwald, und Trümmer von Säulen liegen zwischen den Stämmen. Und diese tausendjährigen Bäume sind zu jung, diese Uralten sind zu jung, sie reichen nicht zurück, sie haben Delphi und das Haus des Gottes nicht mehr gesehen. Man blickt ihre Jahrhunderte hinab wie in eine Zisterne, und in Traumtiefen unten liegt das Unerreichliche.“

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Heiligtum: „Hier ist Delphi und die delphische Flur, Heiligtum und Hirten, hier ist das Arkadien vieler Träume, und es ist kein Traum.“23 „Stunde, Luft und Ort“24 evozieren gemeinsam eine gleichsam mythische Zeitenthobenheit, die eine Erfahrung von Ewigkeit bewirkt, die zugleich eine Erfahrung einer rational kaum fasslichen Kraft des Lebens ist. In deutlichem Kontrast zu diesen Vorstellungen steht Der Wanderer, ein Text, der menschliches Elend, ja die Unbehaustheit des modernen Subjekts schlechthin thematisiert, die allerdings durch Empathie zumindest temporär überwunden werden kann: „Einmal offenbart sich jedes Lebende, einmal jede Landschaft, und völlig: aber nur einem erschütterten Herzen.“25 Grund für diese Erschütterung ist zum Einen ein Gespräch der Reisenden über das Schicksal Rimbauds, zum Anderen die Begegnung mit einem verelendeten und psychisch labilen deutschen Handwerker auf mythisch aufgeladenem Boden, auf dem „Weg des Ödipus“.26 In diesen beiden Texten geht es also weniger um die Erfahrung der griechischen Kultur, als um die Vergegenwärtigung anthropologischer Grundkonstanten, als deren Ausdruck Religion und Mythos gelten können. Die Statuen, der dritte Teil der Augenblicke in Griechenland, thematisiert hingegen explizit, welche Bedeutung der griechischen Kultur und Geschichte zukommt, die ja überhaupt erst Anlass für die Reise waren. Gerade der Besuch auf der Athener Akropolis zählt, glaubt man der zahlreichen Reiseliteratur, zu den Höhepunkten einer Griechenlandreise, verkörpert sie doch das Griechenlandideal in paradigmatischer Weise. Hymnische Beschreibungen bezeugen, dass die Erfahrung dieses historisch und kulturell aufgeladenen Ortes nicht nur ein Bildungserlebnis ersten Ranges darstellt, sondern vielfach quasi-religiöse Bedeutung gewinnt. Wenn etwa Ernest Renan in seinen Jugenderinnerungen ein Kapitel Prière sur l’Acropole betitelt,27 so demonstriert dies eine Tradition der Überhöhung, die um 1900 bereits zum Allgemeinplatz geworden ist. Der Erzähler in Hofmannsthals Statuen verhält sich zunächst durchaus affirmativ zu dieser Traditionslinie, ja er erstrebt eben diese Einheitserfahrungen. Allerdings sind die Voraussetzungen dafür nicht die besten; als er –––––––––––––– 23 24 25 26 27

Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 608. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 609. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 617. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 610. Vgl. Renan o. J.: 57ff. Für Renan manifestiert sich in Athen zeitlose Schönheit in ungeahnter Perfektion: „L’impression qui me fit Athènes est de beaucoup la plus forte que j’aie jamais ressentie. Il y a un lieu où la perfection existe; il n’y en a pas deux: c’est celui-là. […] C’était l’idéal cristallisé en marbre pentélique qui se montrait à moi.“ (Renan o. J.: 59)

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kurz vor Sonnenuntergang allein die Akropolis besteigt, liegen hinter ihm Besichtigungstouren, die offensichtlich keine tiefere Wirkung hinterlassen konnten, ja deren Misserfolg ihn grundsätzlich am Sinn seiner Reise zweifeln lässt. Der Gang auf die Akropolis wird so zum letzten Versuch, sich der griechischen Kultur anzunähern, sie zu beleben und sinnlich zu erfahren, was nur an diesem Ort möglich sei.28 Bei seinem Versuch, zu einem tieferen, nicht nur rational geprägten Verständnis der griechischen Kultur vorzudringen, scheitert der Erzähler allerdings auf ganzer Linie. Sogar die steinernen Überreste scheinen einem organischen Verwesungsprozess zu unterliegen: „Das Hervorströmen der Schatten hatte etwas Feierliches, es schien das Letzte vom Leben, das noch in ihnen war, in einem abendlichen Trankopfer sich hinzugießen auf diesen Hügel, auf dem selbst die Steine vom Alter verwesten.“29 Der Übergang vom Tag zur Nacht ist somit zugleich der Augenblick des Todes, eines endgültigen Todes, der den antiken Ruinen bereits inhärent ist: Um eine Säule „spielte in dem Abendlicht, das klarer war als aufgelöstes Gold, der verzehrende Hauch der Vergänglichkeit, und ihr Dastehen war nichts mehr als ein unaufhaltsam lautloser Dahinsturz.“30 Für den Erzähler befinden sich also die Ruinen gleichsam in Bewegung; ironischerweise aber bedeutet diese Dynamisierung des Statischen einen Verfallsprozess bis hin zum Tod. Von einer Belebung der antiken Stätte kann also keine Rede sein, dafür aber von programmatischer Mortifikation. Der Erzähler, der mit der Absicht die Akropolis bestieg, sich seiner Vorbildung zu vergewissern, durchlebt eine Enttäuschungserfahrung, die drastischer kaum sein könnte. Das Frustrationserlebnis des übrigen Athener Besichtigungsprogramms scheint sich auf höherem Niveau zu wiederholen: „Dies war Athen. Athen? So war dies Griechenland, dies die Antike. Ein Gefühl der Enttäuschung fiel mich an.“31 Diese Enttäuschung angesichts der spärlichen Überreste ist ein geradezu topisches Element moderner Reiseschilderungen; ebenso topisch aber ist deren Überwindung, entweder mithilfe des Baedekers oder einer Art von spontaner Inspiration.32 Anders als für die überwiegende Zahl von Griechenlandreisenden der –––––––––––––– 28 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 619: „Hier! oder nirgends. Hier ist die Luft und hier ist der Ort.“ 29 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 617. 30 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 618. 31 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 618. 32 Vgl. Kurz 1913: 179f.: „Der erste Anblick ist niederschmetternd wie bei den meisten dieser Trümmerstätten: eine Steinwüste, aus der riesige Marmorbrocken in die Luft wachsen, zerschlagene Gebeine einer Wunderwelt, über die man am liebsten wieder die grüne schützende Decke gebreitet sähe. […] Die Göttin spricht nur

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Jahrhundertwende haben für Hofmannsthals Erzähler die Ruinen keine Referenzfunktion; es gelingt nicht, die Nähe der Griechen zu erfahren: „Diese Griechen, fragte ich in mir, wo sind sie? Ich versuchte mich zu erinnern, aber ich erinnerte mich nur an Erinnerungen, wie wenn Spiegel einander widerspiegeln, endlos. Namen schwebten herbei, Gestalten; sie gingen ineinander über ohne Schönheit; als löste ich sie auf in einem grünlichen Rauch, darin sie sich verzehrten.“33 Die erlernten Bildungsbestände lassen sich also nicht mit Leben füllen, sind nicht durch eine Erfahrung zu bestätigen. Bezeichnenderweise verortet der Erzähler die Ursache für dieses Scheitern in sich selbst; er ist es, der die vorüberschwebenden Gestalten nicht fassen kann. Der Text wird so auch zu einer impliziten Selbstanklage des modernen Subjekts, das nicht in der Lage ist, sich seiner Wurzeln zu vergewissern: „Was war das, was ich an ihnen trieb? Ich prüfte mich selber. Es war nichts anderes als der Fluch der Vergänglichkeit, mit dem ich sie behauchte; das kleine Wort ‚Gewesen‘ war stärker als diese ganze Welt. Ich warf die Zeit auf sie und ich sah, wie ihre Gesichter grünlich wurden, vergingen.“34 Die Verwesung betrifft also nicht nur die physisch greifbaren Überreste der griechischen Kultur, sondern auch die Griechen selbst, denen der Erzähler gleichsam beim Absterben zusieht. Zwar ist er selbst für diese Vergänglichkeit, für das Absterben seiner Projektion verantwortlich; dennoch hält er den Griechen gerade ihre Vergänglichkeit vor: „Daß sie längst dahin waren, darum haßte ich sie, und daß sie so rasch dahingegangen waren.“35 Die Selbstanklage wird somit zu einer Anklage gegen die Griechen, die selbst den raschen Untergang ihrer Kultur herbeigeführt hätten. Die griechische Geschichte erscheint als Verfallsprozess: „Ihre paar Jahrhunderte, die elende Spanne Zeit, jenseits des ungeheuren Abgrundes“36 sind nichts als ein kurzer Augenblick der Weltgeschichte, der unwiederbringlich verloren ist. Gerade die Verfallsaffinität der griechischen Kultur lässt sie als fremd, ja geradezu als grotesk erscheinen. Noch grotesker allerdings wirkt vor diesem Hintergrund, dass eben diese Kultur als maßgeblich für die eigene erachtet wird. Die griechische Geschichte etwa ist für den Erzähler ein „Wust von Fabel, Unwahrheit, Gewäsch, Verräte––––––––––––––

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durch inneres Licht zu uns. Sie gibt mir ein, mich am Fuss des waldigen Kronion auf der langen gemauerten Terrasse aufzustellen, und jetzt werde ich mit einem Male sehend.“ Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 618. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 618f. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 619. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 619.

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rei, Furcht, Neid, Worten; das ewige Prahlen darin, die ewige Angst darin, das rasche Vergehen“37 wirken nurmehr befremdlich. Der Erzähler dekonstruiert nahezu sämtliche Bereiche der griechischen Kultur. Die Poesie wertet er als „ewige Fata Morgana“; die Götter werden zu „unsicheren, vorüberhastenden Phantome[n]“, die Göttergeschichten sind für ihn „milesische Märchen, eine Dekoration an die Wand gemalt im Hause einer Buhlerin.“38 Gerade der Lügenvorwurf, der Verweis auf das Scheinhafte, Irreale der griechischen Geisteswelt gewinnt besondere Sprengkraft, vergegenwärtigt man sich ein auch um 1900 noch virulentes Griechenideal, das postuliert, die griechische Kultur gewinne ihre besondere Maßstäblichkeit gerade dadurch, dass sie zur Erkenntnis des Wahren und Schönen führe. Wie um diese Vorstellung endgültig zu destruieren, evoziert der Erzähler den Philosophen Plato, der allerdings nur als vorüberschwebendes Phantom erscheint, das für seine Umgebung nur Verachtung übrig hat.39 Der Erzähler vermag lediglich Gespenster zu evozieren. Das Bewusstsein dieser Schwäche führt wiederum zu heftigen Selbstanklagen: „Es ist deine eigene Schwäche, rief ich mich an, du bist nicht fähig, dies zu beleben. […] Du selber zitterst vor Vergänglichkeit, alles um dich tauchst du ins fürchterliche Bad der Zeit.“40 Ja, die Anwesenheit des Erzählers lässt die griechische Kultur noch einmal vergehen: „Meine Gegenwart lastete auf diesem Ort. Durch mich starb das Gestorbene nochmals dahin.“41 Angesichts der Vergänglichkeit, der auch der Erzähler unterworfen ist, scheint keine Ewigkeit denkbar; gerade der obsessive Versuch, eine Erfahrung herbeizuzwingen, zieht einen zweiten Tod der ohnehin bereits abgestorbenen Welt der Antike nach sich. Auch das letzte Mittel des Bildungsreisenden, die Klassikerlektüre am klassischen Ort, scheitert. Der Philoktet des Sophokles ist denkbar ungeeignet, die Distanzerfahrung schwinden zu lassen. Im Gegenteil, es scheint, als habe der Erzähler eben das Drama ausgewählt, das am geeignetsten ist, die Vorstellung vom edlen Charakter der Griechen gründlich zu unterminieren. Ihm will es nicht gelingen, sich selbst zu entfliehen und seinen spezifisch modernen, durchaus kritischen Standpunkt aufzugeben. Eine identifikatorische Erfahrung ist unmöglich geworden: „Dies alles war fremd über die Maßen und unbetretbar.“42 ––––––––––––––

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Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 619. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 619. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 619. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 620. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 620. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621.

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Mit der einseitigen und durchaus ironischen Fokussierung auf Verfall, Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit wendet sich Hofmannsthal gegen Schreibweisen, die er in den bereits erwähnten Südfranzösischen Eindrücken erprobte. Bestand dort kein Zweifel daran, dass sinnlich erfahrbare Gegenwart von dem empfänglichen Subjekt auf die hinter ihr liegende Vergangenheit transparent gemacht werden kann, so ist dieser Optimismus in den Augenblicken in Griechenland tiefer Resignation gewichen. Zwar scheinen manche Passagen, insbesondere im Kloster des heiligen Lukas, anzudeuten, dass wenigstens die Erfahrung von Natur und Menschen es ermögliche, mit der Welt der Antike in Kontakt zu treten, in den Statuen allerdings macht der Erzähler auch diese Hoffnung zunichte, wenn er zwar die „Bezauberung“43 der Landschaft und ihres Dufts würdigt, allerdings betont, er wolle sich dieser „nicht hingeben.“44 Es scheint, als sei der Erzähler in seinem Vorhaben auf ganzer Linie gescheitert: Einerseits ist die Naturerfahrung trügerischer Schein, da sie zu zwar bequemen, aber falschen Kontinuitätsvorstellungen führt. Ihre Erfahrung hat nichts mit der griechischen Kultur zu tun, eine Verbindung von Natur- und Geschichtserfahrung ist rein arbiträr. Andererseits zieht die rationale Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur die Gewissheit unüberbrückbarer Distanz nach sich. Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland lassen sich somit auch als Abrechnung mit einem weithin unreflektierten Griechenkult lesen, der mit Vorstellungen der Art verbunden ist, es genüge, nach Griechenland zu reisen und sofort werde sich ein Gefühl der Vertrautheit einstellen. Der Schluss des Textes allerdings, eine Schlussapotheose im eigentlichen Wortsinn, lässt zumindest Zweifel daran zu, ob die Grundaussage von Hofmannsthals Text tatsächlich völlig negativ ist: Angesichts der archaischen Korenstatuen erlebt der Erzähler im Akropolis-Museum einen erhöhten Augenblick, der in seiner Selbstvergöttlichung gipfelt. Von entscheidender Bedeutung ist das zufällige Zustandekommen dieser mystischen Erfahrung:45 Plötzlich findet sich der Erzähler in einem dämmerigen Saal –––––––––––––– 43 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621. 44 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621. 45 Eigentliches Ziel des Erzählers war es, wenigstens im Kleinen die Ganzheit zu erfahren, die ihm auf der Akropolis verwehrt geblieben war. Die Schmuckstücke, die er betrachten möchte, „haben der Gewalt der Zeit widerstanden, für den Augenblick wenigstens, sie sprechen nur sich aus und sind von vollkommener Schönheit.“ (Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621) Eben wegen ihrer Referenzlosigkeit ist der Anblick dieser Schmuckstücke erholsam, ihre Betrachtung kann den rastlosen Wanderer von seinem „Streben nach Unendlichkeit“ (Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621) abbringen. Doch auch dieser Museumsbesuch scheint zunächst unter keinem

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allein vor Frauenskulpturen. Der Anblick dieser Statuen bewirkt ein „namenloses Erschrecken“,46 das seinen Ursprung letztlich im Erzähler selbst hat. Er wird sich bewusst, dass er etwas Bekanntes erlebt, ohne dieses Gefühl der Vertrautheit näher spezifizieren zu können: „[I]ch wußte: ich sehe dies nicht zum erstenmal, auf irgendwelche Weise, in irgendwelcher Welt bin ich vor diesen gestanden, habe ich mit diesen irgendwelche Gemeinschaft gepflogen, und seitdem habe alles in mir auf einen solchen Schrecken gewartet, und so furchtbar mußte ich mich in mir berühren, um wieder zu werden, der ich war.“47 Vorstellungen einer Präexistenz verbinden sich mit Bildern von Zirkularität. Der Erzähler vergegenwärtigt sich eine kultische Opferhandlung, bei der er zugleich Priester und Opfer in einer Person ist, imaginiert also zugleich absolute Kontrolle und vollständige Selbstaufgabe – um mit dem Vollzug des Opfers wiederum in der Gegenwart anzulangen. Sofort überwiegt abermals das Gefühl von Fremdheit: „Stehe ich hier nicht vor dem Fremdesten vom Fremden? Blickt hier nicht aus fünf jungfräulichen Mienen das ewige Grausen des Chaos?“48 Diese Frage, die unweigerlich an die Verfallsvorstellungen auf der Akropolis denken lässt, wird allerdings sofort abgeschmettert. Die Existenz der Koren ist zu „wirklich“,49 ihre „atemberaubende sinnliche Gegenwart“50 stellt sicher, dass sie nicht mit der Sphäre des Verfalls in Verbindung gebracht werden, wie überhaupt dem Chaos eine Produktivität innewohnt, die die abgestorbene griechische Kultur gerade nicht mehr besitzt. Dem Verfall steht nun das „Grausen des Chaos“51 gegenüber, eine offenbar positiv besetzte Auflösungs- und Kreativitätsmetapher. Die kontemplative Versenkung in die Schönheit der Statuen führt zu einem zweiten Aufschwung: Die Materie erscheint nicht mehr fest, sondern „es ist etwas Liquides an ihr, etwas Sehnsüchtiges, sie kommt irgendwoher und sie verrät, daß sie irgendwohin will.“52 Die Statuen sind ––––––––––––––

46 47 48 49 50 51 52

guten Stern zu stehen; nur mühsam kann der Erzähler dem aufdringlichen Museumswärter entfliehen, einer Figur, die die museale Praxis des Historismus und ihre durchaus obsessive und selbstzweckhafte Sammelwut verkörpert (vgl. Le Rider 1997). Gerade im Museum ist die griechische Kultur tot und unzugänglich. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 624. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 624. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 625. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 625. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 625. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 625. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 626.

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„auf einer Reise“,53 auf die sie den Erzähler offenbar mitnehmen, der in sich die „Ahnung einer Abreise“54 verspürt. Der Gedanke, mit den Statuen zu verschmelzen, erhebt den Erzähler „wie ein großes Wasser, das, ins Haus hineindringend, einen unter den Achselhöhlen ergreift.“55 Die Vereinigung gleicht einem „Schlaf im Wachen, eine[m] Schlaf von wenig Atemzügen, der größere Kraft der Verwandlung in sich hat und dem Tod verwandter ist als der lange tiefe Schlaf der Nächte.“56 Eine Reihe von Gedankenstrichen signalisiert das Ende dieser Schilderung einer quasi-mystischen Vereinigung;57 an ihre Stelle tritt nun die Reflexion über das Erlebte. Der Erzähler konstatiert, er befinde sich in diesem Raum „in der Gewalt der Gegenwart, stärker und in anderer Weise, als es sonst gegeben ist.“58 Gerade diese intensive Gegenwartserfahrung aber verweist paradoxerweise auf die Vergangenheit, sind doch die Statuen mit Erinnerung verbunden, die eine Überwindung kultureller und zivilisatorischer Bindungen nach sich zieht, die ein Zurückgeworfensein auf die eigene Existenz bedeuten. Dieses Selbstvergessen, die Rückkehr in unbekannte Regionen der Psyche, gipfelt in ein Gefühl von Stärke, aber auch von Isolation, die paradoxerweise wiederum die Kommunikation mit den ebenfalls unzerstörbaren Koren sicherstellt, denen der Erzähler nun auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Es dauert allerdings nur einen Augenblick, ehe das Gefühl der Ebenbürtigkeit zurücktritt; nun fühlt der Erzähler, „daß die mehr als menschliche Größe dieser Wesen sich an mir auflöst, zu nichts wird.“59 Nun sind es die Statuen, die von dem Erzähler abhängig sind, sie existieren nur in Bezug auf ihn: „Ich brauche sie nur, wie sie mich brauchen. Sie stünden nicht vor mir, wenn ich ihnen nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit hülfe, sich aufzubauen.“60 Dieses Bewusstsein der eigenen Bedeutung kulminiert in der Frage, mit der die Augenblicke in Griechenland enden: „Wenn das Unerreichliche sich speist aus meinem Innern und das Ewige aus mir seine Ewigkeit sich aufbaut, was ist dann noch zwischen der Gottheit und mir?“61 –––––––––––––– 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 626. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 626. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 627. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 627. Vgl. zu den deutlichen Parallelen zu Vorstellungen der Mystik Schings 2004. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 627. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 628. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 628. Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 628.

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* Im Angesicht der archaischen Korenstatuen kommt es zu einer IchAusweitung, zur zeitweisen Aufgabe der Individualität, zu einer Verschmelzung mit den Statuen – zu einer Erfahrung also, die Zeitlichkeit und Räumlichkeit zugunsten einer Erfahrung von Ewigkeit transzendiert. Schließlich, so die abschließende Pointe, benötigt der Erzähler nicht einmal mehr die Statuen als Medium, um das Göttliche zu erfahren; er selbst produziert das Göttliche, dass nunmehr als Projektion erkennbar wird. Diese Apotheose der Subjektivität wird in der Forschung denkbar unterschiedlich bewertet. Einigkeit besteht jedenfalls darin, dass der Erzähler einen erhöhten Augenblick erlebt, ein „Erlebnis der Allverwandtschaft, synchron mit allem, was ist, diachron mit den Vorfahren und den Nachgeborenen.“62 Was denn dieser vom Anblick der antiken Skulpturen ausgelöste Vorgang zu bedeuten habe, wird hingegen kontrovers beurteilt. So erfahre der Erzähler entweder das „Erlebnis des kreativen Prozesses“63, oder eine Bemutterung durch die Kunst64 oder auch die „Offenbarung einer Ästhetik der Moderne.“65 Dem gegenüber scheint mir die eigentliche Stärke dieses mystischen Aufschwungs gerade in seiner Inhaltsleere zu liegen, die eine Vielzahl von Ergänzungen zulässt, von denen allerdings keine für sich zu überzeugen vermag. Hofmannsthal selbst betont 1917 in einem Brief an Rudolf Pannwitz, in den Augenblicken in Griechenland gehe es um das „Verstehen der Vergangenheit, das Zweifeln, ob man sie verstehen könne, schließlich das Ahnen: es handle sich um ewige Gegenwart, die zu sich selbst wiederkehrt“,66 also gerade nicht um eine wie auch immer geartete Annäherung an das eigentlich Griechische. Somit scheint mir eine Lesart, die Die Statuen nach dem Schema von Erwartung und Erfüllung interpretiert, zu kurz zu greifen, hat doch der erhöhte Augenblick nur wenig mit dem zuvor postulierten Versuch zu tun, die griechische Kultur zu erfahren. Zwar besteht kein Zweifel an den mystischen Wurzeln dieses erhöhten Augenblicks;67 keineswegs aber darf die Rolle gerade der Statuen marginalisiert werden, die diese rauschhafte Erfahrung auslösen.68 Die Hinwendung zur archai–––––––––––––– 62 63 64 65 66 67 68

Pestalozzi 1988: 17. Götz 1992: 101. Wiethölter 1990: 250. Le Rider 1997: 198. Hofmannsthal/Pannwitz 1993: 135f. Vgl. Schings 2004: 383. Vgl. Schings 2004: 382.

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schen Plastik, die Hofmannsthal hier vollzieht, ist eine Folge der fundamentalen Veränderungen des Griechenlandbilds im 19. Jahrhundert. Sie steht in enger Verbindung mit Tendenzen der Archaisierung, wie sie in der Nachfolge insbesondere der Nietzsche-Rezeption, aber auch der Psychoanalyse, gerade in der Dramatik der Jahrhundertwende virulent wurden, was Hofmannsthals Elektra (1904) mit ihrer Technik der Archaisierung eindrucksvoll bezeugt.69 In Bezug auf die Koren70 mag ein Blick auf Reisetexte der Jahrhundertwende diese Tendenz verdeutlichen. Wolfgang von Oettingen etwa berichtet 1897, diese Skulpturen würden humorvoll als „ionische Tanten“71 bezeichnet – eine verniedlichende Benennung, die in denkbar scharfem Kontrast zu der affizierenden Wirkung steht, die Hofmannsthals Erzähler diesen Standbildern zuschreibt. Bei Hofmannsthal wird also eine – allerdings zum Erscheinungsdatum der Texte nicht mehr sonderlich originelle – Neuberwertung deutlich: Gerade die archaische, angeblich urtümliche Kunst ist in der Lage, zu den verschütteten Seelenregionen vorzudringen. Dabei geht Hofmannsthal, wie auch bei der Beschreibung des Mönchsklosters, hinter die klassische griechische Kultur zurück; er beschwört eine Vorvergangenheit, die zugleich ewige Gegenwart ist, Ausgangs- und Fluchtpunkt des modernen Individuums. In diese Erfahrung einer Alleinheit geht auch die griechische Kultur mit auf, ohne dass dies auch nur Erwähnung findet. Was wie der letzte Triumph der totgesagten Griechen wirken mag, ist tatsächlich deren vollständige Ablösung, ja Auflösung in übergreifenden Zusammenhängen. Wer die Ewigkeit in sich trägt, braucht nicht mehr die vermeintlich ewige Antike als Leitbild. Die ästhetische Erfahrung der Statuen ist zwar der Anstoß einer allumfassenden Erfahrung, in der allerdings die Statuen als Produkte der griechischen Kultur überflüssig werden. Der erhöhte Augenblick ist pure Gegenwart, zeitenthoben, und damit das genaue Gegenteil der griechischen Kultur, wie Hofmannsthal sie darstellt. Am Ende von Hofmannsthals Prosastück steht also die Beschreibung einer vorrationalen und übermächtigen Erfahrung, gerade nicht mehr von Kulturgeschichte, sondern von Subjektivität. Kulturgeschichte, so das Fazit, ist nicht sinnlich erfahrbar; im Gegenteil, gerade die angeblich so vertraute griechische Kultur ist fremd und unzugänglich. –––––––––––––– 69 Vgl. Frick 1998: 72. Hofmannsthal habe den Stoff der griechischen Tragödie „in die Unnahbarkeit einer fremdartigen ‚Vor-Vergangenheit‘ zurückverlegt.“ 70 Uhlig (2003: 254) verwechselt die archaischen Koren mit denen des Erechtheions – eine Verwechslung, die für die Interpretation folgenschwer wiegt. 71 Oettingen 1897: 240.

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Hofmannsthal stellt in seinen Augenblicken in Griechenland also zwei Arten der Erfahrung gegenüber: Die Erfahrung des Scheiterns, die mit dem Versuch verbunden ist, durch den Rekurs auf Bildungsgut die griechische Kultur zu evozieren, und die ästhetische Erfahrung, die plötzlich und unforciert eintritt. Die Vorprägung erweist sich letztlich als nutzlos, ja als hinderlich, da sie falsche Erwartungen weckt: Wer also glaubt, am aufgeladenen Ort die griechische Kultur erfahren zu können, muss sich, will er sich nicht Selbsttäuschungen hingeben, gegen Enttäuschungen wappnen. Der Reisende kann nur sich selbst erfahren, gerade darin aber ist es ihm möglich, die erfülltesten Augenblicke zu erleben. Hofmannsthals Statuen entlarven also in einer zutiefst ironischen Wendung gegen Texte wie Hauptmanns Griechischen Frühling die Einheitsvorstellungen als Konstruktion, die einem emphatisch überhöhten Griechenlanderlebnis zugrunde liegen. Dieser Befund zieht die Frage nach sich, ob Hofmannsthals „[u]nmögliche Antike“72 zugleich eine unnötige Antike ist, ob ihrem kulturellen Erbe unter den Bedingungen der Moderne tatsächlich noch eine Bedeutung zukommt. Kaum zu übersehen ist, dass Hofmannsthal die Bedeutung der griechischen Kultur relativiert, indem er sie in größeren Zusammenhängen begreift. Allerdings leugnet er an keiner Stelle die Fruchtbarkeit einer ästhetischen Annäherung an die griechische Kultur – und um nichts anderes handelt es sich ja bei den Augenblicken in Griechenland. Eine produktive künstlerische Auseinandersetzung mit den Griechen kann aber nur im Bewusstsein ihrer Konstruiertheit gelingen: Wenn nämlich der Versuch aufgegeben wird, die Antike, die griechische Kultur zu erfahren und sie sich über diese Erfahrung anzueignen, dann ermöglicht dieses Eingeständnis unterschiedlichste ästhetische Auseinandersetzungen, die eben ihre eigene Konstruiertheit nicht verleugnen, ja diese produktiv machen.73 Die griechische Kultur wird so zu einem an und für sich inhaltsleeren Projektionsraum,74 gerade auch für den deutschsprachigen Autor, der sich selbst in einer langen Tradition von Projektion befindet, wie Hofmannsthal –––––––––––––– 72 Hofmannsthal 1979, Bd. VII: 621. 73 Dieses Bewusstsein ermöglicht auch eine sachliche Wertung verschiedenster Annäherungen an die Antike. So schreibt Hofmannsthal bereits 1896 in einem Aufsatz über Stefan George, „die Antike Goethes, die Antike Shelleys und die Antike Hölderlins [seien] drei so seltsam verwandt-geschiedene Gebilde, daß es einen traumhaften Reiz hat, sie nebeneinander zu denken, wie die Spiegelbilder dreier sehr seltsamer Schwestern“ (Hofmannsthal 1979, Bd. VIII: 220). 74 Dies erklärt auch den scheinbar ungebrochenen Philhellenismus in Hofmannsthals und Strauss’ Bearbeitung von Beethovens und Kotzebues Ruinen von Athen. Vgl. Hoppe 1982.

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prägnant im Buch der Freunde (1922) formuliert: „Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.“75 Gerade durch diesen Grad an Selbstreflexivität aber wird Hofmannsthals Text zu einem wichtigen Dokument moderner Standortbestimmung. Weit davon entfernt, die Bedeutung von Vorbildern zu verleugnen, etabliert er neue Möglichkeiten künstlerischen Schaffens jenseits normierender Autoritätsvorstellungen, erkennt die Bedeutung der Geschichte an, scheint allerdings deren ästhetische Bewältigung über affirmative Traditionsbildungen zu stellen: „Daß wir sie überschätzen, dazu ward die Vergangenheit unserem Gedächtnis einverleibt.“76

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75 Hofmannsthal 1979, Bd. X: 265. 76 Hofmannsthal 1979, Bd. X: 265.

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Telling the Unthinkable Niketas Choniates’ Account of the Fourth Crusade*

JOHANNES NIEHOFF-PANAGIOTIDIS The main subject of my paper is the perceptions that Byzantine historians had when writing about the utmost catastrophe that could befall their Empire: the conquest of Constantinople by foreign barbarians. To focus my approach, I have singled out one of them who is considered the most prominent for his descriptions of the respective events: Niketas Choniates. In doing so, I will attempt to introduce modern methods, common in ‘Western’ medieval studies, to the study of Byzantine narrative history. Due to the reluctance of many Byzantinists (especially among the Germanspeaking ones) to embrace even moderately advanced issues in narrativity and metahistory, research on this topic is still in its infancy.1 Imagine yourself as the citizen of a mighty empire, inhabited by no one less than God’s chosen people; an empire that even after some territorial losses stretches across most of the Mediterranean’s Northeastern Basin, dominates the core of the Balkan peninsula and – although ultimately unsuccessful – is powerful enough to challenge the Holy Roman Empire’s possession of Italy. I am referring, of course, to Byzantium up to the eighties of the 12th century (v. map 12).

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1

2

I want to thank my research assistant Marina ivkovi-Schmacke for her help and my friend Thomas Büttner for correcting my English in parts. All faults are of course mine. Fundamental but concerned exclusively with ancient and late antique texts is Cameron 1989. For the Byzantine ‘continuation’, pioneering the works were by J. Ljubarskij, e.g. Ljubarskij 1987 and 1998. V. also the collection edited by Criscuolo/Maisano (2000) and those contributions in Odorico/Agapitos (2002) which are concerned with historiography. Ostrogorsky 1963: 321.

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Then, in the course of a few years, this empire’s power wanes dramatically, becoming the ‘plaything’ of the Northern ‘barbarians’, barbarians who increasingly meddle in your empire’s internal affairs and finally capture, burn, and destroy the Holy Capital. The former empire breaks apart, its various parts continuously fighting among each other, allying themselves with Balkan competitors like the Bulgarians (who are also seeking to attain regional supremacy) and, even worse, with the hated, despised and secretly admired invaders, as shown on map 23. These elements I am summing up are well known, and – setting aside some of the more detailed aspects – are generally called the Fourth Crusade. The word “crusade” in this context has, of course, a euphemistic ring to it, because it was Christian knights, chiefly from regions of modern-day France together with the rising maritime economic power of that time, Venice (both of them at least officially Christians), who invaded and destroyed the Byzantine empire in the years 1203–1204. Finally, during their second attack, they set fire to the City of Constantine the Great, Konstantinoupolis.4 By the spring of 1204, almost 250 years before the city was finally to fall to the Turks in 1453, those who had initially set out to help Eastern Christianity had achieved what seemed unthinkable to almost everyone in former centuries, including most Muslims after their futile attempts throughout the seventh and eighth century: the Holy City, the Christian New Jerusalem (8  8% as Niketas calls it5), which for centuries had resisted Avars, Slavs, Persians, Arabs, Russians and Bulgarians, surrendered for the first time to a barbarian people, whom the Byzantines called ‘Latins’ and considered inferior to themselves. Thus, in the eyes of most Byzantines, the people of God and, hence, God’s own realm6 had fallen into the hands of the infidels.

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Ostrogorsky 1963: 352. Already after the first conquest and coronation of Alexios IV., fire had broken out: Cf. Villehardouin 1973: ch. 203ff. Cf. Niketas (ed. van Dieten): 593, 59f. In the following, all citations of Niketas will be made with reference to the respective editions, as listed in the bibliography. "#)&%&$C +&5 (&5 in their words: “Gods own inheritance”, a Biblical expression coined originally on Israel, God’s own property, translating Hebrew naalah “inheritance, property” (e.g. Ps. 79/78, 1), then used for the Christians, Lampe 1961: 575. In Byzantine Greek, it refers to the population of the Byzantine Empire, Niketas (ed. van Dieten): 575, 60.

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Let me briefly sum up the consequences these events had for European history:7 Constantinople ceased to function as the center of power and culture for a long time to come. After the reconquering of 1261, its role as the focal point of Orthodox civilization was restored, its political role was not. After 1204, the Byzantines once and for all had to abandon the plan of bringing the Bulgarian and Serbian kingdoms under their control, at least nominally,8 and in the course of events one ethnic group after another in the Balkans gained (political) independence from the Byzantines. Perhaps most notably, the Albanians begin to appear in our sources (e.g. Georgios Akropolites) more frequently. The 13th century marks the period of their expansion across the Balkan peninsula (beginning with Southern Albania and Epiros) as increasingly independent groups of ‘warrior-herdsmen’.9 The Fourth Crusade thus proves to be a key event in the process of Albanian ethnogenesis. The Italian maritime republics, Venice and its eternal rival Genoa gained control over most of the international trade in the Eastern half of the Mediterranean, including the promising Black Sea commerce. Once Constantinople was in their hands, something like a stopper had been removed from its entrance, and in the 13th and 14th centuries we find Venetians and Genoese fighting each other for better access to the market of the steppes, the serenissima being in a much stronger position than the superba at first – ‘Byzantine domination’, however, was no longer an issue.10 Beginning with the 13th century, Southeastern Europe ceased to be an autonomous power in its own right, a political vacuum had been generated that ended only with the Ottoman conquest of that same region beginning in the second half of the 14th century and culminating, of course, in 1453. The chain of political events immediately following the first conquest of Constantinople in 1204 is hard to describe – even when omitting the entanglement of the various campaigns, territorial gains and losses of the many petty political units on the Balkans.11 –––––––––––––– 7 8

Cf. Fine 1987/1994: ch. 1ff. and the summary 165. Bulgaria escaped Byzantine control during the reign of Isaak II. (1185–1195), Serbia became independent at the death of Manuel I. (1180). The role of both Slavic states in the context of 1204 has been studied by Prinzing (1972). 9 Cf. Akropolites 91, 11ff.; 142, 9ff. Fine 1987/1994: 51f., 66ff.; Stadtmüller 1999: 275; Ducellier 1981: passim. 10 Cf. Balard 1978: 38ff., id. 1989: No. I and V and, for a concise overview, id. 1991 and 1995; Thiriet 1959: 74ff., 101ff. and 105f. in contrast to the situation described in Horden/Purcell 2000: 167f. 11 Cf. map 2; cf. Fine 1987/94: 60–111 and Reinert 2002 (with map on p. 264).

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More important, however, were the long lasting effects that the events of the Fourth Crusade produced in the memories of the Byzantine population: The sense of sharing a common space of dwelling, a symbolical and to a certain extent also real space called “Christianitas” ended definitively.12 1204 became a trauma in the mind of Greek Christianity. When Pope John Paul II came to Greece in 2001, his visit was not welcomed by most members of the Orthodox hierarchy (even less so by monastic institutions such as Mount Athos) and the lower strata of Greece’s society, who consider ‘1204’ a symbol for Western betrayal.13 When Bartholomaios, patriarch of Constantinople, visited Rome a year later, the Pope begged forgiveness for the “painful events of History” – an act that astonished many Western Christians.14 However, this and similar actions during the last years of his pontificate, which were aimed at reconciliation with the Orthodox world, seem not to have significantly touched the mentality of the Greek population. The Balkans are a place where memory lasts long, as the currently prominent example, the battle of Kosovo sadly demonstrates.15 By contrast, the only non-Greek eyewitness to the events of the Latin conquest presents the emperors themselves (  ) as reponsible of the catastrophe.16 This account by an Orthodox, who may be identified as Antony, Archbishop of Novgorod, might be an indication as to why the significance of the Fourth Crusade remained confined to the Greeks, where it is inalienably connected to their nation-building process. During the last decades, the research on the creation and functioning of memory has been a main topic in Medieval studies, and although Byzantium seems to be an ideal field for questions related to this issue, the number of studies on this topic is still limited.17 Concerning the Fourth Crusade, we have many contemporary sources at our disposal – most of them written by Westerners, often eyewitnesses, in other words: the conquerors. As a matter of fact, the decisive shift from Latin, which had been –––––––––––––– 12 Cf. Bayer 2002: 210. 13 Cf. BBC News, 05/04/2001: news.bbc.co.uk/1/hi/world/europe/1310347.stm (11.7. 2009). For the development of the ‘Greek version’ v. Maltezou 2005. 14 BBC News, 06/29/2004: news.bbc.co.uk/2/hi/world/europe/3850789.stm (11.7. 2009). 15 On the ‘Serbian Golgotha’ and its impact on the national memory v. Emmert: 1990. In contrast to 1204 and 1453, the main textual materialization of the memory on 1389 in a Serbian context is orally transmitted epic poetry; the grip of Byzantine written tradition appears to be stronger. 16 Relation ed. Patri 1988: 500. 17 Cf. Magdalino/Macrides (1992); Magdalino (2005); Macrides (2005); Milonopoulou (2006); Prinzing (2008); Reinsch (2002).

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the medium of all chroniclers of outremer since the author of the Gesta Dei per Francos, to Old French as a medium of historical expression was undertaken by two noblemen from Eastern France, Geoffroy de Villehardouin and Robert de Clari, while Guillaume de Tyr still adhered to the traditional medium towards the end of the 12th century.18 On the Byzantine side, however, the number of contemporary sources is strikingly scarce. Our main and almost only19 Greek source writing from the perspective of the victims is Niketas Choniates. Not only is he one of the most famous Greek historians of the Middle Ages, he was also an eyewitness to the events of 1204. Shortly before the fall of the empire, he served as a high ranking official in the administration of the Capital under the last emperors of the Angeloi dynasty ") +? +&5 >#&, $8 #&&(8+, the “Byzantine Prime Minister”20). His work was an enormous success – as far as we can judge, given the number of manuscripts, fragmentary and complete, of his long and difficult work, written in highly archaizing classical Greek with many poetic expressions. Niketas probably died in 1217,21 yet we have about ten Mss. (including frgg.) at our disposal dating from the 13th century, which is a high figure for a Byzantine writing of the F*+&)C– tradition (v. infra and Irigoin 1978: 572). The fact that his work was translated as early as the 14th century into the Greek vernacular shows its popularity and importance for the negotiation of Byzantine memoria.22 Niketas left the city, where he had lived since his youth, under dire circumstances. He describes his departure as follows: Having remained in the City for five days after her fall, we departed [April 17, 1204]. The day was Saturday and what had taken place was not, I believe, without meaning, a fortuitous circumstance or a coinidence, but the will of God. It was a stormy and wintry day and my wife was approaching the throes of childbirth, so that Christ’s prophecy: ‘Pray ye that your flight will not be in the winter nor on the Sabbath day’ and ‘Woe unto them that are with child in those days’ (Mt. 24, 19f.), appeared to have been spoken to us and to have been wholly fulfilled. Numerous friends and relatives and a multitude of others, on seeing us, came running to es-

–––––––––––––– 18 To early French historiography, Gabrielle Spiegel has dedicated a wonderful book in which strangely the crusader chronicles have been left out (Spiegel 1993/95: 7). 19 The only exception is Nikolaos Mesaritis (v. Kazhdan 1991: 1346) whose obituary speach $&%LC on his brother John (v. the index of primary sources) contains a vivid picture of the looting of Constantinople by the Latins just after the conquest. 20 Beck 1955. 21 Cf. Katsaros 1982. 22 Recently edited by Davis 2004; on the datation v. 110ff. and esp. 132ff.

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cort us on our way, and we were like a throng of ants passing through the streets […] It was necessary that we pass through the Golden Gate.23

This report is heavily loaded with allusions to ancient Greek literature and the Bible – typical for Byzantine historical writing in general and especially for Niketas. His work is, in fact, difficult to understand if one does not take into account his background of Greek ' C – and the use he makes of this background in his work. The Golden Gate was also the entrance to the City through which a victorious emperor was bound to pass during his triumphs since the days of Late Antiquity. Niketas describes himself at the head of a portentuous adventus or profectio imperatoris.24 Nikitas had acquired his tremendous erudition (he appears to have read almost everything as the apparatus fontium in van Dietens edition shows25) in the place whose very fall he chronicles: in Constantinople. However, he was not born there: actually, from his many negative remarks on the population of the metropolis we can infer that he nurtured something of a lovehate relationship towards the Byzantine Capital.26 As a boy, he arrived from Honai, the old Kolossai to whose inhabitants St. Paul had written his epistle, and was educated there by his elder brother, who was to become the Bishop of Athens, Michail Choniates.27 Among his teachers was also one of the great scholars of Byzantium, Evstathios of Thessaloniki. Michail is well known as one of the most important writers of letters in Byzantium. His descriptions of medieval Athens in prose and in verse are famous, and with their high and lofty rhetorical style they are often cited by classicists as an example for the alleged general decay of the former centre of Greek learning after antiquity.28 In contrast to his brother, Niketas pursued a career as a civil servant, starting in the tax administration of Paphlagonia in the early eighties of the 12th century. Returning to the Centre, he continued climbing the usual ladder from royal undersecretary * # "K 4'&))$$+1  upwards. Apart from a brief voluntary interruption during the reign of the “usurper” and “tyrant” Andronikos30 his career was exemplary. Like so –––––––––––––– 23 Niketas (ed. van Dieten): 323f. 24 Cf. MacCormack 1981: 17ff. and McCormick/Kalavrezou 1991. Cf. also McCormick 1991. 25 For Niketas’ reading of the authors of the Second Sophistic v. Fatouros 1980. 26 Cf., e.g., Niketas (ed. van Dieten): 233, 70ff. 27 He also wrote his obituary $&%LC which is a prime source for Niketas’ life (ed. Lampros: I, 345–366). On Chonai v. Belke/Mersich 1990: 222ff. 28 Poem: Lampros II, 397f.; among the letters v. No. 8, 10, 13 (ed. Kolovou). 29 Mihail Honiates (ed. Lampros I: 349, 19ff.). 30 Mihail Honiates (ed. Lampros I: 349, 27ff.).

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many other members of the Byzantine ruling class, he served also as a rhetorician at the court of the Emperors after Andronikos Komnenos’ dethronement in 1185 – this function usually entailed praising them and their deeds in the same lofty style he later used to condemn them in his main work, the )&% "? >*  (“chronological narration”; Magoulias’ rendering into “Annals” is wrong). In this, as in so many other traits, he was quite a typical Byzantine and as such depicted in U. Eco’s Baudolino31 at least at first sight: highly cultivated, a brilliant writer in Rhetorics, a flatterer of his emperors against whom he was equally capable of turning his pen, deeply convinced of the superiority of God’s people, Nikitas’ people, religious with a touch of bigotry (he wrote on theology too, v.i.), and so forth. However, Niketas had to write under completely different circumstances than his predecessors – his task was to describe what he and many other of his contemporaries viewed as the end of the Byzantine empire, this fascinating synthesis of Greek language and civilization, Roman state and Christian faith, as Ostrogorsky stated in his acclaimed book.32 For him, writing under the threat of the complete catastrophe that seemed to have been brought about in 1204, the whole order of the world was at stake, since the Byzantine Empire was the last before Christ’s Second Coming.33 In this, his work is an extreme example for an inherited language lagging behind the events it is about to narrate – and thus to explain.34 Niketas is, both in fact and in his own eyes, the heir of a very old tradition: ancient Graeco-Roman historiography F*+&)C as it was continued and cultivated in the Christian Roman Empire since Late Antiquity.35 Thus, the main question in this paper will be: How did Byzantine historiography, represented by the most eminent Greek historian of the late 12th/early 13th century, react to a situation that was unprecedented? For, since the fourth century, when Constantine the Great had transferred the capital of his empire to Byzantium, Constantinople had witnessed nothing like it. Our task, therefore, is a literary and a historical one at the same time, just as historiography in Byzantium is both. It is the main source for Byzantine History (and thus its “facts”), as well as one of the most important ––––––––––––––

31 Cf. Eco 2000: passim. 32 Ostrogorsky 1963: 22. 33 On the role of Constantinople in the apocalyptical concepts of the Byzantines v. Magdalino 2005; Mango 1980: 201ff. and the classic by Pertusi 1988. 34 Cf. Koselleck 2006 : 46 35 V. Cameron 1989; Scott 1981.

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representation of what could be called the Byzantine imperial discourse. With this term I mean: the linguistic, narrative, semiotic and theological devices typical for Byzantium in its written utterances, reaffirming the claim to be the one and only legitimate heir to Ancient Greece, the Roman Empire, the Christian and Jewish tradition, all at the same time. Niketas’ conflict consists in that he was doomed to describe events that run contrary to the two hitherto uncontested premises of Byzantine Historiography: the Byzantine realm of objects and the Byzantine realm of discourse. Since there are almost no attempts dealing with the specifically Byzantine “social logic of the text”36 (let alone a consensus on such matters), the task is not an easy one.37 Normally, the more ‘imperial’ strand (there are others, too: mainly the tradition of the so called “chronicles”) in Byzantine historiography represented by Niketas and called according to its ancient model F*+&)C (which means historical writing and investigation at the same time) includes the following characteristics:38 –







use of the Ancient Greek language, as far as the writer’s education permits; since at a certain time the spoken language had developed into something very close to Modern Greek, this effort became more and more difficult and prestigious; citations from the Greek classics, not only from Herodotos and Thukydides, but in theory from all genres; very significant is, e.g., the use of Homer Anna Komnene makes in order to endow her father’s feats with a literary dimension;39 narrative methods typical for this tradition are, e.g., speeches given by the leading figures of the plot (thus, the German king Konrad III. delivers a $&)C before the battle his soldiers enter against the Selduks;40 tricks adopted from its predecessor, ancient Historiography, to generate the impression of a story’s plausibility in the mind of its readers, a device that sometimes involves: telling the most vitriolic gossip in the

––––––––––––––

36 V. Spiegel 1997: 3–28. 37 For attempts to introduce theoretical models into Byzantine studies v. except for the aforementioned contribution by Ljubarskij (1998) already Haldon (1984/85: 113ff.) and more recently Magdalino (2002). 38 The distinction between “history” and “chronicle” was established by Krumbacher (1897: 218ff., 226ff., 319ff.), modified by Beck (1965), Hunger (1978: 243ff.), and Ljubarskij (1987). 39 V. Reinsch 1998. 40 Niketas (ed. van Dieten): 68, 74ff.

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stylistic pose of Thukydides (cf. this author’s analysis of the Peisistratids’ end VI 54–59 in contrast to Herodot V 55ff.). In short, a Byzantine historian potentially has the whole range of the ageold tradition of Greek F*+&)C at his disposal. The results, i.e. Byzantine historical writing, can adequately be described as a dress woven in antiquity designed to cover the medieval Balkan and Near Eastern reality. The most prominent example, to be found in every introduction to Byzantine studies, is the ancient names given by Byzantine writers to the neighbours of their Empire: It requires a lot of scrutiny to understand which people is actually being referred to by the label “Scyth” "1 As a result, the moment one passes beyond the traditional approach, according to which “the past is to be taken as unproblematic”41, this historiographical material turns out to be extremely difficult to deal with. Given the character of our sources, the use of statistical methods remains very restricted, and most Byzantine historians turn to what A. Cameron42 has characterized as the “collection of instances” or to the “legalistic approach” of cross-examination.43 Thus, even though Byzantine studies as a whole have not developed a consensus on how to read these texts properly, in the manner they deserve,44 thanks to the efforts of P. Agapitos, I. Ljubarskij, P. Magdalino, M. Mullet, and D.R. Reinsch, we do now, however, possess a set of very fine examples where modern literary theories have been successfully applied to Byzantine authors. Nevertheless, this situation sadly remains in stark contrast to the progress made in the field researching the Medieval West, where recent years have seen an impressive number of publications on that topic, both for medieval Latin and vernacular historiographical literature, e.g. by G. Spiegel and H.-W. Goetz in Germany. In the following, I will attempt to propose a new reading of the Byzantine historian Niketas, a reading dedicated to the fine line between res gestae and narratio rerum gestarum. In doing so, I will try to avoid two extremes: firstly, of taking him (and other writers) too literally, and secondly ––––––––––––––

41 Haldon 1984/85: 102. 42 Cameron 1989: 2f. 43 The latter method has been followed by the late P. Speck and his school, the former is represented by the still unfailingly active P. Schreiner and his pupils. 44 Note the striking difference between the methods followed by Scholz (1997) and Constantinou (2005); it would, in fact, be more appropriate to call this ‘difference’ a ‘gap.’

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(the opposite extreme), of reducing them to mere writers of fiction.45 I will do this by analyzing Niketas’ work guided by the following question: Can we detect in his own and in his inherited literary devices (viz. narrative technique, the – many and complex – citations from ancient texts, etc.) the profound changes that Byzantine historical writing and thinking as a form of traditionally organized memory underwent when confronted with the Fourth Crusade? The topic, therefore, is the ‘social logic’ of Ancient F*+&)C in an irreversibly altered world. One reason, why Niketas serves as an excellent example for my purpose, is that he rewrote his work several times, and, untypical for a Byzantine author,46 the different versions of his work have been preserved in the many manuscripts we have at our disposal. Thus, he forces the historians to take a closer look to the apparatus criticus as well as compelling a representative of a philological approach to inquire into the reality behind the variants offered by textual transmission. Illustration 1 shows the textual transmission of Niketas’ /,,+*()?  >*  according to van Dieten. Until recently, the current theory explaining this scary multitude of Mss. was the one established by J.-L. van Dieten on the last pages of the “Einleitung” to his CFHB edition that appeared in 197547. Before that scholarly event, there was no reliable edition of Niketas.48

–––––––––––––– 45 Although a notable progress is to be noticed between the works of Brand (1968) and Angold (2003), in most publications by historians of the crusades, Niketas is treated as a teller of ‘facts.’ 46 A notable exception is Eusebios’ Ecclesiastical History. As with Niketas, the different versions of his work are preserved in the various Mss., and probably due to the same reasons. 47 “Die Abfassung des Werkes und das Verhältnis der verschiedenen Textfassungen zueinander” (Niketas (ed. van Dieten): XCIII–XCIX), and “Entstehung und Überlieferung“ (Niketas (ed. van Dieten): XCIX–CI). 48 Niketas (ed. van Dieten): CVff.

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Illustration 1: Stemma

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Following van Dieten, Niketas began to write his account after the dethronement of Andronikos I. in 1185, but the bulk of it was composed after Alexios III. came to power by blinding his brother Isaak (1195). By the time his narration had reached spring 1202, the events of 1204 prevented Niketas from continuing his writing. This first version (0) survived in only a few copies.49 Exiled in Selymbria (April 1204 to June 1206), and back in Constantinople for half a year (until December 1206) he took up writing history again, recording events until the capture of Akrokorinth (1209). This continuation is always transmitted together with his theological work and only in two Mss., thus labelled LO. From the capital of the Latin Empire he settled to Nikaia, where he began the first revision of his work, a version named ‘b’ by van Dieten. He left this ‘short version’ (brevior) that displays a strong pro-laskarid bias shortly before dealing with the battle of Adrianople (1205). Disappointed by his failure in Nikaia, he began a total remaniement of his work in which he severely critizes the ruling elite of Byzantium. This ‘auctior’ (a) version was protracted until the end of 1206. Before Niketas could complete his final version, he died. The paraphrasis into the vernacular started from this version and was not undertaken by Niketas himself. In 2007, A. Simpson published an article in which she justly stressed the importance of the four different versions, though without drawing the necessary consequences for Niketas’ view of the Fourth Crusade and in general of Byzantine history.50 Her main aim seems the correction of van Dieten’s view of the subsequent stages Niketas composed his work by inverting the order LO – b – a to b – LO – a.51 This cannot be discussed here. The point I want to make in this paper is different: In reality, the Mss. and versions are crucial not only for the textual history of Nikitas’ work, moreover, they reflect his agony while watching and describing Byzantine history at the time of its alleged end. To begin with an example: Like most Byzantine historians (and their ancient predecessors), Niketas divided his material according to reigns * #G  and further by books. Thus, the counting of the oldest version of his history follows the pattern: “reign of

––––––––––––––

49 According to van Dieten, only by H (which is a fragment) and by the older parts of the Mss. W and P, both codices being made up of different – and quite differing – parts. 50 Cf. Simpson 2007. 51 Cf. Simpson 2007: 211ff.

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Emperor Manuel, book I, book II”52, and so forth. In April 1204, at a point where he had just described how Alexios III. and his general, his son-inlaw Alexios Palaiologos, had relatively successfully dealt with the rebels Spyridonakes, Kammytzes and Chrysos53, Niketas stopped writing, thus leaving this version unfinished. In the oldest version of the narration of the following period leading to the Great Desaster, LO54, we find a new title for the entire work: :%+5( @ 7#-*  +A 'J#- "C + % ++&,7#-*  by Phrynichos, Her. VI, 21. 57 BJ I, 10, 28, 35, 148, etc. 58 Cf. Critobuli Imbriotae historiae (rec. Reinsch 1983): 78, 8; 13; 78 citing BJ I 10; v. also Kritoboulos’ comparison of famous 4#8*  including the one of 1204, 77ff.; cf. also 76, 19.

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That Niketas himself had a sharp insight into what he had composed is shown by the evidence of the later versions: After the first revision, the events immediately leading to desaster are reintegrated as “Third book of the reign of lord Alexios Komnenos”59; the imperial ‘chain’ having thus been restored. In the last version, even this break is smoothed down by Niketas; as a result, his metahistorical outburst appears somewhat isolated. The hint for answering the obvious question, which kind of narrative Niketas was conceiving during his first exile, is given by the fact that this class of Mss. contains his main theological work, the '%&'#C &$+ "> the “dogmatic armor” as one could translate it. I will return to this topic later. My other example for Niketas’ rewriting of history is the role the emperor Alexios Angelos played (1195–1203) in dethroning his brother Isaak (1185–1195 and 1203–1204). In the oldest versions 0 and b in van Dieten’s nomenclature) he begins the first book of Alexios’ reign with a cautious and tedious summary of the events which formed the last passages of the preceding, the last book on Isaak’s * #C D +J% $9% +K% +)J'&% M #& N*1" & +A 3)A "+*+)8 !+  &3 %8$D $5##&% +&5 3+8#&, B C> ; I+& "D *,%)&$H '%+K +&5 *+)+1$+& "+N3+&5 *'*$8%-% +)  “protective amulets”72) is sacrificed to Western avarice73. Niketas twice melted/recast this raw material (LO) into a historical account; so we have three versions of the fall of Constantinople. In all of –––––––––––––– 69 70 71 72 73

V. van Dieten’s “Einleitung” in Niketas (ed. van Dieten): XCIff. V. Niketas (ed. van Dieten): 647–655; cf. also 643,11–644, 40. Cf. Hohlweg 1967; Hunger 1978: 116f, 170ff. Niketas (ed. van Dieten): 643, 12. Cf. Niketas (ed. van Dieten): 649, 79ff.

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these, the citational framework is taken, in contrast to the former books, from the Prophets Jeremy (including Lamentations) and Jesaia, who describe the destruction of the Holy City of Jerusalem and speak of Israel’s path into exile. This gives us a hint, where Niketas saw the place of his people after 1204: on the way into Babylonian captivity, but not without hope. It is, therefore, no surprise that in these passages of his work allusions to biblical prophecy are more numerous than those to ancient historiography. Niketas’ continuation of his work dealing with the events immediately leading up to and following 1204 is thus very different from the preceding parts: And after describing conquest and partition, Constantinople, with the exception of the aforementioned final chapter de signis, disappeares almost totally from his ‘mental screen’, now being the residence of an infidel emperor. His main interest is now focused on the fate of the empire’s remnants and the destiny of the Greek population there – including his own. In the final version, he refuses to acknowledge any of the successor states as the true or only heir of the ‘whole’ that had disappeared – which might be an explanation why his career in Nikaia did not continue.74 Niketas severely criticizes the beginning particularism of the petty states succeeding the empire.75 So he is turned backwards. After his lifetime, new trends in historiography emerged on the former Byzantine territory, which indeed reflect the fragmentation of the empire: local and family chronicles engaged in “romancing the past” (G. Spiegel), as for instance in the chronicle of Morea. This, however is a different topic; Niketas remained the historian of the whole empire throughout his entire life. Niketas seems to have left his work unfinished, but it nevertheless became influential, as is shown by its transmission (v.s.). This is also mirrored in the fact that he was translated into a more accessible language since this translation probably paved his way to a less cultivated public. Yet, he became even more influential for describing Greek history from a new perspective: in its rhetoric of disempowerment lies the foundation of the prevalent discourse about the Greek world, a discourse of being the dispossessed leftovers of a once powerful empire which stretches well into the 20th century. As I have shown, Niketas’ language is not only ornamental, but is inextricably linked to his concept of history. The roots of his rhetoric go well back into Antiquity, but he reshaped former, and often his ––––––––––––––

74 Actually, it might be the other way around, but it would be too simple to see in Niketas only a disappointed flatterer. 75 Cf. Niketas (ed. van Dieten): 625, 44ff.

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own, expressions so that now his language ‘denounces’ its original source. To conclude: His traditional and at the same time highly original use of the literary devices of ancient and former Byzantine historiography corresponds perfectly to that rewriting of the past (“Umschreiben der Geschichte”) “when the previously credible pattern of explanation has lost its credibility, has become shaky” described by R. Koselleck.76 In this, he is simultaneously very Byzantine and very un-Byzantine.

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–––––––––––––– 76 V. Koselleck 2006: 48–55 (cit. 49).

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Die Erzählbarkeit der Erfahrung am Beispiel von Veda Slovena Die wandelbare Identität der Pomaken

MIGLENA HRISTOZOVA „Wenn es den Balkan nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“1, schreibt 1928 Graf Hermann Keyserling und die Balkanforscherin Maria Todorova überformt diesen Kommentar 1997 zum Titel ihres Buchs – Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil2. Dabei unterstreicht Todorova die von Europa imaginierte Erfahrung des Balkans, die sich zum Teil auf unmittelbare Erinnerungen etwa an das Sarajevoattentat oder später an den Jugoslawienkrieg stützt, die jedoch viel stärker durch ein breites Korpus von journalistischen, belletristischen und akademischen Texten aus Westeuropa als eine übergreifende Vorstellung von Balkanismus suggeriert wird.3 Jenseits der Balkan-Fremdbilder lenkt die Kulturwissenschaftlerin Rumyana Koneva in einem Vortrag an der Freiburger Universität (2008)4 die Aufmerksamkeit auf die Selbstbilder des Balkans und schließt ihre Überlegungen mit der Bemerkung ab, dass es in Südosteuropa und speziell auf dem Balkan zu viel Geschichte gibt, das dort jede Familie das Bedürfnis verspürt, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Wie kein anderes Untersuchungsfeld stellen Fremd- und Selbstbilder des Balkans die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte als historische Erfahrung (history) und Geschichte als narrative Überformung von Erfahrungen, als Erzählung (story), in den Mittelpunkt. Dabei scheint eine besondere Dynamik zu herrschen, die jeweils unterschiedliche Formen dieses Verhältnisses generiert: Einerseits wird durch die Performativität der Narrative die Erfahrung als sozial übergreifender Prozess erfasst, der nicht nur ––––––––––––––

1 2 3 4

Zitiert nach Buden 1999: 25. Todorova 1999. Vgl. Todorova 1999: 17ff. Koneva (unveröffentlicht).

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wandelbar ist, sondern auch immer wieder neu produziert und reproduziert werden kann (ähnlich entsteht auch der Balkanismus durch die kontinuierliche Inszenierung von Balkanerfahrungen), andererseits bedarf die Erfahrung einer Erzählung im Sinne einer Aufarbeitung, Bewusstwerdung und Ordnung des Erlebten. Das Bedürfnis nach einer Aufarbeitung von historischen Geschehnissen wirft aber auch die Frage nach der Verdrängung der Geschichte (history) bzw. nach den Grenzen einer Verbalisierung auf (Fragen, die besonders deutlich die Selbstwahrnehmung des Balkans, die Auseinandersetzung der Balkanvölker mit dem Eigenen, begleiten). Die Verortung der Erfahrung dies- und jenseits der Darstellung scheint insofern einen wichtigen Aspekt aufzugreifen, nämlich die Erzählbarkeit von Erfahrungen, die gleichzeitig als eine anthropologische Kategorie und eine narratologische Strategie gedacht werden soll und im Fall des Balkans einen breiten imaginierten Raum – eine Identifikationsfläche für die Balkanvölker, aber auch für das westliche Europa – kreiert.5 Vor diesem Hintergrund hat der vorliegende Aufsatz das Ziel, sich mit dem Verhältnis zwischen Erfahrung und Erzählung bzw. mit der Erzählbarkeit von Balkanerfahrungen auseinander zu setzen. Dabei fokussiert die Untersuchung auf die Erzählbarkeit von Krise und Identitätswandel und sucht nach Erklärungsmöglichkeiten für etliche moderne Selbstbilder des Balkans aus dem 20. Jahrhundert. Die Fragen des narrativen Transfers von Erfahrungen und ihrer Überformung (einschließlich Ausblendung von Erfahrungen als eine narrative Strategie) stehen im Mittelpunkt und werden am Beispiel des Volksepos Veda Slovena6 und des Kulturraums der Pomaken veranschaulicht, wobei die Untersuchung von der Hypothese ausgeht, dass einige moderne Aspekte der Balkan-Selbstbilder von Mechanismen der traditionellen Erinnerungskultur bis zum 19. Jahrhundert und vor allem durch die 500-jährige Entwicklung innerhalb des multiethnischen und multireligiösen Osmanischen Reichs beeinflusst sind. Die Selbstwahrnehmung der Pomaken als bulgarischsprachige Muslime an der Schwelle von Christentum und Islam, von ethnischer und sprachlicher Zugehörigkeit zu den Bulgaren und gleichzeitig die Abgrenzung zu ihnen, –––––––––––––– 5 6

Zu einer Anthropologie der Erfahrung sowie zu theoretischen Ansätzen über das Verhältnis von Erfahrung und Erzählung s. Turner/Bruner 1986: 33ff., Turner 1989: 3ff., Schößler 2006: 176ff. Verkovi 1874, 1881 (Originalausgaben); Hristov 1997(1/2): eine überarbeitete und ergänzte kritische Ausgabe. Die Zitate aus Veda Slovena, die im Aufsatz integriert sind, richten sich nach der überarbeiteten Ausgabe von 1997, wobei die jeweiligen Band-, Lied- und Zeilennummer angegeben werden.

Die Erzählbarkeit der Erfahrung am Beispiel von Veda Slovena

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scheint ein geeignetes Beispiel zu sein, um diverse Prozesse des Identitätswandels und der Identitätsmodellierung zu verdeutlichen.7 Anhand einer narratologischen und ethno-historischen Analyse des leitenden Motivs aus dem Textkorpus Veda Slovena – das Motiv der Umsiedlung von Krajna Zeme an der Donau – soll die Funktionalisierung dieses Gründungsmythos gleichzeitig als Vermittler von kollektiven Krisenerfahrungen und als Ordnungsmodell zur Bewältigung von Identitätswandel thematisiert werden. Durch die ethnologische Kontextualisierung des Motivs sowie durch die kulturhistorische Gattungstypologisierung der Texte, die das Motiv entfalten, könnten darüber hinaus interessante Zusammenhänge zwischen der Volksdichtung und der Lebenswelt der Pomaken erschlossen werden, wobei die Erzählbarkeit ihrer Krisenerfahrungen in den Vordergrund rückt.

Die ethnosoziale Lebenswelt der Bulgaren und die Verbreitung des Epos im 15.–18. Jahrhundert: Die Pomaken und ihr Epos Veda Slovena Mit dem Anbruch des 15. Jahrhunderts und dem Verlust von Staatlichkeit8 beginnt ein bedeutender sozialer Wandel innerhalb des bulgarischen Ethnos: Im Rahmen der osmanischen Herrschaft und im Zuge mehrfacher Migrationen innerhalb der Pax Ottomana erfolgt eine erneute Hybridisierung unter der bulgarischen Bevölkerung, wobei auch markante räumliche Verschiebungen stattfinden. Die Bulgaren verlassen dabei das Flachland und bewegen sich zu den westlichen Gebirgsregionen hin, welche durch die osmanische Invasion nur marginal betroffen werden.9 Durch den Verlust der Staatlichkeit und die Abwesenheit einer institutionalisierten hohen Kultur und Schriftlichkeit geschieht gleichzeitig eine Rückwendung zu volkstümlichen epischen Traditionen,10 wobei die Verbreitung des Volksepos der sozial-räumlichen Umstrukturierung des bulgarischen Ethnos folgt und sich entsprechend auch in den Bergregionen, bewohnt von Bulgaren, entfaltet.11 ––––––––––––––

7 8 9 10 11

Zu den Pomaken s. Karagiannis 1997, Telbizova-Sack 1999, Steinke 2007. Vgl. Hösch 2002: 78ff. Vgl. Rangoev 1995: 87ff. Vgl. Kalojanov 1995: 397ff. Vgl. Rangoev 1995: 87.

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Zu der Veränderung und Umstrukturierung des bulgarischen Ethnos gehört u.a. auch die Entstehung der Gruppe der Pomaken, eine bulgarischsprachige Bevölkerungsgruppe, die im 16. bis 17. Jahrhundert zum Islam übergetreten ist. Den christlichen Bulgaren ähnlich, sichern die Pomaken ihre Existenz in den Gebirgszonen, allerdings in südöstlicher Richtung, in den Rhodopen. Durch sie wird die ethno-religiöse Struktur dieser Bergkette entsprechend transformiert, wobei die Rhodopen exemplarisch für das Zusammenleben von christlicher und muslimischer bulgarischsprachiger Bevölkerung werden.12 Die Tatsache, dass die Rhodopen schon seit dem 11. Jahrhundert zum Schauplatz diverser Migrationen aus Kleinasien, Albanien und Mazedonien sowie aus Mittel- und Westeuropa werden,13 schafft wiederum interessante Voraussetzungen für einen intensiven kulturellen Austausch innerhalb der inoffiziellen Kultur im Osmanischen Reich. In diesem Kontext lässt sich die Entfaltung und die Aufzeichnung von Veda Slovena verorten, wobei die Tradierung von älteren mythischen und epischen Modellen (aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert) – im Hinblick auf die neuste Forschung zum christlichen bulgarischen Heldenepos – zu berücksichtigen wäre. Die spezifische Dynamik des Epos als eine performative ethno-spezifische Form und die intensive Entwicklung dieser Form der Volksdichtung im Zeitraum vom 15. bis 18. Jahrhundert lässt jedoch vermuten, dass die Slavische Veda eine interessante Konstruktion und Kombination von epischen Traditionen aus der osmanischen Zeit bzw. in osmanischer Zeit aufbewahrte, aktualisierte, transformierte Traditionen darstellt, die wiederum spezifische ethno-religiöse und sozialhistorische Merkmale der besonderen Gruppe der Pomaken überträgt und entsprechend diverse Eigenschaften dieser Bevölkerungsgruppe (in Hinsicht ihrer modernen Selbstwahrnehmung im 20. Jahrhundert) beleuchten kann. Bei Veda Slovena oder Die Slavische Veda handelt es sich nämlich um eine zweibändige Sammlung von epischen Volksliedern, herausgegeben vom bosnischen Ethnografen Stefan Verkovi am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Sammlung umfasst erste Aufzeichnungen von Pomaken aus dem geographischen Gebiet Ostmazedonien, aus den Gebirgsregionen zwischen Pirin und den Westrhodopen (um die Bezirksstädte Goce Delev und Drama), die bis 1912 Teil des Osmanischen Reichs sind und nach dem ersten Balkankrieg jeweils von Bulgarien und Griechenland aufgeteilt werden. ––––––––––––––

12 Zu den Besonderheiten im Zusammenleben der christlichen und islamisierten bulgarischsprachigen Bevölkerung s. z.B. Romanska 1969, Panajotova 1991, Brunnbauer 2004. 13 Antonova 2009: http://www.bultreebank.org/veda/lingvbg.htm (20.03.2009).

Die Erzählbarkeit der Erfahrung am Beispiel von Veda Slovena

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Paradoxerweise hat die programmatische Ankündigung von Veda Slovena als uraltes slavisch-thrakisches Epos jedoch dazu geführt, dass die Textsammlung kaum als ein authentisches Zeugnis seiner Entstehungszeit, als eine Aufzeichnung von epischen Traditionen aus der Zeit der Osmanenherrschaft wahrgenommen und rezipiert wird: eine Auseinandersetzung mit der Slavischen Veda als Quelle der inoffiziellen Erinnerungskultur der Pomaken wird trotz der Anmerkungen in den Vorworten des Herausgebers Verkovi erst seit den 1980er Jahren in einzelnen Aufsätzen gefordert, bleibt bis heute jedoch kaum systematisch durchgeführt. Somit wird Veda Slovena in ihrem ethno-historischen Kontext noch nicht wirklich als eine parallel zum bulgarischen Heldenepos tradierte Form der bulgarischsprachigen Volksdichtung aufgefasst.

Das Umsiedlungsmotiv in Veda Slovena und die Kodierung von historischen Erfahrungsdiskursen: Gründungsmythen als Intention von Krise und Übergang Im Textkorpus von Veda Slovena kann das Motiv der Umsiedlung von Krajna Zeme an der Donau insgesamt 35 Mal erschlossen werden, wobei dieses Motiv interessanterweise in keiner anderen bulgarischsprachigen Epensammlung auftaucht. Der historische Hintergrund der Umsiedlungsgeschichte bzw. die Entschlüsselung einer konkreten historischen Erfahrung darin hat entsprechend zahlreiche Forscher, einschließlich den Herausgeber Verkovi, beschäftigt. Dieser setzt im Vorwort zum ersten Band der Textsammlung das Motiv mit Migrationen aus Indien und China in Verbindung.14 Als Grundlage seiner These betrachtet der bosnische Ethnograph die zahlreichen Ortsnamen in den Texten – etwa itska, itajska, Sitska, um seine These aufzustellen und schließlich einen Bezug zwischen dem bulgarischen und dem antiken asiatischen Raum herzustellen. Die unklare Etymologie dieser Ortsnamen und ihre spekulative Deutung, zumal bis heute keine vergleichbaren Quellen und Angaben existieren, gibt andererseits zahlreichen Forschern Anstoß, hinter dem Umsiedlungsmotiv auch auf einen anderen Migrationsprozess – etwa die Ansiedlung der Thraker auf der Balkanhalbinsel – zu schließen.15 Für einen solchen historischen Hintergrund fehlen jedoch jegliche Hinweise in den Volksliedern, zumal die einzigen verifizierbaren ethnischen und ethno-geographischen Marker –––––––––––––– 14 Vgl. Hristov 1997/1: 17. 15 Vgl. Hristov 1997/1: 603

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im Text die Donau und das Schwarze Meer bleiben. Vor dem Hintergrund der diversen Migrationen innerhalb des Osmanischen Reichs versuchen einzelne Studien entsprechend Zusammenhänge zwischen Völkerbewegungen aus dem späten Mittelalter bzw. aus der Frühen Neuzeit und dem Umsiedlungsmotiv in Veda Slovena aufzudecken, wobei auch hier keine verifizierbaren Deutungsmöglichkeiten entstehen.16 Somit bleibt die Erschließung eines historischen Ereignisses auf primärer inhaltlicher Ebene zunächst in der Dimension des Spekulativen. Auffälligerweise setzt sich jedoch keine einzige Studie mit der inneren Struktur und der narrativen Konstruktion des Umsiedlungsmotivs von Krajna Zeme an der Donau auseinander, wobei seine Funktionalisierung auf die lineare Übertragung eines historischen Ereignisses reduziert wird. Die Entfaltung des Motivs in der Fabel und die Verknüpfung von verschiedenen Modellen innerhalb des Motivs sowie seine Einflechtung in narrativ überformten traditionellen Praktiken würden jedoch implizite Hinweise sowohl auf die Deutung von unklaren Inhalten als auch auf die ethno-historische Kontextualisierung geben. Insofern reicht ein oberflächlicher Blick auf die ersten fünf Lieder der Slavischen Veda aus, die der Herausgeber Verkovi explizit mit dem Titel „Die Umsiedlung von Krajna Zeme an der Donau“ („Za preselenieto ot Krajna zeme na Dunava“) versieht, um eine traditionelle Konstruktion von Gründungsmythen, das anthropologische Modell des kultivierten Eroberers, zu erschließen, der wilde Räume besiedelt und entsprechend kultiviert. Eine Konkretisierung bekommt dieses Modell über das auffällige Submotiv der Sklavinnen, welche das neue wilde Land kultivieren und durch den Akt des Kultivierens erst den Sklavenstatus verlieren und zu Göttinnen werden: 6I, E\COJKI MOI QOBINKI, PLAWFSF, 7FMOJ VZQNI QZKI KZQXFSF! @H KF RI CAHF OSKAQAM NA HFM\ QOETCISA, FL' NF HNA\S L[EF EA \ QABOSFS; CI\ S\U KF RI NATWISF KAK RA HFM\ QABOSI, SA KF BIEFSF S\UNI DORPOEAQI;

nun junge Frauen, meine Sklavinnen, Ihr weint, Ihr sollt eure schwarzen Hände nicht ringen! Ich werde Euch ein fruchtbares Land zeigen, wo die Menschen nicht wissen, wie sie das Land anbauen; Ihr werdet ihnen beibringen; Wie man das Land anbaut, Ihr werdet ihre Herrscher sein

–––––––––––––– 16 Vgl. Antonova 2009: http://www.bultreebank.org/veda/lingvbg.htm (20.03.2009).

Die Erzählbarkeit der Erfahrung am Beispiel von Veda Slovena

\ KODA TMQFSF, KAKT 2ODOCF KF CF IMASZ, (B.I, L.1, Z. 49–56)17

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und wenn ihr sterbt, werdet ihr von ihnen als Götter verehrt,

Ein weiterer Blick in die Struktur der Texte zeigt außerdem, dass das alte, von Kultur geprägte Land bedroht und verlassen werden sollte, da der Raum durch den fehlenden Platz für Bewegung, Kannibalismus und Mord anfällig ist. Fehlender Raum für Bewegung bedeutet zwar auf primärer inhaltlicher Ebene keine Möglichkeit zum Anbauen und zur Viehzucht, transportiert aber auf einer Metaebene die Bedrohung des Kosmos, der in traditionellen mythischen Denkmustern immer als eine dynamische, bewegliche Einheit konzipiert wird:18 7FDTCA HFM\ MOYNF RA F NAPLOEILA; RFLA RI MT WFRSTMZ RST\S, [...] 7IS TQAWI IMAS YO EA TQAS, 7IS COLOCF PAXA EA PARASZ (B.I, L. 1, Z. 16–20)