bauhaus-paradigmen: künste, design und pädagogik 9783110745054, 9783110726961

As a result of its aspiration to design the world comprehensively and to take action pedagogically based on the arts, th

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German Pages 422 [424] Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Grußwort
Bauhaus–paradigmen künste, design und pädagogik
1 Das Bauhaus in der Populärkultur
Einleitung
Nicht Sachlichkeit, sondern Fantasie! Zur Revision unseres Bauhaus-Bildes
Demokratisches Design
Normierung und Missverständnis Bauhaus-Objekte als Simulacra der Klassischen Moderne?
Billiges Bauhaus Ein Plädoyer für die feinen Unterschiede
Zuschreibungen, Zug um Zug Josef Hartwigs Schachspiel in Kontexten der 1920er und 2010er Jahre
Van Veen – Itten – Google Die tabula rasa als Kreativitätsdispositiv
Polygon – Polyfon Bauhaus und Videospiel: Facetten
2 Pädagogik und Gestaltung
Einleitung
Reformpädagogischer Technikoptimismus László Moholy-Nagys pädagogische Kunsttheorie zwischen Tradition und Avantgarde
Wilhelm Flitner und das Bauhaus
Schulhausbau in der Bauhaus-Schule Materialisierungen von Pädagogik im Neuen Bauen
Das Bauhaus und die Pädagogik der Dinge
Beyond bauhaus Ästhetische Formen und kulturelle Praktiken als Gegen(-warts-)entwürfe
Das Bauhaus als Bildungs-Raum im Diskurs
Bauhaus: Prototyp der neuen kulturellen Steuerung von Bildungsprozessen
3 Material in der Lehre am Bauhaus, den Nachfolgeinstitutionen und der Kunstpädagogik
Einleitung
Zwischen Kunst und Gestaltung Gedanken zu einer kunstpädagogischen Gegenwartsrelevanz der Lehre von Josef Albers
Aufgaben stellen: reenacten, modifizieren, neu erfinden Wechselbeziehungen zwischen künstlerischen und kunstpädagogischen Umgangsweisen mit Material
Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus
Silber, Stahl, Ebenholz, Kunststoff Werkstätten und Material an Kunst- und Gestaltungsschulen der Weimarer Republik
«Jeder Mensch ist tast- und raum-sicher» Über die haptische Erfahrbarkeit virtueller Umgebungen
Spielzeuge aus dem Bauhaus Spielmittel als Spektren der Tätigkeiten, Anregungen und Möglichkeiten
Kreativitätsbildung im Kontext künstlerischer Bildung Spuren der Bauhaus-Pädagogik im Black Mountain College und in der kunstpädagogischen Theorie des HOMO CREANS
Woraus wird Morgen gemacht sein Ein transdisziplinäres Bildungsprojekt im Bauhaus-Jubiläumsjahr
4 Das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter
Einleitung
Das Bauhaus – eine Inspiration für die berufliche Bildung?! Oder: über den Blick zurück in die digitale Zukunft?
150 Jahre Bauhaus Ein Interview mit Klara Kobel aus dem Jahr 2049
Utopien erleben Eine Methode für soziale Innovationen aus dem Jahr 2020
Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept Diskursimmanente Parallelität oder zeitgeistige Überhöhung?
Industrie 4.0 versus Postwachstumsökonomie: Arbeit und Bildung
(Zer-)Denken: Bauhaus-Pädagogik in Gegenwart digitaler Transformationen
Dank
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bauhaus-paradigmen: künste, design und pädagogik
 9783110745054, 9783110726961

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bauhaus–paradigmen

bauhaus–paradigmen künste, design und pädagogik hg. von Anne Röhl, André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch, Sara Hornäk, Susanne Henning, Katharina Gimbel

Eine Publikation der Fakultät II Bildung • Architektur • Künste der Universität Siegen.

ISBN 978-3-11-072696-1 e-book 978-3-11-074505-4 Library of Congress Control Number: 2021933755 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gestaltung und Satz: Martin Golombek Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Grußwort 9 Anne Röhl, André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch, Sara Hornäk, Susanne Henning, Katharina Gimbel Bauhaus-Paradigmen Künste, Design und Pädagogik

1

Das Bauhaus in der Populärkultur Joseph Imorde, Anne Röhl, Andreas Zeising Einleitung

22

Annette Geiger Nicht Sachlichkeit, sondern Fantasie! Zur Revision unseres Bauhaus-Bildes

27

Joseph Imorde Demokratisches Design

43

Donatella Cacciola Normierung und Missverständnis Bauhaus-Objekte als Simulacra der Klassischen Moderne?

51

Andreas Zeising Billiges Bauhaus Ein Plädoyer für die feinen Unterschiede

63

Anne Röhl Zuschreibungen, Zug um Zug Josef Hartwigs Schachspiel in Kontexten der 1920er und 2010er Jahre

73

Thomas Hensel Van Veen – Itten – Google Die tabula rasa als Kreativitätsdispositiv

89

Reinke Schwinning Polygon – Polyfon Bauhaus und Videospiel: Facetten

2

11

103

Pädagogik und Gestaltung André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch Einleitung

118

Clemens Bach Reformpädagogischer Technikoptimismus László Moholy-Nagys pädagogische Kunsttheorie zwischen Tradition und Avantgarde

123

3

André Schütte Wilhelm Flitner und das Bauhaus

135

Martin Viehhauser, Anja Küttel Schulhausbau in der Bauhaus-Schule Materialisierungen von Pädagogik im Neuen Bauen

149

Arnd-Michael Nohl Das Bauhaus und die Pädagogik der Dinge

163

Sarah Hübscher, Elvira Neuendank beyond bauhaus Ästhetische Formen und kulturelle Praktiken als Gegen(-warts-)entwürfe

175

Henning Schluß, Johanna Klär, Ken Nilles Das Bauhaus als Bildungs-Raum im Diskurs

189

Phillip D. Th. Knobloch Bauhaus: Prototyp der neuen kulturellen Steuerung von Bildungsprozessen

203

Material in der Lehre am Bauhaus, den Nachfolgeinstitutionen und der Kunstpädagogik Susanne Henning, Sara Hornäk Einleitung

216

Susanne Henning Zwischen Kunst und Gestaltung Gedanken zu einer kunstpädagogischen Gegenwartsrelevanz der Lehre von Josef Albers

221

Sara Hornäk Aufgaben stellen: reenacten, modifizieren, neu erfinden Wechselbeziehungen zwischen künstlerischen und kunstpädagogischen Umgangsweisen mit Material

241

Sidonie Engels Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus

261

Alexandra Panzert Silber, Stahl, Ebenholz, Kunststoff Werkstätten und Material an Kunst- und Gestaltungsschulen der Weimarer Republik

275

Carolin Höfler «Jeder Mensch ist tast- und raum-sicher» Über die haptische Erfahrbarkeit virtueller Umgebungen

285

Ina Scheffler Spielzeuge aus dem Bauhaus Spielmittel als Spektren der Tätigkeiten, Anregungen und Möglichkeiten

4

303

Johanna Eder Kreativitätsbildung im Kontext künstlerischer Bildung Spuren der Bauhaus-Pädagogik im Black Mountain College und in der kunstpädagogischen Theorie des HOMO CREANS

317

Angela Weber Woraus wird Morgen gemacht sein Ein transdisziplinäres Bildungsprojekt im Bauhaus-Jubiläumsjahr

331

Das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter Katharina Gimbel, Ulrike Buchmann Einleitung

350

Ulrike Buchmann Das Bauhaus – eine Inspiration für die berufliche Bildung?! Oder: über den Blick zurück in die digitale Zukunft? Erziehungswissenschaft, Technik, Ökonomie und Architektur – eine alte Verbindung gegen die Fragmentierungen der Gegenwart reaktivieren?

355

Judith Dörrenbächer, Matthias Laschke, Marc Hassenzahl 150 Jahre Bauhaus Ein Interview mit Klara Kobel aus dem Jahr 2049 Utopien erleben Eine Methode für soziale Innovationen aus dem Jahr 2020

367

Ralph Dreher Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept Diskursimmanente Parallelität oder zeitgeistige Überhöhung?

381

Katharina Dutz, Niko Paech Industrie 4.0 versus Postwachstumsökonomie: Arbeit und Bildung

397

Katharina Gimbel (Zer-)Denken: Bauhaus-Pädagogik in Gegenwart digitaler Transformationen

411

Grußwort Die Fakultät Bildung • Architektur • Künste der Universität Siegen ist sehr stolz darauf, dass Sie, liebe Leser*innen, diesen aufwändigen und vielseitigen Band nun in Ihren Händen halten! Es war und bleibt uns eine Ehre und zugleich eine Verpflichtung, die Traditionen und Rezeptionen des Bauhauses auch im 21. Jahrhundert präsent und vielschichtig zu erhalten. Das liegt darin begründet, dass die womöglich einzigartige Zusammenstellung aus Disziplinen und Studiengängen in unserer Fakultät – und hoffentlich auch ihr gestaltendes Zusammenwirken – als ein Effekt des Bauhaus-Konzepts gesehen werden kann: Seit der Gründung im Jahr 2011 – durch Fusion der Fachbereiche Architektur, ­Erziehungswissenschaft/Psychologie, Kunst und Musik – haben wir eine ganze Reihe von Aktivitäten in Forschung, Lehre und Transfer an den Schnittstellen zwischen Bau, Bildung und Ästhetik entwickelt und ideell wie finanziell gefördert: Seien es z.B. interdisziplinär entworfene Tests zur Farbwahrnehmung in Gebäuden oder studiengangsverbindende Seminare über Schularchitektur oder Raum-KlangInstallationen in öffentlichen Räumen – um nur drei von zahlreichen Beispielen zu nennen –, stets ist es unser Ziel, vermeintlich disparate Denk- und Gestaltungsmuster zueinander zu führen und sich wechselseitig inspirieren zu lassen. Unter der Trias «Bildung • Architektur • Künste» vereint also unsere Fakultät diejenigen Disziplinen, die einst auch das Bauhaus zusammenhielten. Auch wir fragen uns (leider noch mancherorts segmentiert): • Wie können Künste und Pädagogiken, Techniken und Architekturen heute und in der Zukunft im Gestalterischen zusammenfinden? • Welches sind die gesellschaftlichen Probleme, die nach integrierten ästhetischen Antworten verlangen, welche sind solchermaßen bear­beitbar, welche aber auch nicht? • Welche Grenzen des Wissenschaftlichen überschreiten oder erweitern wir, wenn wir praktisch und intentional in die Gesellschaft hineinwirken? Die Bauhaus-Paradigmen leiten unsere Fakultät, aber auch weite Teile unserer Universität immer wieder aufs Neue in Selbstverständnis-Debatten und LeitbildDiskussionen – stets inspirierend und respektvoll. Vor diesem Hintergrund danke ich im Namen der ganzen Fakultät II insbesondere unseren Kolleg*innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diesen Band zu initiieren und nun herauszugeben. Der Dank schließt selbstverständlich alle Autor*­ innen sowie die hilfreichen Menschen in Redaktion und Verlag ein: Mögen die Bauhaus-Paradigmen uns auch in Zukunft zu denken und zu tun geben! Thomas Coelen, Dekan der Fakultät Bildung • Architektur • Künste der Universität Siegen

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Anne Röhl, André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch, Sara Hornäk, Susanne Henning, Katharina Gimbel

bauhaus–paradigmen künste, design und pädagogik

Eine Besonderheit des Bauhauses besteht darin, Bildung, Architektur und Künste zusammenzudenken. Es versteht sich dabei als Produktions- und Ausbildungsstätte, in deren Mittelpunkt die Theorie und Praxis des Gestaltens stehen. Die Idee des umfassenden Gestaltens bezieht sich dabei nicht nur auf Gebäude oder ­Gebrauchsgegenstände, sondern zielt auch auf soziale und ökonomische ­Aspekte und damit auf Möglichkeiten, mit und aus den Künsten heraus pädagogisch zu handeln und zu wirken. Es ist dieser weitreichende Anspruch, Objekte, Welt und Menschen grundlegend verändern zu wollen, der Architekt*innen, Künstler*innen und Pädagog*innen in einer Institution vereint. Das Bauhaus steht bis heute in beispielloser Weise für den sozialen und ästhetischen Reformwillen der Moderne. Die Konstruktion dieses positiven Images, das sich auch als Mythos Bauhaus (Baumhoff/Droste 2009) beschreiben lässt, und insbesondere die Aspekte, die zugunsten dieser jahrzehntelangen Arbeit an der

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Marke Bauhaus (Oswalt 2020) ausgeblendet werden, sind in den letzten drei ­Dekaden in Fachkreisen und zuletzt im Rahmen des Jubiläums 2019 auch in den Feuilletons kritisch diskutiert worden (etwa Maak 2019; dazu auch Geiger im vorlie­ genden Band). Trotz des kritischen Diskurses tritt das Bauhaus immer wieder als nicht vollständig realisierte Idee und als unabgeschlossenes Projekt auf, dessen Weiterführung lohnend erscheint. So suggerieren beispielsweise Titel der Jubiläumsveranstaltungen – 1969 schon «50 Jahre Bauhaus» und kürzlich «100 Jahre Bauhaus» – weniger die Wiederkehr des Gründungsjahres einer ­Kunsthochschule, sondern vielmehr das Fortbestehen einer Institution bzw. deren Idee zu feiern (Oswalt 2020: 329, 332). Dies mag am durch den Nationalsozialismus erzwungenen Ende des Bauhauses in Berlin 1933 und der Weiterführung von ‹Bauhaus-Ideen› in unterschiedlichen Nachfolgeinstitutionen liegen. Verführerisch erscheinen in diesem Zusammenhang auch die utopischen Verheißungen, die bis heute mit dem Bauhaus verbunden werden: Der Entwurf des Bauhauses verspricht zum einen, dass das Zusammenbringen und -denken von zunächst separaten Sphären – Kunst und Handwerk, Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaft – gestalterische Innovation mit gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit hervorbringt. Zum anderen ­artikulieren sich hierin auch die emanzipatorische Hoffnung und der Wunsch, verschiedene Hierarchien aufzulösen. Dies beginnt nicht erst mit dem Bestreben, ­wohlgestaltete Lebensräume für alle zu schaffen, sondern bereits damit, das Verhältnis von Kunst und Handwerk grundsätzlich neu zu denken. Es verwundert daher nicht, dass die Fakultät II der Universität Siegen, die unter der Trias Bildung • Architektur • Künste die Disziplinen vereint, die auch im Bauhaus versammelt waren, die bestehende Tradition der Fakultätstagungen im Jubiläumsjahr des Bauhauses mit der Tagung Bauhaus-Paradigmen. Von Gestaltungsutopie zu Popkultur? weitergeführt hat (12.–14. Oktober 2019). Die Beiträge zur Tagung bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation. Die Frage nach dem Fortbestehen des einen Bauhaus-Projektes steht nicht im Zentrum des Bandes. Der im Plural gehaltene Titel Bauhaus-Paradigmen verweist vielmehr auf unterschiedliche und sich teils widerstreitende Pluralitäten: Diese prägen bereits die Gründung der Institution und im weiteren Verlauf die ­Geschichte ihres vierzehnjährigen Bestehens, wobei sie sich u.a. in den Lehrkonzepten der verschiedenen Meisterinnen und Meister zeigen. Auch hat zuletzt wieder die Weimarer Jubiläumsausstellung sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Bauhaus durchaus in Traditionen einzuordnen ist und parallele Entwicklungen ­bestehen. Die im Bauhaus ausformulierten reformorientierten Ideen sind ebenso vielfältig wie deutlich älter als die Kunstschule selbst und lassen sich u.a. bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. In der heutigen Rezeption entzünden sich insbe­ sondere an der Frage einer möglichen Aktualisierung des Potentials der utopischen Ideen des Bauhauses kontroverse Diskussionen, wie auch die Zusammenstellung der hier vorliegenden Beiträge zeigt. Mit dem Titel Bauhaus-Paradigmen wird das Bauhaus also im Plural gedacht. Neben den angesprochenen Punkten sind damit auch Bedeutungsebenen wie Vorbilder, Muster, Weltsichten und Vorurteile angesprochen. In diesem Sinne gehen die Beitragenden in den hier vereinten vier Themenbereichen unterschiedlichen Paradigmen nach. So wird das Bauhaus als regulative Idee in der digitalen Welt

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Anne Röhl, André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch, Sara Hornäk, Susanne Henning, Katharina Gimbel

zum einen zur Inspiration für transdisziplinäre Zugänge in der Erziehungswissenschaft neu gedacht, wobei alte und neue Bezugsdisziplinen einbezogen und transmediale Gestaltungsprozesse verhandelt werden (4.). Des Weiteren geht es um die Nachverfolgung von unterschiedlichen Positionen der künstlerischen Lehre in den verschiedenen Vorkursen des Bauhauses, die sich mit Material und Materialhandlungen beschäftigen. Konkret wird nach der Abwandlung und Weiterentwicklung dieser Ansätze von der zweiten Hälfe des 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart gefragt (3.). Daneben wird mit der Erziehung durch Gestaltung aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ein Bauhaus-Paradigma in den Blick genommen, das zwar schon in dessen Konzeption evident ist, aber in der Forschung bisher nicht in dieser Weise beschrieben wurde (2.). Schließlich sucht der Band die populäre Rezeption des Bauhauses nachzuvollziehen, d.h. die Bauhaus-Paradigmen, die in Popularisierungen und Aktualisierungen des Bauhauses aufgespürt werden können: das Fortleben des Modellcharakters der am Bauhaus entwickelten Gestal­ tungsprozesse und Wohnvorstellungen, Konnotation und Verbreitung von Bauhaus-­ Objekten, die Weltsichten, die am Bauhaus-Bild besonders betont, die Vorurteile, die besonders strapaziert werden, aber auch die Muster, die innerhalb dieser Rezeption zu entdecken sind (1.). Diese Themenbereiche stellen wir im Folgenden kurz vor und heben anschließend exemplarisch einige Verbildungslinien hervor, die sich durch den Band ziehen und seine einzelnen Teile miteinander ins Gespräch bringen.

Das Bauhaus in der Populärkultur In der populären Rezeption steht der Name Bauhaus heute nicht nur für die Idee von Design schlechthin, sondern er signalisiert geradezu modellhaft Vorstellungen von ‹Modernität› und ist mit weithin positiven Werten besetzt. Wohl keine andere Strömung der künstlerischen Avantgarde hat eine derart breitgefächerte und internationale Wirkung entfaltet. So werden z.B. die Bauhaus-Stätten, die seit 1996 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes sind, in der dazugehörigen Begründung als «Wiege der Moderne» (Bober 2006: 202–204; Oswalt 2020: 74) beschrieben. Geläufige Vorstellungen von Design und moderner Architektur verbinden sich heute mehr denn je mit den Namen ‹visionärer› Bauhauskünstler*innen und den 50 BauhausIkonen, die man kennen sollte (Strasser 2009). Zugleich lässt sich etwa an der Schau Das Bauhaus #allesistdesign des Vitra Design Museums eine Entgrenzung des ‹Bauhaus-Stils› beobachten (Kries/Kugler 2015). Sie führt dazu, dass dieser mitunter an alle erdenklichen künstlerischen Phänomene herangetragen und zum Maßstab gemacht wird. Das populäre Bauhaus-Bild verdankt sich wesentlich politischen Zeitumständen. Es rührt von der Festschreibung des Modernismus als internationalem Stil und als kultureller Manifestation der liberalen westlichen Welt her, die als Gegenbild zu den totalitären Ideologien der 1930er Jahre fungiert. Solche Festschreibungen formen nicht nur die Rezeption in den USA, wo mit der Emigration zahlreicher Protagonist*innen früh eine eigenständige Fortführung der ‹Bauhaus-Idee› einsetzte. Verantwortlich für den Bauhaus-Mythos zeichnet insbesondere Walter

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Bauhaus-Paradigmen Künste, Design und Pädagogik

Gropius. Er fokussiert schon in den ersten Ausstellungen lediglich die Phase von der ersten Bauhaus-Ausstellung in Weimar bis zum Ende seiner eigenen Ära. Vernachlässigt werden die expressionistischen Anfänge, die späteren Direktoren Hannes Meyer und Mies van der Rohe sowie die politische Dimension der am Bauhaus geprägten Ideen. Sowohl Hans Maria Winglers Standardwerk von 1962 (bes. die 2., erw. Auflage Wingler 1968) als auch die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum des Bauhauses schließen maßgeblich an Gropius’ Verkürzungen an: Fokussiert werden das künstlerische Schaffen, die Bauhaus-Objekte, die Ästhetik – zwischen 1923 und 1928. Herbert Bayer macht durch seine Gestaltung des Jubiläumsplakats die Urformen Dreieck, Quadrat und Kreis endgültig zu einer einprägsamen visuellen Marke (Württembergischer Kunstverein Stuttgart 1968; Oswalt 2020: 55–61), die durch Wanderausstellungen anlässlich des Jubiläums auf vier Kontinenten bekannt gemacht wird. Ebenfalls in den 1960er Jahren erweitert sich die Bauhaus-­Rezeption durch die Verbreitung von Bauhaus-Möbeln, seit Mitte der 1970er Jahre auch von Spielzeug (Breuer 2001; Cacciola 2008; Naef Spiele AG 2020). Kritische Stimmen, die in den USA schon früher zu vernehmen waren ­(Ursprung 2010), werden in der Fachliteratur der 1980er und 1990er Jahre laut (bspw. Baumhoff 1998; Nerdinger 1993), erreichen aber noch nicht populäre Kontexte. Im Gegenteil: Nach der W ­ ende setzt eine Touristifizierung der Bauhaus-Stätten ein, die mit einer stärkeren populären – und nach wie vor durchweg positiven – Rezeption einhergeht (Oswalt 2020: 69–85). Spuren eines kritischeren Blicks auf die Kunstschule und ihre Nachwirkungen werden mit dem 90-jährigen Jubiläum erstmalig deutlicher, wovon die Titel von Ausstellungen, Katalogen und Überblickswerken zeugen, die den Modellcharakter, den Mythos oder Kontroversen betonen (Bauhaus-Archiv Berlin, Museum für Gestaltung/Stiftung Bauhaus Dessau/Klassik Stiftung Weimar 2009; Baumhoff/Droste 2009; Oswalt 2009). Vor diesem Hintergrund untersuchen die Beiträge des ersten Teils Das Bauhaus in der Populärkultur kritisch die Rezeptionen des Bauhauses sowie dessen mediale und materielle Vervielfältigung seit den 1960er Jahren, wie sie sich in Reeditionen von Bauhaus-Möbeln, der Etablierung von sogenanntem Democratic Design und den vielfältig als ‹Original›, Imitat oder gar Plagiat erhältlichen Bauhaus-Objekten manifestieren oder in der Übertragung von Gestaltungsmethoden auf populäre und auch digitale Kontexte abzeichnen. Ein Fokus liegt dabei auf der jüngsten popkulturellen Rezeption um das Jubiläumsjahr, deren Zeugnisse in Comics, Kinderbüchern, Filmen, TV-Serien und Romanen erstmals auch eine Reflexion und Kritik des Bauhaus-Images und ‹Erbes› im Mainstream feststellen lassen.

Pädagogik und Gestaltung Der Zusammenhang von Pädagogik und Gestaltung wird bislang in Bezug auf das Bauhaus vor allem aus einer kunstpädagogischen Perspektive untersucht. So hat etwa – um nur ein prominentes Beispiel zu nennen – Rainer K. Wick zu Beginn der 1980er Jahre eine umfang- und materialreiche Monografie zum Thema «Bauhauspädagogik» (Wick 1982) vorgelegt. Ihn interessiert das Bauhaus vor allem als eine Kunsthochschule. Sein Blick auf die pädagogischen Aktivitäten am Bauhaus

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Anne Röhl, André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch, Sara Hornäk, Susanne Henning, Katharina Gimbel

f­ okussiert das, was man eine Erziehung zur Gestaltung nennen kann: die pädagogische Praxis der Bauhaus-Lehrer*innen zur Ausbildung von Künstler*innen und Designer*innen. Demgegenüber ist jedoch diejenige Dimension, die hier als Erziehung durch Gestal­tung bezeichnet werden soll, in den Forschungen zum Bauhaus bislang vernachlässigt (eine Ausnahme bildet Wünsche 1989). Diese Formel verweist auf die Tatsache, dass die pädagogische Arbeit am Bauhaus sich nicht nur auf die künstlerische Ausbildung beschränkte. Vielmehr war es ein erklärtes Ziel, v­ ermittels der am Bauhaus produzierten Dinge auf Menschen formend oder verändernd einzuwirken. Schon den Zeitgenossen war der am Bauhaus vertretene Anspruch nicht unbekannt, alles so gestalten zu wollen, dass dadurch die einzelnen Menschen und die gesamte Gesellschaft positiv beeinflusst würden. 1928 bemerkt der Kunsthisto­riker Fritz Wichert den umfassenden Erziehungsanspruch der ‹neuen Baukunst›: Die Baukunst als Gehäuse, als Umgebung, als Milieu, vom Menschen geschaffen, strahlt bildende Kraft aus und gestaltet so wiederum das Wesen des Menschen […]. So wird sie – mit der Unentrinnbarkeit, die der Architektur zu eigen ist – zum Lehrer, zum Erzieher […]. (Wichert 1928: 233f.) Vor diesem Hintergrund erscheint das Bauhaus als eine Institution, an der zum einen Gedanken über pädagogische Dimensionen von Gebäuden oder gestalteten Alltagsdingen aufgegriffen werden, wie sie etwa von William Morris (1901) und John Ruskin (1900) innerhalb der Arts and Crafts Bewegung, von Gottfried Semper (1966) oder dem Deutschen Werkbund (etwa Wolff 1912) formuliert worden sind. Wie schon hier, so herrschte auch am Bauhaus Unzufriedenheit mit der Qualität der meisten hergestellten Bauten und Dinge. Deswegen ging es auch dem Bauhaus darum, anspruchsvoll entworfene Gebäude und hochwertig gestaltete Dinge auf den Markt zu bringen und so in die Bevölkerung hineinzutragen. Sie sollten nicht nur (und zumeist nicht einmal primär) den Bedürfnissen der Menschen entsprechen, sondern vor allem auch das alltägliche Leben der Menschen formen und dabei den Geschmack, das Urteilsvermögen und das moralische Empfinden der breiten Masse der Bevölkerung bilden. In diesem Zusammenhang greift das Bauhaus dann zum anderen aber auch auf eine spezifische Weise ein pädagogisches Denken über erziehende Wirkungen von Dingen auf, wie es historisch schon in Positionen wie z.B. von Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Fröbel oder Maria Montessori formuliert wird: Aufgrund ihres Appellcharakters sind Dinge dazu in der Lage, die Aufmerksamkeit und das Interesse von Menschen zu wecken (Montessori 1969). Wenn Menschen die spezifischen Möglichkeiten und Anforderungen von Dingen kennenlernen, können sie einen entsprechenden Umgang mit ihnen üben und Gewohnheiten kultivieren (Rousseau 2004). Zugleich sind Dinge aber auch dazu in der Lage, den Menschen auf vielfältige Weise Affekte und Wünsche zu erwecken sowie Handlungs- und Imaginationsmöglichkeiten zu eröffnen. Schließlich können Menschen in der Auseinandersetzung mit Dingen und deren Eigenschaften ihre Selbsttätigkeit erfahren (Fröbel 1962).

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Bauhaus-Paradigmen Künste, Design und Pädagogik

In einem Resümee über die Arbeit am Bauhaus fasst Walter Gropius bündig zusam­ men, inwieweit solche Gedanken auch die Tätigkeiten am Bauhaus orientierten: Es ging darum, die «Erziehung derart zu erweitern, daß sie nicht nur den Verstand schärft, sondern auch unser Empfindungsvermögen formt und Auge und Hand trainiert». Dies solle «einem jeden» (Gropius 1985: 16) ermöglicht werden (zur F ­ rage nach einer Theorie ästhetischer Bildung am Bauhaus Mollenhauer 1989). Zumal vor dem Hintergrund der «Macht des Verkaufspropagandisten» und einer steigenden Zahl an kommerzialisierten «Pseudoprodukten» sollte eine derartige Erziehung am Bauhaus u.a. durch die Fertigung von «Gebäude[n] und Gegenstände[n] guter Qualität» (Gropius 1985: 15) gewährleistet werden. Deshalb scheint es angebracht, in einem erweiterten Sinne von Bauhaus-­Pädagogik zu sprechen. Statt sich wie bisher hiermit lediglich auf kunstpädagogische ­Absichten und Praktiken zu beziehen, können damit aber auch die erzieherischen Absichten sowie die sozialisierenden und bildenden Wirkungen betont werden, die sich mit den am Bauhaus entworfenen Gebäuden und Dingen verbinden. Das Bauhaus kommt so als eine besondere pädagogische Institution in den Blick, die nicht nur als Schule selbst, sondern zugleich auch als Ort der Gestaltung und Verbreitung unterschiedlichster Dinge und Produkte mit pädagogischem Anspruch von Interesse ist. Unter dem Titel Pädagogik und Gestaltung gehen die im zweiten Teil versammelten Beiträge der Frage nach, wie und warum bauhaus-typische Artefakte – vom alltäglichen Gebrauchsgegenstand über die Schularchitektur bis hin zur Wohnsiedlung – auf die Menschen erziehend, gestaltend oder verändernd einwirken können.

Material in der Lehre am Bauhaus, den Nachfolge­ institutionen und der Kunstpädagogik Inwieweit ein künstlerisches Denken aus dem Umgang mit Material heraus vor allem in den Vorkursen wirksam war und auch die nachfolgenden Bildungsinstitutionen des Bauhauses im Exil sowie kunstpädagogische Konzeptionen der Nachkriegszeit geprägt hat, untersuchen die Beiträge im dritten Teil. Hierzu ­werden die impliziten didaktischen Konzepte der künstlerischen Lehre am Bauhaus fokussiert. Die Beiträge betrachten die Lehren des Bauhauses aus kunstpädagogischen Perspektiven und fragen nach ihrer Relevanz für den Kunstunterricht der Gegenwart. Damit knüpfen sie an eine Vielzahl entsprechender Überlegungen an, die sich durchaus auch kritisch (u.a. Selle 1985; Jenny 1996) mit Zielen und Herangehensweisen der Bauhaus-Lehren befassen. Anlass einer zeitgenössischen Revision ist u.a. die Beobachtung, dass dem Bauhaus-Kontext entstammende Inhalte und Methoden ebenso wie kunstpädagogische Haltungen und Konzep­ tionen als oft implizite Grundlage die aktuelle schulische Kunstunterrichtspraxis mitbestimmen. Das Spektrum dieser Einflüsse reicht von direkten Bezugnahmen auf Johannes Ittens Farbenlehre in der Praxis vieler Kunstlehrer*innen bis hin zu indirekten Einflüssen, wie z.B. dem Einbezug angewandter Künste in den Kanon der im Kunstunterricht relevanten Gestaltungsfelder.

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Anne Röhl, André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch, Sara Hornäk, Susanne Henning, Katharina Gimbel

Von grundlegendem kunstpädagogischem Interesse sind Bauhaus-Lehren aber auch in Bezug auf Fragen der Lehrbarkeit künstlerischen Arbeitens. Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Gestaltung, das sich am Bauhaus u.a. dadurch eröffnet, dass bildende Künstler*innen als Werkmeister*innen in Bereichen tätig sind, in denen es letztlich um die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen geht, entwickeln sich neuartige didaktische Herangehensweisen, die im Hinblick auf ihre Möglichkeiten im Bereich heutiger künstlerischer Lehren reflektiert werden können. Im Kontext von Übungsszenarien und Aufgabenstellungen am Bauhaus und seinen Nachfolgeinstitutionen etablieren sich Umgangsweisen mit Material, deren Einflüsse auf künstlerische sowie auf kunstpädagogische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in diesem Teil des Bandes einen besonderen Schwerpunkt bilden. Hierzu widmen sich die Beiträge v.a. der materialorientierten Lehre von Josef ­Albers als impulsgebend für künstlerische Prozesse in der Kunst der späten 1960er ­Jahre und in der zeitgenössischen Bildhauerei. Welche Rolle der Umgang mit alten und neuen Werkstoffen in Lehr- und Lernprozessen an der Hochschule und im Kunstunterricht gespielt hat und heute noch spielt, wird aus kunstpädagogischer Perspektive ­betrachtet. Mit der künstlerischen Lehre, die besonders die Vorkurse des Bauhauses geprägt hat, geht eine enge Verbindung zwischen künstlerischen und kunstpädagogischen Entwicklungen einher, die auch für viele kunstpädagogische Konzeptionen der Gegenwart grundlegend ist. Diese Verbindung ist insbesondere insofern für die Frage nach einer Gegenwartsrelevanz von Bauhaus-Lehren interessant, als Einflüsse dieser Lehren auf künstlerische Entwicklungen bis in die aktuelle Kunst fortwirken und so, vermittelt über kunstpädagogische Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen künstlerischen Entwicklungen, auch für Lehr- und Lernprozesse im Fach Kunst relevant werden können. So wird über Anni und Josef Albers eine Wirklinie erkennbar, die durch die Emi­ gration des Künstlerehepaares und seine Arbeit am Black Mountain College bzw. in Yale die amerikanische Kunst der 1960er Jahre stark beeinflusst hat (Saletnik 2007). Diese Wirklinie zeigt sich in Entgrenzungstendenzen vor allem der Skulptur dieses Jahrzehnts, die sich in Formauflösung, im Verlassen eng begrenzter Raum- und Zeitvorstellungen, niederschlagen und von neuen Materialien oder einem neuen Umgang mit Material bestimmt werden. In der aktuellen Kunstpädagogik äußern sich Bezugnahmen auf diese sich bis in die Gegenwartskunst fortschreibenden Entwicklungen nicht zuletzt darin, dass künstlerisch-praktische Prozesse ebenso wichtig werden wie entstehende Produkte. Gleichzeitig wird das Spektrum der Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten im Kunstunterricht erweitert, indem z.B. in experimentellen, ergebnisoffenen Prozessen Formen des Umgangs mit neuen, oft alltäglichen Kontexten entstammenden Materialien erprobt werden. Diese wiederum lassen Parallelen zu Materialexperimenten erkennen, die für Vorkurslehren des Bauhauses vor allem bei Albers und László Moholy-Nagy charakteristisch sind. In den zahlreichen Publikationen im Rahmen des Bauhausjubiläums ist ein verstärktes Interesse nicht nur am Verhältnis von Kunst und Pädagogik, sondern auch an konkreten didaktischen Überlegungen zu Unterrichtsprozessen, zu Aufgabenstellungen und Impulsen in den verschiedenen Lehrkonzeptionen der Künstler*­ innen am Bauhaus zu beobachten (z.B. Holländer/Wiedemeyer 2019; Klaus/Bittner

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Bauhaus-Paradigmen Künste, Design und Pädagogik

2019). Zu überlegen, welche Relevanz diese historischen didaktischen Herangehensweisen für die ästhetische Bildung heute haben können, ist Gegenstand des dritten Teils dieser Publikation.

Das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter Die erziehungswissenschaftliche Reflexion des Bauhauses weist mit wenigen Ausnahmen (u.a. Wünsche 1990; Mollenhauer 2014) Desiderate auf, deren Bearbeitung in den vergangenen Jahren für die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin der Berufsbildungswissenschaft angestoßen wurde (Buchmann/Kell 2013; Buchmann/ Gimbel 2015; Gimbel 2017; Buchmann 2020). Die Berufsbildungswissenschaft beschäftigt sich mit den Fragen eines sich in Transformation befindenden Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. In der Zeitspanne seit Bestehen des historischen Bauhauses bis heute führten und führen gesellschaftliche Transformationen wie Internationalisierung, Globalisierung, Technisierung, Digitalisierung und Verwissenschaftlichung sowie demografische Umbrüche zu veränderten Lebenswelten der Subjekte (Aulenbacher u.a. 2017). Andreas Reckwitz zufolge war die Industrietechnik zur Zeit des Bauhauses ein Motor der funktionalen Rationalisierung und Versachlichung, das gegenwärtige digitale Computernetz dagegen sei ein Generator der gesellschaftlichen Kulturalisierung und Affektintensivierung. Kulturalisierung zeige sich dabei als ubiquitär sowie als Kultur der Visualität, die die Trennung zwischen bürgerlicher Hochkultur und Massenkultur der organisierten Moderne überwinde (Reckwitz 2018). Angesichts dieser Transformationen ist die Bildungsfrage erneut zu aktualisieren, denn mit ihnen geht u.a. die Frage nach der Durchdringung digitaler Prozesse einher, welche beispielsweise wiederum notwendige Voraussetzung dafür ist, digitale Prozesse und mit ihnen verbundene Transformationen gestalten zu können. Dazu bedarf es, in Anlehnung an Marcuse, den neuen Fähigkeiten der Gesellschaft entsprechender neuer Weisen der Verwirk­ lichung, denn die Freiheiten seien zu bedeutsam, um auf traditionelle Formen begrenzt zu bleiben (Marcuse 2014). Vor diesem Hintergrund werfen die Beiträge dieses Teils die Frage auf, inwiefern das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter eine Inspiration für die Berufliche Bildung sein kann. Eine regulative Idee im Sinne Kants dient nach Simmels Lesart als Wegweiser für «Richtung und Fortschritt der Erkenntnis oder des Handelns», sie könne niemals vollkommen erreicht werden, da sie auf einer ideengeschichtlichen Ebene liege (Simmel 1924: 18f.). Mit Blick auf eine dazu passende Curriculumforschung wird der Versuch unternommen, einen Beitrag zur Grundlegung neuer Wissensarchitekturen zu leisten. Im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Reflexion werden neben den eher etablierten Bezugswissenschaften auch neue (Teil)Disziplinen berücksichtigt, deren Expertise zur Bearbeitung aktueller (berufs-) bildungswissenschaftlicher Fragen notwendig erscheint. In der Verbindung von Künsten, Handwerk und Technik wurden am Bauhaus Grundprinzipien entwickelt, deren Neubeachtung angesichts der skizzierten Transformationen lohnenswert erscheint. Die Beiträge begründen die Annahme, dass die ökonomischen Teildis­ ziplinen Plurale Ökonomik und Ubiquitous Design/Wirtschaftsinformatik zum

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­ erständnis und zur Mitgestaltung der skizzierten Veränderungen als neues ArbeitsV bündnis (Oevermann 2002) einen Beitrag leisten können. In diesem Zusammenhang werden deren Schnittmengen zur Erziehungswissenschaft herausgearbeitet: Zum einen werden Gedanken zur transdisziplinären Anschlussfähigkeit der bisher weitgehend disziplinär gebundenen theoretischen Überlegungen unternommen und zum anderen transmediale Gestaltungsprozesse verhandelt.

Verbindungslinien Den unterschiedlichen Perspektiven der vier Teile des Bandes ist gemeinsam, dass sie sich weniger auf das Bauhaus beziehen – das es so auch gar nicht gibt (Herzogenrath 2019) –, sondern dass jeweils nur einzelne Bauhaus-Paradigmen im Sinne von Aspekten oder Facetten fokussiert werden. Das Interesse liegt demzufolge weniger auf dem historischen Bauhaus als solchem. Die Beiträge beziehen sich vielmehr auf die Kontexte, aber auch auf die Übertragbarkeit und das Fortwirken des Bauhauses. Insgesamt fällt auf, dass teils bekannte Bauhaus-Paradigmen in neuen Zusammenhängen verortet, teilweise aber auch bislang kaum beachtete Bauhaus-Paradigmen (wie z.B. Erziehung durch Gestaltung) in den Fokus gerückt werden. Aufgrund dieses gemeinsamen Interesses lassen sich zwischen den einzelnen Teilen trotz ihrer sehr unterschiedlichen Zugänge und Schwerpunkte durchaus Verbindungslinien erkennen. Eine Gemeinsamkeit des ersten und zweiten Teils besteht beispielsweise in dem Interesse an der Verbreitung von Bauhaus-Lehren und Ideen. Während diesbezügliche Fragen im ersten Teil in Richtung einer Popularisierung perspektiviert werden, steht im zweiten Teil die Verbreitung qua Pädagogisierung im Fokus. Demgegenüber sind Fragen nach Aktualisierungsmöglichkeiten von in Bauhaus-Kontexten entwickelten Ideen ein verbindendes Element des dritten und vierten Teils. Hier wird zum einen das Potential von Bauhaus-Lehren für den zeitgenössischen Kunstunterricht reflektiert. Zum anderen wird aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive der Versuch unternommen, das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter unter Einbezug alter und neuer Bezugsdisziplinen neu zu denken. Mit Blick auf diese Verbindungslinien verwundert es auch nicht, dass sich im Band Überschneidungen ergeben, und zwar insofern, als einzelne Objekte, Facetten, Themen oder Fragen in verschiedenen Beiträgen verhandelt werden. Das führt aber keineswegs zu Redundanzen. Im Gegenteil machen gerade die unterschiedlichen Perspektiven auf dieselben Dinge, Phänomene oder Aspekte des Bauhauses die Komplexitäten, Pluralitäten und teils auch Widersprüchlichkeiten sichtbar, die mit dem Titel Bauhaus-Paradigmen angesprochen sind.  Auf der Ebene der Objekte begegnen wir beispielsweise den Spielzeugen Alma Siedhoff-Buschers aus der Perspektive einer Pädagogik der Dinge sowie aus kunstpädagogischer Perspektive, um erzieherische und bildende Momente des Bauhaus-­Designs zu plausibilisieren. Auch das Konzept des «Wohnens als Selbstverwirklichung» wird in mehreren Kontexten zum Thema und Gegenstand der Kritik. So wird dieses Phänomen einerseits als bildungsbürgerliche Besonderheit

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analysiert und als Basis konsumpädagogischer Bestrebungen bis in zeitgenössische Schulcurricula verfolgt, andererseits wird es in Umdeutung des vom schwedischen Einrichtungsriesen IKEA geprägten Begriffs des demokratischen Designs als individuelle Ausgestaltung des Massenproduzierten verstanden. Aus einer weiteren Perspektive wird «Wohnen als Selbstverwirklichung» innerhalb von Zusammenhängen derzeit wirkmächtiger Governance-Techniken reflektiert. ­ Schließlich beschäftigen sich ebenfalls mehrere Beiträge mit Fragen nach dem Nachleben von Bauhaus-Ideen. So wird bspw. der vom Bauhaus gebotene kartierte Weißraum in die Ikonographiegeschichte der tabula rasa eingereiht und bis zu Google fortgeschrieben, während ein anderer Beitrag in heutigen Entwürfen des spekulativen Designs fantastisch-visionäre Bauhaus-Qualitäten aufzeigt und ein dritter das Bauhaus als einen Bildungsraum begreift, der verschiedenste Auseinandersetzungen provoziert. Vor diesem Hintergrund – und zusammenfassend – wollen wir die hier versammelten Beiträge als eine Form der Arbeit an und mit verschiedenen BauhausParadigmen verstanden wissen. Sie leisten einen Beitrag dazu, sich über die Zusam­menhänge und Kontexte zu verständigen, innerhalb derer die Arbeit am Bauhaus Gestalt annehmen konnte und durch die hindurch hier entwickelte Lehren und Ideen Wirkung entfalten konnten und können. Die vorliegenden ­Beiträge eröffnen aus kunst- und designwissenschaftlichen, kunstpädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Blickwinkeln nicht nur teils ungewohnte Perspektiven auf das Bauhaus. Vielmehr legen sie auch Fragen und Problemlagen offen, die weiterer Forschungen bedürfen, um das Bauhaus nicht nur als Institution zu konturieren, sondern insbesondere auch seine nachträgliche Konstruktion, seine Rekontextualisierungen und Aktualisierungen zu verstehen.

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Das Bauhaus in der Populärkultur

Einleitung

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Joseph Imorde, Anne Röhl, Andreas Zeising In der populären Rezeption steht der Name Bauhaus heute für die Idee von Design schlechthin, er signalisiert zudem geradezu modellhaft Vorstellungen von ‹Modernität› und ist mit weithin positiven Werten besetzt. Wohl keine andere Strömung der künst­ lerischen Avantgarde hat eine derart breitge­ fächerte Wirkung entfaltet. Das populäre Bauhaus-Bild verdankt sich wesentlich politischen Zeitumständen und rührt her von der Festschreibung des Modernismus als Internationalem Stil und als kultureller Manifestation der liberalen westlichen Welt, die als Gegenbild zu den totalitären Ideologien der 1930er Jahre fungiert. Zum gängigen Bauhaus-Image tragen auch dessen von Walter Gropius geprägte Rezep­ tion der Nachkriegszeit bei und die im Rahmen der ersten größeren Feier der fünfzigjährigen Geschichte der Kunstschule vorgenommenen Historisierungen. Mit ‹Bauhaus› waren in der Folge meist Ausprägung und Produkte der Dessauer Zeit der Ära Gropius gemeint; seine historische und künstlerische Komplexität waren ästhetisch und politisch auf Linie gebracht worden. Die Jubiläumsfeierlichkeiten der späten 1960er Jahre ließen das Bauhaus schließlich in einer Ausstellungstournee zu einem deutschen Exportschlager werden. Über die Verbreitung von Bauhaus-­ Gestaltung durch sogenannte Design­ klassiker, Polemiken (Tom Wolfe), die Touris­ tifizierung der Bauhaus-Stätten seit den 1990er Jahren sowie zuletzt die extensive mediale Aufmerksamkeit zum Jubiläumsjahr spannt sich eine vielgestaltige populär­ kulturelle Rezeptionsgeschichte. Vor diesem Hintergrund untersuchen die Beiträge, die unter dem Titel Das Bauhaus in der Populärkultur vereint sind, kritisch populärkulturelle Rezeptionsstränge des

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Bauhauses. Die hier vereinten unterschied­ lichen Forschungsinteressen der einzelnen Positionen, die sich ergänzen und an der ein oder anderen Stelle vielleicht auch überkreuzen, lassen dabei generelle Tenden­ zen der populärkulturellen Bearbeitung des Bauhauses erkennen: So ist ein ‹Bauhaus-Stil› fortlaufend durch die Verbrei­ tung von Bauhaus-Möbeln und Objekten als Reeditionen und auch Imitate seit den 1960er Jahren vermarktet worden, was um das 100-jährige Jubiläum der Kunst­ schule 2019 besonders sichtbar war. Diese jüngste populärkulturelle Rezeption des Jubiläumsjahrs hat, zweitens, wiederum eine Vielzahl (fiktionaler) Bauhaus-Erzählungen in den unterschiedlichsten Medien und Genres generiert – von Comics, Kinder­ büchern und Bildungsromanen über FantasyKrimi-Serien zu Filmen und TV-Serien. Drittens sind die Kunstschule und deren Spuren nicht nur über die Social Media Kanäle von Museen und Bauhaus-Stätten in der digitalen Welt zu finden: Der Einsatz der am Bauhaus propagierten Ästhetik und Gestaltungsprinzipien zeigt sich in digitalen Umgebungen von Videospielen bis zur Google-Startseite. Zuletzt lässt sich neben der Masse und dem Variantenreichtum von populären Bearbeitungen des Bauhau­ ses feststellen, dass sich in der jüngsten populärkulturellen Rezeption erstmals auch eine Reflexion und Kritik des BauhausImages und -‹Erbes› im Mainstream stattfindet. Diesbezüglich konstatiert Annette Geiger nach einem kurzen Streifzug durch die kulturkritische und popkulturelle BauhausRezeption um das Jubiläumsjahr, dass hier Extreme – Verklärung auf der einen und harsche Demontage auf der anderen Seite – mittlerweile nicht nur in der Kulturkritik, sondern auch in populären Bearbeitungen des Bauhauses zu verzeichnen sind. Geleitet von der Frage nach einer angemessenen Rezeption, fordert sie unter dem Titel Nicht

Sachlichkeit, sondern Fantasie! Zur Revision unseres Bauhaus-Bildes, dazu auf, das Spielerisch-Fantastische, sichtbar in den spekulativen Gestaltungsentwürfen für Wohnraumknappheit des Architekten Van Bo Le-Mentzel, als Weiterdenken des Bauhauses zu sehen. Nicht mit den öko­ nomischen Aspekten des Wohnens, sondern dessen privaten, alltäglichen Prozessen beschäftigt sich der Beitrag von Joseph Imorde. Dem Begriff Demo­ kratisches Design, wie ihn der Wohnkonzern IKEA als Kombination von Form, Funktion, Qualität, Nachhaltigkeit und niedrigem Preis geprägt hat, setzt er in seinem gleichnamigen Text ein konträres Verständnis entgegen: Er zeigt, dass auch die in der Tradition des Bauhaus stehenden massenproduzierten Möglichkeitsräume des schwedischen Möbelhändlers nicht mit Individualisierungen aufräumen. Diese Ansammlungen von persönlichen, gar kitschigen Objekten zur Selbstversicherung und -historisierung begreift er als demokratisches Design. Die Beiträge von Donatella Cacciola, Andreas Zeising und Anne Röhl beschäftigen sich mit der Verbreitung und populären Rezeption von Bauhaus-Möbeln und Objekten. Donatella Cacciola zeichnet die Mediatisie­ rung der Reeditionen nach, die in den 1960er bis 1980er Jahren vor allem über Zeitschriften erfolgte. Entgegen bisheriger Lesarten, die den Symbolcharakter der Möbelklassiker fokussieren, befragt sie Bauhaus-Objekte als Simulacra der ­Klassischen Moderne? Sie verdeutlich darüber hinaus, inwiefern Reeditionen durch die darin verwirklichte serielle Fertigung und die damit einhergehende Konturierung des Berufs des Designers Vorhaben des historischen Bauhauses weiterführen. Unter dem Titel Billiges Bauhaus. Ein Plädoyer für die feinen Unterschiede erläutert Andreas Zeising am Beispiel der Bauhaus-Leuchte den Status von ‹Design-Originalen› innerhalb der Flut von Imitationen und Plagiaten.

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Der Markt für Imitationen wurde, wie er zeigen kann, durch den juristischen Schutz von Design-Objekten als geistiges Eigentum überhaupt erst geschaffen. Den Status der Reeditionen schmälert er jedoch nicht, auch nicht in Zeiten, in denen Discounter Ununterscheidbarkeit propagieren. Anne Röhl beschreibt im Beitrag mit dem Titel Zuschreibungen, Zug um Zug. Josef Hartwigs Schachspiel in Kontexten der 1920er und 2010er Jahre die Entstehung und Rezeption dieser ‹Bauhaus-Ikone›. Sie erläutert die Ansprüche und Widersprüche des Entwurfs sowie die Überformungen des bekannten Objekts, was als Nachahmung aus dem 3D-Drucker oder als ‹originale› Wiederauf­ lage in populärkulturellen Kontexten für einen positiven Modernebegriff einsteht. Mit der Frage der Übertragbarkeit von Bauhausgestaltung in digitale Welten beschäftigen sich die Beiträge von Thomas Hensel und Reinke Schwinning. Im Aufsatz Van Veen – Itten – Google: Die tabula rasa als Kreativitätsdispositiv ordnet Thomas Hensel den vom Bauhaus dargebotenen kartierten Weißraum in eine Ikonographiegeschichte der tabula rasa von der Renaissance bis zu Google ein. Er begreift ihn als Kreativitätsdispositiv, das – wie Hensel verdeutlicht – nicht nur vor dem Bauhaus schon bei Friedrich Fröbel nachzuweisen ist, sondern auch in den Innovationsräume von Technologiekonzer­ nen sowie im White Cube der Museums­ architektur fortlebt. Reinke Schwinning erläutert unter dem Titel Polygon – Polyfon. Bauhaus und Videospiel: Facetten die Verbindungen zwischen Bauhaus-Gestal­ tung und Videospielen. In deren multisenso­ rischen Welten deckt er ein Bauhaus‹Erbe› im Zusammenspiel von graphischen und auditiven Texturierungen auf und kann darüber hinaus popkulturelle Bearbei­ tungen des Bauhauses in Form von Zitaten und Hommagen nachweisen, die sich über Level und Spiele erstrecken.

Annette Geiger

Nicht Sachlichkeit, sondern Fantasie!

Zur Revision unseres Bauhaus-Bildes

Mit dem Ende des Jubiläumsjahrs 2019 ist das Bauhaus bekannter denn je, die mediale Dauerpräsenz des Themas hat auch dazu geführt, dass sich ein neues Image der berühmten Schule formiert hat. Doch wie wohlwollend fällt dieses Bild eigentlich aus? Wie ich zeigen möchte, scheiden sich heute die Geister: Das ­Bauhaus wird einerseits hochgelobt und andererseits aufs Schärfste kritisiert. Dieser Streit um die Bewertung ist mittlerweile auch in der Populärkultur angekommen. Welche Bauhaus-Rezeption wäre also legitim? In der öffentlichen Wahrnehmung zählt das Bauhaus-Design zur Hochkultur, es gilt als frei von niederer Warenästhetik. Diesen Anspruch fasst z.B. die Bundeszentrale für politische Bildung wie folgt zusammen: Die «Bauhaus-Idee» gilt heute als einer der wichtigsten deutschen Kulturexporte. Mit ihr verbinden sich vor allem schnörkellose, in Form und Farbe reduzierte Architektur, schlichte wie elegante Funktionalität sowie klares und scheinbar zeitlos modernes Design. (Piepenbrink 2019) Die Bauhaus-Produktion wird hier als Repräsentant eines ‹guten Deutschlands› gesehen. Vor der NS-Zeit habe es auch eine ‹gute Vergangenheit› der deutschen Kultur gegeben, auf die man sich noch ungetrübt berufen darf, so dieser Strang des Diskurses. Doch war die Klassische Moderne tatsächlich so unproblematisch, dass man sie als zeitlose Ikone guten Designs ungetrübt feiern darf?

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Der Bauhaus-Stil wird heute allerorts kopiert, ob Arztpraxis oder Anwaltskanzlei, kaum eine Büroeinrichtung kommt noch ohne chromglänzende Freischwinger und kühle Glastische à la Bauhaus aus. Doch was hat heutiges Wartezimmerdesign noch mit der Kreativität und Ethik eines ‹neuen Menschen› zu tun, den die m ­ oderne Gestaltung einst hervorbringen wollte? Die gegenwärtige Vermarktung der Bauhaus-Produkte übertrifft wohl Theodor W. Adornos schlimmste Befürchtungen über die Abgründe der Kulturindustrie. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Kulturkritik gerade im Umfeld des Jubiläums zum Gegenschlag ausholte. Vor allem der Qualitätsjournalismus konzentrierte sich nun auf die Schattenseiten der berühmten Schule.

Das Bauhaus-Bild in der Kulturkritik Eine ausführliche Analyse der Bauhaus-Rezeption in den Medien würde hier ­ icherlich den Rahmen sprengen, doch sei der Versuch unternommen, die zents ralen Argumente des kritischen Blicks zusammenzufassen. Es lassen sich dabei zwei Angriffsstrategien unterscheiden: zum einen die Verurteilung der bauhausinspirierten Architektur und Gestaltung an sich und zum anderen die Kritik an bestimmten Bauhaus-Lehrenden, die ihren Geniestatus nun verlieren sollen. Das Unbehagen an der Bauhaus-Moderne ist natürlich nicht neu, der US-amerikanische Architekturkritiker Tom Wolfe wurde damit schon in den 1980er Jahren ­bekannt. Sein Buch From Bauhaus To Our House, dt. Mit dem Bauhaus leben. Die Diktatur des Rechtecks, war allerdings so ketzerisch, dass die damaligen Kritiker entrüstet darauf reagierten. Doch gelten Wolfes Argumente mittlerweile als common sense: Der soziale Wohnungsbau, der aus dem Bauhaus-Leitbild hervorging, hat mit seinen zugrunde gesparten Wohnschachteln sicher nicht dem utopischen Menschenbild der Moderne entsprochen, sondern allem voran die Unbarmherzigkeit der Effizienz deutlich gemacht. Solche Architektur ist sicherlich funktional, aber eben nicht sozial (Wolfe 1982). In Deutschland war diese Argumentation bereits über Adornos Funktionalismuskritik von 1965 bekannt (Adorno 1973), doch ging die Diskussion zunächst nicht über Fachkreise hinaus. Als neu erweisen sich also nicht die Argumente der aktuellen Bauhaus-Kritik, sondern die Tatsache, dass nun auch die breitere Öffentlichkeit in diese Sicht eingeweiht wird. Die vermeintliche Sachlichkeit, so die heutige Presse, sei kaum mehr als eine ästhetische Spielerei. Gerhard Matzig kritisiert z.B. die Bauhaus-Produktion wie folgt: Ein mathematisch korrektes Auflager, mehr Geometrie als Gesäß, mehr Architektur als Hinterteil, ist das Ideal. […] Analog trifft das auch auf die De-Stijl-Hervorbringungen eines Gerrit Rietveld zu, dessen rot-blau-­ gelber Stuhl einer Folterbank ähnlicher ist als einem Stuhl. (Matzig 2015) Andreas Höll klagt zudem, dass die beliebte Bauhaus-Lampe von Wilhelm Wagenfeld und Carl Jakob Jucker doch überhaupt nicht für den Alltag tauge: Man habe sie entworfen als «hochästhetisches Ausstellungsstück für eine Leistungsschau des Bauhauses in Weimar. Bald wurde sie als Leselampe vermarktet – doch für

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diesen Zweck war sie überhaupt nicht geeignet.» (Höll 2019) Auch für Gerhard Matzig zeigt das Beispiel der Lampe nur, dass aus dem Bauhaus-Versprechen einer «Produktion für alle» nichts geworden sei: Heute kostet die Leuchte vierhundert Euro und steht in Haushalten von Leuten, die sich einen guten Geschmack in betonter Kenntnis der M ­ oderne leisten können. Aus dem Sparprogramm […] wurde so ein Wettrüsten der heute konservativen Stil-Elite. (Matzig 2015) Besonders hart ging auch Hanno Rauterberg mit dem Bauhaus ins Gericht: Die Schule sei nie innovativ gewesen, sondern habe ihre Wurzeln im rückwärtsgewandten Konservatismus der Lebensreformer*innen. Der Ton war esoterisch-missionarisch und im Fall des Schweizer Künstlers und Bauhaus-Meisters für Grundlehre, ­Johannes Itten, auch offen rassistisch: Dieser sprach «viel über die Vollkommenheit der ‹weißen Rasse› und sah im Bauhaus ein ‹Haus des weißen Mannes›. Viele Studenten fühlten sich davon tief berührt, erfüllt vom Geist der Überlegenheit, dem Geist ihrer Hochschule.» Das Bauhaus als Brutstätte von Freisinn und Gleichberechtigung zu beschreiben, so Rauterberg, sei gänzlich verfehlt, denn «je länger es die Schule gab, desto rigider, ja autoritärer ging es zu.» Insbesondere die weiblichen Studierenden, abfällig «Webmädchen» genannt, seien offen diskriminiert worden. Zu guter Letzt spricht Rauterberg dem Bauhaus sogar die Kreativität ab, da man der sachlichen Formensprache habe sklavisch folgen müssen: Man pries die eigene Experimentierlust, doch organische Formen, verträumte oder dystopische Entwürfe waren meist ausgeschlossen. Das Heil lag im rechten Winkel, da verboten sich selbst kleine Spinnereien. Häuser sollten wie Maschinen sein, Möbel wurden als Apparate begriffen – und in diesem auf Funktionalität getrimmten Denken hatte das Individuelle nur wenig Raum. Rauterberg kommt also zu dem Schluss: Die Geschichte der Bauhäusler ist eine Geschichte des Selbstverrats: Ihre Menschenfreundlichkeit […] schien sich in ihrer Formenwelt nicht einnisten zu wollen. Sie träumten von einer neuen Konvention für alle und alles, heraus kam eine Ästhetik renditegesteuerter Beliebigkeiten. […] Jedenfalls erwiesen sich viele Bauhäusler, obwohl sie lange als die Vorboten eines besseren Lebens aufgetreten waren, als erschreckend opportunistisch. Der Geist der Kritik wich dem Geist des Karrierismus. (Rauterberg 2019) Das sind harte Worte, aber in vielen Punkten lässt sich dem, was die Kritiker schreiben, nicht widersprechen: Itten propagierte seine untragbare Rassenlehre in aller Öffentlichkeit und Gropius wie auch Mies van der Rohe biederten sich dem NS-Regime an, um auch nach der Machtergreifung weiter bauen zu dürfen (Linse 2019). Es ist offensichtlich, dass man bisher vieles ausgeblendet hatte im Zuge

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der einfältigen Bauhaus-Bewunderung. Wie könnte die Wertschätzung heute also trotz allem noch gelingen? Zunächst wäre es wichtig, die Kritik am Bauhaus zu differenzieren: Als problematisch erweist sich, dass immer von dem Bauhaus gesprochen wird, so als sei es eine Marke, die nur eine immer gleichbleibende Sorte an Produkten hergestellt hat. Die Positionen der einzelnen Lehrenden am Bauhaus unterschieden sich aber so stark wie die Ergebnisse ihrer Arbeit. Keiner kann für das Bauhaus schlechthin stehen, auch nicht Walter Gropius, der sich jedoch stark dafür eingesetzt hatte, dass es im Nachhinein so aussieht, als hätten alle an einem Strang gezogen – ­nämlich an dem von ihm vorgegebenen. Bernd Polster, der eine neue Biographie über den Architekten verfasst hat, resümiert: Gropius war nicht nur autoritär und frauenfeindlich gesinnt, sondern vor allem ein gewiefter Hochstapler (Polster 2019a; ders. 2019b). Er hatte, das ist schon länger bekannt, in der Nachkriegszeit das Bauhaus-Image in der Öffentlichkeit massiv auf die von ihm vertretene Linie ­getrimmt. Insbesondere die Ausstellung 50 Jahre Bauhaus, die 1968 in Stuttgart stattfand, hatte Gropius die Deutungshoheit hierzulande gesichert: Einen kritischpolitischen Geist hätte die Schule nie gehabt, man sei einzig und allein die Wiege des International Style gewesen, d.h. der westlich-kapitalistischen WolkenkratzerArchitektur (Württembergischer Kunstverein 2018). Diese absichtliche Verfälschung des Bauhaus-Bildes gilt es heute natürlich zu korrigieren. So bemüht sich z.B. Philipp Oswalt, langjähriger Leiter der Stiftung Bauhaus Dessau, darum, das Image von Hannes Meyer wieder aufzuwerten, ­dessen Ideen zum Neuen Bauen sich bis heute als tragfähig erweisen (Flierl/Oswalt 2019). Nicht zufällig war es Gropius höchstpersönlich, der dazu beigetragen hatte, die Leistungen von Hannes Meyer herabzuwürdigen und ihn als linken Störer in der Bauhaus-Geschichte erscheinen zu lassen. Zur Zeit von Meyers Rektorat, so Oswalt, sei am Bauhaus durchaus eine sozial funktionierende Gestaltung entstanden, ebenso wie Meyers Konzept einer «meisterlosen Schülerrepublik» die demokratischen Ideen am Bauhaus voran gebracht hatte. All dies vermag die erwähnte Kulturkritik nicht in Betracht zu ziehen, wenn sie bei einer undifferenzierten Darstel­ lung über das Bauhaus bleibt.

Das Bauhaus-Bild in der Populärkultur Was weiß nun die heutige Populärkultur zu unserem Bauhaus-Bild beizutragen? Rund um das Jahr 2019 erschienen auch zahlreiche Bauhaus-Fernsehfilme und TV-Dokumentationen, Bauhaus-Romane ebenso wie Bauhaus-Krimis und Bauhaus-Comics.1 Auch in diesen Unterhaltungsgenres ist die Kritik am Bauhaus-­ Mythos längst angekommen. Vor allem die Diskriminierung der Bauhaus-Frauen bildet dabei ein beliebtes Thema: Die Einzelschicksale junger Studentinnen werden zu gesellschaftlichen Emanzipationsdramen verwoben, doch wird die Frage nach der gestalterischen Arbeit jener Bauhaus-Frauen dabei meist übergangen. Hannah 1

Neben den Werken, dich ich im Folgenden eingehender besprechen werde, sind z.B. erschienen: Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus von Jana Revedin, (2018), Gläserne Zeit. Ein Bauhaus-Roman von Andreas Hillger (2013), Tod am Bauhaus von Susanne Kronenberg und Wenn Martha tanzt von Tom Staller (beide 2019).

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Pilarczyk kommt z.B. in ihrer Kritik des Fernsehfilms Lotte am Bauhaus (Deutschland 2019, Regie: Gregor Schnitzler) zu dem Urteil, dass es sich hier lediglich um «ARD-Historienschrott» handele: «Vor lauter Kitsch und Pseudo-Feminismus» untergrabe der Film sein eigenes Ziel «den Frauen am Bauhaus ein angemessenes Denkmal zu setzen.» (Pilarczyk 2019) In der Tat fördern Dokudramen, die Fakten und Fiktion zum Zweck der Unterhaltung mischen, oft kein differenziertes Bild, sie befeuern nur die geläufigen Bauhaus-Klischees. Es gibt aber auch Ausnahmen: ­ eispiele vorstellen, die versuchen die Gestaltung Ich möchte im Folgenden drei B am Bauhaus mitzudenken. Der Comic Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt des spanischen Architekten und Zeichners Agustín Ferrer Casas inszeniert das fiktive Gespräch zwischen dem hochbetagten Ludwig Mies van der Rohe und seinem Enkel als Rahmenhandlung für eine Serie an Rückblenden in die Bauhaus-Zeit, die wiederum als Dokufiktion angelegt sind (Ferrer Casas 2019). Im Zentrum der Erzählung steht die Persönlichkeit des Star-Architekten: Er wird als Wüstling dargestellt, als rauchender und saufender Choleriker und Macho. Den lästigen Konkurrenten Walter Gropius bekämpfte er sein Leben lang. Neben der Ehe leistete er sich Affären, ließ Frauen hängen – auch schwangere – trieb sie in die Scheidung oder in den Alkohol. Immer wieder ist er nackt im Bild zu sehen, was seine Liederlichkeit auch visuell unterstreichen soll. Besonders eindrücklich geschildert ist Mies van der Rohes Strategie, seine reiche Auftraggeberin Edith Farnsworth zu verführen, damit er mit ihrem Geld bauen kann, wie er will. Abb. 1 Das nach ihr benannte Haus war für die Bewohnerin gänzlich unfunktional, da sie in einem gläsernen Käfig saß und sich beobachtet fühlte. Abb. 2 Zudem wurde es regelmäßig überschwemmt, wenn der nahe gelegene Fox River über die Ufer trat. Farnsworth verklagte ihn daher, aber er hatte seine ArchitekturIkone bereits gebaut und ging mit den Bildern des Baus in die Geschichte ein. Trotz allem ist der Comic auch eine Hommage an die Architektur von Mies van der Rohe: Sein schlechter Charakter sei das Eine, aber seine Leistung als Meister der Formgebung die andere Seite, die man keinesfalls unterschlagen dürfe. In der fiktiven2 Schlussszene vor der strahlend schönen Berliner Nationalgalerie Abb. 3 wird der Held gefragt, ob es das alles Wert war? Seine Kämpfe und Intrigen, sein rücksichtsloser Umgang mit den Mitmenschen – und er antwortet: «Seht ihr es nicht? Zweifelt ihr noch immer? – Selbstverständlich! Ja! Ja! Ja!» (Ferrer Casas 2019: 170) Die abgebildeten Personen um ihn herum sind jedoch seine Opfer, gewissermaßen die Leichen, über die er gegangen ist, um sein Werk zu schaffen – und diese wirken nicht gerade beglückt von seiner Aussage. Braucht gute Architektur den Größenwahn seines Erbauers? Muss das Genie immer auch rücksichtsloser Demiurg sein, um das Entwerfen zu revolutionieren? Ferrer Casas lässt die Antwort offen. Als Würdenträger deutscher Kultur überlebt die Ästhetik aus Glas, Stahl und Marmorwänden hier unbescholten, kritisiert wird nur der Mensch dahinter. Oder ist der Wille zur Schönheit an sich schon ein Verbrechen, weil er vergisst die Frage nach dem Sozialen zu stellen? Der Comic beantwortet diese Fragen nicht, er regt aber das Nachdenken darüber an. 2

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Das Bild entspricht hier absichtlich nicht den historischen Tatsachen: Die Eröffnung der Nationalgalerie 1968 hatte Mies van der Rohe altersbedingt nicht mehr erleben können, aber der Comic projiziert ihn fiktional als jungen Schöpfergott vor das ­vollendete Werk, um ihm die Gewissensfrage zu stellen.

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Agustín Ferrer Casas, Rückblende zur Affäre von Mies van der Rohe und Edith Farnsworth im Comic Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt, 2019.



Agustín Ferrer Casas, Rückblende in die Bauzeit des Farnsworth House im Comic Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt, 2019.



Agustín Ferrer Casas, Fiktive Szene vor der Berliner Nationalgalerie im Comic Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt, 2019.

Ganz anders, nämlich deutlich Position beziehend, liest sich der Roman B ­ laupause (2017) von Theresia Enzensberger. Die fiktive Bauhaus-Studentin Luise Schilling kommt, wie im Bildungsroman üblich, jung und naiv an die Schule und durchlebt unterschiedliche Entwicklungs- und Emanzipationsphasen, als Frau wie als Gestal­ terin. Das Entwerfen reift im Romangeschehen parallel zur Persönlichkeit: Luise gerät zunächst in den Kreis um Johannes Itten, seine rückwärtsgewandten, autoritär-esoterischen Lehren verlangen strikte Gefolgschaft, doch der Heldin gelingt es aus den engen Grenzen auszubrechen. Anschließend wendet sie sich dem bodenständigen Handwerk in der Tischler-Werkstatt zu, erkennt aber, dass sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nur ändern kann, wenn sie den Wohnbau durch neuartige Architektur- und Planungsmethoden revolutioniert. Der Umzug der Schule nach Dessau erweist sich im Roman als ein Moment der Erleuchtung: Als sich Luise erstmals dem neuen Bauhaus-Gebäude nähert, ist es bereits dunkel, der Bau steht strahlend hell in der Einöde, er glänzt und schwebt. Sie bleibt ergriffen stehen, mein Blick unabwendbar, mein Körper zitternd. Was wir uns immer vorgestellt haben, gibt es nun wirklich, denke ich und erschaudere. […] Ich will die Zukunft bauen und die Vergangenheit abreißen. (Enzensberger 2017: 137f.) Die strahlende Kirche der Moderne, jener Würdenträger deutscher Hochkultur, wird im Lauf der Geschichte aber seinerseits demontiert: Luise erkennt, dass das hohe Maß an Ästhetisierung, das Gropius’ Werke kennzeichnet, der Funktionalität nur schadet. Sie will diesen Verrat an der Nützlichkeit wie am Sozialen überwinden und zur Vorkämpferin einer gesellschaftlich relevanten Stadtplanung werden. Sie ­entwirft eine so klug durchdachte Wohnsiedlung, dass auch Gropius davon überzeugt ist – und ihr kurzerhand die Idee stiehlt, um damit selbst einen Wettbewerb zu gewinnen (ebd.: 240); es handelt sich um die Siedlung Dammerstock bei Karlsruhe, die Gropius 1929 auch tatsächlich realisiert hatte. Abb. 4 Im Roman durchschaut Luise die Niedertracht ihrer Meister, Hannes Meyer wird im Roman keinen Deut besser dargestellt, er will ihr sogar das Abschlusszeugnis verweigern, weil er denkt, sie habe wiederum Gropius kopiert (ebd.: 243). Luise vermag sich auch davon zu emanzipieren, sie begreift die Verlogenheit des hochgezüchteten Bauhaus-Funktionalismus, der längst nicht so sachlich ist, wie er aussieht. Sie emigriert in die USA, wo sie sich der Erforschung der gesellschaftlichen Bedürfnisse widmet, um wahrhaft soziale Architektur zu entwerfen. Nicht wie bei Gropius immer «höher, größer, phallischer» durch «Siedlungsblocks, Hochhäuser und Autobahnen» (ebd.: 253), Luise schreibt vielmehr ein Sachbuch mit dem Titel «Kleine Wirtschaftsräume in großen Städten». Darin werden z.B. «Fußgängerwege und Veranden» (ebd.: 249) untersucht, als Gegenbild zu den größenwahnsinnigen Projekten ihrer männlichen Kollegen. Die Autorin, Theresia Enzensberger, hat hier kurzerhand in einen Männlich-­WeiblichKonflikt unterteilt, um ein klischeehaftes Gut-Böse-Schema zu erhalten. Man kann dies eigentlich nur als Positivdiskriminierung lesen: Frauen-Architektur sei besser, weil sie am Boden der Tatsachen bleibt, sich also keine ästhetischen Ausflüchte

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Walter Gropius, Siedlung Dammerstock, Karlsruhe, Vogelperspektive und Fotografie einer Zeichnung: Lageplan, 1928–29, Silbergelatine auf Barytpapier, 25,4 × 20,4 cm, Bauhaus-Archiv Berlin.

und Utopien erlaubt. Doch wie sollte eine solche Zuschreibung für die Emanzipation weiblicher Architektinnen stehen, wenn den Frauen wiederum das Entwickeln der ‹kleinen Räume› zugeschrieben wird – d.h. die bloße Pragmatik von Ausstattung und Funktion, ohne jegliches Streben nach Ästhetik, Vision und Utopie? Mir scheint es wenig überzeugend, die Kritik an der Moderne über eine derart bigotte Geschlechterbinarität vorzunehmen. So wie es auch zu bezweifeln gilt, ob das reine Funktionieren unsere Städte auch tatsächlich lebenswerter machen würde – ganz ohne die visionäre Kraft des Ästhetischen.

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Ich möchte daher noch ein drittes Beispiel anführen, das sich zwar nicht so ­explizit auf das Bauhaus bezieht, wie die ersten beiden, aber es greift die Bauhaus- bzw. Moderne-Debatte, um die es heute gehen muss, gelungen auf. Die britische Fantasy-Krimi-Serie Flüsse von London (8 Bde., seit 2011) von Ben Aaronovitch verbindet Bestseller-Popkultur mit einem anspruchsvollen Diskurs-Niveau zu race, class und gender ebenso wie zur Urbanismus- und Architekturkritik. Eine Mischung, die an sich schon heraussticht: An das Genre des Urban-Fantasy-Romans anknüpfend, kombinieren die Geschichten das menschliche Verbrechen mit der ­Stadtgeschichte Londons seit den Römern, sie flechten literarische Topoi aus magischem Realismus und Afrofuturismus ein und bilden zu guter Letzt auch noch eine Art HarryPotter-Satire für Erwachsene. Aaronovitch bietet, frei nach Susan Sontag, brillant erzählten Camp, der sich historisch bis in die Antike zurückwagt und eine ­anspruchsvolle Gesellschafts- und Kulturkritik formuliert. Bleiben wir hier bei der ernsten Seite des Plots: Der Autor beschreibt, wie der real existierende Urbanismus die Klassengesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch machtvoll formt. Wir werden gewissermaßen zu den Häusern, in denen wir wohnen. Der vierte Band macht dies besonders deutlich: In Broken Homes (2013), dt. Böse Orte, wird ein brutalistisches Wohnungsbauprojekt zur Hauptfigur. Im Roman heißt die Anlage Skygarden Tower, man erfährt aber im Nachwort, dass der Autor sich von dem Heygate Estate hat inspirieren lassen, das, 1974 in Südlondon gebaut, einst von mehr als 3.000 Menschen bewohnt wurde (Aaronovitch 2014: 325). Im Roman wurde das Gebäude von dem fiktiven deutschen Architekten Erik Stromberg gebaut, der in den 1920er Jahren einem Weimarer Geheimbund angehörte und ein Bewunderer von Bruno Taut und Le Corbusier war. Strombergs Ziel war es, mit dem Skygarden Tower eine Art Fabrik zu errichten für die industrielle Nutzung von Magie. Die von Gropius proklamierte «Einheit von Kunst und Technik» lässt sich hier deutlich herauslesen, sodass es naheliegt, den Plot auch als eine Bauhaus-­ Rezeption zu interpretieren. Die Architektur des Skygarden Tower alias Heygate Estate beschreibt Aaronovitch nicht ohne Ironie als «modernist shrine to dysfunctional functionalism» (ebd.: 325). So hat man z.B. die Aufzüge aus Sparsamkeit so eng konzipiert, dass die neu Einziehenden ihre alten Massivmöbel damit nicht transportieren konnten, sie mussten sich alles neu kaufen und dabei auf zerlegbare Massenware bzw. Billigproduktion umsteigen (ebd.: 85f.). Doch geht es dem Autor keineswegs um eine eindimensionale Verurteilung der Moderne-Tradition, er fordert uns vielmehr zu einer differenzierten Betrachtung auf: Die Monstren des sozialen Wohnungsbaus, die in Bauprojekten wie dem ­Heygate Estate ihren Höhepunkt fanden, sind nicht an ihrer Architektur gescheitert, sondern an der städtischen Politik bezüglich der dort angesiedelten Bewohnerschaft. Das Heygate Estate musste 2011–2014 abgerissen werden, zu verwahrlost war der Bau, zu schlecht sein Ruf. Der zuständige Southwark Council gab das Projekt auf, die sozialen Probleme hatten den Ort unbewohnbar gemacht. Abb. 5 Doch mit dem Roman lenkt Aaronovitch den Blick zurück in die 1970er Jahre, als das Gebäude erstmals bezogen wurde. Abb. 6 In der Anfangszeit gab es dort sehr wohl eine funktionierende Nachbarschaft (ebd.: 207ff.). Zunächst waren Menschen ­eingezogen, die stolz waren, in der Anlage zu wohnen. Sie liebten das Haus, denn dort war ihr Leben. Sie kamen vornehmlich aus Wohnungen, die kein Bad

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Tim Tinker, Heygate Estate, London, ca. 1971–2014, Foto von 2014. Tim Tinker, Heygate Estate, London, ca. 1971–2014, Foto von 1975.



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Ansicht der Guildhall School of Music and Drama, Barbican Estate, London.

hatten, sondern Außentoilette und Wanne in der Küche. Aaronovitch nimmt an dieser Stelle die globale Perspektive gekonnt hinzu: Peter, der afro-britische Held des Romans, hört innerlich die Stimme seiner aus Sierra Leone stammenden Mutter lakonisch anmerken: «Bath in the kitchen? […] Luxury! In Sierre Leone we used to dream of a bath in the kitchen.» (Ebd.: 209) Was in welcher Epoche und Region der Erde als zumutbare bzw. «soziale Architektur» gilt, ist relativ. Aaronovich macht deutlich, dass es keine empirisch-anthropologisch fundierte Regel dafür geben kann, wie viele Quadratmeter, Sanitärobjekte oder Küchengeräte man pro Person in einem Haushalt braucht. Er zeigt gelungen den Denkfehler auf, den jede Planung unternimmt, die bedarfsgerechtes Wohnen in Form von Grundrissen umzusetzen sucht: Unser gefühlter Raumbedarf ändert sich nämlich permanent. Ebenso ist der soziale Wohnungsbau nicht deswegen so trostlos, weil die Decken zu niedrig und die Flure zu lang sind, sondern weil dort eine zunehmend v­ erarmende Gesellschaftsschicht der Verwahrlosung überlassen wurde. Oder zugespitzt ­formuliert: Sozialer Wohnungsbau ist letztlich keine Frage von Architektur, sondern eine Frage der Gestaltung von Nachbarschaft. Solange Skygarden alias Heygate das Domizil einer stolzen, intakten Arbeiterklasse war, die zusammenhielt und sich um das Gebäude kümmerte, funktionierte der Bau sehr wohl. Architektur allein, so Aaronovitch, kann die dort Wohnenden nicht zu besseren Menschen erziehen. Aber Architekturen aller Art werden zu lebenswerten Wohnorten, wenn die Menschen sich dort einbringen und engagieren können – nur müssen sie dann auch die ­Mittel dazu haben: psychisch und sozial, finanziell und materiell etc. Dass sich brutalistische Architektur höchst erfolgreich bewohnen lässt, macht Aaronovich z.B. am Barbican Estate deutlich, einem weitläufigen Gebäudekomplex, gebaut in den 1960er bis 1980er Jahren, der sich heute im Zentrum Londons, ­unweit des Bankenviertels befindet. An der Architektur hat sich nie etwas geändert, doch mit der Gentrifizierung der Innenstadtbezirke hat sich die Bewohnerschaft so stark gewandelt, dass der Ort nun als begehrte und entsprechend hochpreisige Wohnanlage gilt. Abb. 7 Die Planung sozialen Wohnens hat dieses Kunststück allerdings zu meistern, ohne auf die Einkommen der dort wohnenden Menschen zu setzen – z.B. durch soziale Durchmischung, aber auch durch Möglichkeiten für Engagement und Geselligkeit im öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Raum für alle. Dem noch herrschenden Ästhetik- wie auch Quadratmeterfetischismus setzt Aaronovich die Vision eines post-privaten Wohnens entgegen: Nicht das Eigenheim, seine Größe und Ausstattung, sondern die Gemeinschaft darum herum sollte den Kern der planerischen Bemühungen bilden – die Orte des Zusammenkommens, z.B. im Do-it-yourself, Commoning, Sharing usw. Eben dieser Geist zählte auch schon am Bauhaus, die Institution war eine Mischung aus Wohngemeinschaft und Schule. Die Lehrenden und Studierenden verstanden sich aufs Aneignen und Umnutzen, sie sorgten sich um ihren Lebensraum mit viel Hang zu (Selbst)Ironie und Ambivalenz, zu Komik und Karneval bzw. einem g ­ eradezu postmodern anmutenden Spieltrieb. Die heutigen Bauhaus-Kritiker haben jene zentrale Inspiration nicht beachtet, die auch das Entwerfen am Bauhaus geprägt hat: den Humor.

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8 Unbekannt, sinn und unsinn ... aus der bühnenwerkstatt, Übersichtstafel zum biologischen Teil des Themas «Der Mensch» aus dem Unterricht bei Oskar Schlemmer, Prospekt 1928/29.

Das ‹wahre› Erbe? Das Bauhaus verstand sich keineswegs nur auf rationalistische Dogmatik, sondern auch auf den kreativen Geist des Unsinns. Abb. 8 Neben der Ideologie eines Johannes Itten gab es auch die Ironie eines Paul Klee, neben der eindimensionalen Sachlichkeit des Funktionalen auch die heitere Groteske, z.B. an der BauhausBühne, neben der strengen Lehre auch die wilden Bauhaus-Feste. In dieser ­Hinsicht können wir vom Bauhaus noch immer lernen, die Schule verstand es, die Gegensätze zu pflegen und auszuleben, anstatt sie zugunsten einer allein gültigen Ideologie aufzuheben (Geiger 2020). Doch kommen diese Aspekte in der heutigen Image-Revision kaum vor, weder in der positiven Rezeption, die nur die schlichte Eleganz der Produkte feiert, noch in der erwähnten Bauhaus-Schelte durch die heutige Kulturkritik. Wer, so möchte ich abschließend fragen, versteht sich also noch auf jenen Geist der Komik, der am Bauhaus herrschte? Wie kann man über die Kreativität des Absurden zu ernst gemeinter Gestaltung finden? Ein stets mit Humor arbeitender Designer ist Van Bo Le-Mentzel, als deutscher Architekt mit laotischem Migrationshintergrund bezieht er sich direkt auf das Bauhaus. Seine Herkunft und Ausbildung macht er in diesem Rahmen ebenfalls zu Thema: Aufgewachsen im einstigen Problembezirk Berlin-Wedding betätigte er sich als Sprayer und Rapper und war nach dem Architekturstudium zunächst arbeitslos. Über einen Tischler-Wochenendkurs kam er zum Möbelbau und entwickelte eine Open-Source- und Do-it-yourself-Möbelkollektion für jedermann bzw. jedes Budget, genannt «Hartz IV-Möbel» (Le-Mentzel 2012). Er kopiert und zitiert dabei den Bauhaus-Stil nach Belieben und lässt das interessierte Publikum in YouTube-Bauanleitungen namens How to Bauhaus (z.B. Le-Mentzel 2019a) und

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anderen gewitzten Aktionen daran teilhaben. Die formalästhetischen Stilfragen bleiben dabei relevant, es geht ihm auch um gute Form, aber im Vordergrund steht die Frage, wie in der heutigen Gesellschaft allen Menschen der Zugang zu sinnhaftem wie bezahlbarem Design ermöglicht werden kann. Die steigenden Preise in den urbanen Zentren bzw. die Knappheit des Raums – jenes Produkts, das wir nicht als Massenware bzw. im Überfluss herstellen können – stellt uns derzeit vor ähnliche Fragen wie die Mangelwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg, als das Bauhaus seine Tätigkeit aufnahm. Le-Mentzel reagiert entsprechend: Er experimentiert mit dem Wohnraum, indem er ihn reduziert und radikalisiert. Im Sinne des Spekulativen Designs (Dunne/Raby 2013), einer heutigen Form des ironisch-grotesken Entwerfens, sucht er nicht nach Raumlösungen, die unmittelbar marktfähig wären, sondern nach Visionen für die Zukunft, die reflektieren, was eines Tages utopisch oder dystopisch auf uns zukommen könnte – oder auch heute schon so ist (Geiger 2020). Gerade die Grenze, an der sich Realität und Fiktion begegnen, ermöglicht hier das Absurde und Komische. So entwarf Le-Mentzel z.B. ein 1 m2 großes Haus Abb. 9, um es in Ausstellungssituationen performativ zu bewohnen: Wer darin schlafen ­möchte, muss es der Länge nach hinlegen, um darin zu arbeiten, muss man es stehend aufrichten – Humor geht nun einmal an die Grenzen des Erträglichen. Ähnlich zu verstehen ist auch das etwas großzügigere Tiny House, das Le-Mentzel mit ca. 6 m2 für die Größe eines Parkplatzes entwarf.3 Auf vier Räder gestellt kann man damit auch nomadisch leben – oder auch nur die kritische Frage stellen, w ­ arum es in den Städten noch immer Platz für kostenlose Parkplätze gibt, aber nicht für entsprechend günstigen Wohnraum? Jedes Tiny House ist heute auch als Provokation gemeint, als Statement gegen die Platzverschwendung und als Aufforderung sich freiwillig einzuschränken – auf ein Maß an Sachlichkeit und Funktion, das man auch als Hommage an das Bauhaus deuten kann. Wie Le-Mentzel zeigt, muss dafür radikal verkleinert, verklappt und multifunktional verbaut werden, viele Tiny Houses zusammen könnten sich um ein größeres «CoBeing House» zusammenfinden, um das Miteinander und weitere Facilities zu ermöglichen. Auf dem Freigelände des Berliner Bauhaus-Archivs kuratierte ­Le-Mentzel 2018 zu diesem Thema den «Bauhaus Campus Berlin», aus dem die verschiedensten Tiny House-Entwürfe hervorgingen als «Möglichkeitsräume für demokratische Utopien von Menschen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit» (Bauhaus Campus 2017/18). Umdenken als Haupttugend mit Witz und ­Hingabe, fiktiv und verrückt, aber auch radikal pragmatisch – mir scheint das als Fortführung des hundertjährigen Bauhauses durchaus berechtigt. Wer dem Bauhaus heute die Wohnschachtel vorwirft, hat noch nicht begriffen, dass das Zeitalter der Mikro-Apartments längst begonnen hat. Oder noch weiter gedacht: Gerade in einer globalen Perspektive fehlt dem hierzulande gepflegten Quadratmeterfetischismus jegliche Legitimität. Wenn das «Recht auf Stadt» nach Henri Lefebvre bzw. die Teilhabe an den öffentlichen Zentren des Urbanen weltweit für alle gelten soll, werden die Menschen enger zusammenrücken müssen 3 Das Tiny100 stand 2016/17 am Carl-Herz-Ufer 9 in Berlin-Kreuzberg als Musterhaus für Besichtigung und Probewohnen (Scherff 2016).

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Van Bo Le-Mentzel, 1m2 House, Berlin, Foto: Daniela Kleint, 2015.

10 Van Bo Le-Mentzel, Bauhaus (1:6), Dessau, 2019.

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(Lefebvre 2016). Daher startete Le-Mentzel im Jubiläumsjahr 2019 mit einem 15 m2 großen Mini-Bauhaus Abb. 10, geschrumpft, aber maßstabsgetreu (1:6), als Botschafter neuer deutscher Wohnideen von Dessau über diverse deutsche Städte bis nach Kingshasa und Hongkong (Meyer 2019). Interessierte können in dem Tiny Bauhaus probewohnen, es gibt begleitende Workshops zum Thema Wohnungsnot und Gentrifizierung, zum kolonialen Erbe der Moderne im Global South – letztlich zu jenen Fragen der Verteilung und Gerechtigkeit bzw. zum legitimen Bedarf und unseren immer auch falschen Bedürfnissen, die auch schon am Bauhaus diskutiert wurden.

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Bildnachweise 1

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Ferrer Casas, Agustín (2019): Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt. Hamburg, Carlsen, S. 131, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Ferrer Casas, Agustín (2019): Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt. Hamburg, Carlsen, S. 129, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Ferrer Casas, Agustín (2019): Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt. Hamburg, Carlsen, S. 170, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

Bauhaus-Archiv Berlin, Inv. Nr. 6033/9, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

Cathcart-Keays, Athlyn (2015): Report: London loses 8,000 social homes in a decade. In: Architectsjournal. co.uk, 16.02.2015. URL: https://www.architectsjournal. co.uk/report-london-loses-8000-social-homes-in-adecade/8678537.article (07.11.2020). Foto: Lotte Sheedy. The Heygate Estate in 1975. In: southwarknotes.wordpress.com, 18.06.2013. URL: https://www.southwarknotes.wordpress.com/2013/06/18/the-heygate-estatein-1975/ (07.11.2020). Foto: David John Hulchanski.

Doherty, Francis (2019): 10 architektonische Meisterwerke des Brutalismus und wo sie zu finden sind. In: ebookers. ch, 09.09.2019. URL: https://www.ebookers.ch/reiseblog/kultur/10-architektonische-meisterwerke-des-brutalismus-und-wo-sie-zu-finden-sind/ (07.11.2020). Blume, Torsten / Hiller, Christian (Hg.) (2014): Ausst.-Kat. Mensch – Raum – Maschine. Bühnenexperimente am Bauhaus. Stiftung Bauhaus Dessau 2013–14 / Henie Onstad Kunstsenter Høvikodden 2014 / National Museum of Contemporary Art, Seoul 2014–15. Leipzig, Spector Books, S. 94. © Van Bo Le-Mentzel, © Foto: Daniela Kleint. © Van Bo Le-Mentzel, © Foto: Mirko Mielke.

Biografie

Annette Geiger, seit 2009 Professorin für Theorie und Geschichte der Gestaltung an der Hochschule für Künste Bremen. Forschungsschwerpunkte: Kulturen des Ästhetischen in den verschiedensten Disziplinen des Designs (Zeichen/Dinge, ­ ­Bilder/Medien, Räume/Orte, Körper/Kleider etc.); die Frage nach den Spielräumen des Gestaltens, des Ambivalenten und Diversen im Design; Diskurs und Kritik.

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Annette Geiger

Joseph Imorde

Demokratisches Design In einem Brief, datiert vom 18. August 1882, malt Sigmund Freud seiner späteren Frau Martha Bernays das gemeinsame Zusammenleben in einer bescheidenen Wohnung von zwei oder drei Zimmerchen wortreich aus. Das zukünftige Glück wird gleichsam möbliert, so als hätte Freud beim Schreiben einen der ersten IKEA-­ Kataloge vor sich gehabt und durchgeblättert: Tische und Stühle, Betten, Spiegel, eine Uhr, die die Glücklichen an den Lauf der Zeit erinnert, ein Lehnstuhl für eine Stunde behaglicher Träumerei, Teppiche, damit die Hausfrau leicht den Boden rein halten kann, Wäsche mit zierlichen Bändern gebunden im Kasten und Kleidchen von neuem Schnitt und Hüte mit künstlichen Blumen, Bilder an der Wand, Gläser für alltägliches Wasser und festlichen Wein, Teller und Schüsseln, eine kleine Vorratskammer, wenn uns plötzlich der Hunger oder ein Gast überfällt, ein großer Schlüsselbund, der hörbar klirren muß, und es gibt so viel, woran man sich freuen kann, die Bücherei und das Nähtischchen und die vertrauliche Lampe, und alles muß in gutem Stand gehalten werden, sonst sträubt sich die Hausfrau, die ihr Herz in kleine Stückchen geteilt hat, für jedes Gerät eines. Und dies Ding muß von der ernsten Arbeit zeugen, die das Haus zusammenhält, dies andere von Kunstsinn, von teuren Freunden, an die man sich gerne erinnert, von Städten, die man gesehen, von Stunden, die man gerne zurückrufen möchte. Dies alles, eine kleine Welt von Glück, von stummen Freunden und Zeugen edler Menschlichkeit […]. Sollen wir unser Herz an so kleine Dinge ­hängen? Solange nicht ein großes Schicksal an die stille Tür pocht – ja und ohne Bedenken. (Freud 1968: 37) «Ja und ohne Bedenken» – was für eine entlarvende Wendung. Sie beschreibt, wie sehr sich der sozial mobile Mensch der Moderne nach einem häuslichen Glück ohne Gefährdung sehnt. Um das große Andere, das Unverstandene und Unverstehbare der Welt in der Abgeschlossenheit des eigenen Heims unbedacht lassen

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zu können, wird eine Sphäre individualisierter Positivität kreiert und das Kleine des eigenen Lebens mit persönlicher Bedeutung ausgestattet. Die Vorstellung, alle Menschen seien gleich geschaffen und hätten ein Recht auf individuelle Glückssicherung, scheint sich in dekorativen Privatisierungsgesten zu materialisieren. Die gewählten Gegenstände, die vertraulichen Lampen, die Bilder an der Wand, die Formen, an denen er und sie sich zu erfreuen glauben, stellen dabei die dingliche Inszenierung einer immateriellen, weil fiktionalen oder besser fiktionalisierten Eigentlichkeit dar (Weber 1922: 535f.). Alles Fragwürdige muss da draußen bleiben. Die Wohnung, als Futteral begriffen (Benjamin 1982: 292), schützt und bietet ­Entlastung. Im eigenen Zuhause heißt Komplexitäts- ganz buchstäblich gelebte Aufwandsreduzierung.1 In den so eingerichteten Refugien herrscht eben das, was hier mit dem Schlagwort demokratisches Design verhandelt werden soll – es herrscht dort als materialisierter Wille zur Vorstellung und Aufführung eigenen Glücks und eigener ­Geschichtlichkeit. Dabei steht gänzlich außer Frage, dass die Möblierung des kleinen Glücks ideologischen Motiven folgt und konsumptiven Prozessen unterworfen ist. Propagiert und vermarktet werden vor allem Versprechungen: zuerst einmal das Versprechen auf eine funktionale Ausstattung des Hauses, dann das Versprechen auf eine sentimentalische Verankerung persönlicher Geschichtlichkeit, wie moderat diese auch immer ausfallen mag. Wenn die Sphäre des Funktionalen, wie Freud sagt, von ernster Arbeit zeugt, die das Haus im Innersten zusammenhält, verwirklicht sich der je eigene Kunstsinn vor allem in der Ausschmückung des Eigenheims, einer Ausschmückung, die Erzählanlässe, das heißt Erinnerungen an Stunden versammelt, die man sich gerne ­zurückrufen möchte, um sich und den anderen die Höhepunkte des bisherigen Lebensweges auch materiell vorhalten zu können. Dabei steht der funktionale ­Bereich des Hauses technischen Entwicklungen, modischen Strömungen und medialen Innovationen durchaus offen gegenüber, während der sogenannte Kunstsinn zuerst konservierend oder besser konservativ wirkt und sich deshalb widerständig gegenüber Einflussnahmeversuchen von außen verhält. Die in einer solchen Sphäre des Privaten zwangsläufig herrschende Geschmacksautonomie subversiert nebenher sehr eigensinnig und selbstgewiss ästhetische Ordnungen und Normen: Da waltet idiosynkratischer Geschmack und markiert dekorative Autarkie oder sentimentalischen Autismus. Da greift ein wohlwollender Hang zu popularisierter Nachhaltigkeit um sich, der den rationalistischen ­Maßstäben einer scheinbar objektiven Theorie des Ästhetischen mit Blick auf die Dokumente des Eigenerlebens selbstsicher Hohn sprechen kann. Dabei lassen sich die überall zu findenden Altäre der Eigentlichkeit mit einem Blick zurück in die Geschichte auch als Reaktionen auf die kapitalistischen Fortschrittszwänge der Moderne verstehen. So fachen die forcierten Innovationsschübe technischer Nachhaltigkeitsangebote die sentimentalische Notwenigkeit objekt- und bildgestützter Regression in immer neuer Weise an. Oder, um es mit Hermann Lübbe zu sagen und viel allgemeiner zu fassen: 1

«Da wir auf alle möglichen Objekte ständig reagieren müssen, oft möglichst schnell, entlastet uns das in Stereotypen ­angesammelte Erfahrungswissen unserer Sprachgemeinschaft bei Handlungsentscheidungen.» (Marx 2003: 6).

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Je reiner sich die technisch-wissenschaftliche Zivilisation in ihrer Eigengesetzlichkeit durchsetzt, desto stärker wird der reaktive Wunsch, ihrer Immanenz durch Selbstverpflichtung auf Ziele zu entkommen, die ihr transzendent sind. (Lübbe 1988: 156) Der vermeintlich hohen Kunst der Avantgarden, jenem Gerede vom Neuen Stil oder vom Neuen Menschen, wurde zur Zeit des Bauhauses und wird auch heute noch das eskapistische Verlangen nach gesicherter Tradition und empfindsamer Populärkultur entgegengehalten. Sich in einer Ansammlung von eigenen Objekten und Bildern zu beheimaten, meint nichts anderes, als die regelhafte Qualifizierung außerweltlicher Gegenstände zugunsten eines selbstgefälligen Wertens innerer Anmutungen zu suspendieren. Das ist autogenes Training und kann sich in dem erfüllen, was auch schon mal als objektivierter Selbstgenuss bezeichnet werden konnte (Lipps 1924: 152). Solch eine Praxis ist darin sektiererisch, dass sie dazu verführt, sich mit den Versatzstücken und Simulacren vermeintlicher Empfindungswahrheit zurückzuziehen. Jeder Gegenstand fordert eine Geschichte, jedes Bild enthält das ganze Leben. Es handelt sich beim demokratischen Design um gegenstandsgenerierte Weltvergessenheit in wohliger Unbedenklichkeit, im besten Falle um eine gestaltete Sphäre narrativer Autonomie, die auf Komplexitäts- und damit Aufwandsreduzierung ausgerichtet ist, das heißt um ein Wohnen, das eingefriedet jegliches in sein Wesen schont, um hier Martin Heidegger zu paraphrasieren, kurz um universelle Eigentlichkeit. Wer etwas anderes sagt, vereinfacht oder redet Unsinn, wie etwa Philippe Starck, der seit den frühen 1990er Jahren nicht müde wird zu behaupten, dass demokratisches Design darin bestehe, die Qualität von Dingen permanent zu verbessern und diese guten Gegenstände so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Der durch hohe Produktionszahlen erzielte niedrige Preis erlaube es den Vielen sich mit «demokratischem Design» einzurichten.2 Dass diese Ansicht grundsätzlich zu problematisieren wäre, liegt bei Produkten wie dem Gnom Attila Abb. 1 – einem Zwitter aus Beistelltisch und Plastikhocker – auf der Hand, entworfen im Jahr 2000, hergestellt von der italienischen Firma Kartell, heutiger Preis: 256 EUR. Möchte man jener, aus dem Freud-Zitat hergeleiteten Teilung häuslicher Gegenstandsbereiche zustimmen, lässt sich dieser «Gnom» nur dem Bereich des Kunstsinns zuordnen, das vor allem deshalb, weil die Funktionalität des Möbels seiner sprechenden Ikonografie wie aufgesetzt erscheint. Als konzeptuelle Dekoration ist der Zwerg nicht ursächlich mit der persönlichen Geschichte des Käufers oder der Käuferin verbunden, sondern scheint im Gegenteil eine individualisierte Historizität zu ironisieren. Das Tischchen macht sich über Objekt gewordene Posen der Glückssicherung lustig. Das ist postmodern, weil funktional überflüssig. Man möchte meinen, es handele sich beim Gnom um gestalteten Plastikmüll für Menschen, für welche Repräsentationsgesten Fußnoten ihrer Diskurskompetenz darstellen. Es 2

«Improving the quality while striving to make it accessible to the greatest number of people, at affordable prices. He believes that sincere, modern elegance comes from the multiplication of an object, as opposed to the ideology of limited editions, where premeditation on rarity leads to a selection through money rather than necessity. This approach, aiming to provide the largest number of people with the best quality, has been deployed by Philippe Starck in all domains: from tableware to issues concerning the body and hygiene.» (Wingfield o.J).

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Philippe Starck für Kartell, Gnom Attila, Saint-Esprit und Napoleon, 2000, je 256 EUR.



Philippe Starck für Kartell, Louis Ghost, 2002, 2 Stück 594 EUR.



Mr. Salt and Mr. Pepper, Privatbesitz.

klingt wie Hohn, wenn Philippe Starck behauptet, er wolle nicht für die Elite entwerfen, sondern für die gesamte Gesellschaft: «Als ich mit dem Gestalten anfing, war das Design ein Sport für die Reichen, um teure Objekte in limitierten Auflagen hervorzubringen. […] Elitismus ist vulgär. Gute Ideen müssen verbreitet werden.» (Monopol 2014) So wie der stapelbare Plastikstuhl Louis Ghost aus dem Jahr 2000 Abb. 2 , den man vielleicht am besten mit dem problematischen Begriff des Volkskundlers Hans Naumann als «gesunkenes Kulturgut» (Naumann 1922: 5) charakterisieren kann. Wer die 298 EUR für den Stuhl zahlt, erwirbt mehr als ein Sitzmöbel. In dem Stuhl wird der in Plastik gegossene Jargon der Uneigentlichkeit auf den Begriff gebracht. Untauglich dazu, in einem musealen Arrangement persönlicher oder familiärer Empfindungsgeschichte eine nachhaltige Rolle zu spielen. Allein mit Form, Funktion, Qualität, Nachhaltigkeit und niedrigem Preis (IKEA 2019: 20), den fünf Prinzipien, die der Wohnkonzern IKEA idealerweise in seinen Produkten zusammenbringen will, ist Demokratisches Design nicht zu haben. Das Demokratische findet sich eher noch in gänzlich de-funktionalem Kitsch und damit in einer Gegenstandssparte, mit der die ideologischen Setzungen normativer Theorien des Gestaltens gerne subversiert wird. Als Beispiel sei hier das ­Ensemble Mr. Salt und Mr. Pepper Abb. 3 präsentiert, Salz- und Pfefferstreuer in ­Gestalt zweier in Schale geworfener Eier, die in einem von mir oft besuchten Haushalt in Ehren gehalten wurden. Aufzug, Mimik und Sitzhaltung dieser Figuren ist kaum anders als mit dem Wort bizarr zu bezeichnen – ikonografisch schwer zu greifen, ikonologisch nicht zu fassen. Was man den animierten Eiern aber sofort ablesen kann, ist die Tatsache, dass sie irgendwann außer Dienst gestellt wurden. Die ungepflegt wirkende Staubschicht auf den Köpfen macht das augenfällig. Ihrer eigentlichen Aufgabe als Salz- und Pfefferstreuer entfremdet hält sie nicht zuerst der schmückend dekorative Wert im Leben, sondern ihr Vermögen eine bestimmte historische Phase einer vergangenen Wirklichkeit zu verkörpern – und ihr Gesicht und Geschichte zu verleihen. Was da erzählt werden könnte, hat nichts mit den Figuren selbst zu tun, sondern mit der Erinnerung an die einmal vollzogene, kleine, vielleicht amüsante Geste, die sich auf eine aufmerkende Aktivierung hin zum ­Erinnerungstableau «ausdenken» ließe. Solche Gegenstände geben Auskunft über die gesellschaftlichen Funktionen einer sich im demokratischen Design offenbarenden Erinnerungskultur des Privaten, die in und gleichzeitig jenseits der Gegenstände genauer zu erforschen wäre. Sicher ist, dass – um Alexander Kluge zu paraphrasieren – die Geschichte nur aus der Erzählung unzähliger Geschichten entstehen kann. Die dingliche Sicherung und Sammlung eigener Historizität muss dabei als eine konstante Kulturtechnik begriffen werden. Materielle Zeugnisse der Sentimentalisierung eigenen Seins und eigener Geschichte finden sich in allen Zeiten. Und natürlich waren nostalgische Selbstversicherungsgesten nie Privileg von Geburt oder Stand. Das Erinnerungsträchtige wurde schon immer gesammelt und ausgestellt und fand und findet sich als familiäres Ehrgedenken an den Wänden oder auf den Regalen aller Klassen, aller Schichten. Eine so ausgestattete Wohnung bietet eben das Gewohnte, bildet den Hort je eigener Emotionalität. Durch das Anfüllen der Räume mit Reliquien des sich dokumentierenden Ichs entsteht ein Gerüst, das dem banalen Sein Stabilität, Schutz und vor allem Unterscheidbarkeit

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Secondhandshop, Siegen.

zu geben vorgibt. In den Kokons oder Nestern aus Gegenständen und Bildern glaubt sich der Konsument immunisiert gegen Hinweise auf die eigene Vergänglichkeit. Da spielt es gerade keine Rolle, dass jeder Dritte auf dem gleichen Sofa sitzt und jeder Zweite aus den gleichen Gläsern trinkt. Wo das home zum castle geworden ist, hat der demokratische Glaube an die Potenz persönlicher Histori­zität die Macht übernommen. Er waltet dort in idiosynkratischen Verdichtungen. Was damit gesagt sein will, kann sich zum Beispiel grob in Holz geschnitzt finden, um als dekorativer Anhalt das kleine Glück zu beschreiben: «Mag draußen die Welt ihr Wesen treiben, Mein Haus soll meine Ruhstatt bleiben.» Abb. 4 Oder sich auch philo­ sophasternd verbreiten, wenn Martin Heidegger in seinem berühmten Vortrag Bauen, Wohnen, Denken aus dem Jahr 1951 meint: […] worin besteht das Wesen des Wohnens? Hören wir […] auf den ­Zuspruch der Sprache: Das altsächsische ‹wunon› ‹wunian› bedeutet ebenso wie das alte Wort bauen das Bleiben, das Sich-Aufhalten. Aber das gotische ‹wunian› sagt deutlicher, wie dieses Bleiben erfahren wird. Wunian heißt: zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben. Das Wort Friede meint das Freie, das Frye, und fry bedeutet: bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt vor – ... d. h. geschont. Freien bedeutet eigentlich schonen. […] Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen ­belassen, wenn wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden. Wohnen, zum Frieden gebracht sein, heißt eingefriedet bleiben in das Frye, d. h. in das Freie das jegliches in sein Wesen schont. Der Grundzug des Wohnens ist dieses Schonen. (Heidegger 1991: 91)

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Ingvar Kamprad mit dem 1961 eingeführten Ögla Café-Stuhl.

Ganz ohne Zweifel neigt das durchschnittliche Selbstwertempfinden dazu, sich in der Banalität je eigener Geschichtsaneignung und Welterklärung einzurichten, oder – um es mit Heidegger zu sagen – einzufrieden. Egal, wo man hinkommt, überall trifft man auf museale Formierungen des Subjektiven. Denn erst die Objekt- und Bildwelten des Privaten scheinen das zu konstituieren, was gemeinhin als Heim umschrieben wird und was Heidegger als ein Wohnen bei den Dingen (ebd.: 93) zu bedenken suchte. In diesen Schonungen kennt man sich aus, da «fühlt» man sich zuhause, da hat man was zu erzählen. Solche Räume, und hier ist der Ort an die Vision des jungen Freud zu erinnern, sind da von Persönlichkeit durchdrungen, wo auch andere in den kunstsinnigen Arrangements die Posen der Glücksicherung detektieren können. Ob die funktionalen Dinge, die Geräte und Möbel, die Gläser, Lampen und Geschirrtücher nun aus dem Warenhaus oder Versandhandel stammen, spielt keine Rolle, Hauptsache die Erzählanlässe sind «zurückgeborgen» und zeugen am Kühlschrank, an der Wand, im Regal von dem konfektionierten Wohlbefinden in rekapitulierbarer Weise.3 Was mit und im demokratischen Design eingehegt und festgehalten wird, sind die wichtigen Momente eines privaten Lebens, die in ihrer Rahmung und Rekapitulierbarkeit emotionale Residuen eröffnen und damit Heimat konstituieren – 3

«Man fürchte nur ja nicht, dass in einem Haushalte das Zusammenwohnen mit alten und neuen Möbeln keine Harmonie ergäbe. Ist die Wohnung von Persönlichkeit durchdrungen, so zwingt sie eben diese Persönlichkeit zur Harmonie. Ich kann mir denken, dass ein feinfühlender Mensch, wenn er in so einer Wohnung nicht besonders darauf achtet, gar nicht die Beobachtung macht, dass er mit alten und neuen Geräten zusammen ist.» (Schultze-Naumburg 1903: 45)

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­ eimat verstanden als performative Praxis, das heißt als ein stereotypes Erzählen, H das aber nichtsdestoweniger mit dem Anspruch auf anthropologische Konstanz daherkommt. Arts and Crafts, Deutscher Werkbund, Bauhaus, Philippe Starck oder IKEA Abb. 5 – alles vollkommen egal, denn das Design wird und wurde immer von universeller Eigentlichkeit subversiert. Die kleine demokratische Welt des Glücks widersteht ideologischen Normierungsversuchen und bringt sich da zur Geltung, wo man mit stummen Freunden das Herz an kleine Dinge hängt und hinter geschlossenen Türen ohne Bedenken ja sagt.

Literaturverzeichnis

Benjamin, Walter (1982): Das Passagen-Werk. Frankfurt a.M., Suhrkamp, Gesammelte Schriften; V.1.

Freud, Sigmund (1968): Briefe 1873–1939. Frankfurt a.M., S. Fischer. Zit.n.: Collins, Lauren: House Perfect. Is the IKEA ethos comfy or creepy?. In: The New Yorker, 26.09.2011. URL: https://www.newyorker.com/magazine/2011/10/03/house-perfect (23.10.2020). Heidegger, Martin (1991): Bauen, Wohnen, Denken. In: Conrads, Ulrich (Hg.), Mensch und Raum. Das Darmstädter Gespräch 1951. Braunschweig, Vieweg, Bauwelt Fundamente; 94, S. 88–102.

IKEA (2019): Die Geschichte hinter Democratic Design. Interview mit Marcus Engman, Chefdesigner bei IKEA. In: IKEA Demo­ cratic Design. Älmhult, IKEA, S. 20–25.

Lipps, Theodor (1924): Einfühlung und ästhetischer Genuß [1906]. In: Utitz, Emil: Ästhetik. 2. Aufl., Berlin, Pan, Quellenhandbücher der Philosophie, S. 152–167.

Naumann, Hans (1922): Grundzüge der deutschen Volkskunde. Leipzig, Quelle & Meyer, Wissenschaft und Bildung; 181. Schultze-Naumburg, Paul (1903): Häusliche Kunstpflege. Fünfte Auflage. Leipzig, Eugen Diederichs.

Weber, Max (1922): Wissenschaft als Beruf [1919]. In: Ders.: ­Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), S. 524–555.

Wingfield, John (o.J.): Philipp Starck Biography. URL: https:// www.starck.com/about (23.10.2020). Bildnachweise 1

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URL: https://www.stylepark.com/de/kartell/gnom-attila (29.10.2020). URL: https://www.kartell.com/DE/sitzm%C3%B6bel/­louisghost/04852?variantName=x_colorVariant&variantValue=B4 (29.10.2020).

Lübbe, Hermann (1988): Der verkürzte Aufenthalt in der Gegenwart. Wandlungen des Geschichtsverständnisses. In: Kemper, Peter (Hg.), ‹Postmoderne› oder der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft. Frankfurt a.M., Fischer, S. 145–164.

3

Monopol (2014): Philippe Starck wird 65. Nur dumme Menschen interessieren sich für Design. In: Monopol. Magazin für Kunst und Leben, 18.01.2014. URL: https://www.monopol-magazin.de/ nur-dumme-menschen-interessieren-sich-f%C3%BCr-design (23.10.2020).

Biografie

Marx, Wolfgang (2003): Erziehung des Herzens. Vom Nutzen und Nachteil des Verallgemeinerns. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2003, S. 6.

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Joseph Imorde

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Foto: Joseph Imorde, 2009. Foto: Joseph Imorde, 2013.

Collins, Lauren (2011): House Perfect. Is the IKEA ethos comfy or creepy?. In: The New Yorker, 26.09.2011. URL: https://www.newyorker.com/magazine/2011/10/03/houseperfect (22.10.2020).

Joseph Imorde, Professor für Kunstgeschichte an der ­Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Barocke Kunst, Geschichte der Kunstgeschichte, Populäre Kunstgeschichte.

Donatella Cacciola

Normierung und ­Missverständnis Bauhaus-Objekte als Simulacra der Klassischen Moderne?

Reeditionen – vom Wassily-Sessel bis hin zu Marianne Brandts Tee- und Kaffeeservice – sind die medial am meisten verbreiteten Aushängeschilder für BauhausDesignobjekte. Sie verwirklichen das Bestreben der Schule nach Objektvervielfältigung. Sosehr diese Verwirklichung eine von Lehrenden und Studierenden gewünschte Entwicklung der Lehranstalt Bauhaus sein konnte, so stark veränderte sich durch sie naturgemäß die Botschaft der Klassischen Moderne, die mittels der einstigen Entwürfe intendiert war. In populärwissenschaftlicher Literatur zeichnete sich mit dem Abbild von Reeditionen eine kaum kontrollierbare Vervielfältigung ab: U.a. Zeitschriften vermittelten einen Kanon der Wohneinrichtung, wodurch sich sowohl die Vorstellung der ‹Klassiker für alle› als auch die Uniformität einer (zeitlich versetzten) normierenden Moderne kristallisierte. Die 1980er Jahre markierten lediglich den Höhepunkt eines seit Anfang der 1960er Jahre anhaltenden Prozesses von consumption und mediation (Lees-Maffei 2009), der sich in Westeuropa und in den USA entwickelte und – mit wechselndem Erfolg – bis heute fortsetzt. Einerseits wurde das Bauhaus durch diese für ein breiteres Publikum erschlossen. Andererseits wurde z.B. Stahlrohr als Material für die Wohnungseinrichtung zum Inbegriff des Bauhauses, worauf eine Popularisierung erfolgte, durch die nahezu jedes Möbelstück aus Stahlrohr irrtümlicherweise dem Bauhaus zugeordnet w ­ urde; die Möglichkeiten der Serienherstellung eines Objektes wandelte sich zudem ­beliebig in das Handwerk. Alles in allem etablierte sich somit der Kanon der Bauhaus-Moderne lediglich auf formaler Ebene. Was brachte diese Popularisierung

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mit sich? Wie wirken sich Reeditionen im Verhältnis zu den Bauhaus-Objekten aus? Sind sie historisch nichtrelevante Repliken, Möbelstücke für den gehobenen ­Geschmack, aber vor allem omnipräsente Bilder in den Illustrierten? Dieser Beitrag stellt einige Aspekte der Wahrnehmung von Bauhaus-Reeditionen im Verhältnis zu den Ausgangsobjekten dar und beleuchtet punktuell ihr affirmatives Dasein. Gelten Reeditionen schließlich als Symbole oder vielmehr Simulacra, also Abbilder der Klassischen Moderne?

In medias res. Bauhaus-Reeditionen und ihre Vermittlung «Abschied von den Fetischen» (Bisky 2019) titelte die Süddeutsche Zeitung im Feuilleton, am Tag nach der Eröffnung der Ausstellung Original Bauhaus in der Berlinischen Galerie (05.09. 2019–26.01.2020) Abb. 1, zur vollsten Zufriedenheit des Kuratorenteams.1 Mit dem Schwerpunkt auf der Didaktik war die Absicht der Ausstellungsmacher, zu betonen, dass es in der Schau um die Erdung in der Wahrnehmung der Kunstschule ginge, und somit, dass von allzu hohen Erwartungen an den bisherigen Mythos Bauhaus (Baumhoff/Droste 2009) endlich Abstand zu nehmen sei. Das Gegensatzpaar liegt auf der Hand: Schule gegen Fetisch. Ist in der Rezension mit Fetisch das fertige Objekt gemeint? Angesichts der langanhaltenden Kommerzialisierung der Marke Bauhaus ließe sich diese Frage bejahen. Der Rezensent hält die Umsetzung des Konzeptes in der Ausstellung für gelungen, «immer bietet die Ausstellung Neues, Interessantes. Und vor allem einen Anlass, über Original und Kopie, Reproduktionen und ‹Rekonstruktionen› nachzudenken.» (Bisky 2009). Welchen Platz nimmt demzufolge das in Berlin in verschiedenen Versionen ausgestellte Tee-Extrakt-Kännchen von Marianne Brandt ein? Mit einem heute auf dem Kunstmarkt geschätzten Preis von bis zu 9.000,- EUR (ebd.) ist es ein potentieller Fetisch schlechthin. Wieder einmal ist das Original ohne Rezeption in Form von Kopie, Reproduktionen und Rekonstruktionen nicht wegzudenken. Doch ist wiederum jede Reproduktion bedingt durch den Kontext, in dem sie gezeigt wird – jenseits einer Ausstellung. So zeigt die ebenfalls im September 2019 ausgestrahlte Fernsehserie Die neue Zeit, die am Weimarer Bauhaus als Rückblende spielt, in der Gegenwart des Jahres 1963 den Charakter Walter Gropius in seiner US-amerikanischen Wohnung, umgarnt von Wassily-Sesseln und weiteren Stahlrohrmöbeln.2 In einer Szene des Vorspanns lässt ein Blick auf den Wohnzimmertisch einen Aschenbecher von Marianne Brandt erkennen. Sämtliche Einrichtungsgegenstände sind so glänzend, wie sie nur in der Nachkriegszeit sein konnten, und vor allem sind sie ein unabdingbares Teil der TV-Inszenierung. Der Darsteller muss überzeugend sein, die Objekte stehen für sich selbst. Den tradierten Bildern zum Trotz: So geradlinig verlief die Rezeption des Bau­hauses durch die dort entworfenen Objekte nicht. Ohnehin sind bis heute zwei Ebenen der Rezeption von Bauhaus-Objekten festzustellen, die nie in Berührung kommen. 1 2

Esther Cleven, Sammlungskuratorin am Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung Berlin im Gespräch mit der Autorin, Newcastle, 06.09.2019. Die neue Zeit, Regie: Lars Kraume, Deutschland 2018, Erstausstrahlung: 5. September 2019 auf Arte.

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Donatella Cacciola

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Berlinische Galerie, Ausstellungsflyer Original Bauhaus, Berlin 2020.

Einerseits die Originale, die kaum einen Kontext mehr haben, wie Solitäre, die im Laufe der Jahre immer begehrter werden, mit denen Museen, Sammler*innen und ­Kenner*innen vertraut sind. Auf einer anderen Ebene die Reeditionen, durch deren Rezeption nach 1945 teilweise eine Popularisierung des Bauhauses erfolgte. ­Gerade Reeditionen bieten sich als Erzeuger der facettenreichsten Rezeption an, und teilweise erfolgt durch die Rezeption der Reeditionen eine Rückbindung zu den Original-Objekten. Die erste Reedition von Bauhaus-Objekten ist der Wassily-Sessel aus dem Jahr 1962. Ab diesem Zeitpunkt verzeichnete der Markt des Produktdesigns bis Ende der 1980er Jahren ein kaskadenartiges Erscheinen von Reeditionen von Möbeln und Objekten der Moderne in Europa und Nordamerika. Darunter waren freilich vergleichsweise wenige Bauhaus-Objekte, u.a. wurde 1977 Peter Kelers Wiege aus 1923 reediert, 1985 folgte Marianne Brandts Tee- und Kaffeeservice aus 1924. Parallel zur Produktion erfolgte überwiegend in den Ländern der Hauptprodu­zenten (Italien, USA, die Bundesrepublik) eine breite bildliche Vervielfältigung der Reeditionen sowohl in illustrierten Fachperiodika wie Domus, Abitare und Interni in ­Italien

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Normierung und ­Missverständnis

als auch in Zeitschriften für einen breiteren Leserkreis wie Schöner Wohnen in der Bundesrepublik. Neuediert und publiziert wurden vor allem Möbel mit Metallgestell aus den 1920er Jahren: Neben dem Wassily-Sessel der Barcelona-Sessel, ab 1953 reediert, zudem die Stahlrohrmöbel von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand, die 1965 reediert wurden. In Schöner Wohnen wurden vor nahezu 50 Jahren zum ersten Mal Bauhaus-Reeditionen gleichermaßen als moderne Klassiker und Bauhaus-Klassiker deklariert, und als solche werden sie weiterhin beworben (Cacciola 2019a). Durch publikumsnahe Reportagen zu Stilmöbeln sowie zu Stahlrohrmöbeln, die sowohl in Studenten- als auch in Architektenwohnungen gezeigt wurden, erfolgte hier eine bildreiche Popularisierung des Begriffes Bauhaus und dessen vermeintliche und auch greifbare Kennzeichen – wie etwa Stahlrohr. Doch blättert man in Schöner Wohnen, sticht eine Werbeanzeige von DeWe Möbel im Februarheft 1973 besonders ins Auge. Abb. 2 Die plakative Botschaft «Das Bauhaus lebt» kommentiert den Fotoausschnitt des verchromten Fußes eines vermutlich gepolsterten Sessels. Diese Kampagne bewarb die Deutschen Werkstätten Westdeutschland, einen von mehreren Ablegern der Deutschen Werkstätten, einst Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst, die in der Nachkriegszeit im Westen gegründet wurden.3 Die historischen Berührungspunkte mit dem ­Bauhaus sind damit für den Leser nicht ersichtlich. Allenfalls das glänzende Metall, im Bild minimal sichtbar, evoziert einen vermeintlichen ‹Bauhaus-Stil›, ansonsten stehen die Deutschen Werkstätten für eine andere Facette der Moderne. So führt diese Werbung zu einer historisch gewagten Assoziation. Ein wie oben beschriebener enger Zusammenhang zwischen Produkten und ihrer Mediatisierung findet eine theoretische Synopsis in Grace Lees-Maffeis so ­genanntem Production-Consumption-Mediation Paradigm. Darin sieht die Designhistorikerin die Produktion der Objekte selbst, ihre Vermittlungsebene – in Fall der Bauhaus-Reeditionen ist es die Rezeption in den Zeitschriften – und den Konsum der Objekte als drei parallel verlaufende, selbstständig, aber auch miteinander verknüpfte und gleichwertige Stränge im designhistorischen Diskurs (Lees-Maffei 2009: bes. 358). Meines Erachtens gelten Printmedien als die Form der Vermittlung, die am meisten zur Popularisierung des mit Bauhaus-Objekten – meist Nachbauten – gestalteten Interieurs beigetragen hat. Meine tiefergreifende Analyse einzelner Einrichtungszeitschriften zwischen 1960 und 1989 in Italien, woher die ersten Reeditionen stammten, und in der Bundes­ republik, wo sie wie erwähnt stark rezipiert wurden, hat zu folgenden Kernergebnissen geführt (Cacciola 2008): Erstens: Durch zahlreiche Illustrierte – in Reportagen und Werbung – wurden Bauhaus-Reeditionen als wertvolle(re) Einrichtungsstücke gepriesen und sollten als ‹Klassiker› maßgebend sein. Eine Reportage in Schöner Wohnen zeigte beispielsweise den Wassily-Sessel als Teil der Einrichtung eines «himmlisch schön und höllisch teure[n]» Hauses (SW 1976: 228) Abb. 3; ein Werbebild, als Möbelstück unter weiteren «Original-Klassikern» (SW 1987: 193). Zweitens: Unab­ hängig von der Anzahl der tatsächlich neuaufgelegten Modelle waren die abgebildeten Klassiker kaum mehr als ein Dutzend. Ihre wiederkehrende bildliche Präsenz 3

Information der Pressestelle des heutigen Unternehmens Deutsche Werkstätten Hellerau an die Verfasserin, E-Mail vom 07.04.2020.

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Donatella Cacciola

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DeWe Möbel Werbeanzeige in Schöner Wohnen, Februar 1973.



WHB poschinger möbel, Werbeanzeige für den Wohnbaukasten in Schöner Wohnen, Mai 1975.



Wassily Sessel als Teil der Einrichtung in einer Reportage über den Lake Point Tower, Chicago, IL in Schöner Wohnen, Dezember 1976.

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Normierung und ­Missverständnis

förderte die Vorstellung einer das Wohnen und Leben ‹normierenden› ­Moderne. Der Wassily-Sessel diente z.B. als Kulisse für das Kaufhaus Hertie, gesellte sich zu Bambusmöbeln, sollte als Einrichtungsstück für eine Wohnung für junge Leute vorstellbar sein. Abb. 4 Nahezu als ‹Allzweckmöbelstück› konnte somit der Sessel den Eindruck erwecken, in jedem beliebigen Interieur einen Platz finden zu müssen. Bild für Bild kristallisierte sich in den Illustrierten der Versuch nach einer ästhetischen Normierung heraus, wobei die Ergebnisse optisch sehr disparat ausfielen. Dabei wollte 1926 Marcel Breuer, «Erfinder der Stahlrohrmöbel» (Giedion 1982: 532–534; Máčel 2003) mit seinem Stahlrohrsessel, später Wassily genannt, radikal und normbrechend sein. Diese Uniformierung führte zur oben aufgeführten ­Zuspitzung: dass Stahlrohr, ob Markenprodukt oder nicht, gleichbedeutend mit Bauhaus sein kann. Die Kunst- und Designgeschichte hat die Rolle der sogenannten ‹modernen Klassiker› als vermeintlich zeitlose Produkte in den Mittelpunkt einer Untersuchung gestellt (Breuer 2001). Beworben werden sie als hochpreisige Objekte von hoher Qualität, als Status-Symbole für den Geschmack kulturbeflissener Kunden, mit anderen Worten als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal für die Wohn- und Einrichtungskultur: Was jedoch einst für den kleinen Geldbeutel konzipiert war, reüssiert seit der Zeit der Re-Editionen erfolgreicher Möbelfirmen zum Prestigeobjekt einer designorientierten Käuferschaft und kommt dem Distinktionswunsch der Privilegierten mit eindeutigen Symbolen entgegen. (Breuer 2001: 70f.) Doch angesichts der Botschaft auf der medialen Vermittlungsebene der Zeitschriften, die die Idee einer Uniformierung des Wohneinrichtungsgeschmack hervorruft, finden (Bauhaus-)Reeditionen meines Erachtens eher einen passen­ deren Kontext in dem vom Soziologen und Philosophen Jean Baudrillard ebenfalls zwischen den Ende der 1960er und den 1970er Jahren erläuterten System – wenn auch Reeditionen ggf. Möbel der Moderne nicht ausdrücklich von ihm als Anschauungsbeispiele herangezogen werden (Baudrillard 1968). Nach Baudrillard sind gesellschaftliche Unterschiede nicht an den Objekten selbst abzulesen. Das ­gesellschaftliche Distinktionsmerkmal sei «vielmehr die industrialisierbare und kommerzialisierbare Form» (Baudrillard 1976: 97; Übers. D.C.) der Objekte. Genau diese Form wird Teil der Sprache, aus dem sich das Kommunikationssystem des Konsums speist (ebd.: 99). Beobachtet man die Konsumgesellschaft, in der die Werbekampagnen mit den Bauhaus-Reeditionen Platz finden – in den untersuchten Zeitschriften handelt sich hierbei immer um in Lizenz hergestellte Möbel und nicht um die preisgünstigeren Ausführungen – stellen die beworbenen Klassiker nichts vermeintlich Exklusives dar. Somit trifft Baudrillards Interpretation auf die flächendeckende Präsenz der Klassiker und ihren vermittelnden Eindruck der Uniformierung zu. Quod erat demonstrandum: Knoll International, Produzent des Wassily-Sessels seit 1968, veranstaltete 1972 eine Retrospektive zur eigenen ­Firmenproduktion im Pavillon de Marsan des Musée du Louvre; 1984 ließ die Firma das künstlerische Urheberrecht für den Wassily-Sessel kraft Gerichtsurteil als Schutz gegen nichtlizenzierte Exemplare anerkennen und warb dafür – u.a. in Heft

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51 des Wochenmagazins Der Spiegel von 1984 auf Seite 185 – mit der Parole: «Dieser Sessel ist ein Kunstwerk». Die herangezogenen Begriffe von Museum und Kunstwerk wurden mit kommerziellen Zwecken instrumentalisiert. Dieser künstlich um die Bauhaus-Reeditionen geschaffene Kontext dürfte die Aufmerksamkeit des Betrachters zu Knoll und nicht in Richtung Bauhaus gelenkt haben. In diesem ­Zusammenhang stellt sich die Frage, welche genau die Bezugsobjekte der ­Reeditionen sind. Lassen sie durch ihre bildliche Darstellung an die Originale denken – dies gilt natürlich nur für Betrachter*innen, die sie kennen – oder sind es Simulacra im Baudrillard’schem Sinn, die sich nur auf sich selbst beziehen (Baudrillard 1981: 14f.)? Auch wenn in einen Werbekontext einbezogen Reeditionen nicht unmittelbar den Rückschluss auf ihre Originale erahnen lassen, lassen sie sich doch nie davon losgelöst betrachten. Es liegt in ihrer Natur, als Referenzobjekte ihrer Originale zu dienen, unabhängig davon, ob Betrachtende die notwendigen Vorkenntnisse und das Interesse haben, ihren Ursprung zu ‹entziffern›. Zum Medium Werbung bemerkte dagegen Baudrillard, dass eigentlich nicht ­bestimmte Rezipienten von der Werbung angesprochen würden, sondern potentiell alle Leser: «Während sie sich an einen Konsumenten richtet, spricht [die Werbung] jeden Konsumenten an» und «Jedes Bild, jede Anzeige setzt Konsens durch» (Baudrillard 1976: 140; Übers. D.C.). Hiermit wird die Dominanz der Werbung und deren Inhalte betont – dass das beworbene Objekt einen kultur- oder historisch bezogenen Hintergrund hat, fällt nicht ins Gewicht bzw. nicht immer haben die historischen Bezüge erkennbare Konturen, wie es sich auch im Begleittext der Werbung «Das Bauhaus lebt» zeigt. Abb. 2 Reeditionen und ihre Rezeption kreisen oft in einem unternehmenserzeugten, ­geschlossenen System. Im Gegensatz zu den Originalen werden sie als nach 1945 seriengefertigte Repliken von Sammler*innen Galerist*innen, teilweise auch von Museumsmenschen als minderwertige Objekte kaum wahrgenommen bis missachtet.4 Die ihnen gebührende Stellung in den Designgeschichten als Teil einer Entwicklung von Firmendenken und Produktdesigns sowie Geschmack wurde ihnen bis jetzt kaum zugesprochen, einerseits, weil ihr Bestehen sich durch ­andere Referenzobjekte rechtfertigt, a ­ ndererseits, weil bis heute die meist verbreitete Form der Designgeschichtsschreibung nach wie vor nationalbezogen erfolgt. Reeditionen stehen im Dilemma der Nationalzuordnung. Denn wie soll man sie zuordnen? Dem Ursprungsland des Entwerfers? Dessen Wirkungsland? Dem Land, in dem der Produzent seinen Sitz hat? Wie kann man sie genau in einen designhistorischen Rahmen bringen, der auf Entwicklung, Fortschritt und Neuem basiert, da sie gestalterisch eine Reproduktion darstellen? Offensichtlich ist, dass durch die Entstehung der Reeditionen und ihre oben ­geschilderte Wahrnehmung, sich ein ‹Kanon› der Bauhaus-Moderne dadurch ­lediglich auf formaler Ebene etablierte. Wurde also durch Reeditionen und ihre mediale Verbreitung der Begriff Bauhaus für ein größeres Publikum erschlossen, so diente diese Popularisierung der Verbreitung von Inhalten, die das Bauhaus verkörperte, nur bedingt. Im Rückblick auf das historische Bauhaus kann man den 4

Das geht aus verschiedenen und Gesprächen hervor, die ich bundesweit mit Galerist*innen, die Originale anbieten, sowie mit ­ useumskurator*innen für Design und angewandte Kunst zwischen 2001 und 2014 im Laufe meiner Recherchen durchgeführt M habe.

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Reeditionen und ihrer Rolle als Multiplikatoren durchaus eine affirmative Rolle in Bezug auf die vom historischen Bauhaus intendierten Ziele zuschreiben. Hier seien einige Beispiele punktuell vorgestellt.

Affirmatives 1: Bauhaus-Objekte Eine Affirmation, gar ein Zugewinn der Intentionen des historischen Bauhauses sind, so selbstverständlich es klingen mag, die reedierten Objekte selbst. Die Vielfalt der Reeditionen von Möbeln der Vorkriegszeit inklusive Bauhaus-Reeditionen, erreichte einen Höhepunkt in der Entstehung von reproduzierten Modellen im Laufe der 1980er Jahre. Das Wiederaufleben von Einzelobjekten in disparater Reihenfolge – womöglich je nach Zugänglichkeit von Nutzungsrechten, Vorlagen, Kontakten zu den Entwerfern und ihren Erben – wird oft mit dem Eklektizismus der Postmoderne in Verbindung gebracht. Doch Bauhaus-Reeditionen sollten in diesem Zusammenhang nicht wegen ihrer Entstehung per se, sondern wegen ihrer Serienproduktion berücksichtigt werden. Die Objekte selbst und die Tatsache, dass sie durch einen wiederaufgenommenen Prozess nach dem Ende des Bauhauses mit den vorhandenen Produktions-, Marketings- und Vertriebsstrukturen weiterentwickelt wurden, waren keine Selbstverständlichkeit in einer Designwelt, die mit wenigen Ausnahmen für Retrogeschmack nichts übrig hatte und in der die Hochschule für Gestaltung in Ulm als geistige Erbin des Bauhauses angesehen wurde.5 Doch durch die Reeditionen wurde erst einmal beispielsweise die von Robin Schuldenfrei angesprochene ‹Unmöglichkeit der Reproduzierbarkeit› (Schuldenfrei 2009b) der Objekte aus dem historischen Bauhaus in der Nachkriegszeit entschärft. Die Reeditionen stellten die Möglichkeit einer seriellen Fertigung dar – zum Beispiel im Falle des Wassily-Sessels – die zwar kostspielig war, aber in den 1980er Jahren zu einer jährlichen vierstelligen Auflage führte.6 Auch war Breuers Stahlrohrsessel in der Nachkriegs-Ausführung ohnehin keine bloße Replik aus den 1920er und 1930er Jahren, sondern das Ergebnis einer Projektentwicklung: Die Variante mit Lederbespannung aus den späten 1950er Jahren ist möglicherweise ein Kompromiss zwischen dem Stahlrohr und Leder als einem Material aus dem traditionellem Wohnzimmer, das inzwischen wieder modisch war (Cacciola 2019b). Ebenfalls konnte Peter Kelers Wiege in der ursprünglich geplanten doppelten Größe und in kleiner Serie handwerklich angefertigt werden. Abb. 5 Spätestens jedoch durch diese wiederaufgenommene Produktion wurde eindeutig klar, dass auch in diesem Fall Serienproduktion nicht mit Massenkonsum übereinstimmt (Schuldenfrei 2009a: 75).7 Vielmehr: Objekte wie die Stahlrohrmöbel, die in den 1920er Jahren für die teilmaschinelle Fertigung entstanden, wurden auch in den 1960er Jahren zumindest noch zum Teil handwerklich hergestellt. Lediglich die Auflagen änderten 5 6 7

Vor der Postmoderne war die einzige Ausnahme hierzu die ‹Neoliberty›-Welle im Italien der 1950er Jahren. Information aus unveröffentlichten Quellen, die mir vom italienischen Zweig der Firma Knoll im Rahmen der Recherche für meine Doktorarbeit zur Verfügung gestellt wurden. Schuldenfrei untersucht hier die Bauhaus-Produkte in der Zeitspanne 1923–1928: «Die Bauhaus-Produkte wurden nicht von den Massen konsumiert». Dabei zieht sie den Bezug unmittelbar von der kleinsten Serie bis zur Masse. Eine ‹Massenproduktion› scheint im Zusammenhang mit dem Gropius-Bauhaus ein allzu leicht verfehlbares Ziel. Das Zwischenstadion dabei ist die Serie, eine Errungenschaft der Nachkriegszeit, die anscheinend in der Vorkriegszeit als gar nicht erstrebenswert galt.

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Peter Keler, Wiege, 1922 in Schöner Wohnen, März 1977.

6

Reedition eines Sofas nach Walter Gropius’ Entwurf aus dem Jahr 1913 in Schöner Wohnen, Februar 1984.

sich. Objekte wie Marianne Brandts Teekugeln, die für das Handwerk entstanden waren, blieben auch in der Reedition der späten 1990er Jahre hohes Handwerk. U.a. deswegen trat das Gegenteil dessen ein, was Gropius in Aussicht stellte, aber wie ein Vorwand klang – dass anfangs die Produktion von Bauhaus-Objekten ­teuer sein würde, später aber nicht (Schuldenfrei 2009: 76). Eher als die reedierten ­Objekte sollten die Begriffe von Massenfertigung und Industrie in Frage gestellt werden, weil sie in keinem Zusammenhang zu den Original-Vorgängern oder den Nachkriegs-Nachbauten stehen. Sosehr sich diese Begriffe in hundert Jahren auch geändert haben können: Ein Massenprodukt ist nach wie vor zum Beispiel seit über 100 Jahren ein Taschenbuch oder seit den 1960er Jahren ein IKEA-­ Möbelstück. Die Kehrseite der Chancen der Serienreproduzierbarkeit von Bauhaus-Objekten ist ihre großenteils durch die Produzenten gesteuerte Sichtbarkeit, wie oben am Falle von Knoll gesehen. Angesichts der Pflicht zur Berichterstattung über Novitäten auf dem Möbelmarkt konnten sich selbst Fachzeitschriften wie Domus der Flut in der Produktion von Reeditionen nicht entziehen. Ebenfalls waren die Produzenten beliebte Anzeigekunden in denselben Zeitschriften (Cacciola 2008: 330f. passim).

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Affirmatives 2: Der Beruf des Designers per se Eine weitere Affirmation, die sich mehr oder weniger direkt durch die Entstehung der Reeditionen von Bauhaus-Objekten feststellen lässt, ist die genauere Konturierung des Berufs des Designers. Das historische Bauhaus hatte nicht das Ziel, Studierende in einem bestimmten Beruf auszubilden. Erst nach der Schließung der Schule 1933 fand diese Begrifflichkeit (to design / design / designer) den Weg der Assoziation zum Bauhaus als Schule, aus der «designers» und «designs» hervorgegangen waren. Einen Grundstein dazu hatte Nikolaus Pevsner 1936 mit seinem Pioneers of Modern Design. From William Morris to Walter Gropius gelegt (Breuer 2001: 54–59). Diese Nennung kam einem Ritterschlag für Gropius gleich, der sich zu dem Zeitpunkt weiterhin in England zu etablieren suchte. Man kann nicht konsequent feststellen, dass nach dem Ende der Ära des historischen Bauhauses, dessen Entwerfer, sofern sie überhaupt zu Wort kommen konnten, sich als Designer verstanden haben. Beispielsweise schrieb László Moholy-Nagy (1947: 42) im postum veröffentlichten Vision in Motion «Designing is not a profession but an attitude». Einen pragmatischen Nachweis für eine gegenteilige Meinung lieferte Marcel Breuer. Im November 1942 versuchte er sich gegenüber dem Unternehmer Hans G. Knoll im Zuge von erstmal ergebnislosen Verhandlungen für die mögliche Herstellung und den Vertrieb seiner neuen Möbelentwürfe zu behaupten. Um den Kompromiss zu forcieren, schrieb Breuer, müsse es «for a designer of my kind» (Breuer 1942) eine Lösung geben. Diese Aussage ist dennoch in Bezug auf das historische Bauhaus zu relativieren: Breuer baute sein berufliches Bewusstsein nicht nur auf seinen Bauhaus-Entwürfen auf und war bis zu seinem Umzug in die USA weiterhin für u.a. die Produzenten Isokon und Embru tätig gewesen. Bezogen auf Entwerfer wie Breuer, Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, die im US-amerikanischen Exil als Architekten florierten, festigte sich aber eindeutig der Topos der Assoziation Designer-Architekten der Klassischen Moderne: Alle drei waren auch Designer in der Vorkriegszeit, lehrten im US-amerikanischen Exil Architektur und waren darüber hinaus vorwiegend als Architekten tätig. Ganz ­abgesehen davon, dass in den USA der Begriff «Bauhaus» bis heute mit dem Schwerpunkt Architektur besetzt ist. Spätestens die Reedition ihrer Möbel wie Barcelona- und Wassily-Sessel, führte zu der Idee, Möbel der Moderne neu aufzulegen, und dass besagte Möbel bzw. Objekte aus der Hand von ebenso bekannten Architekten stammen sollten.8 Die Kehrseite dieser Affirmation findet sich jedoch in der kaskadenartigen, n ­ ahezu unübersichtlichen Vervielfältigung der Reeditionen selbst, deren Wertigkeit schließlich auf der Tatsache gründet, dass die Entwürfe «Autorenmöbel» sind. Dieser Aspekt ist insofern negativ zu bewerten, als dass die dahinterstehende unternehmerische Strategie unscharfe Konturen einnimmt. Ab Anfang der 1980er Jahre verzeichnen Einrichtungszeitschriften, in Deutschland wie in Italien, wo Reeditionen eine florierende Sparte der Novitäten (!) des Möbelmarktes ­darstellten, 8

Auf Marcel Breuers Nachbauten – es handelte sich hierbei um die drei Stahlrohrmodelle Clubsessel, Kragstuhl und Hocker – folgten knapp drei Jahre später die Reeditionen von vier Modellen von Le Corbusier. Weiterhin, bis zum Anfang der 1980er Jahren, folgten Reeditionen von Entwürfen immer mehr namhafter Architekten der Moderne und der Klassischen Moderne.

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eine extra Rubrik für die Klassiker. So zeigte Schöner Wohnen im Jahr 1984 unter der Rubrik Klassiker die neu lancierte Reedition eines Sofas aus dem Entwurf von Walter Gropius aus dem 1913, das eher den Chippendale-Stil als die Moderne evoziert. Abb. 6 Hätte man das Sofa damals reediert, wenn der Entwerfer unbekannt gewesen wäre? Wohl kaum. Die Produktion von (Bauhaus-)Reeditionen wurde zum Trend, zur Mode, und das Ergebnis dieses Abbilden, Abdrucke und Vervielfältigen hatte zudem die eingangs erwähnte Vereinfachung zur Folge, die oft zu einer Art Namedropping führte, jeweils bestehend aus Autorennamen, Produzentennamen, Produktname. Dadurch werteten sich die drei Bestandselemente gegenseitig auf.

Keine Simulacra Diese knapp umrissene Abhandlung basiert auf der Tatsache, dass zwischen ­ nfang der 1960er und Ende der 1980er Jahre Repliken von Bauhaus-Objekten A entstanden und eine mediale Rezeption in ihrer Vermarkung und in den gedruckten Medien erfuhren. Neben ihrer Eigenständigkeit als Designobjekte der Nachkriegszeit intensivierte sich ihre bildliche Verbreitung so sehr, dass sie nahezu ein Eigenleben entwickelten: In populären Zeitschriften wurden sie als moderne Klassiker für die Wohneinrichtungen deklariert. Als Nachbauten für die gehobene Geschmackseinrichtung standen sie im Mittelpunkt von Gerda Breuers Abhandlung Die Erfindung des modernen Klassikers. Avantgarde und ewige Aktualität (2001). Doch diese Objekte als Distinktionsmerkmale als in Lizenz mit den Bauhaus-Erben produzierte Objekte, die in den Augen der Konsumenten eine unmittelbare Assoziation zum Bauhaus-Original darstellen, galten vielmehr – gleichwertig wie alle andere Objekte – als Teil des Konsum-Kommunikationssystem, wie von Jean Baudrillard beschrieben, als Symbole und Konsumprodukte zugleich. Dieses ­‹Eigenleben› der Reeditionen hatte meines Erachtens dennoch Auswirkungen auf Aspekte der Wahrnehmung des Bauhauses nach 1945. Wenn Reeditionen einerseits ins Baudrillard’sche System nahezu übereinstimmend passen, so gilt hierbei eine Ausnahme – ihre Rolle als Sinnbilder der ­Originale kann nicht durch den Begriff der simulacres umschrieben werden. Denn für Baudrillard haben simulacres einen selbstreferentiellen Bezug. Doch Reeditionen, die in fiktiven Kontexten an eine vergangene Moderne erinnern wollen und diese nur teilweise und nur suggerieren können, wie es der Fall ihrer medialen Übertragung ist, erinnern eher an den Ursprung des Terminus, so wie der Dichter Lukrez im 5. Jh. v. Chr. ihn verwendete: Abbilder, die eine schwache Wieder­gabe der tatsächlichen Realität erzeugen (Lukrez 1994: IV,145ff.), doch immerhin mit Referenzobjekten verknüpft, auf die sie hinweisen. An dieser Stelle ist von Interesse zu betonen, dass eine weitere Bedeutung, zum Beispiel in Langenscheidts Wörterbuch, ‹Simulacra› mit ‹Götzenbildern› gleichsetzt – äquivalent zum ‹Fetisch›. Wiederum gelten jedoch Bauhaus-Originale als tatsächliche Götzenbilder, die keines inszenierten Kontextes bedürfen, um wahrgenommen zu werden, weil sie diesen Kontext im Betrachter unterbewusst aufrufen. Gegen diese Wahrnehmung wurde zum Anlass des 100jährigen Bauhaus-Jubiläums

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angearbeitet. Schließlich beabsichtigte neben dem Bauhaus-Archiv in Berlin auch die Stiftung Bauhaus Dessau – so eine Besprechung im Vorfeld der dortigen Museumseröffnung am 8. September –, «der Fetischisierung der Objekte entgegenzuwirken.» (Timm 2019)

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Lukrez [Titus Lucretius Carus] (1994): De rerum natura, lateinischer Text mit italienischer Übersetzung. Mailand, Garzanti.

Máčel, Otakar (2003): Marcel Breuer - „Erfinder der Stahlrohrmöbel“ Erfinder der Stahlrohrmöbel. In: V ­ egesack, Alexander von / Remmele, Mathias (Hg.), Ausst.-Kat. Marcel Breuer. Design und Architektur. Vitra Design Museum 2003. Weil am Rhein, Vitra Design Museum, S. 52–115.

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Donatella Cacciola

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Timm, Tobias (2019): Im dunklen Schlauch. In: Zeit online, 04.09.2019. URL: https://www.zeit.de/2019/37/bauhaus-museum-dessau-eroeffnung-ausstellung (20.10.2020). Bildnachweise 1

Foto: © Privatbesitz.

3

Schöner Wohnen, Jg. 1976, H. 12, Dezember, S. 228–229.

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Schöner Wohnen, Jg. 1973, H. 2, Februar, S. 57. Schöner Wohnen, Jg. 1975, H. 5, Mai, o.S.

Schöner Wohnen, Jg. 1977, H. 3, März, S. 81.

Schöner Wohnen, Jg. 1984, H. 2, Februar, o.S.

Biografie

Donatella Cacciola, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der SK Stiftung Kultur, Köln. Seit 2018 Lehrbeauftragte mit dem Schwerpunkt Designgeschichte am Kunsthistorischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Promotion 2008 an der TU Delft. Seit 2003 Fachautorin zum ­Thema Design- und Kunstgeschichte für u.a. Domus, Restauro, Weltkunst, Vitra D ­ esign Museum und De Gruyters Allgemeines Künstlerlexikon.

Andreas Zeising

Bil iges Bauhaus Ein Plädoyer für die feinen Unterschiede

Das Plagiat hat bekanntlich keinen guten Ruf. Nirgendwo gilt dies mehr als im Design. Als unautorisiertes und womöglich illegales counterfeiting eines Originals haftet ihm der Makel des Minderwertigen und Billigen an, muss es hinnehmen, als ‹Fälschung› diskreditiert zu werden, die es doch genau genommen gar nicht ist.1 Folgt man dem Designhistoriker Michael Erlhoff, so gefährden Plagiate nicht nur ganze Nationalökonomien, sondern vernichten über kurz oder lang «das Design und das Denken selber» (Erhoff 1993: 145). Als illegitime Nutznießer des Originals haben Imitate und Plagiate buchstäblich keine Existenzberechtigung. Eindringlich führte das im September 2019 eine Aktion im Rahmen der Ausstellung Bauhaus – documenta. Vision und Marke in Kassel vor Augen. Vor der Neuen Galerie wurden in einer denkwürdigen Performance unzählige Nachahmungen der 1924 von Wilhelm Wagenfeld entworfenen Bauhaus-Leuchte auf brachialste Weise öffentlich zerstört. Abb. 1 Hier ging es nicht allein um Markenschutz und Wirtschaftswerte, sondern vor allem darum, die Nichtswürdigkeit des Imitats durch dessen rituelle Auslöschung symbolisch zur Schau zu stellen. Aus den materiellen Trümmern dieser lustvoll zelebrierten Hinrichtung mochten die ideelle Unerreichbarkeit und die Unantastbarkeit des Originals nur umso leuchtender hervorstrahlen. Nicht wenigen Zuschauerinnen und Zuschauern entlockte das Spektakel damals gleichwohl zweifelnde Blicke. Womöglich erschloss sich ihnen ad hoc weder der Sinn der Aktion, noch die behauptete Differenz zwischen Original und Fälschung. Einmal mehr machte die Kasseler Performance deutlich, dass es weniger der äußerliche Vergleich, als vielmehr die gedankliche Durchdringung ist, die den Schlüssel zum Verständnis der Differenz zwischen Vorbild und Imitat darstellt. Im Unterschied zu Plagiaten, gelten Design-Originale nicht nur als wertiger und ­schöner. Ihre vermeintliche Authentizität vermitteln sie (selbst dann, wenn es sich 1

Ein Faktum, das in der Diskussion zum Thema häufig ignoriert wird: «Bei einer Fälschung wird (im Unterschied zum Plagiat) das Original nicht nur perfekt kopiert. Durch die Kopie des Markennamens wird der Verbraucher auch noch bewusst über den U ­ rheber getäuscht und muss also annehmen, ein Original in Händen zu halten.» (Erhoff/Marshall 2008); «Ein Plagiat ist ­Diebstahl einer Produktidee. Plagiate tragen typischerweise einen leicht abgeänderten (Marken-)Namen.» (Siller 2018)

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Plagiatzerstörung zur Finissage der Ausstellung bauhaus | documenta. Vision und Marke, Kassel, 7. September 2019, documenta archiv / Foto: Nicolas Wefers.

um lizensierte Nachbauten und Re-Editionen handelt) vor allem in Kategorien, die sich der empirischen Messbarkeit entziehen, nämlich der Einzigartigkeit, Zeitlosigkeit, und Tradition, kurzum dem Versprechen von Ewigkeit und Klassizität (Jahr 1999; Breuer 2001). All das sind ideelle Werte, denen selbst die geschickteste Imitation nicht das Wasser reichen kann, da sie immer nur das materielle Substrat, niemals aber die Seele des Originals zu reproduzieren vermag. Der Reiz des Echten, so wusste Georg Simmel bereits 1908, «besteht darin, daß es mehr ist, als seine unmittelbare Erscheinung, die es mit dem Falsifikat teilt.» (Simmel 1908: 370) Vom postmodernen Lobgesang auf die Kopie und den Sturmläufen zur Dekonstruktion des Originalitätsdiskurses mit seinen Vorstellungen von Autorschaft und Authentizität konnten Design-Plagiate nicht profitieren (Häseler 2002). Nach wie vor besteht die Auffassung, dass ihr Erwerb nicht nur von Armut, Geiz, schlechtem Geschmack oder mangelndem Respekt in der Frage geistigen Eigentums zeugt, sondern vor allem von der von Grund auf falschen Annahme, die Beseeltheit von Design, seine ‹Form›, ließe sich einer billigen Imitation einhauchen. Dabei verhält es sich mit dem Design freilich nicht anders als mit anderen Formen technisch reproduzierter Kunstwerke, etwa dem Nachdruck von künstlerischer Grafik. 1929 konstatierte der Kunsthistoriker Max Friedländer: Der Rationalist findet keine Erklärung für die Tatsache, daß eine DürerZeichnung hunderttausend Mark kostet, die Nachbildung dieser DürerZeichnung, die dem Originale zum Verwechseln ähnlich sieht, für zehn Mark zu haben ist. Er geht von einer fehlerhaften Vorstellung aus, indem er die Kunst wie einen Nährstoff betrachtet, der jedem normalen Organismus erfolgreich eingeflößt werden könne. (Friedländer 1929/30: 4)

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Zweimal Barcelona, Kaufoptionen im August 2020.

Aktionspreis, gesehen im Shop des Dessauer Bauhauses, September 2019.

Friedländers elitäres Lob der Kennerschaft lässt sich leicht auf heutige DesignImitate übertragen. Wer sie kauft, so die gängige Auffassung, disqualifiziert sich unfreiwillig selbst, indem er ausgerechnet die «Echtheit», dieses einzig mögliche Fluidium von Qualität und Klassizität von Design, für nachrangig erachtet. Die «Marke Bauhaus» war maßgeblich daran beteiligt, diese Vorstellung in den Köpfen der Konsumenten zu verankern (Jooss/Oswalt/Tyradellis 2019; Oswalt 2020). ­Produkte wie der Stahlrohr-Freischwinger von Thonet, die Wagenfeld-Leuchte oder der Barcelona-Sessel von Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich sind B ­ eispiele für Bauhaus-‹Klassiker›, an denen bis heute bestens verdient wird. Die Flut von Fälschungen, Imitaten und Plagiaten, gegen die die beteiligten Unternehmen unerbittlich juristisch vorgehen, ändert daran nichts. Abb. 2 All diese Bemühungen dienen der langfristigen Behauptung vom immateriellen Wert des Originals. Durch den absurd hohen Preis, der sich – in Angleichung an das Kunstwerk – jeder ökonomischen Kosten-Nutzen-Relation entzieht, ist Design kein Gebrauchsobjekt, sondern ein Warenfetisch, der – obgleich vieltausendfach reproduziert – eine ideelle Einmaligkeit behauptet. Wenn daher auch in den hymnischen Verlautbarungen von Firmen wie Vitra oder Knoll immer wieder von Qualität und vom Unterschied zwischen Handwerkskunst und maschineller Massenhaftigkeit die Rede ist, geht es doch in Wahrheit nicht um Stückzahlen oder traditionelle Fertigungsmethoden. Es geht um eine Form von Wesenhaftigkeit und ‹Aura›, an die selbst die getreueste Kopie vermeintlich nicht heranreicht. Wenn es indes so einfach wäre, das innere ‹Wesen› des Originals zu

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Billiges Bauhaus

erspüren, müssten die autorisierten Hersteller von Design-Klassikern sich nicht die Mühe machen, ihrer Kundschaft die Unterschiede in haarspalterischer Ausführlichkeit darzulegen. Kompliziert wird die Angelegenheit durch rechtliche Grauzonen und begriffliche Fallstricke. Schon die Bezeichnung des «lizenzierten Originals» stiftet Verwirrung, handelt es sich doch eher um Nachbauten, die von ihren historischen Vorbildern erheblich abweichen können (Cacciola 2008). Eine nichtlizenzierte Nachahmung eines Originals muss im Übrigen noch keine Fälschung sein, sondern ist womöglich nur eine gute Replik. So bieten vielerlei Versender aus dem europäischen Ausland Nachbauten des «Barcelona Chair» zu dreistelligen Preisen an. Abb. 3 Dabei wird nicht nur mit dem Namen Mies van der Rohe, sondern auch mit dem Begriff des Originals in zuweilen recht weitherziger Weise geworben: Der Barcelona Chair ist heute beliebter denn je. Wir haben uns deshalb größte Mühe gegeben, um dieses Modell am Leben zu erhalten. Dabei herausgekommen ist die Produktion einer hochwertigen Nachbildung, die absolut identisch zum Original von 1929 ist. Unser Barcelona Chair Premium. Wir haben für unsere identische Replika jedes Teil, das Mies van der Rohe für den Entwurf seines originalen Barcelona-Stuhls verwendete, nachgebaut. Genießen Sie den Barcelona Chair so, als hätten Sie das Original vor sich. (Famous Chairs 2020) Die im Modus des «als ob» formulierte Deutungsoffenheit des Begriffs Original erinnert an ontologische Paradoxien der Mimesis-Theorie, wie sie Arthur C. Danto (1984) in seinem Buch Die Verklärung des Gewöhnlichen durchexerziert hat. Wenn im Falle der Replik Urbild und Kopie tatsächlich «absolut identisch» sein sollten, spricht wenig für den Erwerb des «lizenzierten Originals» des Barcelona Chair, das die Firma Knoll für 6.728 EUR vertreibt, es sei denn die unbezahlbare Illusion von Echtheit, die durch den symbolischen Preis noch untermauert wird. Die Vorstellung vom Design-Original verdankt sich bekanntlich den Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die «Kunstindustrie», wie man bis dahin gerne sagte, in den Rang der autonomen Kunst aufrückte. Eine wesentliche Rolle spielten dabei urheberrechtliche Rahmenbedingungen. In Deutschland existierte zwar seit dem späten 19. Jahrhundert für gewerblich hergestellte Gebrauchsgegenstände ein Gebrauchsmusterschutz,2 nicht aber ein urheberrechtlicher Schutz wie für Werke der bildenden Kunst und Literatur. «Die Imitation bildet sich zu einer raffinierten Kunstfertigkeit aus, sie wird zum Parasiten der künstlerischen Selbstständigkeit» (Scheffler 1898/99), beklagte ein Autor 1899 angesichts recht ungenierter Nachahmungen der künstlerischen Handschrift des belgischen Entwerfers Henry van de Velde. Abb. 4 Maßgeblich unter dem Eindruck des Jugendstils wurde mit dem Kunsturhebergesetz von 1907 die Unterscheidung zwischen angewandter und «hoher» Kunst nivelliert. Seither galten auch Entwürfe und Erzeugnisse des Kunstgewerbes als geistiges Eigentum, selbst wenn die betreffenden Gegenstände in Serie oder industriell gefertigt wurden und es sich um Dinge des täglichen Bedarfs

2

Gesetz zu Schutze der Gebrauchsmuster, 1891 (Denhardt 1993: 170-172).

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4

Zwei Entwürfe für Garderoben von Henry van de Velde und Max Alexander Nicolai, 1899.

handelte.3 Designprodukte waren damit für einen Zeitraum von dreißig Jahren nach dem Tod ihres Urhebers vor Nachahmung geschützt. 1934 wurde diese Frist auf fünfzig Jahre, später auf siebzig Jahre verlängert. Während das seinerzeit nicht unumstrittene Gesetz4 den künstlerischen Designentwurf schützte und die unerlaubte Nachbildung unter Strafe stellte, schuf es andererseits überhaupt erst die Geschäftsgrundlage für Plagiate und Imitationen. Denn während das nunmehr geschützte Original quasi konkurrenzlos war und sich zum Fantasiepreis verkaufen ließ, befriedigte das billig hergestellte Imitat das ­Bedürfnis all jener, die an den ethisch-ästhetischen Versprechungen und der in Aussicht gestellten innerlichen Veredelung, die an gutes Design geknüpft wurden, trotz eingeschränkter ökonomischer Möglichkeiten partizipieren wollten. Schon 1908 bilanzierte Anton Jaumann, die Folge des Kunstschutzes sei nicht etwa die Popularisierung von gutem Design, sondern die Verbreitung minderwertiger I­ mitate, die den Schutz des Originalwerks durch geschickte Variation unterliefen. Der Konstruktionsfehler des Gesetzes bewirke letztlich, «daß die Allgemeinheit Surrogate bekommt» (Jaumann 1908: 248). Jaumann wies hier auf ein Paradox hin, dass sich in den 1920er Jahren noch verschärfen sollte. Denn wenn es so war, dass dem Design ein geschmackserzieherischer Auftrag zufiel – ein Gedanke, der vom Deutschen Werkbund über das Bauhaus bis hin zur «Guten Form» der Nachkriegsära gebetsmühlenartig wiederholt wurde – ­ , dann stand die Überhöhung von Design­entwürfen zu geistigem Eigentum diesem Ziel erst einmal entgegen. Das 3 4

Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie vom 9. Januar 1907, §2: «Die ­ rzeugnisse des Kunstgewerbes gehören zu den Werken der bildenden Künste. […] Als Werke der bildenden Künste gelten E auch Entwürfe für Erzeugnisse des Kunstgewerbes sowie für Bauwerke». Vgl. etwa Vogt 1908 sowie die Debatte, die sich 1930/31 in der Werkbund-Zeitschrift Die Form um das Für und Wider der ­Gesetzesnovelle abspielte (Baur 1931; [Anonym] 1931).

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5

«Das Original», Ebay-Angebotsfoto für «Bauhaus-­ Schwingstühle», 149 EUR je Paar.

Dilemma war schwer zu lösen. Als ein erklärter Verfechter vom ideellen Wert der «echten Originale» (ebd.) hielt Jaumann daran fest, die Errungenschaften führender Entwerfer sollten «bei voller Wahrung der Eigentumsrechte ihrer Urheber Gemeingut des Volkes werden» (ebd.: 249). Die einzige Möglichkeit einer Popularisierung von gutem Design sah er demnach nur in alternativen Distributionsformen: Bis eine befriedigende Lösung dieser Frage gefunden ist, können wir nur hoffen, daß wie in der Literatur, so auch in der angewandten Kunst nach dreißig Jahren die Werke der Künstler durch billige Volksausgaben in weiteren Schichten Verbreitung finden, hoffentlich ist dann auch die allgemeine Geschmacksbildung soweit, daß man nur mehr Originalkunstwerke begehrt. (Ebd.: 248) Die Tradierung der Bauhaus-Idee nahm bekanntlich nicht den Weg der erschwinglichen Volksausgabe, sondern vermittelte sich über hochpreisige Originale, was in der heutigen Rezeption des Bauhauses, wo allzu häufig von demokratischem Design die Rede ist, nicht immer klar herausgestellt wird. Absurderweise schlagen dabei in der Kalkulation inzwischen auch die Kosten für die juristische Verfolgung von Plagiaten zu Buche,5 die sich ein Hersteller wie Vitra jährlich sechs- bis siebenstellige Beträge kosten lässt (Siebeck 2016). Dass es angesichts dieser Zementierung von Klassenschranken gerade die moderat bepreisten Klassiker-Replikate sind, die den Anspruch erfüllen, Design wahrhaft zu demokratisieren, ist ebenso oft behauptet wie bestritten worden. Dem gewöhnlichen Billig-Imitat, dessen Preisschwelle noch weit niedriger angesetzt ist, wird hingegen deutlich weniger 5

So berichtet Tecnolumen-Geschäftsführer Carsten Hotzan: «Eine Wagenfeld-Leuchte, die weniger als 300 EUR kostet, kann kein Original sein. Der hohe Qualitätsstandard, die Produktion in Deutschland, Lizenzzahlungen, die VDE-Zertifizierung und auch die juristische Verfolgung von Plagiaten haben direkten Einfluss auf die Kalkulation eines Produkts.» (Zit.n. Fleischhauer 2010: 17).

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Sympathie zuteil, haftet ihm doch eine Anmutung des Massenhaften, Minderwertigen und Vulgären an. Abb. 5 Von dem bei Ebay inserierten «Bauhaus«-Freischwinger zum Paarpreis von 149 EUR unterscheidet sich die professionelle Replik nicht nur durch ihren immer noch recht hohen Preis, sondern auch durch das Versprechen, dem «lizensierten Original» im Grunde in nichts nachzustehen (auch wenn sich das Kleingedruckte doch zuweilen anders liest).6 Während die Replik mithin verspricht, was sie ohnehin nicht halten kann, kommt das Plagiat ohne solche Referenzen und Authentizitätsversprechen aus. Es will gerade kein Fetisch sein, sondern ein Konsumprodukt mit vernünftiger Kosten-Nutzen-Relation, bei dem auf ein ästhetisches Erscheinungsbild und eine zeitlose Optik nicht verzichtet werden muss. Im Unterschied zur Fälschung und zur Replik behauptet das Plagiat daher auch keineswegs, wie oftmals unterstellt wird, das Original zu sein. Da es billig produziert ist, weicht sein Erscheinungsbild ohnehin von jedem Klassiker-Vorbild so deutlich ab, dass nicht selten der Eindruck einer Parodie entsteht. Wer wollte ernsthaft annehmen, dass die wackeligen Tischleuchten LuFungo, Joost oder Berlin, die der Online-Händler Amazon zu Preisen ab 40 EUR versendet Abb. 6, in näherer Verwandtschaft zur WG 24 der Bremer Lampenmanufaktur Tecnolumen stehen, die für den zehnfachen Preis den Besitzer wechselt? Die Bewertungen der Nutzer, sofern sie nicht gefakt sind, sprechen gleichwohl für sich. Beinahe neunzig Prozent der ­Käufer der Tischlampe LuFungo für 69,99 EUR, die diese sehr wohl wissend und in vollem Bewusstsein erwarben, dass es sich nicht um ein ‹Original› handelt, bewerten das Produkt mit der Note vier oder fünf von fünf möglichen Sternen und schwärmen vom «tollen» Design. Eine Nutzerin, die das Produkt mit lediglich drei Sternen ­bewertet, befindet den Preis für zu hoch, steht jedoch mit dieser Ansicht allein auf weiter Flur, da gerade das Preis-Leistungsverhältnis von der Mehrzahl der Kunden als gut und angemessen bewertet wird. Auch der beste Design-Klassiker, so muss man folgern, hat in den Augen der Verbraucher einen eklatanten Mangel: Er ist schlicht irrational überteuert. Der Hersteller von LuFungo, der durchaus keine Veranlassung sieht, sein Produkt mit Vokabeln wie «Bauhaus» oder «Klassiker» zu nobilitieren Abb. 7, gibt den Interessenten daher den einzig richtigen Rat: «Lassen Sie sich nicht von dem günstigen Preis beirren.» (KIOM 2020) Hersteller und Verkäufer der ‹echten› Originale geben sich bekanntlich erdenkliche Mühe, den Kunden die feinen Unterschiede zwischen Urbild und Imitaten einzubläuen. Tecnolumen etwa stellt die technischen Details mit geradezu kriminalistischer Akribie zusammen ([Anonym] o.J.). Doch wozu der Aufwand, wenn das Imitat keinerlei Anstalten macht, dem Eindruck der Nachahmung entgegenzutreten – sofern es dieses nicht sogar diskret zu überbieten versucht. Welche e ­ chte Bauhaus-Leuchte verfügt schon über dimmbare LED und Touch-Bedienung wie die praktische Nachttischlampe Looluuloo für 72 EUR? Nur in der Differenz von Vorbild und Nachbild wird schließlich ersichtlich, dass das Design-Imitat, im Gegen­satz zum echten ‹Original›, wahrhaft ökonomisch ist. Darin ähnelt es dem Gebaren der 6

So ist etwa auf der Homepage des Anbieters Popfurniture.com (2020) einerseits davon die Rede, dass die Replik «in der ­Ausführung und der Qualität der verwendeten Materialien identisch» mit dem «Original» sei. Ein verlinktes Video (POPfurniture 2020) erläutert jedoch eingehend, auf welche Weise man es unternommen habe, den Stuhl zu «verbessern», unter anderem durch Abweichungen bei den Abmessungen und bei der Sitzneigung.

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Produktvergleich von «Bauhaus-Leuchten» beim Online-Händler Amazon. Screenshot, 2020.



«In Ihrer Form die größte Einfachheit und in der Verwendung von Zeit und Material die stärkste Beschränkung». Gilt auch für die Tischleuchte Joost, Produktfoto Trio Leuchten.



«Du hast die Wahl», Produktkampagne des LIDL-­ Konzerns für billige Eigenmarken, gestartet 2017.

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Discounter, die den überteuerten Markenprodukten mit eigenen Handelsmarken Paroli bieten, deren äußerer Schein und innere Werte zwar nicht ganz an das Original heranreichen, dafür aber in ihrer Kosten-Nutzen-Relation konkurrenzlos sind. Abb. 8 Wenn der Discounter Lidl seine Billigmarken im Vergleich zu Traditionsmarken mit dem lapidaren Hinweis «Schmeckt beides gut» inseriert, ist dies zudem kein leeres Versprechen («Schmeckt unnachahmlich»«), sondern das Ergebnis einer Präferenzstudie mit 5.000 Teilnehmern auf garantiertem «Konfi­denzniveau» (Lidl [2017]: 7). Wer mithin Nutoka und Nutella einfach nur zum ­Verwechseln findet, unterschätzt nicht nur das Urteilsvermögen der Konsumenten, sondern verkennt die Mechanismen und die Macht einer Verbraucherdemokratie. Das «gute Imitat», so ließe sich mit Blick auf das Design festhalten, ist einem P ­ rinzip der Wertaneignung verpflichtet, das Partizipation zum Dumpingpreis verspricht, ohne sich zu verstellen. Im Medienhype, durch den das Bauhaus inzwischen fast zur einzig möglichen Moderne avanciert ist, ist man versucht, eine Lanze für die Subversion des Plagiats zu brechen. Johann Joachim Winckelmanns kluge Differen­zierung zwischen Nachmachen und Nachahmen findet jedenfalls im grassierenden Originalitätsdiskurs des Bauhaus-Designs, der heute unaufhörlich fortgeschrieben wird, viel zu wenig Resonanz: Gegen das eigene Denken setze ich das Nachmachen, nicht die Nachahmung: unter jenem verstehe ich die knechtische Folge; in dieser aber kann das Nachgeahmete, wenn es mit Vernunft geführet wird, gleichsam eine andere Natur annehmen, und etwas eigenes werden. (Winckelmann 1808: 245)

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© documenta archiv / Foto: Nicolas Wefers.

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URL: https://designklassikermoebel.de/loungesessel/barcelona-chair/#BarcelonaChairkaufen (05.01.2021). Screenshot: Andreas Zeising, August 2020.

2

Foto: Andreas Zeising, September 2019.

4 a Dekorative Kunst. Illustrierte Zeitschrift für angewandte Kunst, Jg. 3, 1899, S. 40. 4 b Deutsche Kunst und Dekoration. Illustrierte Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst und künstlerisches Frauen-Arbeiten, Jg. 4, 1899, S. 385. 5

URL: https://www.ebay.de/itm/2-x-Freischwinger-Konfe­ renzstuhl-Delta-Schwarz-Bauhaus-Schwingstuhl/­2546­ 11419918?hash=item3b4805f30e:g:EmsAAOSwP4ZZyQ tc (05.01.2021). Screenshot: Andreas Zeising, August 2020.

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7 8

URL: https://www.amazon.de/s?k=wagenfeld+lampe&__ mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%­C3%95%C 3%91&crid=1MIAIPR65HB1J&sprefix=wagenfeld%2Caps %2C214&ref=nb_sb_ss_ts-do-p_1_9 (05.01.2021). Screenshot: Andreas Zeising, August 2020.

URL: www.amazon.de/Trio-Leuchten-Tischleuchte-5922­ 011-07-Metall/dp/B0000APZ1V/ref=psdc_3884367 031_t1_B079MGHG4M (22.10.2020). URL: http://www.prospekteschauen.de/lidl/waermstensempfohlen-23-10-2017/ (10.11.2020).

Biografie

Andreas Zeising, zurzeit Vertretungsprofessur am Seminar für Kunst und Kunstwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. Habilitation mit der Arbeit Radiokunstgeschichte. Bildende Kunst und Kunstvermittlung im frühen Rundfunk der 1920er bis 1940er Jahre. Promotion über den Publizisten Karl Scheffler (1869–1951) und die Kunstkritik im Umfeld der Berliner Sezession.

Anne Röhl

Zuschreibungen, Zug um Zug

Josef Hartwigs Schachspiel in Kontexten der 1920er und 2010er Jahre

Das Bauhaus-Jubiläum im Jahr 2019 hat nicht nur bekannte Ikonen erneut in den Fokus gerückt, sondern auch ein eigenes Genre von Museumsshop-Artikeln entstehen lassen, die in Weimar, Dessau und Berlin, aber auch in den periphereren Ausstellungsstätten zu finden waren. Wer sich nicht vor Ort überzeugen konnte, findet einige Höhepunkte des Bauhaus-Merchandise in Philipp Oswalts Band zur Marke Bauhaus (Oswalt 2020). Während die Wagenfeld-Leuchte im Jubiläumsjahr mancherorts für einen Sonderpreis angeboten wurde (Zeising im vorliegenden Band), war das Bauhaus-Schach – wie die Leuchte auch eine der 50 BauhausIkonen, die man kennen sollte (Strasser 2009) – Teil eines anderen Marketing Coups. Das in den Jahren 1922–1924 von Josef Hartwig entwickelte Schachspiel, aktuell produziert und vertrieben vom Schweizer (Holz-)Spielzeughersteller Naef Spiele AG, bewegt sich mit einem Preis von ca. 280 EUR für die Figuren und ca. 175 EUR für das passende Schachbrett (bauhaus-shop 2020) in einer ähnlichen Preisklasse wie die Wagenfeld-Tischleuchte. Beides eignet sich also nur bedingt für Museumsshops, wo Niedrigpreisigeres wie Postkarten, Ausstellungskataloge und originelle Mitbringsel – z.B. die Bauhaus-Lappen, ein Schwammtuchset mit Kreis, Quadrat und Dreieck im bekannten Farbcode Blau, Rot, Gelb für ca. 10 EUR (Lütke

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1

Einzeln verpackte Spielsteine des Schachspiels von Josef Hartwig, 2019.

2020) – guten Absatz finden.1 Während die Lampe schon lange auch als Poster zu haben ist – nicht nur in der 1995 von Ott + Stein 1995 für die Klassikstiftung Weimar entworfenen grafischen Form –, wurde für das Schachspiel eine andere Lösung ersonnen. Die einzelnen Spielsteine waren im Jubiläumsjahr wie Sammelfiguren auch einzeln abgepackt erhältlich. Abb. 1 In einer Preiskategorie unter 10 EUR werden diese zum beliebten Souvenir und können als Bauhaus-Kleinst-Skulpturen im heimischen Bücherregal oder auf dem Schreibtisch ausgestellt werden, praktikables Mitbringsel des Museumsbesuchs oder gar der Jubiläumstour, langlebiges Zeugnis von Bildung und Geschmack. Es ist zu vermuten, dass diese dennoch ein anderes Publikum ansprechen als etwa nützlichere Bauhaus-Gimmicks für das schmalere Portemonnaie wie die Schwammtücher, lässt sich doch mit Pierre Bourdieu davon ausgehen, dass es einen Unterschied macht, ob ein Geschenk auch einen Gebrauchs- oder nur einen ästhetischen Wert hat (Bourdieu 2020: 80, 611). Auf eine Übersicht zum Ankreuzen, welche Figuren noch fehlen – von anderen Sammelkonzepten wie etwa den «Minifiguren» der Marke Lego bekannt –, wurde hier verzichtet. Da es sich um eine temporäre Aktion zum Jubiläum handelte, ist davon auszugehen, dass sich die einzeln erworbenen Schachstücke eher als Skulptur-Miniaturen behaupten, als dass sie sich einer weißen oder schwarzen Streitmacht anschließen müssen. Dem Publikum der Bauhaus-Museen konnte mit diesem Angebot wohl gut entsprochen werden, handelt es sich bei denen, die sich für das Bauhaus interessieren, doch vor allem um besserverdienende Akademiker*­ innen und Studierte (Oswalt 2020: 74); neben dem eher hochpreisigen kompletten Schachspiel, war so ein preisgünstiges Einzel-Souvenir – auch bezahlbar für ­Studierende entstanden. Mit der Frage der Vermarktbarkeit – als Set oder einzelne Figuren – ist daneben ein Thema angesprochen, das in der Rezeptions- und P ­ opularisierungsgeschichte des Bauhauses eine große Rolle spielt. Die 1923 von Walter Gropius proklamierte neue Einheit von Kunst und Technik zielte deutlich auf Innovation und Massenproduktion ab. Die Rezeption des Bauhauses, gerade im Hinblick auf den sozialen 1

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Die Bauhaus-Lappen stammen aus der Produktreihe «Rebauhaus» von Lara Lütke und wurden 2019 auch über www.shop. weimar-gmbh.com vertrieben (Oswalt 2020: 183, 202, Abb. 103).

Anne Röhl

Wohnungsbau, lässt in den Hintergrund treten, dass das Bauhaus der Jahre 1923– 1928, denen auch Hartwigs Schachspiel entstammt, dies aber nicht einlösen konnte. Auch wenn wohl die Hoffnung war, dass höhere Auflagen zu günstigeren Stückpreisen führen würden, blieben die Bauhaus-Objekte in den 1920er Jahren bürgerlichen Schichten vorbehalten, wurden gar Objekte für die Gestaltungsaufgaben gewählt, die eher in bürgerlichen Haushalten anzutreffen wären (Schuldenfrei 2009: 72–76), eine Verortung, die nun auch auf die Wiederauflagen und Reedi­ tionen zutrifft (Breuer 2009; Cacciola im vorliegenden Band). Dass einige der ‹Bauhaus-Ikonen› – nicht nur was die Frage der industriellen Produktion betrifft – nicht den Bauhaus-Idealen entsprechen, wurde zuletzt an der Wagenfeld-­Leuchte erläutert. Diese sei zudem weder modern noch funktional (Oswalt/Meer 2015: 368–369; Oswalt 2020: 204–229), dagegen sei ihr Gebrauchswert «die Symbolfunktion, und diese erfüllt sie mit großer Effizienz» (ebd.: 370). Ähnliches lässt sich für das Bauhaus-Schach konstatieren, dies in besonderem Maße, weil sich daran Widersprüche des Bauhauses von Luxus und serieller Fertigung, progressiver Moderne und konservativer Bürgerlichkeit sowie Fragen der Popularisierung und Vereinnahmung gewissermaßen en miniature zeigen lassen. Nach einem Rückblick auf Entstehung, Entwurf und Vermarktung des Schachs in den 1920er Jahren wird dessen Rezeption in populären Kontexten der 2010er Jahre betrachtet.

Zwischen Wesensforschung und Markenetablierung – Josef Hartwigs Schachspiel in den 1920er Jahren Bereits die Idee, ein Schachspiel zu gestalten, steht vor dem Hintergrund einer populären Rezeption des Bauhauses scheinbar im Widerspruch zu den Grundsätzen der Institution. Das Schachspiel gehört genau zur Gruppe der am Bauhaus entworfenen bourgeoisen Produkte, die Robin Schuldenfrei zu Recht als «Luxusobjekte» (Schuldenfrei 2009: 72) beschrieben hat. Wenn es darum geht, wie von Gropius gewünscht, Dinge des täglichen Bedarfs ökonomisch, innovativ und indus­ triell reproduzierbar zu gestalten, nimmt es sich auch nicht als naheliegende oder dringendste Gestaltungsaufgabe aus.2 Angenommen werden kann, dass Josef Hartwigs Beschäftigung mit Schachfiguren in direktem Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Schachspiels des De Stijl-Mitbegründers Vilmos Huszár im Heft 5 des Jahres 1922 der Zeitschrift De Stijl stand (Herzogenrath 1994: 116; Bernhard 2009: 186), weil die ersten Entwürfe des Werkmeisters der Stein- und Holzwerkstätten auf dasselbe Jahr datiert werden können.3 Bevor das Spiel ab 1924 vertrieben wurde, beschäftigte sich Hartwig beinahe zwei Jahre lang mit 2 3

Dennoch wurden neben dem Schachspiel am Bauhaus im Jahr 1924 auch noch zwei Schachtische entworfen, einer von Hartwig, einer von Heinz Nösselt (Wolsdorff 2002: 113). Zur Bürgerlichkeit bzw. Soziologie des Schachspiels siehe Clausen 1994. Josef Hartwig, geboren am 19.03.1880 in München, war ausgebildeter Steinmetz und Bildhauer. Von 1904 bis 1908 studierte er an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Balthasar Schmidt. Von April 1921 bis April 1925 war er Werkmeister am Bauhaus Weimar in den Werkstätten für Holz- und Steinbildhauerei. Er leitete in diesen Jahren die Arbeit am Märzgefallenen­ denkmal für den Hauptfriedhof in Weimar von Walter Gropius und arbeitete mit Oskar Schlemmer und Joost Schmidt an der Umsetzung von Wandreliefs in den Weimarer Schulgebäuden des Bauhauses. Hartwig verlässt das Bauhaus, als nicht alle Werkstätten der Weimarer Zeit auch in der Dessauer Konzeption Platz finden, und hat von 1925 bis 1945 die Leitung der Bildhauerwerkstatt der Frankfurter Kunstschule (heute: Städelschule) inne (Bauhaus-Archiv 2006: 42–44). Hartwig war Mitglied der NSDAP. Von 1945 bis zu seinem Tod 1956 war er als Meister in der Restaurierungsabteilung der Städtischen Skulpturengalerie in Frankfurt tätig (bauhauskooperation 2020).

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Zuschreibungen, Zug um Zug

2

Prospektblatt mit vier Varianten des Bauhaus-Schachspiels (Modelle I, VII, XIV, XVI), 1924, Bauhaus-Archiv, Berlin.

3

Herbert Bayer, Neue Brettsteine, Werbeblatt für Josef Hartwigs Bauhaus-Schachspiel, Katalog der Muster, 1925.

unterschiedlichen Varianten. Wie Anne Bobzin und Klaus Weber gezeigt haben, sind sieben davon erhalten oder durch Fotografien nachweisbar, die Modelle sind allerdings bis zur Nummer XVI beziffert, welche die bekannteste ist und auch ­diejenige, die noch heute verkauft wird (Bobzin/Weber 2006: 10–17). Bobzin und Weber beschreiben Rationalisierung als zentral in Hartwigs Arbeitsprozess. Folglich verlief die Entwicklung der Spiele von zunächst noch handwerklich gefertigten und komplizierteren Figuren – die mit ihren quadratischen ­Sockeln manchmal noch wie kleine Skulpturen erscheinen – hin zu einfach­eren Formen, die für eine Serienfertigung besser geeignet waren. (Ebd.: 12) Hier einen Progress der Vereinfachung zu sehen, leuchtet angesichts der Formwahl ein. Dieser wird in den Illustrationen von vier Varianten transparent, die Hartwig 1924 in einem Prospekt mit der entsprechenden Nummerierung nebeneinander veröffentlichte. Abb. 2 Die Formfindung beispielhaft für die Arbeitsweise am Bauhaus sichtbar zu machen, ist nachvollziehbar. Es erscheint aber widersprüchlich, dass verschiedene Varianten gleichzeitig vertrieben wurden, nicht nur zwei Ausführungen, das «Gebrauchsspiel» und das «Luxusspiel»; die Modelle VII, XIV und XVI sind alle mehrfach erhalten. Gleichzeitig ließe sich sagen, dass hier mit der Produktion

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von Luxusobjekten am Bauhaus in beinahe beispielloser Transparenz verfahren wird, wenn der Begriff Luxus auf den Werbepostkarten für das Schachspiel stark hervorgehoben wird (ebd.: 33; Schuldenfrei 2006: 77). Für die Gebrauchsspiele wurde wohl vor allem die heute bekannteste Spielsteinvariante Modell XVI eingesetzt. Abb. 2–4 Die Luxusvarianten haben die Modelle VII und XIV mit quadratischen Sockeln als Ausgangspunkt und wurden in unterschiedlichen Modellen, Holzarten und Oberflächengestaltungen angeboten. Die Kosten einer solchen Einzelan­ fertigung konnten je nach Materialwert bis zu 155 Mark betragen, während die Gebrauchsspiele deutlich günstiger waren.4 Zwei Preisklassen, wie 2019 durch die einzeln zu erwerbenden Teile wieder ermöglicht, waren also schon einmal Teil der Verbreitungsgeschichte dieses Bauhaus-Objekts. Es verwundert aber nicht, dass gemäß einer Rezeption, die die Luxusproduktion des Bauhauses ausklammert und die Urformen ins Zentrum rückt, in den 1970er Jahren nur die formal reduziertere Version XVI wieder auf den Markt kommt (naefspiele.ch 2020). Bemerkenswert ist aber, dass die Unterscheidung von Luxus- und Gebrauchsausgabe nicht nur durch hochwertigere Materialien, Verarbeitung und ein aufwendig intarsiertes Spielbrett getroffen wird, ist doch die Gestaltung des Schachspiels eindeutig im Kontext der von Gropius in den Grundsätzen der Bauhausproduktion erläuterten «Wesensforschung» zu verorten (Bernhard 2009): Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen. Um es so zu gestalten, daß es richtig funktioniert – ein Gefäß, ein Stuhl, ein Haus –, muß sein Wesen zuerst erforscht werden; denn es soll seinem Zweck vollendet dienen, d. h. seine Funktionen praktisch erfüllen, haltbar, billig und «schön» sein. (Gropius 1925: 5)5 Das Schachspiel erscheint so als Materialisierung eines Kerngedankens des Bauhauses unter Gropius, geben die Spielsteine doch bekanntermaßen die ­jeweilige Art des Spielzugs in ihrer geometrischen Gestaltung und den Wert durch die Größen­verhältnisse wieder. Wie auch in den Werbematerialien immer wieder ­erläutert Abb. 3, sollen die Würfelformen der Bauern und Türme deren horizontal und vertikal lineare Zugmöglichkeiten anzeigen. Im Fall des Königs wird die Kombi­ nation der Zugmöglichkeiten durch einen kleineren Würfel über Eck über einem größeren Würfel angedeutet. Die Springer verdeutlichen in der Kombination z­ weier Winkelformen – ein großer Kubus, aus dem diagonal gegenüberliegend zwei ­kleinere Kuben ausgespart sind – die Zugform, so auch die Läufer, die ihre diagonale Zugweise durch ein Schrägkreuz zeigen. Als einziger Spielstein enthält ­dagegen die Dame, die die größte Bewegungsfreiheit hat, eine Kugelform. Es 4

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Bobzin und Weber (2006: 32) schreiben, dass die Spielfiguren des Gebrauchsspiels schon für unter 10 Mark zu haben waren, während Luxusausgaben bis zu 130 Mark kosteten; Schuldenfrei (2009: 75-76) zitiert eine Preisliste der Werkbundausstellung Die Form aus dem Jahr 1924 mit Preisen von 155 Mark für ein Luxusspiel aus Walnuss und 51 Mark für das Gebrauchsspielset mit Figuren und Brett. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass diese Idee oder dieser Grundsatz, der sich auch mit «form follows function» paraphrasieren ließe, nicht von Gropius erfunden würde, sondern sich bereits im 19. Jahrhundert beim amerikanischen Architekten Louis Sullivan findet, von dem die bekannte Alliteration stammt. Aber auch der Werkbund forderte schon 1907, die Umsetzung von Dingen aus ihrem Wesen heraus zu entwickeln. Bernhard weist darauf hin, dass der Begriff der Wesensforschung für Gropius auch strategisch eine Rolle spielte, weil er so die esoterisch-künstlerischen und technisch-wissenschaftlichen Tendenzen des Bauhauses vereinen konnte, da sich erstere im Begriff des Wesens und zweitere in der Forschung wiederfanden (Bernhard 2009).

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lässt sich also zunächst Peter Bernhard zustimmen, dass, während Huszárs Schachentwurf aus dem Jahr 1922 eine «rein formale Neukonstruktion [ist], Hartwigs Figuren sowohl in den Größenverhältnissen als auch in der Gestalt, ihre spezifischen Eigen­schaften zum Ausdruck» (Bernhard 2009: 186) bringen.6 Nicht nur aufgrund der Prämisse der Wesensforschung ein Wesen (im Sinne einer ­Essenz) feststellen zu wollen, sondern auch, weil die vereinfachte zweidimensionale Darstellung in den Werbeprospekten suggeriert, es gäbe unter diesen ­Gesichtspunkten nur eine zwangsläufige Gestaltung Abb. 3, erscheint zunächst schon der gleichzeitige Vertrieb mehrerer Varianten inkonsequent. Dass im Fall der Luxusausgabe die Sockelscheiben beibehalten wurden, erstaunt darüber hinaus, weil diese als ein Relikt traditioneller Schachentwürfe erscheinen. Die herkömmlichen, filigraneren Personifizierungen der Spielfiguren benötigen den Sockel wortwörtlich als Fuß, um spielbar zu sein. Genau diese illustrierenden Schachfiguren werden aber von Hartwig, der von seinem Gestaltungsweg überzeugt ist, kritisiert: «Da die Funktion der Dinge das elementarste ihres Wesens ist», so Hartwig 1924, «kann bei der Gestaltung des Schachspiels nur der eine Weg zum Ziele führen, indem man die Steine je nach ihrer Gangart und ihrem Wert versinnbildlicht.» (Zit.n. Bobzin/Weber 2006: 8–9) Hartwig lehnt gar den ­Begriff «Figuren» ab: Sowohl in den Werbeprospekten, als auch in seinen Aussagen zum Schach, wird über die Elemente des Bauhaus-Schachs nur mit den Begriffen Spielsteine, Brettsteine oder Steine gesprochen.7 In einem Einlegeblatt aus dem von Herbert Bayer gestalteten Katalog der Muster aus dem Jahr 1925 werden die «neuen NEUEN BRETTSTEINE [sic]» so von den «alten illustrierenden Spielfiguren» abgegrenzt Abb. 3. Dort heißt es gar, vorhergehende Schachfiguren hätten «als ein Gemisch von Brettsteinen und Figuren ihren Sinn verloren» (zit.n. ebd.). Hartwig selbst wird in einem Zeitungsartikel noch deutlicher und bewertet diese als Teil einer eklektizistischen, historistischen Praxis, in der Funktion und Gestaltung – hier als Dekor entlarvt – geradezu arbiträr sind: Als ein buntes Gemisch von Figuren und Steinen lassen sie weder eine schöpferische Idee noch eine werkgerechte Materialgestaltung erkennen. Sie gehören zum elektrischen Empire-Kronleuchter, zum Rokoko-Grammophon und zum gotischen Radioempfänger. (Zit.n. ebd.: 38) Bernhard betont, dass die so geschilderte Ablehnung traditioneller Darstellungsformen «die kunsthistorische Bildung des Bürgertums für ein Verständnis dieser Gegenstände überflüssig» (Bernhard 2009: 189) mache. Festzuhalten bleibt aber, dass es sich keineswegs um intuitives Design handelt. Die Regeln des Schachspielens – dieses bürgerlichen Spiels – müssen bekannt sein, sonst lässt sich aus den Spielsteinen allein wenig herauslesen. In der populären Rezeption wird die 6

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Wulf Herzogenrath sieht das Schachspiel nicht nur als Überschreitung des Formalismus von De Stijl, sondern gar als einen Vorgriff auf eine spätere Phase in der Geschichte der Kunstschule, nämlich als eine «funktionale Reduktion der Form im Sinne der Bauhaus-Entwicklung von 1925–28» (Herzogenrath 1994: 114). Benjamin H.D. Buchloh wiederum verortet die Entstehung von Hartwigs Entwurf im Kontext der Ersten Russischen Kunstausstellung in der Galerie van Diemen in Berlin im Jahr 1922 und sieht darin Anleihen von Kasimir Malewitschs Einsatz von Kreuz und Quadrat (Buchloh 2009). Das trifft zumindest auf alle Formulierungen in Großbuchstaben zu. Während Varianten des Begriffs Spielsteine die Beschreibung dominieren, ist einmal von «kubischen Figuren» die Rede, lediglich die Dame wird als Figur bezeichnet, die eine Sonderrolle innerhalb des Gestaltungskonzepts einnimmt, wie weiter unten erläutert wird (siehe auch Strouhal 2009).

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Exaktheit der gestalterischen Umsetzung und auch deren selbsterklärende Qualität weiter betont: Der Bauhaus-Shop schreibt stilecht in Kleinbuchstaben «die vorliegende form […] erscheint somit zwingend» (bauhaus-shop 2020); «Jedem, auch dem Anfänger, sollen sich dadurch die Regeln des Spiels leicht erschließen» (Connox 2020), heißt es in der aktuellen Beschreibung des Spiels eines anderen Onlinehändlers. Spielspezialist*innen wie der dänische Game Designer und Ludologe Jesper Juul widersprechen: Nicht nur sei Hartwigs Schachspiel – wie auch andere Spiele – nicht selbsterklärend, sondern: während Türme und Läufer die Zugmöglichkeiten plausibel wiedergäben, sei insbesondere die für Bauern g ­ ewählte Kubusform problematisch, da weder die Einschränkung, nur vorwärts zu ziehen, noch die Besonderheit, diagonal zu schlagen, deutlich würden (Juul 2015). Der Kulturwissenschaftler und Schachkenner Ernst Strouhal konzentriert seine überaus überzeugende Analyse von Hartwigs Entwurf nicht auf die Kuben der Bauern, sondern die Kugel der Dame (Strouhal 2009). Die Zugmöglichkeiten der Dame, die jene von Läufer und Turm kombinieren, hat Hartwig im Entwurf Modell XIV Abb. 2 eben durch die Zusammensetzung der Merkmale dieser beiden Figuren, Schrägkreuz des Läufers und großer Würfel des Turms, abgebildet. Dies hätte, so Strouhal, nicht nur die Höhe des Königs überschritten, sondern vor allem verhindert, alle drei Grundformen Quadrat, Dreieck und Kreis in das Design zu integrieren, wie es jetzt im Modell XVI der Fall ist. Diese gestalterische Inkonsequenz ermöglicht die Verbrei­tung der Bauhaus-Urformen im Schachspiel und so das konsequente Verfolgen der Bauhaus-Marke.

#JosefHartwig – Das Bauhaus-Schach im Netz In der populären Wahrnehmung des Bauhauses der 2010er Jahre ist das Schachspiel jedenfalls als genuine Bauhaus-Ikone beliebt. Seit 1977 wird es vom Schweizer Holzspielzeuganbieter Naef Spiele AG mit passendem «Bauhaus Schachbrett» angeboten (Naef Spiele AG 2020). Das randlose Spielbrett aus Ahornholz passt ausgezeichnet zu den Spielsteinen, entspricht aber nicht den Entwürfen von Hartwig. Alle von Bobzin und Weber (2006) dokumentierten erhaltenen oder durch Fotografien nachweisbare Bauhaus-Schachbretter der 1920er Jahre haben Ränder. Diese extrem reduzierte Neuauflage mutet daher noch ‹bauhausiger› an als ihr eigentlicher Entwurf. Das hochpreisige Produkt findet sich im Sortiment von Online­ plattformen für Interieur-Design wie connox.de, kunstbaron.de und auch im Shop der Wochenzeitung Die Zeit. Hier wird wieder das Segment derer deutlich, die sich für Bauhaus-Objekte interessieren, nämlich Besserverdienende. Wer sich für das Schachspiel begeistert und doch nicht im Bilde ist, kann bei connox.de mit wenigen Klicks auf eine Kurzbiografie Hartwigs zugreifen (Connox 2020). Auf Social Media Plattformen wie facebook, instagram, pinterest und twitter sowie Sharing- und Verkaufsplattformen wie thingiverse.com und etsy.com zeigt sich allerdings, dass das Lager derer, die das Bauhaus-Schachspiel gerne besitzen würden, es sich aber nicht leisten können, wohl groß ist. Auf Sharing-Plattformen werden die Daten geteilt, die für die Ausgabe der Schachstücke am heimischen 3D-Drucker notwendig sind (TeamTeamUSA 2011). Auf etsy.com offerieren Verkäufer*innen neben

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Josef Hartwig, Schachspiel Modell XVI mit Kartonverpackung und Karton-Spielbrett, 1924, zuletzt: Vintage Items/Michael Henning, Berlin.

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XYZ Workshop, The Micro Planter Chess Set, 2013, 3D-Druck, Pflanzen.

handgearbeiteten Holzversionen und DIY-Papierbastelbögen (MarozCrafts 2020) auch vollständige 3D-Drucker-Varianten nach den Farbwünschen der Kund*innen gestaltet, darunter gar ein Set, in dem die Figuren à la Hartwig gleichzeitig als Pflanzgefäße für Sukkulenten fungieren (Redrook3D 2020). Abb. 5 Der Aspekt des Hand- bzw. Selbstgemachten bestimmt die Version der Kanadischen Künstlerin Keeley Haftner, die Hartwigs Schachstücke als «Anniversary chess set» (Haftner 2020) aus Ton gefertigt hat, wie sie auf mehreren Kanälen zeigt. Dass die ökomischen und materialspezifischen Gestaltungsaspekte von Hartwigs Entwurf hier obsolet werden, weil die Spielsteine nun aus flexiblen Materialien gefertigt, etwa mit Plastikfäden im Raum gezeichnet und nicht komponentenweise aus Holzstäben gesägt werden,

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zeigt einmal mehr, dass die (ikonische) Form dominiert.8 Ein Bauhaus-Entwurf, der die Produktionsbedingungen und möglichkeiten des 3D-Drucks gekannt hätte, hätte völlig anders ausgesehen. Gleichzeitig macht der 3D-Druck eine ‹Demokratisierung› möglich, die als effektiver einzuschätzen ist als die Aktion, die Spielsteine im Jubiläumsjahr einzeln zu verkaufen. Ob eine farbige 3D-Druck-Variante ebenfalls «gerne das (Wohn)zimmer aufwertet» (Connox 2020), wie eine Connox-Kundin über ihr Bauhaus-Schachspiel aus dem Hause Naef sagt, lässt sich nur eindeutig beantworten, wenn bekannt ist, was im jeweiligen Kontext schwerer wiegt – der Wert des ‹Originals›, das Besitzen dieser ikonischen Form aus Plastik in der bestellten Lieblingsfarbe oder die eigens mit dem 3D-­Drucker oder gar mit Papier und S ­ chere hergestellte Variante, der als selbstgemachtem Objekt wiederum «animistische Qualitäten» bzw. «Beseeltheit» (Shales 2017: 53)9 zugeschrieben werden können.

Mit dem Bauhaus gegen den Staat? Das Bauhaus-Schach im Film Wenige Jahre vor dem Jubiläum figurierte das Schachspiel prominent in einem deutschen Spielfilm. Es handelt sich um Der Staat gegen Fritz Bauer aus dem Jahr 2015 (Regie: Lars Kraume), der die Aktivitäten des hessischen Generalstaatsanwalts Ende der 1950er Jahre nacherzählt, die 1960 zur Verhaftung Adolf Eichmanns f­ ührten. Schon in der Exposition, während des ersten Blickes in die Wohnung des Protagonisten, ist das Schachspiel links im Bild auf der Schrankwand zu erkennen. Es ist aber bei weitem nicht die einzige Insignie moderner Kunst, mit der die den Protagonisten umgebenden Räume bestückt sind. Über dem Sofa in Bauers Wohnzimmer hängt die malerische Darstellung einer Kirche – wenn nicht von, dann zumindest nach Lyonel Feininger. Diese moderne Rahmung Bauers schließt auch die gestische Abstraktion der Nachkriegsmoderne mit ein: In einer Szene dient eine Komposition von George Mathieu als Hintergrund. Abb. 6 Die Botschaft ist eindeutig, Bauer ist modern unterwegs.10 Die Kunstmarktbeflissenen werden in diesem Moment allerdings besonders auf den fiktionalen Charakter der filmischen Erzählung hingewiesen, da Mathieus Werke schon in den 1950er Jahren Preise erzielten, die wohl nicht dem Budget eines Generalstaatsanwalts entsprachen, wie auch schon in einer Filmkritik angemerkt wurde (Kothenschulte 2015). Dass sich vom Interieur nicht nur der Geschmack, sondern gar die Gesinnung der darin dargestellten Personen ­ablesen lassen soll, zieht sich im Übrigen durch den ganzen Film. Wir sehen Karl Angermann, einen jungen Kollegen Bauers, dessen politisches und auch homosexuelles Coming-out im Film geschildert wird, ­zunächst umgeben von biederen Wohnträumen der 1950er Jahre: Mit der Gattin muss er sich über eine neue Einbauküche freuen, die Wohnzimmerwände werden von Flamingos und Kranichen ­bevölkert. In einer Szene dagegen, die Adolf Eichmann während eines der Interviews 8 Zur Abwertung von Material am Bauhaus siehe Schade 2009. 9 Original: «a property of animism – a vague sense of something ‹soulful›» (Übers. A.R.). 10 Bauer wächst sehr bürgerlich auf und wird in Beschreibungen nicht unbedingt als Weltbürger, sondern eher als ‹Schwabe› beschrieben. Es ist erstaunlich, dass sich Biograph*innen wie Irmtrud Wojak bemühen, die Modernität seiner Geburtsstadt Stuttgart herauszustellen: Wojak betont Stuttgart als Wirkungsstätte Adolf Hölzels, wiederum Lehrer der Bauhaus-Meister Oskar Schlemmer und Johannes Itten (Wojak 2009: 45).

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Fritz Bauer vor George Mathieu. Screenshot von Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015.



Adolf Eichmann vor Tapisserie. Screenshot von Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015.



Fritz Bauer spielt mit dem Bauhaus-Schach. Screenshot von Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015.

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mit dem niederländischen NS-Propagandist Willem Sassen zeigt, hängt direkt hinter Eichmann eine Tapisserie, ein Bildmedium, das während des Nationalsozialismus eine Renaissance erlebte (Prölß-Kammerer 2000).11 Abb. 7 Besonders deutlich nicht nur als Schachspiel, sondern eben als das von Josef Hartwig entworfene Bauhaus-Schach zu erkennen, ist das Set in einer Schlüsselszene des Films. Bauer hat ebendiesen Angermann, in der filmischen Darstellung der Ereignisse sein einzig loyaler Mitstreiter, an einem Sonntagmorgen zu einem clandestinen Treffen in seine Wohnung geladen. Bauer möchte ihn als Verbün­deten bei der – angesichts des Widerstands gegen Untersuchungen der NS-Zeit innerhalb der BRD – geheimen Suche nach Eichmann zu gewinnen. Die Szene vor diesem Treffen, die den mit sich selbst Schach spielenden Bauer alleine in seiner Wohnung zeigt Abb. 8, wurde von Rezensent*innen zurecht als Symbolbild für Bauers strategisches und solitäres Agieren gegenüber dem Staat, der – wie der Film titelt – gegen Bauer ist, gedeutet (Schulz-Ojala 2015; Worschech 2015). Bauer, den wir in dieser filmischen Adaption beim Aufspüren Eichmanns begleiten, war auch maßgeblich daran beteiligt, dass ab 1963 mit den Ausschwitzprozessen deutsche Kriegsverbrecher im eigenen Land vor Gericht kamen.12 Bauers Schachzüge in diesem Unterfangen basierten vor allem auf rhetorischen und juristischen Mitteln und fanden auf dem ‹Schachbrett› der BRD der späten 1950er und frühen 1960er Jahre statt, wo sich nicht etwa klar bezeichnete nationale Armeen gegenüberstanden, sondern ein innerdeutscher Konflikt ausgetragen wurde. Dass dafür Hartwigs Schach symbolisch einsteht, scheint passend, hat er doch die «Entmilitarisierung der Schachfiguren» erreicht, wie es am 21. September 1924 im Artikel Die Revolution des Schachbretts im Leipziger Tagblatt hieß (zit.n. Kries/Kugler 2015: 289). Hartwig selbst sieht dies 1924 im Kontext einer Entwicklung des Schachspiels in der Moderne: Als Imitation des Kampfes zwischen zwei feindlichen Heeren wurde das Schach über ein Jahrtausend lang gespielt, bis es sich in den letzten zwei Jahrhunderten immer mehr zum rein abstrakten Verstandesspiel entwickelte. Uns heutigen Menschen sind die 32 Steine auf den 64 Feldern ein Mittel, um im gegenseitigen Gedankenaustausch gewisse geistige Fähigkeiten zu entwickeln und zu schärfen. (Zit.n. Bobzin/Weber 2006: 8f.) Die «heutige Bedeutung des Schachspielens», so Hartwig weiter, als abstraktes Denkspiel, «zwingt uns zur abstrakten Gestaltung der Spielsteine» (ebd.: 8). Die mit dem Bauhaus verbundene positiv besetzte Modernität des Schachspiels und Bauers ostentativ dargestellte Liebe für (abstrakte) Kunst sollen die von der Verfilmung suggerierte Darstellung des Protagonisten als gebildeten, progressiven, jüdischen, homosexuellen, seine Züge sorgfältig planenden Nazijäger unterstützen. Diese 11

Eine derart sprechende Kulissengestaltung wird in Ansätzen ebenso in Die Akte General (2016), einem deutschen Fernsehfilm über Fritz Bauer versucht, hier ist Bauer auch weitestgehend von abstrakter Malerei umgeben, während der junge Staatsanwalt, der in dieser Erzählung Bauer bespitzelt, in seinem Wohnzimmer zwischen Kranichen und Häkeldeckchen sitzt, hinter ihm biedere gemalte Idyllen an der Wand. Die Akte General enthält sogar auch eine Schachszene, allerdings nicht mit BauhausSchachspiel. 12 Dies zeigt eine weitere Verfilmung aus den 2010er Jahren, Labyrinth des Schweigens (2014), die Bauer aber zu einer Nebenfigur degradiert.

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Fritz Bauer in seinem Dienstzimmer vor der Tapete von Le Corbusier. Screenshot von Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015.

10 Stefan Moses, Fritz Bauer, 1965, Fotografie aus der Serie Deutschlands Emigranten, Exilmuseum Berlin.

Konturierung des filmischen Fritz Bauer durch Bauhaus-Referenzen funktioniert aber nur, wenn das Bauhaus als ähnlich widerständig bzw. klar opponiert zu Bauers Gegnern begriffen wird wie dessen Bestreben, die Kriegsverbrecher anzuklagen, und auch seine Position als Jude und Homosexueller.13 Relativierende Stimmen wie sie die Forschung zum Bauhaus insbesondere seit den 1990er Jahren hervorgebracht hat, die sowohl nationalistisches Denken in den ersten Jahren der Kunstschule als auch die Wege regime-konformer Bauhäusler*innen nach 1933 nachzeichnen (Nerdinger 1993), verunmöglichen ein eindeutig dem Nationalsozialismus entgegengestelltes Bauhaus-Image, wie es Der Staat gegen 13 Philipp Oswalt hat zuletzt noch einmal geschildert, dass in der populären Betrachtung meist davon ausgegangen wird, die ­Nationalsozialisten hätten das Bauhaus aus Weimar und Dessau vertrieben. Dass daran aber jeweils auch konservative Gruppen beteiligt waren, wird oft übergangen (Oswalt 2020).

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Detail der Socken. Screenshot von Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015.

Fritz Bauer präsentiert. Dass das Bauhaus wie in diesem Film an das Bild einer in jeder Hinsicht progressiven oder nach Bedarf unpolitischen Institution angepasst wird, damit es als internationaler deutscher Exportschlager des 20. Jahrhunderts den seiner Schließung folgenden Abschnitt deutscher Geschichte in irgendeiner Weise ‹ausgleicht› oder gar übertüncht, lässt sich in dessen Popularisierung schon seit den 1960er Jahren beobachten (Betts 2009; Oswalt 2020: 50–68). Gerade auch im Rahmen der Bearbeitung des Bauhauses im Jubiläumsjahr ist auf dieses Image-Problem aufmerksam gemacht worden. Schon zu Beginn des Jubi­ läumsjahres hatte der Architekturhistoriker und Journalist Niklas Maak beklagt, das Bauhaus würde auch oder gerade 2019 auf ein «homogenes, touristisches und politisch nutzbares Idealbild» reduziert, aber die «Widersprüche fehlen auf den Geburtstagstorten» (Maak 2019).14 Unter Widersprüchen fasst er u.a. Johannes Ittens rassistische Gesinnung sowie Mies van der Rohes Anbiederungen an das NS-Regime aber auch die konservative Geschlechterpolitik. Während Maak dies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beklagt, konstatieren vor allem linksgerichtete Publikationen des Jubiläumsjahres ähnliches (Rosengarten 2019; Seliger 2019). Berthold Seliger nennt als «extremes Beispiel für die Verstrickung in des NS-System» (Seliger 2019: 59) die maßgebliche Beteiligung des Bauhaus-Studenten Fritz Ertl an den Bauaufgaben von Auschwitz (ebd.; Cohen 2011). In nicht annähernd so drastischem Maße eröffnet sich anhand der Rezeption des Bauhaus-Schachspiels und der Biographie seines Urhebers ein Einblick in die Komplexität politischer Zuordnungen: Hartwigs abstrakte Neukonfiguration der Spielsteine und seine gestalterische Ablehnung der «jetzt allgemein gebräuchlichen gedrechselten Spiele, das französische wie auch das englische StauntonSpiel» (zit.n. Bobzin/Weber 2006: 38) wurde von Zeitgenoss*innen nationalistisch überformt. Die Mecklenburger Rundschau sprach von einer «wirklich deutschen Form», die Brandenburgische Schachzeitung konstatierte sogar, «Englands und Frankreichs schachliche Bedeutung [gehöre] der Vergangenheit an, möge es ihren Figuren ebenso ergehen und der Name Weimar mit dem künftigen deutschen 14 Annette Geiger (im vorliegenden Band) gibt eindrückliche Beispiele dafür, dass Kritik am Bauhaus und/oder dessen Protagonist*­ innen um das Jubiläumsjahr herum auch in populären Kontexten deutlich wird. Der Einsatz des Schachspiels in Der Staat gegen Fritz Bauer basiert dagegen auf einem durchweg positiv besetzten populären Bauhaus-Bild.

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Spielmaterial verbunden sein.» (Zit.n. ebd.: 37) Den Gestalter*innen des Filmsets von Der Staat gegen Fritz Bauer waren solche Vereinnahmungen sicherlich nicht bekannt oder sie hielten sich an Bobzin und Webers Beschreibung von Hartwigs Einstellung, die dessen Ablehnung von englischen und französischen Spielfiguren als «ganz im Geiste des Bauhauses und frei von jedem Nationalismus» (ebd.: 38) schildern. Eine nationalistische Deutung der Spielfiguren als «deutsch» durch Hartwig selbst ist tatsächlich nicht anzunehmen. Dessen spätere Mitgliedschaft in der NSDAP, die erst um das hundertjährige Bauhausjubiläum herum in den Kurzbiografien der Bauhaus-Publikationen auftaucht (bauhauskooperation 2020), s­ ollte auch nicht zu einer gegenteiligen Einschätzung führen. Sie sei hier aber erwähnt, um zu zeigen, wie schwierig es ist, Bauhaus und Bauhäusler*innen per se eindeutig in Opposition zum Nationalsozialismus zu sehen, wie in Der Staat gegen Fritz Bauer illustriert.15 Ebenfalls im Film prominent eingesetzt wird die berühmte großflächig schwarzweiß gekästelte Tapete in Bauers Dienstzimmer. Abb. 9 Dabei handelt es sich um einen Entwurf von Le Corbusier, dessen Einsatz im Film mit teuren Abbildungsrechten verbunden war (Schwarz 2016). Ein Filmredakteur der Welt liest sie als Bekundung von Bauers «Hoffnung auf ein neues Deutschland, das Corbusier, Bauhaus und Gropius umarmen – und Naziverbrecher zur Rechenschaft ziehen würde» (Rodek 2016). Le Corbusier und Bauhaus in dieser Weise in einem Atemzug zu nennen, ist ein anderes Thema der Bauhaus-Rezeption, was am Beispiel der Kategorie Bauhaus-Möbel schon erläutert wurde (Hahn 2002). Angesichts des vertikalen Schachbretts der Le Corbusier-Tapete, die aus zahlreichen fotografischen und filmischen Zeugnissen bekannt ist, mutet es als überzeugendes Mittel an, Bauer in seiner Wohnung auch schachspielend zu zeigen und zwar mit Hartwigs Bauhaus-Schach. Abb. 9 und 8 So verdichtet sich die Darstellung Bauers als im Kampf begriffen, im privaten und beruflichen Umfeld bedroht, in Zugzwang. Gleichzeitig scheint die Gradlinigkeit selbst sein Vorhaben adäquat zu rahmen, wenn die einem Foto von Stefan Moses nachgestellte Schlussszene zeigt, wie Bauer, «beide Arme auf seinen Schreibtisch gestützt, vor seiner berühmten schwarz-weißen Tapetenwand in seinem Dienstzimmer stehend», «mit Nachdruck und Entschlossenheit seinem Feind in der eigenen Behörde [versichert], nichts und niemand könne ihn von seiner Arbeit abhalten.» (Renz 2015: 190) Abb. 10 Eine Aussage des Werbetextes für das Bauhaus-Schach auf connox.de, es sei zeitlos, «[n]icht zuletzt, weil die karierte, reduzierte Schachbrett-Optik ohnehin wie ein Bauhaus-Design anmutet» (Connox 2020), scheint dem Einsatz von Schachbrettmustern im Film zuzustimmen: Bauer agiert nicht nur vor dem vertikalen Schachmuster der Le Corbusier-­ Tapete, spielt mit dem Bauhaus-Schach im heimischen Wohnzimmer, sondern kauft sich vom jüngeren Kollegen Angermann inspiriert schwarz-weiß gekästelte Socken, die bei näherem Hinsehen einen Eindruck von Op Art erwecken. Abb. 11 Schachbrett, Tapete und Socken drücken Bauers Progressivität aus. Hier ließe 15 Ein weiteres Beispiel für diese Schwierigkeit ist der Werdegang des Bildhauers Gerhard Marcks, mit dem Hartwig um 1940 ­kooperierte (Hartwig 1940: 30–38). Marcks, dessen Interesse an der Rückkehr zur mittelalterlichen Bauhütte auch auf völkischen Ideen gründete, war als einer der ersten Lehrer von Gropius ans Bauhaus berufen worden und galt dort als nationalsozialistisch. Gropius’ Wende zur Einheit von Kunst und Technik führte zu Marcks’ Weggang vom Bauhaus an die Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle. Die Nationalsozialisten erzwingen allerdings 1933 seine Entlassung und verhindern eine Berufung nach Frankfurt, wo er wieder mit Hartwig zusammengearbeitet hätte (Bushart 1993; Fitschen 2009).

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sich auch an das Raster als ein Merkmal moderner Kunst denken (Krauss 1979), allerdings werden die Zwischentöne dieser schwarz-weißen Moderne in dieser Bauhaus-Rezeption ausgeblendet: Ein absurder Twist ist, dass der Aufbau eines freiheitlich-demokratischen Bauhaus-Images, was an Verheißungen der Moderne anknüpft und auch Teil eines neuen Deutschland-Image ist, maßgeblich von BRDPolitikern, die ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, mitgeprägt wurde. Insbesondere im Zuge der Vorbereitungen zu und der Jubiläumsfeierlichkeiten zu 50 Jahren Bauhaus wurden kommunistische und nationalsozialistische Aspekte der komplexen Geschichte des Bauhauses zu Gunsten einer rein ästhetisch-gestalterischen modernen Vision getilgt (Oswalt 2020: 53–61). Das populäre Bauhaus-Bild, das den symbolträchtigen Einsatz von Hartwigs Schachspiel in dieser filmischen ­Darstellung von Fritz Bauer überhaupt erst ermöglicht, wurde also von seinen Kontrahenten mitverantwortet.

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Foto: Anne Röhl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

Bobzin, Anne / Weber, Klaus (2006): Das rein abstrakte Verstandesspiel. Josef Hartwigs Bauhaus-Schach. In: Bauhaus-Archiv (Hg.), Das Bauhaus-Schachspiel von Josef Hartwig. Berlin, Bauhaus-Archiv, S. 7–39, hier S. 11. Bauhaus-Archiv Berlin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

Bobzin, Anne / Weber, Klaus (2006): Das rein abstrakte Verstandesspiel. Josef Hartwigs Bauhaus-Schach. In: Bauhaus-Archiv (Hg.), Das Bauhaus-Schachspiel von Josef Hartwig. Berlin, Bauhaus-Archiv, S. 7–39, hier S. 23, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

URL: https://www.myminifactory.com/object/3d-print-­ micro-planter-chess-set-432 (26.11.2020).

Der Staat gegen Fritz Bauer, Deutschland 2015, Regie: Lars Kraume. Screenshot: Anne Röhl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

7–8 Der Staat gegen Fritz Bauer, Deutschland 2015, Regie: Lars Kraume. Screenshot: Anne Röhl. 9

Der Staat gegen Fritz Bauer, Deutschland 2015, Regie: Lars Kraume. Screenshot: Anne Röhl, © F. L. C. / VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

10 URL: https://stiftung-exilmuseum.berlin/de/schenkungen/ emigrantenportraets-von-stefan-moses/fritz-bauer#main (26.11.2020). 11

Der Staat gegen Fritz Bauer, Deutschland 2015, Regie: Lars Kraume. Screenshot: Anne Röhl.

Biografie

Anne Röhl, Akademische Rätin a. Z. an der Universität Siegen. Promotion 2018 an der Universität Zürich mit einer Arbeit zur Rolle textiler Handarbeit in der US-amerikanischen Kunst der 1970er Jahre. Forschungsschwerpunkte: Textilien in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts; Materialitäten, Techniken und Genderfragen der Gegenwartskunst; Praktiken der Kunstausbildung.

Thomas Hensel

Van Veen – Itten – Google Die tabula rasa als Kreativitätsdispositiv

Im Anfang war die tabula rasa, und die tabula rasa war bei Gott, und die tabula rasa war Gott – so ließe sich unter Bezugnahme auf das jeden und aller Ursprung markie­ rende Schöpfungsphantasma der christlich geprägten westlichen Kultur mit e ­ iniger Verstiegenheit behaupten.1 Tatsächlich indessen erweist sich diese Bestimmung der sogenannten tabula rasa – im Wortsinn (tabula dt. Tafel; rasa dt. geschabt) bereits in der Antike als eine mit Wachs beschichtete Schreibtafel verstanden, die immer wieder abgeschabt und neu beschrieben werden kann – mitnichten als zu vermessen, würdigt man etwa einschlägige theologische Traktate der Frühen Neu­ zeit. So setzt der flämische Künstler und Humanist Otto van Veen, Lehrer Peter Paul Rubens’, in seinen Physicae et Theologicae Conclusiones aus dem Jahr 1621 tabula rasa und Gott in eins, indem er ein leeres Bildfeld nur mit einem «A» oder «Alpha» in seinem Zentrum zeigt und damit nichts Geringeres als den Anfang, die Ewigkeit oder schlicht Gott bezeichnet. Abb. 1 Wie der pictor doctus van Veen haben auch andere Emblematiker des 17. Jahrhunderts das leere Bildfeld als das Sinnbild für höchste Potentialität erachtet und ihrerseits auf die bildende Kunst, mithin ihre eigene Profession übertragen. Vicente Carducho, Zeitgenosse und Konkurrent Diego Velazquez’, pointiert etwa seine im Jahr 1633 erschienenen Diálogos de la pintura auf deren letztem Blatt explizit mit einer lorbeerumkränzten tabula rasa. Diese zeigt einen Pinsel, dessen Spitze die weiße Fläche gerade noch nicht berührt hat, dessen Schatten sich aber verheißungsvoll schon auf dieser abzeichnet. Die Subscriptio unter dem Bild legt die auf dem Schriftband verbürgte Potentialität («potentia») der tabula rasa aus: Sie nämlich enthalte alle Dinge («todas las cosas»), die allein ein Pinsel höchster Kenner- und Könnerschaft vor Augen zu stellen ver­ möge. Abb. 2 Kurze Zeit später ruft Diego de Saavedra Fajardo in seinem erstmals 1640 veröffentlichten anti-machiavellistischen Fürstenspiegel Idea Principis Christiano-­Politici, auf «die große Bildbarkeit des Menschen durch Erziehung im 1

Die Eingangsformulierung paraphrasiert das Johannesevangelium (1,1): «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort». – Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Hensel 2019.

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Rahmen des barocken Manipulationsoptimismus» (Romanoski 2006: 391) zielend, mit dem Motiv des deus artifex (Kris/Kurz 1995) erneut die höchste Potenz auf: Unter dem Motto «Ad Omnia» (dt. für alles) nähert sich die umwölkte Hand Gottes als die eines Malers, der Pinsel und Palette bestimmend im Griff hat, einer Staf­felei, die eine noch unbestimmte, leere Leinwand trägt.2 Ausgehend von jenen Emblembüchern lässt sich im Zeichen der tabula rasa ein Pfad bis hin zu jüngsten Medien verfolgen, deren prominentestes die InternetSuchmaschine Google ist, insbesondere deren Startseite. Bevor diese im Folgen­ den eine eingehendere Würdigung erfährt, sei auf jenem Pfad einer der wichtigsten Knotenpunkte in den Blick genommen: das Bauhaus. Zuvörderst ist es der russi­ sche Maler, Kunsttheoretiker und Bauhaus-Lehrer Wassily Kandinsky, der mit der unbunten Farbe Weiß eine essentielle Ingredienz der tabula rasa reflektiert. ­Konzentriert auf das Wesen und die Symbolik des Weiß (zur Kunst- und Kultur­ geschichte der Farbe Weiß: Oettl 2008), formuliert er in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst so synästhetisch wie universalistisch: Bei der näheren Bezeichnung ist das Weiß, welches oft für eine Nicht­ farbe gehalten wird (besonders dank den Impressionisten, die «kein Weiß in der Natur» sehen), wie ein Symbol einer Welt, wo alle Farben, als mate­ rielle Eigenschaften und Substanzen, verschwunden sind. Diese Welt ist so hoch über uns, daß wir keinen Klang von dort hören können. Es kommt ein großes Schweigen von dort, welches, materiell dargestellt, wie eine unübersteigliche, unzerstörbare, ins Unendliche gehende kalte Mauer uns vorkommt. Deswegen wirkt auch das Weiß auf unsere Psyche als ein großes Schweigen, welches für uns absolut ist. Es klingt innerlich wie ein Nichtklang, was manchen Pausen in der Musik ziemlich entspricht, den Pausen, welche nur zeitlich die Entwicklung eines Satzes oder Inhaltes unterbrechen und nicht ein definitiver Abschluß einer Entwicklung sind. Es ist ein Schweigen, welches nicht tot ist, sondern voller Möglichkeiten. Das Weiß klingt wie Schweigen, welches plötzlich verstanden werden kann. Es ist ein Nichts, welches jugendlich ist oder, noch genauer, ein Nichts, welches vor dem Anfang, vor der Geburt ist. So klang vielleicht die Erde zu den weißen Zeiten der Eisperiode. (Kandinsky 1963: 98) Diese «asketisch-spirituelle […] Apotheose des Weiß» (Ullrich 2003: 217), die mit dem Schweigen respektive dem Nullpunkt «voller Möglichkeiten» auch die tabula rasa charakterisiert,3 prägte – jedenfalls dem Vorsatz nach – nicht nur die ästheti­ sche Theorie, sondern auch die pädagogische Praxis des Bauhaus. So ließ in dessen Vorkurs Josef Albers mittels spielerischer Papierfaltungen «aus einem einfachen weißen Blatt skulptural die fantasievollsten Ergebnisse» (Kraus 2019: 9; 2 3

Die jahrhundertelange Bild- und Bedeutungsgeschichte der tabula rasa würdigt Wagner (2004). Siehe auch Bredekamp (2012: 100–102). Aufschlussreich in ihrer Komplementarität ist auch Kandinskys Bewertung des Schwarz. Dieses klinge «wie ein Nichts ohne Möglichkeiten», sei, musikalisch interpretiert, «wie eine vollständig abschließende Pause, nach welcher eine Fortsetzung kommt wie der Beginn einer anderen Welt, da das durch diese Pause Abgeschlossene für alle Zeiten beendigt, ausgebildet» sei; das Schwarz sei «etwas Erloschenes, wie ein ausgebrannter Scheiterhaufen, etwas Unbewegliches, wie eine Leiche […] wie das Schweigen des Körpers nach dem Tode, dem Abschluß des Lebens» (Kandinsky 1963: 98).

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Van Veen – Itten – Google

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Otto van Veen, Physicae et Theologicae Conclusiones, 1621.



Vicente Carducho, Diálogos de la Pintura, 1633.



Wilhelm von Camphausen, Ein Maler auf dem Kriegsfelde, 1864.

Holländer/Wiedemeyer 2019: 134-137) entwickeln. Albers’ Lehrer, der für die Farben­ lehre zuständige Johannes Itten, soll Mönchsgewänder angezogen und Studien­ bewerber zum A ­ ufnahmegespräch in einen weißen Raum geführt haben, um dann minutenlang zu schweigen – auf diese Weise prüfend, ob die Bewerber extreme ­ ergeistigung auszuhalten in der Lage wären (Ullrich 2003: 217).4 Und Leere und V auch Theo van Doesburg, Ästhetik und Pädagogik verquickend, sah im Weiß «die höchste Stufe menschlicher Entwicklung verkörpert; […] Reinheit und Vollendung» (zit.n. Ullrich 2003: 217). In diese Tradition lässt sich auch ein Bild einschreiben, das in unserer Gegenwart als das meist gesehene überhaupt5 und überdies als Inbegriff einer tabula rasa apostrophiert werden kann: die Startseite von Google. Wie reflektiert deren mini­ malistisches Erscheinungsbild – im Wesentlichen sechs farbige Glyphen über ­einem Eingabefeld auf weißem Grund – gestaltet ist und fortwährenden Modula­ tionen unterzogen wird, lässt sich u.a. den 2014 vorgestellten und seitdem ständig aktualisierten Material Design Guidelines von Google ablesen (Google 2014ff.). Sich an Entwickler und Designer wendend, um die Kohärenz des Branding sicherzu­ stellen, wären deren Illustrationen ohne die technikgläubigen künstlerischen ­Avantgarden der Moderne, nicht zuletzt die rigoristische Ästhetik, aber auch den Absolutheitsanspruch des Bauhaus, nicht denkbar (Hadler/Haupt 2016).6 Sucht man in der Kulturgeschichte nach weiteren Vorbildern für die Startseite, wird man im 19. Jahrhundert fündig. Ein 1864 publizierter Holzschnitt Wilhelm Camp­ hausens lässt seinen Betrachter einem Maler über die Schulter auf eine große weiße Leinwand schauen. Abb. 3 Mit einem Künstler, der es sich im Hausrock vor der Staffelei mit der Leinwand bequem gemacht, als Zeichen gespannten Nachsinnens aber seine rechte, augenscheinlich die ansonsten malende Hand an die Schläfe gelegt hat, präsentiert sich «ein Bild, in dem das Erfinden eines Bildes demonst­ rativ vorgeführt wird.» (Wagner 2004: 67) Das Fehlen einer Idee quittiert die Lein­ wand mit einem gereckten, Geltung heischenden Fragezeichen, das sich sowohl an den Maler als auch an den Betrachter des Holzschnittes mit der unnachgiebigen Aufforderung wendet, nach Inspiration zu suchen und mit der Leinwand die tabula rasa im Bild zu füllen.7 Google erweist auch dieser Idee einer mit dem Pinsel zu bemalenden leeren Lein­ wand seine Reverenz: Als am 21. September 2011 das Soziale Netzwerk Google+ für alle geöffnet wurde, wies auf das entsprechende Symbol ein Pfeil hin, der als ein gepinselter erkannt werden konnte. Abb. 4 Die Startseite von Google ruft damit eine Metaphorik auf, die eine der creatio ex nihilo, der Schöpfung aus dem Nichts, 4

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Elkins (2001: 34) spricht in diesem Sinne davon, dass «[s]ome Bauhaus instructors used exercises […] to erase bad habits incul­ cated by the society and the state of the arts. Itten spoke in these terms: he wanted to return students’ minds and muscles to a tabula rasa, a blank slate» – nicht ohne allerdings hinzuzufügen: «Yet as time passes, it becomes more apparent that Bauhaus exercises weren’t aimed at a timeless blank slate, but were closely related to the styles of the day.» Wenn es zutrifft, dass das Arbeiten am Rechner die dominierende Kulturtechnik ist, und wenn es richtig ist, dass dieses Arbeiten vor allem im Zeichen des Recherchierens nach Information steht, und wenn es so ist, dass dieses Recherchieren weltweit hauptsächlich mittels einer einzigen Suchmaschine, nämlich Google, prozessiert wird, dann lässt sich die Startseite von Google als das meist gesehene Bild überhaupt bestimmen (und dies, obwohl viele User Google direkt aus ihrem Browser heraus starten). Wie elaboriert und raffiniert die Startseite designt ist, auch mit Blick auf Typographie und Farbgebung der Glyphen, muss an anderer Stelle verhandelt werden. Auch die Literaturgeschichte kennt dieses Motiv: Sie spricht vom leeren Blatt als «symbolische[m] Ursprungsraum der E ­ ntfaltung von Autorschaft» (Müller 2012: 127). Siehe auch Macho (2003) sowie Schneider (2016).

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Van Veen – Itten – Google

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Google, Startseite vom 21.09.2011, Screenshot.



Yahoo Bildersuche, Ergebnisse «Google» und «God» vom 12.03.2019, Screenshot.



Burning Man Festival, Google Doodle vom 30.08.1998.

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Sophia Foster-Dimino, 60 Jahre Stanisław Lems ­Erstveröffentlichung, Google Doodle vom 23.11.2011, Screenshot.

ist.8 Dieser Topos erinnert unmittelbar an Bilder des Göttlichen, wie sie beispiels­ weise in Otto van Veens Physicae et Theologicae Conclusiones figuriert werden. Abb. 1 Recherchiert man nach Überschneidungen von Google und Göttlichkeit, war­ tet das Netz mit einer Unmenge von Angeboten auf, die mitunter sogar scholastisch präzise zu ‹beweisen› suchen, dass Google Gott sei ([MacPherson 2009]) Abb.  5 Doch damit sind die in die Startseite von Google eingelagerten Schöpfungsvor­ stellungen noch mitnichten ausgereizt. Tatsächlich sind es insbesondere die Doodles, also jene herausragende Ereig­ nisse oder Personen würdigenden Verdekorierungen der Schriftglyphen des Logos, welche Googles Schöpfungsvorstellungen mehr oder weniger subtil – in jedem Fall entlarvend – vor Augen führen. Bereits das erste Doodle, 1998 von Sergey Brin als eine Art Abwesenheitsnotiz konzipiert Abb. 6, spielt auf eine Ver­ schränkung des ganz Kleinen mit dem ganz Großen an: Das hinter das «O» ­gestellte Wahrzeichen des Burning Man-Festivals9 – ein Mann mit ausgestreckten Armen – kann seine Abkunft von dem berühmten Bild des homo vitruvianus aus der Feder Leonardo da Vincis, das den in Kreis und Quadrat eingeschriebenen Menschen zeigt, nicht verleugnen – seine Abkunft von jener programmatischen Darstellung also, die frühneuzeitliche naturphilosophische Überlegungen zur Ent­ sprechung von Mikro- und Makrokosmos, von Mensch und Welt, ineinander ver­ schränkt.10 Vor diesem Horizont eines Mikro- und Makrokosmos umarmenden Anspruchs sei das vielleicht raffinierteste aller bis dato je kreierten Doodles be­ trachtet. Aufwändig ­programmiert, erinnerte es am 23. November 2011 anlässlich des 60. Jahrestags der Veröffentlichung seines ersten Romans Astronauten oder Der Planet des Todes an den Visionär und Science-Fiction-Autor Stanisław Lem. Das Doodle ist animiert, interaktiv und wartet sogar mit drei Mini-Games auf, bei 8 9

Siehe zu Auseinandersetzungen bildender Künstler mit den Ideen des Nichts die Beiträge in Weinhart/Hollein (2006). Burning Man ist der Name eines jährlich in der Black Rock Desert im US-Bundesstaat Nevada stattfindenden Festivals von Freigeistern – für die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page eine frühe Quelle der Inspiration. 10 Ein im Jahr 2005 geschaltetes Doodle zur Erinnerung an Leonardo da Vinci zeigt genau diese Zeichnung (Doodle-Archiv 2005).

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Sophia Foster-Dimino, 60 Jahre Stanisław Lems ­Erstveröffentlichung, Google Doodle vom 23.11.2011, Screenshot.

denen sowohl Reaktionsfähigkeit als auch Reflexionsvermögen gefragt sind (Doo­ dle-Archiv 2011).11 Lösen Neugierige alle Aufgaben, werden sie mit einem Finale ­belohnt, in dem sie auf eine Maschine treffen, die sichtlich den SuchmaschinenGiganten Google selbst figurie­ren soll. Abb. 7 Das Doodle wurde inspiriert durch Lems Sammlung von futuristischen Fabeln zum kybernetischen Zeitalter, erschienen unter dem Titel Kyberiade (1992). Selbige ranken sich um zwei brillante Konstrukteure, Trurl und Klapauzius, und deren so genialische wie skurrile Maschinenerfindungen – illustriert von dem polnischen Graphiker Daniel Mróz, dessen Zeichnungen die für die Umsetzung des Doodles Verantwortlichen, Sophia Foster-Dimino und Marcin Wichary, anregten (Foster-­ Dimino/Wichary 2011). In der Fabel Wie die Welt noch einmal davon kam baut Trurl eine Maschine, die alles erschaffen kann, was mit dem Buchstaben «N» beginnt: Als sie fertig war, testete er sie, indem er ihr befahl, Nähgarn, Nadelstreifen und Négligés herzustellen, was sie auch tat; sodann ließ er sie das ganze auf Nangkingseide nähen und an eine nasse Nargileh, gefüllt mit Novo­ cain, Nelken und Nieswurz nageln. Sie erledigte den Auftrag bis aufs ­i-Tüpfelchen. (Lem 1992: 9) Als Klapauzius und Trurl sich über die Fähigkeiten der Maschine streiten, wird dieser befohlen, «Nichts» herzustellen, woraufhin sie beginnt, das Universum zu leeren. Nachdem die Katastrophe gestoppt werden kann und alle Versuche scheitern, Maschi­ nen zu bauen, die Dinge mit einem anderen Anfangsbuchstaben als «N» schaffen könnten, bleibt die Welt von Löchern durchschossen. Übertragen auf Google be­deutet dies aber nun keineswegs eine Autodestruktion oder Selbstauslöschung, im Gegen­ teil: Die Suchmaschine springt am Ende, nachdem sie sämtlicher ihrer grafischen 11

U.a. muss man auf einem Oszilloskop verschiedene Wellen synchronisieren oder seine Geschicklichkeit in einem rudimentären Shooter erweisen. Für die interaktive Version siehe https://www.google.com/logos/lem/ (23.10.2020).

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und funktionalen Akzidentien radikal verlustig gegangen und zu einer archetypischen tabula rasa geworden ist Abb. 8, wieder zu ihren Suchergebnissen zurück. Lem inszeniert mit seinen beiden Erfindern samt ihrer anthropomorphen Maschine einen Weltschöpfer, der sich, so könnte man sagen, performativer Sprechakte ­bedient. Diese Sprechakte hat John Langshaw Austin in seiner frühen Sprachphilo­ sophie grundlegend verhandelt. Im Zuge einer Verlagerung seines Interesses an Sprache als Repräsentation auf den Sprechakt als Handeln unterschied Austin zwischen konstatierenden und performativen Äußerungen. Eine konstatierende Äußerung ist eine deskriptive Aussage, mit der eine Feststellung getroffen wird; eine performative Äußerung hingegen stellt nichts fest, sondern ist der faktische Vollzug eben jener Handlung, die sie bezeichnet – sie «konstituiert, was sie konstatiert» (Krämer/Stahlhut 2001: 37). In der performativen Äußerung wird somit die vertraute Unterscheidung zwischen Darstellungsmittel und Dargestelltem, zwischen Wort und Sache, außer Kraft gesetzt. Demgemäß betitelte Austin seine wichtigste, 1962 erstmals publizierte Abhandlung bezeichnenderweise mit How to do things with words (Austin 1962).12 Lems Mensch-Maschine-Hybrid erschafft in diesem Sinne Nähgarn, Nadelstreifen oder Nudeln durch bloße Nennung der Begriffe «Nähgarn», «Nadelstreifen» oder «Nudeln». Das Google-Doodle übernimmt diese Interpretation so sophistisch wie selbst­ herrlich: Lems Maschine nennt das «N», doch trägt sie nicht ostentativ den Namen «Google»; in der Komposition des Doodles wird die Anweisung, Entitäten mit dem Anfangsbuchstaben «N» zu nennen, zur Aufforderung zu «GOOGLEN». Google imaginiert damit die Nutzung seines Algorithmus als performativen Suchakt. Folge­ richtig bedeutet die Eingabe von «Nichts» dann auch die Auslöschung der Such­ maschine selbst (die dann sofort wieder negiert wird). Suche und Sein, oder ­Findungsakt und Fakt, fallen in eins – nicht aber im Sinne eines ‹Der Weg ist das Ziel›, sondern im Sinne einer Weltkonstruktion und Weltschöpfung durch die demi­ urgische Maschine Google. Und dies ist eine Erkenntnis, die Googles Ansinnen, zum Netz selbst zu werden, und jene zum Bonmot geronnene Einsicht, dass nur das existiere, was auch durch Google gefunden werden könne (Lobe 2019), kon­ sequent weiter- und zu Ende denkt. Subkutan kulminiert in Google aber auch noch eine andere Tradition, die unmittel­ bar mit der der tabula rasa verknüpft ist: die des Grids nämlich. Das Grid oder Raster liegt Googles Material Design Guidelines zugrunde, zeigte doch in deren ursprünglicher Fassung gleich die erste Illustration ein solches – als «a single underlying system», das einerseits «unifies the user experience across platforms, devices, and input methods» und andererseits «[e]xpand[s the] Material’s visual language and provide[s] a flexible foundation for innovation» (Google 2014ff.).13 Abb. 9 Auch andere digitale Medien überziehen in genau diesem Sinne eine tabula rasa mit einem Raster, um mit dessen Hilfe – einem Setzkasten und Koordinaten­ system gleich – neue Welten strukturierter aufbauen zu können. Nimmt man etwa 12 Beispiele Austins für Performativa sind Heirat, Schiffstaufe, Testament oder Wette. 13 Generell zum Raster als einem ‹totalen› ästhetischen, ontologischen und diagrammatischen Ordnungsraum aus kulturhisto­ rischer und medientheoretischer Perspektive und mit weiterführender Literatur siehe Siegert (2018). Auch Siegert adressiert das Raster als Kulturtechnik u.a. im Sinne einer tabula rasa als ein «projektives Bildgebungsverfahren», das darauf ziele, «einen geometrischen Raum als den darin lokalisierten Objekten vorgängig zu postulieren», sowie als ein «operationales Verfahren, […] Welt als Welt von Objekten zu konstituieren, die von einem Subjekt vorgestellt werden.» (Ebd.: 196)

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Illustration in den Material Design Guidelines, Google, Screenshot.



Mattel Games, Bloxels, innovatives Spiel zum Erstellen eigener Videospiele, 2016.



Thomas Hawranke, the grid, the lib and the best of all possible worlds, 3-Kanal-Video-Installation, Vinylmatte, Elektronikbauteile, 7-Zoll-Displays, Ausst. BAU [ SPIEL ] HAUS, Neues Museum Nürnberg, 22.03.–16.06.2019.

Computerspiele in den Blick, so warten viele der marktgängigen Level-­EditorGames mit einer quadrierten tabula rasa auf, die, analoge und digitale Tools zum Teil miteinander kreuzend, mit passgenauen Bausteinen die Generierung fantas­ tischer Welten erlaubt Abb. 10 – eine Entwicklung, die in jüngsten medienkünstleri­ schen Arbeiten hellsichtig durchleuchtet wird. Abb. 11 Auch in puncto Raster führt kaum ein historiographischer Pfad am Bauhaus vorbei. Es war der Bauhaus-Schüler und spätere Mitarbeiter von Walter Gropius, Ernst Neu­ fert (Merkel 2017), der in seiner 1943 erschienenen Bauordnungslehre das Raster als ein Instrument der Standardisierung und Normierung propagiert (Neufert 1943). Die eigene Zweidimensionalität zu einer Dreidimensionalität auffaltend – hochskalierbar auf das globale Gitternetz der Längen- und Breitengrade, herunterskalierbar auf die Proportionen einzelner Gebäude und Innenräume –, «definiert das Raster [hier] nicht nur den Raum für Architektur, sondern wird selbst Architektur.» (Siegert 2018: 220) Schon zuvor hatte Friedrich Fröbel für seine Kindergarten-Pädagogik als Plattform einen entsprechenden Tisch empfohlen, auf dem der Umgang mit seinen Spiel­ gaben stattfinden solle – «am besten auf einer mit einem Geviert-Netze versehe­ nen Tafel von Holz oder Papier, jede Seite eines Geviertes von der Größe oder Länge einer Breitenkante eines Bauklötzchens» (zit.n. Noell 2004: 25). Abb. 12 Den Gedanken eines mit einem Quadratraster überzogenen Tischs nimmt Ende der 1960er Jahre das italienische Architekturbüro Superstudio wieder auf. Der von diesem ­entworfene Tisch mit dem sprechenden Namen Quaderna weist selbst die

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12 Steiger’s Kindergarten Folding-Table (Klapptisch), 1900, gerastert.

13 Superstudio, Quaderna 2600, 1970, 111 × 111 × 72 cm, Courtesy Zanotta S.p.A., Nova Milanese.

Kubatur eines Bauklotzes auf und kann als ein «bis aufs Äußerste reduzierte[s] Symbol [seiner] selbst» (ebd.) und seines Ursprungs betrachtet werden, mithin als eine gebaute Theorie, die, ähnlich derjenigen von Neufert, das Raster als eine «Hybridisierung von Repräsentation und Operation» (Siegert 2018: 196) freistellt. Abb. 13 Der Fröbel’schen Ästhetik ist Quaderna in diesem Sinne in zweifacher Weise anverwandt: Einerseits ist er einer der Tische, die mit den Bauklötzen – laut Fröbels Anleitung zur vierten Gabe – nachgebaut werden sollten, andererseits ist er selbst das dem Spiel zugrundeliegende System, der Tisch mit dem darauf abgebildeten Quadratraster. Er ist aus dem Spiel hervorgegangen, dessen Grundlage er darstellt. (Noell 2018: 25f.) Und auch in unserer Gegenwart findet sich dieser Gedanke noch: Auf der Website des für seine Cocreate oder Inspirational Spaces werbenden Technologiekonzerns Philips läuft eine Animation, die in der Funktion einer tabula rasa eine gerasterte Schneideunterlage zeigt, auf der ein Blatt Papier entfaltet wird, als wäre es eine Übung von Fröbel, Maria Montessori oder Albers (Philips [2020]). Aufgefaltet zeigt dieses Blatt einen Kreativraum – mit typischem, multifunktionalem Mobiliar: Stau­ kästen Abb. 14–15, die zu Sitzkuben, die zu Seifenkisten werden können, genauso wie es bereits die Bauhaus-Schülerin Alma Siedhoff-Buscher für das von ihr einge­ richtete Kinderzimmer im «Haus Am Horn» entworfen hatte (Siebenbrodt 2004). Ein solches Kreativitätsdispositiv (Reckwitz 2018; Raffnsøe 2018) lässt sich schluss­ endlich auch mit dem Museum betreten, das sich oftmals als ein White Cube (O’Doherty 1996; Grasskamp 2003) gibt, sprich als eine ins Räumliche aufdimen­ sionierte tabula rasa – der Ausstellungsraum im Neuen Museum Nürnberg14 ist 14 Im Neuen Museum Nürnberg zeigte der Verfasser aus Anlass des 100-jährigen Gründungsjubiläums des Bauhaus eine von ihm konzipierte Ausstellung, die zeitgenössische Kreativitätsdispositive auf das Bauhaus zurückführte (Hensel/Eikmeyer/Kraus 2019). Die zweisprachige Publikation zur Ausstellung im Neuen Museum – Staatliches Museum für Kunst und Design Nürnberg besteht aus vier Teilen: Katalog, Reader, Künstlerbuch (Olaf Nicolai) und Tüte (Liam Gillick).

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14–15 Philips, Inspirational Spaces, Screenshot.

16 Neues Museum Nürnberg, Ausstellungssaal, 2019.

17 LEGO, Innovation Room, Billund, 2010.

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dafür nur ein Beispiel, wenn auch ein prominentes. Abb. 16 In seiner Anmutung ist er ­rezenten Kreativräumen oder Innovation Spaces weltumspannender Konzerne verwandt, wie dem LEGO-Innovation Room Abb. 17, der als «a blank canvas for stimu­ lus and ideas» (Groves/Knight 2010: 129) funktionieren soll und hinsichtlich seiner Weißheit und Leere15 dem Nürnberger White Cube in nichts nachsteht. Der Kreis schließt sich, wenn man auch im Ausstellungsraum ein autoritärstes Schöpfungs­ phantasma walten sieht – schließlich ist die Rede vom ‹Kurator als Gott› eine nicht ungebräuchliche (z.B. Friedmann 1997). Doch dies zu behaupten mag eine schel­ mische Eulenspiegelei sein – schließlich hatte doch besagter Till Eulenspiegel das Talent, eine tabula rasa in der Vorstellungswelt ihrer Betrachter als das schönste Bild auf Erden erscheinen zu lassen (Bote 1510/11).

15 «All white: devoid of any colour, the Innovation Room is a blank canvas for stimulus and ideas.» (Groves/Knight 2010: 129)

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Bildnachweise 1

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Wagner, Monika (2004): Die tabula rasa als DenkBild. Zur Vorgeschichte bildloser Bilder. In: Naumann, ­Barbara / ­Pankow, Edgar (Hg.), Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation. Paderborn/München, Fink, S. 79. Wagner, Monika (2004): Die tabula rasa als DenkBild. Zur Vorgeschichte bildloser Bilder. In: Naumann, ­Barbara / ­Pankow, Edgar (Hg.), Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation. Paderborn/München, Fink, S. 78. Privatbesitz Thomas Hensel. Foto: Thomas Hensel.

URL: www.google.de (21.09.2011). Screenshot: Thomas Hensel.

URL: www.yahoo.com/ (12.03.2019). Screenshot: Thomas Hensel. Google, Burning Man Festival. URL: https://www.google. com/doodles/burning-man-festival (29.10.2020). Screen­ shot: Thomas Hensel.

7–8 Google.com, 60 Jahre Stanisław Lems Erstveröffent­ lichung, 23.11.2011. URL: https://www.google.com/dood­ les/60th-anniversary-of-stanislaw-lems-first-publication (29.10.2020). Screenshots: Thomas Hensel.

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URL: https://material.io/design/introduction/# (15.03.2019).

Privatbesitz Thomas Hensel. Foto: Thomas Hensel. © Thomas Hawranke.

Steiger’s Kindergarten Catalogue. New York, E. Steiger & co., 1900, S. 46. URL: https://archive.org/details/steigers­ kinderga00stei/page/46/mode/2up (09.11.2020). Foto: Zanotta S.p.A.

14–15 URL: https://www.philips.com/a-w/cocreatorlab/spaces. html (29.10.2020). Screenshots: Thomas Hensel.

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Foto: Margherita Spiluttini.

Groves, Kursty / Knight, Will (2010): I Wish I Worked T ­ here! A Look inside the most creative spaces in business, ­Chichester, Wiley, S. 129.

Biografie

Dr. Thomas Hensel, Professor für Kunst- und Designtheorie an ­ itglied der Fakultät für Gestaltung der Hochschule Pforzheim. M der Faculty der Donau-Universität Krems, Gründungsdirek­ tor des Institute for Human Engineering & Empathic Design ­Pforzheim (HEED) und Ausstellungskurator. Forschungsschwer­ punkte: ­Medien- und Wissen(schaft)sgeschichte der Kunst­ wissenschaft, Game Studies, Altdeutsche Malerei/Zeichnung, ­Designgeschichte und -theorie, insbes. Bauhaus und Hoch­ schule für Gestaltung Ulm.

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Polygon – Polyfon Bauhaus und Videospiel: Facetten

Der Konnex Bauhaus und Videospiel mutet vielleicht etwas verwegen an: Wo mögen die Zusammenhänge zwischen dem Bauhaus und einer Kunstform bestehen, die sich zur Gründungs- und Blütezeit der Institution wohl selbst die fantasievollsten Zeitgenoss*innen noch nicht vorgestellt haben dürften? In diese Richtung besteht sicher keine Verbindung. Retrospektiv hingegen ist sie leicht nachzuvollziehen: Die Nachwirkungen des Bauhauses auf Architektur, Kultur und Ästhetik, aber auch auf Alltag und Medien der nachfolgenden Generation sind kaum zu überschätzen. Es ist also durchaus naheliegend, auch die Gattung des Videospiels auf Einflüsse des Bauhauses abzuklopfen. Interessant ist allerdings nicht nur die Suche nach sichtbaren Anleihen. Videospiele sind schließlich sorgsam zusammengesetzte technische Kompositionen, die verschiedene visuelle wie auditive Kunstformen miteinander kombinieren – und auch im Bauhaus wurde viel Wert auf das Zusammenspiel der Künste gelegt. So stellt sich nicht nur die Frage nach augenscheinlichen Allusionen, sondern auch die Frage nach dem ‹Ohrenscheinlichen›: Findet sich das Bauhaus-Erbe auch in der Videospielmusik wieder? Anstatt sich zur Beantwortung dieser – bewusst sehr weit gesteckten – Frage in Details und Einzelfallstudien zu verlieren, soll es Ziel dieses Beitrags sein, mögliche Verknüpfungen in dem Geflecht zwischen den vielschichtigen Komplexen Videospiel, Bauhaus und Musik zunächst überblickshaft zu sondieren.

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Bauhaus-Break, 2012, Screenshots 2020.

Videospiel und Bauhaus Ein Zusammenhang zwischen Bauhaus und Spiel muss nicht erst mühsam kon­ struiert werden. Es ist nicht überraschend, dass sich das so vielgestaltige und – dem Zeitgeist folgend – auf Ganzheitlichkeit ausgerichtete Bauhaus auch dem «homo ludens»1, dem spielenden Menschen, gewidmet hat. Ein beeindruckender Beleg für diese Auseinandersetzung sind die mehr als 100 Exponate, die Thomas Hensel und Robert Eikmeyer 2019 in der Ausstellung Bau [ Spiel ] Haus zusammengetragen haben, darunter Spielzeug der Bauhaus-Studentin Alma Siedhoff-Buscher, die 1923 u.a. das bis heute bekannte Bauklötzchen-Ensemble Kleines Schiffbauspiel schuf.2 Siedhoff-Buscher entwarf für die wirkmächtige Bauhaus-Ausstellung des gleichen Jahres im Musterhaus Am Horn gemeinsam mit Erich Brendel ebenfalls ein ganzes Kinderzimmer, ausgestattet mit polyfunktionalen Möbeln, die immer auch zum kreativen Spielen geeignet sind. Damit standen und stehen sie exem­plarisch für ein zentrales anthropologisches wie pädagogisches Prinzip des ­Bauhauses, dessen Prägung durch (Reform)Pädagog*innen wie Maria Montes­sori oder Friedrich Fröbel, der schon im 19. Jahrhundert Kinderspielzeug in Zylinder-, Kugel- und Würfelform anpries, unverkennbar ist: Kreative Tätigkeit wird als Teil der menschlichen Natur betont (Marquardt 2019). Nicht zuletzt leistete das Kinderzimmer einen wichtigen Beitrag zur Außenwirkung des Bauhauses als eine auf ganzheitliche Ästhetik und Pädagogik ausgerichtete Bildungsinstitution. Zahlreiche Spielzeuge des 20. Jahrhunderts lassen sich in die Tradition schöpferischen Spiels stellen. Das berühmteste Beispiel sind, neben den ungebrochen populären schlichten Bauklötzen aus Holz, wohl die Kunststoff-Bausteine des 1

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Spätestens mit dem Erscheinen von Johann Huizingas Monografie Homo Ludens 1938 etablierte sich dieser Begriff für die Idee, der zufolge Spielen (eine freie, zielgerichtete, vom Alltag losgelöste und um ihrer selbst willen ausgeübte Tätigkeit mit in sich geschlossenem, absolutem Regelsystem) als anthropologische Konstituente zu verstehen ist. Dieses Konzept und Huizingas Schrift fanden auch Eingang in die Game Studies (Rodriguez 2006). Neues Museum Nürnberg, 22. März bis 16. Juni 2019 (siehe Neues Museum 2019).

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Minecraft, 2011: Level von User jduartemiller, Bauhaus School of Architecture Modernist Build, Screenshot 2020.

Starship Titanic, 1998: Puzzle-Kabine der «Super Galactic Traveller Class» mit ausfahrbaren Möbeln. Ziel ist es, vom Bett aus, den Fernseher oben links in Betrieb zu nehmen. Über das Fernsehprogramm erfährt die Spieler*in von der Möglichkeit eines kostenlosen Upgrades in die zweite Klasse, Screenshots 2020.

dänischen Unternehmens Lego.3 Kreative und konstruktive Tätigkeit ist auch in unzähligen Videospielen ein zentrales Element: Vom populären Konstruktionsspiel Minecraft4 (2011), in dem Millionen von Spieler*innen in einer offenen MultiplayerSpielwelt ohne fest vorgegebenes Spielziel aus virtuellen Bausteinen alle erdenklichen realen Gebäude nachbauen oder neue Gebäude konstruieren, bis hin zu Simulationen wie denen der SimCity-Reihe (1989–2014), in denen ganze Städte entworfen und verwaltet werden. Einflüsse der Bauhaus-Bewegung auf die Welt der Videospiele lassen sich schnell finden. Auf abstrakter Ebene greifen zahlreiche Spiele Formen- und Farbenlehre des Bauhauses auf, wie etwa das 2D-Casual-Puzzle-Game Bauhaus-Break (2012). Abb. 1 3 4

In seiner Architecture-Reihe zollte der weltgrößte Spielzeughersteller auch einigen Bauhaus-Architekten Tribut, indem er Sets wie das Farnsworth House von Ludwig Mies van der Rohe in das Sortiment aufnahm (Artikelnummer 21009, 546 Teile). Das ursprünglich als Independent-Game entwickelte und inzwischen von Microsoft vertriebene Minecraft ist mit nach Angaben des Publishers über 176 Millionen Verkäufen mutmaßlich das meistverkaufte Videospiel der Welt (Persson 2019; Macgregor 2019).

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Polygon – Polyfon

Gegenständliche Anleihen an Bauhaus-Architektur und -Design finden sich hingegen vor allem in der Levelgestaltung von 2,5D-/3D-Spielen, und auch die Spieler*­innen-Gemeinschaft steuert ihren Teil dazu bei. So hat etwa ein Fan des frühen First-Person-Shooters Doom II (1994) der Community vier Bauhaus-Level zur Verfügung gestellt.5 In der weiten Spielwelt von Minecraft gibt es gleich ­mehrere Nachbauten des Dessauer Bauhauses aus virtuellen Bausteinen und in dem ­öffentlich geförderten Wettbewerb «Baukraft. Gropiusstadt reloaded» von 2016 wurden 12- bis 18-jährige Minecraft-Spieler*innen dazu ermutigt, ihre virtuell realisierte Vision der Berliner Gropiusstadt einzusenden.6 Abb. 2 Etwas subtiler ist da eine kleine Bauhaus-Hommage der Leveldesigner*innen des Spiels Starship Titanic (1998), Oscar Chichoni und Isabel Molina, beide bekannt für ihre Mitarbeit am Oscar-prämierten Film Restauration – Zeit für Sinnlichkeit aus dem Jahr 1995. Das First-Person-Point-and-Click-Adventure aus der Feder von Douglas Adams, Autor des Kultromans britischen Humors The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (1979) versetzt Spieler*innen auf das titelgebende Raumschiff Titanic. Sowohl die äußere Erscheinung des gigantischen Schiffs als auch das in – für den Erscheinungszeitraum – aufwändiger und detailreicher Grafik gestaltete dekadent-­ luxuriöse Interieur sind vorwiegend im Art-Deco-Stil gehalten. Säulen, gold-, g ­ rün-, oder metallisch-glänzende Verzierungen, schimmernde Marmorböden und ­-wände prägen das Erscheinungsbild. Doch einzelne Elemente erinnern an den ‹BauhausStil›, wie etwa geometrische Möbel und Tischlampen mit halbkugelförmigen Schirmen. Das menschenleere Raumschiff wird – typisch für Adams’ skurrilen Humor – lediglich von der ausschließlich aus defekten, verrücktspielenden Robotern bestehenden Besatzung bevölkert. Die Aufgabe der Spieler*in ist es, das beschädigte Schiff zu reparieren und vor der Zerstörung zu retten, wozu zahlreiche Rätsel gelöst werden müssen. Schon kurz nach Beginn des Spiels findet sich die Spieler*in, so der Werbetext Adams’, «schnell im Griff einer der mächtigsten dem Menschen bekannten Kräfte wieder: Dem Wunsch nach einem kostenlosen Upgrade» (Star­ ship Titanic, CD Back Cover). Denn zunächst ist sie/er nur Reisende*r der «Super Galactic Traveller Class» – einer Art Economy Class. Wie sehr «Economy», stellt man fest, wenn man seine/ihre Kabine betritt. Sie erweist sich als Kubus mit einer Kantenlänge von wenigen Metern und wirkt auf den ersten Blick leer. Abb. 3 Die modu­ lare Möblierung verbirgt sich hinter der im Stil Piet Mondrians7 getäfelten Rückwand: Mithilfe einer Fernbedienung können die einzelnen Möbel-Module aus- und eingefahren werden. Nicht nur erinnert die Geradlinigkeit und die Reduzierung auf Primärfarben der einzelnen Einrichtungsgegenstände an Bauhaus-Möbel, das gesamte Konzept und die betont sachlich-technische Beschreibung der einzelnen Einrichtungsgegenstände («Floral Enhancement» für eine Blumenvase, «Executive horizontal worksurface» für Schreibtisch oder «Major semi-recumbent relaxation device» 5 6 7

Map-Set «B/\|_||-|/\|_|S», von einem Benutzer unter dem Pseudonym «Didy» 2014 veröffentlicht. URL: https://www.doomworld. com/idgames/levels/doom2/Ports/a-c/bauhaus (07.11.2020). Informationen zum Wettbewerb, Bilder und Videos der Gewinner-Entwürfe. URL: https://www.bauhaus-spirit.com/de/b-lab.html (07.11.2020) Piet Mondrian ist zwar nicht dem Bauhaus zuzuordnen, jedoch fanden viele Ideen der von ihm mitbegründeten niederländischen Künstlerbewegung De Stijl Eingang in die Bauhaus-Ästhetik, vermittelt etwa durch den De-Stijl-Mitbegründer Theo van Doesburg, der am Weimarer Bauhaus zeitweilig Privatunterricht zu architektonischer Gestaltung anbot.

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für einen Sessel) sind eine humoristische Anspielung. Einerseits zielt sie überspitzt auf die im Bauhaus zentrale Idee der Zweckmäßigkeit auch auf kleinstem Raum, andererseits spielt sie mit der Fallhöhe zwischen dem in den 1920er Jahren ­allgegenwärtigen utopischen Topos des Menschen im Maschinenzeitalter und seiner dystopischen Einlösung in Adams’ Zukunftsfiktion. Über solch evidente Anspielungen und Anleihen hinaus lassen sich auch konzeptionelle Verbindungen zum Bauhaus konstruieren. Vor allem in frühen Videospielen werden Parallelen zu wesentlichen Gestaltungsprinzipien der Bauhaus-Ästhetik sichtbar. Drei Parallelen sind besonders auffällig. Erstens findet sich gerade zu Beginn der Entwicklungsgeschichte des Videospiels eine klare Hinwendung zu elementaren Geometrien. So wie sich im Bauhaus auf Grundformen wie Kreis, Recht- und Vielecke besonnen wurde, setzen sich Videospiele (bis heute) vollständig aus letzteren zusammen – den Polygonen. In älteren Spielen sind die überschaubaren Geometrien deutlich sichtbar, etwa im Spiel Pong (1972). Abb. 4 Erst mit zunehmenden technischen Möglichkeiten wurde ihre Größe verringert und zugleich ihre Dichte so weit erhöht, dass sie in einer hochauflösenden Gesamtdarstellung aufgehen. Die Verwendung von Isometrie, wie sie auch von Architekt*innen und Designer*innen verwendet wird, war in der Entwicklung von 3D-Videospielen ein Meilenstein und begründete die bis heute gepflegte Darstellungsform isometrischer Spiele. Als Beispiel kann etwa das Life Simulation Game The Sims (2000) dienen, das auch thematisch nah am Bauhaus liegt – geht es in dem Spiel doch u.a. um das Entwerfen, Bauen und Einrichten eines Eigenheims. Bemerkenswert ist, dass die stets rechtwinklig angeordneten Konstruktionen und Einrichtungen in The Sims sich ebenso fix an den quadratischen Bodenkacheln orientieren wie die Ausstattungsdesigns, die sich etwa in den Skizzen von Bauhaus-Künstlern wie Herbert Bayer wieder finden.8 Abb. 5 Dass in diesem Spiel, nebenbei bemerkt, vor allem in der Möbelauswahl zahllose Bauhaus-Allusionen zu finden sind, ist wohl nicht überraschend. Abb. 6 Eine zweite Parallele zwischen Bauhaus und Videospiel ist die Farbenlehre. Die Feststellung mag trivial erscheinen, aber wie auch die Künstler des Bauhauses – man denke an Johannes Itten – das Farbspektrum zerlegt und systematisiert haben, funktioniert auch das Design von Videospielen technisch bedingt nicht ohne einen systematisierten und definierten Farbraum. Allerdings wird im Gegensatz zur Malerei –­ebenfalls technisch bedingt – auf den additiven Farbraum RGB (Red-Green-Blue) zurückgegriffen. Die dritte hier skizzierte Parallele zwischen Videospiel und Bauhaus-Ästhetik geht über die praktische Umsetzung hinaus und betrifft die konzeptionelle Ebene. Konkret eint beide Bereiche das zugrundeliegende Ideal der Zweckmäßigkeit: Nutzbarkeit, Funktionalität und Wirtschaftlichkeit sind sowohl im Bauhaus-Design als auch in der Produktion von Videospielen zentrale Faktoren, die in ästhetische Entscheidungen einfließen.

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Auf die konstitutive Bedeutung von geometrischen Rastern für Architektur und Design des Bauhauses verweist Thomas Hensel im vorliegenden Band.

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Pong, 1972: Mithilfe der «Schläger» wird ein «Ball» hin und her gespielt, Screenshot 2006.



Herbert Bayer nach einem Entwurf von Walter Gropius, Isometrie des Direktorenzimmers im Bauhaus, Weimar, 1923, kolorierte Zeichnung, Stiftung Bauhaus Dessau, I 14280 G.



Die Sims, 2000, Screenshot 2020.

Videospiel und Musik Computerspiele sprechen zumeist viele Sinne gleichzeitig an: Bild, Klang und oft auch taktiles Feedback sollen ein möglichst umfassendes Erleben der Spielwelt ermöglichen. Im Falle der aufkommenden VR-Technologie wird die immersive Qualität dadurch noch gesteigert, dass die Spieler*innen von der Wahrnehmung der realen Außenwelt zusätzlich abgeschirmt werden. Klang und Musik sind integraler Bestandteil dieser multisensuellen Inszenierung. Dies gilt bereits seit der Frühzeit des Computerspiels: Schon für die ersten Arcade-Automaten mit ihren limitierten technischen Möglichkeiten nutzten die Konstrukteure die ihnen verfügbaren Mittel, um den bis heute charakteristischen Sound zu erzeugen – zunächst vorrangig zu dem Zweck, die Aufmerksamkeit potenzieller Spieler*innen auf die Geräte zu lenken (Collins 2008: 9ff.). Die Funktion der Musik im Konzept der jeweiligen Spiele hat sich in den folgenden Jahrzehnten gewandelt und diversifiziert.9 In der Regel übernimmt Musik eine funktionale Rolle. Zum einen vermittelt sie etwa Spielinformationen an die Spieler*in: Dem Spielgeschehen und den Eingaben der Spieler*in folgend unterstützt und erweitert sie die Kommunikation zwischen Spiel und Spieler*in – sie ist somit Teil der Interaktions-Schnittstelle, des Interfaces (Summers 2016: 140; Schwinning 2019). Zum anderen tragen Musik und Sound – wie erläutert – zur Immersion bei. Musik gibt der Spielwelt eine auditive Textur, stützt die Dramaturgie und vermag das Spiel über die visuelle Darstellung hinaus zu strukturieren, wodurch den Spielenden die dramatische, zeitliche oder topografische Orientierung erleichtert wird (Summers 2016: 58–69). Ein Beispiel für diese Funktion der Texturierung finden wir in Paul Wickens Soundtrack zu Douglas Adams’ Starship Titanic: Während wir auf der Fahrt im Glasaufzug von der Ebene der «Super Galactic Traveller Class» die Ebenen der zweiten und ersten Passagierklassen durchqueren, ändert sich analog zur Dekoration des Schiffsinneren die Färbung der seichten Fahrstuhlmusik – von billigem Midi-Klavier-Sound über leichten Jazz hin zu klassizistischem Streicherklang. Abb. 7 Musik trägt also zu einem konsistenten Erleben der Spielwelt bei. Konsistenz ist hierbei das Schlüsselwort: Aus den visuellen, auditiven und gegebenenfalls hapti­ schen Eindrücken des Spiels vervollständigt sich in der Fantasie der Spielenden die Spielwirklichkeit. Je geschickter diese Anordnung erfolgt (wie übrigens auch beim Betrachten eines Filmes), desto glaubwürdiger – konsistenter – erscheint diese Wirklichkeit. Ihre Funktion können Musik und Klang vor allem dank zweier Effekte erfüllen: Einerseits erweitern Klänge die multisensuelle Wahrnehmung der konstruierten Objekte im Spiel und ermöglichen dadurch gemäß des Konzepts der intermodalen Integration ein volleres Erleben des Geschehens (Huestegge 2014: 812), andererseits kann Musik durch ihre eigene Kontinuität Schnitte und räumliche oder zeitliche Brüche in der visuellen Darstellung überbrücken (Kreutzer u.a. 2014: 125f.). Beides führt zu einer konsistenten Wahrnehmung der virtuellen Wirklichkeit. Der Computerspielmusikforscher Tim Summers geht noch einen Schritt weiter: Ihm zufolge kann Musik auch dazu dienen, den Spieler der Regelhaftigkeit des 9

Während (vor allem in Casual Games) Musik lediglich als eine vom Spielgeschehen weitgehend unabhängige Hintergrundmusik erklingt, gibt es ganze Genres, in denen Musik der Spielgegenstand ist – etwa Musikspiele à la Guitar Hero (2005). Dazwischen liegt die gesamte Bandbreite verschiedenartiger Konzepte der Musikeinbindung.

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Starship Titanic, 1998, Annäherungsweise Transkription der Fahrstuhl­musik aus dem Originalsoundtrack, Fahrt von der «Super Galactic Traveller Class» in die erste Klasse.

Spiels zu versichern. Gerade in Spielen, in denen komplexe Systeme simuliert werden – etwa in SimCity 2000 (1993) – kommt nach Summers häufig regel­mäßige Musik mit spürbar ‹soliden› rhythmischen und satztechnischen Fundamenten zum Einsatz. Sie soll so Stabilität und Kontinuität der Gesetzmäßigkeiten der simu­lierten Systeme vermitteln, die ja letztlich im Gegensatz zu den reellen Vorbildern lediglich der Willkür der Entwickler entsprungen sind (Summers 2016: 104–109).

Bauhaus und Musik Das vielschichtige Thema Bauhaus und Musik soll an dieser Stelle nur knapp angerissen werden. Auch wenn Musik nicht die erste Kunstform ist, die man mit dem Bauhaus verbindet, ist ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen. So gab es einige Verflechtungen zwischen Bauhaus-Künstler*innen und Musiker*innen, die sich am deutlichsten im Musiktheater manifestierten. Oskar Schlemmer etwa gestaltete 1921 Szenerie und Choreografie für die Stuttgarter (Skandal-)Uraufführungen der

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zwei Hindemith-Einakter Mörder, Hoffnung der Frauen und Das Nusch-Nuschi (Woiters 2018). Abb. 9 In den späten 1920er Jahren wurde die Berliner Krolloper unter der Leitung Otto Klemperers zu einem Hort avantgardistischer künstlerisch-musikalischer Zusammenarbeit – unter Mitwirkung prominenter Bauhaus-Künstler. Von Ewald Dülberg stammten die Bühnenbilder für Klemperers Neuinterpretationen von Beethovens Fidelio Abb. 8 und Mozarts Don Giovanni; László Moholy-Nagy entwarf u.a. die Szenen für Offenbachs Hoffmanns Erzählungen und Hindemiths Hin und zurück (Konold 2016). Einige der Künstler betätigten sich auch musikpraktisch. Lyonel Feininger komponierte 13 Fugen in Nachahmung Bach’scher Polyphonie, und eine Bauhaus-Band sorgte mit zum Teil selbst gebauten Instrumenten bei Feiern für Unterhaltungsmusik (Jewanski 2016; Schoon 2006: 53f.; Ganter 2012: 186ff.). Moholy-Nagy verfasste Aufsätze, in denen er die Möglichkeiten des Grammofons als Instrument in Musikkompositionen auslotete (Moholy-Nagy 1923; ders. 1922). Musik hatte vor allem im frühen Weimarer Bauhaus auch ihren Platz in der Lehre. Johannes Itten etwa stand in engem Austausch mit Josef Matthias Hauer, dem Urheber des Zwölftonspiels, eines stark spirituell und weltanschaulich geprägten zwölftönigen Kompositionssystems. Abb. 10 Itten und Hauer inspirierten sich dabei gegenseitig: Hauer bezog Farben und Klangintervalle in einem Klangfarbenkreis aufeinander – eine Idee, die Itten daraufhin in seine Farbenlehre einfließen ließ (Schoon 2006: 49). Im Gespräch, aber nie realisiert, waren anscheinend auch die gemeinsame Gründung einer Musikschule oder das Engagement Hauers als Lehrer am Bauhaus (ebd.). Auch außerhalb von Ittens Kursen war die Idee eines ganzheitlichen Verständnisses von Farbe und Klang durchaus verbreitet. Maßgeblich befördert wurde diese, bisweilen ins Esoterische abgleitende, ganzheitliche Tendenz durch die Musikerin Gertrud Grunow, die von 1920 bis 1924 am Bauhaus das Grundfach Harmonisierungslehre unterrichtete und von deren Anschauungen sich viele ihrer Kollegen – bis hin zu Walter Gropius – beeindruckt zeigten (ebd.: 45ff.). Grunow vermutete, dass jede Klang- wie Farbvorstellung, und damit jede musikalische wie künstlerische Tätigkeit, auf gemeinsame, natürlich gegebene Grundmuster körperlicher Haltung und Bewegung zurückzuführen sei. Daraus leitete sie fest miteinander verknüpfte Farb- und Klangkreise sowie zyklische Folgen von Bewegungen, Körperhaltungen und psychischen Zuständen ab. Ihre Lehre kreiste um das Gleichgewicht von Körper und Seele, ebenso wie um das Gleichgewicht elementarer auditiver und visueller Sinnesreize (ebd.; Burchert 2018: 17–22). Durch Übungen mit Klängen, Farben und rhythmischen Bewegungen sollten die Studierenden, ohne die theoretischen Hintergründe vorher zu kennen, die von Grunow konstatierten natürlichen Zusammenhänge eigenständig ergründen (ebd.). Solche und ähnliche synästhetische Vorstellungen waren im Bauhaus durchaus verbreitet: Berühmte Beispiele sind nicht zuletzt Paul Klees Bilder der «polyphone[n] Malerei» (Klee 1957: 382) und die Film-Ton-Kunstwerke Ludwig Hirschfeld-Macks. Die Verwendung musikalischer Terminologie in zahlreichen Werktiteln, seien es Wassily Kandinskys «Kompositionen» und «Improvisationen» oder Klees «Fugen», weisen in die gleiche Richtung (Burchert 2018: 128).

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Ewald Dülberg, Szenen-Konzept zur Aufführung des Fidelio in der Berliner Krolloper, 1927.



Oskar Schlemmer, Szenen-Entwurf für die Aufführung von Paul Hindemiths Das Nusch-Nuschi, Stuttgart, 1921, Foto: Auktionshaus Nagel, Stuttgart.



Josef Matthias Hauer, Die Intervalle der zwölftönigen Temperatur, chromatisch angeordnet, 1919, Buntpapier, geklebt, Tinte, Bleistift auf Papier, 34 × 21 cm, Sammlung Dieter und Gertraud Bogner, museum moderner kunst stiftung ludwig wien, Inventarnummer: MG 212/2.

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Bauhaus, Videospiel, Musik Die Paare Bauhaus – Videospiel, Videospiel – Musik und Bauhaus – Musik lassen sich offenbar durchaus sinnvoll in Beziehung setzen. Doch welche Schnittflächen lassen sich daraus nun zwischen allen drei Komponenten ableiten? Berührungsstellen kristallisieren sich auf mindestens zwei Ebenen heraus: zum einen auf der konzeptionellen Ebene ästhetischer Prinzipien, zum anderen auf der praktischen Ebene von Komposition, Produktion und Rezeption. Zunächst das Naheliegende: Eine gemeinsame ästhetische Leitidee, die zahlreiche Spieleentwickler mit Bauhauskünstlern wie Kandinsky und Klee teilen, ist die synäs­ thetische Grundausrichtung. So wie die Meister ihre Werke als sinnesübergreifend verstanden, konstruieren die Programmierer Spielwelten, die mit möglichst vielen Sinnen zugleich erfasst werden sollen. Musik, Sound, Bewegtbild und Haptik (man denke an vibrierende Controller, Joysticks oder Smartphones) fügen sich zu einem gesamtheitlich erfahrbaren Werk zusammen.10 Dies führt zu einer weiteren konzeptionellen Gemeinsamkeit: Die sorgsam aufeinander abgestimmten künstlichen Sinneseindrücke stehen dabei im Dienste übergeordneter Funktionalität. Denn ein Spiel muss funktionieren; es muss eine konsistente, authentische Umgebung ­erschaffen, Narration und Ludition11 tragen und die Spieler*innen des festgesetzten Regelsystems versichern – sonst ist es allenfalls ein Spielzeug. Damit folgen die meisten Spiele dem auch im Bauhaus weit verbreiteten Prinzip, demnach gerade bei Alltagsgegenständen das Design dem Anspruch der Benutzbarkeit gerecht werden sollte. Dies führt auch zu einem konzeptionellen Berührungspunkt. Der Entwicklungsprozess von Videospielen erinnert neben Funktionalität und Wirtschaftlichkeit an ein weiteres Gestaltungsprinzip des Bauhauses: Zur Fertigung des Produkts gehen Kunst und Technik Hand in Hand. Bild- und Klangkunst ­verbinden sich mit Programmiertechnik. Für die Entwicklung der inzwischen oft von hochkomplexen Grafik- und Soundengines angetriebenen Spiele bedarf es sowohl technischen Knowhows als auch Kreativität, ästhetischer Konzeption und künstlerischer Gestaltungskraft. Schwieriger ist es, Schnittflächen zwischen Videospiel, Bauhaus und Musik auf einer praktischen Ebene zu finden. Während es zahlreiche Belege für die visuelle Bauhaus-Rezeption in Spielen gibt, ist eine musikalische Rezeption nur schwerlich zu verifizieren. Ein möglicher Grund dafür ist, dass es keinen Musikstil gibt, der mit dem Bauhaus in Verbindung gebracht wird. Videospielmusik arbeitet mit Zitaten, Allusionen, Imitationen, Exotismen und Klischees, um Assoziationen zu wecken. Asiatisch anmutende pentatonische Melodien sollen einen geografischen Kontext geben, Lautenmusik in vergangene Zeiten versetzen.12 Raumschiff Titanic kann musikalisch nicht direkt auf das Bauhaus anspielen und ebenso wenig auf den Art 10 Thomas Hensel zieht eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Erschaffung der Spielwelten und dem kulturgeschichtlichen Motiv der Schöpfung aus dem Nichts. Die leeren Level zu Beginn des Prozesses vergleicht er dabei mit der sprichwörtlichen tabula rasa. Beides bringt Hensel mit dem Bauhaus in Verbindung: Künstlern wie Kandinsky und Itten galt die geglättete tabula rasa – im wörtlichen wie auch im auf den menschlichen Geist übertragenen Sinne – analog zur Farbe Weiß als Ausgangspunkt gestalterischen Potenzials (Hensel im vorliegenden Band). 11 Ludition ist das spielmechanische Gegenstück zur Narration, das sich aus den formalen Strukturen eines Spiels zusammensetzt, wie etwa dem Regelsystem und den Handlungsoptionen der Spieler*innen (Koubek 2013: 17–32). 12 Die verwendeten kompositorischen Mittel müssen dabei wohlgemerkt nicht wirklich originär asiatisch oder mittelalterlich sein – die Texturierung funktioniert assoziativ.

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déco-Stil, denn beidem lässt sich keine Musikrichtung eindeutig zuordnen. So verbleibt allenfalls, mit neoklassizistischen Klängen oder jazzartiger Tanzmusik auf die Epoche der klassischen Moderne zu verweisen. Lediglich auf einer ideellen Ebene stellen die Entwickler punktuell eine Verbindung her. Der Topos des Menschen im Maschinenzeitalter, der als dystopische Anspielung auf die utopischen Vorstellungen der 1920er Jahre das gesamte Spiel durchzieht, betrifft an einer Stelle auch die Spielmusik: In einem der zu lösenden Rätsel gilt es, von einem elektronischen Dirigentenpult aus die Schiffsband zu leiten – bestehend selbstverständlich aus selbstspielenden Roboterinstrumenten. Es finden sich jedoch auch darüber hinaus Korrelationen: So wie etwa Feininger sich intensiv mit polyfoner Musik auseinandersetzte, war auch die Musik in Videospielen über lange Jahre polyfon geprägt. Berühmt ist etwa die Musik zu The ­Legend of Zelda (1989), in charakteristischem 8bit-Sound. Ist hier vielleicht eine Parallele zwischen Videospiel und Bauhaus zu konstatieren? Ist in der visuellen Gestaltung früher Spiele – Isometrie, Polygone, geometrische Formen – und ihrer polyphonen, in der Klangfarbe beschränkten Musik eine ästhetische Rückbesinnung, ein Experimentieren mit elementarer Form, Farbe und Material zu sehen? Auch in anderen Kunstformen hat es solche selbstreflexiven Phasen gegeben, man denke an den Absoluten Film der 1920er Jahre oder die Neue Musik der 1960er und 1970er Jahre. Obwohl die Entwicklung von Videospielen, allein aufgrund ihrer Neuartigkeit, ­häufig experimentell und avantgardistisch war und ist, ist der Grund für die visuell und klanglich einfache Gestaltung früher Spiele wohl eher ein pragmatischer als ein ästhetischer: Er ist wohl schlicht in der technischen Limitierung früher Computer und Konsolen zu suchen. Das Darstellungsvermögen von Bildschirmen und GrafikHardware entwickelte sich nur schrittweise vom schwarz-weißen bzw. schwarzgrünen, zweidimensionalen Binärbild hin zu den beinahe fotorealistischen Möglichkeiten des Echtzeit-3D-Renderings in 24-bit-Farbtiefe heutiger Rigs. Ähnlich verhält es sich beim Sound. Zu Beginn der Computer-Evolution arbeitete man mit Spannungsspitzen in den Schaltkreisen, um Klang zu erzeugen. Erst Soundchips wie der Sound Interface Device-Chip (SID) des C64 von 1982 ermöglichten die Erzeugung von Mehrkanalton, die so genannte 8-bit-Ära begann – später gefolgt von der 16-bit-Ära, in der Techniken wie Frequenzmodulierung und Sampling das Spektrum der Klangfarben erweiterten. Geringer Speicherplatz und limitierte ­Kanäle verhinderten allerdings die Entfaltung komplexer Musik, sodass verhältnismäßig kurze Musik zum Einsatz kam, die dafür jedoch die Mittel der Polyphonie nicht selten kunstvoll ausschöpfte. Erst mit der CD konnten Spiele auf Musik auf aufgenommene Samples zurückgreifen und die Entwicklung zur modernen Videospielmusik in oftmals cineastischer Qualität nahm ihren Lauf (Stark 2018). E ­ ntwickler früher Videospiele waren also in der Wahl ihrer gestalterischen Mittel beschränkt. Was sie allerdings nicht daran hinderte, aus dieser Not eine Tugend zu machen: So entfaltete sich eine eigenständige audiovisuelle Ästhetik, die bis heute nachwirkt – und die tatsächlich gelegentlich an die Avantgardisten des Bauhauses denken lässt.

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Ausblick Was bleibt nun von der Betrachtung des Dreiecksverhältnisses Bauhaus – Videospiel – Musik? Es gibt viele Facetten in dieser Konstellation, über die sich nachzudenken lohnt: Seien es übereinstimmende Gestaltungsprinzipien wie Funktionalität und Zweckmäßigkeit, ästhetische Parallelen wie die Reduktion auf basale Geometrien und Polyfonie, oder der vergleichbare ganzheitliche Ansatz der Erzeugung eines künstlerisch-handwerklichen Produkts. Auch aus Sicht der Rezeptionsforschung gibt es vor allem im visuellen Bereich zahlreiche Bauhaus-Bezüge in Spielen zu entdecken. Schwieriger ist es hingegen, klare Zusammenhänge in der Beziehung Bauhaus – Videospielmusik auszumachen. Hier scheinen die meisten der betrachteten Korrelationen nicht mehr als bloße Koinzidenzen zu sein. Dennoch lohnt es sich, auch digitale (Spiel-)Welten mit offen Augen und Ohren zu betreten. Sowohl das eingehende Studium der Entwicklungsumstände früher Spiele als auch die Ausweitung der Recherche im Bereich moderner Spiele könnten hier immer noch Hinweise auf tiefergehende Verbindungen zu Tage fördern. Es bleibt allerdings zu bedenken, dass das Videospiel in seiner Pluralität selbst das Bauhaus noch übertrifft: Die Anzahl der Entwickler*innen und die Vielfalt der Umsetzungen ist gewaltig und reicht vom in liebevoller Eigenarbeit programmierten Independence-Game zum millionenschweren, in großen Studios aufwändig produzierten Triple-A-Titel. Mindestens ebenso divers sind der Fächer ästhetischer Prinzipien und die individuelle Tiefe der Reflexion, die hinter den jeweilige Spielen stehen. Sucht man nach Parallelen zwischen Videospiel und Bauhaus, sind Einzelfalluntersuchungen daher die unerlässliche Basisarbeit.

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Bildnachweise 1

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Michel McBride-Charpentier (2012): Bauhaus-Break, iOS, USA, Publisher: Viewport Games (independent). Screenshots: Reinke Schwinning.

Markus Persson (2011): Minecraft, Mojang, SWE, Pub­ lisher: ­Mojang. Level: jduartemiller, Bauhaus School of ­Architecture Modernist Build. URL: https://www.planetminecraft.com/project/bauhaus-school-of-architecture-modernist-build/ (07.11.2020). Screenshot: Reinke Schwinning. Douglas Adams (1998): Starship Titanic, The Digital V ­ illage, GB, Publisher: Simon & Schuster. Screenshots: Reinke Schwinning.

4 Allan Alcorn (1972): Pong, Atari, USA, Publisher: Atari. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pong.png (07.11.2020).

5 URL: https://www.bauhauskooperation.de/wissen/dasbauhaus/werke/architektur/isometrie-direktorenzimmerweimar/ (01.12.2020). © Gropius, Walter, VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / © Bayer, Herbert, VG Bild-Kunst, Bonn 2020. 6 7 8

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Will Wright (2000): Die Sims, Maxis, USA, Publisher: EA Games. Screenshot: Reinke Schwinning.

­ illage, Douglas Adams (1998): Starship Titanic, The Digital V GB, Publisher: Simon & Schuster. Transkription: Reinke ­Schwinning. Hans Curjel (1975): Experiment Krolloper 1927–1931. Aus dem Nachlaß hg. von Eigel Kruttge. München, Prestel. URL: https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Ewald_D%C3%BClberg_ Fidelio_4._Bild.jpg (07.11.2020).

Oskar Schlemmer (1921): Szenen-Entwurf für die Aufführung von Paul Hindemiths Das Nusch-Nuschi. Aus dem Nachlass eines Bühnenbildners und Vorstandschefs der Gewandabteilung des Königlichen ­Hoftheaters. Dank gilt dem Auktionshaus Nagel, Stuttgart, für die freundliche ­Bereitstellung der Abbildung.

10 URL: https://medienarchiv.zhdk.ch/entries/socospa_diagram_5105 (07.11.2020). Biografie

Reinke Schwinning, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische Musikwissenschaft der Universität Siegen. Promotion 2017 über die Musikphilosophie Ernst Blochs in dessen frühem Hauptwerk Geist der Utopie. Forschungsschwerpunkte: Musikphilosophie, kulturelle Netzwerke und Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Videospielmusik.

Pädagogik und Gestaltung

Einleitung

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André Schütte, Phillip D. Th. Knobloch Da sich das Bauhaus bekanntlich der Ausbildung zur modernen Gestaltung unterschiedlichster Gegenstände und Bereiche widmete, kann diese Schule zweifellos als pädagogische Institution in den Blick genommen werden. Die hier vertretene Praxis des guten Gestaltens richtete sich jedoch nicht nur auf Gebrauchsgegenstände, Gebäude und Dienstleistungen, sondern auch auf komplexe ökonomische Systeme und soziale Strukturen. So formulierte etwa der Bauhausdirektor Hannes Meyer den Anspruch, dass die gesamte Arbeit des Bauhauses auf die harmonische Gestaltung der Gesellschaft ziele. Entsprechend haben auch Forschungsarbeiten zum Bauhaus immer wieder betont, dass und wie die verschiedenen Bauhaus-­ Tätigkeiten auf die Modellierung und Organisation der Lebenswelt ausgerichtet waren. Es fällt allerdings auf, dass der Tatsache bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dass die Gestaltungsleistungen des Bauhauses auch immer auf die Formung ‹wohlgestalteter Menschen› (Gropius) ­abzielten. Denn nicht nur durch die Ausbildung von Bauhaus-Schüler*innen, sondern auch durch die durch das Bauhaus reali­ sierten Siedlungen, Gebäude, Möbel oder Gebrauchsgegenstände sollte auf Menschen gestaltend eingewirkt werden. Vor diesem Hintergrund fokussieren die im Folgenden unter dem Titel Pädagogik und Gestaltung versammelten Beiträge das Bauhaus und seine Gestaltungspraxis aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive. Sie widmen sich auf unterschiedliche Weise Schnittmengen gestalterischer und pädagogischer Diskurse und Praktiken im und um das Bauhaus. Hierbei

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werden zum einen historische und syste­ matische Schwerpunkte gesetzt. Zum anderen beziehen die Beiträge explizit die materielle Dimension von Bauten und Dingen in ihre Überlegungen ein. Schließlich geht es aber auch um die Frage, ob und wie die pädagogischen Ansprüche des Bauhauses noch in die Gegenwart reichen. Die Beiträge von Clemens Bach und André Schütte zeigen in historisch-systema­ tischer Hinsicht auf je unterschiedliche Weise Verbindungen zwischen Bauhaus und Pädagogik auf. Während Bach das pädagogische Denken des Bauhaus-­ Meisters László Moholy-Nagy rekonstruiert, analysiert Schütte den Einfluss des Bauhauses auf den Pädagogen Wilhelm Flitner. In seinem Beitrag Reformpädagogischer Technikoptimismus zeigt Clemens Bach Grundzüge der von ihm sogenannten pädagogischen Kunsttheorie László MoholyNagys auf. Hierbei stellt er die syste­ matischen und programmatischen Einflüsse des Schweizer Musikpädagogen Heinrich Jacoby und des Russischen Künstlers El Lissitzky auf Moholy-Nagy heraus. Vor diesem Hintergrund deutet Bach MoholyNagys pädagogisches Denken ideen­ geschichtlich als Gleichzeitigkeit von Reformpädagogik und Technikoptimismus. André Schütte geht es in seinem gleichnamigen Beitrag um Wilhelm Flitner und das Bauhaus. Anhand von Flitners privater wie bildungstheoretischer Beschäf­ tigung mit den vom Bauhaus produzierten Dingen veranschaulicht Schütte den sich vollziehenden kulturgeschichtlichen Wandel vom Bildungs- in ein Konsumbürgertum. Vor diesem Hintergrund diskutiert er aus theoriegeschichtlicher Perspektive die Frage, inwiefern Flitners Bildungstheorie dazu geeignet ist, Problemen und Anforderungen kapitalistischer Gesellschaften zu begegnen. Zudem wird auch explizit die materielle Dimension von Dingen und Bauten in

pädagogischer Hinsicht zum Thema: Martin Viehauser und Anja Küttel fragen nach der architektonischen Umsetzungen von bauhaustypischen pädagogischen Überlegungen in Form von Schulgebäuden, Arnd-Michael Nohl nach erziehenden Wirkungen und Bildungspotentialen von Bauhaus-Dingen. Schließlich thematisieren Sarah Hübscher und Elvira Neuendank am Beispiel von Bauhaus-Stühlen die den Dingen eingelagerten Wissensbestände und deren Aneignungsmöglichkeiten. Martin Viehhauser und Anja Küttel setzen sich in ihrem gleichnamigen Beitrag mit dem Schulhausbau in der Bauhaus-Schule auseinander. Am Beispiel zweier Bauhausbauten, dem Schulgebäude des Bauhauses in Dessau sowie der Schule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau, zeigen sie, wie Gestaltung und Architektur hier pädago­ gisiert und auf die Erziehung des ‹neuen› Menschen und der ‹neuen› Gesellschaft ausgerichtet wurden. In seinem Beitrag mit dem Titel Das Bauhaus und die Pädagogik der Dinge geht Arnd-­ Michael Nohl der Frage nach, welche pädagogischen Prozesse vom Bauhaus angeschoben wurden. Dabei nimmt er einerseits unterschiedliche Beziehungs­ formen zwischen Menschen und Dingen in den Blick und differenziert andererseits zwischen Erziehungs-, Lern-, Sozialisationsund Bildungsprozessen, um etwa BauhausHäuser oder -Spielzeuge pädagogisch zu interpretieren. Am Beispiel der Bauhaus-Stühle von Marcel Breuer demonstrieren und analysieren Sarah Hübscher und Elvira Neuendank in ihrem Beitrag das pädagogische Potenzial von designten Dingen. Unter dem Titel beyond bauhaus – ästhetische Formen und kulturelle Praktiken als Gegen(-warts-) entwürfe werden die ausgewählten Stühle multiperspektivisch betrachtet, um unterschiedlichste Bedeutungsdimensionen und

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pädagogisch relevante Praktiken des Umgangs mit den Objekten zu erschließen. In zeitdiagnostischer Hinsicht fragen ­Henning Schluss, Johanna Klär und Ken Nilles schließlich nach dem Bauhaus als sozialem, politischem und kulturellem Bildungsraum, während Phillip D. Th. Knobloch den Versuch, durch die im Bauhaus entwor­fenen Dinge bildend und gestaltend auf Menschen einzuwirken, als Prototyp einer zeitgenössischen Governance-Technik interpretiert. Henning Schluss, Johanna Klär und Ken Nilles widmen sich in ihrem Beitrag Das Bauhaus als Bildungs-Raum im Diskurs konkreten Diskursen, die das Bauhaus damals wie heute entzündet. Diese fassen sie mit den Begriffen Performance, ­Siedlungsbewegung und Nachhaltigkeit und rekonstruieren sie dabei auf einer physischen wie sozialräumlichen Ebene. Hierbei diskutieren sie die Frage, ob und inwieweit die so gebildeten Diskurs­ räume in kultureller, sozialer und politischer Hinsicht Bildungsmöglichkeiten bereithalten. Phillip D. Th. Knobloch setzt sich in seinem Beitrag mit dem Titel Bauhaus: Prototyp der neuen kulturellen Steuerung von Bildungsprozessen mit dem Anspruch des Bauhauses auseinander, durch Gestaltung Menschen und Gesellschaften zu prägen und zu verbessern. Ausgehend von einer Analyse der ­erzieherischen und moralisierenden Wirkung von Konsumprodukten wird die These untermauert, dass im Bauhaus die Idee einer derzeit wirkmächtigen Form der Steuerung von Bildungsprozessen durch kulturalisierte und ästhetisierte Produkte bereits vorgedacht wurde.

Clemens Bach

Reformpädagogischer Technikoptimismus László Moholy-Nagys pädagogische Kunsttheorie zwischen Tradition und Avantgarde

Nationale Mythenbildung und die Inszenierung des Bruchs – Geschichten zum Bauhaus Mit einer nahezu aggressiven Alliteration wurde im Jahr 2019 ein durchaus ­bekanntes Traditionsgefüge entworfen, dessen Heimat nach einer repräsentativen Stimme auf deutschem Boden zu verorten wäre. So hat sich die amtierende Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters anlässlich der Eröffnung des Bauhaus-Museums in Weimar im April 2019 wiederholt dafür ausgesprochen, dass die «Schönheit […] den Dingen eine ganz besondere Kraft» verleihe, «Denken und Empfinden» könnten mit ihr verändert werden, und schließlich nehme das Design «Einfluss [...] auf unser Leben». Gebe man der Gestaltungskraft bzw. Fantasie innerhalb einer Gesellschaft Raum, so Grütters weiter, könne sie für deren Veränderungs- und Innovationsfähigkeit besonders hilfreich sein. Grütters schärfte am Beginn ihrer Rede dem Auditorium zudem eindringlich ein: Weimar, die Stadt Goethes und Schillers, gilt mit ihrem kulturellen Erbe, mit ihren Museen und Kulturschätzen schon lange als Schaufenster für das Land der Dichter und Denker. Das wird sich mit der Eröffnung des

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neuen Bauhaus-Museums ändern – im positiven Sinne: Als Land der Dichter, Denker und Designer wird man Deutschland hier in Weimar künftig noch besser als bisher kennenlernen können, pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum der Bauhaus-Gründung. (Grütters 2019) Andererseits wurde und wird das Bauhaus als eine Institution beschrieben, die den radikalen Bruch markierte und eine Frontstellung gegen die Tradition selbst mobi­ lisierte. Ob beispielsweise in der Geschichte der Architektur, des Designs oder eben der Pädagogik vorkommend und noch bis heute bestehend, der Name Bauhaus steht hier sinnverwandt für die Moderne schlechthin und wird weiterhin mit Innovation, neuen Denkweisen und nahezu revolutionären Theorien und Praktiken assoziiert. Zu finden sind solche Positionen etwa an exponierter Stelle auf der Homepage zum Jubiläum 100 jahre bauhaus. Dort ist zu lesen: Ein Bruch mit tradierten Vorstellungen und alten Lebenswelten, ein ­Neudenken in Kunst und Architektur, in Design und Pädagogik: Mit dem Bauhaus begründete Walter Gropius 1919 eine der bedeutendsten Schulen für Gestaltung, die bis heute Impulse zu vergeben mag […]. (bauhauskooperation 2019) Uneinigkeit scheint also darüber zu bestehen, ob nun das Bauhaus als ebensolcher Bruch angesehen werden könne oder ob es in einem traditionsreichen ideengeschichtlichen Geflecht zu verorten sei, das, nach Grütters, sogar das Trippel-D in einem vierten D mit dem Namen Deutschland vereine. Schaut man nun in ideengeschichtlicher Hinsicht auf das Schriftkonvolut eines der prominenteren Akteure des Bauhauses, so kann exemplarisch gezeigt werden, dass weder die eine noch die andere Position zu halten ist. Die pädagogische Kunsttheorie des ungarischen Avantgardekünstlers László Moholy-Nagy (1895– 1946) gibt besonders darüber Auskunft, aus welchen tradierten sowie avantgardistischen Versatzstücken nicht nur die Kunst, Gestaltung und Architektur, sondern gerade die pädagogische Motivation des Bauhauses bestand. Dazu sollen erstens die pädagogischen Denkansätze Moholy-Nagys umrissen, zweitens zwei ausgewählte Referenzquellen für sein Schreiben präsentiert und drittens diese mit seinen Reflexionen konfrontiert werden. Es wird sich zeigen, dass der hier in Ansätzen rekonstruierte Eklektizismus Moholy-Nagys sowohl tradierte wie zu seiner Zeit neue avantgardistische Motive umschloss, die sich in seinem Falle keinesfalls widersprechen.

Von tausendäugigen Spielleitern und Schleifsteinen der Sinne – Eine Skizze der pädagogischen Kunsttheorie Moholy-Nagys Wie lassen sich nun Moholy-Nagys Gedanken zur Erziehung sortieren und kompakt darstellen? Hierzu lautet die systematische Frage zum pädagogischen Denken

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Moholy-Nagys kurzerhand folgendermaßen: Wer erzieht wen, wo, wie und wozu?1 Schon anhand der frühen Texte ist ersichtlich, dass die Person, die eine positive pädagogische Wirkung auf die Massen ausüben soll, als Künstler, Wissenschaftler, optischer Gestalter oder als Techniker bezeichnet wird. Obwohl Moholy-Nagy bis zu seiner posthum veröffentlichten Monografie vision in motion (1946) gerade auch der Wissenschaft und die sie betreibenden und vertretenden Personen keine ­unwichtige Rolle bei der Erziehung zugesteht, sind es zumeist aber Künstler, ­Gestalter (Designer) oder die technisch versierten «tausendäugigen, mit allen modernen Verständigungs- und Verbindungsmitteln ausgerüsteten NEUEN SPIELLEITER[ ]» (Moholy-Nagy 2003: 55), die mittels ihrer künstlerischen Gestaltung auf das Individuum wie auf ein größeres Publikum pädagogisch wirken sollen. Der ethische, psychische, körperliche und emotionale Zustand des neuen, künstlerischen oder optischen Gestalters – mithin Künstlers – entspreche der Positivfolie, die auf die zu Erziehenden anzulegen sei. Der Typus des Künstlers korrespondiert also mit der von Moholy-Nagy entworfenen Anthropologie hinsichtlich der in ihr positiv geäußerten Zielvorstellung eines vollständig und in allen Bereichen ­ausgebildeten und harmonisch ausgeglichenen ganzen Menschen. Das Erziehungsobjekt müsse über die künstlerischen Erzeugnisse und mithilfe des Vorbildcharakters des Künstlers zu solch einem erst gemacht werden. Da Moholy-Nagy in allen Texten ohne Einschränkung den Menschen schlechthin vor Augen hat – nach ihm sei ein jeder Mensch begabt, ungeachtet der Nationalität, des Klassenstandpunktes, des Geschlechts usw. –, ist die Frage nach der Ausgestaltung der personellen Konstellation der pädagogischen Situation innerhalb seiner Schriften einfach zu beantworten. Die Menschheit im Allgemeinen teilt sich in diejenigen, die das von Moholy-Nagy anvisierte Menschenbild annähernd bis vollständig realisiert haben und in den Großteil der Personen, die noch der Erziehung bedürfen. Diese Differenz bildet grundsätzlich die personelle Ausgangssituation, unter der an verschiedenen Orten die Erziehung mittels der künstlerischen Gestaltung oder der Kunst zum Einsatz kommen soll. Im Anschluss daran ist der Ort der Erziehung im Verständnis von Moholy-Nagy auch an die zu Erziehenden gekoppelt. Nicht alle der nach ihm diese Erziehung benötigenden Menschen sollen auf dieselbe Art und Weise über die Kunst erzogen werden, räumlich teilen sich ihre verschiedenen Wirkungsweisen allgemein in zwei Anwendungsbereiche auf. Zum einen sind der prominent gewordene Ort des Bauhauses in Weimar und Dessau und die unter verschiedenen Namen auftretende Ausbildungsstätte in Chicago gemeint. Zu diesen pädagogischen Einrichtungen formuliert Moholy-Nagy seine Vorstellungen zu einem zeitlichen und räumlich gegliederten Curriculum, welches handwerkliche, technische und künstlerische Betätigungen vorsieht. Angeleitete Materialkunde und beispielsweise Tastübungen sowie die Vermittlung von Kenntnissen der Kunstgeschichte bilden einen weiteren Schwerpunkt. Zum anderen wären die einmal fertig erzogenen Personen nach ihrer Ausbildung im Stande, künstlerisch wirksame Erzeugnisse zu fabrizieren, die ebenfalls eine erzieherische Funktion in Bezug auf die Massen oder ein größeres 1

Eine detaillierte und ausführliche Analyse des Erziehungsdenkens Moholy-Nagys findet sich in der Dissertation des Verfassers Kinetisch konstruktiver Neuhumanismus. Zur Geschichte der pädagogischen Kunsttheorie László Moholy-Nagys. Das Promotionsverfahren wurde am 28.10.2020 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena abgeschlossen.

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Publikum, ja sogar auf die gesamte Gesellschaft hervorbrächten. Freilich ist diese Funktionsweise anders bestimmt als die beispielsweise für das Bauhaus entworfenen und durchgeführten Werkstättenarbeiten, Sinnesübungen oder Materialexperimente. Sie markiert jedoch den zweiten, sehr allgemein bestimmten Raum, innerhalb dessen die Erziehung mithilfe der Kunst wirksam werden soll. MoholyNagy schreibt wiederholt von der erzieherischen Funktion der Kunst, die dazu prädestiniert sei, sich auf das Leben der Menschen und dementsprechend auf die Gesellschaft im Allgemeinen positiv auszuwirken. So z.B. im Kino, in der Reklame, in Ausstellungen, in der Typografie (Magazine, Zeitungen), in Rauminstallationen, in der öffentlichen oder privaten Architektur sowie im Gebrauch von Alltagsgegenständen; die Liste ließe sich weiterführen. Und somit ist es der transgressive Charakter des pädagogischen Ortes, der mit verschiedenen Ansinnen gefüllt und mit zahlreichen Modi versehen bei Moholy-Nagy den Anwendungsbereich der erzieherischen Aufgabe der Kunst in keiner Weise einhegt. Die Frage nach dem Wie der von Moholy-Nagy beschriebenen Formen der Erziehung ist demgegenüber differenzierter zu beantworten. Im Folgenden werden nun acht Modelle der Funktionsweise der verschiedenen Erziehungskonzeptionen Moholy-Nagys vorgeschlagen, die zugleich nicht darüber hinwegtäuschen sollen, dass es sich bei ebendiesen nicht um eine einheitliche und stringente Theorie der Erziehung handelt. Erstens scheinen gerade die Kunst oder die über die architektonische oder optische Gestaltung erzeugten Werke eine erzieherische Wirkung zu besitzen. Ein über den Spieltrieb oder die Syntheseleistung der Kunst erfolgender Effekt könne die verschiedenen Dispositionen des Menschen ausbilden und in ein gleichwertiges und harmonisches Gefüge verwandeln. Zweitens hebt Moholy-Nagy hervor, dass die Erziehungs- bzw. Kulturarbeit in einem sehr allgemeinen Sinne dazu in der Lage wäre, auch das Wissen von neuen, aus seiner Sicht relevanten Erkenntnissen aus den Bereichen der Technologie und der Wissenschaft geistig zu vermitteln. Drittens könne mithilfe der pädagogischen Funktion der Kunst eine Schärfung der Sinne erzeugt werden, die dazu angehalten ist, entweder eine nicht näher definierte objektive und optische Wahrheit zu lehren, oder über ihren Exponenten, den Künstler, als «Schleifstein der Sinne» (Moholy-Nagy 2014: 29) zu dienen. Viertens fordert Moholy-Nagy eine Erziehung innerhalb von Erziehungsstätten, die Sinneserlebnisse in Form eines bestimmten Curriculums, einer Ausbildung, verschiedenen Übungen und Experimenten in Werkstätten stiften soll. Fünftens ist der Vorbildcharakter des Künstlers und der seiner Werke ein nicht unerhebliches Moment in der von Moholy-Nagy beschriebenen Art und Weise der pädagogischen Wirkung. Die sich in ihr manifestierende höchste Ausdrucksweise der Kunst und des Menschen solle als nachzueiferndes Beispiel für diejenigen gelten, die noch nicht den Status dieses wahrnehmbaren Zustandes erreicht haben. Sechstens ist nicht zu übersehen, dass Moholy-Nagy die Erziehungsfunktion der Kunst auch an das Biologische und das Physische, also an das Körperliche des Menschen zurückbindet; der «psycho-physische[ ] bzw. physiologische[ ] Apparat» (Moholy-Nagy 1925b: 11) und die Gesundheit des Menschen stehen hierbei im Vordergrund. Siebtens ist in nur wenigen seiner Texte das Motiv der Auflösung von rezipierenden und produzierenden Personen zu erkennen, die eine Leistungssteigerung, die Ausbildung verschiedener Bestandteile des Menschen und

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­ chließlich auch die Herstellung eines totalen oder ganzen Menschen provozieren s soll. Schließlich besteht achtens ein wiederkehrender Schwerpunkt in der Feststellung, dass über das Gefühl auf das Unbewusste des Menschen erzieherisch eingewirkt werden und dieser ebenjenen pädagogischen Zugriff nicht bewusst wahrnehmen solle. Die Kunst besäße den Vorteil, mit ihrem sich vordergründig als nichtpädagogisch zu erkennen gebenden Modus der Beeinflussung des Menschen im H ­ inblick auf dessen Gefühl und letztendlich Bewusstsein ohne größeren Widerstand von Seiten des zu Erziehenden rechnen zu müssen. Die Ziele der verschiedenen Erziehungsmodi sind zu Teilen in ihnen enthalten. Überblickend lässt sich feststellen, dass sich von der Wissensvermittlung über die emotionale, physische, psychologische, ethische und biologische Verbesserung und Steigerung der menschlichen Anlagen bis hin zur Erzeugung eines ganzen oder totalen Menschen ein enorm aufgefächertes Spektrum der Zielvorgaben für die pädagogischen Bemühungen Moholy-Nagys zu erkennen gibt. Mal wird die Steigerung von biologischen Funktionsapparaten, mal die harmonische Ausbildung aller menschlichen Dispositionen wie Denken oder Fühlen oder die nicht bescheidene Herbeiführung eines glücklichen, gesunden, alle Bedürfnisse befriedigenden und freiheitlichen Zustandes des Menschen über den Weg der Erziehung zu den Zielen ihrer Wirkungsweise erklärt. Ferner ist sogar die Rede von der Hervorbringung eines fortschrittlichen Bewusstseins, dessen Erziehung verborgen und ­indirekt über das Gefühl die von Moholy-Nagy gewünschte Überzeugung und den Willen zu einer Neuschaffung gesellschaftlicher Verhältnisse bezwecken will.

Heinrich Jacobys reformpädagogische Musiktheorie Die von Moholy-Nagy getroffenen anthropologischen Setzungen – «ein jeder mensch ist begabt» und jeder Mensch habe in sich ein «tiefes vermögen, die in seinem mensch-sein begründeten schöpferischen energien zur entfaltung zu bringen» (Moholy-Nagy 2001: 14) – sind sowohl in seinen Werken Von Material zu Architektur als auch in vision in motion aufzufinden (Moholy-Nagy 2014: 324); Moholy-Nagy verweist hier direkt auf den Schweizer Musiktheoretiker und ­ ­Pädagogen Heinrich Jacoby (1889–1964). Dessen Texte Grundlagen einer schöpferischen Musikerziehung von 1922 und Jenseits von «Musikalisch» und «Unmusikalisch» – Voraussetzungen und Grundlagen einer lebendigen Musikkultur von 1925 werden beide als Quellen bei Moholy-Nagy in einer längeren Fußnote mit dem Zusatz angeführt: «seine [Jacobys, C.B.] schriften gehören zu den wertvollen quellen, aus denen unsere gegenwärtige und zukünftige erziehungsarbeit schöpfen kann.» (Moholy-Nagy 2001: 15) Zu dem ersten Text: Gleich zu Beginn definiert Jacoby seinen Erziehungsbegriff: Ich gebrauche diese Begriffe [gemeint sind hier Erziehung und Schulung, C.B.] im Sinne einer Einwirkung, die, von der Überzeugung vom Schöpferischen im Menschen ausgehend, sich auf die Schaffung von Erfahrungs-Gelegenheiten beschränkt und Selbsttätigkeit als oberstes Gesetz fordert.» (Jacoby 1984a: 10, Herv. i.O.)

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In Abgrenzung zu einer Musikpädagogik, die hauptsächlich bestrebt ist, die zu Erziehenden dem Musikbetrieb und seinen Anforderungen anzugleichen, schwebt Jacoby ein Erziehungsbegriff vor, der eine hybride Struktur aufweist: Es handelt sich um die intentionale Einwirkung auf das Erziehungsobjekt mit dem Ziel der Versubjektivierung desselbigen. Die favorisierte Umgestaltung des Musikunterrichtes solle eine relevante Bedeutung für eine «allgemeine Menschenbildung» (ebd.: 18) erhalten. Der Mensch müsse sich durch initiierte Erlebnisse seinen eigenen Erfahrungen empfindend nähern und anschließend darüber reflektieren. Beide Momente, Fühlen und Denken, können in der Situation des Jacoby vorschwebenden neuen Musikunterrichts in ein Gleichgewicht gebracht werden und durch die Erweckung der schöpferischen Ausdrucksfähigkeit des Menschen denselbigen zur Selbsttätigkeit anregen. Eine Unterscheidung von musikalisch und unmusikalisch sowie begabt und unbegabt in einem biologischen Sinne gebe es nach ­Jacoby also deshalb nicht, da jeder Mensch die gleichen Voraussetzungen schon a priori in sich trage und nur die erzieherischen wie sozialen Hemmnisse einer erfolgreichen Entfaltung des Menschen im Wege stehen würden. Oder, wie es Jacoby prägnant formuliert: «Jeder Mensch ist musikalisch» (ebd.: 12). Kulturkritik und Musiktheorie bilden in dem zweiten Text die Zusätze für Jacobys Überlegungen. Der Vorwurf gegenüber der Musikkultur des «Musikbetriebes» (Jacoby 1984b: 42) der Gegenwart Jacobys besteht hauptsächlich aus drei ­Bestandteilen. Erstens bezeichnet er die auf Tradition und Reproduktion sich fokussierende Ausbildung als veraltet und hemmend. Zweitens wird innerhalb des Musikbetriebes die Qualität Kunst mit der biologischen Dichotomie von musikalisch und unmusikalisch verschaltet und somit eine Grundlage geschaffen, mit der ­bestimmte Menschen von der Möglichkeit der Befreiung ihrer musikalischen Ausdrucksfähigkeiten ausgeschlossen werden. Drittens sei diese Musikkultur fast ausschließlich auf das «Zuhören» gegenüber der Musik konzentriert und nicht auf eine mögliche Aktivierung des Rezipienten (ebd.: 37–48). Eine deutliche Rolle spielt dabei der Kontrastbegriff des Lebens. Eine lebendige Musikkultur wäre dementsprechend in der Lage, alle Probleme auszuschalten – und das mittels einer richtigen Erziehung der Kinder und Jugendlichen sowie der Erzieher und Eltern selbst (ebd.: 44). Eine solche Erziehung habe sich aber an einem allgemeinen Begriff der Musik zu orientieren, der aufs Engste mit der schon bekannten anthropologischen Setzung verbunden ist. Zur Musiktheorie heißt es demnach bei Jacoby: Es zeigte sich immer deutlicher, daß alles musikalische Geschehen sich auf wenige […] gesetzmäßige Energiewirkungen und Funktionswirkungen zurückführen läßt. Ebenso zeigte sich, daß jeder Mensch a priori vorhandene, nicht zu erlernende und deshalb unverlierbare Orientierungsmöglichkeiten für musikalische Klang-, Raum- und Zeitverhältnisse besitzt […]. (Ebd.: 47, Herv. i.O) Nach Jacoby ist die «absolute Musik» (ebd.: 49ff.) notwendig vom Stoff des Musikalischen – also von formalen Bestimmungen wie Klangfarbe, Harmonie, Tonlage etc. – zu unterscheiden. Konkret definiert Jacoby an einer Stelle den Begriff der Musik folgendermaßen:

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Musik ist also etwas Neues – etwas Drittes, das erst entsteht, wenn ­wenigstens zwei Klänge zueinander in Beziehung kommen, und zwar etwas, das (wie z. B. die Elektrizität) ein objektiv feststellbares Produkt von Klangbeziehungen sein muß und nicht nur in der Psyche des Hörers ­vorhanden sein kann. (Ebd.: 56, Herv. i.O.) Es sei die sogenannte Energie als «Klangbeziehungsresultat» (ebd.: 57), die den Wesenskern der absoluten Musik nach Jacoby ausmacht. Pädagogisch relevant wird diese theoretische Fassung des Musikbegriffs an der Stelle, an der es ­normativ darum geht, das Einwirken des Erziehers über die Empfangsbereitschaft gegenüber der der Musik innewohnenden Energie zu forcieren. Dazu wieder Jacoby: Sobald wir uns im eben angedeuteten Sinne wirklich empfangsbereit verhalten, den Klangenergien nur gestatten, sich ungehindert in uns auszuwirken, indem wir ihrem Ablauf keinerlei Widerstand mehr entgegensetzen, gelingt es jederzeit, alle ihnen entsprechenden Funktionen in uns zur Auslösung kommen zu lassen. (Ebd.: 67, Herv. i.O.)

El Lissitzky und die Konstruktion einer neuen Welt Der russische Maler, Typograf, Designer und Fotograf El Lissitzky (1890–1841) machte schon Anfang der 1920er Jahre in Berlin die Bekanntschaft mit MoholyNagy. Es ist überliefert, dass schon vor und während der Ersten Russischen Kunstausstellung in Berlin beide Künstler aufeinandertrafen. Man diskutierte im Romanischen Café in Berlin-Charlottenburg oder im Atelier von Moholy-Nagy beispielsweise über den Konstruktivismus.2 Zudem entdeckt Krisztina Passuth gestalterische Übereinstimmungen zwischen Moholy-Nagys Buch Malerei, Photografie, Film und der von Lissitzky und Hans Arp 1925 herausgegebenen Publikation Die Kunstismen, die als Vorbild für dessen erstes Bauhausbuch gedient haben soll (Passuth 1987: 46). Und ebenso, wie Anne Krauter hervorhebt, geriet die Großstadt mit ihren elektro-technischen Entwicklungen in die überaus positive Aufnahme der Künstler Lissitzky und Moholy-Nagy, die u.a. mithilfe des elektrodynamischen Prinzips der Stromerzeugung utopische Gedankenwelten entwarfen (Krauter 2009: 48). Von der Wirkmächtigkeit von Lissitzkys Schriften überzeugt kommt Joseph Caton zu dem Schluss, dass Lissitzky nicht nur für Moholy-Nagys Konzeption der Vorlehre am Bauhaus eine wichtige Bezugsgröße darstellt, sondern dass dieser als russischer Konstruktivist den größten Einfluss auf die theoretische Arbeit Moholy-Nagys hatte (Caton 1984: 38f., 68). Mit dem Konzept von Proun schuf Lissitzky Anfang der 1920er Jahre einen theoretischen Unterbau für seine künstlerischen Erzeugnisse. In der bereits erwähnten von ihm und Arp herausgegebenen Veröffentlichung Die Kunstismen heißt es dazu 2

Vgl. dazu einerseits die Erinnerungen von Ilja Ehrenburg (Krempel 2015: 42) und andererseits die handschriftliche Notiz von Sophie Lissitzky-Küppers innerhalb der Mappe Aufzeichnungen zum Lissitzky Buch aus dem Lissitzky-Küppers-Konvolut im Sprengel Museum Hannover (ebd.: 54).

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in dem gleichnamigen Lemma in einem knappen Satz: «Proun ist die Umsteigestation von Malerei nach Architektur.» (Lissitztky / Arp 1925: XI) Spezifischer und ausführlicher arbeitete Lissitzky diesen Gedanken in einem Vortrag aus, den er im INChUK (Institut für künstlerische Kultur) am 23. September 1921 in Moskau hielt. Zuvor führte er in dem Aufsatz Der Suprematismus des Schöpferischen von 1920 eine Differenz zwischen der menschlichen Tätigkeit der Arbeit und des Schöpferischen ein. Das Schöpferische, so Lissitzky, sei eine Kraft und erschaffe im Sinne des Lebens Zeichen, die in die Wirklichkeit umgesetzt werden könnten (Lissitzky 1977a: 16ff.). Die Arbeit sei wiederum «eine Äußerung mechanischer Energie […] EINE ORGANISCHE TÄTIGKEIT», die «im Organismus unseres Lebens zu einem ausgedehnten Geschwür wuchs», welches nur durch die «kommunistische Revolution beseitigt» (ebd.: 15, Majuskel i.O.) werden könne. Der Suprematismus oder die von Lissitzky so verstandene Kunst habe schlussendlich die Aufgabe Zeichen zu erschaffen, die als neue Entwürfe einer Zukunft anzusehen wären und ebenso auch eine neue Welt zu erbauen hätten. Dazu Lissitzky am Ende des Aufsatzes: DER KÜNSTLER BAUT MIT SEINEM PINSEL EIN NEUES ZEICHEN. DIESES ZEICHEN IST KEINE FORM DER ERKENNTNIS VON ETWAS SCHON FERTIGEM, SCHON GEBAUTEM, DAS IN DER WELT EXISTIERT – ES IST EIN ­ZEICHEN EINER NEUEN WELT, AN DER WEITER GEBAUT WIRD UND DIE DURCH DEN MENSCHEN EXISTIERT. (Ebd.: 20, Majuskel i.O.)

Nahezu ähnliche Auskünfte, wenngleich mit mehreren Akzentverschiebungen ausgestattet, sind dem bereits angesprochenen Vortrag Proun von 1921 zu entnehmen. Zu den Hauptunterschieden: Einerseits visiert Lissitzky hier über den sogenannten Proun – eine mit mehreren Bedeutungen versehene Metapher, die annäherungsweise die Zwischenstation auf dem Weg zu neuen Formen markiert – auch die «Durchbrechung der Grenzen des Spezialistentums» an, die mit dem «kolossalen revolutionären Wettlauf» (Lissitzky 1977b: 21) verbunden ist. Andererseits sei Proun über die Malerei hinausgehend für die Konstruktion eines Raums verantwortlich, dessen Wirkung weit über die des Suprematismus hinausgehe und an der Schöpfung einer neuen Wirklichkeit nicht nur teilnehme, sondern diese erst ermögliche. «Der Künstler verwandelt sich aus dem Reproduzenten in den Schöpfer einer neuen Welt der Form, einer neuen Welt der Gegenstände.» (Ebd.: 24) Mit dem Begriff der Konstruktion wäre auch ihre enge Verflechtung mit der Bewegung offensichtlich, deren Erfüllungsgehilfe aus der Perspektive des Künstlertheoretikers nicht mehr nur ausschließlich der Pinsel sei: «Der Zirkel ist der Meißel der Konstruktion – der Pinsel das Instrument der Komposition.» (Ebd.: 31) Auf dieser Ebene ist Proun «nur eine kurze Haltestelle « (ebd.: 32, Herv. i.O.) zwischen einem zu Ende geführten Bild und einer weiteren Vollendung. Was damit gemeint sein könnte, ist möglicherweise über die angesprochene Wirksamkeit des Raums zu erklären, der nach Lissitzky über Proun, die Konstruktion und den Künstler überhaupt erst geschaffen wird. Lissitzky schreibt: «Er [Proun, C.B.] baut jetzt an dem neuen kommunistischen Fundament aus Stahlbeton für die Völker der ganzen Erde, und durch ‹Proun› werden wir auf diesem gemeinsamen Fundament die einheitliche Weltstadt ins Leben erbauen für alle Menschen der Erdkugel.» (Ebd.: 33)

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Reformpädagogik und Technikoptimismus bei Moholy-Nagy Jacoby schloss seinen 1924 gehaltenen Vortrag Jenseits von «Musikalisch» und «Unmusikalisch» u.a. mit dem Hinweis darauf, dass das, was er am Beispiel der Musik erklären wollte, so etwas Grundsätzliches sei, dass es auch auf solche ­Begriffe wie Farbe, Linie, Körper, Raum oder Wort übertragbar wäre. Es scheint, als habe Moholy-Nagy von dieser Losung in mehrfacher Hinsicht Gebrauch gemacht. Auffällig ist, dass der Ausgangspunkt der pädagogischen Überlegungen bei beiden Autoren eine Kritik gegenüber der Kultur und Gesellschaft der Gegenwart bildet. Damit teilen sie miteinander die Beobachtung, wie viele andere Protagonisten und Protagonistinnen der Lebensreformbewegung und im Speziellen der Reformpädagogik um 1900, dass der Mensch ein einseitig ausgebildeter und auf bloße Funktionalisierung hin erzogener Bestandteil der gegenwärtigen Zivilisation sei. Der Mensch werde daran gehindert, seine Anlagen, schöpferischen Ausdrucksfähigkeiten, Bedürfnisse und die ihm innewohnende Freiheit auszuleben. Jacoby erblickt die Wurzel dieser Entwicklung in einer veralteten Form des Musikschulwesens, der er eine lebendige Musikkultur entgegenstellt. Moholy-Nagy greift zwar die Diagnose des in seinen Worten formulierten «sektorhaften menschen» ­(Moholy-Nagy 2001: 10) auf, macht aber als Ursache für dieses Symptom die kapitalistische Wirtschaftsstruktur aus, die sich auf alle Teilbereiche der Gesellschaft auswirke. Kultur- wird hier zur Gesellschaftskritik, da nicht eine bestimmte Kultur – wie bei Jacoby der Musikbetrieb – kritisiert wird, sondern ein grundsätzliches Strukturprinzip der Gesellschaft. Die offensichtlichste Übereinstimmung ist anhand der Leitsätze beider Autoren erkennbar. Die Setzungen «ein jeder mensch ist begabt» (Moholy-Nagy) und «Ein jeder Mensch ist musikalisch» (Jacoby) zielen darauf ab, alle Menschen vorbehaltlos als ausdrucksfähige Subjekte zu begreifen; und zwar ohne Einschränkungen in Bezug auf solche Kategorien wie Rasse, Nation, Alter oder Geschlecht. Jacoby und Moholy-Nagy verwenden beide den Ausdruck schöpferisch und betonen das Ideal des Gleichgewichts der im Menschen angelegten Dispositionen von Empfinden und Denken, Fühlen und Reflektieren. Ersterer spricht zwar von Selbsttätigkeit und angelegten Funktionen, führt allerdings nähere Bestimmungen dazu nicht weiter aus. Moholy-Nagy wiederum versteht den Menschen als ein soziales Wesen, dessen ursprüngliche Ganzheit gleichsam Anfang und Ziel mit beinhaltet. Im Gegensatz zu Jacoby meint Moholy-Nagy, das Wesen des Menschen zusätzlich in dessen biologischen Funktionen auszumachen. Im Gegensatz zu J ­ acoby meint Moholy-Nagy, das Wesen des Menschen zusätzlich in dessen biologischen Funktionen auszumachen. Fernab von Wertunterscheidungen wie gut, schlecht, schön oder hässlich gehen beide Autoren nun davon aus, dass jeder Mensch alle Sinnesempfindungen wahrnehmen und diese auch produktiv umformen könne. Jacoby scheint keinen Begriff von der Kunst zu haben, er distanziert sich vielmehr sogar von einer etwaigen Wesensbestimmung. Allein der Begriff der absoluten Musik dient ihm als Qualitätsangabe einer sinnlichen Wahrnehmung. Moholy-Nagy dagegen begreift die Ausdrucksfähigkeit des Menschen ab einem bestimmten Punkt, also in ihrer höchsten Ausformung, als Kunst. Alles vom Menschen vorher Produzierte erhält

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diese Qualität nicht. Ein zusätzlich verbindendes Element findet sich allerdings noch auf der Ebene des Musikbegriffs Jacobys. Hatte dieser die absolute Musik als Klangbeziehungsresultat definiert und mehrmals angedeutet, dass die eigenen Ausführungen problemlos auf andere Gebiete zu beziehen wären, so greift Moholy-­ Nagy diese Empfehlung durchaus auf: Bei ihm sind es am Ende von Von Material zu Architektur die Ausführungen zur biologischen Funktion des Raums, die eine Entsprechung mit Jacobys Gedanken aufweisen. Der Raum sei Lagebeziehung von Körpern und in seiner optimalen Gestaltung in der Lage, den biologischen Anlagen des Menschen vollkommen zu entsprechen. Diese Figur fand sich auch bei Jacoby wieder, nur ausgeführt auf musiktheoretischem Terrain. Und zum Erziehungsbegriff: Jacoby ordnet seine Vorstellung von Erziehung in den Musikunterricht ein und begreift ihn als Erzeugung von Erfahrungsgelegenheiten, die zur Selbsttätigkeit der zu Erziehenden führen sollen. Es geht diesem Begriff eher um die Gestaltung von Unterricht als um die Erziehung durch oder mit Musik. Das richtige Empfinden und Produzieren sind hier als Ziele und nicht als Mittel der reformpädagogischen Bemühungen gedacht. Moholy-Nagy dagegen begreift die Kunst als indirektes Erziehungsmittel, also als Vehikel zur Herstellung von Erlebnissen, in denen der Mensch fühlen und denken und in denen er seinen biologischen Funktionen und Anlagen gemäß leben kann. Er übernimmt zudem das Motiv der Erziehung der Erzieher von Jacoby und weitet es auf Produzenten innerhalb der Architektur, der bildenden Kunst und des Designs aus. Diejenigen, die auf der höchsten Stufe des Ausdrucks Kunst produzieren, sind, da sie wie jeder andere Mensch auch ihre Begabung in sich tragen, schon in der Position, als Pädagogen mittels der Kunst dem Menschen zu seiner vollen Entfaltung zu verhelfen und aus ihm einen ganzen Menschen zu kreieren. Ähnlich betrachtet nun auch Lissitzky in seinen Ausführungen zu Proun die Kunst und die Technik als Schöpfung von Zeichen, die den Menschen durch ihre Wahrnehmung zur Gestaltung einer neuen Wirklichkeit zu Hilfe kommen. Proun sei demnach die Umsteigestation von Malerei nach Architektur, die selbst erst ­geschaffen werden müsse. Deutlich tritt in den Texten Lissitzkys die Feier der Umgestaltung der empirischen Gegenwart zu einer besseren Zukunft mittels der Technik und Kunst über den Weg der Konstruktion in Erscheinung. In der pädagogischen Kunsttheorie Moholy-Nagys reihen sich die skizzierten Motive in eine stetige Hervorhebung der Erziehung des Menschen schlechthin ein; und es scheint nach dem hier Versammelten auch nachvollziehbar zu sein, die Definition Lissitzkys zu Proun in Moholy-Nagys erstem pädagogischen Hauptwerk wiederzufinden: Von Material zu Architektur. Und in dieser Publikation heißt es demnach auch von Seiten Moholy-Nagys: «nicht gegen die technik, sondern […] mit ihr.» (Ebd.: 13)

Schlussbetrachtungen Deutschland – das Land der Dichter, Denker und Designer – wäre nach Monika Grütters nun auch im Bauhaus-Museum in Weimar zu bestaunen. Dem ist bezüglich und exemplarisch gegenüber der Theorie Moholy-Nagys nun zu entgegnen: wohl eher nicht. Schließlich wurde dargestellt, dass die pädagogische K ­ unsttheorie

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Moholy-Nagys einen geradezu internationalen Charakter aufweist, mindestens bestehend aus den Ideen eines Ungarn, eines Schweizers, eines Russen und vieler weiterer Personen und Theorien. Sicher mögen tatsächlich einige der hier versammelten pädagogischen Motive an die ästhetische Theorie und das neuhumanistische Erbe von Friedrich Schiller (1759–1805) erinnern. Diese These hält auch unter einer umfassenden Betrachtung durchaus stand (Bach 2019b). Denn war es nicht die neuhumanistische Konzeption um 1800, die vorsah, aus den ­geteilten und entfremdeten Menschen mittels der Kunst und Erziehung ganze Menschen zu kreieren, die ausgeglichen sowohl Gefühl wie Vernunft zum Wohle der Freiheit und des Glücks für die Menschheit befördern sollten? Ohne die zahlreichen weiteren Quellen jedoch – von denen der Bezug auf Lissitzky oder Jacoby nur zwei unter vielen darstellen – wäre das Theoriekompendium Moholy-Nagys schlicht nicht zustande gekommen. Angesichts des Bauhauses scheint es also mehr als vermessen, mittels der von Grütters erweiterten Alliteration dessen Gedankengebäude auf eine spezifisch deutsche Tradition zu beziehen. Und andererseits: Neben der Arts and Crafts Bewegung war es vor allem die sich um 1900 formierende Reformbewegung in Gestalt der Reformpädagogik, die ihre deutlichen Spuren in der angeblichen Innovationskraft der neuen Ideen hinterließ. Jacobys und Moholy-Nagys Reflexionen lässt sich entnehmen, dass dieser Bezug keineswegs einen Bruch markierte, der schlicht ein völliges Novum auf dem Gebiet der pädagogischen Überlegungen produzierte. Und ferner: Nicht nur das Verhältnis von Tradition und Avantgarde oder Reformpädagogik und Technikoptimismus, sondern ebenso etwa die Verästelungen von Wissenschaftstheorie, Philosophie, Anarchismus und Marxismus gilt es zu überdenken (Bach 2019a, 2019b), will man also auch 100 Jahre nach dem Bauhaus noch etwas zu dieser europäischen Konstellation der Moderne in hermeneutischer Absicht beisteuern. Gewonnen wäre damit mindestens ein schärferer und skeptischerer Blick auf so manche Verengungen, deren Absichten allenthalben auf eine nationale Mythenbildung oder auf die Feier des Innovativen, Neuen und Kreativen abzielen. Dieser heutige Umgang mit der Geschichte des Bauhauses könnte also auch darüber Auskünfte geben, welche Motive solchen Verständnissen überhaupt zugrunde liegen. Würde man zudem an die Angebote Moholy-Nagys mit ihrem scheinbar vergessenen kritischen Gehalt in theoretischer wie praktischer Hinsicht anknüpfen, so könnte dadurch in Anbetracht sich hartnäckig haltender und dominanter Erzählungen zum Bauhaus tatsächlich ein Bruch entstehen, der sich der Gleichzeitigkeit von tradierten wie avantgardistischen pädagogischen Zielsetzungen gewiss sein sollte.

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Literaturverzeichnis

bauhauskooperation (2019): 100 jahre bauhaus: Das war das ­Jubiläum. URL: https://www.bauhauskooperation.de/kooperation/projektarchiv/ (24.09.2020).

Bach, Clemens (2019a): «Intelligenter Kohl» in roten Tüchern. Anarchistische und marxistische Spuren im theoretischen Werk von László Moholy-Nagy. In: Hüttner, Bernd / Leidenberger, Georg (Hg.), 100 Jahre Bauhaus – Alternative Beiträge und Perspektiven. Berlin, Metropol Verlag, S. 165–177. Bach, Clemens (2019b): Kinetisch konstruktiver Neuhumanismus. Zur Geschichte der pädagogischen Kunsttheorie L ­ ászló Moholy-Nagys. Promotion Uni Jena. Veröffentlichung in Vorbereitung.

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Clemens Bach

Biografie

Clemens Bach, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Erziehungswissenschaft, insbesondere Ideen- und Diskursgeschichte von Bildung und Erziehung an der Helmut-SchmidtUniversität Hamburg. Promotion über die pädagogische Kunsttheorie László Moholy-Nagys. Forschungsinteressen: Erziehungs- und Bildungstheorie, methodologische Fragestellungen; Geschichte und Theorie der ästhetischen Bildung.

André Schütte

Wilhelm Flitner und das Bauhaus

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Einleitung Der Erziehungswissenschaftler Konrad Wünsche beschließt sein Buch über die vielfältigen Versuche des Bauhauses, auf die Menschen einzuwirken, mit folgender Wendung: «Eventuell läuft es darauf hinaus, daß ausgerechnet die Bauhaus-­ Produktionen nicht für jeden und keineswegs für alle brauchbar gewesen sind. Für einige waren sie wundervoll» (Wünsche 1989: 118). Mit Wilhelm Flitner geht es im Folgenden um einen Pädagogen, für den Bauhaus-Produkte in mehrerlei Hinsicht ‹wundervoll› waren: Über Henry van de Velde freundet sich Flitner mit Walter Gropius an. Er begeistert sich schnell für das Bauhaus und die dort formulierten Gedanken zur Aufhebung der Trennungen zwischen Kunst und Handwerk und Kunst und Leben. Vor diesem Hintergrund entwickelt Flitner eine Leidenschaft für die am Bauhaus hergestellten Dinge und Alltagsgegenstände – und zwar weniger, weil sie zu etwas zu gebrauchen sind, sondern vielmehr deshalb, weil sie mit Bedeutungen und Vorstellungen versehen sind, ja sogar eine ganze Weltanschauung verkörpern. Flitner schätzt an den Bauhaus-Produkten, dass sie persönliche Identität konstituieren und soziale Zugehörigkeit in Szene setzen können. Mit anderen Worten: Flitners Begeisterung gilt den Bauhaus-Produkten als Konsumgegenständen. Und so richtet der Pädagoge Flitner nicht nur nach und nach seine e ­ igene 1

Ich möchte Felix Dornhöfer danken, der mich bei der Recherche zu diesem Artikel umfangreich unterstützt hat.

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Privatwohnung mit Produkten aus dem Bauhaus ein, sondern die Bauhaus-­Produkte finden auch in seine theoretische Arbeit Eingang. In seinem pädagogischen Denken spielen sie als symbolisch aufgeladene Bildungsgegenstände, als Anlässe ästhetischer Erfahrungen und als Identifikationsobjekte eine wichtige Rolle. Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Beziehung zwischen Flitner und den Bauhaus-Produkten hilfreich, um die Entwicklung einer modernen Konsumkultur nachvollziehen zu können. Obwohl diese Entwicklung in Deutschland vor allem in den Nachkriegsjahrzehnten an Dynamik gewinnt, betont der Historiker Andreas Schulz, dass sie schon in den 1920er Jahren einsetzt: Die «Wende […] zur Ästhetisierung der Alltagswelt vollzog sich im Konsum, der immer stärker die Lebenswelt des Bürgertums zu bestimmen begann» (Schulz 2014: 29). Im Folgenden möchte ich exemplarisch zeigen, dass gerade das dem eigenen Selbstverständnis nach antikonsumistisch eingestellte Bildungsbürgertum des frühen 20. Jahrhunderts mitsamt seiner Pädagogik in diesen Entwicklungsprozess involviert ist. Hierzu werde ich nun speziell die Rolle von Bauhaus-Produkten in Flitners Leben und in seiner Bildungstheorie fokussieren. Die These lautet, dass Flitners private und bildungstheoretische Auseinandersetzung mit Bauhaus-­ Produkten einerseits als Ausdruck und andererseits als Verbreitungsform des für den modernen Konsum notwendigen Selbst- und Weltverhältnisses verstanden werden kann. Dies erscheint mir nicht nur kultur-, sondern auch theoriegeschichtlich bemerkenswert. Aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive heraus ist Flitners Begeisterung für das Bauhaus und die Bauhaus-Produkte bedeutsam, weil sie den Wandel des Bildungs- in ein Konsumbürgertum veranschaulicht. Das Bildungsbürgertum markiert in diesem Zusammenhang eine akademisch gebildete Schicht zwischen Volk, Aristokratie und Adel, die ihr Selbstverständnis vor allem aus dem Deutungsmuster ‹Bildung und Kultur› heraus gewinnt (Bollenbeck 1994). Hieraus beansprucht es nicht nur kulturelle Deutungshoheit für sich, sondern hieraus legitimiert es zugleich auch ein pädagogisches Sendungsbewusstsein. Aber entgegen der Beteuerung, vor allem die Haltung eines ‹interesselosen Wohlgefallens› zu kultivieren, ist doch auch erkennbar, wie stark im Bildungsbürgertum konsumistische Dispositionen wirksam sind (Ullrich 2006: 183–193). Das lässt sich bereits für die Zeit um 1800 nachweisen: Wilhelm von Humboldts Verhältnis zur griechischen Kultur weist in vielerlei Hinsicht konsumistische Züge auf (Schütte 2018a). Etwas mehr als einhundert Jahre später hat sich an dieser Affinität zu einem konsumorientierten Weltverhältnis nichts geändert, jedoch verschieben sich die Objekte des Begehrens: Denn nun wird das Interesse des Bildungsbürgertums für alltägliche Konsumgüter geweckt – und zwar (auch) durch das Bauhaus. Darüber hinaus ist theoriegeschichtlich bedeutsam, dass Flitner den Konsum von Bauhaus-Produkten bildungstheoretisch aufwertet. Denn besonders Bildungsbegriffen aus dem Umkreis der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird in Bezug auf Probleme und Herausforderungen moderner Industriegesellschaften, zu denen auch der Konsum zählt, in der Regel wenig Kredit eingeräumt. Gleichwohl gilt auch speziell für Flitners Bildungstheorie, was Käte Meyer-Drawe allgemein in Bezug auf die ‹Frage nach der Bildung› hervorhebt: «Sobald man Position bezieht, spricht man über sich selbst» (Meyer-Drawe 2015: 119f.). Dies verweist zugleich

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auch auf Grenzen von Flitners Bildungstheorie: Zum einen findet die von Wünsche eingangs zitierte Kritik, der zufolge Bauhaus-Produkte ‹keineswegs für alle brauchbar› sind, keine Entsprechung. Zum anderen wird der «Schuldzusammenhang des Privilegs» (Adorno 1959: 107), in den sich Bildung verstrickt, nicht berücksichtigt. Die Bauhaus-Produkte markieren schließlich die materiell-dingliche Seite in diesem Zusammenhang. Deshalb wird das Bauhaus hier auch nicht so sehr als eine reformorientierte Kunsthochschule, sondern vor allem als Marktakteur fokussiert. Das Bauhaus trägt zur Entwicklung einer modernen Konsumkultur bei, indem es ein Bedürfnis nach ästhetisch anspruchsvollen Alltagsdingen schafft. Nicht nur durch eine «intensive Vermarktung» und das «Bestreben, allen Produkten ein wiedererkennbares Erscheinungsbild zu geben», entfaltet das Bauhaus schon früh Wirkung (Nerdinger 2018: 7). Darüber hinaus erhebt es den Anspruch, spezifisch gestaltete und ästhetisierte Dinge für ein Massenpublikum herzustellen. Dinge wie Lampen, Stühle oder Regale sollen das alltägliche Handeln der Menschen nicht nur durch ihre Zweckdienlichkeit erleichtern, sondern es auch ästhetisch und kulturell bereichern. Vor allem unter Walter Gropius entwickelt das Bauhaus eine charakteristische Formensprache. Hierdurch werden Alltagsgegenstände neben ihrem funktionalen Aspekt zugleich auch zu ästhetisch interessanten Objekten, die die Fantasie in Gang setzen. Damit leisten schon die Bauhaus-Produkte, was für heutige Konsumprodukte selbstverständlich ist. Denn auch heutige Konsumprodukte wie Joghurts, Zahnbürsten oder T-Shirts haben neben ihrem Gebrauchsauch einen sog. ‹Fiktionswert›. Hierdurch leisten sie, wie der Konsumforscher Wolfgang Ullrich beschreibt, «Inszenierungen von Emotionen, Handlungen, Situationen» und weisen «als Teil eines Lebensstils oder Zeitgeists» (Ullrich 2013: 10) mehr oder weniger über die jeweiligen Gebrauchswerte hinaus. Während der Kunsthistoriker Frederic Schwartz zeigt, dass und wie das Bauhaus schon in den 1920er Jahren zu einer Marke wird und als eine solche in der sich formierenden Angestelltenkultur der Weimarer Republik flottiert (Schwartz 2006), geht es im Folgenden um den Bauhaus-Konsum des Bildungsbürgertums. Vor diesem Hintergrund soll zunächst der Wandel vom Bildungs- in ein Konsumbürgertum diskutiert werden. Dann erfolgt eine Interpretation von Flitners bildungstheoretischer wie privater Beschäftigung mit dem Bauhaus, bevor der Beitrag ausblickhaft mit Überlegungen zum derzeitigen Zusammenhang von Konsumbürgertum und Pädagogik schließt.

Bildungs- und Konsumbürgertum In seiner Untersuchung Bildung und Kultur rekonstruiert der Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck, wie sich in der Übergangszeit von einer ständisch zur kapitalistisch organisierten Gesellschaft in Deutschland die kulturelle Hegemonie eines Bildungsbürgertums etabliert, das sich vor allem über die Vorstellung einer zweckfreien Bildung im Medium einer von alltäglichen und ökonomischen Realitäten entlasteten Geisteskultur definiert. Bollenbeck zufolge begegnet das Bildungsbürgertum allem, was im weitesten Sinne mit Geld, Besitz oder Konsum zu tun hat, mit Argwohn und schließt es aus dem Bereich möglicher Bildung aus. Denn es

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Wilhelm Flitner und das Bauhaus

definiere sich nicht über das, was es besitzt oder konsumiert, sondern über Geschmack und die Fähigkeiten im Umgang mit fremden und alten Sprachen, Philosophie oder hoher Kunst. Und so beschreibt Bollenbeck das Deutungsmuster ‹Bildung und Kultur› auch als ein «semantisches Gefängnis» für das Bildungsbürgertum, das u.a. gegenüber «ökonomischer Vergesellschaftung» (Bollenbeck 1996: 285) blind mache. Demgegenüber gibt es aber Indizien dafür, dass die vom Bildungsbürgertum errichtete Grenze zwischen Kultur und Ökonomie durchlässiger ist als behauptet, dass sich bildungsbürgerliche und ökonomische Kategorien vermischen und dass das Bildungsbürgertum sich doch prinzipiell empfänglich für ökonomische Rationalitäten, Erfahrungsweisen und Praktiken zeigt. Der Historiker Manfred Hettling betont, dass auch «der Bildungsbürger erst durch ein bestimmtes Maß an Besitz […] zum akzeptierten Bürger» (Hettling 2000: 325) wird. Bildungsbürgerliche Identität hängt also nicht ausschließlich an einer bestimmten Geisteshaltung, sondern zugleich auch an bestimmten Dingen, wie z.B. Musikinstrumenten oder Büchern. Diese Dinge sind aber nicht nur, wie Hettling suggeriert, eng mit dem eigenen Selbstverständnis verbunden und stehen für einen sozial respektablen Lebensstil. Vielmehr stellen sie – vor allem Bücher – geradezu eine «Einstiegsdroge in ein konsumorientiertes Agieren» (Ullrich 2006: 189) dar. Walter Benjamins autobiografischer Text Ich packe meine Bibliothek aus von 1931 veranschaulicht das exemplarisch: Benjamin dokumentiert hier ausführlich seine Lust am Kaufen und Sammeln von Büchern. Dabei hebt er ein für den modernen Konsum unabdingbares Verhältnis zu den Dingen hervor: Er fokussiert in Bezug auf seine Bücher «nicht den Funktionswert, also ihren Nutzen» (Benjamin 1991: 389), sondern vielmehr die «Bilder, Erinnerungen» (ebd.: 396), die sich mit ihnen einstellen. Dementsprechend verliert Benjamin auch kein Wort darüber, ob er sie überhaupt gelesen hat. Vielmehr beschreibt er in diesem Zusammenhang ausführlich die Umstände ihres Kaufs sowie die einzigartigen Erfahrungen und starken Gefühle, die diese Käufe ihm bereitet haben und seine Identität maßgeblich konstituieren: Denn Benjamin zufolge ist «der Besitz das allertiefste Verhältnis […], das man zu Dingen überhaupt haben kann: nicht daß sie in ihm lebendig werden, er selbst [der Sammler, A.S.] ist es, der in ihnen wohnt» (ebd.: 296). Entgegen Bollenbecks Deutung ist dem Bildungsbürgertum der Kapitalismus und die kommerzialisierte Welt also keineswegs fremd. Ohne die bildungsbürgerliche Krisenerfahrung vor allem im 20. Jahrhundert in Abrede zu stellen, kann man nichtsdestoweniger einen Formwandel des Bildungs- in ein Konsumbürgertum diagnostizieren. Vor diesem Hintergrund soll es nun zum einen darum gehen, am Beispiel der Beschäftigung Flitners mit dem Bauhaus zu zeigen, dass sich das konsumorientierte Weltverhältnis des Bildungsbürgertums nicht nur auf Bücher beschränkt, sondern zugleich auch in Bezug auf alltägliche Gebrauchsgegenstände zum Tragen kommt. Zum anderen wird deutlich werden, dass Flitner Konsumgüter auch bildungstheoretisch aufwertet, ja ihnen sogar zum Teil mehr zutraut als der traditionellen Hochkultur.

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Das Bauhaus in Wilhelm Flitners Pädagogik und Leben Flitner hat sich intensiv mit dem Bauhaus auseinandergesetzt. Wenn er sich auf das Bauhaus bezieht, dann meint er jedoch ausschließlich das Bauhaus unter Gropius. Er erkennt in der Gründung des Bauhauses einen «welthistorischen ­Moment[ ]« und nennt es «eine der größten pädagogischen und andragogischen Schöpfungen» (Flitner 1986: 288) seiner Zeit. Im Folgenden geht es um die Beschäftigung Flitners mit dem Bauhaus und seinen Produkten. Obwohl sicherlich viel zu Flitners teils recht eigenwilliger BauhausDeutung zu sagen wäre, steht dieser Aspekt im Folgenden nicht im Mittelpunkt. Flitner kommt weniger als Kunst- und Kulturtheoretiker in den Blick, sondern vor allem als (Konsum-)Pädagoge und konsumaffiner Bildungsbürger. Unterschieden wird hier zum einen zwischen Flitners theoretischer Beschäftigung mit dem Bauhaus und seiner privaten Bauhaus-Leidenschaft. Zum anderen wird auch die Unternehmenspolitik des Bauhauses in dieser Zeit berücksichtigt, die sich konsumistische Dispositionen wie die Flitners gezielt zunutze macht. Wilhelm Flitners Bauhaus-Pädagogik In seiner Allgemeinen Pädagogik entwickelt Flitner eine Theorie zum Sachgehalt der Bildung mitsamt der Kontur einer «Welt der bildenden Inhalte» (Flitner 1963: 103) im Sinne eines materialen Bildungskanons. Zu diesem Kanon zähl Flitner u.a. die «bauenden» Künste, worunter auch das Bauhaus und seine Produkte fallen. Aufgabe des Menschen sei, sich diese Formen als Teile größerer Bedeutungs- und Traditionsgefüge anzueignen. Dadurch könne man dem «Leben seine Gestalt und einen sinnvollen Inhalt» geben (ebd.: 107), d.h. sich in historisch gewordene Verhältnisse einfügen und so Teil einer «Verständigungsgemeinschaft der geistigen Welt» (ebd.: 35) werden. Entgegen der Deutung, das Bauhaus habe vor allem mit allem Vergangenen brechen und radikal «bei Null anfangen» (Wolfe 1981: 15f.) wollen, stehen für Flitner die Bauhaus-Produkte gerade umgekehrt für eine Kontinuität im geschichtlichen Wandel, weshalb sie von ihm auch als Bildungsgegenstände legitimiert werden. In der Geschichte der abendländischen Lebensformen schreibt er, dass sich in den Produkten des Bauhauses die «Fortdauer der humanistischen Lebensform» ausdrückt, welche damit aus der vorindustriellen in eine technisch und kapitalistisch organisierte Gesellschaft transportiert werden: «Es handelt sich um den Weiterbau dieser Normen und Modelle und ihre Ermöglichung innerhalb der industriellen Situation» (Flitner 1990: 345). Dies geschehe, indem das Bauhaus in ästhetischer und ethischer Hinsicht eine harmonisierende Wirkung entfalte: Die verunstaltete Welt des frühen Kapitalismus […] ist durch diese Künstler verwandelt worden, und wenn die neuen Formen sich zu den alten zugesellen, lassen sie sich zu einer einheitlichen Landschaftsarchitektur ausbilden. Bis in die Formung der Kleingeräte […] ist die stilbildende Wirkung dieser Künstlergruppe zu erkennen […]. (Ebd.: 344)

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Das bildende Potenzial der Bauhaus-Produkte besteht für Flitner vor allem darin, Menschlichkeit und Schönheit auszudrücken. Denn sie demonstrierten, dass «auch in den technisch und rational gesteigerten Verhältnissen ein intuitiver Sinn für menschliches Maß und für Schönheit wieder wirksam werden kann» (Flitner 1982c: 304). Flitner konkretisiert den pädagogischen Sachgehalt des Bauhauses und seiner Produkte vor allem in Bezug auf seine Idee der Laienbildung. Dessen Ziel ist es, die soziale und kulturelle Spaltung der Gesellschaft in Gebildete und Laien aufzuheben und letzteren durch pädagogische Angebote den Zugang zur eigenen ästhetischen Produktivität und einer humanistischen Kulturgemeinschaft zu ermöglichen. Dies traut Flitner speziell auch dem Bauhaus und seinen Produkten zu. Denn im Gegensatz zu traditionellen Medien ästhetischer Bildung haben die Bauhaus-Produkte für Flitner den Vorteil, auf das Leben der Menschen in ihrem Alltag wirken zu können: «Denn selbstverständlich will diese Formkunst nicht abgebildet werden oder an den Wänden von Museen und Sammlungen betrachtet werden, sondern ihre Schönheit will erschritten, ertastet, im Leben selbst unwillkürlich erschaut werden» (Flitner 1982a: 56). Während man also die schöne Kunst nur aus der (kontemplativen) Distanz betrachtet, hat das schöne Bauhausprodukt für Flitner den Vorteil, dass man es benutzen kann – und hierbei dann unwillkürlich affiziert wird. Vor diesem Hintergrund nimmt Flitners Laienbildung sogar Züge einer impliziten Konsumpädagogik an. Denn obwohl Flitner immer wieder betont, dass es in seiner Pädagogik um geistige Formprozesse gehe, so wird auch deutlich, dass sie ebenfalls ein bestimmtes Verhältnis zu käuflichen Dingen vermittelt. Im Gegensatz jedoch zur Tradition der Warenkunde, die Menschen umfassende Gebrauchswertkenntnisse über Alltagsdinge vermittelt, zielt Flitner – hierin Walter Benjamin ganz ähnlich – darauf, für deren ästhetisch-imaginative Möglichkeiten zu sensibilisieren. Flitner selbst nennt dies den «Ausdruckwert» (ebd.: 56) der Dinge. Dieser überhöhe «Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens durch phantasiebedingte Formung» (ebd.: 55) und lasse so «der Phantasie und dem Spiel mit den modernen Materialien freien Raum» (Flitner 1990: 345). Während Flitner also einerseits dem modernen Konsum pädagogisch den Weg bahnt, dokumentiert seine prinzipielle Unterscheidung zwischen Humanismus und Kapitalismus andererseits ein bildungsbürgerliches Weltbild und Selbstverständnis. Gleichzeitig sind es für Flitner ironischerweise aber ganz bestimmte Konsumprodukte, die hier vermitteln können, denn für ihn realisiert sich Humanismus (auch) als Konsumismus. Indem Flitner alltäglichen Konsumprodukten mehr zutraut als Kunstwerken im Museum, grenzt er sich einerseits offensiv von der bildungsbürgerlichen Hoffnung auf Befreiung der Menschen durch die Kunst ab. Andererseits hegt Flitner Versöhnungsgedanken, die auf den bildungsbürgerlichen Wunsch nach kultureller Hegemonie zurückverweisen. Denn letztlich geht es Flitner darum, dass das Leben der Menschen wieder zu einer ästhetisch-sittlichen Einheit wird: Die Lebenswelt soll ein «Gesamtbildwerk» (Flitner 1982a: 55), und die Menschen sollen eine «Bildungsgemeinschaft» (ebd.: 53) werden. Die damit einhergehenden Widersprüche sind für Flitner unproblematisch: Denn damit die Formensprache der Bauhaus-Produkte, vermittels derer das geschehen

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soll, «auch der volkstümlichen Kultur» (Flitner 1982b: 272), d.h. der Laien, verständlich wird, bedürfe es Flitner zufolge der «Mittlerrolle der Liebhaber und Kenner» (Flitner 1982c: 304), d.h. der Gebildeten. Flitners anvisierte Aufhebung der Trennung zwischen Gebildeten und Laien lässt sich also paradoxerweise nur dadurch realisieren, dass die Trennung und die mit ihr verbundene hierarchische Ordnung zum einen erst einmal deutlich zur Geltung gebracht wird, und dass die Laien zum anderen sich in diese Ordnung fügen und den Gebildeten Folge leisten. Aus einer Erinnerung Flitners geht jedoch hervor, dass sich die Laien den Appellen und Ansprüchen der ‹Liebhaber und Kenner› gegenüber durchaus widerständig verhalten: 1922 lädt Flitner als Leiter der Jenaer Volkshochschule Walter Gropius zu einem ‹Ausspracheabend› mit der Jenaer Arbeiterschaft ein. Die gewünschte Verbundenheit zwischen Gebildeten und Laien bleibt aus, vielmehr verfestigen sich die Oppositionen: Nachdem Gropius «schlicht und klar, dass jeder den Kern hätte verstehen müssen» (Flitner 2014: 115), vor den Arbeiter*innen über das Bauhaus und dessen Vorzüge spricht, resümiert Flitner: «Der Abend war zu kurz, um darin noch zur Klarheit zu kommen, dieses Gespräch soll aber noch auf einem anderen Abend zu Ende gefochten werden» (ebd.: 117). Ob es hierzu kam, ist nicht dokumentiert. Jedenfalls war den Arbeiter*innen, die sich oftmals vor allem um die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse sorgen mussten, offensichtlich nicht so sehr an der Verschönerung ihres Lebens durch raffinierte Ausdruckswerte gelegen. Wilhelm Flitners Bauhaus-Konsum Flitner hat sich auch privat intensiv mit dem Bauhaus beschäftigt. In seinen Lebenserinnerungen findet sich ein ganzer Abschnitt zur Bedeutung des Weimarer Bauhauses, deren Kulminationspunkt die am Ende stehenden Anekdoten über den Kauf von Bauhaus-Produkten bilden. Für Flitner stellt das Bauhaus ein «beglückendes Faszinosum» (Flitner 1986: 285) dar, jede Begegnung mit ihm beschreibt er als «frohes, inspirierendes Ereignis» (ebd.: 289). Als «große Freude» (ebd.: 290) beschreibt Flitner schließlich aber auch die Besuche in den Werkstätten, denen Einkäufe und Bestellungen folgen. Flitner ist nicht nur an der intellektuellen Diskussion am Bauhaus interessiert, sondern er fühlt sich auch mit der Marke Bauhaus verbunden. Diese Interpretation scheint zumindest dann legitim, wenn man mit dem Medienwissenschaftler Norbert Bolz eine Marke als ein «faszinierendes Bild» versteht, «das Gefühle an sich bindet» (Bolz 2002: 114). Dies verspricht sich Flitner eben auch vom Konsum der BauhausProdukte: «Hätte man nur Geld gehabt» (Flitner 1986: 290), klagt er nach einem Werkstatt-Besuch, der immerhin mit dem Kauf von Tellern, Töpfen, Vasen, Krügen, einer Fruchtschale und einem Seidenschal endet. Mit seiner Berufung an die pädagogische Akademie in Kiel 1925 kann man «endlich» eine komplette Zimmereinrichtung in Weimar kaufen: «Teppich, Lampe mit Stahlschaft, Schreibtischstuhl, Sessel und Teetisch; auch Tisch und Stühle für ein Kinderzimmer, kleine Hocker, ein Stahlrohrtischchen und Küchenstühle» (ebd.: 291).2 Als Flitner dann 1929 auf 2

Obwohl Flitner schreibt, man habe beim ‹Bauhaus› gekauft, handelt es sich tatsächlich um dessen Nachfolgeinstitution in ­ eimar, die staatliche Bauhochschule Weimar. Die bestellten Möbel entstammen aber durchweg ehemaligen Bauhäusler*innen W (Joppien/Bunge 2019: 60). Flitner nimmt das Bauhaus nicht als Institution, sondern als Marke wahr.

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eine Professur für Pädagogik an die Universität Hamburg berufen wird, richtet er sich mit den Bauhaus-Möbeln sein Arbeitszimmer ein. Flitner geht es nicht nur darum, zweckmäßig zu leben, vielmehr soll der Alltag ästhetisch überhöht werden. Das ‹Gesamtbildwerk›, dessen Bedeutung für die Laienbildung Flitner theoretisch begründet, etabliert er ganz praktisch und en miniature bei sich daheim mit Bauhaus-Möbeln: Alles war im Design aufeinander abgestimmt: die Möbel von Erich Dieckmann; […] das Teegeschirr aus Jenaer Glas von Josef Albers entworfen, Lampe und Stühle von Marcel Breuer, das Ganze eine formal-schöne […] Einheit, zusammengehalten vom Teppich, der wie ein großes, in sechzehn Farbtönen formal und streng aufgebautes Bild von Klee wirkte […]. (Ebd.) Abb. 1

Flitner beschreibt sich als Sammler, wie ihn sich Walter Benjamin vorstellt: Er gibt sich als Kenner mit erlesenem Geschmack und Gespür für gestalterisches Talent zu erkennen, wodurch er sich von impulsiven Konsument*innen des von ihm geringgeschätzten «Neumodische[n]« (Flitner 1963: 115) abgrenzt. Gleichzeitig erfährt man aber in Flitners Schilderungen kaum etwas darüber, wie und wozu er die Bauhaus-Produkte nutzt. Es sind der Erwerb und dessen Umstände, die Flitner unverwechselbare Erfahrungen bereiten: Er schildert etwa, dass der damalige Lehrling Marcel Breuer extra mit der Pferdekutsche von Weimar nach Jena fährt, um das bei ihm bestellte Bücherregal abzuliefern. Von den Weberinnen, bei denen Flitner den Teppich bestellt, liest man, sie hätten sich bei der Fertigstellung «vor Freude auf ihm gewälzt» (Flitner 1986: 291). Wie für Flitner als Theoretiker, so sind auch für ihn als Privatperson die Bauhaus-Produkte nicht in erster Linie Gebrauchsgegenstände, sondern affektiv und symbolisch aufgeladene Güter. Flitners Autobiografie nimmt damit Züge einer Konsumbiografie an. Sie zeigt, wie Flitner sich seiner selbst als eines Bildungsbürgers nicht nur durch Denken und Arbeiten, sondern auch durch sein eigenes Konsumverhalten vergewissert. Bauhaus-Produkte für das Bildungsbürgertum Zu der reservierten Haltung der Arbeiterschaft in Bezug auf das Bauhaus auf der einen und Flitners Bauhaus-Leidenschaft auf der anderen Seite passt, dass sich das Bauhaus unter Gropius’ Leitung mit seinen Produkten keineswegs an breitere Bevölkerungsschichten wendet, sondern vor allem Kunden aus dem gehobenen Bürgertum für sich gewinnen will. Entgegen aller programmatischen Beteuerungen und Versuchen zur günstigen Massenproduktion hat man zu dieser Zeit am Bauhaus bewusst Produkte hergestellt, die sich materiell wie lebensweltlich den Bedingungen sozialer und kultureller Eliten anpassen (Hannes Meyer würde die Losung ‹Volksbedarf statt Luxusbedarf› kaum ausgegeben haben, hätte sein Vorgänger Gropius tatsächlich für ‹das Volk› produziert). Flitners Sohn Hugbert erinnert sich daran, dass Teppich, Sessel und Teetisch «nicht einmal tausend Reichsmark» (Rawert 2009) gekostet hätten. Jedoch lag das durchschnittliche Wocheneinkommen einer Arbeiter*innenfamilie zu dieser Zeit bei 65 Mark. Und selbst wenn man sich wie Flitner eine Stehlampe leisten konnte –

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Wilhelm Flitners Arbeitszimmer mit Möbeln von Marcel Breuer und Erich Dieckmann, 1923/24 und 1928 sowie einem Bodenteppich von Hedwig Heckemann, 1927.

81 Prozent der Bewohner*innen von Berlins Arbeiterbezirken hatten zu dieser Zeit keinen Strom (Schuldenfrei 2009: 75). Schließlich konnten die wenigsten überhaupt auf die Idee kommen, sich ein Arbeitszimmer einzurichten. 1927 umfassten 48 Prozent der Wohnungen in Deutschland nur ein bis drei Zimmer (Tenorth 1992: 196). Nicht ohne Stolz betont Flitner etwa die «kulturelle Rückständigkeit aller echten Erziehung»: «sie bewahrt auf, was die herrschende Generation verwirft» (Flitner 1963: 115). Das Bauhaus unter Gropius ist auf diesen Konservatismus eingestellt: Gegenstände wie Kühlschränke und Waschmaschinen, die das neue Zeitalter symbolisieren (König 2013: 33), sucht man dort vergebens. Stattdessen konzentriert man sich auf die Gestaltung von Dingen aus einer vorindustriell geprägten Lebenswelt:

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Krüge, Teller, Kännchen, Teeservices, Aschenbecher, Sessel, Tische und Stühle. Hierbei verwendet man dann oftmals die für das Bauhaus typische Formensprache und verleiht den Dingen so ein modernes Design, das Fortschrittlichkeit suggeriert. «Das Bauhaus», urteilt die Designhistorikerin Robin Schuldenfrei, wollte seine potentiellen Konsumenten nicht mit zu viel Moderne vor den Kopf stoßen und nahm deshalb deren offensichtliche Bedürfnisse und die bereits bekannten Wünsche für ein bestimmtes Sortiment von Gütern auf und unterzog sie einer Modernisierung […]. (Schuldenfrei 2009: 74f.) Flitner fühlt sich von diesem Markenimage jedenfalls angesprochen – als Theoretiker und als Privatperson.

Zusammenfassung und Ausblick Im Gegensatz zu Bollenbecks These von der ökonomischen Uninteressiertheit des Bildungsbürgertums konnte gezeigt werden, dass auch für das Bildungsbürgertum Besitz und Konsum identitätsstiftende Momente darstellen. Flitners privat gelebte wie auch theoretisch explizierte Bauhaus-Leidenschaft veranschaulicht exemplarisch, dass sich das Bildungsbürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs im Verschwinden befindet, sondern sich sukzessive in ein Konsumbürgertum verwandelt, und zwar durchaus zwanglos. Gleichzeitig trifft das bildungsbürgerliche Konsumbedürfnis Flitners auf die Unternehmenspolitik des Bauhauses, das diese Disposition aufgreift und verstärkt, ja vielleicht sogar teils mit hervorbringt. Flitner geht sogar so weit, die Möglichkeit der bildungsbürgerlichen Lebensform überhaupt an den Konsum von (Bauhaus-)Produkten zu binden – und nicht etwa, wie man erwarten könnte, (nur) an eine geistige Haltung oder bestimmte Wissensbestände. Insofern ist Flitner ein Moderator des Übergangs vom Bildungs- zum Konsumbürgertum: Einerseits hält er am bildungsbürgerlichen Programm der Befreiung und Vergemeinschaftung der Menschen fest, erwartet andererseits dessen Realisierung aber nicht von mehr zweckfreien Künsten, sondern vor allem von alltäglichen Konsumprodukten wie denen des Bauhauses. Neben diese kulturhistorischen Befunde treten, das sei hier ausblickhaft erwähnt, auch theoriegeschichtlich relevante Erkenntnisse: Denn entgegen der oftmals formulierten Kritik am Bildungsbegriff, der zufolge er aufgrund seiner ideengeschichtlichen Verwurzelung im 18. Jahrhundert für die Anforderungen einer kapitalistischen Gesellschaft unbrauchbar ist, zeigen Flitners Überlegungen, dass schon zu Zeiten der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik Bildungs- und Konsumprozesse zusammengedacht werden. Flitner konzeptualisiert Konsumprodukte nicht primär als zweckdienliche Dinge, sondern vor allem als affektiv bedeutsame und symbolisch aufgeladene Gegenstände. Zumindest in dieser Hinsicht ist er damit weiten Teilen der konsumpädagogischen Diskussion der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart voraus, die legitimen Konsum fast ausschließlich in Bezug auf die Gebrauchswerte von Waren bestimmen (Schütte 2018b).

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Im Hinblick auf Überlegungen zu einer zeitgenössischen Konsumpädagogik ist Flitners Bildungskonzept aber in mehrerlei Hinsicht fragwürdig: Zum einen verbindet Flitner mit dem Konsum bestimmter Produkte zu hohe Erwartungen, insofern er an ihn nicht nur die Ermöglichung einer bestimmten Lebensform, sondern zugleich auch die Hoffnung auf deren ubiquitäre Ausbreitung knüpft. Zwar sieht er die Bedeutsamkeit der Konsumkultur für den alltäglichen Umgang, gleichzeitig scheint er sich davon – wie es auch beim Bauhaus der Fall ist – eine umfassende Veränderung der Menschen zu erhoffen. Die ungleich realistischere Einschätzung, dass das Konsumieren nicht mehr, aber auch nicht weniger bietet, als das eigene und gemeinsame Leben punktuell ein wenig angenehmer, schöner und vielleicht sogar auch sinnvoller zu gestalten, nimmt Flitner nicht vor. Zum anderen wirkt in Flitners impliziter Konsumpädagogik fort, was man einen bildungsbürgerlichen Fehlschluss nennen könnte: Denn wie schon der Neuhumanismus, so kann auch Flitner der Versuchung nicht widerstehen, das eigene Rezeptions- und Konsumverhalten ästhetisch und moralisch zu überhöhen und allgemeinverbindlich durchsetzen zu wollen. Für Flitner repräsentieren die Bauhaus-Produkte eine vorbildliche Lebensform. Dass sie aber auf die materiellen Bedingungen, den Geschmack und das Ethos einer privilegierten Klasse zugeschnitten sind, blendet er aus – mit der Konsequenz, soziale und kulturelle Spaltungen nicht zu überwinden, sondern eher zu verstärken, wie das Beispiel des Jenaer ‹Ausspracheabends› zeigt. Darüber hinaus schätzt Flitner den Konsum nur in seiner konservierenden Funktion vergangener Lebensformen. Dass man durch seinen Konsumstil aber auch die eigene Individualität oder Unverwechselbarkeit ausdrückt, wird bei ihm als neumodisch abgetan. Damit verkennt er eine grundlegende Dimension des modernen Konsums. Schließlich sucht man bei Flitner vergebens nach dem Gedanken, es Menschen zu ermöglichen, einen eigenen Konsumgeschmack und Konsumstil zu entwickeln. Zusammenfassend könnte man Flitners Position zum Konsum daher nicht nur als naiv und paternalistisch, sondern auch als konservativ und anti-liberal bezeichnen. Aber nicht nur Flitner, sondern auch das heutige Konsumbürgertum ist vor solchen Versuchungen nicht gefeit. Seit rund zehn Jahren wird Verbraucherbildung teils als Querschnittsaufgabe, teils als eigenes Fach in der Sekundarstufe I allgemeinbildender Schulen integriert, um Jugendlichen gesunde und nachhaltige Konsum- und Lebensstile zu vermitteln (ausführlich hierzu Schütte 2020). Mit den Themenfeldern Gesundheit und Nachhaltigkeit rekurriert die Verbraucherbildung damit auf die beiden Leitwerte des heutigen Konsumbürgertums, das sich als globale und kosmopolitische Akademiker*innenklasse einem Lifestyle of Health and Sustainability (LOHAS) verschrieben hat. In der Berliner Variante der Verbraucherbildung beispielsweise heißt es, Schüler*innen sollen dementsprechend «als ‹Consumer Citizen› (Konsumbürgerin und -bürger) im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten als Konsumentin und Konsument Verantwortung im Sinne der als richtig empfundenen gesellschaftlichen Ziele» übernehmen (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016: 9). Diese Verantwortung zeigt sich aber vor allem in der Übernahme vorgegebener Konsumstile: So sollen Kinder und Jugendliche ihre «Ernährung gesundheitsförderlich» (Schindhelm 2012: 4) gestalten und einen «nachhaltigen Lebensstil» (ebd.: 6) entwickeln, wie es etwa in der sächsischen Variante der Verbraucherbildung heißt.

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Wilhelm Flitner und das Bauhaus

Dass ein gesunder und nachhaltiger Lebensstil jedoch maßgeblich von einer privilegierten sozialen, ökonomischen und kulturellen Position abhängt, wird in der Verbraucherbildung ebenso wenig vermittelt wie die Tatsache, dass ein entsprechendes Konsumverhalten gegenwärtig als wirkmächtiges Mittel ökologischer Distinktion (Neckel 2018) eingesetzt wird. Während die Verbraucherbildung so den privilegierten Lebensstil des heutigen Konsumbürgertums legitimiert, droht denjenigen Schüler*innen, die sich ihn nicht leisten können, nicht nur ein schlechtes Gewissen. Es drohen auch Erfahrungen der Beschämung und der Demütigung, weil sie den hohen Ansprüchen, die die Schule an ihr Leben stellt, nicht gerecht werden können. «‹Ja, man lebt eigentlich wie ein Schwein, furchtbar unüberlegt›» (Brecht 1973: 156), murmelt der ‹dicke Müller› beschämt in Bertold Brechts Geschichte «Nordseekrabben» oder Die moderne Bauhaus-Wohnung. Sein Freund Kampert und dessen Frau haben Müller gerade durch ihre vollendet harmonische Bauhaus-Wohnung geführt. All das ruft bei Müller aber nicht nur Scham, sondern auch eine Trotzreaktion hervor. Müller demoliert die schöne Inneneinrichtung und wirft Kampert «‹My home is my castle›» (ebd.: 162) entgegen. Brechts literarische Warnung vor den Folgen bildungs- und konsumbürgerlicher Fehlschlüsse scheint auch heute noch aktuell zu sein. Vor diesem Hintergrund gilt es, Grundsätze einer zeitgemäßen und reflexiven Konsumpädagogik zu entwickeln, die über Flitner, das Bauhaus und die Verbraucherbildung hinausgehen.

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Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg. Foto: ©Joachim Hiltmann.

Biografie

André Schütte, wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) an der Professur für Allgemeine Pädagogik an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der E ­ rziehung und Bildung, Ästhetische und Kulturelle Bildung, Materielle Dimensionen von Erziehung und Bildung, Zusammenhänge von Pädagogik und Ökonomie, Konsumästhetik, Verbraucherbildung.

Martin Viehhauser, Anja Küttel

Schulhausbau in der Bauhaus-Schule Materialisierungen von Pädagogik im Neuen Bauen

Einleitung Der vorliegende Beitrag nimmt die architektonischen Umsetzungen von den im Bauhaus entwickelten Programmatiken in Form von Schulgebäuden in den Blick. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Schulhausbau in der Bauhaus-Schule ist zunächst die generelle Bedeutung, welche diese kunstgewerbliche Reformschule, das Bauhaus, dem Element der Erziehung durch Gestaltung beimaß (Wick 2009). Auf dieser Ebene lässt sich das Bauhaus als gesellschaftserzieherische Strömung charakterisieren. Diese Pädagogisierungstendenz thematisiert der Beitrag anhand der Analysen von Schulgebäuden. Mit dem 1926 eröffneten Bauhaus-Gebäude in Dessau und der 1930 fertiggestellten Bundesschule für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) in Bernau bei Berlin sind direkt aus dem Bauhaus zwei Schulgebäude hervorgegangen, in denen die programmatischen Ziele des Bauhauses modellhaft realisiert werden konnten. Inwiefern waren diese Gebäude materielle Resultate von mentalen, pädagogischen Konzeptualisierungen im Neuen Bauen, wie es das Bauhaus – durchaus mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – propagierte? Die Erziehung durch Gestaltung übernahmen je nach Bauhaus-Phase die Dinge, die Gegenstand von Gestaltungsprozessen wurden, oder die Strukturierung

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­ ozialer Beziehungen über räumliche Arrangements. Ziel der Erziehung war – für s die jeweiligen Abschnitte des Bauhauses spezifisch akzentuiert – der «neue» Mensch und/oder die «neue» Gesellschaft unter dem Zeichen einer wissenschaftlich rationalen, normierten und funktionsorientierten Moderne. Das neue Bauen war hierbei ein Mittel des Erziehungsprogramms. Vor diesem Hintergrund gilt es auszuloten, ob und inwiefern diese Programmatik am Bildungsbau als emblematischen Ort für die Erziehung des «neuen» Menschen bzw. der «neuen» Gesellschaft festzumachen war, ob und inwiefern sich diesbezügliche Überlegungen auch im Schulhausbau materialisierten. Nachfolgend werden zunächst kurze und punktuelle Kontextualisierungen der Bauhaus-Bewegung und des Schicksals dieser Kunstgewerbeschule vorgenommen, soweit sie für die Diskussion von Schulgebäuden sinnvoll erscheinen. Diese Kontextualisierung führt das Konzept der Pädagogisierung ein, das als Rahmung für die anschließenden Darstellungen des Dessauer Bauhaus-Gebäudes und der ADGBBundesschule fruchtbar gemacht wird. Die Diskussion dieser Schulgebäude führt schließlich zur Identifizierung einiger Aspekte, welche aufzeigen sollten, inwiefern die Gebäude als materielle Resultate von pädagogischen Absichten zu lesen sind.

Pädagogisierung: Zur Kontextualisierung des ­Schulhausbaus in der Bauhaus-Schule Walter Gropius gründete das Bauhaus nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aus einem reformpädagogischen Interesse heraus, das auch – aber nicht nur – die Frage eines neuen Curriculums für eine zeitgemäße kunstgewerbliche Schule betraf (Wick 2009). Das Bauhaus verfolgte in einem emphatischen Sinn noch mehr, denn die Schule sollte einen Gemeinschaftsgedanken verwirklichen, wo – auf die Architektur bezogen – unterschiedliche Werkstätten in der Arbeit am Bau ein Gesamtkunstwerk realisierten. Dieser Gemeinschaftsgedanke, basierend auf der Idee eines «learning through making», war besonders zu Beginn des Bauhauses die Zielrichtung, wo eine eher expressionistische Herangehensweise dominierte. Nach und nach wurde der Akzent auf die Gestaltung von «Lebensvorgängen» gelegt, wie es Gropius nach dem Umzug von Weimar nach Dessau genannt hat, indem Designobjekte möglichst funktional nach den jeweils gegenwärtigen Bedürfnissen der Menschen zu gestalten waren. Vor allem das In-Beziehung-Setzen des gesellschaftlichen Alltagslebens außerhalb und den Gestaltungsstudierenden innerhalb des Schulgebäudes rückte hier in den Fokus der Ausbildung. Während des Gestaltungsprozesses dieser «Lebensvorgänge» sollten die Studierenden des Bauhauses durch eine große Glasfront zur Straße vor dem Gebäude dauernd in Kontakt mit dem täglichen Leben außerhalb der Schule gebracht werden. Andererseits sollten Passanten, welche zufällig am Schulgebäude vorbeigingen, auf die gestalterische Tätigkeit im Inneren der Schule aufmerksam und somit indirekt von dieser beeinflusst werden. Gestaltung und Leben sollten sich gegenseitig durchdringen und beeinflussen. In der Zusammenarbeit mit der Industrie wurde hierbei nach Typen für die Massenproduktion gesucht und die angestrebte Standardisierung der Produkte spiegelte

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sich im ökonomisch-rationalen Gestaltungsschema wieder. Das Ergebnis war ein minimalistischer, auf die reine Funktion reduzierter «Stil» (Wick 2009), den eine Konzentration auf Grundfarben und Grundformen ausmacht. Das entsprechende Stichwort war: «soziale Gleichheit durch gleiche Produkte» (Nerdinger 2018: 72). Diese von Gropius propagierte Sicht wurde unter Hannes Meyer, der am Bauhaus 1927–1930 und ab 1928 als Direktor tätig war, in Richtung genossenschaftliche Formen des Zusammenlebens weiterentwickelt. Das Bauhaus wurde unter seinem Direktorat zunehmend zu einem «Ort gesellschaftsbezogener Gestaltung» (Nerdinger 2018: 93). An diesen programmatischen Grundzügen des Bauhauses in seinen unterschiedlichen Phasen lässt sich ein pädagogisierender Charakterzug der Bauhaus-­Schule ablesen. Mit Pädagogisierung ist die Tendenz gemeint, auch solche gesellschaftlichen Bereiche als «Agenturen» gesellschaftlicher Erziehung zu betrachten, die nicht im engeren Sinn mit institutionalisierter Erziehung und Bildung zu tun haben. Gestaltung und Architektur wären somit «Agenturen» gesellschaftlicher Erziehung. Im Anschluss an die konzeptuelle Rahmung durch die Forschungsgruppe um Marc Depaepe bezeichnet das Konzept Pädagogisierung genauer eine Einverleibung von «educational action» (Depaepe u.a. 2008: 14) in gesellschaftliche Bereiche, die nicht das enger umgrenzte Teilsystem institutionalisierter Erziehung und Bildung betreffen. Pädagogisierung verweist darüber hinaus auf eine für den Wohlfahrtsstaat charakteristische Tendenz, die insbesondere im 20. Jahrhundert in immer zahlreicheren Sektoren des öffentlichen Lebens auftaucht, die eine expansive Dynamik entfaltet und die eine zunehmend verbreitete Form der Steuerung des Sozialen über Erziehung darstellt. Das Konzept der «Pädagogisierung» sollte im Folgenden den Import pädagogischer Intentionen in nicht-pädagogische Bereiche begreifbar machen, der im vorliegenden Kontext das Design und die Architektur in der Bauhaus-Schule betrifft. Die Spuren dieser Pädagogisierung führen zur Erziehung des «neuen» Menschen bzw. der «neuen» Gesellschaft über die Gestaltung. Wie zeigt sich dies im gestalterischen Zugang zum Schulhausbau? Zur Klärung dieser Frage wird auf die zwei Schulgebäude näher eingegangen, die direkt aus dem Bauhaus hervorgegangen sind: erstens dem Dessauer Schulgebäude von Gropius und zweitens der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in Bernau bei Berlin von Meyer.

Schulhausbau: Vignetten zu Materialisierungen von Pädagogik Das Schulgebäude des Bauhauses in Dessau Nach dem Umzug der Bauhaus-Schule von Weimar nach Dessau im Jahr 1925 konnte dort das von Gropius’ privatem Architekturbüro entworfene Schulgebäude mit dem berühmten Bauhaus-Schriftzug an der Fassade im Dezember 1926 eingeweiht werden. Abb. 1 Es handelt sich um ein Gebäude, das aus drei Hauptkomplexen zusammengesetzt ist (Droste 2019: 260–265). Der erste Komplex b ­ eherbergte

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Walter Gropius, Bauhaus-Gebäude Dessau, 1925–26, Luftansicht des Schulgebäudes.

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Walter Gropius, Bauhaus-Gebäude Dessau, 1925–26, Glasfassade.

eine beruflich-technische Fachschule, der zweite Komplex die Werkstätten und Lehrräume des Bauhauses und der dritte, mit fünf Geschossen höchste Komplex – das sogenannte Atelierhaus –, das Studentenheim. Die Verwaltung und das Büro des Direktors befanden sich im Verbindungstrakt dieser drei Komplexe – sie waren somit strategisch so positioniert, dass ein guter Überblick über das Gelände ­gewährleistet war. Jeder dieser Komplexe wurde nach einer seiner Funktion entsprechenden Formensprache gestaltet. Während das Atelierhaus, wie bereits erwähnt, mit seiner großen Glasfront den ständigen Kontakt mit dem zu gestaltenden Alltagsleben gewährleisten sollte, wurde zum Beispiel der Durchgang von Unterrichtsgebäuden zur Aula als Erholungsraum bewusst mit Fensterelementen gestaltet, die eine gegenseitige Spiegelung der Gebäudekomplexe ermöglichen, um diesen Übergang von Arbeit zu Erholung zu unterstreichen.

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Die Aufteilung in drei Hauptkomplexe war Ausdruck des Strebens, die Funktionsbereiche Arbeit bzw. Studium, Wohnen und Freizeit klar zu trennen – und dennoch über Verbindungselemente wie das gemeinsame Dach verbunden zu halten (ebd.: 261; Wilhelm 1998). Die Innengestaltungen wie Möblierung oder Farbgebung der Räumlichkeiten wurden von den Werkstätten des Bauhauses umgesetzt. Wie Magdalena Droste schreibt, war hier das «Ziel des Bauhauses – Zusammenarbeit aller Künste am Bau – […] in strahlender Klarheit realisiert worden, die überall diskutierten Ideen neuen Bauens, neuen Wohnens und neuen Lebens kompromisslos und überzeugend umgesetzt.» (Droste 2019: 265) Die rational anmutende Funktionalität des Arbeitens und Lebens im Bauhaus verdeutlicht nicht nur die Gesamterscheinung, sondern auch die gestalterischen Details und die Materialwahl für die Produktion von Raum. In dieser Hinsicht präsentiert sich das Bauhaus-Gebäude als jenes Gesamtkunstwerk, das nach Gropius der ­«Wesenhaftigkeit» des Schulgebäudes entspricht – es ist schön und zweckmäßig wie auch ein «Typus» für eine moderne Kunstschule (Nerdinger 2018: 72). Was die Details anbelangt, spielte etwa die Lichtgestaltung eine bedeutsame Rolle. Der Gebäudekomplex für die Werkstätten hat nach vorne die enorme Glasfassade, welche das Bedürfnis nach Licht für die Funktion des Lehrbetriebs stillte. Abb. 2 Zugleich kam dem Baustoff Glas eine entscheidende Bedeutung für die räumliche Wahrnehmung zu (Wilhelm 1998: 21). Im Kontext der 1920er Jahre gesehen, war es – als zentrales Gestaltungsmittel eingesetzt wie im Dessauer Bau – eine Neuerung, die das Gebäude für die zeitgenössischen Betrachter als verblüffend leicht erscheinen ließ: «Jeder Besucher», so fasst Magdalena Droste zeitgenössische Berichte zusammen, «er-lebte das Gebäude zuerst als riesigen, schwebenden, glänzend-transparenten Kubus» (Droste 2019: 262). Das Glas ermöglichte eine Abschirmung von der Außenumgebung wie auch ihren Einbezug Abb. 3, es ermöglicht also eine Durchlässigkeit, die Innen und Außen miteinander in Verbindung setzte. In der Art, wie Gropius das Mate­ rial Glas einsetzte, kann eine Pädagogisierung des Baus dahingehend festgestellt werden, dass er zu neuen Wahrnehmungen des Raumes und der sich darin eröffnenden dynamischen Sichtachsen Abb. 4 wie auch zu neuen Bewegungen im Raum erzog – und somit zu einer Wahrnehmug einer sich wandeln sollenden sozialen Realität. Wie Karin Wilhelm (1998: 19) ausführt, reflektiert die Sprache der Architektur des Bauhaus-Gebäudes die Werte der modernen, industrialisierten Welt – die Verknüpfung von Kunst und Technik war auch die Parole, die Gropius für die Neugründung in Dessau aussprach. Das neue Bauen behandelte hier den Schulbau als einen Gegenstand, der die darin handelnden Akteurinnen und Akteure auffordert, den Designprozess auf die Aufgabe der «Gestaltung von Lebensvorgängen» (Gropius zit.n. Droste 2019: 261) vorzubereiten. Das, was die Studentinnen und Studenten des Bauhauses lernen sollten, war die Produktion von Prototypen für die Industrie. Im Lichte dieser Funktionalität gesehen, war die Umsetzung des Gebäudes in einer Art konsequent, der man weniger das Schulmäßige, sondern eher das Werkstätten-, Fabriks- und Labormäßige ablesen konnte: Diese Art war modern, ­rational und funktional (Wilhelm 1998: 19). Abb. 5 Sie war auf Produktentwicklung ausgerichtet entsprach den neuen Zwecken der Ausbildung, von der eine im Lehrplan von 1925 so lautete: «entwicklung von standardmodellen für industrie und handwerk» (zit.n. Nerdinger 2018: 66; auch ebd.: 64–66).

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Walter Gropius, Bauhaus-Gebäude Dessau, 1925–26, Nordwestecke des Werkstattbaus, links Eingang zu den technischen Lehranstalten, Innen und Außen im Dialog.



Walter Gropius, Bauhaus-Gebäude Dessau, 1925–26, Verbindungsgang des ersten Stocks in der Brücke, dynamische Sichtachsen.



Walter Gropius, Bauhaus-Gebäude Dessau, 1925–26, Werk- und Zeichensaal der Vorlehre, Schule als Werkstatt der Moderne.

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Walter Gropius, Bauhaus-Gebäude Dessau, 1925–26, Balkons des Atelierhauses, Nachtaufnahme, Inszenierungen von Nüchternheit.

In seiner Präsentation des Gebäudes in der ersten Ausgabe der Zeitschrift bauhaus stellte Gropius sein Gebäude in einer betont nüchternen, technischen Art dar, indem er Grundrisse, Kubaturen, Quadratmeterkosten, materielle Beschaffenheit der Gebäudeteile usw. darlegte (Gropius 1926). Diese Darstellung passte zwar zum rationalen Gestus und stand zugleich im Kontrast zum Manifestcharakter der Architektur einer neuen conditio humana, den der Schweizer Architekturkritiker Peter Meyer (1927) in einer Besprechung des Bauhaus-Gebäudes für die Schweizerische Bauzeitung als ein für die Suche nach einem Gesamtkunstwerk typisches Pathos und als Ausdruck eines Kultes der Nüchternheit und des Maschinellen hingestellt hat. Diese Schlagseite kommt auch in den Fotos zum Ausdruck, die Gropius 1930 in seiner Zusammenstellung der Dessauer Bauhaus-Gebäude präsentiert hat, wie u.a. die Präsentation der Balkonfassade zeigt. Abb. 6 Die Schule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Das zweite Beispiel eines Bauhaus-Schulgebäudes betrifft das Aus- und Weiterbildungshaus des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), das unter der Leitung von Hannes Meyer und seinem engen Mitarbeiter Hans Wittwer zwischen 1928 und 1930 in Bernau bei Berlin errichtet wurde. Die Aufgabe für dieses Schulgebäude bestand darin, eine gewerkschaftliche Bildungsstätte zu errichten, um gewerkschaftliches Wissen an Funktionäre zu vermitteln (Steininger & Thoms 2013). Zugleich war es die architektonische Intention unter Federführung von Meyer, einen Modellbau für ein Schulgebäude zu schaffen. Der Bau wurde in einen naturbelassenen Landschaftsraum gesetzt Abb. 7 und er war von Bäumen umgeben. Die Anlage präsentierte sich als ein multifunktionaler Organismus, der in Trakte aufgegliedert wurde und so zu einer Differenzierung

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Hannes Meyer, Schulhausgebäude für den ADGB in Bernau, 1928–30.

Hannes Meyer, Schulhausgebäude für den ADGB in Bernau, 1928–30, Gestaltung sozialer Beziehungen über Grundrisse.

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Hannes Meyer, Schulhausgebäude für den ADGB in Bernau, 1928–30, Blick aus der Bibliothek in die Natur.

der Baukörper führte. Sie sollte Platz für drei Klassen auf drei Stockwerken bieten mit einer Maximalkapazität von jeweils 40 Schülerinnen und Schülern, also insgesamt 120. Meyer verfolgte mit seinem Bau einen sozialpädagogischen Ansatz, der darauf abzielte, die Gemeinschaftsbildung zu erleichtern. Das architektonische Konzept wollte das Lernen in der Gemeinschaft (Steininger u.a. 2013: 9); die Schülerinnen und Schüler, die an der Bundesschule eine vierwöchige Bildungsauszeit in Anspruch nehmen konnten, sollten ein soziales Verhalten entfalten können, was auch durch die Lage im abgelegenen Bernauer Kiefernwald erleichtern sollte. Meyer schrieb über den Bau und die Grundsätze der Gestaltung: «die bundesschule bernau ist als ‹schule im walde› keine großstädtische enklave im bernauer forst. im walde tritt das leben in eine primäre erscheinung: die gesetze städtischer ökonomie sind hier verwandelt.» (Meyer 1928: 14) Wie die Konzeptualisierung der Architektur der ADGB-Bundesschule zeigt, stand auch für Meyer die «Organisation von Lebensvorgängen» (Meyer 1928: 14) im Vordergrund, aber mit einer deutlichen Akzentverschiebung weg vom Design der Dinge hin zu einer Gestaltung von sozialen Beziehungen durch die Raumgestaltung. Dafür kam für Meyer das Prinzip des «kleinen Kreises» zur Anwendung Abb. 8, und zwar in Bezug auf das Gebäude (Gestaltung der Wohneinheiten oder der Essensplätze in der Kantine) wie auch in der schulischen Pädagogik. Die Gesamtgruppe der Schüler (120) teilte sich in drei Großgruppen und diese wiederum in Kleingruppen von 10, indem sie im Wohntrakt einer Einheit zugewiesen wurden. «diese bundesschule», so Meyer in seinen Erläuterungen, «ist ausschließlich und folgerichtig aus der anschauung der unter sich verbundenen 12 arbeitskreise entwickelt, und dieser lebenskreis von 12 × 10 menschen ist der träger schulischer und baulicher organisation.» (Meyer 1928: 14)

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Das Raumprogramm organisierte hier «Lebensvorgänge», und zwar eine Art schuli­ scher Pädagogik unter dem Zeichen einer Lern- und zugleich Wohngemeinschaft auf Zeit. Entsprechend stand im architektonischen Entwurf das «Leben», nicht die «Form» im Zentrum der gestalterischen Bemühungen (Winkler 1993: 10). Ausgangspunkt waren dafür die topographischen Gegebenheiten vor Ort, in die sich ein Bau wie von selbst einfügen müsse (Winkler 1993: 10) – und wo sich die Umgebung in den Bau einfügt. Abb. 9 Unter Berücksichtigung pädagogischer Prämissen richteten Meyer und Wittwer den Bau auf hygienische Anforderungen aus, etwa hinsichtlich des Lichtkonzepts oder der Raumbelüftung. Auch das Schulmobiliar genügte damals modernen reformpädagogischen Ansichten: «ebenso typisch», so Meyer in einem Manuskriptentwurf, «ist der versuch, durch sechsfach veränderbare stellung der standardschulmöbel jeden hörsaal pädagogisch zu aktivieren: zu demonstrationen der sozialpolitischen praxis, rundgesang, simultanunterricht mehrerer gruppen» (zit. n. Winkler 1993: 14). Diese Raumgestaltungen zeigen gegenüber dem Dessauer Bau eine deutliche Akzentverschiebung. Das Neue Bauen unter Meyer erfolgte nach den Prämissen des «neuen lebens», wie es Ernst Kállai, der Schriftleiter der bauhaus-Zeitschrift, im 1928 veröffentlichten programmatischen Text das bauhaus lebt! nannte. Dieser Text proklamierte jene Neupositionierung, die nach dem Wechsel im BauhausDirektorium von Gropius zu Meyer erfolgte, wo man eine neue Ära anbrechen sah. Die Erscheinung des Bauwerks, die Ästhetik der Architektur, der Stil – das waren irrelevante Aspekte dieses Neuen Bauens, im Vordergrund stand der Nutzwert, die Lebendigkeit (Winkler 1993). Der Blick richtete sich nun auf die «menschliche[n] Entfaltungsmöglichkeiten» (Kállai 1928: 2), der Weg einer Suche nach dem gültigen Bauhaus-Stil wurde gekappt. In diesem Aufbruch konnte Meyer den Bauauftrag als Leistungsschau für das Bauhaus ausführen und so die Theorie praktisch werden lassen. 1928, als für die Bundesschule der Entwurf vorlag, schrieb Kállai: er ist durch den grundgedanken bestimmt, daß ein schulgebäude die erzieherisch-bewußte räumliche organisation von lebensvorgängen zu sein habe. diese formal-unvoreingenommene erfassung der bau-­aufgabe führt ihn zu den einfachsten und notwendigsten quellen der form. (Kállai 1928: 2) In einem Erlebnisbericht von einem Schüler, der 1931 an einem Jugendleiterlehrgang teilgenommen hat, liest sich der Gebrauchswert der Schule dann etwa so: Auch das pädagogische System entspricht ganz dem Geist einer neuen Zeit. Der Schüler wird nicht mit Weisheiten vollgepfropft, sondern ihm werden nur Anregungen gegeben, sich nach einer bestimmten Richtung auf autodidaktischem Wege weiterzubilden. (Verein baudenkmal bundesschule bernau e.V. 2003: 31)

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Bauhaus-Schule: Pädagogisierung von Architektur und Gestaltung Die dargestellten Schulhausbauten werden nachfolgend anhand des zu Beginn erläuterten Konzepts der Pädagogisierung von Architektur und Gestaltung in der Bauhaus-Schule diskutiert. Ein erster Aspekt dieser Pädagogisierung betrifft die ideelle Basis der kunstgewerblichen Ausbildung am Bauhaus. Wie eingangs erwähnt, gründete Gropius das Bauhaus aus einer Vision heraus, die von einer Reformierung der Künste und der kunstgewerblichen Ausbildung gleichermassen getragen war wie von der Idee, über die Gestaltung zur Entwicklung einer neuen Gemeinschaft beizutragen (Wick 2009). Diese beiden Überlegungen bedingten sich nach Gropius gegenseitig, zumindest in den manifestartigen Anfangsjahren in Weimar, wo die Verbindung von Kunst und Handwerk unter dem Vorbild der mittelalterlichen Bauhütten zentral war. Was die Reformierung der Künste anbelangt, forderte G ­ ropius – wie zahlreiche Vertreter aus den werkbündischen Kunsterziehungsbewegungen ab ca. 1900 – einen neuen Stil, der das Zitat des Historismus überwinde und ein eigenständiger Ausdruck der neuen Zeit, der Moderne, sein müsse. In der kunstgewerblichen Ausbildung wurde dem akademischen Weg eine Absage erteilt und an seine Stelle trat das Ideal einer praxisbezogenen dualen Ausbildung, die Kunst und Handwerk miteinander verzahnte. Der Bau sei der Kristallisationspunkt eines gemeinschaftlich erzeugten Gesamtwerks, das sämtliche Künste integriert. Diese Haltung sollte Gropius nach dem Wechsel von Weimar nach Dessau auch dort propagieren; am Dessauer Bauhaus-Schulgebäude wurde sie dann auch modellhaft realisiert. Das Studium am Bauhaus war in dieser Hinsicht ebenso eine Keimzelle der gemeinschaftlichen, auf ein Gesamtkunstwerk gerichtete Sozialform, im Rahmen derer kollektiv, auf einem Gemeinschaftsgedanken beruhend und als Ergebnis eines sozialen Lernens das Werk entstehe (ebd.). Was den Beitrag der kunstgewerblichen Gestaltung zum Aufbau einer neuen Gemeinschaft betrifft, so wurde das Erfordernis der neuen Zeit in der Ausrichtung auf eine ökonomische Rationalität gesehen, die sich dieser Idee entsprechend in Gestaltung und Form widerspiegeln müsse, und die zugleich durch Gestaltung und Form gelenkt würde. Dies ist ein weiterer Aspekt der Pädagogisierung, der sich in Dessau immer mehr gegenüber den eher expressionistischen Anfangsjahren durchsetzte. Das Bild des Menschen war dabei von einer Ganzheitlichkeit geprägt – Sinne, Verstand, Körper und Geist, all dies bildete im programmatischen Grundverständnis eine Einheit und müsste in der Gestaltung berücksichtigt werden (ebd.: 136f.). Der Architekturkritiker und frühe Fürsprecher der Bauhaus-Idee nach Gropius, Sigfried Giedion, sah darin eine Grundlage für die Verzeitlichung des Raums, welche die architektonische Moderne insgesamt ausmache und die im Bauhaus prototypisch umgesetzt worden sei (Giedion 1982). Die von Gropius in Dessau vorgenommenen programmatischen Akzentsetzungen verschoben sich in Richtung einer Wesensforschung der zu gestaltenden Dinge, wie Gropius es 1925 in seinem Essay Grundsätze der Bauhausproduktion formulierte. Hiermit kann ein weiterer Aspekt der Pädagogisierung benannt werden, der sich als paternalistisch bezeichnen lässt: Der Designer als Experte nimmt die Bedürfnisse der Masse vorweg und gestaltet die «richtigen» Dinge zum Wohl der

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Massen. «Die Schaffung von Typen für die nützlichen Gegenstände des täglichen Gebrauchs», so Gropius, ist eine soziale Notwendigkeit. Die Lebensbedürfnisse der Mehrzahl der Menschen sind in der Hauptsache gleichartig. Haus und Hausgerät ist Angelegenheit des Massenbedarfs, ihre Gestaltung mehr eine Sache der Vernunft, als eine Sache der Leidenschaft. (Gropius 1925: 7) Voraussetzung einer gelungenen Gestaltung sei es, eine der Funktion des Dings, also eine seinem Wesen entsprechende Form zu finden. Die auf dieser Prämisse basierende kunstgewerbliche Schule ermögliche es, wie Rainer K. Wick es formuliert, an der konkreten Verbesserung der Daseinsverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten mitzuwirken, etwa durch den Entwurf gut gestalteter und gleichzeitig erschwinglicher Gebrauchsgegenstände, durch die Entwicklung von Prototypen für die Industrie und durch die Typisierung und Industrialisierung des Bauens […]. (Wick 2009: 138) In der Dessauer Phase des Bauhauses setzte sich zunehmend das Gestaltungsprinzip der Orientierung am Gebrauch durch (Wilhelm 1998). Die systematische und wissenschaftliche Objektivität in der Herangehensweise – in Abgrenzung zur Genialität des Künstlerindividuums – brachte die Grundhaltung zum Ausdruck, die unter dem Zeichen einer rationalen Lebensführung stand. Designlösungen hatten so dem Anspruch zu genügen, das Leben auf eine ökonomische, strukturierte und zeitsparende Art zu organisieren. Die Form der Gebrauchsobjekte hatte ihren Funktionen zu folgen und wie Kunst hierbei eine Symbiose mit der Technik einging, so ging das Handwerk – im Unterschied noch zu den Weimarer Zeiten des Bauhauses – eine Zusammenarbeit mit der Industrie ein. Im Bauhaus wurde, wie der Blick auf die Schulhausbauten gezeigt hat, auch Architektur als eine Gestaltungsaufgabe begriffen, welche den entwickelten Programmatiken folgen müsse. Dies, obwohl eine eigene Architekturabteilung von Gropius erst auf Anfang 1927 eingerichtet wurde, nachdem das Bauhaus zuvor von Weimar nach Dessau übersiedelte und dort die Möglichkeit erhielt, das Bauhaus-Gebäude und zusätzliche Wohnhäuser für die Meister des Bauhauses zu errichten. Unter Meyer, der die Bauabteilung – Meyer selber vermied den Begriff Architektur – leitete, bevor er das Direktorium übernahm, akzentuierte sich die Pädagogisierungstendenz des Bauhauses erneut. Hier traf sie – um einen vorläufig letzten Aspekt zu nennen – die Architektur selbst. Um diesen Aspekt zu umschreiben, kann aus Adolf Behnes Besprechung von Meyers Entwurf für die ADGB-Bundesschule eine treffende Formulierung verwendet werden. Behne, ein sozialdemokratischer Architekturkritiker, sprach von einer «indirekte[n] erzieherische[n] arbeit in aller stille» und präzisierte diese stille Erziehungsarbeit so: sie geschehe «durch ihre vorbildliche, ihre vollkommene organisierung aller ihrer zu einem höchsten plus der leistung gesteigerten funktionen. die überzeugungskraft dieser vollkommenen gestaltung muß den schüler ganz durchdringen.» (Behne 1928: 12)

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Fazit Meyer schrieb in seinem 1929 erschienen Beitrag bauhaus und gesellschaft: «fordert nicht heute in deutschland unsere gesellschaft tausende von volksschulen, volksgärten, volkshäusern?» (Meyer 1929: 4) – unter dem Schlagwort «Volksbedarf», das sich vom «Luxusbedarf» abgrenzte und für das Meyer berühmt geworden ist, findet sich also auch das Schulhaus an prominenter Stelle. Auch wenn direkt aus dem Bauhaus nicht tausende Schulhäuser hervorgingen – was die Effekte des Bauhauses angeht, sieht es freilich anders aus –, konnten Meyer und sein Team von der Architekturabteilung des Bauhauses in der ADGB-Bundesschule Vorstellungen von moderner pädagogischer Funktion exemplarisch umsetzen. Davor realisierte Gropius im Bauhaus-Gebäude in Dessau seinen ikonischen Entwurf für ein Schulgebäude – dasjenige der Kunstschule des Bauhauses selbst. In den beiden besprochenen Schulhausbauten, die aus der Bauhaus-Schule unmittelbar hervorgegangen sind, zeigen sich markante Unterschiede etwa an den Prinzipien, die einmal in einer eher ästhetischen, auf die «Segnungen» einer das Wesen eines Dinges treffende Gestaltung lagen oder das andere Mal in einer eher sozialen, gesellschaftsbezogenen, also sozial-pädagogischen Erziehung. Die Analysen zeigen aber auch Gemeinsamkeiten darin, dass Architektur im Neuen Bauen als Möglichkeit der Gestaltung von «Lebensvorgängen» fruchtbar gemacht wurde. So oder so zeigte sich eine Tendenz zur Pädagogisierung, die der vorhin zitierte Behne treffend als «‹schule hinter der schule›» (Behne 1928: 12) bezeichnete.

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Schulhausbau in der Bauhaus-Schule

Bildnachweise 1

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Gropius, Walter (1926): bauhaus-chronik 1925/1926. In: bauhaus Jg. 1, H. 1, S. 1–4, S. 1. URL: https://monoskop.org/ images/d/d4/Bauhaus_1-1_1926.pdf (24.09.2020). Foto: Junkers Luftbild.

Gropius, Walter (1926): bauhaus-chronik 1925/1926. In: bauhaus Jg. 1, H. 1, S. 1–4, S. 1. URL: https://monoskop.org/ images/d/d4/Bauhaus_1-1_1926.pdf (24.09.2020). Foto: ­Lucia Moholy.

3 Gropius, Walter (1930): bauhausbauten dessau (Bauhausbücher; 12). München, Albert Langen, S. 47, Abb. 32. URL: http://bibliothequekandinsky.centrepompidou.fr/ imagesbk/RLPF732/M5050_X0031_LIV_RLPF0732.pdf (24.09.2020). Foto: Lucia Moholy.

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Gropius, Walter (1930): bauhausbauten dessau. München, Albert Langen, Bauhausbücher; 12, S. 28, Abb. 13. URL: http://bibliothequekandinsky.centrepompidou.fr/cataloguedoc/fondsphoto/cgi-bin/image_plein_ecran.asp?ty=L &id=&ind=L200500625&no=RLPF732/&nophot=M5050_ X0031_LIV_RLPF0732_030&pl=&for= (24.09.2020). Foto: Lucia Moholy.

Gropius, Walter (1930): bauhausbauten dessau. München, Albert Langen, Bauhausbücher 12, S. 74, Abb. 66. URL: http://bibliothequekandinsky.centrepompidou.fr/cataloguedoc/fondsphoto/cgi-bin/image_plein_ecran.asp?ty=L &id=&ind=L200500625&no=RLPF732/&nophot=M5050_ X0031_LIV_RLPF0732_076&pl=&for= (24.09.2020). Foto: Walter Peterhans. Gropius, Walter (1930): bauhausbauten dessau. München, Albert Langen, Bauhausbücher 12, S. 42, Abb. 27. URL: http://bibliothequekandinsky.centrepompidou.fr/cataloguedoc/fondsphoto/cgi-bin/image_plein_ecran.asp?ty=L &id=&ind=L200500625&no=RLPF732/&nophot=M5050_ X0031_LIV_RLPF0732_044&pl=&for= (24.09.2020). Foto: Lyonel Feininger. Meyer, Hannes (1931): Bundesschule in Bernau bei Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung Jg. 54, H. 14, S. 212–222, hier S. 212. URL: https://digital.zlb.de/viewer/ image/14688302_1931/235/ (24.09.2020). Foto: JunkersLuftbild-Zentrale. Meyer, Hannes (1931): Bundesschule in Bernau bei Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung Jg. 54, H. 14, S. 212–222, hier S. 216. URL: https://digital.zlb.de/viewer/ image/14688302_1931/239/ (24.09.2020).

Meyer, Hannes (1931): Bundesschule in Bernau bei Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung Jg. 54, H. 14, S. 212–222, S. 219. URL: https://digital.zlb.de/viewer/ image/14688302_1931/242/ (24.09.2020). Foto: Walter Peterhans.

Biografien

Martin Viehhauser, Dozent für Erziehungswissenschaft an der PH Fribourg (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Theorie von Schule im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen, bildungswissenschaftliches Wissen für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung wie auch Schulhausbau und Städtebau aus pädagogischer Perspektive.

Anja Küttel, Dozentin für Fachdidaktik Gestaltung an der PH Fribourg (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Die Ausbildung von Persönlichkeit durch die Auseinandersetzung mit gestalteten und zu gestaltenden Objekten, die pädagogische Rolle eines Objektes in einem Gestaltungsprozess.

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Das Bauhaus und die Pädagogik der Dinge Wenn in der Pädagogik vom Bauhaus die Rede ist, dann zumeist unter Hinweis auf dessen erzieherische Ambitionen. Für Gropius habe das Bauhaus «von vornherein das Signum einer Erziehungsinstanz» (Wünsche 1989: 10) getragen – so Konrad Wünsche in seinem einflussreichen Buch, das er nicht von ungefähr mit dem Untertitel Versuche, das Leben zu ordnen, versah. Und bei Yvonne Ehrenspeck heißt es: «Die architektonische Umsetzung der Ideen des Bauhauses kann […] als ein großes Erziehungsexperiment zur Schaffung des ‹neuen Menschen› verstanden werden» (Ehrenspeck 1998: 204).1 Wie sich schon in Ehrenspecks Zitat andeutet, ist es nicht nur das neue Ausbildungskonzept, das den erzieherischen Charakter des Bauhauses ausmache, sondern die Architektur seiner Werke, oder allgemeiner gesagt: das Bauhaus-Design selbst, das das Leben neu ordne und – wie es Fritz Wichert formuliert hat – «neue Menschen» «formt» (Wichert 1928: 233). Mit diesem Anspruch, durch Design in seinen verschiedenen Schattierungen pädagogische Prozesse in Gang zu bringen, haben die Frauen und Männer des Bauhauses materielle Dinge in einer Weise zu pädagogischen Akteuren gemacht, wie dies viele Jahrzehnte später, im Zuge des material turn, wieder in den Fokus gerückt wurde: Wenn nicht nur Menschen erziehen, sondern auch Dinge den Menschen formen können, dann gilt es, die Verwicklungen, Vermischungen und Praktiken zwischen Menschen und Dingen in den Blick zu nehmen. Wo dabei 1

Der einzige mir bekannte Erziehungswissenschaftler, der das Bauhaus unter dem Gesichtspunkt ästhetischer Bildung betrachtet, ist Mollenhauer (1989).

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­ ädagogische Prozesse betrachtet werden, kann man «die gegenständliche Ump welt als Erziehungsmoment» (Pazzini 1983) begreifen, untersuchen, wie Menschen «von den Dingen lernen» (Stieve 2008) oder ganz einfach die «Pädagogik der Dinge» im Sinne einer «Pädagogik für, mit den und durch die Dinge» (Nohl 2011: 7) schreiben. In meinem Beitrag möchte ich das epistemologische Grundgerüst der «Pädagogik der Dinge» nutzen, um die pädagogischen Prozesse, die vom Bauhaus angeschoben wurden, zu erkunden. Dabei soll es u.a. um die Frage gehen, inwiefern und inwieweit dem Bauhaus zu Recht eine Erziehungsambition zugeschrieben wird, und ob es nicht auch noch andere pädagogische Prozesse gibt, wie etwa Lernen, Sozialisation oder Bildung, die sich mit dem Bauhaus-Design verbinden. Ich werde zunächst skizzieren, wie ich mir eine Pädagogik der Dinge vorstelle, um dann im nächsten Abschnitt vier pädagogische Grundprozesse voneinander zu differenzieren. Dabei werde ich immer wieder versuchen, Bezüge zum Bauhaus herzustellen. Dann komme ich im dritten Abschnitt auf die Frage, ob das BauhausDesign erzieherisch ist, zurück, und werde hierzu einen differenzierten Vorschlag machen, der sich im letzten Abschnitt anhand des Werks von Alma Buscher plausibilisieren lässt.

Das epistemologische Gerüst der «Pädagogik der Dinge» Wenn man die Verwobenheit von Menschen und Dingen innerhalb pädagogischer Prozesse in den Blick bekommen will, dann kann man hierfür drei unterschiedliche Perspektiven einnehmen: Erstens kann man den Menschen als den alleinigen Akteur betrachten, der die Dinge dazu nutzt, seine pädagogischen Absichten umzusetzen, z.B. einen Lehrer, der die Kreide nimmt, um damit eine mathematische Formel für alle Schüler*innen sichtbar an die Tafel zu schreiben. Dinge werden damit zu Objekten, die menschliche Subjekte sich zu Nutze machen. Zweitens kann man beobachten, wie bestimmte Menschen mit spezifischen Dingen interagieren und welche Wechselwirkungen sich zwischen ihnen ergeben. Zum Beispiel, wie ein kleiner Junge mit einem Smartphone spielt, das dann auf bestimmte seiner Berührungen mit dem Ertönen von Musik, oder dem Abspielen eines Films reagiert, woraufhin der Junge erneut bestimmte Felder seines Smartphones drückt usw. Auch hier haben wir es mit zwei abgeschlossenen Einheiten zu tun, doch kommen nun auch die Rückwirkungen des materiellen Dinges auf den Menschen in den Blick. John Dewey und Arthur Bentley haben diese beiden Perspektiven als diejenige der «self-action» und der «inter-action» bezeichnet und dafür kritisiert, dass sie spezifische Menschen und Dinge stets schon als abgeschlossene Einheiten betrachten, ohne die gemeinsame Konstitution von Menschen und Dingen, wie sie sich innerhalb von Praktiken vollzieht, zu berücksichtigen. Sie schlagen daher als drittes die Forschungsperspektive der trans-action vor, in der «Aspekte und Phasen von Aktionen» bezeichnet werden, ohne dass sie endgültig «‹Elementen› oder anderen mutmaßlich abtrennbar oder unabhängigen ‹Entitäten›, ‹Essenzen› oder ‹Realitäten› zugeschrieben werden» (Dewey/Bentley 1989: 101f.). Es geht also darum, die

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Verwebungs- und Verwicklungspraktiken in den Blick zu nehmen, ohne von vorneherein festzustellen, wer und was hier verwoben wird. Vielmehr lässt sich so beobachten, wie in diesen transaktionalen Praktiken erst die spezifischen Menschen und Dinge entstehen. Dewey und Bentley plädieren also dafür, die Koevolution von Menschen und Dingen innerhalb dieser Praktiken herauszuarbeiten. Nimmt man diese Forschungsperspektive ernst, dann wäre es höchst unterkomplex davon zu sprechen, dass Walter Gropius 1919 das Bauhaus gegründet habe. Vielmehr gilt es, die vielfältigen ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen und technischen Entwicklungen, die zur «Vorgeschichte des Bauhauses» (Droste 2019: 14) gehören, zu berücksichtigen. Ohne die Neuerungen in den technischen Details des Hausbaus, die Suche nach neuen Möglichkeiten der Kunst- und Handwerksausbildung, die Verbindungen, die Industrie, Handwerk und Kunst eingingen, der Aufstieg Deutschlands zur Industrienation und die Verheerungen des Ersten Weltkriegs wäre das Bauhaus nicht möglich gewesen. Doch ließe sich die Koevolution von Gropius und dem Bauhaus noch weiter zurückverfolgen, vielleicht bis zu jenem Punkt, zu dem erstmals Menschen sich so in Praktiken mit materiellen Dingen verwickelten, dass hieraus Behausungen entstanden und der Mensch teilweise sesshaft wurde. Eine transaktionale Forschungsperspektive würde wohl zusätzlich auch danach fragen, wie mit dem Bauhaus erst jene Person geschaffen wurde, die wir heute als Gropius kennen, sie würde also nicht davon ausgehen, dass ein schon fertiger Walter Gropius hier nur seine Ideen umsetzte, sondern dass in den vielfältigen Transaktionen zwischen Menschen und Dingen, wie sie charakteristisch für das Bauhaus waren, auch sich dessen – in Anführungszeichen – «Urheber» selbst erst formte und zu dem wurde, als der er heute gefeiert wird. Die von Dewey und Bentley 1949 eingeführte Forschungsperspektive der transaction mag uns bisweilen merkwürdig, überanstrengt und überzogen vorkommen. Sie hilft aber dabei, unsere alltägliche Wahrnehmungsweise, in der Menschen stets ein Status des Akteurs zugeschrieben und Dinge als Objekte betrachtet werden, in doppelter Weise zu unterlaufen: Erstens wird unklar – und damit zur empirischen Frage –, wer – Menschen oder Dinge – inwieweit handelt, und zweitens lassen sich dann Menschen und Dinge nicht mehr als abgetrennte Entitäten betrachten. Was wäre heutzutage ein Autor ohne einen Computer! Auch wenn Dewey und Bentley diese Forschungsperspektive 1949 eingeführt haben, ist sie doch erst im Zuge der neueren Science and Technology Studies wichtig geworden, deren prominentester Vertreter, Bruno Latour, für eine «symmetrische Anthropologie» wirbt, die, anstatt menschliche Subjekte von dinglichen Objekten zu trennen und letztere ersteren zu subordinieren, den Blick auf ein «Ensemble von Praktiken» richtet, in dem «vollkommen neue Mischungen zwischen Wesen: Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur» (Latour 1998: 19) geschaffen werden. Diese «Vermittlung» (Latour 2000: 216) zwischen Menschen und Dingen weist vier Aspekte auf: Erstens verändern sich die dem Ding und dem Menschen je eigenen «Handlungsprogramme» (ebd.), wenn sie eine Verbindung eingehen. Man könnte eine der Aktivitäten im Vorkurs des Bauhauses (Droste 2019: 292-298) geradezu als Sensibilisierung für die Verbindung und Veränderung von Handlungsprogrammen

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begreifen: Es gehörte zu den Aufgaben der Studierenden, mit Papier etwas herzustellen, ohne irgendwelche anderen Materialien – z.B. Klebstoff – zu nutzen. Die ‹Handlungsprogramme› der alten Zeitungen (etwa geknickt oder geschnitten werden zu können, aber nicht sonderlich stabil zu sein) kamen hier ebenso zum Vorschein wie die dann neu entstehenden Handlungsprogramme der Produkte dieser Praktiken zwischen den Studierenden und dem Papier. Mit solchen Verbindungen von menschlichen und dinglichen «Agenten» (Latour 2000: 216) – Latour versucht mit diesem Begriff die Symmetrie zwischen beiden zu betonen – entstehen sogenannte «Hybrid-Akteure» (ebd.: 218). In diesen Hybrid-Akteuren sind, zweitens, immer schon unterschiedliche Fähigkeiten zusammengesetzt. Wie sinnvoll es ist, diese Hybrid-Akteure zu berücksichtigen, wird gerade dann deutlich, wenn man unterschiedliche Hybrid-Akteure miteinander vergleicht, die vorgeblich von denselben Menschen mitkonstituiert werden: Wie sehr unterscheidet sich ein Architekt der Bauhaus-Zeit, der noch mit Stift und Papier hantierte, von einem heutigen Architekten, der zusammen mit seinem Computer Skizzen entwirft. Und es ist dann auch klar, dass eine Architektin von heute viele Jahre der IT-Sozialisation durchlaufen hat, bevor sie zu zeichnen anfängt, dass sie also einiges von dem Architekten der Bauhaus-Epoche unterscheidet. Dass sich in solchen Hybrid-Akteuren menschliche und dingliche Eigenschaften verbunden haben, wird, drittens, sobald dies zur Gewohnheit und Selbstverständlichkeit geworden ist, zu einer «Blackbox» (ebd.: 223), bleibt also unerkannt. Man könnte also den Vorkurs des Bauhauses, wie er von Johannes Itten, Josef Albers und Laszlo Moholy-Nagy geführt wurde, als den Versuch verstehen, die in unserem Alltag immer schon eingeschliffene Beziehung zwischen uns und stofflichen Materialien aufzubrechen und den Studierenden eine neue, von stillschweigenden Gewohnheiten der Blackbox befreite Zugangsweise zu den Dingen zu ermöglichen. Zum Beispiel baute man Tasttafeln, die bei den Studierenden unterschiedliche taktile Empfindungen hervorrufen sollten. Markant ist etwa die drehbare Tasttrommel von Rudolf Marwitz (Moholy-Nagy 1968: 25; Mollenhauer 1989: 296). Viertens spricht Latour von der «Delegation»: Funktionen, die zuvor Menschen innehatten, werden an Dinge übertragen. Folgender Satz von Magdalena Droste lässt sich hiermit interpretieren: «Gropius wollte also am Bauhaus junge Menschen erziehen, um in der Folge erzieherisch auf die Gesellschaft einzuwirken.» (Droste 2019: 40) Unter den Vorzeichen der Delegation von Funktionen an Dinge ginge es dann gar nicht darum, dass die von Gropius ‹erzogenen› Bauhaus-Schüler*innen nunmehr selbst die Gesellschaft erziehen sollten, sondern das von ihnen zu entwerfende Design sollte den künftigen Menschen formen. Oder wie der Kunsthistoriker Wichert dies ausdrückte: Die Baukunst als Gehäuse, als Umgebung, als Milieu, vom Menschen geschaffen, strahlt bildende Kraft aus und gestaltet so wiederum von sich aus das Wesen der Menschen. Geformtes formt. (Wichert 1928: 233) Mit Latour müsste man aber einwenden: Die Erziehungsabsichten der Menschen schreiben sich nicht unmittelbar und unverfälscht in die Dinge ein; vielmehr

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­ ntstehen neue Hybrid-Akteure mit einer eigenen Gerichtetheit der Erziehung. e Und zudem wird durch die Delegation das, was vorher etwa die verbale Ermahnung des Meisters gegenüber dem Bauhaus-Schüler war, nun zur materiellen Zumutung, etwa in der Inneneinrichtung eines Hauses auf dysfunktionalen Zierrat zu verzichten. Folgt man Wünsche, dann wird die Veränderung in der Materie des Ausdrucks von den Bauhäusler*innen nicht als Manko erfahren; vielmehr nutzen sie die Dinglichkeit ihres Designs, um die Menschen unmittelbar, sozusagen jenseits ihrer kulturellen, sich oft im Symbolischen der Sprache ausdrückenden Partikularismen, zu bewegen. Dinge, so Wünsche, werden dann «zur entscheidenden Kategorie einer Erziehungstätigkeit», wenn «man sich einer gemeinsamen Sprache nicht sicher ist» (Wünsche 1989: 26). Denn Dingen – und wohl mehr noch den in eine Relation gestellten Dingen, wie sie Benjamin Jörissen als Design versteht (Jörissen 2015: 222) – wohnt eine Affordanz inne, die, wie es bei Gibson heißt, mit einer «einzigartigen Kombination von Qualitäten» (Gibson 1977: 70) unsere Aufmerksamkeit erregten. Wo die Dinge nicht nur anregen, sondern, wie das Bauhaus, als «designte Dingwelt» (Jörissen 2015: 228) Praktiken etwa des Wohnens zumuten, wird an sie ein Erziehungsauftrag delegiert.

Pädagogische Prozesse mit den Dingen Worauf verweist aber der Begriff Erziehung überhaupt, was ist seine Referenz? Und wie lässt sich Erziehung von anderen pädagogischen Prozessen unterscheiden? Diese Fragen müssen zunächst geklärt werden, bevor ich mich wieder mit den Erziehungsabsichten, die den Bauhaus-Akteuren unterstellt werden, beschäftigen kann. Es gibt eine Reihe von Pädagog*innen, die Erziehung als eine Art Oberbegriff für alle pädagogischen Prozesse nutzen (Prange 2005), z.B. auch für die Vermittlung von Wissen und Können. Ich definiere Erziehung hingegen als nachhaltige Zumutung von Orientierungen (Nohl 2011: 125f.) und damit relativ nahe entlang jenes Prozesses, der auch im Mittelpunkt der Bauhaus-Diskussion steht: Wenn es nämlich darum geht, den ‹neuen Menschen zu formen›, dann mag da auch zu vermittelndes Wissen und Können hineinspielen. Der Orientierungsbegriff (Bohnsack 1997) zielt dagegen auf eine Art und Weise des Handelns, auf eine Haltung. Er stellt weniger auf eine bewusste Meinung oder Überzeugung ab als auf den habituierten Modus Operandi einer Praxis, also auf eine Art und Weise zu handeln und zu leben, die zur Gewohnheit werden soll. Die zugemutete Orientierung kann umfassender Natur sein, dann ließe sich von einer Lebensorientierung sprechen – und gerade mit der Architektur wird auf Lebensorientierungen gezielt, sind doch Behausungen recht umfassend, was unsere Lebenspraxis anbelangt; häufig zielt Erziehung aber auch nur auf spezifische Handlungsorientierungen, wie etwa bei der Toilettenerziehung. Wenn ich von der Zumutung von Orientierungen spreche, so meint dies erstens, dass Erziehung dort greift, wo Menschen nicht selbstläufig – etwa über Bildungsoder Sozialisationsprozesse – neue Orientierungen entfalten. Zweitens geht es

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hier insofern um Zumutung, als dass die neue Orientierung seitens der zu Erziehenden (zunächst) als den eigenen, momentanen Interessen und Befindlichkeiten durchaus entgegengesetzt erfahren wird. Und drittens Zumutung als Zusprechung von Mut, denn der Erziehende mutet aus der Überzeugung heraus zu, dass der zu Erziehende prinzipiell in der Lage sei, die ihm zugemutete Orientierung zu übernehmen (u.a. Nohl 2011: 125f.). Wo Erziehung stattfindet, geht es häufig zusätzlich auch um Lehren und Lernen, denn neue Orientierungen lassen sich oft nicht ohne die Vermittlung und Aneignung von Wissen und Können entfalten. Das Bauhaus, das in den Vorkursen ja nicht nur eine neue Orientierung gegenüber materiellen Dingen und ihrem Design zumuten, sondern auch Wissen und Können vermitteln wollte, ist ein gutes Beispiel hierfür. Wenn hier gelernt wird, dann erwerben die Studierenden entweder Wissen und Können zu Ausschnitten von Welt, die sich unmittelbar an ihr bisheriges Wissen anfügen, also in dessen Kontinuität stehen. Oder aber das Neue transformiert das bereits Gewusste und Gekonnte, lässt sich also nicht so einfach addieren. Solche transformativen Lernprozesse sind sicherlich schwerer zu initiieren; wenn Itten und die anderen Leiter des Vorkurses versucht haben, etwa mittels der Tasttafeln die «Blackbox» bisheriger Mensch-Ding-Verbindungen aufzubrechen und den Studierenden einen neuen Zugang zur Materie zu ermöglichen, dann zielte dies wohl auf ein transformatives Lernen. Dieses betrifft nicht nur die Menschen, sondern – auch dies lässt sich vor dem Hintergrund des Bauhauses gut denken – verändert auch die materiellen Dinge selbst, die neue Funktionen hinzugewinnen können. Wo solche Veränderungsprozesse, insbesondere die transformativen, sich nicht nur auf Ausschnitte von Selbst und Welt beziehen, sondern die Selbst- und Weltreferenz in ihrer Gesamtheit betreffen, sollte man von Bildung sprechen. Wo Menschen – bisweilen in mehrjährigen Prozessen – ihre Lebensorientierungen transformieren, sich sehr weitgehend verändern und damit eine neue Sicht auf sich und die Welt erhalten, durchlaufen sie einen Bildungsprozess. An einer Reihe von Beispielen lässt sich zeigen, dass solche Bildungsprozesse auch aus dem Austausch mit materiellen Dingen, sei es ein unverhofft geschenkter Computer oder Filz, herrühren können (Nohl 2011). Im Zuge dieser Bildungsprozesse transformieren sich dann auch die Dinge, aus Filz werden Puppen und aus den ersten Tippversuchen am Computer eine ausgefeilte Webseite. Wichtig an solchen Bildungsprozessen ist es, dass sie, gerade hinsichtlich ihres Orientierungsgehalts, nicht von außen initiiert oder zugemutet werden, sondern sich selbstläufig entfalten.2 Im Unterschied zur Entfaltung eigenständiger Lebensorientierungen im Sinne von Bildung geht es in der Sozialisation um das unscheinbare, unbemerkte Hineinwachsen in gegebene Lebensorientierungen. Insofern Sozialisation «den Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt» (Geulen/ Hurrelmann 1980: 51) bezeichnet, spielt auch die Sozialisation mit den Dingen eine 2

Zur Unterscheidung von Lernen als Erwerb oder Transformation von Wissen und Können einerseits und Bildung andererseits siehe Nohl/Rosenberg/Thomsen 2015: 151-154.

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wichtige Rolle. Viele der Gestaltungselemente des Bauhauses etwa erscheinen uns heutzutage als selbstverständlich, sind wir doch in sie sozialisiert worden. Erst wenn wir zum 100. Jahrestag seiner Gründung uns mit dem spezifischen Design des Bauhauses befassen, merken wir, dass zur damaligen Zeit diese Formen alles andere als selbstverständlich, sondern geradezu revolutionär waren. Aber ­betrachtet man etwa das Haus Am Horn – als einen Prototyp des Bauhaus-Hauses (Siebenbrodt 2006) –, so wird zugleich evident, dass selbst die revolutionären Bauhäusler*innen sehr weitgehend in bestimmte Aspekte der architektonischen Anordnung der Dinge, wie sie in der Vorzeit des Bauhauses existierte, einsozialisiert waren: Dass mit dem Haus Privatheit und Öffentlichkeit voneinander getrennt werden, dass die Toilette im Haus ist, dass für Tiere kein Platz vorgesehen wird sind ja alles Selbstverständlichkeiten, die schon damals, zumindest für das städtische Bürgertum, gegolten haben, wenn man sie mit anderen Kulturen oder Epochen vergleicht, zeigt sich indes, dass sie keineswegs allgemeingültig waren.

Erziehung und Bildung durch Bauhaus-Design? Mit dieser Differenzierung zwischen Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen ausgerüstet möchte ich mich nun, auf der Basis der Epistemologie, die die ­Forschungsperspektive der trans-action bereitstellt, erneut der Frage nach den Erziehungsansprüchen, die dem Bauhaus zugeschrieben werden, zuwenden. Auch wenn die Bauhaus-Direktoren selbst nicht explizit davon gesprochen haben mögen, dass man mit dem Bauhaus-Design die Menschen erziehen wolle, waren schon für deren Zeitgenoss*innen die an die «designte Dingwelt» (Jörissen 2015: 228) delegierten Erziehungsabsichten des Bauhauses offenkundig. Unter der Überschrift Die neue Baukunst als Erzieher formulierte etwa der Kunsthistoriker Fritz Wichert 1928: Neue Baukunst entsteht, wenn neue Weltanschauung, neues Lebensgefühl und neue Gesellschaftsbeziehungen mächtig werden. Sie gestaltet gleichsam den Spielraum für die geistigen und leiblichen Bedürfnisse der neuen Lage, für die Wesenskräfte, die unter den gewandelten Verhältnissen nach Auswirkung drängen. Die Baukunst als Gehäuse, als Umgebung, als Milieu, vom Menschen geschaffen, strahlt bildende Kraft aus und gestaltet so wiederum von sich aus das Wesen der Menschen. Geformtes formt. Mensch und Menschenwerk stehen in dauernder Wechselwirkung. Am kürzesten gefasst: Neuer Mensch fordert neues Gehäuse, aber neues Gehäuse fordert auch neue Menschen. (Wichert 1928: 233) In diesen Sätzen spiegeln sich mindestens zwei Eigenarten von Erziehung wider: Wenn das «neue Gehäuse» – also das Bauhaus-Design – «neue Menschen» fordere, dann dokumentiert sich hierin die Zumutung, die zum Erziehungsprozess gehört (siehe den vorherigen Abschnitt). Zugleich aber entspringt das, was hier zugemutet wird – die «neue Weltanschauung», das «neue Lebensgefühl» – nicht

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dem Nichts, sondern hat sich ohnehin schon in der Gesellschaft bemerkbar ­gemacht und ist u.U. gar «mächtig» geworden. Die zugemuteten Lebensorientierungen knüpfen mithin an Bestehendes an, man könnte etwas spekulativ vielleicht sogar sagen, dass hier die Bauhäusler*innen versuchen, ihre eigene Weltanschauung und diejenigen des Milieus, aus dem sie stammen, nunmehr der Gesellschaft zu unterbreiten. Die Bauhaus-Akteur*innen haben aber nicht einfach ihre eigene Weltanschauung mittels des Designs denjenigen zugemutet, die die Bewohner*innen ihrer Häuser oder die Nutzer*innen ihrer Möbel und sonstigen Gegenstände sein sollten. Vielmehr nehmen die Bauhäusler*innen für sich in Anspruch, elementare Funktionen des Wohnens – etwa des Sitzens oder des Kochens – zunächst anhand der Alltagspraktiken von Menschen untersucht und dann erst auf der Basis dieser Funktionsanalysen die Dinge designt zu haben (Droste 2019: 183f.). Wenn Hörning schreibt: «Das Bauhaus kümmerte sich nicht um den Bewohner» (Hörning 2012: 30), so muss dies also darauf eingeschränkt werden, dass die Bauhaus-Designer*innen sich wenig dafür interessiert haben, wie ihr Design, einmal erschaffen und in die Welt gesetzt, von dessen Nutzer*innen gebraucht wurde. In all dem, was uns vom Bauhaus überliefert ist, tauchen die Nutzer*innen kaum auf. Weder zeugen die schriftlichen Dokumente von einer Beschäftigung mit den Praktiken, in die die designten Dingwelten des Bauhauses verwickelt wurden, noch finden sich aussagekräftige Fotografien dieser Praktiken. Zurück zur Frage der Erziehung. Ginge man davon aus, dass das Bauhaus-Design alleine auf eine nüchterne, funktionale Lebensweise gerichtet war, zu der die Nutzer*innen gebracht werden sollen, dann ließe sich hier ohne weiteres von Erziehung sprechen, werden den Nutzer*innen damit doch – an die designte Dingwelt delegiert – Lebensorientierungen zugemutet. In seiner Interpretation des Haus Am Horn hat Konrad Wünsche jedoch ein dieses Erziehungsmoment irritierenden Punkt ausgemacht. Während das Herren-, Damenund Kinderzimmer wie auch Bad und Küche stark ihren Funktionen gewidmet waren, zeichnete sich das mittig gelegene Wohnzimmer durch seine Offenheit aus und wurde – so Wünsche – zu einem «‹Kontrapunkt› zum Funktionalen». Und weiter heißt es: «Mit einer kontrapunktischen Raumordnung nun war vom Architekten selbst seinem Erziehungswirken eine Grenze gesetzt. Er überließ den Raum dem geistigen Austausch der Personen, eigene Geistestätigkeit hatte ihre Verhältnisse zu bestimmen, auch ihre Raumverhältnisse» (Wünsche 1989: 42). Dass das Wohnzimmer so offen gestaltet war, interpretiert Wünsche hier also als Gegensatz zum Erziehungsstreben seiner Architekten, ermögliche das Wohnzimmer doch die freie Entfaltung der Bewohner*innen. Ich würde hier noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass in der Gestaltungsoffenheit des Wohnzimmers – das man etwa mit den überfrachteten Wohnzimmereinrichtungen des Biedermeier oder des Jugendstils kontrastieren könnte – eigentlich auch eine Zumutung lag: Nicht die Zumutung bestimmter Lebens- und Handlungsorientierungen, wohl aber die Zumutung, angesichts der Nüchternheit des Interieurs die Praktiken im Wohnzimmer selbst zu gestalten. Und wenn es darum geht, dass Menschen ihre eigenen Lebensorientierungen entfalten, dann haben wir es mit Bildungsprozessen zu tun (siehe den vorherigen Abschnitt). Könnte es also sein,

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dass einige der designten Dingwelten des Bauhauses nicht einfach eine Orientierung am Funktionalen zumuteten, sondern zur Bildung erzogen? An dieser Stelle möchte ich einen Gedankengang heranziehen, den Martin Hunold in einem ganz anderen Gegenstandsbereich entwickelt hat. Wenn Bildung die Entfaltung und Transformation eigenständiger Lebensorientierungen bezeichnet, dann müssen wir uns die Frage stellen, ob alle Menschen prinzipiell dazu fähig sind, sich auf die Suche nach eigenständigen Lebensorientierungen zu machen. Manche Menschen, so Hunold, sind in tradierten oder anderen Selbstverständlichkeiten so tief versunken, dass sie keine Chance haben, aus eigenen Kräften überhaupt damit anzufangen, sich zu bilden. Und an dieser Stelle helfe Erziehung, Erziehung nämlich, die den Betroffenen zunächst einmal zumutet, sich von den bisherigen (tradierten oder sonstigen) Selbstverständlichkeiten zu lösen und auf diese Weise für Neues offen zu werden (Hunold 2020: 251). Mit dieser Überlegung will ich die Differenz zwischen Erziehung und Bildung nicht einebnen (wie dies bisweilen in der Erziehungswissenschaft getan wird); es geht mir vielmehr um eine Abfolge zunächst eines Erziehungs- und dann eines Bildungsprozesses. Gleich ob dies die Intention der Bauhäusler*innen gewesen ist oder nicht, könnte man annehmen, dass in den praktischen Transaktionen mit den designten ­Dingwelten des Bauhauses genau dies passiert: Mit ihrem funktionalen, äußerst nüchternen Design schafft das Bauhaus neue Ordnungen, die allerdings viele Spielräume lassen. Damit entreißt sie Menschen ihren Gewohnheiten und bietet gleichwohl Halt in einer Zeit des Chaos. Soweit handelte es sich dann um die ­Zumutung von Lebensorientierungen, also um Erziehung. Sobald nun aber sich die NutzerInnen des Bauhaus-Designs – wie etwa im Wohnzimmer des Haus Am Horn – daran machen, selbst zu gestalten, gerade weil ja das nüchterne Design dazu einlädt, die Freiräume zu belegen, ergeben sich Möglichkeiten für Bildungsprozesse. Nicht umsonst hatte ja Latour darauf hingewiesen, dass die Delegation immer auch Veränderungen mit sich bringen könne (Latour 2000). Die Erziehungsabsichten mancher Bauhaus-Designer*innen mögen sich so, einmal an die Dinge delegiert, in Bildungskatalysatoren gewandelt haben.

Das Spielzeug von Alma Buscher Dass diese Interpretation des Bauhaus-Designs – dass also deren Erziehungsintention an manchen Stellen Bildung erst ermöglicht haben mag – nicht völlig abwegig ist, möchte ich anhand einer zugegebenermaßen speziellen Dingwelt herausarbeiten, nämlich anhand des Kinderzimmers, das von Alma Buscher für das Haus Am Horn entworfen und zusammen mit Ernst Brendel realisiert wurde. Alma Buscher war es trotz der Marginalisierung der Frauen durch die BauhausDirektoren nicht nur gelungen, von der Weberei in die Holzbildhauerei zu wechseln, sondern sie wurde von Walter Gropius sogar dazu eingeladen, das Kinderzimmer im Haus Am Horn zu entwerfen (Baumhoff 2008: 75). Buschers Konzeption des Kinderzimmers, die dann praktisch von Ernst Brendel umgesetzt wurde, stand also keineswegs im Widerspruch zum Bauhaus-Design. Wenn man die unbelebten Gegenstände dieses Zimmers betrachtet, wird deren

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nüchtern-funktionales Design ohnehin augenfällig. Doch schon die (im Internet leicht zu findenden) gestellten Fotos, auf denen Buschers Sohn und eine Freundin mit den Gegenständen spielen, lassen erahnen, dass die Nüchternheit der Quader und sonstigen rechteckigen Formen geradezu dazu einladen, sie zu manipulieren und ihnen spielerisch neue Möglichkeiten der Praxis abzuringen. Dass dies ganz im Sinne des Bauhauses ist, wird in einer Zeitungsnotiz aus dem Jahr 1924 von László Moholy-Nagy evident: In dem Spielzeug und Spielschrank drücken sich die pädagogischen Grundsätze des Bauhauses: schöpferische Selbstbestätigung als Grundlage elementaren Lebensausdrucks klar aus […] (Zit.n. Siedhoff/Siebenbrodt 2004: 55). Dass hier die Normierung und Typisierung von Formen, die für das Bauhaus (zumindest unter Gropius) so wichtig gewesen ist, keineswegs zu einem einfältigen Design geführt haben, das den Menschen zugemutet worden wäre, sondern dass gerade diese standardisierten Formen Kreativitätspotentiale freisetzten, dokumentiert sich dann auch in Buschers wohl berühmtesten Spielzeug, dem Schiffbauspiel, dessen farbigen Klötze sich in vielfältige Szenen verwandeln lassen. Meine These, dass mit dem Bauhaus-Design praktische Transaktionen möglich sind, die nicht nur auf Erziehung, d.h. auf eine Zumutung von Orientierungen, hinauslaufen, sondern im Anschluss an diese auch Bildungsprozesse, d.h. die selbständige Entfaltung und Transformation von Lebensorientierungen implizieren können, ist nicht an die Intentionen der Designer*innen selbst geknüpft, sondern beruht, wie ich bis hierhin gezeigt habe, vornehmlich auf einer Interpretation der «designten Dingwelten» (Jörissen 2015: 228) des Bauhauses. Die Bauhaus-Designer*innen, vor allem Gropius, mögen Intentionen gehabt haben, die dem nahekommen, was wir heute als Erziehung bezeichnen – nicht umsonst ist dem Bauhaus diese erzieherische Ambition unterstellt worden. Aber die praktischen Verwicklungen, in die man sich begibt, wenn man im Bauhaus-Design lebt, ermöglichen, wie gezeigt, durchaus auch jenseits der ursprünglichen Intentionen Bildungsprozesse. Bei Alma Buscher verhält es sich im Übrigen keineswegs so, dass sie alleine die Erziehung der Kinder im Sinne hatte. Eine Notiz beginnt sie mit den Worten: kinder sollten, wenn irgend möglich, einen raum haben, in dem sie das sein können, was sie wollen, in dem sie herrschen. jedes ding darin gehöre ihnen, – ihre fantasie gestaltet es - keine äußerliche hemmung störe sie – das mahnwort ‹laß sein›. – alles komme ihnen entgegen, die form entspreche ihrer größe, der praktische zweck hindere nicht die spielmöglichkeiten. – lichte bunte farben steigere fröhliche, helle stimmung. (Siedhoff-Buscher 1926: 156) Und etwas später beschreibt sie das von ihr entworfene Spielzeug:

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unser spielzeug (bauhaus): die form – einfach – unverwirrend klar und bestimmt – vielfältigkeit und reize schafft das kind selbst durch zusammenstellen, bauen. also – eine dauernde entwicklung. die proportion: gefühlsmäßig festgelegt, möglichst harmonisch. ein zweiter faktor, dem kinde innere verwirrung zu ersparen. die farbe: verwendet nur die grundfarben gelb, rot. blau, eventuell noch grün, vor allen dingen weiß zur steigerung der farbfröhlichkeit und damit der freudigkeit des kindes, – ein machtfaktor in der erziehung. – die spiele – als solche – alles sein könnend – ein ernstes oder ein scherzhaftes, – m ­ ärchen oder wirklichkeit, nur – das kind selbst schafft es. (Ebd.: 157)

Schlussgedanken Ich kann nicht beurteilen, inwieweit Alma Buscher mit ihren Bildungsintentionen – und als nichts anderes kann man das verstehen, was sie hier als «Entwicklung» bezeichnet – für sich alleine steht. Oder inwieweit es dem Bauhaus-Design insgesamt inhärent war, diejenigen Menschen, die mit ihren designten Dingwelten zu tun hatten, zunächst durch Erziehung ihrer tradierten Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten zu berauben, um ihnen auf diese Weise die Möglichkeit zu geben, im Sinne von Bildung eigene Lebensorientierungen zu entfalten. Dass Alma Siedhoff-Buscher nach dem Umzug des Bauhauses nach Dessau aus diesem von Gropius höchstpersönlich herausgedrängt wurde, mag man als einen Hinweis auf die Marginalität von Bildung im Bauhaus betrachten. Um hier aber zu einem präzisen Urteil zu kommen, wäre es zunächst nötig, die praktischen Transaktionen, in die Menschen, die im und mit dem Bauhaus-Design leben, empirisch präzise zu rekonstruieren. Denn welche pädagogischen Prozesse Design impliziert, lässt sich nicht anhand der Pläne und Intentionen von Designer*innen, ja nicht einmal anhand der Sachfotografien des Bauhauses selbst ermessen, sondern nur dann, wenn man die praktischen Verwicklungen berücksichtigt, in die sich Menschen mit diesen designten Gegenstandsarrangements begeben.

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Arnd-Michael Nohl, Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Erziehungswissenschaft an der Helmut Schmidt Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Erziehungs-, Bildungs-, Sozialisations- und Lernforschung, Pädagogik der Dinge, Methodologie rekonstruktiver Forschung.

Sarah Hübscher, Elvira Neuendank

beyond bauhaus Ästhetische Formen und kulturelle Praktiken als Gegen(-warts-)entwürfe

Menschen sind umgeben von designten Dingen, Objekten und Architekturen. In ihrem Design begründen sich Sichten auf Vergangenes, zeigen sich Gegenwartsbeschreibungen, werden Zukunftsnarrative formuliert und Utopien entworfen. Design ist nach Donald Alan Schön selbst eine «reflektierte [kulturelle] Praxis» (Schön 1983: 39; zit.n. Mareis 2012: 183) die sich mit den Aufgaben des Planens und des Problemlösens befasst. Demnach sind im Objekt auch implizite Vorstellungen von Menschen und ihren Lebensweisen, ihren Dingwelten und materiellem Umfeld sowie ihren Handlungen und Praktiken enthalten und ästhetisch in Formen und Material umgesetzt. Am Beispiel der Bauhaus-Stühle von Marcel Breuer aus den 1920er Jahren lassen sich solche Prozesse veranschaulichen und die darin eingelassenen Wissensformen diskutieren. Die folgenden Überlegungen zeigen exemplarisch, wie durch die Analyse einer Objektgattung aus dem Repertoire des Bauhauses ästhetische Formen und kulturelle Praktiken herausgearbeitet werden können. Das Ziel ist eine differenzierte Erschließung der «Dingbedeutung» im Sinne der Kulturanthropologin Gudrun M. König: Verfolgt man die Dinggeschichte von der Produktion bis zur Symbolisierung als Prozess, sind mehrschichtige Interpretationsebenen und Kontexte zu beachten. Die Mehrdeutigkeit der Dinge verlangt Offenheit für Umkodierungen und polyvalente Lesarten. (König 2012: 23) Über die multiperspektivische Betrachtung des Objekts lassen sich dann auch Rückschlüsse auf die mit dem Möbelstück verbundenen Menschenbildannahmen und Vorstellungen von Lebenslaufbewältigung ableiten. Konkret sollen hier durch eine qualitative Dinganalyse der Objektgruppe ‹Bauhaus-Stühle Breuer› Fragen nach dem soziokulturellen Bedeutungshorizont der Stühle gestellt werden und die

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darin implizit enthaltenen Gegenwarts- und Zukunftsformen – des beyond Bauhaus – herausgestellt werden. Der Erziehungswissenschaftler Michael Parmentier bezeichnete Objekte, in Anlehnung an Krzysztof Pomian,1 als Semiphoren, als Zeichenträger: Sie sind schon immer Teil des symbolischen Universums, in dem sich die Menschheit bewegen und orientieren muss. Wie die Sprachzeichen so gewinnen auch die Dingzeichen ihre Bedeutung zuerst durch das Andere, auf das sie verweisen. (Parmentier 2001: 40) Erst aus dem soziokulturellen Kontext, in dem ein Gegenstand eingelassen ist, wird Bedeutung generiert. Die Dinge sind Teil der Prozesse von Konstruktion, Dekonstruktion und Transformation von Werten und Normen innerhalb, von und zwischen Individuen, Gesellschaften und Kulturen. Dabei sind gerade pädagogische Prozesse, wie sie von und mit Dingen initiiert werden können, intersubjektiv angelegt: Denn «Intersubjektivität ist hierbei in sofern [sic] jeder souveränen Subjektivität vorgängig, als sich Subjekte in Sozial- und Anderenbezügen konstituieren und sich von Anderen her erlernen» (Jergus 2019: 268), wie Kerstin Jergus hervorhebt.

Stühle und Haltungen Zum Bauhausjahr 2019 wurden in der ZDF/arte-Produktion Die neue Zeit (Regie: Lars Kraume) unter anderem vermeintlich impulsgebende Momente des einstigen Bauhaus-Studenten Marcel Breuer filmisch inszeniert. Mit einem Stuhl im Zentrum der Aufmerksamkeit erscheint die Begegnung mit dem Maler, Architekten und Kunsttheoretiker Theo van Doesburg einer Geheimversammlung gleich: In einem abgedunkelten Kellerraum verfolgt eine Gruppe neugieriger Bauhaus-Studierender gebannt Ausführungen zu dem Architekten und Designer Gerrit Rietveld. Dazu zitiert Theo van Doesburg diesen prägenden Protagonisten des De Stijl in der vierten Folge der sechsteiligen Serie Die neue Zeit (D 2019): «Rietveld sagt, es geht nicht um Perfektion, sondern um eine neue Formensprache.» (00:33:20) Der rotblaue Stuhl von Rietveld ist in dieser Darstellung das Exempel für diese neue ‚Bestrebung. Filmisch wird hier hervorgehoben, was Bertus Mulder – ein Weggefährte Rietvelds – auch in einem Interview 20172 beschreibt: Das Wichtigste, was Gerrit Rietveld zur Möbelkunst und Architektur beigetragen hat, war, dass er Möbel zu räumlichen Objekten und Architektur zu Raumkunst machte. […] Als Tischler entwarf er keine abstrakten Objekte, sondern Gebrauchsgegenstände. Er baute Möbel, die keinen Raum einnahmen und bei denen das Innen und Außen so wenig wie möglich getrennt waren. Auf seinen Stühlen konnte man sitzen, aber nicht relaxen oder faulenzen. Anfangs klebte er hinten auf die Rückenlehne des 1 2

Pomian versteht unter Semiphoren Gegenstände, die Bedeutungsträger sind und das «Unsichtbare repräsentieren» (Pomian 1998: 50). Das Interview führte Friederike Fast, Kuratorin des Museum Marta Herford.

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­ ot-Blauen-Stuhls ein Gedicht von Morgenstern: «Wenn ich sitze, will ich R nicht sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte, sondern wie mein Sitz-Geist sich, säße er, den Stuhl sich flöchte.» (Fast 2017) Auch in der Serie enthält van Doesburg den Studierenden das Gedicht nicht vor und zitiert diese erste Strophe. Die Szene schließt mit der Reaktion des beindruckten Studenten Marcel Breuer. Was diese Filmszene jedoch nicht verrät, sind der Titel des Gedichtes und die zweite Strophe. Das Gedicht Der Aesthet, das Christian Morgenstern um 1900 schrieb, lautet weiter: «Der jedoch bedarf nicht viel, schätzt am Stuhl allein den Stil, überläßt den Zweck des Möbels ohne Grimm der Gier des Pöbels.» (Morgenstern 1975: 308) Morgenstern stellt unmittelbar die Einstellungen des Subjekts in das Verhältnis zu seinen lebensweltlichen Bezügen und den Dingen: Mensch und Objekt bedingen sich, das Objekt provoziert Umgangsweisen respektive soziale Praktiken. Bemerkenswert dabei ist, dass soziale Praktiken Karl Hörning zufolge nicht wie einzelne intentionale Handlungen jeweils erst durch eine irgendwie geartete motivierende Kraft in Gang gesetzt werden [müssen]. Eine Praktik ist von vornherein interaktiv in Lebenssituationen und kulturelle Kontexte eingebettet, in denen auch materielle Dinge, technische Geräte, Artefakte jeglicher Art eine wichtige Rolle spielen. Soziale Praktiken sind so in der Regel Praktiken mit und in Dingen, mit technischen Geräten, in Gebäuden, mit Autos, in Städten. Somit sind Artefakte […] integrale Bestandteile sozialer Praktiken, sie beeinflussen diese, sie prägen sie mit, werden ‹Mitspieler›, ohne sie zu determinieren. (Hörning 2019: 34) Morgenstern thematisiert an der Praxis des Sitzens den Zusammenhang von Zweck und Stil, Form und Funktion für die verschiedenen Milieus. Über den Alltagsgegenstand und den damit verbundenen praktischen Umgang kommt sogleich eine ganze Grundhaltung – oder mit Bourdieu gesprochen – ein Habitus zum Ausdruck (Bourdieu 1987: 98f.).

Sitzen und Kunst Der Umgang mit dem Möbelstück beruht auf einer Fülle vielfältiger Wissensformen, die – nach Bourdieu – vom Subjekt «in der Praxis immer wieder neu eingebracht, erlebt und mobilisiert» (Bourdieu 1987: 97) werden. Es stellt sich die Frage, auf welche impliziten Wissensformen das Subjekt zurückgreift, um die Begegnung und den Gebrauch zu regeln. Oder anders gefragt: Welche Wissensformen lassen sich von den Sitzmöbeln mit ihren soziokulturellen Bedeutungskontexten ableiten? Um den verschiedenen subjektrelevanten Wissensformen, die einen Umgang mit den Bauhaus-Möbelstücken bestimmen, nachzugehen, wird hier ein produktiver Umweg über die Kunst gewählt. Denn die Entkonventionalisierungsmodi der Kunst legen Alltagsstrategien offen und weisen explizit auf Strukturen innerhalb der Handlungsrepertoires hin und stellen das vermeintlich Selbstverständliche in

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Frage. Es lässt sich gerade den Routinen und vorreflexiven Grundhaltungen mit Kunstwerken nachgehen, da sie «ein verdichtetes Spiel von Erscheinungen, Wahrnehmungen und Bedeutungen evozieren können» (Sabisch/Wollberg/Zahn 2017: 80), wie Sabisch, Wollberg und Zahn mit ihrem Ansatz betonen. Denn Kunstobjekte selbst können nach Gail Dexter Lord als «cultural accelerators» (Lord 2008: 68) verstanden werden. Als ein Indikator für kulturelle, soziale und politische Prozesse bieten die Künste einen «reichen Fundus […] für die erziehungswissenschaftliche Erforschung schweigenden Wissens» (Sabisch/Wollberg/Zahn 2017: 89). Die ­ästhetischen Strategien der Kunst arbeiten mit intelligenten Brüchen, Störungen, Irritationen der Wahrnehmungsgewohnheiten und machen auch die Übersetzungsleistungen ihrer Rezipient*innen und Prosument*innen greifbar. Die Kunst kann als produktives Analysetool gerade bei der Suche nach dem verschwiegenen, impliziten und latenten Wissen helfen. Ein Beispiel: Die Fluxuskunst ist eine Form der Aktionskunst, die seit den 1960er Jahren die unmittelbare Verknüpfung von Objekt und Alltag, Kunst- und Alltagswelt, Kunstaktion und lebensweltlichem Handeln diskutiert. Als ein wichtiger Protagonist dieser Kunstform verhandelt George Brecht mit seinen Werken vielfach den transformierenden Charakter von Objekt und Praktik – besonders im Hinblick auf routinierte Verhaltensweisen und Gewohnheiten. 1961 führte George Brecht in der New Yorker Martha Jackson Gallery das erste Chair Event auf. Dazu installierte Brecht drei unterschiedlich designte Stühle in und an der Galerie. Er inszenierte einen weißen Stuhl unter einem Spot unmittelbar auf der Ausstellungsfläche: «presented […] very theatrically, like a work of art» (zit.n. Marczewska 2018: 206). Einen schwarzen Stuhl stellte er in den Toilettenraum und kommentierte: «I have the impression that no one noticed that it was part of the exhibition» (zit.n. ebd.: 206). Einen dritten, gelben Stuhl positionierte er vor der Galerie und beschrieb: «the most beautiful event happened to the yellow chair […] when [sic] I arrived there was a woman wearing a large hat comfortably sitting in the chair and talking to a friend» (zit.n. ebd.: 206). Seine Idee war es, die Besucher*innen der Galerie mit dem Alltagsobjekt Stuhl als Exponat zusammenzubringen und diesen Moment in eine (offene) Handlung zu überführen, den performativen Akt des Sitzens und den Umgang mit zu Kunst erklärten Objekten zu thematisieren. Brecht selbst definierte die Handlung mit den Objekten als Ereignisse oder eigene Formen der Aufführung. Brechts performance note lautete: «Each event comprises all occurences within its duration.» (Taruskin 2010: 91) Genau das gilt auch für die Realisation in der Martha Jackson Gallery der Three Chair Events. Die Eventkarte der Three Chair Events trägt die Aufschrift: «Sitting on a black chair. Occurrence / Yellow Chair. (Occurrence) / On (or near) a white chair. Occurrence.» (Dezeuze 2006: 60) Brecht übergibt die von ihm ausgewählten Objekte in die unvorhersehbare Handlung mit den Besucher*­ innen. Unabhängig davon, ob die Menschen den Stuhl benutzen, nur beachten oder gar ignorieren – alles ist Teil der Performance. Sollte sich jemand der üblichen Praktik des Sitzens auf einem der Stühle versuchen, wird das Sitzen in der Einzelhandlung isoliert und als bewusste Aktivität für den/die Sitzende/n sowie für das Publikum herausgestellt. Hinzu kommt, dass das Sitzen als Einzelhandlung im Galerie- bzw. Museumsbetrieb eine höchst seltene Handlung ist: Die üblichen kulturellen Praktiken und Interaktionen beschränken sich auf Sehen, Gehen, Stehen

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und leise Gespräche. Wird das Sitzen jedoch während der Aufführung mehrfach praktiziert und in ein routiniertes Handeln überführt, wird es zur Praktik im Sinne der Soziolog*innen Julia Reuter und Karl H. Hörning, denn nicht jede Hantierung, nicht jedes Tun ist schon Praxis. Erst durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die soziale Praktiken ausmachen. Soziologisch interessant ist jenes gemeinsame Ingangsetzen und Ausführen von Handlungsweisen, die in relativ routinierten Formen verlaufen und eine bestimmte Handlungsnormalität im Alltag begründen. (Hörning/Reuter 2004: 12) 1972 realisierte George Brecht eine modifizierte Version seiner Three Chair Events von 1961 im Dortmunder Museum am Ostwall. Er platzierte drei Stühle, wieder in den Farben Weiß, Gelb und Schwarz, in unterschiedlichen Designs. Die Sitzmöbel repräsentierten unterschiedliche Wohnstile und Kulturtechniken auf den drei Museumsetagen und standen mal mehr, mal weniger beiläufig neben anderen Kunstobjekten. Mit der Anweisung auf der Eventkarte, zu agieren, hob er die bloße Betrachtung der Kunst und Kontemplation im Museumsraum auf und überführte das Setting in Aktionen mit den Objekten und den sie umgebenden Menschen und zeigte das Sitzen als unmittelbare Aktivität. Mit diesem Kunstwerk von George Brecht wird deutlich, dass das Sitzen nicht nur dazu dient eine andere Tätigkeit auszuführen, sondern selbst wesentliches Element eines komplexen menschlichen Miteinanders und Verhaltens mit dem materiellen Umfeld ist. Dabei zeichnet der kontextuelle Rahmen aus räumlichen Strukturen, Handlung und zwischenmenschlichen Umgangsweisen das Sitzen als symbolische und soziale Interaktion aus. Der Umweg über die Kunst irritiert auf eine produktive Weise das Selbstverständliche im Umgang mit dem Möbelstück Stuhl, sodass daraus das Untersuchungsinteresse für die allgemeinen Dimensionen – Material und Form, Mensch und Kontext – für die Betrachtung dieser Objektgruppe konkretisiert wird. Dabei wird das Ziel verfolgt, für die Breuer-Stühle der 1920er Jahre inkorporierte Bestandteile von kulturellen Praktiken, Selbst- und Weltkonzepten analytisch sichtbar zu machen und dabei folgenden Vorannahmen nachzugehen: 1. Der Stuhl ist ein Teil vielfältiger alltäglicher Praktiken. 2. Der Stuhl ist ein Wissensobjekt, weil darin schweigendes aber handlungsleitendes Erfahrungswissen eingelassen ist. 3. Daraus folgt auch, dass designkulturelles Wissen größtenteils implizit ist und mit jeder weiteren Dingbegegnung aktualisiert, erweitert oder in Frage gestellt wird. 4. Materielle Standards prägen unsere Wahrnehmungsweise und resultierende Handlungsvollzüge, denn erst im Umgang mit, in und durch die materielle Dingwelt prägen sich soziokulturelle Praktiken aus.

Material und Form Verstärkt seit Mitte der 1920er Jahre wird die Funktion zu einem immer ausschlaggebenderen Kriterium für die Entwürfe am Bauhaus – die Skepsis gegenüber der

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Industrie der Anfangszeit weicht und gezielte Kooperationen werden angestrebt.3 Besonders mit dem Standortwechsel von Weimar nach Dessau 1925/26 wird die Ausrichtung hin zu Technik und industrieller Rationalität zu einem wesentlichen Teil des institutionellen und gestalterischen Selbstverständnisses (Wilhelm 2003: 58; Haus 2013: 14–21). Gerade die verschiedenen Stahlrohrsitzmöbel von Marcel Breuer spiegeln seit Mitte der 1920er Jahre diese Orientierung wider: Der Materialauffand und die Bauweise werden zweckdienlich reduziert, dabei besser aufeinander abgestimmt und zudem eine maschinelle Fertigungsweise perfektioniert. Eine Produktion als Massenprodukt wird zum anvisierten Ziel.4 Diese Bestrebungen Breuers zeigen sich auch in seiner Arbeitsweise, der er die Systematik einer eigenen Maßeinheit von 33 cm zugrunde legt (Gleiniger 2013a: 324). Zweckdienlich, rational und für verschiedene Ausführungen variierbar, so sollte der Produktionsprozess von Möbeln sein. Besonders die Verwendung von Stahl als tragendes und formgebendes Material des Sitzmöbels eröffnet eine Vielfalt an Möglichkeiten: von Hockern über Clubsessel bis hin zur Klappbestuhlung. 1926 stattet Breuer in dem neuen BauhausGebäude in Dessau die Aula, die Kantine sowie die Studierendenateliers damit aus. Auch in die neuerbauten Meisterhäuser finden die Stahlrohrmöbel in unterschiedlichen Varianten Einzug. Das nahtlos gebogene Stahlrohr wird zum Ausgangspunkt eines industriell gefertigten repräsentativen Sitzmöbels. Stahl – ein Material, das zuvor nicht für den häuslichen Innenraum vorgesehen war – wird vor allem durch Breuers Bestrebungen für den Möbelbau breitenwirksam erschlossen. Zwar wurden Stahlrohrmöbel bereits seit dem 19. Jahrhundert hergestellt, doch beschränkte sich ihr Einsatz auf den technischen Bereich (Droste 1992: 15). Noch elf Jahre vor Einführung des Stahlclubsessels durch Marcel Breuer schien es unvorstellbar, dass Stahlrohrmöbel Teile der bürgerlichen Wohnzimmer werden – wie ein Kommentar Paul Scheerbarts deutlich macht: «Das komplizierteste Kapitel des ganzen Kunstgewerbes ist der Stuhl. Der Stuhl aus Stahl scheint eine ästhetische Unmöglichkeit» (Scheerbart 1914: 39). In dieser Aussage spiegelt sich das designkulturelle Wissen dieser Zeit wider, welches ein Jahrzehnt später auch durch die Entwürfe Marcel Breuers in Frage gestellt wird. Das Material Stahl hat durch die Verarbeitungsweise als gebogenes Stahlrohr die Eigenschaften leicht, preiswert, zerlegbar und hygienisch zu sein. Diese nützlichen Eigenschaften, die ästhetisch mit Glanz, Kühle und Härte assoziiert werden, gehen einher mit einem Eindruck von Leichtigkeit und Transparenz, die durch den reduzierten Materialaufwand und die Formenwahl aufkommen. Zudem wurde die Kühle des Stahls kontrastiert und abgemildert durch den Einsatz von Stoffbespannung oder Rattanelementen. Auch waren die Räume (Fußböden und Wände), für die diese Möbel gedacht waren, mit Bastmatten bespannt und in einer hellen Farbigkeit angelegt (Droste 1992: 15ff.). Zu den konstruktiven Innovationen gehört auch die Form der Kufe, die in Verbindung mit den übrigen Rohrlinien zu einer ganz neuen Erscheinung führte. Es entstanden 3 4

1923 eröffnete Walter Gropius in Weimar die Bauhaus-Ausstellung mit dem Vortrag Kunst und Technik – eine neue Einheit (Rössler 2009). Der Standort Dessau ermöglichte eine Kooperation mit den Junkers-Flugzeugwerken. Durch deren besondere Materialkenntnis des Werkstoffs Metall (1919 bauten sie das erste Ganzmetall-Verkehrsflugzeug der Welt) war dies eine wichtige Produktionsstätte für die Modellmuster von Breuers Stahlrohrmöbel (Seckendorff 2013: 409).

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Susan Ho, Skizze auf Papier, Detailansicht, Original farbig, Blattmaß 21 × 14,8 cm, Exkursions­ tagebuch Dessau/Wörlitz 2014.

neue Proportionen und gestalterische Elemente, die sich von den bisherigen Stuhlmöbeln deutlich unterschieden. Der 1925 entworfene Stahlclubsessel B3 Abb. 1 beispielsweise wurde vom Bauhaus offensiv unter dem Motto «der abstrakte stuhl!» (zit. n. Droste 1992: 13) beworben, wie die Fotoliste für die Leipziger Illustrierte Zeitung5 dokumentiert. Der erzeugte kubisch-transparente Raumeindruck dieses Möbelstücks wurde durch das runde glänzende Rohr, welches das Licht reflektierte, noch verstärkt. Die Abstraktion des Sitzmöbels hatte auch Konsequenzen für die Art und Weise des Gebrauchs und wirkte sich schließlich auch auf das Verständnis der Wohn- und Alltagskultur aus. Gerade der Stahlclubsessel fordert aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit und Formung eine Körperhaltung ein, bei der die Person eine zurückgelehnte, aber erhabene und distanzierte Position einnimmt. Es ist kein gemütliches Ruhen, wie in einem bequemen Ohrensessel möglich, sondern nur eine aktive Denkerpose – ein Präsentieren als intellektuelle Person.6 So raumeinnehmend und dennoch transparent dieses Möbelstück ist, so sehr rückt es die darin platznehmende Person in den Vordergrund.7 Das Sitzen in diesem Sessel wird unweigerlich zu einem Statement, das sogleich die Präferenz für einen Lebensstil mittransportiert.

Menschen und Kontexte Breuers Stahlrohrmöbel B9 Abb. 2 ist aus einem gebogenen Stahlrohr und einer lackier­ten Holzplatte gefertigt und so simpel und reduziert, dass es dadurch zwei Funktionen erfüllen kann – es kann als Hocker und Beistelltisch zugleich dienlich 5 6 7

Bauhaus-Archiv Berlin, Signatur GN 3/107. Diese Denkerpose befindet sich in überspitzer Weise als zeitgenössische Karikatur auf einem Titelblatt der Zeitschrift Das Zelt (Das Zelt 1930). Vgl. auch zum Sitzkomfort und der Körperhaltung die Beschreibung von Werner Möller von der Stiftung ­Bauhaus Dessau in einem Beitrag der Deutschen Welle (2010).

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Dagmar Pleines, Skizze auf Papier, Detailansicht, Original farbig, Blattmaß 21 × 14,8 cm, Exkursionstagebuch Dessau/Wörlitz 2014.

sein. 1925 entworfen, wurde es besonders in der Kantine des Bauhaus-Gebäudes in Dessau zu einem wichtigen Teil der Möblierung. Auf zahlreichen historischen Fotografien, die im Alltag der Studierenden und Lehrenden entstanden sind, zeigt sich, dass dieses Möbelstück kein gemütliches Sitzen ermöglicht.8 Das war der Preis für die Multifunktionalität, die hier zusammen mit der reduzierten Formensprache den Vorrang hatte. Dieser Hocker lädt nicht zum Verweilen ein, weil die Sitzfläche plan und ohne jegliche Flexibilität gestaltet ist und eine Rückenlehne zur entspannten Lagerung des Oberkörpers fehlt. Ein Sitzen auf dem B9-Hocker findet nur unter ständiger Bewegung, Gewichtsverlagerung und Körperspannung statt. Der Mensch musste beweglich und aktiv bleiben. Diese Ausrichtung hin zu mehr Beweglichkeit und Aktivität zeichnet gerade die verschiedenen freischwingenden Stahlrohrstühle von Breuer wesentlich aus.9 Durch die Reduktion des Stahlrohres hin zu einer geschwungenen S-Form wurde das Sitzen noch flexibler – das freischwingende Sitzen fand Einzug in die Sitzkultur. Abb. 3 Da bei diesem Stuhltyp auf die Hinterbeine verzichtet wurde, gibt die Sitzfläche bereits unter dem Gewicht der Person federnd nach und der Stuhl reagiert auf jegliche Bewegungen. Von diesem Design, das vom Bauhaus unter der ­Maxime, «elastisch wie eine feder» (zit.n. Droste 1992: 30)10 zu sein, vertrieben wurde lässt 8 9

Dies dokumentieren beispielsweise die Aufnahmen von Umbo (Otto Umbehr) oder Iwao Yamawaki zu Beginn der 1930er Jahre. Bereits vor Breuer hatten Mart Stam und Ludwig Mies van der Rohe Freischwinger entwickelt. Marcel ­Breuer schuf wie andere Designer auch eigene Varianten dieses neuen Stuhltyps, beispielsweise den 1928 als B32 entworfenen ­Freischwinger. Vgl. auch die Analysen von Máčel 1992 und Möller / Máčel, 1992. 10 Zitat aus Herbert Beyer: Katalogblätter Wohnbedarf, 1934. Fotos: Hans Finsler.

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Ann-Kathrin Nienaber, Skizze auf Papier, Detailansicht, Original farbig, Blattmaß 21 × 14,8 cm, Exkursionstagebuch Dessau/Wörlitz 2014.

sich ein implizites Menschenbild ableiten. Eine Vorstellung von den Möbelnutzer*innen, die auch in den anderen Stahlrohrmöbeln von Breuer der 1920er Jahre enthalten ist, aber hier sehr prägnant hervortritt: Die Nutzer*innen gehen aktiv durchs Leben, versacken nicht im Möbel und verweilen, wenn, dann nur in ständiger Bewegung. Stillstand, Gemütlichkeit und Untätigkeit sind hier nicht vorgesehen. Dieses Möbeldesign impliziert ein Menschendesign, das auf einem technikaffinen Zukunftsnarrativ basiert: Besonders die «glänzenden und geschwungenen Linien des gebogenen Stahls [wurden] als Inbegriff technischer Formgebung» (Gleiniger 2013b: 328f.) aufgefasst. Aus dieser neuen technischen, zukunftszugewandten Zeit sollte auch ein neuer Mensch hervorgehen – aktiv, beweglich und mit Technik interagierend. Die Stahlrohrmöbel Breuers der 1920er Jahre zeugen von den ­Bestrebungen dieser Zeit: Sie zeigen das Interesse an Technik und die Vision, Zukunftsnarrative in Formsprachen zu überführen. Mit der Entwicklung der Möbel wurde das Ziel verfolgt, eine neue Wohn- und Lebenskultur zu favorisieren, mitzugestalten und auszuprägen. Denn so Hörning: «Dem Bauhaus ging es um eine neue Logik des Wohnens, ausgedrückt in Gebäuden, Raumanordnungen, Möbeln und Gegenständen des täglichen Gebrauchs» (Hörning 2019: 29). Dabei betont auch Magdalena Droste, dass der Erfolg der Stahlrohrmöbel gerade darauf beruht, «daß sie dem Zeit- und Lebensgefühl der Avantgarde symbolisch Ausdruck ­verliehen.» (Droste 1992: 15) Diese Interieurs – so Drostes Fazit – «waren also besonders auf Menschen zugeschnitten, die Modernität als Eigenschaft ihrer Persönlichkeit begriffen und dies bewusst darstellen wollten.» (Ebd.: 24) Gegen Ende der 1920er Jahre begann der Siegeszug der Stahlrohrmöbel in Deutschland. Helle, reflektierende Oberflächen, Glas, Metall und kräftige Farben wurden zu einem ästhetischen Standard des neuen Wohnens und offene, helle Räume galten als

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Ausdruck von Modernität. Mit den Bauhausmöbeln ließ sich an dieser soziokulturellen Praxis des Wohnens teilhaben. In diesem Sinne «ist das Design der industriell hergestellten Dinge stets mit der Herausbildung und Transformation moderner Lebens- und Gesellschaftsformen verknüpft.» (Hörning 2019: 29)11 Doch die Kritik des Zeitgenossen Siegfried Kracauer zeigt, dass gerade die Beweglichkeit, das erzeugte Körperbild und die Materialität einen massiven Einschnitt in die gewohnte Wohnkultur erzeugten. Er schreibt in der Frankfurter Zeitung über seinen Besuch der Deutschen Bauausstellung 1931: Die Not, die Eisen bricht, scheint Stahl zu gebären. Wohin man blickt, überall stehen Stahlstühle bereit, und der Eindruck vertieft sich, dass das Holzzeitalter endgültig vorbei ist. Ich sehne mich angesichts der ausgezerrten Stahlgerippe nach ihnen zurück. Mögen sie immerhin den Gesetzen der Statik genügen: ihre Schwingungen sind mir verdächtig, und ihre Schlankheit paßt nicht recht zu der Fülle des Körperteils, der mit ihnen die regsten Bewegungen unterhält. Es ist, als würden sie nicht von Menschen selber, sondern von ihren Röntgenbildern zum Sitzen benutzt. […] Wahrscheinlich halten sie bald Einzug in die Drei- und Vierzimmerwohnungen, die dann ein Stahlbad sein werden wie einst der Krieg […]. (Kracauer 1990: 329) Gerade dieses Befremden Kracauers angesichts der neuen Tendenzen der Wohnkultur macht deutlich, wie maßgeblich die Herausbildung von Lebensformen durch Design getragen wird. Bisherige Materialerfahrungen und der historische Erlebnishorizont der Nutzer*innen liegen als implizites und explizites Wissen vor, auf dem eine Haltung zum Design basiert. Dazu gehören die Affinität und der praktizierte Umgang mit ästhetischen bzw. aisthetischen Standards, was dann in einem ästhetischen Urteil mündet, wie es beispielsweise der einstige Mitarbeiter Breuers Gustav Hassenpflug formulierte. Dieser wertete die Metallmöbel Breuers 1935 als «Beispiele des Verfalls der Wohnungskultur» (Hassenpflug 1935) deutlich ab. Der reduzierte und klare Einrichtungsstil von Breuer war in der Öffentlichkeit höchst umstritten. Die fehlende Gemütlichkeit wurde mit der Raumwirkung von Arztpraxen und Operationssälen verglichen. Mit seiner Kritik hebt Julius Posener 1932 dabei die eigene Empfindung in dem Raum-Objekt-Ensemble hervor: «All diese Räume üben immerfort die schärfste Kontrolle auf meine Haltung aus, und ich bin der Beschämte, wenn mir einmal nicht so ist, wie mein Zimmer will.» (Posener 1981: 39) Die materielle Beschaffenheit wird hier als wichtiger Orientierungspunkt für die eigene Konstitution beschrieben. Die strengen, klaren Strukturen der Inneneinrichtung – von denen der Stahlrohrstuhl ein markanter Teil ist – werden in dieser zeitgenössischen Kritik sogar als übergriffig empfunden. Das materielle Setting der Bauhaus-Möbel in einem konsequent im Bauhaus-Stil gestalteten Raum legt eine bestimmte Lebensform nahe – ein Verhalten von Körper und Geist drängt sich auf.

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Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Selle 1994 und Schneider 2005 bzw. 2019, auf die Hörning hier Bezug nimmt.

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Wissensformen und «Dingbedeutungen» Wird Wissen nicht nur als eine Summe von Eindeutigkeiten, Fakten, Regeln und theoretischen Zugängen gedacht, dann finden auch praktische Tätigkeiten, soziokulturelle Phänomene, sinnliche Empfindungen und vage Zustände Beachtung. Ein umfassender Wissensbegriff erfasst neben den klar verbalisierbaren Kenntnissen vom Subjekt und der Welt auch die uneindeutigen, unausgesprochenen und unaussprechlichen Zustände und Verhältnisse (Budde u.a. 2018, darin bes. Nohl). Die Erforschung von designkulturellen Praktiken, die die vielfältigen Dimensionen expliziten und impliziten Wissens berücksichtigt, basiert auf der Skepsis gegenüber der Passfähigkeit kognitivistischer Ansätze. Aus diesem Zweifel folgt vielfach eine Annäherung an praxistheoretische Forschungsperspektiven, die einen besonderen Fokus auf die Dynamiken von Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsweisen innerhalb eines sozialen Geschehens legt. Für die pädagogische Perspektivierung praxistheoretischer Fragestellungen verweisen die Erziehungswissenschaftler*innen Jürgen Budde, Martin Bittner, Andrea Bossen und Georg Rißler auf die besondere Bedeutsamkeit vorbewusster, unreflexiver, impliziter Anteile für mögliche Forschungsansätze: Vielmehr geht es […] um Reflexionsfolien und Verstehensgrundlagen des Pädagogischen, also dessen, was mit Begriffen wie Wissensvermittlung, Aneignungsprozessen, Bildungspraxis, Lernen oder etwa Differenzbearbeitung zu bestimmen versucht wird. Eine solche praxistheoretische Erziehungswissenschaft verweist dabei auch auf den Umstand, dass die Bearbeitung von Fragen nach einem bewusstseinsgesteuerten und rational begründeten Handeln nur annähernd in der Lage ist, das Pädagogische angemessen zu theoretisieren. (Budde u.a. 2018: 10) Die prägnantesten Wissensformen, die von der materiellen Beschaffenheit der Stahlrohrsitzmöbel Breuers und den verschiedenen Resonanz darauf abzuleiten sind, lassen sich mit Hilfe von zwei Dimensionen zusammenfassen: 1. Wissen als Grundlage für ein ästhetisches Empfinden und Verhalten; 2. Wissen im Sinne einer gekonnten Teilhabe an symbolischer und sozialer Kommunikation. Diese Bereiche durchdringen sich stets gegenseitig und stehen in einem untrennbaren Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Die eigentliche Nutzung eines Sitzmöbels stellt keine hohen Anforderungen an den Körper dar. Das Sitzen wird bereits im Kleinkindalter erlernt und ist bei gesunder Konstitution bis in die Hochaltrigkeit möglich. Doch den Prozessen der Auswahl und Positionierung von Möbeln liegt ein ganzes Geflecht von Wissen zugrunde. Schon mit der Anschaffung wird bewusst oder vorreflexiv der Frage nachgegangen: Wie ist das (Wohn-)Umfeld angemessen zu gestalten? Welches Möbelstück passt wohin und erzeugt in welchem Kontext welche Wirkung? Mit der Wahl des Möbelstücks findet ein sinnlich emotionales Abwägen statt, das als ästhetisches Verhalten praktisch zur Anwendung kommt. Der konkrete Umgang mit dem materiellen Gegenstand erfordert aber auch ein Können im Sinne einer

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gekonnten Handhabe symbolischer und sozialer Codes. Denn mit dem Erwerb eines Möbelstücks – wie beispielsweise dem Stahlclubsessel B3 – transportierten Nutzer*innen sogleich auch bestimmte Selbst- und Weltverständnisse und eine soziale Positionierung innerhalb einer Gemeinschaft. Diese Wissensbestände sind jedoch weder statisch noch lassen sich feste Determinationen oder Monokausalitäten ableiten. Gerade die Materialität und soziokulturelle Kodierung ­unterliegt (inter-)subjektiven und zeitbedingten Parametern. Maßgeblich dafür verantwortlich sind die jeweiligen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezüge, aus denen das designkulturelle Wissen der Möbelnutzer*innen hervorgeht. Die Vergangenheitsbezüge bilden dabei den Erfahrungs- und Erkenntnishorizont zur Beurteilung des Gegenstands bzw. der Form und der Materialität, die in einer Gegenwart den Resonanzraum einer Gemeinschaft konstituieren. Dabei implizieren die vielfältigen designkulturellen Wissensbestände zu einer bestimmten Zeit immer auch eine Erwartungshaltung – eine Zukunftsperspektivierung: Die Nutzenden projizieren sich und ihr materielles Umfeld in ein Morgen und Übermorgen. Das Bauhaus transportierte mit seinen neugeschaffenen Strukturen, Formen, Materialien und Ästhetiken sowie seinen Visionen zu Mensch und Technik immer ein implizites beyond, das den gegenwärtigen Moment als zukunftsträchtigen Zustand herausfordert.

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Hübscher, Sarah / Neuendank, Elvira / Vogel (Hg.) (2016): Utopien im Dialog. Bauhaus Dessau trifft Gartenreich ­Wörlitz. Oberhausen, Athena, S. 51. Foto: Elvira Neuendank. Hübscher, Sarah / Neuendank, Elvira / Vogel (Hg.) (2016): Utopien im Dialog. Bauhaus Dessau trifft Gartenreich ­Wörlitz. Oberhausen, Athena, S. 49. Foto: Elvira Neuendank. Foto: Elvira Neuendank.

Biografien

Sarah Hübscher, Kunst- und Kulturwissenschaftlerin, lehrt am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik der TU Dortmund. Freie Mitarbeiterin des Museum Ostwall im Dortmunder U und dort als Kuratorin und Projektleiterin diverser Formate tätig. 2020 Promotion Interaktion im Kunstmuseum – das Museum Ostwall im Dortmunder U. Außerdem Gründungsmitglied des künstlerisch-wissenschaftlichen Kollektivs Frappanz sowie Initiatorin der interdisziplinären Plattform on_display. Forschungsschwerpunkte sind die Kulturanalyse und Kulturvermittlung im musealen Kontext und urbanen Raum sowie Ausstellungen als Interaktionsräume.

Elvira Neuendank, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Allgemeine Erziehungswissenschaft und Historische Bildungsforschung (TU Dortmund), zudem in ihrer Funktion als freie Mitarbeiterin der Abteilung Bildung und Kommunikation des Museums Ostwall im Dortmunder U als Projektleiterin und Kuratorin tätig. Forschungsschwerpunkte: Ästhetische Bildung; Medien-, Film- und Erinnerungskultur; Fragen der Vermittlung in musealen Settings aus kultur- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive.

Henning Schluß, Johanna Klär, Ken Nilles

Das Bauhaus als Bildungs-Raum im Diskurs Der Streit um das Bauhaus Die Versuche des Bauhauses, das Leben zu ordnen (Wünsche 1989) waren zwar einerseits global und diachron sehr erfolgreich, stießen jedoch gleichwohl lokal und bei den Zeitgenoss*innen auf eine Mischung aus Skepsis, Zweifel, Verachtung und Akzeptanz des vermeintlich Alternativlosen. So weisen sie eine anfangs verstörende und doch weithin normgebend werdende Verbindung von Raum und Bildung auf, die weit über die Strukturierungsdimension anderer Bauweisen hinausgeht. Dass der oftmals für ein Unikat der deutschen Sprache gehaltene Begriff der Bildung eng mit dem englischen building verwandt ist, verweist auf eine wenig berücksichtigte Dimension des Begriffes, die das Bauhaus zu nutzen versuchte und der wir hier nachgehen wollen. Gegenstand ist jedoch nicht der haptische Raum an sich, sondern eine Diskursgeschichte des Bauhauses, die sich im und am Raum ereignete und bis in die Gegenwart reicht. Dabei soll deutlich werden, wie Diskurse um Räume deren Wahrnehmung bestimmen und Einfluss auf das Bildungsgeschehen um sie nehmen. Exemplarisch wollen wir drei aufkommende diskursive Konflikträume diachron näher betrachten, die insofern zumindest die Chance bergen, zu Bildungsräumen zu werden, als sich an Konflikten Bildungsprozesse ereignen können. Diese bezeichnen wir mit den Begriffen Performance, Siedlerbewegung und Nachhaltigkeit. Performance, die Siedlerbewegung und die Nachhaltigkeit.

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Lyonel Feininger, Kathedrale, Titelblatt des Manifests und Programms des Staatlichen Bauhauses Weimar, April 1919, Holzschnitt.

Weimar (1919–1925) Die Geschichte des Bauhauses beginnt 1919 in Weimar, als Walter Gropius die Leitung der von Henry van de Felde gebauten und zunächst auch geleiteten Kunstgewerbeschule übernimmt. Letzterer wurde aus politischen Gründen abgesetzt, jedoch dürfte für die politisch Konservativen und die Nationalsozialisten Gropius, auch wenn er sicher kein Sozialist war, keine große Verbesserung gewesen sein, denn bereits auf dem Titelblatt des Bauhaus-Manifests prangte Lyonel Feiningers Kathedrale des Sozialismus. Abb. 1 Das staatliche Bauhaus hatte im konservativen Weimar also von Anfang an mit starkem Gegenwind zu rechnen. Performance: Oskar Schlemmers Bühne in Weimar Bereits vor dem ersten Weltkrieg gab es im Theaterbetrieb Tendenzen des Umbruchs. Das rein Inhaltliche sollte überwunden und vom Individuellen abgelöst werden, um mit den Formen des Ausdrucks experimentieren zu können (Scheper 1988: 17) – eine Kampfansage für das klassische Theater. Auch dem schwäbischen Maler Oskar Schlemmer schienen die herkömmlichen Praxen nicht mehr zeitgemäß. Bereits 1912 entwickelte der Künstler erste Ideen für eine Theaterinszenierung,

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Oskar Schlemmer, Gruppenfoto aller Figurinen im Triadischen Ballett, 1927.

welche die Kunstwelt auf den Kopf stellen sollte (Schlemmer 1985: 22). Er ­versuchte die Bewegungsabläufe des Tanzes vom rein Emotionalen und damit auch Individuellen zu befreien (Scheper 1988: 57) – die Geburtsstunde des triadischen Balletts: drei Tanzende, drei Stimmungen, drei Farben und drei räumliche Dimensionen. Die Tanzenden sollten im Rahmen dieses Ordnungsprinzips zu ihrem eigentlichen Ausdruck kommen (ebd.: 36). Eine Idee, die sich im Laufe der Jahre zwar weiterentwickelte, aber vom Prinzip her konstant blieb. Im Januar 1921 begann Schlemmer seine Tätigkeit am Bauhaus und übernahm 1923 die Leitung der Bauhausbühne (Maur 2009: 149). Der Beginn dieser neuen Ära wurde von Hochleistungsdruck begleitet, da sich die Bühne im Rahmen der Bauhaus-Ausstellung innerhalb kürzester Zeit neuformieren musste (Scheper 1988: 78). Die Resultate, die aus den Bemühungen der Bühnenwerkstatt hervorgingen, waren das mechanische Ballett und Kabarett, sowie die Wiederaufnahme des triadischen Balletts Abb. 2 am Weimarer Nationaltheater. Die weitreichenden positiven Reaktionen auf diese Innovationen beunruhigten jedoch die konservativen Politiker, da sich der Einfluss des Bauhauses weiterverbreiten konnte. Die Bühne von Schlemmer war damit nicht nur ein öffentlicher Angriff auf das klassische Theater, sondern auch auf dessen kanonisierte und weitgehend nationale Inhalte. Es war ein öffentlicher Raum der Kontroverse geschaffen, welcher eine nicht zu leugnende Gefahr für die konservativen Reihen Weimars darstellte und Konsequenzen haben sollte (Schlemmer 1985: 264). In Weimar fiel das Bauhaus auch deswegen in Ungnade und sah sich 1925 gezwungen zu schließen.1 Es musste sich nach einer neuen Wirkungsstätte umsehen. Unter den durchaus beachtlichen Angeboten entschieden sich die Bauhäusler*innen für die Hauptstadt des Klein-Staates Anhalt, Dessau. 1

Nach der gewonnenen Wahl der Deutschnationalen in Thüringen 1924 und der Ernennung von Richard Leutheußers zum ­Vorsitzenden des Staatsministeriums wurden die Mittel für das Bauhaus, trotz seiner sehr erfolgreichen Werkschau von 1923 um die Hälfte gekürzt.

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Dessau (1925–1932) Dessau schien aus mehreren Gründen besonders geeignet zu sein. Zunächst hatte die Stadt eine ausgeprägte liberale und relativ fortschrittliche Tradition. Unter dem Dach des mächtigen Verbündeten Preußen entwickelte ein ambitionierter aufgeklärter Landesherr, Leopold Friedrich Franz, Anhalt im 18. Jahrhundert zu ­einem Musterfürstentum. Die Armee wurde abgeschafft und die Landschaft nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten umgestaltet, die öffentlich zugäng­ lich waren und in denen Musterwirtschaften betrieben wurden. Der Philanthrop Johann B. Basedow konnte mit der Unterstützung des Fürsten in einem Palais die erste Reformschule gründen – das Philanthropin. Diese prägende Epoche lag ­jedoch weit zurück. Ein weiterer Grund war zweifellos die Nähe zur deutschen, wenn nicht europäischen Metropole Berlin. Mit der Eisenbahn war man in anderthalb Stunden am Anhalter Bahnhof und damit mitten im brodelnden Zentrum der Zeit. Ein Umstand, den insbesondere die Bauhaus-Meister*innen, die zumindest sich selbst zur europäischen Avantgarde zählten, sehr zu schätzen wussten, fühlten sie sich im provinziellen Thüringen doch nicht selten in einer Art unfreiwilligem Exil. Die Nähe zur Metropole war Fluch und Segen zugleich, denn nicht selten waren die Meister*innen ausgeflogen, um ihre Quartiere in Berlin zu nutzen und waren selbst dann nicht regelmäßig in Dessau anzutreffen, als die Meisterhäuser fertiggestellt waren. Zu der gemäßigt fortschrittlichen Atmosphäre, die sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in genossenschaftlichen Errungenschaften wie dem Volkshaus, dem Konsumverein oder dem Volksblatt für Anhalt zeigte (Scheifele 2003: 9), kam nach dem Ende des Krieges eine starke sozialliberale Strömung hinzu. Im Januar 1918 wurde der liberale Stadtrat Fritz Hesse mit den Stimmen der SPD zum Bürgermeister gewählt (ebd.: 24). Die Sozialdemokratie wurde von Heinrich Peus dominiert, der schon vor dem Krieg Reichstagsabgeordneter war. Peus ist zum Kreis der Mehrheitssozialdemokraten zu rechnen, die den radikaleren Strömungen mit Distanz gegenüberstanden. Das bewahrte Dessau in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor Massenstreiks. Die Kombination aus revisionistischer Sozialdemokratie und liberalem Bürgertum war gleichwohl sehr erfolgreich und bis 1932 waren beide Personen mit ihren jeweiligen Parteien die dominierenden Kräfte (ebd.: 26). Als Hesse vom Rauswurf des Bauhauses aus Thüringen im Januar 1925 erfuhr, ahnte er die Möglichkeiten, die sich daraus für Dessau ergeben könnten und s ­ tellte den Kontakt zum Bauhaus her. Im März fuhr er schließlich mit dem Gemeinderat nach Weimar, um sich vor Ort zu informieren. Auch Peus war von Gropius begeistert und äußerte gegenüber Hesse, dass das Bauhaus auch für die Siedlungsbauvorhaben in Dessau von großem Nutzen sein würde (Scheiffele 2003: 27). Zu einer aufgeschlossenen politischen Lage kommt hinzu, dass mit den JunkersWerken in Dessau die technischen Voraussetzungen gegeben waren, um experimentelle Architektur umzusetzen. Der begeisterte Ingenieur Hugo Junkers war nicht nur ein Erfinder des Gasdurchlauferhitzers und der Gastherme, sondern vor allem im Flugzeugbau aktiv. Nicht nur die leichten Materialien, sondern auch ­Junkers technische Innovationsfreudigkeit und Kreativität boten den Bauhäusler*innen die Möglichkeit, ihre Entwürfe in industrielle Produkte zu übersetzen. Aber

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auch für die Architektur selbst und deren Darstellung waren die Junkers-Werke vor Ort gewinnbringend. Wollte man Bauten verkaufen, mussten sie überzeugend präsentiert werden. Dies gelang mit dem Medium des Luftbildes.2 Bauhaus-­Bauten überzeugten auch aus der Draufsicht, eine Perspektive, welche die Anlage der Gebäude auf einen Blick darzustellen vermochte. Obgleich das Bauhaus also von der Politik in Dessau vergleichsweise gut aufgenommen wurde, galt das keineswegs für die ganze Stadt. Es wirkte nicht nur als Gebäude, sondern in seiner gesamten Ausrichtung in vielen Teilen als Fremdkörper. Als man sich z.B. entschloss, am Bauhaus die Kleinschrift einzuführen, notiert Ise Gropius in ihr Tagebuch: «Im Bauhaus ist die Kleinschrift aus typographischen und Zeitersparnisgründen eingeführt. Dessau steht Kopf, aber es wird wohl durchgeführt werden» (zit.n. ebd.: 27). Siedlerbewegung: Wohnmaschinen und genossenschaftliche Versuche Der Erste Weltkrieg stellte für die zuvor international aufstrebende Siedlerbewegung eine massive Zäsur dar. In Dessau gelang es 1918 jedoch, an die genossenschaftlichen Vorkriegsbemühungen anzuknüpfen. Schwer vorstellbar erscheint die ungeheure Motivation in den Kreisen der Arbeiterschaft trotz akuter Not, Geld in ein Zukunftsprojekt anzulegen. Peus war der zentrale Organisator des Siedlungsvorhabens und die gewählte Organisationsform war wieder eine Genossenschaft. Diese sollte bauen und Obereigentümer des Hauses bleiben, beim Auszug sollte dann nur an die Genossenschaft zurückverkauft werden können, um Spekulationsgewinne auszuschließen. Die Idee war, dass tausend Mitglieder der Genossenschaft mit je tausend Mark zehn Prozent der geplanten Bausumme aufbringen, für den Rest sollte es Zuschüsse von Stadt und Staat und Kredite geben (Scheiffele 2003: 87). Gebaut werden sollte nicht in der Stadt, sondern auf den umliegenden Dörfern, weil dort der Baugrund günstiger war und diese, zumindest im Fall Törten, durch vorhandene Straßen- und Eisenbahnen an Dessau angebunden waren (ebd.: 88). Mit der Eingemeindung der umliegenden Dörfer nach Groß-­Dessau 1923 und der Ausweisung der künftigen Gartenstadtsiedlung in Törten 1924 wurde die Grundlage für die Bauhaus-Siedlung geschaffen, aber auch für die Siedlungen in Ziebigk und Kühnau, die vor allem vom Loos-Schüler Leopold Fischer geprägt sind. Es entstand eine von Peus durchaus gewollte Konkurrenzsituation, bei der die FischerSiedlung, deren Siedlungshäuser von einem Mustergarten des Gartenarchitekten Leberecht Migge her konzipiert waren, auch zeitlich die Nase vorn hatte. Im Unterschied zum traditionellen Backsteinbau in Ziebigk verfolgte Gropius seinen Plan von der «Wohnmaschine».3 In Dessau meinte er, in Junkers den idealen Partner für die Herstellung von fabrikmäßig gefertigten Häusern gefunden zu haben. Die Zusam­ menarbeit scheiterte allerdings daran, dass Junkers Stahlhäuser, Gropius aber Häuser aus Beton bauen wollte. Die Siedlerbewegung reagierte ebenfalls nahezu einhellig ablehnend auf Gropius’ Betonbaupläne. So schreibt Peus: «Für Lebewesen, die Ausdünstungen erzeugen, eignen sich diese Zementkisten so wenig wie die Metallkisten» (zit.n. ebd.: 129). Er zog die Fischer-Siedlung in Ziebigk vor: 2 3

Junkers ließ extra in den Kabinenboden einer W33/34 eine Reihenbildkamera einbauen. Den Begriff hat er von Le Corbusier entlehnt, aber bereits 1922 seine Vorstellungen zur Wohnmaschine dargelegt (Scheiffele 2003: 125).

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Nicht zu schmale Grundstücke, gut gestaltete Gärten, Toreinfahrt, Flachdach, Anbau gleichfalls mit Flachdach, so dass man sich selbst aufs Dach steigen kann, und erhebliche Ausbaufähigkeit, wenn man wegen großer Familie dafür das Bedürfnis hat […]. (Zit.n. ebd.: 133) Allerdings erwartete Peus für das Haus in Törten einen Preis von 9.000 Mark und für das in Ziebigk 12.000. Als Sozialdemokrat wusste er, dass Arbeiterfamilien sich das nicht würden leisten können, und so hielt er Törten dann doch für «etwas ganz außerordentliches» (zit.n. ebd.: 133). Auch über den Innenraum machten die Bauhäusler*innen sich Gedanken. Es ­wurden komplett rationalisierte Inneneinrichtungen entworfen, die sich aber nur schlecht verkauften. Ise Gropius schrieb: Die Beeinflussung der Arbeiterschaft scheint unglaublich schwierig zu sein: […] Trotzdem der hiesige Hausfrauenverein sehr viel für uns wirbt und außerdem die politische Linke immer für das Bauhaus kämpft, ist es nicht gelungen die Leute zum Ankauf der vom Bauhaus hergestellten Möbel zu bewegen. Meinung und Erkenntnisse der Führer sind da ganz unmaßgeblich […]. (Zit.n. ebd.: 147) Die Krise um Törten und das Bauhaus eskalierte schließlich an der Preisfrage. Hatten die ersten Häuser 1926 tatsächlich noch 9.200 Mark gekostet, so kosteten sie 1928 10.500 Mark (ebd.: 150). Die Siedler*innen mutmaßten in ihren Sitzungen mit Peus über das Honorar von Gropius, welcher aber schon auf ein Viertel seines Gehalts verzichtete und auch den Aufbau einer Architekten-Klasse im Bauhaus mit­finanzierte. Als der Gemeinderat eine Lösung fand und die Kreditlinie erhöhte, so dass sich die Mietkosten nur moderat erhöhten, lenkte Peus ein und verteidigte Gropius erneut gegen die Rechte. Dennoch verließ dieser schließlich das Bauhaus und Dessau noch während der Krise. Unter Hannes Meyer wurden dann in Törten mehrgeschossige Laubenganghäuser mit Mietwohnungen gebaut, die Abkehr des Bauhauses von den Siedlungshäusern, die nach Meyer doch nur «kleine Villen» (zit.n. ebd.) seien und patriarchale Familienverhältnisse begünstigten, war besiegelt. ­Übrigens vollzog ihn Gropius selbst dann auch außerhalb des Bauhauses (ebd.: 155). Nachhaltigkeit: Patentierung In einer finanziellen Notlage zu stehen, war dem Bauhaus wohl nie unbekannt. Während man sich in Weimar in direkter finanzieller Abhängigkeit zur Stadt befand, einigte man sich in Dessau darauf, die am Bauhaus entstandenen Produkte als externe Einnahmequelle zu verwenden. Dies bedeutete, dass es weniger Budget für die Schule gab, das Bauhaus im Gegenzug aber alle Rechte an den entstan­ denen Produkten behalten durfte (Nerdinger 2019: 67). Gropius holte sich hierfür bei allen Meister*innen und Schüler*innen die Verwertungsrechte der BauhausProdukte ein. Eine Idee mit verhängnisvollen Folgen, da die Einnahmen zu gering waren. Bauhaus-Produkte waren ihrer Zeit voraus und sprachen nur eine sehr ausgewählte Kundschaft an. Auch das Bemühen um industrielle Fertigung erfüllte

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Rund 600 Besucher*innen feierten mit der linken Punkband Feine Sahne Fischfilet im Brauhaus statt im Bauhaus, Dessau-Roßlau, 06.11.2018.

sich oft nicht, was sich wiederum auf den Preis auswirkte und so auch einkommensschwache Käufer*innenschichten zusätzlich abhielt. Marcel Breuers Stahlrohrsessel Wassily hätte hier eine Ausnahme bilden können, da sich das Möbelstück zunehmender Beliebtheit erfreute und für die serielle Massenproduktion tauglich gewesen wäre. Breuer hatte jedoch andere Pläne, denn was sich Gropius nicht zusichern ließ, waren die Rechte an der Idee selbst. Breuer gründete deshalb eine eigene Firma und ließ sich seine Ideen patentieren (Droste 2019: 315ff.). Und auch wenn das Bauhaus überwiegend mit Breuers Möbeln ausgestattet wurde, protestierte der Jungmeister, als sein Sessel 1927 im BauhausProduktkatalog erscheinen sollte und drohte mit seiner Kündigung (Nerdinger 2019: 69).4 Der finanzielle Erfolg des Bauhauses blieb der Institution damit und insgesamt – abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen – verwehrt. Im Gegensatz zur kreativen Nachhaltigkeit des Bauhausgedankens, der das 20. Jahrhundert stilistisch beeinflusste, blieb die finanzielle Nachhaltigkeit ein Misserfolg. Im Gegensatz zur kreativen Nachhaltigkeit des Bauhausgedankens, der das 20. Jahrhundert stilistisch beeinflusste, waren Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit im Bauhaus kaum präsent. Die dünnen Stahl- und Glasfassaden machten Heizung und Kühlung in den Räumen zum Problem.

Das Bauhaus heute Performance: Feine Sahne Fischfilet im Bauhaus Ein tagespolitisches Ereignis beschäftigte Dessau in Zusammenhang mit dem Bauhaus im Herbst des Jahres 2018 und stellt zugleich ein aktuelles Pendant zu Schlemmers Bühne in Weimar und der politischen Wirkkraft des Bauhauses dar. 4

Ab 1928 wurden die Möbel dann erfolgreich über die Firma Thonet vermarktet, welche die Patentrechte nur ein Jahr später übernehmen sollte (Thonet 2019).

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Die linke Punkband Feine Sahne Fischfilet sollte im Rahmen der Konzertreihe ZDF@Bauhaus in der Aula des Bauhaus-Gebäudes in Dessau auftreten. Das Konzert wurde allerdings kurz nach seiner Bekanntgabe von der Bauhaus-Stiftung und dem Land Sachsen-Anhalt abgesagt. Man fürchtete, nachdem in Social Media-Foren dazu aufgerufen wurde, Proteste der rechtsextremen Szene auf dem Gelände des Bauhauses (Nimz 2018). Die Stiftung Bauhaus Dessau wird mit dem Satz zitiert, dass politisch «extreme Positionen, ob von rechts, links oder anderen […] am Bauhaus Dessau keine Plattform [finden], da diese die demokratische Gesellschaft – auf der auch das historische Bauhaus beruht – spalten und damit gefährden» (SZ 2018). Laut Spiegel-Kommentar soll die Stiftung vom Bauhaus sogar als einem «bewusst unpolitischen Ort» gesprochen haben (Dambeck 2018). Das Konzert fand schließlich auf Initiative zahlreicher Fans und der Band selbst in einer alten Brauerei in Dessau statt. Abb. 3 Die Bauhaus-Stiftung zog mit ihrer Reaktion viel Kritik auf sich und wurde von verschiedensten Seiten beschuldigt, ihr links-politisches Erbe zu verraten (ebd.). So äußert sich beispielsweise die Grünen-Fraktionsvorsitzende Cornelia Lüddemann: «Das Bauhaus ist 1932 auf Betreiben der Nazis aus politischen und ideolo­ gischen Gründen geschlossen worden. Jetzt aus politischen Erwägungen in die Programmgestaltung des ZDF einzugreifen, halte ich für gefährlich geschichtsvergessen.» (Zeit 2018) Ob beim Bauhaus tatsächlich von einer links-politischen Gruppe auszugehen ist, sei dahingestellt, aber der Diskurs, der mit dieser Konzertabsage hervorgerufen wurde, ist einer, der die Haltung des Bauhauses heute und damals dahingehend hinterfragt, inwieweit das Bauhaus politisch war, ist und heute sein sollte. Die Bauhaus-Stiftung verschob ihre Haltung zu dieser Thematik im Verlauf der öffentlichen Debatte aus der politischen Gemengelage heraus und begründete die Absage des Konzertes dann vor allem mit dem Denkmalschutz des Gebäudes. Die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Diskurses auch um die Rolle der Stiftung in einer offenen Gesellschaft wurde allerdings eingeräumt. Das Magdeburger Kultusministerium blieb hinter dieser Haltung weiterhin zurück. Die Fraktionen der AfD und CDU rühmten sich mit der Verhinderung linksextremistischer Auftritte. Über 2000 Bürger*innen beteiligten sich demgegenüber in Form eines offenen Briefes und einer Unterschriftensammlung am Diskurs und riefen zu «Weniger Stil, mehr Haltung!» auf (Kil 2018). Siedlerbewegung: Lebenswelt Im Vergleich mit anderen Siedlungsprojekten, z.B. der Werkbundsiedlung in Wien, kann die Siedlung Törten, wenn man auf die Verkaufszahlen schaut, durchaus als Erfolg verstanden werden. Während in Wien die Häuser kaum verkauft werden konnten, weil sie zu teuer waren,5 wurden in Törten alle Häuser verkauft. Auch gelang es tatsächlich, dass Arbeiterfamilien in diese Häuser zogen, was in Wien ebenfalls nicht der Fall war. Das bedeutete aber nicht, dass die Bewohner*innen in 5

In der vom Loos-Schüler Frank geleiteten Siedlung wurden sehr unterschiedliche Häuser von verschiedenen Architekt*innen gebaut, deren kleinster gemeinsamer Nenner lediglich die Wohnungsgröße unter 100 qm und das Flachdach waren.

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Blick aus dem Untergeschoss des originalgetreu erhaltenen Moses-Mendelssohn-­ Zentrums in der Siedlung Törten, im Vordergrund die originalen Eisen-Rahmen-Fenster, im Hintergrund die sanierten Häuser gegenüber mit Holz- oder Kunststofffenstern, Dessau-Roßlau, 15.06.2017.



Bauhaus Gebäude, Dessau-Roßlau, 2019.



Das Bauhaus Museum, Dessau-Roßlau, 2019.

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Törten mit den Häusern zufrieden waren (Wolfe 1993), wie bereits an der Ablehnung der mitangebotenen Inneneinrichtung deutlich wurde. An den niedrigen Decken im Untergeschoss konnte man freilich wenig ändern, dennoch wurden diese Keller fast überall in (Kinder-)Zimmer umgewandelt. Die hohen Fensterbänder, aus denen man bestenfalls stehend einen Blick auf die Straße erhaschen konnte, wurden nahezu an allen Häusern ausgetauscht. Auch die thermischen Eigenschaften der einfach verglasten stahlgerahmten Fenster, die es Gropius angetan hatten, waren denkbar ungünstig. Heute sind sie bei allen Siedlungshäusern durch Holz- oder Kunststofffenster Abb. 4 ersetzt worden. Auch die Nutzgärten, die Peus seinerzeit als zu klein befunden hatte, wirken im Vergleich zu den heute übli­chen Gärten eher großzügig dimensioniert. Allerdings werden die wenigsten noch als Wirtschaftsgärten benutzt. Nachhaltigkeit: Das Bauhaus-Museum Die Nachhaltigkeit des Bauhaus-Gedankens wird heute in Dessau nicht wie andern­ orts, beispielsweise in Weimar, im Rahmen einer Bauhaus-Universität gesichert. Man entschied sich hier für die Musealisierung des Vergangenen und damit gegen eine Weiterführung und -entwicklung der damals innovativen Ideen und Gedanken. Unter dem Motto «Die Welt neu denken» versprechen die Sammlungsinstitute in Weimar, Dessau und Berlin zum 100-jährigen Jubiläum nicht bloß materielle Zeugnisse des Bauhauses neu zu interpretieren, sondern seine Impulse für unsere Gegenwart und Zukunft zu erkunden (Kil 2018). Auch um das Museum spannt sich ein weitreichender Diskurs, an dem sich nicht nur Dessauer Bürger*innen und Lokalpolitiker*innen verschiedenster Lager beteiligen, sondern auch die Landesund Bundesregierung, Architekt*innen und Bauhaus-Interessierte. Die Frage, die sich bei der Sicherung des Bauhaus-Weltkulturerbes stellt, ist die nach dem Gegenstand. Geht es um eine Sammlung an ästhetischen Artefakten, um Design-Klassiker und Architekturstile, oder geht es um die Haltung gegenüber Gesellschaft, um eine Lebensreform und um die umfassende Idee einer ästhetischen Erziehung? Die sozialpolitischen Themen, die die Bauhaus-Lehrer*innen wie Schüler*innen damals beschäftigten – die drängende Frage nach kostengünstigem Wohnraum, nach Gerechtigkeit, nach ressourcenschonenden Bauweisen – sind Themen, die an Aktualität nicht verloren haben (ebd.). Philipp Oswalt, der ehemalige Leiter der Bauhaus-Stiftung, kritisiert, dass das Bauhaus heute weit hinter seinem kritischen Potenzial zurückbleibe. Es liefere ästhetische Designs der Vergangenheit und präsentiere die Moderne in der Stadt als geschichtliches Vermächt­nis, ohne jemals Widerstand zu leisten. Das ginge, so Oswalt in einem Interview, gänzlich am Bauhaus-Gedanken vorbei, denn Gropius und die Bauhäusler_innen hätten ein Experiment durchgesetzt und verteidigt in einer Situation, in der es sehr strittig war. Nicht allein die NSDAP hat dem Bauhaus den Hahn zugedreht, es waren auch die konser­ vativen bürgerlichen Kräfte […]. (taz 2019)6 6

Zur Eröffnung des Bauhaus-Museums wurde Oswalt übrigens nicht eingeladen. Nach medialem Druck wurde die Einladung dann nachgeholt und er kam auch.

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Die Stellungnahme des Kreisverbands Dessau-Roßlau von Bündnis 90/Die Grünen, durch den Bau des neuen Museums könne die «touristische Strahlkraft der Stadt» (Grüne Dessau 2014) deutlich erhöht werden, trifft die Einstellung vieler gegenüber dieser Form des Gedenkens. Musealisierung, scheint es, ist nicht bedrohlich. Uneinigkeit zeigte sich im öffentlichen Diskurs erst, als es um den neuen Museumsbau ging. Schon dessen Standort war umstritten. Sollte er eher in Bauhausnähe sein, um das Weltkulturerbe auf kleiner Fläche zu präsentieren, oder sollte er sich im Zentrum der Stadt befinden, um das Bauhaus auch finanziell rentabel für die Stadt Dessau zu nutzen? Der Standort im Zentrum setzte sich durch – oder wurde durchgesetzt. Auch der Bau selbst blieb kontrovers. Im Unterschied zum Bauhausgebäude Abb. 5 von Walter Gropius, das durch immer andere Ansichten auffällt, entstand nun ein von außen monolithisch wirkender Block Abb. 6 des Büros Gonzalez/Hinz/Zabala, der zwar mit seiner durchgehenden Glasfassade an das Ateliergebäude des Bauhauses erinnern mag, inzwischen aber kaum noch als avantgardistische Architektur gelten kann, sondern in der Einheitsarchitektur der Wirkungsgeschichte des Bauhauses untergeht. Als ironisch kann dabei erscheinen, dass eines der zentralen Probleme des Ateliergebäudes des Bauhauses im ihm nachempfundenen Museum ebenso auftauchte: Noch im Bau wurde klar, dass die angestrebte Transparenz des Gebäudes, die wie im Original durch farbloses Fensterglas der Vorhangfassade hergestellt werden sollte, zu einer enormen Aufheizung führen würde, sodass man von dem farblosen Glas Abstand nahm und grün getöntes Thermoglas verwendete, was nun allerdings leider kaum mehr Transparenz von außen gewährleistet. Insofern mangelte es am Bewusstsein um ökologische Nachhaltigkeit des Baus auch noch in seiner Musealisierung im 21. Jahrhundert, obwohl gerade aus dem kreativen Anspruch des Bauhauses heraus durchaus auch innovativere Akzente als die Wiederholung hätten gesetzt werden können. Dieses produktive Erbe des Bauhauses ist besser im Konzept «Bauhaus der Erde» des Klimaforschers Joachim Schellnhubers verstanden und inzwischen von der Europäischen Kommission aufgenommen worden (Europäische Kommission 2020). Gebildeter Raum als Bildungsraum Das Ziel der exemplarischen Erörterung dieser drei Themenkomplexe bestand darin zu illustrieren, inwieweit das Bauhaus immer wieder Diskurse entzündete und heute noch entzündet. Sowohl früher als auch heute lassen sich diese Diskurse sowohl auf einer physischen als auch sozialräumlichen Ebene rekonstruieren. Sie stellen somit ganz im Wortsinne Diskurs-Räume dar. In Weimar sorgten die Bauhäusler*innen wohl nicht selten für Aufsehen. Es wurde öffentlich gefeiert, getanzt und musiziert. Oskar Schlemmer, der mit seinem triadischen Ballett einen Frontalangriff auf das klassische inhaltliche Theater und dessen kanonisierte Werte wagte, dürfte wohl nicht zur Befriedung der aufgeregten Gemüter beigetragen haben. Doch Gropius blieb Schlemmer und seiner Experimentierfreudigkeit treu. Die Kunst galt es vor der Politik zu schützen, ein Diskurs, der auch heute noch gerne geführt wird. Dabei führen vermeintliche Gropius-­ Referenzen der damals amtierenden Bauhaus-Stiftungsdirektorin Claudia Perren,

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«dass das Bauhaus ein unpolitischer Ort sei und politische extreme Positionen, ob von rechts, links oder andere, finden am Bauhaus Dessau keine Plattform» (Perren/ Schneider/Weihser 2018) in die Irre, wie Perren später selbst einräumen musste. Am Beginn der Auseinandersetzung erregen sie den Anschein, als wolle man sich lediglich der Kunst widmen und als gehe einen die Gesellschaft, in der man agiert, nichts an. So sind die Aussagen Walter Gropius’ wohl aber nicht zu lesen. Vielmehr wollte er sich von parteipolitischen Programmen distanzieren, aber dennoch sozialpolitisch in das gesellschaftliche und private Leben einwirken. Inwieweit die Bauhaus-Stiftung dies heute noch als Leitlinie für ihr gesellschaftliches Agieren sieht, blieb umstritten, auch wenn Perren nachträglich gerade für diese Position argumentierte (ebd.). Am Beispiel Siedlungsbau prallen die unterschiedlichsten Konzepte aufeinander. Verschiedene Bauweisen und Materialien werden ebenso diskutiert, wie die ideo­ lo­gische Gesinnung hinter den genossenschaftlichen Bauvorhaben und die ­Ausgestaltung der Wohnflächen als Siedlungshäuser in Eigenbesitz oder als ­Mietwohnungen in mehrgeschossigen Mietshäusern. Während Siedlungshäuser hygienische und bürgerliche Lebensverhältnisse für die Arbeiterfamilien in Aussicht stellen, sollen Mietwohnungen erstens billiger sein und zweitens das patriarchale Familienverständnis, in dem die Frau für Haus, Garten und Kinder zuständig ist, revolutionieren. Bedürfnisbefriedigung und versuchte Volkserziehung gingen beim Siedlungsbau des Bauhauses Hand in Hand, wobei zumindest die Volkserziehung im ersten Anlauf scheiterte. Die Möbel wurden nicht gekauft, die Häuser in Richtung des bürgerlichen Vorbildes umgebaut. Auch in der Frage der Nachhaltigkeit zeigt sich, dass die Versuche des Bauhauses erst auf lange Sicht zielführend gewesen sind. Wenn das Bauhaus in Dessau hätte Bestand haben können, hätte es vermutlich irgendwann von seinen Patenteinnahmen sehr auskömmlich leben können (Droste 2019: 318). Dennoch wird nicht nur anlässlich seines hundertjährigen Bestehens deutlich, wie nachhaltig das Bauhaus unser alltägliches Leben geprägt hat. Der industrialisierte Wohnungsbau, der sicher auch von der drängenden Wohnungsnot profitiert hat, prägte nicht nur in sozialistischen Ländern die vereinheitlichenden Stadtbilder. Gropius selbst hat dies noch miterlebt und in der West-Berliner Gropiusstadt sogar mitgestaltet. Im Diskurs um den Museumsbau ist zu beobachten, dass trotz konsensueller ­Musealisierung des Bauhauses und der Eingliederung ins kulturelle Gedächtnis Herausforderungen wie der Neubau eines Bauhaus-Museums die alten Diskurse unter neuen Vorzeichen hat wiederbeleben können. Die kurzfristigen pädagogischen Absichten dessen, was wir gewöhnlich als Bauhaus-Pädagogik verstehen, und auch die volkserzieherischen Absichten, die sich über die Produkte und deren Nutzungsanweisungen äußerten, mögen damals nicht sonderlich erfolgreich gewesen sein. In der langen Dauer jedoch sieht dies durchaus anders aus. Unser Leben ist in einem hohen Grade rationalisiert, vielleicht noch stärker als die Bauhäusler*innen sich das damals vorgestellt haben. Dennoch kann man auch wirkungsgeschichtlich nicht einfach von einem Siegeszug der BauhausIdeen reden. Vielmehr sehen wir allein im Bereich des Siedlungsbaus, dass das Bauhaus hier in einem ständigen Austausch mit den Anforderungen der Gesellschaft stand und denen, die sie jeweils formulierten. Es sind ­Aushandlungsprozesse,

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in denen menschlichen Bedürfnissen, wie z.B. der Wohnungsnot, k ­ onkurrierende Konzepte zu ihrer Linderung entgegengestellt werden und das Bauhaus sich in diesen Diskurs mit Lösungsvorschlägen einbringt. Aus pädagogischer Perspektive ist dabei bedeutsam, wie hier der gebaute Raum nicht mehr einfach nur Medium einer Informationsweitergabe wird, sondern eine eigene Gestalt gewinnt. Zwar ist er damit nicht Subjekt mit eigenem Willen, aber die in seine Gestaltung eingeflossenen Ansprüche, Erwartungen und Haltungen bekommen in ihrer realisierten Form eine eigene Wirksamkeit, die sich gegen die Absichten, mit denen er gestaltet wurde, genauso selbständig verhält wie gegen die Ansprüche, Erwartungen und Haltungen seiner Nutzer*innen. Der Siedlungsbau ist damit nicht einfach nur ein manifestiertes Produkt, sondern er wird nahezu eine eigen­ständige Größe im Diskurs-Raum. Diese sich verselbständigende Wirkung des gebauten Raumes hat Johanna Klär mit der Eigenständigkeit verglichen, die Humboldt der Sprache zuweist (Klär 2020). Auch die Sprache ist für Humboldt kein totes Kommunikationsmedium, sondern eine eigene Form der Beschreibung der Welt, und die Welt wird in dieser gewählten Form der Beschreibung damit auch eine andere. Am Siedlungshaus lässt sich diese Eigenständigkeit des Baus gegen die Absichten seiner Erbauer, wie gegen die Absichten ihrer Nutzer*innen, sehr plausibel deutlich machen. Das Fenster wird ersetzt, die Trockentoiletten, die die Ausscheidungen als Dünger dem Gartenbau zuführen sollen, werden zugunsten von Wasserklosetts getauscht. Der Vision der Architekten von der in nahezu ­geschlossenen Kreisläufen lebenden autarken Siedlerfamilie wird von den B ­ ewohner*innen das Konzept des Einfamilienhauses im Grünen entgegengesetzt. Bei allen Versuchen, den zur Verfügung stehenden Raum zu erweitern, setzt der Bau selbst diesen Bemü­ hungen doch Grenzen: Die Decken bleiben niedrig, die bebaubare Fläche bleibt beschränkt, die Raumgröße wird nie großzügig. Auch nach der Ausschöpfung aller Erweiterungsmöglichkeiten legt das Siedlungshaus eine rationalisierte Lebens­weise nahe. Das Siedlungshaus ändert damit gleichermaßen das Leben seiner Bewohner*­ innen, wie die Bewohner*innen das Siedlungshaus verändern. Dass alle diese Häuser bis heute bewohnt werden, wenngleich sie vielfach verändert worden sind und nun die Debatte um eine Musealisierung wieder entbrennt, zeigt, dass der im Wortsinne bildende und bildnerische Diskurs ums Bauhaus noch immer nicht zum Erliegen gekommen ist. Vielleicht hat Philipp Oswalt Recht, wenn er sagt: «Nur das tote Bauhaus ist das willkommene Bauhaus» (taz 2018). Vielleicht kommt bis dahin im Zuge der Klimakrise auch der ein oder andere Kreislaufgedanke der Bauhäusler*innen wieder ins Bewusstsein, und vielleicht erinnern wir uns auch an die Vorbehalte, die Peus bereits in den 1920er Jahren gegen die nicht atmenden Materialien Stahl und Beton hatte. Auf dieser Basis ließe sich überlegen, welche Büromaterialien heute, angesichts der ökologischen und gesellschaftlichen Situation, angemessene Baustoffe wären. Damit hätte der Bau wiederum eine Chance, auf die darin Lebenden und Arbeitenden durchaus kontrovers zurückzuwirken (Schluß/Vicentini 2020).

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URL: https://www.moma.org/collection/works/63072 (14.12.2020). © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

URL: https://www.bauhaus.de/de/sammlung/highlights/ 214_buehne/382 (24.09.2020). © Bauhaus-Archiv Berlin  / Museum für Gestaltung. Foto: Ernst Schneider.

tag24.de (2018): Ausverkauftes «Feine Sahne Fischfilet»Konzert und Rechte mit Fackeln vorm Bauhaus, 07.11.2018. URL: https://www.tag24.de/nachrichten/feine-sahnefischfilet-dessau-rosslau-konzert-zdf-brauhaus-bauhaus-­ rechte-fackeln-854820 (29.10.2020). © instagram/feinesahnefischfilet. Foto: Henning Schluß, 15.06.2017.

Foto: Henning Schluß, 19.08.2019.

Foto: Henning Schluß, 22.02.2020.

Biografien

Henning Schluß, Professor für Bildungstheorie und Bildungsforschung an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Grenzbereiche von Pädagogik / Politik und Religion; Zusammenhänge von Pädagogik und Raum und gegenwärtig: von Klimawandel und Pädagogik.

Johanna Klär, Bachelorstudium Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i.Br. und Masterstudium Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Raumwirkungen und deren Einfluss auf ­Erziehung und Bildung, Zusammenhänge von Raum und dem individuellen Anerkennungsempfinden. Ken Nilles, Bachelorstudium Kultur- und Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und Masterstudium Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Kritische Bildung und kultureller Ausdruck unter globalisierten Verhältnissen, Zusammenhänge von Raum und Möglichkeiten der kritischen Bildung.

Phillip D. Th. Knobloch

Bauhaus: Prototyp der neuen kulturellen Steuerung von Bildungsprozessen «Auch ein Salzstreuer», so schreibt der Designtheoretiker Friedrich von Borries, «ist ein durch und durch politisches Designobjekt» (Borries 2016: 10), und dürfe keinesfalls auf seine Funktion reduziert werden. Diese Aussage mag zunächst merkwürdig anmuten. Jedoch ist die Idee, Gegenstände zu nutzen bzw. zu gestalten, um mit ihnen Menschen und Gesellschaften über das Design zu beeinflussen, nicht ganz neu. Betrachtet man etwa das Bauhaus und seine Geschichte,

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so wird deutlich, dass diese politische und pädagogische Ausrichtung hier, am Anfang des 20. Jahrhunderts, sogar ganz zentral war. Denn das «endziel aller bauhausarbeit» sei, wie der zweite Bauhausdirektor, Hannes Meyer, in typischer Kleinschreibung formulierte, «die zusammenfassung der lebensbildenden kräfte zur harmonischen ausgestaltung unserer gesellschaft» (zit.n. Nerdinger 2019: 87). Bedenkt man, wie weit das vom Bauhaus fokussierte Feld der Gestaltung reichte, so erscheint der Anspruch durchaus gerechtfertigt, die Gesellschaft in ihrer ­Gesamtheit durch Bauhaus-Produkte nachhaltig zu prägen. So hatte sich beispielsweise der dritte Direktor des Bauhauses, Ludwig Mies van der Rohe, das Ziel gesetzt, dass die Studierenden nicht nur lernen, Wohnungen, Häuser und ganze Städte zu entwerfen, «sondern auch die gesamte Einrichtung bis hinab zu den Textilien» (zit.n. Nerdinger 2019: 111). Dieser Anspruch, die einzelnen Menschen und letztlich die gesamte Gesellschaft durch Gestaltung zu prägen und zu verbessern, konnte vermutlich schon deshalb nicht eingelöst werden, weil sich bekanntlich bis heute die wenigsten Menschen allein mit Produkten umgeben, die einem einheitlichen und modernen Bauhaus-Stil folgen. Aber auch wenn sich das Bauhaus-Design und die Bauhaus-Produkte nicht derart umfassend verbreitet haben, so spricht doch vieles dafür, dass sich die politische und pädagogische Idee des Bauhauses, durch die Gestaltung von Produkten Menschen zu bilden und Gesellschaften zu verbessern, mittlerweile insofern durchgesetzt hat, als sie – so meine These – hinter einer derzeit wirkmächtigen Governance-Technik steht. Ich bezeichne diese als neue kulturelle Steuerung. Mit diesem Steuerungsmodell wird der Fokus auf die Bedeutung kultureller bzw. kulturalisierter Produkte für die Bildung und Inszenierung spezifischer Lebensstile gerichtet. Bildungstheoretisch erscheint dies insofern aufschlussreich, als derartigen Lebensstilen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine identitätsbildende Wirkung zugesprochen werden kann. Nachfolgend soll diese These erläutert und untermauert werden.

Dinge bilden Menschen: Vorgeschichte und Kontext Es sind vor allem zwei Einflüsse, die immer wieder genannt werden, um sowohl die Ausgangslage als auch die politischen und pädagogischen Zielsetzungen des Bauhauses verständlich zu machen. Dabei handelt es sich einerseits um die britische Arts-and-Crafts-Bewegung, andererseits um den Deutschen Werkbund. Die Arts-and-Crafts-Bewegung entstand bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Kritik an der industriellen Massenproduktion von Gebrauchsgegenständen. Diese konnten nun zwar in größeren Mengen und billiger hergestellt werden, verloren jedoch auch ihre Seele, wie etwa der Schriftsteller John Ruskin, einer der ersten Kritiker der Maschinenarbeit, behauptete. Diesen Entwicklungen sollte durch eine Rückkehr zur handwerklichen Produktion und durch die Verbindung von Kunst und Handwerk entgegengewirkt werden. Umgesetzt wurden Ruskins Überlegungen dann beispielsweise von seinem Schüler und Freund William Morris, dessen von ihm gegründeten Werkstätten so einflussreich waren, dass sogar von einem eigenen Stil, dem Arts-and-Craft-Stil, gesprochen wurde (Droste 2019: 14):

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William Morris gab diesem Konzept eine gesellschaftspolitisch soziale Bedeutung, indem er mit einer Rückkehr zum Handwerk die Wiedergewinnung von Freude an der Arbeit verknüpfte und somit über das Handwerk eine Erneuerung und Verbesserung der ganzen Gesellschaft erfolgen sollte […]. (Nerdinger 2019: 12) Durch die Verbindung von Kunst und Handwerk sollten sowohl die Produktion als auch der Konsum der Waren – und natürlich die Produkte selbst – ästhetisiert werden. Denn die Handwerker wurden hier wie Künstler, die Konsumenten wie Kunstrezipienten und die Produkte ähnlich wie Kunstwerke betrachtet. Galt das Handwerk zuvor im Vergleich zur Kunst als ästhetisch minderwertig, erschien es nun «als legitime Kunst […], die sowohl eine Auseinandersetzung mit dem Material als auch eine intellektuelle Anstrengung erfordert» (Reckwitz 2013: 147). Auch der 1907 gegründete Deutsche Werkbund entstand aus der Kritik an der ­industriellen Massenproduktion von Gebrauchsgütern. Auch hier war man der ­Ansicht, dass die Produkte durch eine Verbindung von Kunst und Handwerk wieder ‹beseelt› und ‹durchgeistigt› werden müssten. Jedoch hielt man beim Werkbund an der industriellen Fertigung fest: Diese «Durchgeistigung» sollte sich zum einen in deutscher Qualitätsarbeit, die sich international behaupten konnte, manifestieren, und zum anderen sollte der einheitliche Ausdruck der künstlerisch veredelten Produkte erzieherisch auf die bürgerlichen Konsumenten wirken, um wieder eine ausdrucksstarke deutsche Kultur zu erreichen […]. (Nerdinger 2019: 15) Erzieherisch sollten die neuen Produkte zunächst im Sinne der Geschmacksbildung wirken. Denn wenn man sich mit geschmackvollen Dingen umgibt, so die Hoffnung, müsste auch der Geschmack zunehmend geschmackvoll werden. Angedacht war hier also eine auf Gebrauchsgütern beruhende Form ästhetischer Bildung. Das Design sollte funktional, «schlicht und ehrlich» sein, von «Kitsch und Gründerzeitscheußlichkeiten» (Stock 2007) distanzierte man sich. Eine erzieherische bzw. bildende Wirkung erhoffte man sich auch deshalb, weil so gut wie alles harmonisch gestaltet werden sollte, und zwar «vom Sofakissen bis zum Städtebau» (Muthesius, zit.n. Nerdinger 2019: 16). Die neuen Produkte sollten jedoch nicht nur geschmacksbildend, sondern auch moralisch erziehend wirken. «Der Werkbund glaubte an die Moral der Dinge. Menschen mit einem guten Geschmack konnten nicht schlecht sein» (Stock 2007). Die Bildung des Geschmacks geht demnach immer auch mit einer Bildung der Moral einher. Diese pädagogische Idee war natürlich nicht ganz neu, sondern wurde ähnlich bereits von Schiller vorgetragen, für den die Kunst bekanntlich «eine Tochter der Freiheit» (Schiller 2009: 12) war. Durch die ästhetische Erfahrung von Schönheit sollte der Mensch in einen einzigartigen harmonischen Zustand versetzt werden, der insofern mit einer Erfahrung von Freiheit einhergehe, als sich hier die Vernunft auf der einen und die natürlichen Bedürfnisse und Gefühle auf der anderen Seite nicht gegenseitig behinderten. Derartige ästhetische Freiheitserfahrungen,

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so Schillers Hoffnung, sollten dann auch zur moralischen Bildung und zur Kultivierung politischer Mündigkeit beitragen. Vergleicht man Schillers Ansichten über die moralisierende Wirkung ästhetischer Objekte mit denen des Werkbundes, so fällt schnell auf, dass die ästhetischen Kategorien, mit denen die idealen Objekte beschrieben werden, beim Werkbund deutlich differenzierter formuliert wurden. Der Werkbund wollte eben nicht einfach schöne Dinge produzieren, sondern solche mit guter Form und funktionalem, ehrlichem und schlichtem Design. Ob Schiller diese Produkte auch schön gefunden hätte, sei dahingestellt; die Annahme, dass von ästhetischen bzw. ästhetisierten Dingen eine bildende und moralisierende Wirkung ausgehen kann, hätte er aber sicherlich geteilt.

Gute Dinge: Zur Moral der Produkte Sowohl bei Schillers Überlegungen über den Zusammenhang von ästhetischer Bildung und moralischer Erziehung als auch bei den Aussagen aus dem Umkreis der Arts-and-Craft-Bewegung, des Deutschen Werkbundes und des Bauhauses über die moralische bzw. moralisierende Wirkung von Design-Produkten handelt es sich in erster Linie um Postulate. Man nahm an, dass Gestaltung und Ästhetik einen wesentlichen Beitrag zur moralischen Erziehung und Bildung leisten können. Aber hat es solche Wirkungen auch wirklich gegeben? Geht das überhaupt? Können Dinge wirklich die Moral von Menschen heben? Folgt man den einschlägigen Debatten aus dem Bereich der Konsumästhetik, so ist der sogenannte Moralkonsum mittlerweile alles andere als ein Randphänomen (Ullrich 2013: 127–149). Moral, so kann man sagen, wird konsumiert – und zwar gern und oft. Wie das genau funktioniert, soll nun an einem Bauhaus-Produkt, der ­Wagenfeld-Lampe, gezeigt werden. Abb. 1 In einer Auseinandersetzung mit der Wagenfeld-Lampe richtet Wolfgang Ullrich (2017) den Blick nicht in erster Linie auf deren Design, obwohl er dieses im Bauhaus entwickelte Produkt zu den größten Designklassikern des 20. Jahrhunderts zählt. Vielmehr betont er, dass diese Lampe als «Ikone der Bauhaus-Moderne», manchen sogar als stärkstes Symbol des Bauhauses gilt. Überraschend ist dies insofern, als die Lampe eigentlich gar nicht den «Gestaltungsidealen des Bauhauses» entspricht. Denn obwohl das Bauhaus für «Klarheit, Sachlichkeit, Internationalität» steht, ist die Wagenfeld-Leuchte «weder besonders funktional noch sonderlich modern» (ebd.). Zu diesem Schluss kommen auch Philipp Oswalt und Julia Meer: «Die Bauhausleuchte ist nicht modern», weil sie Möglichkeiten elektrischer ­Beleuchtung nicht ausnutzt, «nicht funktional» (Oswalt/Meer 2015: 368), weil sie als Arbeits- oder Nachttischleuchte zu wenig Licht nach unten abgibt, und sie ist «kein Industrieprodukt», da sowohl der Prototyp als auch die erste Serie «in der Metallwerkstatt des Bauhauses Weimar in mühseliger Handarbeit hergestellt» (ebd.: 369) wurden. Als modern und funktional kann die Leuchte vor allem deshalb nicht gelten, da ihre Gestaltung einer Petroleumlampe des 19. Jahrhunderts nachempfunden ist. Ullrich (2017) geht sogar so weit zu behaupten, dass diese Bauhaus-Ikone aufgrund ihres

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Technolumen, Tischleuchte WG 24, ab 1980, autorisierte Reedition der Tischleuchte WA 24 von Wilhelm Wagenfeld, 1924, 36 × 15,2/18 cm, Glas, Metall.

Mangels an Funktionalität und Modernität und dem altertümlich wirkenden Design bestens in Goethes Wohnhaus oder zum Biedermeier-Stil passen würde. Da sie auch noch sehr teuer war, kann man gut nachvollziehen, warum sie damals niemand kaufen wollte. Die Produktion wurde 1930 daher eingestellt. Folgt man der Lampenanalyse Ullrichs, so war es jedoch gerade der anfängliche Misserfolg, der den Aufstieg der Wagenfeld-Lampe zur Bauhaus-Ikone möglich machte. Andere im Bauhaus entwickelte Produkte, wie etwa der Sessel «Wassily» von Marcel Breuer oder der «Freischwinger» von Mies van der Rohe, die den Gestaltungsprinzipien des Bauhauses folgen und diese geradezu vorbildhaft zum Ausdruck bringen, seien schnell so erfolgreich geworden, dass es mittlerweile sehr viele ähnlich gestaltete Produkte oder sogar Kopien gebe. Damit sei aber auch der exklusive Bezug zum Bauhaus verloren gegangen (ebd.).

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Erfolgreich wurde die seit 1980 wieder erhältliche Lampe dann schließlich doch noch. Paradoxerweise kann man sich das dadurch erklären, dass sich ihre Käufer mit ihr «zur Bauhausidee und zur Idee der ‹guten Form›» bekennen können, auch wenn die Lampe selbst diese Ideen in ihrer Gestaltung gar nicht umsetzt. «Als angenehm leuchtende Skulptur symbolisiert sie eine Geisteshaltung, passt in viele Kontexte und nimmt nicht viel Platz in Anspruch. Ihr Gebrauchswert ist die Symbolfunktion, und diese erfüllt sie mit großer Effizienz». Dabei wird ihre spezifische Aura von unterschiedlichsten Medien der Produktkommunikation gestützt. «Filmclips, Anzeigen oder Piktogramme transportieren wirksam ihre Symbolfunktion – auch ohne jegliche physische Materialisierung» (Oswalt/Meer 2015: 370). Da die Lampe also etwas symbolisiert, für das sie gar nicht steht, kann man ­annehmen, dass sie auch kaum von passionierten und informierten «Designfreaks» gekauft wird. Naheliegender ist vielmehr, dass sich «Bildungsbürger diverser Couleur, vom Literatur- oder Musikwissenschaftler bis zur Architektin oder Historikerin» (Ullrich 2017) für die Lampe aufgrund ihrer identitätsstiftenden Funktion interessieren. Für sie ist die Bauhaus-Leuchte ein identitätsstiftendes Objekt, in dem alles Gute der eigenen kulturellen Tradition sichtbar wird: Maß und Formgefühl sowie eine elegante Schlichtheit, die sich, metaphorisch, auch als Streben nach Integrität deuten lässt […]. (Ebd.) So steht die Lampe für dieses Publikum für «moralische und geistige Werte», für «Humanismus und Aufklärung» und die «Werte eines liberalen und hochkultivierten Bürgertums» (ebd.). Es ist also durchaus legitim zu behaupten, dass die BauhausLampe spezifische Werte und kulturelle Vorstellungen vermittelt und in diesem Sinne moralisch erziehend und vergeistigend wirkt. Damit ist mit reichlich Verspätung Wirklichkeit geworden, was die Protagonisten des Bauhauses als das Ideal einer verantwortungsvollen ­Gestaltung proklamiert hatten. Diese soll, so ihre Überzeugung, in moralischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht erzieherisch wirken. Sie soll mehr bieten als perfektionierten Funktionalismus, ja, sie soll von einer Welt künden, in der der Mensch sich als geistiges Wesen erfahren kann […]. (Ebd.)

Die neue kulturelle Steuerung Um die erzieherische Wirkung eines Produkts in den Blick zu bekommen, erscheint es hilfreich und mitunter sogar notwendig, sich nicht allein auf das Design und das Produkt zu konzentrieren. Am Beispiel der Wagenfeld-Lampe wurde deutlich, dass man neben dem eigentlichen Produkt weitere Akteure in die Untersuchung einbeziehen muss, um nachvollziehbar zu machen, wann und warum von einer moralisierenden Wirkung dieser Leuchte gesprochen werden kann. Wie gesehen zählen zu diesen weiteren Akteuren nicht nur Produzenten und Konsumenten,

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sondern auch verschiedene Medien wie etwa Film und Werbung, die das Produkt mit spezifischen Erzählungen und Vorstellungen in Verbindung bringen und ­dadurch zur Entstehung einer spezifischen und mitunter wirkmächtigen Aura ­beitragen. Auch in der Bildungsforschung werden immer komplexere Modelle diskutiert, um die Vielzahl an Akteuren in den Blick zu bekommen, die im Bildungsbereich Einfluss ausüben. Seit Langem hat man sich hier von der Vorstellung verabschiedet, dass Regierungen die einzig relevanten Akteure sind, die hier durch ihre Bildungspolitik Einfluss ausüben. Beispielsweise konnte die sogenannte Governance-Forschung aufzeigen, dass mittlerweile auch neue Akteure maßgeblich den Bereich der Bildung und der Bildungsorganisation beeinflussen. Zu diesen zählt man u.a. inter- und transnationale Akteure wie internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisation, multinationale Korporationen, nationale und internationale Stiftungen sowie Akteurskonstellationen und Netzwerke (Parreira do Amaral 2016: 463–468). In den Bereich der Governance-Forschung fällt insbesondere die Auseinandersetzung mit Fragen der Steuerung von Bildungssystemen. Dazu ist es notwendig, Phänomene der Steuerung […], gleichsam aus einer Metaposition heraus, […] theoretisch und empirisch zu analysieren, unabhängig davon wie direkt oder indirekt bestimmte Zugriffsmöglichkeiten der verschiedenen Akteure gestaltet oder wie viele und welche Akteure in die entsprechenden Handlungen involviert sind […]. (Altrichter/Maag Merki 2016: 7f.) Eine größere Aufmerksamkeit erhielten in diesem Zusammenhang Studien zur sogenannten neuen Steuerung im Bildungsbereich, die maßgeblich durch die von der OECD initiierte PISA-Studie und die dem sogenannten PISA-Schock folgenden Reformdiskussionen und Reformmaßnahmen angestoßen wurden (ebd.: 3; Parreira do Amaral 2016: 456). Die OECD gilt daher als einer der bedeutenden neuen Akteure, deren Einflussnahme auf den Bildungsbereich im Hinblick auf Modelle neuer Steuerung gern und oft analysiert, diskutiert und kritisiert wird (u.a. Radtke 2015). Konsumprodukte und Designobjekte spielen in den vorherrschenden Diskussionen über die neue Steuerung im Bildungsbereich bisher keine Rolle. Dies überrascht insofern, als das Thema Konsum etwa in pädagogischen Programmen zur Bildung für nachhaltige Entwicklung, die gerade auch von sogenannten neuen Akteuren im Bildungsbereich, wie beispielsweise die UNESCO oder andere UN-Organisationen, entwickelt und beworben werden, eine zentrale Rolle einnimmt. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem solche Programme, die auf die Bildung nachhaltiger Lebensstile zielen (u.a. UN 2015; UNEP 2020), da nachhaltige bzw. als nachhaltig beworbene Konsumprodukte für die Etablierung oder Inszenierung derartiger Lebensstile eine bedeutende Rolle spielen. Deutlich wird dies etwa an Untersuchungen zum sogenannten Lifestyle of Health and Sustainability (LOHAS), dessen Anhänger mittlerweile auch vom Marketing als lukrative Konsumentengruppe identifiziert und innerhalb gängiger Milieumodelle verortet wurden (Glöckner/Balderjahn/Peyer 2010). Darüber hinaus wurde der nachhaltige Konsument als Ideal neoliberaler Governementalität und das nachhaltige Marketing als politische Technologie erkannt (Hälterlein 2015). Da demnach nicht

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nur pädagogische, politische und kulturelle Institutionen und Organisationen, sondern auch Firmen die Bildung nachhaltiger Lebensstile unterstützen, erscheint es geradezu konsequent, wenn in didaktischen Materialien zur Bildung für nachhaltige Entwicklung Konsumprodukte, wie etwa die der Marke Bionade, beworben werden (BMU 2010; dazu Knobloch/Zirfas 2016). Von einer erzieherischen und moralisierenden Wirkung nachhaltig inszenierter Produkte kann insofern gesprochen werden, als auch in Bezug auf die soziale Gruppe der LOHAS das Phänomen des Moralkonsums beobachtet wurde. Etliche Marken und ganze Branchen leben davon, gutes Gewissen konfektioniert anzubieten. Dabei gilt die Regel: Je größer die Preisdifferenz zu Produkten ohne Gewissensfaktor ist, desto größer ist das Potenzial dafür, zum guten Menschen zu werden[…]. (Ullrich 2013: 128) Während es bei der Bauhaus-Lampe die angeblich gute Form ist, die den Menschen zu einem besseren bzw. sich gut fühlenden Menschen macht, so ist es hier die angepriesene Nachhaltigkeit der Produkte, die ein gutes Gewissen und das gute Gefühl, ein hoch moralischer Mensch zu sein, vermittelt. Zur Analyse der erzieherischen und moralisierenden Wirkung von Designobjekten und Konsumprodukten erscheint es sinnvoll, sich an Modellen der neuen Steuerung im Bildungsbereich zu orientieren. Übernommen werden kann hiervon die Annahme, dass komplexe Netzwerke und unterschiedlichste Akteure in die Untersuchung einzubeziehen sind. Dazu gehören neben klassischen Akteuren wie etwa Lehrer*innen, Schüler*innen und Regierungen auch neue Akteure wie die Organisationen der UN, die im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung die Bildung nachhaltiger Lebensstile propagieren; dazu gehören aber auch – und das ist die entscheidende Erweiterung bisheriger Modelle der Educational Governance-Forschung – die mit diesen Lebensstilen verbundenen Konsumobjekte. Ein weiterer Unterschied kann darin gesehen werden, dass in Analysen zur neuen Steuerung meist die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen im Zentrum der Untersuchungen steht, während das Konzept neuer kultureller Steuerung seinen Fokus vornehmlich auf kulturelle Bildungsprozesse richtet, die wiederum mit der Bildung spezifischer Lebensstile verbunden sind. In diesem Sinne kann auch von einem Modell der Lifestyle-Bildung gesprochen werden. Das hier skizzierte Konzept einer neuen kulturellen Steuerung schließt nicht nur an Theorien der Governance-Forschung und der neuen Steuerung an, sondern auch an die in der Erziehungswissenschaft seit Längerem etablierte Theorie der Weltkultur (u.a. Meyer 2005), die ebenso als Modell kultureller Steuerung bezeichnet werden kann. Von einer kulturellen Steuerung durch eine Weltkultur kann gesprochen werden, da in dieser Theorie die Annahme leitend ist, dass sich diese Kultur zunehmend weltweit verbreitet und das Handeln unterschiedlichster Akteure, etwa das von Regierungen und Organisationen, und dadurch auch den Bildungsbereich, durch die Etablierung spezifischer kultureller Einstellungen beeinflusst – und in diesem Sinne steuert. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Weltkultur nur auf kulturellen Prinzipien beruht und selbst über keine expressiven Elemente verfügt. Fragwürdig erscheint diese Annahme nun vor dem Hintergrund des nachhaltigen

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Konsums, da die Prinzipien der Weltkultur – Meyer (ebd.) nennt hier die drei Prinzipien Umweltschutz, Menschenrechte und ökonomische Entwicklung – den verbreiteten Modellen einer sowohl ökologisch als auch sozial und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung entsprechen. Im Sinne einer Erweiterung und Aktualisierung der Weltkultur-Theorie erscheint es daher plausibel zu behaupten, dass diese weltkulturellen bzw. nachhaltigen Prinzipien nicht nur durch das «Gerede» internationaler Organisationen wie die der UN, sondern mittlerweile auch durch nachhaltig inszenierte Konsumprodukte verbreitet und kommuniziert werden. Diese kulturalisierten Produkte können daher als expressive Elemente der Weltkultur begriffen werden (Knobloch 2017). Im Gegensatz zur Theorie der Weltkultur geht das hier vorgestellte Konzept davon aus, dass die Kulturalisierung von Produkten im Sinne von Weltkultur und Nachhaltigkeit nur auf ein spezifisches Phänomen kultureller Steuerung unter anderen verweist. Denn es ist davon auszugehen, dass mittlerweile eine Vielzahl an Akteuren mit unterschiedlichsten Zielsetzungen versucht, durch die Kulturalisierung von Konsumprodukten und die Förderung spezifischer Lebensstile Einfluss auf individuelle und kollektive Bildungsprozesse auszuüben. Das Konzept der neuen kulturellen Steuerung soll dabei helfen, derartige Bildungsprozesse in ihrer Komplexität zu analysieren und pädagogisch zu beurteilen. Denkt man nun an das Bauhaus zurück so wird deutlich, dass dort nicht nur erste Prototypen kulturell und moralisch aufgeladener Konsumprodukte, wie etwa die Wagenfeld-Lampe, entwickelt wurden, sondern vor allem auch die Idee der neuen kulturellen Steuerung prototypisch vorgedacht und erprobt wurde.

Bildung in der Konsum- und Hyperkultur Das Modell der neuen kulturellen Steuerung erscheint für das Verständnis und die Analyse aktueller Bildungsprozesse aufschlussreich, da Konsumprodukte in der Bildung von Subjekten und Identitäten mittlerweile eine zentrale Rolle einnehmen. Besonders deutlich lässt sich dies am Lebensstil der kulturell dominanten neuen Mittelklasse zeigen, der dem Ideal der erfolgreichen Selbstverwirklichung folgt; kennzeichnend für diesen Lebensstil ist die umfassende Kulturalisierung des Alltags, die etwa durch Praktiken der Ästhetisierung, der Ethisierung oder der Ludifizierung hervorgebracht wird (Reckwitz 2017). Kulturalisierte und in diesem Sinne als einzigartig wahrgenommene Produkte sind für das Selbstverwirklichungssubjekt insofern von großer Bedeutung, als es sich im Umgang mit diesen selbst als einzigartig erfahren kann. Man verwirklicht sich demnach selbst, indem man sich mit Konsumprodukten umgibt, die dem eigenen Selbst bzw. der eigenen Kultur entsprechen. Ob dabei Bio- oder Bauhaus-Produkte eine Rolle spielen, entscheiden die spätmodernen Subjekte konsequenterweise selbst. Dennoch lassen sich bestimmte Ähnlichkeiten im Lebensstil der Selbstverwirklichungssubjekte erkennen. Deutlich wird dies etwa an den Wohnungen, da Wohnen im Alltag der nach Selbstverwirklichung strebenden Subjekte eine wichtige Rolle einnimmt. Wohnen ist ihnen wichtig, weil «der Wohnort wie die Gestaltung der Wohnung […] zu einer Quelle spätmoderner Identität» (ebd.: 314) geworden ist. Für

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Reckwitz fungiert die Wohnung sogar als Bühne für die Inszenierung des spätmodernen Subjekts, weshalb sie als «eine Art dreidimensionale Extension des Ichs» und als «Ausdrucksort seiner Identität» interpretiert werden muss. Wichtig sei die Gestaltung der Wohnung auch deshalb, da die «Raumqualitäten auf das alltägliche Lebensgefühl des Selbst» (ebd.: 316) zurückwirken. Interessant ist es zu sehen, dass die Ästhetik des Bauhauses auch im Bereich des Wohnens für die neue akademische Mittelklasse von Bedeutung ist. Dies zeigt sich etwa in der Auswahl des Mobiliars, das zumindest teilweise einer schlichten und modernen Gestaltung – mit Reckwitz: einem «weichen Modernismus» (ebd.: 318) – folgt. «Weicher Modernismus» bedeutet, dass bei den Schränken, Tischen, Küchen oder Sofas die klaren Linien im Bauhaus-Stil oder in der Tradition des skandinavischen Designs bevorzugt werden, diese aber durch Einzelstücke aus Naturmaterialien sowie diverser Herkunft (Antiquitäten, Flohmarkt, Industriedesign, originelle junge Designer) ergänzt werden […]. (Ebd.) Interessant ist auch, dass man bei dieser Kombination geradezu von der Beseelung einer kühlen Ästhetik sprechen kann, durch die Gestaltungsprinzipien des Bauhauses mit solchen des Arts-and-Craft-Stils kombiniert werden. Der kühle ästhetische Modernismus […] wird durch die warme, haptisch ansprechende Crafts-Ästhetik abgemildert und dadurch interessanter und authentischer. Das Ergebnis ist ein sorgfältig arrangierter Stilbruch von «Glattem und Gekerbtem […]». (Ebd.) Spuren der Ästhetik des Bauhauses lassen sich gegenwärtig auch im Design der Firma Apple erkennen. Anhand dieser Produkte und ihrer Bedeutungen lässt sich jedoch nicht nur zeigen, wie komplex und mitunter widersprüchlich Prozesse der Kulturalisierung sind, sondern auch, wie problematisch die moralisierende Wirkung kulturalisierter Produkte sein kann. Eine derartige Wirkung bescheinigt Borries den Apple-Produkten insofern, als sie uns mit ihrem «minimalistischen Design […] an den positiven Aufbruchsgeist der Moderne erinnern» (Borries 2011: 63). Jedoch handle es sich hier nicht um einen ehrlichen Minimalismus, sondern bloß um eine trügerische Inszenierung des Marketings (auch Polster 2011). Die Schönheit und sinnliche Attraktivität von iPad, iPod, iPhone und Co sind nicht Ausdruck für den Traum von einer durch gute Gestaltung verbesserten Welt, sie repräsentieren kein verpflichtendes Designethos, sondern sind billige Taschenspielertricks: Vertrautes, ethische Seriosität und Solidität vortäuschendes Styling soll über die alltagskulturelle und politische Tragweite der neuen ökonomischen Konzepte hinwegtäuschen […]. (Borries 2011: 63)

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Ähnlich wie mit (vermeintlich) fair gehandelten Bio-Produkten kann man sich auch mit Apple-Produkten demnach besser fühlen, als man ist. «Und genau deshalb lieben wir Apple: Unter der ästhetisierten Oberfläche der Apple-Produkte verstecken wir die Lebenslügen der Konsumgesellschaft» (ebd.). Wie die nach Singularität strebenden Selbstverwirklichungssubjekte ihre Wohnungen einrichten, und ob sie sich vom Minimalismus der Apple-Produkte faszinieren lassen oder nicht, ist aus bildungstheoretischer Perspektive von untergeordneter Bedeutung. Dies liegt vor allem daran, dass die neue Mittelklasse einen Kulturkosmopolitismus pflegt, in dem alles Kulturelle bzw. all das, was kulturalisierbar ist, zur potenziellen Ressource für das Projekt der eigenen Selbstverwirklichung werden kann. Reckwitz (2017) spricht daher von einer Hyperkultur, die insofern als spezifische Konsumkultur begriffen werden muss, als der Konsum von Kultur hier eine besondere Stellung einnimmt. Bildungstheoretisch aufschlussreich ist daher vor allem die grundsätzliche Feststellung, dass die Kulturalisierung von Konsumprodukten maßgeblich zur Bildung spätmoderner Subjekte beiträgt. Bauhaus-, Bio- und Apple-Produkte mögen dabei hilfreich sein, da die Kulturalisierung hier in komplexen Netzwerken stattfindet und von verschiedenen Seiten aus vorangetrieben und unterstützt wird. Kritisch zu analysieren sind derartige Prozesse aus pädagogischer Perspektive vor allem, da hinsichtlich der beteiligten Akteure von unterschiedlichsten Motiven und Interessen ausgegangen werden sollte, die den Subjekten keineswegs bewusst sein müssen.

Fazit Bedenkt man den Stellenwert, den die Kulturalisierung und Ästhetisierung von Produkten und Praktiken gegenwärtig einnimmt, so scheint das Ziel des Bauhauses, Produkte zu beseelen und dadurch Menschen zu erziehen, durchaus erreicht. Obwohl auch heute keineswegs alle Produkte einem Bauhaus-Stil folgen, und vielmehr in den meisten Lebensbereichen eine geradezu extreme Pluralität an Stilen, Designs und Ästhetiken beobachtet werden kann, scheint sich die Idee des Bauhauses, Menschen durch Produkte ästhetisch und moralisch zu bilden, zumindest in den Wohlstandsgesellschaften weitgehend durchgesetzt und in konkrete Praktiken übersetzt zu haben. Hinsichtlich der am Bauhaus mit diesen Operationen verbundenen Hoffnungen wird man nun jedoch einräumen müssen, dass die dominanten Formen der Kulturalisierung und Ästhetisierung aller Lebensbereiche nicht nur befreiend wirken, sondern auch neue soziale Spannungen provozieren und individuelle Unzulänglichkeiten produzieren. Die Hyperkultur scheint nicht ohne Hypermoral (Grau 2019) zu haben zu sein, wie sich etwa im Moralkonsum der LOHAS und anderer Bildungs- bzw. Konsumbürger zeigt. Dabei können Bauhaus-Produkte maßgeblich beteiligt sein, müssen es aber natürlich nicht. Um die unterschiedlichen Akteure zu identifizieren, die die Bildung der Subjekte heutzutage beeinflussen oder dies zumindest versuchen, erscheint es notwendig, in Anlehnung an die Educational Governance-Forschung komplexe Netzwerke in den Blick zu nehmen. Gezeigt hat sich, dass in diesen Netzwerken nicht nur klassische Akteure wie etwa Lehrer und Schulen oder Familien und Peer-Groups, aber

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auch nicht nur neue Akteure wie etwa die OECD oder die Bertelsmann-Stiftung sowie die empirische Bildungs- und Governance-Forschung eine Rolle spielen, wie im Zusammenhang der neuen Steuerung ausreichend diskutiert. Vielmehr spielen in den Netzwerken der neuen kulturellen Steuerung neue Medien eine entscheidende Rolle, wobei mit diesem Begriff hier kulturalisierte und ästhetisierte Konsumprodukte gemeint sind. Dass mit den Produkten auch die verbundenen Firmen sowie weitere Medien wie etwa Werbung ins Visier geraten, versteht sich von selbst. Um das Phänomen der neuen kulturellen Steuerung verständlich zu machen, ­erscheint es hilfreich und vielleicht sogar notwendig, dieses Phänomen im historischen bzw. historisch-systematischen Rückblick auf seine Anfänge zurückzuführen. Damit kommt unweigerlich das Bauhaus in den Blick, und zwar als Prototyp der neuen kulturellen Steuerung. Bekanntlich war es ein zentrales Ziel des Bauhauses, Prototypen für die industrielle Produktion zu entwickeln, die den Bauhaus-Ideen entsprechen und der ästhetischen sowie moralischen Erziehung und Bildung dienen. Dass das Bauhaus selbst zu einem Prototyp moderner Pädagogik im Sinne von Educational (Cultural) Governance werden würde, war damals aber noch nicht abzusehen.

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Literaturverzeichnis

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1 ©Tecnolumen. Biografie

Phillip D. Th. Knobloch, Akademischer Rat a.Z. in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund; derzeit Vertretung der Professur für Historische und Vergleichende ­Pädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine, Vergleichende, Historische, Internationale, Inter- und Hyperkulturelle Pädagogik und Erziehungswissenschaft.

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Bauhaus: Prototyp der neuen kulturellen Steuerung von Bildungsprozessen

Material in der Lehre am Bauhaus, den Nachfolgeinstitutionen und der Kunstpädagogik

Einleitung

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3

Susanne Henning, Sara Hornäk Der dritte Teil dieses Tagungsbandes befasst sich aus einer kunstpädagogischen Perspektive mit den Lehren des Bauhauses. In den hier versammelten Beiträgen aus den Bereichen der Kunstpädagogik, Kunstgeschichte, den Literaturwissen­ schaften sowie der Medien- und Design­ theorie werden Besonderheiten der künstlerischen Lehre am Bauhaus unter­ sucht und Wirkungen betrachtet, die sich von ihr ausgehend bis in die kunst­ pädagogische Theorie und Praxis der Gegenwart entfalten. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf sich am Bauhaus und seinen Nachfolgeinstitutionen etablierenden Materialumgangsweisen, nach deren Einflüssen auf künstlerische sowie auf kunstpädagogische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gefragt wird. Die Beiträge hierzu sind einerseits historisch orientiert und widmen sich den Anfängen am Bauhaus und an ähnlichen Hoch­ schulgründungen, darüber hinaus aber auch den durch das Exil geprägten Nachfolge­ jahren. Sie fokussieren von dort aus das Thema des Materials als Impulsgeber in künstlerischen Prozessen der späten 1960er Jahre und in der zeitgenössischen Bildhauerei. Weitere Überlegungen in diesem Teil richten sich auch auf allgemeinbildende Potenziale, die in der Auseinandersetzung mit Lehren des Bauhauses und des Black Mountain College erkannt und hinsichtlich ihrer Gegenwartsbedeutung befragt werden können. Mit Blick auf kunstpädagogische Möglich­ keiten im Bereich bildhauerischen Arbeitens an Schulen und Hochschulen der Gegenwart beschäftigen sich die beiden ersten Beiträge mit der material­ orientierten künstlerischen Lehre von

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Josef Albers. Hierzu geht Susanne Henning Verbindungslinien, insbesondere aber auch Brüchen zwischen künstlerischen Entwicklungen seit den 1960er Jahren und der Lehre von Josef Albers nach. Vor dem Hintergrund einer diese Aspekte betreffenden Analyse hinterfragt sie eine kunstpädagogische Gegenwartsrelevanz von Albers’ materialorientierter Lehre als einer Gestaltungslehre, erkennt jedoch in der für seine Arbeit kennzeichnenden Wechselbeziehung zwischen künstlerischer und kunstpädagogischer Praxis wichtige Impulse für künstlerische Entwicklungen seit den 1960er Jahren sowie für kunst­ pädagogische Überlegungen der Gegenwart. Im Anschluss untersucht Sara Hornäk die Aktualität von historischen Aufgaben­ stellungen zum Materialumgang in der Lehre von Josef Albers und betrachtet künstlerische Lehr- und Lernsituationen, in denen neben deren Reenactment neuartige Impulse für die skulpturale Arbeit mit Material formuliert werden. Ein besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf die Erweiterungen eines für künst­ lerisches Arbeiten genutzten Materialspek­ trums und überlegt, inwiefern sich die künstlerische Erschließung von alltäglichen Materialien oder auch ein zeitgenössisches Interesse an Materialien aus dem Baumarkt auf u.a. materialikonografische Fragestellungen auswirken, denen in Kunst und Unterricht nachgegangen werden kann. Ebenfalls mit einem Fokus auf Fragen des Umgangs mit einem sich erweiternden Materialspektrum widmet sich der Beitrag von Sidonie Engels der Rezeptions­ geschichte von Lehren aus dem erweiterten Kontext des Bauhauses. Auf der Basis einer Analyse von Lehrwerken des Faches Kunst zeigt sie, auf welche Weise sich insbesondere ein für die Lehre von Josef Albers kennzeichnendes Vorgehen in Theorie und Praxis des Kunstunterrichts im

20. Jahrhunderts fortschreibt, bei dem Materialien einen Ausgangspunkt von künstlerischen und gestalterischen Lehr- und Lernprozessen bilden. Anders als die ersten drei Beiträge, die Weiterentwicklungen von Bauhauslehren bis in Gegenwart verfolgen, interessiert sich Alexandra Panzert für Fragen des Materials in unterschiedlichen künstlerischen und gestalterischen Lehren der Zeit des Bauhauses. Indem sie unterschiedliche Gestaltungsschulen der Weimarer Republik im Hinblick auf die Innovativität von Materialauswahl und Materialumgang ihrer Werkstätten vergleicht, dekonstruiert sie eine verbreitete Lesart, nach der dem Bauhaus eine diese Aspekte betreffende Vorreiterrolle zuerkannt wird. Carolin Höfler nähert sich der Frage nach einer aktuellen Relevanz von Material­ perspektiven des Bauhauses aus einer designtheoretischen Sicht. In ihrem Beitrag geht sie einem Interesse an Verbin­ dungen taktiler und visueller Material­ erfahrungen nach, anhand derer Parallelen zwischen Materialerkundungen am Bauhaus und gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich von Virtual Reality und Game Design erkannt werden können. Wie sie dabei zeigt, geht insbesondere die Lehre László Moholy-Nagys in Bezug auf die Überwindung tradierter Sinnes­ hierarchien bereits über aktuelle Überlegun­ gen hinaus. Ina Scheffler stellt ausgewählte Spielzeug­ entwürfe von Künstlerinnen und Künstlern des Bauhauses vor, die sie vor dem Hintergrund der durch sie ermög-­ lichten Material- und Farberfahrungen zum einen als Lernmaterialien und zum anderen als Ausgangspunkt partizipativen künstlerischen Arbeitens fokussiert. Von hier ausgehend betrachtet sie künst­ lerische Entwicklungen im Bereich des Spiels bis in die Gegenwart, die gerade auch mit Blick auf Möglichkeiten des Anknüpfens

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an Erfahrungswelten von Schüler*innen von besonderem kunstpädagogischen Interesse sind. Eine Erweiterung der kunstpädagogischen Sichtweisen auf Lehren des Bauhauses und seiner Nachfolgeinstitutionen erfolgt in den letzten beiden Beiträgen. Sie befassen sich mit der Frage, inwiefern von der künstlerischen Lehre des Bauhauses Impulse für das Erreichen gegenwärtig als relevant betrach­ teter, auch über die Kunstpädagogik hinausweisender Bildungsziele ausgehen könnten. Unter dem Begriff der Kreativitäts­ bildung stellt Johanna Eder Bezüge zwischen den pädagogischen Konzepten des Bauhauses, des Black-Mountain College und ihren eigenen kunstpädagogi­ schen Überlegungen zu einem «HOMO CREANS» her. Hierzu analysiert sie Projekte beider Institutionen, denen im Kontext gegenwärtiger Diskurse ein kreativitätsför­ derndes Potenzial zuerkannt wird. Den Abschluss bildet Angela Webers Darstellung eines transdisziplinären Bildungsprojektes im Bauhausjahr 2019. Zentraler Aspekt der Bezugnahme auf das Bauhaus ist hier dessen Anspruch, gesellschaftsgestaltend wirksam zu sein. Vor dem Hintergrund von Parallelen zwischen soziopolitischen Entwicklungen in der Weimarer Republik und in der Gegenwart wird über die Frage nachgedacht, auf welche Weise am Bauhaus erkennbar werdende Potenziale für die Entwicklung emanzipatorischer Prozesse der Gegenwart erschlossen werden können.

Susanne Henning

Zwischen Kunst und Gestaltung Gedanken zu einer kunstpädagogischen Gegenwartsrelevanz der Lehre von Josef Albers

Skulptural arbeitende Künstler*innen, die direkt oder indirekt mit Josef Albers’ ausgehend vom Bauhaus entwickelter Lehre in Berührung kommen, haben einen wichtigen Einfluss auf bildhauerische Entwicklungen der 1960er Jahre (Saletnik 2007: 1). Diese wiederum gehen mit Erweiterungstendenzen in den Raum, die Zeit und die Rezeption einher, die, wenn auch unter sich verändernden Vorzeichen, für skulpturales Arbeiten der Gegenwart bedeutsam bleiben. Vor diesem Hintergrund wird ein Nachdenken über die Bedeutung, die materialorientierte Lehrkonzeptionen des Bauhauses und seiner Nachfolgeinstitutionen – vermittelt durch Albers – im Bereich dreidimensionalen Gestaltens für die Entwicklungen zeitgenössischer Kunst gehabt haben können, möglich. Unter Zugrundelegung kunstpädagogischer Überlegungen, die Lehr- und Lernmöglichkeiten des Kunstunterrichts in einen Zusammenhang mit künstlerischen Entwicklungen ihres zeitlichen Kontextes und deren kunsthistorischen Hintergründen stellen, kann daraufhin über eine kunstpädagogische Gegenwartsrelevanz von Materialübungen der Bauhauslehren nachgedacht werden. Doch verweist der aufscheinende Zusammenhang zwischen Bauhauslehren und skulpturalen Entwicklungen der Gegenwart wirklich auf Chancen, die eine Adaption Ersterer für zeitgenössischen Kunstunterricht eröffnen könnte? Folgt man Überlegungen Lehrender im Bereich von Kunst und Gestaltung wie Gert Selle (1985: 117) und Peter Jenny (1996: 16), ist eine kunstpädagogische

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Adaption von Gestaltungslehren aus dem erweiterten Kontext des Bauhauses wenig erfolgversprechend und zumindest in den von ihnen beobachteten Versuchen des ausgehenden 20. Jahrhunderts gescheitert.1 Hintergründen eines damit von Selle und Jenny postulierten Mangels an kunstpädagogischer Gegenwartsrelevanz von Bauhauslehren soll im Folgenden anhand einer Auseinandersetzung mit der materialbezogenen Lehre von Albers am Black Mountain College und in Yale nachgegangen werden. Dazu werden Impulse, die von ihr ausgehend zu der Entwicklung von Erweiterungstendenzen skulpturalen Arbeitens in den 1960er Jahre beigetragen haben können, in den Blick genommen und kritisch reflektiert. Anschließend wird, im Versuch einer Beantwortung der eingangs gestellten Frage nach einer möglichen Gegenwartsrelevanz von Grundlehren des Bauhauskontextes, über kunstpädagogische Konsequenzen dieser kunstwissenschaftlichen Überlegungen nachgedacht.

Josef Albers’ Lehren als Impulsgeber für skulpturale Entwicklungen der 1960er Jahre? Wie Jeffrey Saletnik unter zentraler Bezugnahme auf die künstlerische Position Eva Hesses überlegt, haben prozessorientierte und materialbasierte Lehren, die am Bauhaus praktiziert werden, insbesondere vermittelt durch die Lehrtätigkeit von Albers am Black Mountain College und in Yale Einfluss auf die amerikanische Kunst. Als wesentlichen Anknüpfungspunkt betrachtet Saletnik einen für Albers’ Lehre kennzeichnenden Fokus auf einem forschenden Umgang mit Material (Saletnik 2007: 1). Dieser kommt in der Designlehre in Materie- und Materialübungen zum Tragen, wobei in Ersteren die konstruktiven Möglichkeiten einzelner Materialien eines erweiterten Materialspektrums erkundet werden, während Letztere die wahrnehmbaren Oberflächenbeschaffenheiten und darauf basierenden Kombinationsmöglichkeiten unterschiedlicher Materialien in den Vordergrund stellen (Horowitz 2006a: 102). Besonders eindrücklich nachvollziehbar wird die Prozessorientierung von Albers’ Lehre in den Darstellungen seines ehemaligen Studenten Frederick A. Horowitz. Dieser beschreibt die Materialübungen, die Albers ebenso wie die Materieübungen am Bauhaus entwickelt und sowohl am Black Mountain College als auch in Yale fortführt, als Explorationen, in denen es darum geht, immer wieder neue Strategien der Materialverarbeitung zu erproben und Ergebnisse hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Wirkungen zu vergleichen. Studierende werden ermuntert, in Reihen zu arbeiten und dabei systematische Modifikationen vorzunehmen (ebd.: 113), um sich auf diese Weise einer Herangehensweise anzunähern, die den von Albers als zentral herangezogenen K ­ riterien 1

Dass sich diese Beobachtungen auf die Adaption der Lehrkonzeptionen von Albers beziehen, wird besonders bei den Überlegungen Selles deutlich, der auf das von Ernst Röttger in verschiedenen Bänden vorgestellte Spiel mit den bildnerischen Mitteln verweist. Die hier z.B. im Band 1 Werkstoff Papier vorgeschlagenen Herangehensweisen zeigen formal deutliche Parallelen zu Materialübungen bei Albers (Röttger 1959). Selle distanziert sich, bezogen auf seine eigene Praxis als Kunstlehrer, folgendermaßen von dem bei Röttgers beschriebenen Vorgehen: «Auch in der allergrößten Not wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mich auf Röttgers einfältiges ‹Spiel mit den bildnerischen Mitteln›, das ich aus Kassel kannte, zu beziehen.» (Selle 1985: 121, Herv. i.O.). Auch Egon von Rüden nimmt kritischen Bezug auf Röttgers Adaption, wenn er überlegt, dass die Konzeption der Materialübungen «den einst innovativen Charakter verloren hat und inzwischen zu einer Anleitung für ein ‹Spiel mit den bildnerischen Mitteln› verkommen ist.» (von Rüden 1999: 113)

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der Ökonomie und Materialgerechtigkeit (ebd.: 106f.) möglichst nahekommt und ebenso einfache wie prägnante Lösung hervorzubringen vermag (ebd.: 126). Ziel der Lehrkonzeption ist es, die visuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten zu fördern, Augen und Geist gleichermaßen zu öffnen2 und auf diese Weise den Erwerb von Fähigkeiten zu ermöglichen, die Albers sowohl im Bereich angewandter als auch freier Kunst als grundlegend betrachtet (ebd.: 120). Aus Saletniks Perspektive unterstützt die Lehre von Albers auch Hesse, die bei Albers Malerei studiert, und Richard Serra, der sowohl als Student als auch als Mitarbeiter an Albers’ Skulpturseminaren teilhat, in der Entwicklung eines für ihr späteres künstlerisches Schaffen kennzeichnenden prozessorientierten Umgangs mit Material (Saletnik 2007: 1). Dass ihre Produktion sich deutlich von den durch Albers vermittelten Grundsätzen gestalterischen Arbeitens entfernt und den von ihm postulierten Kriterien teilweise widerspricht, marginalisiert Saletnik als eine Frage individueller künstlerischer Weiterentwicklung. He [Albers] instilled in his students a general approach to artistic material by encouraging directed experimentation with the properties of any given material. How they, as artists, chose to make use of his instruction is altogether another (and individual) matter. In fact, Albers likely would not have approved of work involving (in the case of Splashing) an arbitrary element; it was antithetical to his approach to design as that embracing «all means opposing disorder and accident.» (Ebd.: 9, Herv. i.O.) Eine genauere Betrachtung der Unterschiede, die Serras und Hesses skulpturale Prozesse gegenüber den Materie- und Materialübungen in Albers’ Lehre aufweisen, lässt allerdings fraglich erscheinen, ob es sich hierbei tatsächlich um Weiterentwicklungen von im Studium bei Albers erworbenen Grundlagen handelt, die den jeweils subjektiven und individuellen Interessen einzelner Künstler*innen geschuldet sind. Um dieser Frage nachzugehen, werden im Folgenden Erweiterungstendenzen, die für Entwicklungen des Skulpturalen ab den 1960er Jahren bis in die Gegenwart relevant sind, in den Blick genommen und überlegt, inwiefern Albers’ Lehre diese Tendenzen vorwegnimmt oder zumindest begünstigt, inwiefern die Erweiterungstendenzen aber auch Momente aufweisen, hinsichtlich derer ein solcher, positiver Zusammenhang hinterfragt werden kann.

Prozessualisierung vs. prozessorientierte Formfindung Wie Robert Morris 1968 in seinem Text AntiForm unter zentraler Bezugnahme auf die malerischen Entwicklungen Jackson Pollocks überlegt, geht es einer «neueren objekthaften Kunst» (Morris 2010a: 55) in den USA der 1960er Jahre um die Überwindung eines als europäisch begriffenen Kunstverständnisses, bei dem eine künstlerische Arbeit als Werk ein organisches Ganzes bildet, das sich in erster 2

«In short, our art instruction attempts first to teach the student to see in the widest sense: to open his eyes to the phenomena about him, and most important of all, to open to his own living, being, and doing.» (Albers 1934: 2f.)

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Zwischen Kunst und Gestaltung

Linie für die inneren Beziehungen seiner Teile zum Ganzen interessiert (ebd.: 57). Auch eine «Vernünftigkeit des gut Gebauten» (ebd.: 56), die aus Morris’ Sicht für die amerikanische Skulptur der Moderne von zentraler Bedeutung ist, tritt in einer nun aktuell werdenden Kunst in den Hintergrund, die, wie Harald Szeemann anlässlich der Ausstellung When attitudes become form konstatiert, möchte, «daß der künstlerische Vorgang auch im Endprodukt und in der Ausstellung noch sichtbar bleibt» (Szeemann 1969: 7). Anders als im Kontext eines bisherigen Interesses am künstlerischen Prozess, das u.a. in der Arbeit Auguste Rodins oder Medardo Rossos erkennbar wird, geht es einer nun relevant werdenden Prozessorientierung allerdings nicht darum, individuelle künstlerische Besonderheiten hervorzuheben, vielmehr sollen ein traditionelles Werkverständnis und künstlerische Intentionalität in den Hintergrund treten, um so «über den Personalismus einer künstlerischen Handschrift hinauszugehen» (Morris 2010a: 58). Eine solche Form der Prozesshaftigkeit wird erreicht, wenn Robert Morris, Richard Serra, Eva Hesse, Michael Asher, Lynda Benglis ebenso wie viele weitere Künstler*innen des zeitlichen Kontextes Strategien nutzen, bei denen die Interaktion mit Material sowie der Einbezug physikalischer Kräfte eine zentrale Rolle spielen. Dieses Vorgehen ähnelt auf den ersten Blick Herangehensweisen, wie sie auch in den Materialstudien bei Albers erprobt werden. Während dort allerdings Kriterien wie ökonomischer Materialumgang, Materialgerechtigkeit und Einfachheit handlungsleitend sind und eine Kontrolle des Prozesses sowie planvolles Handeln erfordern (Horowitz 2006a: 146), der Prozess also Mittel zum «gut gebauten» Objekt bleibt, ist ein Interesse an Interaktionen mit dem Material bei postminimalistischen Künstler*innen dem Wunsch geschuldet, die alleinige und bewusste Steuerung des Prozesses zu überwinden. Auf diese Weise kann Autorschaft aufgegeben und der Prozess für nicht-subjektive Faktoren geöffnet werden. Besonders prägnant bringt Hesse dieses Ziel zum Ausdruck: «Ich hätte es gerne, wenn meine Arbeit Nicht-Arbeit wäre. Dann würde sie ihren Weg jenseits meiner Vorannahmen finden.» (Zit.n. Puff 2006: 406) Bezieht man die hier dargestellten Hintergründe von Prozessualisierungstendenzen der Kunst in den 1960er Jahren ein, werden Unterschiede zwischen materialgerechtem Arbeiten, wie es in den Bauhauslehren und der sich daraus entwickelnden Lehre von Albers angestrebt wird, und materialorientierten Vorgehensweisen der Prozesskunst erkennbar. Im Kontext materialgerechten Arbeitens ist eine Materialorientierung ein Mittel, um eine möglichst gute Passung von Materialeigenschaften, Konstruktions- und Bearbeitungsweisen zu gewährleisten, die dann wiederum zu einem klaren, gut gestalteten Ergebnis führt. Dagegen geht es einem Arbeiten, das Wert darauf legt, das Material möglichst umfassend und selbsttätig am Entstehungsprozess eines Objektes zu beteiligen, darum, den Prozess der Materialveränderung anhand der Betrachtung des Objekts erfahrbar werden zu lassen. Dass für Hesses Arbeiten Materialgerechtigkeit, anders als in der Lehre Albers’, kein handlungsleitendes Prinzip ist, ist u.a. im Werk Untitled (Seven Poles) (1970) erkennbar. Abb. 1 Bei dieser aus sieben winkelförmigen Fiberglas-Elementen runden Querschnitts bestehenden Arbeit verwendet Hesse eine Armierung aus Aluminiumdraht, die Albers’ Verständnis von Materialgerechtigkeit ebenso wenig entspricht (Horowitz 2006a: 147) wie die Befestigung der sieben Elemente mittels Nylonschnüren an

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1

Eva Hesse, Untitled (Seven Poles), 1970, Fiberglas, Harz, Polyester, Polyethylen, Aluminiumdraht, 272 × 240 cm, Rekonstruktion Centre Pompidou Paris.

der Decke. Durch die Verbindung verschiedener Materialien, die Art und Weise ihrer Verarbeitung sowie durch ein Spannungsfeld, das sich zwischen tatsächlicher Festigkeit des ausgehärteten Materials und einer nach wie vor Assoziationen von Nachgiebigkeit und Weichheit aufrufenden Wirkung eröffnet (Pierre 2007), wird die Materialität der Arbeit betont. Das Interesse wird auf ihren Herstellungsprozess und den sich fortsetzenden Prozess des Hängens gelenkt, bei dem eine permanente Interaktion zwischen den Nylonschnüren und physikalischen Einflüssen stattfindet, durch die die Elemente ohne Befestigung an einer Beibehaltung ihrer aufrechten Position gehindert würden. Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Hintergründen experimenteller Materialumgangsweisen in Albers’ Lehre und postminimalistischen Positionen daran, dass Letztere auch den Zufall als Möglichkeit, die bewusste Kontrolle des Prozesses aufzugeben, schätzen und damit Strategien aufgreifen, die in der europäischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt werden. Hier delegiert bereits Hans Arp in seiner Collage Untitled (Collage arranged according to the laws of chance) von 1916/17 wesentliche Bereiche der gestalterischen Arbeit an den Zufall, indem er Papierfetzen auf ein Blatt fallen lässt und die entstandene Anordnung durch Aufkleben fixiert. Wie bei anderen Künstler*innen im Kontext von Dada bildet dabei ein Misstrauen gegenüber menschlicher Vernunft, das mit Erfahrungen

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Zwischen Kunst und Gestaltung

2

Richard Serra, Belts, 1966-67, vulkanisiertes Gummi, Neonröhren, ca. 203,2 × 502,9 × 50,8 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Panza Collection, 1991.

des Ersten Weltkriegs in Verbindung gebracht werden kann, einen Hintergrund für den Wunsch, die bewusste Kontrolle des künstlerischen Prozesses partiell aufgeben zu können. Eine Arbeit der 1960er Jahre, die zufällige Formungsprozesse einbezieht und veranschaulicht, ist Serras Belts (1966–1967). Abb. 2 Knäuel aus breiten Streifen vulkanisierten Gummis hängen nebeneinander an einer Wand und bilden unterschiedliche Formationen, die sich aus der Struktur des Knäuels, dem jeweiligen Befestigungspunkt und der leicht differierenden Materialität der unterschiedlich farbigen Gummistreifen ergeben. Die am weitesten links hängende Formation wird durch eine dem Verlauf eines Gummistreifens folgende Leuchtstoffröhre akzentuiert, wodurch ihre Position als Beginn einer Reihe unterschiedlicher Formentwicklungen verdeutlicht wird (Richard Serra in MoMA 2007). Wie Serra erläutert, geht es ihm in dieser Arbeit um den Versuch, die Strategien Pollocks in die Dreidimensionalität zu überführen (ebd.). Morris beschreibt Arbeiten wie Belts, mit deren Aufkommen er sich in AntiForm befasst, folgendermaßen: Die Konzentration auf Material und Schwerkraft als künstlerische Mittel führt zu Formen, die nicht im Voraus geplant wurden. Aspekte von Ordnung erscheinen notwendigerweise zufällig, ungenau und beiläufig. Regelloses Aufstapeln, lockeres Schichten und Hängen geben dem Material eine vorübergehende Form. Der Zufall wird angenommen […]. (Morris 2010a: 59)

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Prozessorientierte Vorgehensweisen in der materialbasierten Lehre Albers’ entsprechen dagegen einer Form dreidimensionalen Arbeitens, die noch dem «Imperativ des gut gebauten Dings» (ebd.: 56) folgt, einer Herangehensweise also, die mit dem neuen Interesse an einer «AntiForm» zu überwinden versucht wird. Die Beteiligung nicht steuerbarer Faktoren, durch die sich das Arbeiten von Künstler*innen wie u.a. Hesse, Serra und Morris in einem Spannungsfeld von Differenzierung und Entdifferenzierung, Arbitrarität und Beherrschung verorten lässt (Morris 2010b: 80ff.), ist mit einem Kontrollverlust verbunden, der für Albers keineswegs wünschenswert ist. Wie u.a. der folgende Auszug aus Werklicher Formunterricht (1928), einem programmatischen Text aus Albers’ Zeit am Bauhaus, zeigt, lehnt er insbesondere zufällige Entwicklungen ab: Es darf in keiner Form etwas Ungenutztes übrigbleiben, sonst stimmt die Kalkulation nicht. Weil der Zufall mitgespielt hat. Der ist unverantwortet und darum unverantwortlich, außerdem geistlos, weil er aus der Gewohnheit kommt. Solche strenge eigene Überwachung der Arbeit kostet und verdient Disziplin als Vorsatz und Erfolg. Dass Sauberkeit und Exaktheit als höchste Disziplinfaktoren gelten, ist danach selbstverständlich, wie das Werkresultat Klarheit ist. (Albers 1928: 5) Wie Horowitz’ Darstellungen der Lehre von Albers und den durch Albers ausgebildeten und umfassend instruierten Nachfolgern Robert Engman und Neil Welliver zeigen, bleibt die rigide Ablehnung jeglichen Kontrollverlusts in seiner Arbeit in Yale erhalten, wo die für die Materialstudien geltenden Regeln auch auf das Gebiet der Skulptur anwendet werden (Horowitz 2006a: 147). Diese Ablehnung korrespondiert mit Albers’ starken Vorbehalten gegenüber der Malerei des abstrakten ­Expressionismus (Danilowitz 2006: 69; Horowitz 2006a: 94f.), deren Strategien er nicht in ihrer Bedeutung für künstlerische Entwicklungen des zeitlichen Kontextes erkennt, sondern als kurzlebigen Trend betrachtet (Horowitz 2006a: 94f.). Mit ihrem Fokus auf experimentellem, ergebnisoffenem Arbeiten bildet die Lehre von Albers zwar eine mögliche Grundlage für die Entwicklungen von PostminimalArt und Prozesskunst der 1960er Jahre und die mit ihr verbundene Lösung von einem traditionellen Werkverständnis, Albers selbst vollzieht diese Lösung allerdings weder in seiner eigenen künstlerischen Arbeit, noch unterstützt er entsprechende Vorgehensweisen in seinen Seminaren. Somit richten sich Materialumgangsweisen gemäß seiner Lehre nicht darauf, einen unabgeschlossenen und potenziell weiterführbaren Prozess in der Arbeit sichtbar zu machen und so die Idee eines abgeschlossenen Werks zu überwinden, das für weitere Veränderungen und Einflüsse, die nicht durch den*die Künstler*in verantwortet werden, unzugänglich ist. Gerade eine Öffnung für kontextuelle Einflüsse und eine Haltung, bei der der Abschluss einer Arbeit durch den*die Künstler*in nicht deren Fertigstellung als Werk markiert, sind wesentliche Faktoren, auf deren Basis die Prozessualisierungstendenzen im skulpturalen Arbeiten der 1960er Jahre eine wichtige Grundlage für zeitgenössische Entwicklungen partizipativer und performativer Kunst bilden.

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Erweiterung in den (lebensweltlichen) Raum Als weitere Aspekte, hinsichtlich derer von Albers’ Lehre ausgehende Impulse auf bis in die Gegenwart hineinwirkende künstlerische Entwicklungen der 1960er Jahre reflektiert werden können, sollen im Folgenden deren Erweiterungen und Entgrenzungen in den Raum, der u.a. als lebensweltlicher oder sozialer Raum begriffen werden kann, betrachtet werden. Auch in Bezug auf diesen Aspekt bietet die Lehre von Albers Anschlussmöglichkeiten, gleichzeitig erfordert das von ihm vermittelte Kunstverständnis aber auch hier Abgrenzungen, die es Künstler*innen der 1960er Jahre erst ermöglichen, Erweiterungen in den Raum umfassend, d.h. über formale Aspekte hinausgehend, entwickeln zu können. Anknüpfungspunkte können darin gesehen werden, dass Albers, skulpturalen Entwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsprechend, die traditionelle, massive Skulptur als erschöpft betrachtet. Sein eigenes künstlerisches ­Interesse gilt, wie auch seine vorwiegend zweidimensionale Arbeitsweise zeigt, einer Erkundung der Fläche. In Albers’ Lehrveranstaltungen in Yale entstehen auf einer solchen, konstruktivistisch orientierten Grundlage raumgreifende, offene Skulpturen (Horowitz 2006a: 146). Abb. 3 Allerdings interessieren diese sich nach wie vor für ihre internen formalen Beziehungen und nicht für eine über formale Fragen hinausgehende Erkundung des Raums der Betrachtenden. Z.B. richtet sich Albers’ Lehre nicht auf die Entwicklung von Installationen im Sinne einer untrennbaren Verbindung mit den immer auch lebensweltlichen Räumen, in denen sie sich befinden. Auch über eine gesellschaftliche Relevanz und ein damit korrespondierendes Agieren in einem sozialen Raum denkt Albers nur auf einer sehr abstrakten Ebene nach, wenn er z.B. eine gesellschaftsformende Kraft von Gestaltungen, in denen ein hierarchisches Verhältnis von Figur und Grund oder positivem und negativen Volumen aufgehoben ist, in den Blick nimmt (ebd.: 94). Eine politisch oder sozial engagierte Kunst, die er mit einem Sumpf/Morast («a quagmire», ebd.: 97) vergleicht, lehnt Albers dagegen ab. Bezugnahmen auf einen lebensweltlichen Raum spielen in der Lehre von Albers, einem grundlegenden Bauhausgedanken entsprechend, allerdings insofern eine Rolle, als eine Aufhebung der Trennung von Kunst und Design angestrebt wird. Gestaltungsprozesse richten sich so nicht ausschließlich auf die Entwicklung autonomer Kunstwerke, sondern perspektivisch auch auf angewandte Bereiche. Eine Nichtdifferenzierung zwischen Design und Kunst erhält Albers auch in seiner Zeit in Yale aufrecht, was daran zu erkennen ist, dass er Seminare in den Bereichen Skulptur (gelehrt von Engman) und Design (gelehrt von Welliver) gleich konzipiert (ebd.: 143–147). Darüber hinaus bietet Albers’ Lehre insofern eine Basis für eine umfassendere Erweiterung freier Kunst in den Raum, als sie von Situationen ausgeht. Albers vergleicht den Rahmen, den er Studierenden zur Verfügung stellt, mit einem Kartenspiel, bei dem mit einem zur Verfügung stehenden Blatt (einer vorgefundenen Situation mit ihren Möglichkeiten und Einschränkungen) ein möglichst gutes Ergebnis erreichen werden muss (ebd.: 149), wodurch möglicherweise auf ein Denken und Agieren in noch umfassenderen Situationen vorbereitet wird.

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3 a–c

Stephanie Scuris, Untitled, 1958–59, Konstruktion aus Kupferstäben, 31,1 × 29,8 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York.



Robert Engman, Construction 1960, 1960, Metall, 47 × 61 × 78,7 cm, Collection Whitney Museum of American Art, New York.



Robert Morris, Installation at the Green Gallery, 1964, Sperrholz, Farbe, Green Gallery, New York.

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4 a–b Richard Serra, Splashing (lead), Blei, 1968, Leo Castelli Warehouse, New York.

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Robert Morris, Untitled (Tangle), 1967, Filz, 296,7 × 269,3 × 147,4 cm, variabel, Collection Philip Johnson.

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Erweiterung in die Rezeption: Josef Albers’ Lehre als Erfahrungssituation Wie bisher gezeigt wurde, entgrenzen sich künstlerische Prozesse in Albers’ ­Lehre und in seinem eigenen Arbeiten nur sehr bedingt in lebensweltliche Räume und bieten auch wenig Möglichkeiten, durch Rezipient*innen potenziell oder real auf unterschiedliche Weise weitergeführt zu werden. Dennoch kann darüber nachgedacht werden, inwiefern sie Anknüpfungspunkte für Erweiterungen in die Rezeption bieten, die als weiteres zentrales Moment skulpturaler Entwicklungen seit den 1960er Jahren beobachtet werden können. Um hierauf basierenden möglichen Impulsen, die von Albers Lehre ausgehend Einfluss auf künstlerische Entwicklungen bis in die Gegenwart haben könnten, nachzugehen, wird im Folgenden zunächst vorgestellt, auf welche Weise sich skulpturales Arbeiten durch die Schaffung tendenziell offener Erfahrungssituationen in die Rezeption erweitert. Anschließend wird überlegt, hinsichtlich welcher Aspekte auch in Albers’ künstlerischem Arbeiten und seiner damit in Verbindung stehenden Lehre ein Interesse an der Eröffnung von Erfahrungssituationen erkennbar wird. Die Aufhebung einer Trennung von Produktion und Rezeption lässt sich an Skulpturen wie Serras Splashing (1968), die ihren Entstehungsprozess zeigen, verdeutlichen, oder, noch umfassender, an Arbeiten, deren Formen selbst unabgeschlossen sind und die sich, wie Morris’ Untitled (Tangle) (1967), bei jedem neuen Ausstellen anders ausbilden. Abb. 4 Wie bereits im Kontext der Überlegungen zu einer Prozessualisierung skulpturalen Arbeitens gezeigt wurde, begünstigen diese Strategien ein potenzielles Weiterentwickeln der Form in der Betrachtung, eine gedankliche Modifizierung wird möglich und relevant, da der Entstehungsprozess thematisch wird.3 Damit einher geht eine Tendenz, nicht mehr Werke zu entwickeln, deren künstlerische Qualität durch ihre objektiven Eigenschaften begründet ist, sondern Situationen zu gestalten, die Betrachtenden besondere, immer auch individuelle ästhetische ­Erfahrungen ermöglichen. Wenn das Ziel skulpturalen Arbeitens in der Entwicklung solcher Situationen besteht, sind sie mit der Übergabe in die Rezeption nicht abgeschlossen, sondern vollenden sich in den verschiedenen Rezeptionssituationen kontext- und betrachter*innenabhängig auf eine immer wieder neue und mehr oder weniger unterschiedliche Art und Weise. Künstlerisches Arbeiten, das diese Tendenz erkennen lässt, interessiert sich zwar nach wie vor für das entstehende ­materielle Objekt, antizipiert dabei allerdings Erfahrungschancen, die es in spezifischen oder unterschiedlichen Betrachtungssituationen und Kontexten eröffnen kann.4 Besonders prägnant formuliert Morris diese Veränderung: «The object itself has not become less important, it merely has become less self-important.» (Morris 1995: 234) 3 4

Die Wahrnehmung potenzieller Veränderungsmöglichkeiten ist auch heute noch relevant: «Mir gefällt es, wenn das Gefühl ­entsteht, dass eine Situation oder ein Kunstwerk konstruiert ist. Wenn man die Struktur sieht, dann sieht man auch das Potenzial zur Umstrukturierung. Die Möglichkeit zur Veränderung.» (Eliasson 2015: 59) Diese spezifische Perspektive auf das Objekt beschreibt Szeemann in seinen einführenden Überlegungen zur Ausstellung When attitudes become form folgendermaßen: «Die Künstler dieser Ausstellung jedoch sind keine Objektmacher, sie suchen im Gegenteil Freiheit vom Objekt und erweitern dadurch dessen Bedeutungsschichten um die sehr wichtige, über das Objekt hinaus auch Situation zu sein.» (Szeemann 1967: 7)

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Deutlich wird eine Verschiebung des Fokus skulpturaler Produktion vom Objekt auf die durch das Objekt eröffneten Erfahrungschancen u.a. in Bruce Naumans Corridor-Arbeiten. In Performance Corridor (1969) endet ein durch einfache Sperrholzkonstruktionen begrenzter enger Gang vor einer Wand des Ausstellungsraumes. Abb. 5 Die Enge dieses Ganges bewirkt einen Körperkontakt mit den seitlichen Flächen, ein Umdrehen am Ende ist erschwert, sodass klaustrophobische ­Empfindungen zu einer besonderen Raumerfahrung beitragen (Kölle 2006: 162), in der sich physische und mentale Prozesse verschränken und aufgrund individueller Vorerfahrungen und psychischer Dispositionen zu unterschiedlichen Formen des Erlebens führen. Das mit einer Erweiterung in die Rezeption verbundene Interesse an einer Schaffung von Erfahrungssituationen ist für künstlerische Entwicklungen der Gegenwart insofern zentral, als es die Grundlage hier nach wie vor relevanter partizipativer Herangehensweisen bildet. Ebenso wie bereits in den Arbeiten Naumans und anderer Künstler*innen der 1960er Jahre beschränken sich die Partizipationsmöglichkeiten dabei oft nicht auf eine Weiterentwicklung durch individuelle Betrachtungsweisen oder vorgestellte Modifikationen, sondern beziehen handelnde Auseinandersetzungen ein, die, wie bei Oscar Tuazons Burn the Formwork (2017), auch materielle Veränderungsmöglichkeiten umfassen können. Abb. 6 Auf diese Weise kommt der Rezeption ein wesentlicher Anteil in der Entwicklung der Arbeit zu, wie Tuazon selbst äußert: «The moment when a work is given over to the public is really just the beginning.» (Zit.n. Griffin 2017) Albers’ eigene Arbeiten ebenso wie Arbeiten, deren Entstehung in seiner Lehre begünstigt werden, können, wie bereits dargestellt, dagegen als in sich abgeschlossene Werke betrachtet werden, die sich weder in realräumliche Kontexte entgrenzen, noch handelnde oder modifizierende Betrachtungsmöglichkeiten eröffnen. Dennoch erweitern sie sich insofern in die Rezeption, als auch sie ­Erfahrungssituationen schaffen möchten. Wie Egon von Rüden darstellt, ist es für Albers’ malerische und druckgrafische Arbeiten kennzeichnend, dass sie W ­ irkungen und Wechselwirkungen von Farben in der Betrachtung erlebnishaft werden lassen. Wahrnehmungsgewohnheiten werden so auf die Probe gestellt, sodass eine naive Gleichsetzung von factual facts und acual facts verhindert wird und Reflexionen von optischen Wahrnehmungsweisen in Gang gesetzt werden können (Rüden 1999: 131). Wie von Rüden anhand von Albers’ Hommage to the square ‹Protected Blue› (1957) darstellt, Abb. 7 wird das Hinterfragen eines naiven Realismus alltäglichen Wahrnehmens begünstigt, indem Farben so kombiniert, Farbflächen so angeordnet werden, dass jede Farbe einerseits ihre Identität behält, gleichzeitig aber – auf je nach fokussiertem Bildbereich differierende Weise – zu räumlichen und flächigen Wirkungen beiträgt (ebd.: 144f.). Albers’ somit an einer Wahrnehmungsförderung interessiertes Arbeiten korrespondiert mit seiner Auffassung der Rolle des Künstlers als «the inventive performer of a new seeing: the one who creates vision and therefore presents a new everlasting insight.» (Horowitz 2006b: 81) Analog dazu richtet sich auch Albers’ Lehre auf die Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit aus, die er als Voraussetzung und Grundlage jeglichen künstlerischen Arbeitens betrachtet. Aufgrund der Erkenntnis, dass dieses Ziel nicht durch direkte Instruktion im Sinne einer Vermittlung von Regeln

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Bruce Nauman, Performance Corridor, 1969, Sperrholz, Holzverstrebungen, 240 × 610 × 50 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York.

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Oscar Tuazon, Burn the formwork, 2017, Beton, Schamottsteine, Metall, Holz, Feuer, ca. 370 × 530 × 530 cm, Stadt Münster, Foto: Henning Rogge.

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Josef Albers, Hommage to the square ‹Protected Blue›, 1957, Öl auf Faserplatte, 81 × 81 cm, Westfälischer Kunstverein Münster.

oder Techniken erreicht werden kann, möchte Albers sowohl anhand von Übungen im Bereich der «Interaction of color» als auch durch Material- und Materieübungen Erfahrungschancen eröffnen (ebd.: 73), die aus der Sicht von Rüdens (1999: 138f.) darauf ausgerichtet sind, eine Befragung von Wahrnehmungsvoraussetzungen in Gang zu setzen. In der gestalterischen Arbeit der Studierenden sollen auf dieser Basis traditionelle Regeln ästhetischen Handelns als Schranken erfahren sowie Möglichkeiten ihrer Überwindung erkannt und erprobt werden (ebd.: 131).5 Ebenso wie Albers in seiner künstlerischen Arbeit mit größter Akribie an komplexen Farberlebnismöglichkeiten feilt, schafft er auch in der Lehre mit großer Genauigkeit bestimmte Settings, die einzuhalten sind, damit die angestrebten Erfahrungschancen eröffnet werden. Ein u.a. von Hesse als rigide erlebtes Insistieren auf die korrekte Einhaltung der in den Übungen vermittelten Vorgehensweisen (Saletnik 2007: 7) hat das Ziel, dass alle Teilnehmenden einer Lerngruppe an einer gemeinsamen Problemstellung arbeiten, wodurch ein Vergleichen der Ergebnisse ermöglicht wird. Dieses bietet Chancen, um «die Beobachtungsgabe und das Unterscheidungsvermögen zu entwickeln.» (Albers 1970: 81) Die deutlich werdenden Parallelen zwischen Albers’ künstlerischem Schaffen und seiner kunstpädagogischen Lehre basieren auf einer unmittelbaren Beziehung beider Bereiche seiner Tätigkeit, die sich über einen langen Zeitraum gemeinsam entwickeln, da Albers unmittelbar nach seiner Ausbildung am Bauhaus, d.h. noch 5

Als Indiz für eine solche Zielsetzung betrachtet von Rüden Albers’ didaktische Strategie, handwerklich tradierte Materialumgangsweisen vor Beginn einer Materialübung zu sammeln und aus dem Spektrum der im Rahmen der Übung zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten auszuschließen (Rüden 1999: 122f.).

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relativ zu Beginn seiner künstlerischen Entwicklung, zu lehren beginnt. Wie Horowitz beschreibt, greifen Albers’ Übungen Ideen auf, die er im selben Zeitraum in seinem Werk erkundet (Horowitz 2006b: 73). So, wie er seine künstlerischen Fragestellungen und deren Erkundungsstrategien ungeachtet eines gleichbleibenden Interesses an bestimmten grundlegenden Aspekten weiterentwickelt, verändert sich auch die konkrete Ausgestaltung seiner ebenfalls mit gleichbleibenden Fragen befassten Lehre in einem dynamischen Prozess, sodass keine seiner Lektionen einer vorherigen gleicht (ebd.: 74; ders. 2006a: 126). Die Verbindung von Lehre und künstlerischer Arbeit ist insofern als wechselseitige Beziehung zu betrachten, als nicht nur die Lehre Erfahrungen der künstlerischen Arbeit aufgreift und versucht, diese Erfahrungen den Studierenden ebenfalls zu ermöglichen, sondern auch umgekehrt Impulse von der Lehre ausgehen: A paragon of the artist-teacher, he was deeply committed, passionate about his work, an indefatigable high priest of the visual who was able to see a lesson in every work of art, and the possibility of a work of art in every lesson. (Horowitz 2006b: 76) Auch bieten die Übungen als Erprobung von Strategien, die Albers in der künstlerischen Arbeit entwickelt, Möglichkeiten, um Fragestellungen in der Lerngruppe aus unterschiedlichen Perspektiven zu erkunden und Hinweise zu einer interindividuellen Relevanz gestalterischer Überlegungen zu erhalten. An dieser ist Albers, dessen künstlerisches Arbeiten und Lehren in einem Feld zwischen Design und Kunst verortet werden kann, besonders interessiert. Wechselwirkungen zwischen Albers’ Kunst und Lehre könnten darüber hinaus auf einem hohen Reflexionsgrad beruhen, der notwendig ist, um Strategien und Erfahrungen des eigenen künstlerischen Prozesses mit Blick auf die Konzeption von Übungen auf eine bewusste Ebene zu bringen und der möglicherweise dazu beiträgt, dass Albers in seiner künstlerischen Arbeit der genauen Kontrolle der bildnerischen Mittel einen hohen Stellenwert zuerkennt. Zentral ist die enge Beziehung zwischen künstlerischem und kunstpädagogischem Arbeiten jedoch nicht nur in Bezug auf die Konzeption der Lektionen, sondern insbesondere auch für Albers’ Performanz in ihrer Durchführung sowie für sein Auftreten als Lehrer. Wie Horowitz unter Bezugnahme auf Erfahrungen ehemaliger Studierender zeigt, gleicht keiner von Albers’ Kursen einem anderen, da er spontan auf entstehende Arbeiten reagiert und kontextuelle Faktoren unmittelbar aufgreift, sodass seine Lehre Parallelen zu der Prozesshaftigkeit und Experimentalität künstlerischen Arbeitens erkennen lässt. Eindrucksvoll beschrieben wird aber insbesondere die affektive Komponente seines offenbar charismatischen, impulsiven und unkonventionellen Auftretens (ebd.: 74–76), die auf seine lebhafte und anspruchsvolle Teilnahme an den Lernprozessen seiner Studierenden, darüber hinaus aber auch auf ein immer wieder neues Interesse an den Lerngegenständen verweist, deren Erkundung er nicht distanziert beobachtet, sondern unmittelbar mitvollzieht (ebd.: 76f.; Rüden 1999: 112). Vor dem Hintergrund der untrennbaren Verbindung von Kunst und Lehre, die Albers’ Arbeit als Ganzes kennzeichnet, kann überlegt werden, dass von seiner Lehre Impulse für auch heute noch relevante künstlerische Entwicklungen ausgehen, in

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denen sich Skulptur insofern in die Betrachtung erweitert, als Arbeiten nicht als abgeschlossene Werke konzipiert werden, sondern als Erfahrungsangebote entstehen. Ein Zusammenhang zwischen Albers’ Lehre und Entwicklungen der Kunst der 1960er Jahre wäre dann nicht so sehr, was Albers lehrt, sondern, dass es sich dabei um etwas handelt, das ihn als Künstler beschäftigt. Zentral könnte dabei die Motivation sein, Möglichkeiten ästhetischer Erfahrungen, die sich ihm in der künstlerischen Arbeit bieten, auch anderen zu eröffnen, indem er mit den Übungen, noch umfassender als es anhand der eigenen künstlerischen Arbeiten möglich ist, Erfahrungssituationen gestaltet. Künstler*innen der 1960er Jahre könnten dieses Moment insofern aufgenommen haben, als auch sie Erfahrungschancen, die sich ihnen im Feld des Künstlerischen eröffnen, über ihre Arbeiten mit ­Betrachtenden teilen. Auch hier liegt aber ein Unterschied in der Ergebnisoffenheit, Betrachtungs- und Kontextabhängigkeit dieser Arbeiten, deren partizipatives Moment auf dem Versuch basiert, eine Steuerung von Rezeptionserfahrungen zugunsten einer Eröffnung von Möglichkeitsräumen aufzugeben.

Kunstpädagogische Gegenwartsrelevanz Die hier vorgestellten Überlegungen zu Chancen und Grenzen, die Josef Albers’ Lehre als eine mögliche Basis für künstlerische Entwicklungen von Entgrenzungstendenzen der 1960er Jahre bis in die zeitgenössische Kunst aufweist, werfen im Hinblick auf ihr mögliches Aufgreifen in kunstpädagogischen Kontexten der Gegenwart Fragen auf, denen nun abschließend nachgegangen werden soll. Für eine Orientierung an Albers’ Lehre spricht zunächst ihr Erfolg: «Countless Albers alumni went on to stellar careers as artists, designers, and architects.» (Horowitz 2006b: 76) Darüber hinaus gehen von ihr, wenngleich mit den beschriebenen ­Einschränkungen, möglicherweise Impulse für künstlerische Entwicklungen aus, die für die Kunst der Gegenwart wichtige Paradigmenwechsel einleiten. Zu bedenken ist auch, dass Albers’ Kurse und Übungen als Grundlehre konzipiert sind, d.h. explizit von ihm dazu gedacht sind, lediglich die Grundlagen für künstlerisches Arbeiten zu vermitteln, das dann außerhalb bzw. nach Abschluss der Kurse entwickelt werden kann (ebd.: 73). Insofern sich Albers’ Gestaltungslehren ausdrücklich um eine überzeitliche Gültigkeit bemühen, kann überlegt werden, dass sie auch heute noch eine Grundlage für künstlerisches Arbeiten bilden könnten. Ungeachtet ihrer möglichen Gültigkeit müssen die von Albers ins Zentrum seiner Lehre gestellten gestalterischen Grundlagen jedoch nicht zwangsläufig für zeitgenössisches künstlerisches Arbeiten eine ungebrochene Bedeutung haben. So erscheint es fraglich, ob von ihnen ausgehend jeweils zeitspezifische künstlerische Fragestellungen und Strategien entwickelt werden können, oder aber ihr Aufgreifen immer wieder erneut erfordern würde, sich an restriktiven Momenten abzuarbeiten, um die Entwicklungen der 1960er Jahre nachzuvollziehen und somit zu künstlerischen Praxen zu gelangen, die es ermöglichen, sich auf gegenwärtige Wirklichkeiten zu beziehen und künstlerische Arbeiten der Gegenwart in ihrer persönlichen und ­gesellschaftlichen Relevanz zu erkennen. Zu überlegen ist hier, dass eine produktive Überwindung restriktiver und objektorientierter Gestaltungslehren im zeitlich

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Gert Selle, fotografische Dokumentation verschiedener «elementarpraktischer Übungen» mit Studierenden im Rahmen des Projekts «Schule der Sinne» an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 1988.

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begrenzten Rahmen schulischen Kunstunterrichts und abgetrennt von einem künstlerischen Diskurs der 1960er Jahre, der durch umfassende gesellschaftliche Umbrüche des zeitlichen Kontextes beeinflusst ist, die Ausnahme bleiben dürfte. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich schulische Rahmenbedingungen grundsätzlich von denen des Bauhauses oder des Black Mountain Colleges unterscheiden, in denen Arbeiten, Lernen und Zusammenleben eine Verbindung eingehen, sodass kreative Überschreitungen enger Gestaltungslehren sowie insbesondere deren Erweiterung in andere Lebensbereiche begünstigt werden.6 Ein Scheitern der Adaption von Übungskonzeptionen und methodischen Herangehensweisen, die aus Albers’ Lehre überliefert sind oder «auf dem kalten Wege des Einsickerns veralteter Modelle» (Selle 1985: 119) von Lehrenden im Fach Kunst an Nachfolgegenerationen weitergegeben werden, kann allerdings nicht nur damit in Verbindung gebracht werden, dass ein der künstlerischen Position von Albers entsprechendes, auf die Gestaltung gut gebauter Objekte gerichtetes Arbeiten sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts weitgehend erschöpft. Vielmehr dürften zeitgenössische Adaptionsversuche auch insofern nicht an Albers’ Lehrerfolge anknüpfen können, als vermutet werden kann, dass sie nicht oder kaum mit eigenen künstlerischen Erfahrungen Lehrender in einer lebendigen Verbindung stehen. Dies könnte Selles Beobachtung erklären, nach der Grundlagenlehrsysteme in der Regel nur in statu nascendi, also in der Erfindung und Erprobung lebendig und offen sind. Sobald sie Vorbildcharakter gewinnen, neigen sie zur formalästhetischen Ausdifferenzierung und Erstarrung. (Ebd.) Selle wendet sich gegen enggeführte Übernahmen von Gestaltungslehren des Bauhauses und betont, dass der Entstehungskontext historischer kunstpädagogischer Überlegungen mitgedacht werden müsse, weshalb Bauhauslehren «in ihrer einzigartigen historischen Form und Genese zu begreifen» (ebd.: 118) seien. Gerade die Zeitspezifität der Bauhauspädagogik sei deren besonderes Verdienst und wird von Selle daher als ein Aspekt hervorgehoben, der aufzugreifen sei. Während eine auf die Gestaltung «gut gebauter» Objekte ausgerichtete Lehre für das frühe 20. Jahrhundert als zeitgemäß betrachtet werden kann, schlägt Selle für den zeitlichen Kontext des ausgehenden 20. Jahrhunderts und aus diesem heraus Elementarpraktische Übungen Abb. 8 vor, in denen Studierende vor die Aufgabe ­gestellt werden, Erfahrungssituationen zu gestalten. Diese Situationen umfassen eine materielle Komponente und werden so selbst wieder zur künstlerischen Arbeit mit Material, z.B. in der Formung von Tastobjekten. Wie Parallelen zwischen Selles Lehrkonzeption und künstlerischen Positionen der 1960er und 70er Jahre erkennen lassen, entwickelt er seine kunstdidaktischen Strategien aus einer Perspektive zeitgenössischen künstlerischen Handelns, das dazu tendiert, seinen Fokus von 6

In diesem Zusammenhang ist weiterhin zu berücksichtigen, dass Studierende am Black Mountain College nicht nur Albers’ Lehre begegnen, sondern z.B. auch der von John Cage, dessen künstlerische Position als impulsgebend für Performativierungsstrategien der Fluxusbewegung (Knapstein 2014: 91) sowie für den Einbezug von Rezipient*innen im Kontext von Happenings (Blunck 2014: 116) betrachtet wird. Nicht zuletzt ist gerade auch das allgemeine Lehrkonzept des Black Mountain College, das sich auf Überlegungen von John Dewey bezieht, eine mögliche Grundlage für eine Verschiebung vom künstlerischen Objekt auf die ästhetische Erfahrung (Dewey 1934).

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der Gestaltung von Objekten hin zu einer Gestaltung von Erfahrungssituationen zu verschieben. Mit seinen Elementarpraktischen Übungen greift Selle nicht nur das Moment der Zeitspezifität, das er als Merkmal kunstpädagogischer Konzeptionen des Bauhauskontextes erkennt, auf, sondern auch eine ihrer zentralen und auch für Albers’ Lehre handlungsleitenden Zielperspektiven, den Ausbau von Wahrnehmungsmöglichkeiten. Anders als die jeweils zeitspezifischen, von sozialen und kulturellen Entwicklungen, räumlichen Kontexten, Lehrenden und Lernenden abhängigen Wege dorthin, kann dieses Ziel als überzeitlich relevanter Aspekt betrachtet werden. Die Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten sowie der Fähigkeit, Hintergründe von Wahrnehmungsweisen zu reflektieren und Gewohnheiten des Wahrnehmens ebenso wie des Nicht-Wahrnehmens zu überwinden, sind zum einen nach wie vor eine wichtige Grundlage gestalterischen Arbeitens, zum anderen aber, wie schon Albers erkennt (Rüden 1999: 139), von gesellschaftlicher Relevanz. Sie bilden die Basis einer Kultur des Hinschauens, Neusehens, Umdenkens, das mit Blick auf die interessanten Zeiten, in denen wir leben, geradezu existenzielle Bedeutung gewinnt. Um jeweils eigene, zeitgemäße und situationsbezogene Wege zu diesem Ziel zu entwickeln, erscheint Albers’ Lehre weniger in ihrer konkreten Ausgestaltung als vielmehr insofern aufgreifenswert, als hier künstlerisches Arbeiten und Lehren als wechselseitige Impulsgeber eine dynamische Beziehung eingehen. Im Rahmen kunstpädagogischer Herangehensweisen der Gegenwart, die dieser Besonderheit entsprechen, können experimentelle Auseinandersetzungen mit Materialexplorationen eine Rolle spielen, die – auf den ersten Blick – Parallelen zu entsprechenden Übungen in der Lehre am Bauhaus oder seiner Nachfolge­ institutionen, speziell auch zu den von Albers konzipierten Material- und Materie­ übungen erkennen lassen. Eine solche Parallelität dürfte sich aber selten auch auf die Fragestellungen erstrecken, denen anhand eines experimentellen Umgangs mit Material nachgegangen wird.7

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Welche Fragestellungen in künstlerischen und kunstpädagogischen Kontexten der Gegenwart Materialexplorationen motivieren und welche Anteile Materialien als Akteure an diesen Prozessen haben können, wurde in zwei Seminaren, die von Sara Hornäk und mir im Sommersemester 2019 an der Universität Siegen durchgeführt wurden, erkundet. Übungen und deren Ergebnisse, die im Rahmen dieser Seminare entwickelt und Gegenstand kunstpädagogischer und -didaktischer Reflexion wurden, stellt Sara Hornäk in ihrem Beitrag im vorliegenden Band vor.

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2

Gaßner, Hubertus / Kölle, Brigitte (Hg): Eva Hesse. One more than one. Ostfildern, Hatje Cantz, 2013, S. 44.

Solomon R. Guggenheim Museum, New York Panza Collection, 1991, © Richard Serra / Artists Rights Society (ARS), New York, 2018.

3 a Horowitz, Frederick A. / Danilowitz, Brenda (Hg.) (2006): Josef Albers: To open eyes. The Bauhaus, Black Mountain College, and Yale. New York, Phaidon, S. 146. 3 b Horowitz, Frederick A. / Danilowitz, Brenda (Hg.) (2006): Josef Albers: To open eyes. The Bauhaus, Black Mountain College, and Yale. New York, Phaidon, S. 149.

3 c Duby, Georges / Daval, Jean-Luc (Hg.) (1999): Skulptur. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. 15. bis 20. Jahrhundert. Köln u.a., Taschen, S. 556. 4 a Bering, Kunibert (2009): Richard Serra. Oberhausen, Athena, S. 20. 4 b Bidaine, Philippe (1995): L’Exposition Retrospective Robert Morris 1961–1994. Paris, Éd. du Centre Pompidou, S. 114. 5

6 7

8

Schimmel, Paul / Stiles, Kristine (1998): Ausst.-Kat. Out of Actions: Between Performance and the Object 1949–1979. Californian Museum of Contemporary Art, Los Angeles 1998 u.a. London, Thames & Hudson, S. 90.

Skulptur Projekte Archiv. URL: https://www.skulptur-projekte-archiv.de/de-de/2017/projects/202/ (06.09.2019). Foto: Henning Rogge.

Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte Münster (Hg.) (1971): Josef Albers im Landesmuseum Münster. Münster, Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, Abb. 4.

Wick, Rainer K. (1985): Ist die Bauhaus-Pädagogik aktuell?. Köln, Walther König, S. 125.

Biografie

Susanne Henning, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Didaktik der bildenden Künste an der Kunstakademie Düsseldorf und Architektin. Promotion über skulpturale und architektonische Bildungsprozesse im Kunstunterricht. Forschungsschwerpunkte: Bezüge der Kunstpädagogik zu den Bereichen Architektur, Inklusion und Bildung für nachhaltige Entwicklung.

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Aufgaben stellen: reenacten, modifizieren, neu erfinden Wechselbeziehungen zwischen künstlerischen und ­kunstpädagogischen Umgangsweisen mit Material

[…] die maximale Veränderung des Papiers mit der geringstmöglichen Zahl von Aktionen […]. (Josef Albers zit.n. Horowitz 2006: 126) In der Geschichte der Skulptur der letzten Jahrzehnte ist ein Wandel zu beobachten, der auf einem stark veränderten Umgang mit Material beruht. Über traditionelle Werkstoffe hinaus kann heute praktisch alles, auch das als weniger wertvoll Geltende, zum künstlerischen Gegenstand werden. Per se künstlerische Materialien gibt es nicht. Die künstlerische Forschung an und mit verschiedenartigen Stoffen entspricht selbst einem künstlerischen Prozess. Auf welche Art und Weise diese sinn- und bedeutungsstiftend eingesetzt werden können, wurde in den

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letzten beiden Jahrzehnten verstärkt zum Untersuchungsgegenstand materialikonografischer Studien (Wagner 2001). Vom frühen 20. Jahrhundert an bis in die Gegenwart wird die Bildhauerei durch neue Arten von Materialität bestimmt, sei es beispielsweise Rauch, Plastikkellen, Latex, Matratzen, Baustellengitter, Schokocreme, Holzlatten oder Glühbirnen. Die Liste wäre unendlich fortführbar. Neben einfachen, ephemeren, ungewöhnlichen oder kunstfernen Materialien haben in den letzten Jahrzehnten vor allem auch Alltagsmaterialien an Bedeutung gewonnen. Gemeinsam ist einem stark materialbezogenen Vorgehen vieler Bildhauer*innen des 20. und 21. Jahrhunderts, dass aus diesen Prozessen heraus künstlerische Arbeiten entwickelt werden. Die Frage, auf welche Weise der Umgang mit Material einem künstlerischen Prozess entsprechen oder in einen solchen überführt werden kann, spielt sowohl in historischen als auch in gegenwärtigen ästhetischen Bildungsprozessen eine wichtige Rolle. Ein von Susanne Henning und mir durchgeführtes kunstpädagogisches Seminar an der Universität Siegen zu Theorien einer materialbezogenen Lehre setzt zeitlich am Bauhaus an und verfolgt am Beispiel ausgewählter kunstpädagogisch lehrender Künstler*innen, inwiefern deren Vorstellungen von Lehre über die Nachfolgeinstitutionen des Bauhauses bis in die Gegenwart wirken.1 Die künstlerische Lehre am Bauhaus eignet sich besonders gut als Ausgangspunkt, um transdisziplinär aus kunsthistorischer und kunstpädagogischer Perspektive künstlerische Materialumgangsweisen zu betrachten, die in bestimmten Übungsszenarien zum Ausdruck gelangen. Der Anspruch des Bauhauses, in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hineinzuwirken, und Gropius’ Versuch, Hochschulpolitik, d.h. Bauhausprogramm, und Schulreform in Zusammenhang zu stellen, implizieren nicht nur eine Reihe von Erziehungszielen. Geplant ist zeitweise sogar, einen Teil der Thüringer Lehrer*innenausbildung über das Bauhaus laufen zu lassen (Hüter 1976: 94ff.; Middeldorf 1976: 124). Durch Berichte von Lehrenden und Studierenden wissen wir nicht nur vieles über die dort entstandenen studentischen Arbeiten, sondern vor allem auch über die pädagogischen Konzepte und Lehrmethoden bis hin zu konkreten Aufgabenstellungen. Insbesondere Josef Albers ist im Hinblick auf den Umgang mit Material und sein im Vergleich zu Johannes Itten stärker auf technologische Verfahren und Formfragen bezogenes Erkenntnisinteresse von Bedeutung. Seine künstlerische Lehre prägt zunächst am ­Bauhaus in Deutschland und später im Exil in den USA, am Black Mountain College und in Yale, viele Studierende und angehende Künstler*innen. Sie ist darüber hinaus gut dokumentiert und erforscht (z.B. Horowitz/Danilowitz 2006).2 Eine studentische Arbeit aus dem Jahr 1927, die wie viele andere Werke aus den Vorkursen von Albers von Erich Consemüller fotografisch dokumentiert ist, zeigt, wie in den frühen 1920er Jahren mit Materialien experimentiert und damit die Grundlage für neuartige Entwicklungen gelegt wird. Abb. 1 Zu sehen ist, wie die Studierenden skulptural mit Papier sowie Pappe arbeiten und forschen. Das kreisförmig ausgeschnittene Papier wird aufgezogen, stabilisiert und mit einem Metallstab als Gegenwicht im Gleichgewicht gehalten. 1 2

Die historischen Zusammenhänge und die Verbindung von gestalterischer und künstlerischer Lehre, die flankierend zu den Materialübungen im Seminar behandelt wurden, erörtert Susanne Henning in ihrem Beitrag im vorliegenden Band. Vgl. auch die Website der Josef & Anni Albers Foundation (albersfoundation.org 2020).

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Erich Consemüller, Balance-Studie aus dem Vorkurs mit Josef Albers, ca. 1927, Stiftung Bauhaus Dessau (I 46263/1–2).

Diese Arbeit verweist auf die Lehre von Albers (Albers 1928: 3–7). Abb. 2 a–d Nur wenige Künstler*innen, die in der Lehre tätig sind, reflektieren ähnlich umfassend wie er über Lehr- und Lernprozesse oder äußern sich schriftlich zu der Frage, ob, und wenn ja, wie künstlerische oder gestalterische Prozesse lehrbar seien. Albers lehrt mit den von ihm genannten Zielen, die Studierenden für Linie und Form, für Farbe und Textur zu sensibilisieren und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, Sehen zu lernen (Albers 1970: 11). Die Reflexion des Zusammenhangs von eigener künstlerischer Arbeit und Lehrtätigkeit ist aus kunstpädagogischer Perspektive bedeutsam. Denn die Vorstellung von guter Lehre schlägt sich bei Albers in präzise formulierten Aufgabenstellungen nieder, von denen einige überliefert sind. Für unser Seminar haben wir nach diesen Aufgabenstellungen recherchiert, sie aufgegriffen, um sie zu re­ enacten, zu modifizieren oder neue zu erfinden. Von besonderem Interesse ist die Frage, inwiefern Aufgabenstellungen aus historischen Kontexten herausgelöst werden und welche Aktualität sie noch heute haben können. Herauszuarbeiten ist, inwieweit nicht nur Lehr- und Lernformen, sondern auch ganz konkrete Übungen in kunstdidaktischen Konzeptionen der Nachkriegszeit wieder auftauchen und inwiefern ihnen zugrunde liegende Vorstellungen noch in heutigen kunstpädagogischen Praxen implizit wirksam sind.3 In Bezug auf eine solche Fortschreibung kunstdidaktischer Konzeptionen des Bauhauskontextes sind zwei Traditionsstränge zu unterscheiden. Der Weg über die Lehre von Albers führt im Exil zunächst ans Black Mountain College und ­später nach Yale. Seine Auffassungen im Umgang mit Material und seine neu erfundenen Gestaltungsprinzipien prägen dabei bedeutende amerikanische Bildhauer*innen vor allem der 1960er Jahre wie zum Beispiel Eva Hesse oder Richard Serra ­(Saletnik 2007).4 Theorien künstlerischer Bildung, die Materialumgangsweisen 3 Vgl. dazu auch Engels im vorliegenden Band, die Herbert Trümpers 1953 herausgegebenes Handbuch der Kunst- und ­Werkerziehung auf die Anschlüsse an eine Bauhauspädagogik hin untersucht. 4 Vgl. zur Erforschung dieser Traditionslinie vor allem Saletnik (2007) und auch Hennings Beitrag im vorliegenden Band.

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2 a–d

Josef Albers und Studierende in einer Besprechung am Bauhaus, Bauhaus Dessau 1928–29.



Josef Albers und Studierende erproben die Möglichkeiten eines Papierblattes, Black Mountain College, 1946.



Josef Albers untersucht eine gefaltete Papierkonstruktion mit Studierenden, Black Mountain College, 1946.



Josef Albers und Studierende mit der Arbeit Baroque scroll an der Wand, Yale University, 1955–56.

­ rforschen, setzen häufig bei diesen neuen handlungsbezogenen künstlerischen e Umgangsweisen mit Materialien, die in einem erweiterten Sinn gedacht werden, an (Hornäk 2017). Auf der anderen Seite verläuft diese Traditionslinie über Lehrende, die entweder direkt am Bauhaus lehren oder studieren oder in dessen engerem Umfeld stehen. Hans-Friedrich Geist konzipiert als Volksschullehrer in seiner 1932 erschienenen Publikation Kind und Material, Legen und Formen aus wertlosen Dingen einen Kunstunterricht, der anknüpfend an die Lehre am Bauhaus den Umgang mit M ­ aterial fokussiert. Zugleich stellt er mit großem sozialen Engagement und dem Anliegen, die Schule zu reformieren, vor allem das Kind und seine Schöpfungskraft in Anknüpfung an den Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub in den Mittelpunkt seiner Überlegungen (Middeldorf 1976).5 Insbesondere der 1922 als institutionalisiertes Pflichtfach verankerte Werkunterricht werde im künstlerischen Umgang mit verschiedenen Materialien schon in den 1920er Jahren stark geprägt durch das Bauhaus (ebd.), wobei hier der Einfluss des Werkbundes noch gesondert zu untersuchen wäre. Middeldorf wirft in ihrer genauen Analyse des Wirkens des Bauhauses auf den Kunstunterricht dem Kunsterzieher Alfred Ehrhardt vor, dass er das Material «fetischisiert», wenn er 1932 schreibt: Die Materie ist keine tote Masse, die von einer übersteigerten Idee im Sinne einer Vergewaltigung verarbeitet wird, sie ist vielmehr eine dauernd lebendige außermenschliche Erscheinung mit eigenen Lebensgesetzen. Und auf diese kommt es an, sie müssen aktiviert und gestaltet werden. Der Mensch ist Mittler, sein Ausdrucksbedürfnis durchläuft im Gestaltungsprozeß dieses lebendige Gebiet der Materie und kommt so zur Idee, zum Werk, zu einer neu zu schaffenden Idealität. (Zit.n. Middeldorf 1976: 133) Sie merkt in diesem Zusammenhang kritisch an, dass Erhardt Künstler wie Albers, Itten oder László Moholy-Nagy von den Schüler*innen imitieren lasse und belegt dies mit Arbeiten der Schüler*innen. Erst nach 1945, nachdem das Bauhaus 1933 geschlossen wurde und die meisten Lehrenden ins Exil gehen mussten, erleben die Bauhausvorkurse eine Renaissance in den Studiengängen der Gestaltung und der Künste. Für den Schulkunstunterricht ist vor allem an Kurt Schwerdtfeger zu erinnern, der verschiedene Konzepte des Bauhauses wieder aufgreift, darauf aufbauend kunstpädagogische Praxen und Theorien entwickelt und vor allem erneut bestimmte Materialpraktiken des ­Bauhauses in seine Unterrichtsvorschläge übernimmt (Schwertfeger: 1953). Auch der an der Hochschule für bildende Künste in Kassel lehrende Ernst Röttger verfolgt in seiner mehrbändigen Buchreihe Das Spiel mit den bildnerischen Mitteln, die von 1960 an erscheint, einen stark materialbezogenen Ansatz, der an viele Aspekte der Vorkurse erinnert. Die einzelnen Bände seiner Buchreihe sortiert er nach Materialien, wie beispielsweise Papier, Metall, Keramik oder Holz sowie nach bildnerischen Kategorien wie der Fläche oder dem Punkt und der Linie. Hier setzt 5

Middeldorf zufolge ist Geists Arbeit «exemplarisch für die Vermittlung des Hartlaubschen Gedankens von der Freisetzung des kindlichen ‹Genius› mit Bauhaus-Lehrmethoden.» (Middeldorf 1976: 131)

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sich eine formalisierte, bildnerische Praxis der reinen Gestaltungslehre durch, die von inhaltlichen und gesellschaftlich relevanten Fragestellungen sowie zeitbezogenen Kontexten abgekoppelt erscheint. Bestimmte Lehrmethoden des Bauhauses, die beispielsweise von Middeldorf als stark formalisiert kritisiert werden, wirken insbesondere bei Röttger fort (Middeldorf 1976: 123).6 In unserem Seminar kontrastieren wir drei verschiedene künstlerische Epochen der letzten hundert Jahre, in denen verstärkt aus dem Material heraus gedacht und gearbeitet wird. Neben den ausgewählten Bauhauskünstler*innen Anni und Josef Albers, László Moholy-Nagy oder Johannes Itten werden die genannten Beispiele aus der amerikanischen Kunst der späten 1960er Jahre im Hinblick auf Materialumgangsweisen betrachtet und als dritte Gruppe zeitgenössische bildhauerische Positionen wie die von Jessica Stockholder, Carla Black, Matthieu Mercier, Michael Beutler u.a. ausgewählt. Während in den 1920er Jahren mit neuen Materialien experimentiert wurde, öffnet sich der Materialkanon in der Skulptur der 1950er und 1960er Jahren noch einmal im Zuge der Erweiterung der Kunst in den Raum. Prozessuale Momente gewinnen an Bedeutung, das Interesse richtet sich auf Aggregatzustände und selbstwirkende Kräfte der verwendeten neuen Materialien. Hundert Jahre nach dem Bauhaus ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den aufkommenden Baumärkten und Zentren für Baustoffhandel noch einmal eine Wendung zu beobachten, dadurch, dass neue Materialien, die teils schon vorgefertigten Elementen entsprechen, auf den Markt kommen. Künstlerische Blicke richten sich dabei verstärkt auf die veränderten Bedeutungskontexte, die sich im Umgang mit Alltags- und Baumaterialien – ­sogenannten Raw Materials –, ergeben, die eigene Interpretationsspielräume ­eröffnen und neben einer künstlerischen auch unserer kunstwissenschaftlichen und kunstpädagogischen Perspektive neue Handlungsspielräume erschließen. Unser Seminar geht der zentralen Frage nach, wie in der Auseinandersetzung mit ausgewählten künstlerischen Konzeptionen aus der Zeitspanne zwischen 1919 und 2019 künstlerische Fragestellungen zum Material und zur Arbeit mit dem Material fokussiert, Sinnzusammenhänge beschrieben und aus diesen materialgebundenen künstlerischen Problemstellungen heraus Impulse zu Materialumgangsweisen formuliert werden können, die künstlerische Bildungsprozesse auf den Weg bringen. Den Studierenden kommt dabei die Aufgabe zu, Impulse zu entwickeln, mit denen sie in einen Dialog mit ausgewählten Künstler*innen treten können. Die kunstdidaktische Überlegung geht dahin, eine Aufgabenstellung als eine Problemstellung zu formulieren, die ein Denken aus dem Material heraus initiiert und eigene Imaginationsräume eröffnet. Die Studierenden beschäftigen sich dazu auf der einen Seite mit künstlerischen Werken und überlegen sich auf der anderen 6

Vor allem bezogen auf Wassily Kandinsky beschreibt Middeldorf «die Formschulung des Bauhauses – schon durch die ­Annahme, daß den Figuren der euklidischen Geometrie der Charakter von Grund- oder Elementarformen schlechthin zukäme – [als] extrem dirigistisch, restriktiv (Itten ausgenommen). Die Wahrnehmung wurde aufgrund bestimmter rationaler Vor-Urteile in eine Richtung getrimmt, die der reinen, puren Form absolute Aussagekraft zumaß. Diese Tatsache machte die Rezeption der Bauhaus-Lehrmethoden für den Schulunterricht überaus schwierig.» (Middeldorf 1976: 123) Middeldorf erinnert in ihrem Text zum Zusammenhang von Bauhaus und Kunstunterricht zudem, bezogen auf den künstlerischen Umgang mit Materialien, auch an die frühe Kritik von Walter Dexel (1931): «Dexel betont die Fragwürdigkeit eines Kunstunterrichts, der – bestimmt u.a. durch ‹bauhäuslerische Materialstudien› – unter Verzicht auf die Prinzipien der Naturnachahmung und Verwendbarkeit der hergestellten Gegenstände durch die Kinder auf einer für das Kind ‹unnatürlichen› Abstraktion beharrte, die kindentsprechend sein sollte und doch nur zu einer nivellierenden Imitation bestimmter aktueller künstlerischer Gesten führte.» (Ebd.: 131)

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Seite Übungen in diesem Kontext, mit denen sich Lernprozesse fördern lassen, die nicht unmittelbar an die künstlerischen Positionen anknüpfen, sondern ­einzelne Aspekte und Fragestellungen extrahieren. Ein künstlerischer Forschungsprozess wird so in Gang gesetzt, mit dem materialikonografische Fragen genauso wie technische Fragen nach Verfahrensweisen im Umgang mit Materialien herausgearbeitet werden. Aufgaben werden durch die Studierenden selbst konzipiert. Die Herausforderung besteht darin, mit diesen die aufgeworfenen künstlerischen Fragestellungen im eigenen Tun nachzuvollziehen oder sie vorzudenken. Im Anleiten künstlerischer Prozesse sind die Studierenden selbst kunstpädagogisch tätig, indem sie Lehr- und Lernprozesse auf den Weg bringen, durchführen und gemeinsam diskutieren. Aus künstlerischer Perspektive geht es darum, Materialien für sich zu entdecken und aus dem experimentellen Umgang mit diesen, mit der Erfindung neuer Verfahren und Techniken, eigene skulpturale, plastische oder installative Projekte zu entwickeln, in denen das Material in neue Bedeutungszusammenhänge gestellt wird. Der experimentelle Umgang mit verschiedenen Werkstoffen führt zu künstlerischen Formfindungsprozessen, die aber hier zugleich auf ihr didaktisches Potenzial hin befragt werden. Der eigene künstlerische Schaffensprozess wird in den Blick genommen und daran anknüpfend überlegt, wie sich künstlerische Prozesse im Kunstunterricht anregen lassen, wie also in unserem Fall das Material selbst als Impuls kunstpädagogischen Handelns dienen kann. Ausgangspunkt sind die Papierübungen von Albers. Neben seinen Materieübungen, die vor allem der Untersuchung von Oberflächenstrukturen dienen, widmet sich Albers verschiedenen Materialien, zu denen er die Studierenden arbeiten lässt. Nur durch Faltungen, d.h. durch den Umgang mit dem Papier selbst, entstehen Objekte, die sich ohne den Einsatz von Hilfsmitteln der Schwerkraft widersetzen und in die Höhe ragen. Albers’ induktiver didaktischer Ansatz präferiert einen ­experimentellen Umgang mit dem Material. Lernen besteht bei ihm darin, eigene Erfahrungen zu machen. Das Erproben von Prozessen des Knickens und Faltens initiiert er durch die folgende Anweisung an seine Studierenden: Meine Damen und Herren, wir sind arm und nicht reich. Wir können es uns nicht leisten, Material und Zeit zu verschwenden. […] Jedes Kunstwerk hat ein ganz bestimmtes Ausgangsmaterial, und deshalb müssen wir zuerst einmal untersuchen, wie dieses Material beschaffen ist. Zu diesem Zweck wollen wir – ohne schon etwas anzufertigen – zuerst einmal experimentieren. Im Augenblick ziehen wir die Geschicklichkeit der Schönheit vor. Die Aufwendigkeit der Form ist abhängig von dem Material, mit dem wir arbeiten. Denken Sie daran, dass Sie oft mehr erreichen, indem Sie weniger tun. Unser Studium soll anregen zu konstruktivem Denken. […] Ich möchte, dass Sie jetzt die Zeitungen, die Sie bekommen haben, zur Hand nehmen und mehr daraus machen, als es im Augenblick noch ist. Ich möchte auch, dass Sie das Material respektieren, es sinnvoll gestalten und dabei seine Eigenheiten berücksichtigen. Wenn Sie das ohne Hilfsmittel wie Messer, Schere oder Leim schaffen, um so besser. (Zit.n. Beckmann 1996: 275f.)

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Studentisches Projekt, 2019. Hasibe Özcan, gefaltetes Papier, ca. 200 × 6 × 100 cm.

Genau diese Aufgabenstellung wiederholen Studierende im Seminar im Sommer 2019. Ergänzend zu einer solchen Wiederinszenierung ist es notwendig, die historische Kontextbezogenheit zu verstehen, Aktualisierungsmöglichkeiten für den heutigen Kunstunterricht zu reflektieren, Übungen zu kombinieren, zu modifizieren oder auch kritisch infrage zu stellen. In einem zweiten Schritt werden Weiterentwicklungen der Papierübungen, die für Albers’ Lehre am BMC kennzeichnend sind, einbezogen, die den Veränderungsprozess noch stärker fokussieren: Versuchen Sie, die maximale Veränderung des Papiers (im Sinne einer Transformation des schwachen, passiven Materials in etwas anderes) mit der geringstmöglichen Zahl von Aktionen (4–5) zu erreichen. Arbeiten Sie einfach und beobachten Sie den Effekt jedes Schrittes, den Sie machen. (Zit.n. Horowitz 2006: 126) Die Studentin Hasibe Özcan greift genau diesen Impuls auf. Sie knickt und formt aus dem dünnen, flatternden Papier drei konstruktive Elemente, die, nebeneinander auf dem Boden liegend, einen Bezug von Boden und Wand herstellen, indem sie die Form der Kabelleisten an den Wänden aufnehmen. Abb. 3 Um den Blick der Studierenden stärker auf die Bedeutungsebene von Materialien zu lenken, werden nach einer Reihe von weiteren Übungen zu Papier und Pappe Materialien aus der direkten Alltagswelt und aus baulichen Kontexten aufgegriffen. Dazu bietet sich, nach den sehr formal ausgerichteten Einstiegsübungen nach Albers, ein Ort an, an dem eine größtmögliche Materialvielfalt vorzufinden ist: der Baumarkt. Hier ist, wie Amely Deiss in ihrem einführenden Text des Kataloges Raw Materials. Vom Baumarkt ins Museum schreibt, ein «Materialreservoir an einem einzigen Ort» vorhanden: «Spanplatten, Abflussrohre, Schleifpapiere, Tapeten und Farbeimer – seit den 1960er-Jahren verwenden immer mehr Künstler solche einfachen Materialien aus dem Baumarkt für ihre Arbeiten.» (Deiss/Hoffmann 2012: Klappentext) Baumaterialien sind unbegrenzt, leicht verfügbar und häufig kostengünstig zu haben. Raw Materials entsprechen dabei Materialien und Werkstücken, die durch vorbereitende Fertigungsschritte schon in eine bestimmte Form gebracht wurden, sogenanntes Halbzeug. Die Autorin beschreibt einen «Demokratisierungsprozess der dort

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4

Mathieu Mercier, Lampe double-douilles, 1999, Glühlampen, Doppelfassungen, Kabel, 31 × 43 × 37cm.

­ ngebotenen Materialien», die «als Kunstmaterial vor allem auch deshalb reizvoll a [sind], weil sie dem Betrachter ähnlich vertraut sind wie dem Künstler selbst» (Deiss 2012: 11). Durch die Verwendung in alltäglichen Zusammenhängen, häufig im häuslichen Bereich, entsteht ein besonderer Lebensweltbezug, der in unserem Zusammenhang unter Aspekten der ästhetischen Bildung von Interesse ist.7 Der Bildhauer Mathieu Mercier beschreibt seinen Arbeitsprozess so: […] jedes Mal, wenn ich reise und mich in einem neuen Umfeld bewege, beginne ich meinen Aufenthalt auf dieselbe Weise: Ich mache eine kleine Installation aus Materialien, die ich vor Ort finde. So kann ich gewissermaßen symbolische Werte des Landes, aus dem diese Dinge stammen, wahrnehmen. (Zit.n. Deiss/Kleine 2012: 118) Beim Besuch eines Baumarktes arbeitet der Bildhauer direkt vor Ort und nutzt die sich ihm dort eröffnenden, ungeahnten Möglichkeiten. Seine direkt im Einkaufszentrum zusammengebaute Skulptur bzw. Lampe legt er im Anschluss auf das Einkaufsband an der Kasse und bezahlt die Skulptur, d.h. das verwendete Material, aus dem er die Skulptur zusammengeschraubt hat. Abb. 4 Eine eng an die Strategie Merciers anknüpfende, allerdings ins Medium der Fotografie übertragene Aufgabenstellung an die Studierenden lautet folgendermaßen: 7

Amely Deiss arbeitet heraus, dass mit Marcel Duchamp und Kurt Schwitters die Verwendung von außerkünstlerischen Materialien in der Kunst beginnt: «Hätte es im Jahr 1917 bereits Baumärkte gegeben, so hätte Marcel Duchamp das Material für seine berühmte ‚Fountain‘ vermutlich dort im Sanitärbereich gekauft.» (Deiss 2012: 8)

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Aufgaben stellen: reenacten, modifizieren, neu erfinden

Gehen Sie in den Baumarkt, entdecken Sie Materialien; überlegen Sie, warum gerade diese Ihr Interesse wecken und stellen Sie vor Ort unauffällig eine Komposition bzw. Installation aus einem dort entdeckten ­Material zusammen, die Sie bitte fotografieren. (Henning/Hornäk 2019: 7) Damit nähern sich die Studierenden der Welt des Baumarktes an. Es entstehen fotografische Arbeiten, die skulpturale und installative Interventionen vor Ort ­dokumentieren. Abb. 5 a–c Ein den Weg versperrendes Spinnennetz baut Katherina Falentin aus Ketten, die ursprünglich als Abstandhalter zwischen den Steinplatten gedacht sind. Ohne eines eigenen Eingriffs zu bedürfen, findet Nina Markant ein schlauchartiges hängendes Objekt aus Handschuhen vor. In ihrer dokumentarischen Zustandsbeschreibung fokussiert sie scheinbar Beiläufiges, das ähnlich wie die an die Wand gelehnte gelbe Schlauchplastik von Jessica Ißleib durch seinen skulpturalen Charakter besticht. Oft braucht es nur einen neuen Blick und noch nicht mal das eigene Zutun, um im Vorgefundenen und Absichtslosen skulptural anmutende Werke zu entdecken. Vom Materialfundus des Baumarktes und der besonderen Qualität von Alltagsmaterialien ausgehend, ergibt sich ein direkter Bezug zu einer Aufgabenstellung von Albers, der einen klassischen Materialkanon schon Jahrzehnte zuvor, 1939, um Werkstoffe des Alltags erweitert und diese auf ihre Beschaffenheit hin untersucht: Take what you want or need; make what you think can be made of it. Try to make something that could only be made of drinking straws, not of knitting needles, lengths of wire, or spaghetti. Think about the limits of their strength, their particular structure, texture, rigidity, and color. What you make should amount to more than the sum of your drinking straws. For us, 2+2 must equal 5. (Zit.n. Horowitz 2006: 103) Die Aussage, dass die Summe mehr sein solle als ihre Teile, d.h. dass das Material in etwas Neuartiges transformiert werden müsse, um über eine bloße Materialanhäufung hinauszugehen, offenbart sich im Seminar als ein hilfreiches Denkmodell, auf das immer wieder zurückgegriffen wird. Wir fügen zwei weitere Impulse hinzu. Silvia Martin beschreibt in ihrer Einführung zu Living in the material World gegenwärtige künstlerische Prozesse als Materialumgangsweisen: «Es wird gebaut, gefaltet, gezogen, gefüllt, getöpfert, addiert, gezeichnet und gemalt, ­geknittert und modelliert. Das Material ist der Impulsgeber für Handlungen und Prozesse.» (Martin 2014: 36) Deutlich gemacht wird hier, dass es nicht nur um die Auswahl eines Materials geht, sondern um die Handlung, d.h. dass das Verfahren der Verarbeitung genauso bedeutsam ist. Skulpturale Materialien müssen gefunden und skulpturale Handlungen erfunden werden. Das kann eine stark materialgerechte Umgangsweise sein, aber auch ein Arbeiten gegen das Material, eine Kombination oder eine Kontextverschiebung. Um entsprechende Transformationsprozesse zu unterstützen, werden die beiden Zitate von Albers und Martin um die nachstehende Anregung ergänzt:

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5 a–c

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Studentische Interventionen im Baumarkt, 2019. Katharina Falentin, Jessica Ißleib und Nina Markant.

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6 a–c

Studentische Projekte, 2019.



Annika Krause, Plastikstrohhalme, Gummibänder, 40 × 40 × 40 cm.



Alexandra-Joy Jaeckel, Bambusstäbe, Papierklebeband, 60 × 40 × 40 cm.



Anne Barkhausen, Eierkartons, Bambusstäbe, 60 × 150 × 60 cm.

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7

Lynda Benglis, Installationsansicht The New Sculpture 1965–1975. Between Geometry and Gesture, 1990, Aluminium- und andere Metallgüsse, New York, Whitney Museum of American Art.

Bauen, falten, ziehen, addieren oder knittern Sie – ausgehend von Josef Albers’ Forderung «2 + 2 = 5» – ein Objekt aus einem der vorhandenen oder von Ihnen mitgebrachten Materialien, das die Schwerkraft überwindet und in die Höhe ragt. (Henning/Hornäk 2019: 10) Plastikhalme werden dabei von Annika Krause mit Steckverbindungen zu geometrischen Formen zusammengesetzt. Die Studentin nutzt gleichmäßig eingesetzte Haushaltsgummis, um die Verbindungen zu fixieren. Alexandra-Joy Jaeckel klebt Bambusstäbe mit gleichfarbigem Papierklebeband so zusammen, dass ein tentakelartiges Gebilde hinter der Heizung hervorzukommen scheint. Mithilfe von Eierkartons, in die Holzstäbe hineingesteckt sind, bringt Anne Barkhausen ihr ­Gebilde in die Vertikale und lässt ein labiles Gleichgewicht entstehen. Abb. 6 a–c Um die Studierenden für bestimmte Charakteristika von Materialien zu sensibilisieren, wird in einem nächsten Schritt die Auswahl beschränkt und es werden ausschließlich weiche Stoffe verwendet. Die Arbeit mit weichen und teils textilen Materialien bestimmt viele bildhauerische Positionen der Bildhauerei der 1970er Jahre in den USA. Zum einen wird mit weichen Stoffen gearbeitet, Schaumstoffstücke zu einer Plastik zusammengeschnürt wie beispielsweise in den frühen Werken von John Chamberlain, oder zum anderen mit Aggregatzuständen experimentiert und flüssige, fließende Materialien in Härtungsprozessen in feste Formen überführt wie beispielsweise die erstarrten Bleiformen von Lynda Benglis. Abb. 7

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Die Studentinnen Selina Schmidt und Nina Markant, die unter dem Aspekt der Plastizität des Materials und bezugnehmend auf Dietmar Rübels Theorie einer Kunstgeschichte des Veränderlichen (Rübel 2012) verschiedene künstlerische Positionen der amerikanischen Soft Art vergleichen, konzipieren begleitend dazu eine künstlerische Übung: Stellen Sie eine «weiche» Skulptur mit den zur Verfügung gestellten ­Materialien her. Erfinden Sie dazu entsprechende Techniken. Zerreißen, Zerknäulen, Schichten, Spannen, Bündeln, Drapieren, Dämpfen, Verhüllen, Verbinden, Wärmen, Schmücken. Volumen schaffen, eine optische Täuschung herstellen, haptische Erfahrungen hinterfragen (Henning/ Hornäk 2019: 15). Auch hier dient der Impuls zur Handlung mit dem Material dazu, sich den textilen Materialien zu nähern. Abb. 8 a–d Aus einem flachen, roten Stoff entsteht durch einige Nähte und Raffungen ein plastisches voluminöses Objekt, das durch Farbe, Form und Konsistenz an ein Körperfragment erinnert. Knapp über dem Boden schwebt eine rockartige, transparente Form von Jeanne Louise Bischoff; als ortsspezifische Arbeiten wird der vorhandene, alte, dunkelblaue Vorhang im Raum neu drapiert und von Marie Oppermann auf die plastische Wirkung der entstehenden Formen hin untersucht. Ein spinnennetzartiges Fadengebilde von Anne Barkhausen ­wuchert immer stärker in den Raum hinein. Die Studentin verortet eine dort stehende Leiter, von der die Plastik ihren Ausgang nimmt, mit dem Gebilde im Raum. Um sich in eine zeitgenössische bildhauerische Position einzudenken, für die das Material Ton und verschiedene keramische Techniken wegweisend sind, leitet Alexandra-Joy Jaeckel ihre Auseinandersetzung mit den keramischen Plastiken Richard Deacons unter Zuhilfenahme eines Zitates des Künstlers ein: «Ich sah auf der Käsetheke einen Schweizer Käse, den mit den Löchern, und der Gedanke kam mir: ‹Was wäre, wenn die Löcher so groß wären, dass nur noch ganz wenig Käse übrig bleibt›?» (Zit.n. Simons 2010: o.S.) Die von ihr konzipierte Aufgabe an ihre Kommiliton*innen ergibt sich unmittelbar aus diesem Zitat: Bei Richard Deacon stehen die positive und negative Form häufig gleichberechtigt nebeneinander. Greifen Sie dieses Verhältnis auf und stellen Sie Raum und Leerraum zugleich in einer Tonskizze dar. (Zit.n. Henning/ Hornäk 2019: 18) Um ein Verständnis für die Bedeutung der Leerstelle oder des Abwesenden auszubilden, fertigen die Studierenden eine Tonskizze an, bevor sie die Arbeiten von Deacon im Anschluss auf Basis dieser eigenen ästhetischen Erfahrung kennenlernen und betrachten. Sie denken hierbei im eigenen Tun vor, welche Rolle positive und negative Formen in der Skulptur spielen können und können vor diesem Hintergrund gut vorbereitet in die Analyse seiner Werke einsteigen. Hier geht es im gestalterischen Tun weniger um die Initiierung eigener künstlerischer Tätigkeit, als um eine Verstehenshilfe und Zugangsermöglichung zu einer künstlerischen Position oder Fragestellung. Kunstvermittlungszugänge auf der einen Seite und

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8 a–d

Studentische Projekte, 2019.



Anne Barkhausen, Faden, Klebeband, 50 × 50 × 50 cm.



Marie Oppermann, Vorhang, Nadeln, Klebeband, 150 × 200 × 30 cm.



Hasibe Özcan, Stoff, Bindfaden, 20 × 8 × 15 cm.



Jeanne Louise Bischoff, Stoff, Faden, Draht, ca. 30 × 30 × 30 cm.

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Aufgaben stellen: reenacten, modifizieren, neu erfinden

Prozesse eigener gestalterischer Praxis auf der anderen Seite können jedoch als Teilbereiche einer ästhetischen Bildung verknüpft werden, die auf den Zusammenhang rezeptiver und produktiver Praxen abzielt. An den verschiedenen, in Verben ausgedrückten Materialumgangsweisen, die sich in den bisherigen Aufgabenstellungen verbergen, zeigt sich ein besonderer ­Zusammenhang zwischen Begriff und Form, zwischen verbaler Sprache und ­künstlerischem Ausdruck, der mithilfe einer weiteren Übung genauer untersucht und reflektiert werden soll. Es wird dazu auf Michael Beutler verwiesen, der in seinen Arbeiten von sogenannten «Nicht-Wörter[n]» (Gray 2012: 54) ausgeht. Wir haben uns seine Beschreibung zu eigen gemacht, um eine weitere Form des ­Materialumgangs zu initiieren: Es muss ein bisschen mehr «schwelpch» sein, weißt du? Oder ein bisschen mehr «krrstch». Wenn Michael Beutler über eine entstehende ­Arbeit spricht, begleitet er solche ausdrucksstarken Nicht-Wörter oft mit expressiven Gesten, veranschaulicht sie anhand von kleinen Materialstückchen oder seitenweiser Arbeitszeichnungen. Zu Beginn eines Ausstellungsaufbaus erscheint er, gewöhnlich zum Schrecken der Kuratoren, oft mit einer Menge an rätselhaftem Rohmaterial und einer Handvoll Wörtern, die nur vage erahnen lassen, was er vorhat. (Ebd.: 54) Unmittelbar darauf anspielend formuliert Susanne Henning für die Studierenden die Aufgabe: Erkunden Sie Ton als Material in seinen spezifischen Eigenschaften. Welche Nicht-Wörter kommen Ihnen in den Sinn, die zu dem Material passen? Wählen Sie Ihr Lieblings-Nicht-Wort aus. Formen Sie den Ton, sodass das nun entstehende Objekt sich damit beschreiben lässt. Arbeiten Sie seriell, indem Sie Laut-Formungen in Auseinandersetzung mit dem Material parallel zum Formungsprozess weiterentwickeln. (Zit.n. Henning/Hornäk 2019: 19) Auf der Grundlage des Verständnisses dafür, dass ein zu formendes Material nichts abbildet, sondern einen geräuscherzeugenden Prozess zum Ausdruck bringen kann, entsteht Erstaunliches: ein lautmalerisches «Quieeeetsch» von Anne Barkhausen Abb. 9, ein «Pfütff», «Zchhhu», «Chluup» oder «Plipp». Ziel dieser Übungen, die alle insgesamt Vorübungen darstellen und durch die ­genannten Aufgabenstellungen nur mit Einschränkung einer eigenständig entwickelten künstlerischen Arbeit entsprechen, ist die darauf aufbauende Ermöglichung der Entwicklung künstlerischer Denk- und Handlungsweisen in Form von materialgebundenen, skulpturalen Projekten. Die Vorgabe besteht allein darin, ein eigenständiges Werk zu entwickeln, in dem Materialien in ihren Eigenschaften, Bearbeitungsmöglichkeiten und einem vorgegebenen oder zugewiesenen Bedeu­ tungshorizont erkundet werden. Alexandra-Joy Jaeckel arbeitet mit dem im Keller ihrer Oma gefundenen Materialfundus von Schnittmustern, mit deren Hilfe die Großmutter den Schwestern

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9

Studentisches Projekt, 2019. Anne Barkhausen, Ton, 10 × 5 × 10 cm.

10 a–b Studentisches Projekt, 2019. Alexandra-Joy Jaeckel, Ureol, 15 × 45 × 10 cm.

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11 a–c

Studentische Projekte, 2019.



Annika Krause, Seidenstrumpfhosen, Steine, 100 × 200 × 100 cm.



Anne Barkhausen, Hefeteig, Schnur, 40 × 30 x30 cm.



Katharina Falentin, Kordel, Klebstoffe, 20 × 10 × 20 cm.

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in der Kindheit die Kleider genäht hat. Sehr gut zu beobachten ist hier, dass das Finden eines Materials zwar zunächst einen entscheidenden Schritt darstellt, die Transformation und der skulpturale Zugang im Anschluss jedoch zu einer großen Herausforderung führen. Erst mit der Umsetzung der Schnittmuster in eine dreidimensionale Form und dem Verlassen des zunächst im Fokus des Interesses stehenden Schnittmusterpapiers gelangt die Studentin in eine eigene künstlerische Formsprache. Sie ersetzt dabei das dünne Papier mit seiner glatten Oberfläche und der leichten Transparenz durch das Modellbaumaterial Ureol, einem schaumartigen Werkstoff aus mit Füllstoffen gesättigtem Polyurethan- und Epoxidharz, das sich ähnlich wie Holz in einem abtragenden Verfahren bearbeiten lässt. Das Ausgangsmaterial dient nur als inhaltliche und formale Anregung, um in einen Prozess skulpturalen Handelns zu gelangen. Abb. 10 a–b Wie nicht mit, sondern gegen das Material gearbeitet wird, zeigen die kleinformatigen Arbeiten von Katharina Falentin, die sich über Wochen damit beschäftigt, den schlappen hängenden Eigenschaften einer Kordel eine feste Formgebung aufzupressen, sie zu versteifen und dabei gegen die Schwerkraft zu arbeiten. Anne Barkhausen experimentiert mit dem Verschnüren von Hefeteig, dessen im Quellprozess entstehende Form sie im Backvorgang erstarren lässt. Die Größe der Form richtet sie am Volumen des Brennofens aus, das sie komplett ausschöpft. Die Strumpfhosenverspannungen von Annika Krause werden zunächst im Seminarraum erprobt, dann aber aufgrund der Farbigkeit in einen natürlichen Zusammenhang exportiert. Durch die eingelassenen, schweren und großen Kieselsteine reizt die Studentin die Dehnbarkeit der hängenden Objekte aus. Mit der Verlagerung nach draußen, in eine urwaldartige Szenerie hinter dem Ateliergebäude, entfaltet das Werk in seiner scheinbaren Beiläufigkeit und vor allem in seiner farblichen Unauffälligkeit seine besondere Wirkung. Abb. 11 a–c Innerhalb des Seminares haben die Studierenden, angeregt durch die historischen Aufgabenstellungen zum Material und mithilfe der eigenen Abwandlungen von sich gegenseitig gestellten Aufgaben, skulpturale Projekte entwickelt. Damit sind sie zugleich in die kunstpädagogische Reflexion der hier vollzogenen Prozesse künstlerischen Arbeitens eingestiegen. Die Wechselwirkung von Kunst und Pädagogik sowie das gemeinsame Nachdenken über die Möglichkeiten, künstlerische Prozesse zu initiieren, beziehen sich zum einen auf die eigene Arbeit, zum anderen aber auf den Kunstunterricht. Um eigene ästhetische Bildungsprozesse und die ­anderer anzustoßen, kann die Kunst, Aufgaben so zu stellen, dass sie anregen, aber nicht einschränken, schon im Studium eingeübt werden, indem didaktische Theorien nicht nur gelehrt und vermittelt, sondern Lehr- und Lernsettings gemeinsam ­erprobt werden.

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Literaturverzeichnis

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5 a–c Fotos: Katharina Falentin, Jessica Ißleib, Nina Markant 2019. 6 a–c Fotos: Sara Hornäk, 2019.

7 a–b Gautherot, Franck / Hancock, Caroline / Kim, Seungduk (Hg.) (2019): Lynda Benglis. Dijon, Les Presses du Réel, S. 96.

8–11

Fotos: Sara Hornäk, 2019.

Biografie

Sara Hornäk, Professorin für Didaktik der Bildenden Künste an der Kunstakademie Düsseldorf, von 2006–2018 Professur an der Universität Paderborn, von 2018–2020 Professur an der ­Universität Siegen. Promotion mit der Arbeit Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei. Forschungsschwerpunkte: Skulptur Lehren, Entwicklung des plastischen und räumlichen Gestaltens bei Kindern und Jugendlichen, Theorien künstlerischer Praxis und künstlerischer Lehre, künstlerische und kunstpädagogische Forschung, Materialdiskurse, ästhetische Grundlegung der Kunstpädagogik, Kunstpädagogik und Inklusion.

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Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus Materie und Material im Bauhaus-Vorkurs Die Erkundung von Material und Materie spielte im Bauhaus-Vorkurs eine besondere Rolle. In experimentellen, ergebnisoffenen Studien sollten die Lernenden Oberflächen und Eigenschaften erfassen. Letzteres ist, wie Rainer K. Wick ­beschreibt, insbesondere auf Josef Albers zurückzuführen, dessen Materialübungen auf die «immanenten Eigenschaften wie Stabilität, Tragfähigkeit, Festigkeit, Belastbarkeit u.a.» (Wick 2009: 263) fokussierten.1 Einige Übungen aus dem Bauhaus-Vorkurs sind gut dokumentiert und bezeugen die Experimentierlust und die Ergebnisoffenheit (Holländer/Wiedemeyer 2019). Im Folgenden soll der Blick auf die Zeit nach 1

Auf die von Wick benannten «zwei wichtigen Kriterien [...] Materialökonomie und Arbeitsökonomie» sei hier nicht weiter ­eingegangen (Wick 2009: 263).

261

dem Bauhaus geworfen werden. Denn in der Kunstpädagogik haben, neben anderen Ansätzen der Bauhauspädagogik,2 Albers’ Lehren nachgewirkt und auch die Kunstgeschichte hat sich dem Stoff, aus dem die (Kunst-)Werke gemacht sind, neu zugewandt. Eine genaue Rezeptionsgeschichte nachzuzeichnen würde hier zu weit führen, doch kann aufgezeigt werden, inwiefern die Idee, das Material und seine Bedeutung zu durchdringen, weitergelebt hat – sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf der Ebene der Rezeption.

Material und kunstpädagogische Theoriebildung in der westdeutschen Nachkriegszeit Mit dem ersten Kunsterziehungstag nach dem Zweiten Weltkrieg in Fulda 1948 setzt der Diskurs um Ziele und Wege der Kunstpädagogik wieder ein (Hilker/ Weismantel 1949). Dabei wird an die frühen 1930er Jahre angeknüpft, in denen reformpädagogische Ansätze bereits rezipiert worden waren (Engels 2016: 205). Ein schon in den 1930er Jahren geplantes und in den frühen 1950er Jahren erschienenes Grundlagenwerk, das bis in die 1970er Jahre hinein neu aufgelegt und erweitert wurde, gibt Aufschluss darüber, welche Themen und Ansätze als relevant erachtet wurden. Das Handbuch der Kunst- und Werkerziehung (1953– 1979), von dem Berliner Kunstlehrer und Seminarleiter Herbert Trümper begründet, sollte zunächst fünf Bände umfassen und wuchs schließlich auf 13 Bände an.3 In allen Bundesländern war es für den Gebrauch offiziell ausgewiesen und «in allen einschlägigen Bibliotheken zu finden» (Trümper 1961: 536). Bis heute entfaltet es seine Wirkung.4 Anhand des Handbuchs der Kunst- und Werkerziehung lässt sich ablesen, welche Bedeutung dem Material zugemessen wurde. Da ist zunächst der Band zum Werken und plastischen Gestalten (1957) sowie der Band zum Malen (1961), die Aufschluss über grundlegende Unterrichtsziele geben und verschiedene ­Aufgabenbeispiele versammeln. Besonders spannend ist zudem einer der drei Teilbände zur Kunstbetrachtung5 (1954, 1956, 1957), der die Hinwendung zum Material zu einem frühen Zeitpunkt in der Kunstgeschichtsschreibung der Moderne belegt.

2 3 4

5

Kurt Schwerdtfeger und Paul Klee sind hier beispielsweise zu nennen (insgesamt dazu Wick 2009). Besonders Johannes Ittens Bildanalysen wurden in der Kunstdidaktik aufgegriffen (Engels 2015: 100). Die ursprünglich fünf konzipierten Bände wurden – abgesehen von Band I und III – im Verlauf der Geschichte ihrer Erscheinung von 1953–1979 jeweils in mehrere Teilbände unterteilt (Engels 2015: 50f.). Dieter Heller beispielsweise, der zur Geschichte der Werkdidaktik geforscht hat und an der Bergischen Universität Wuppertal nach seiner Pensionierung noch bis Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts als Lehrbeauftragter tätig war, hat auf der Grundlage des Handbuchs der Kunst- und Werkerziehung gelehrt. Und im Rahmen der Begleitung einer Studentin im Praxissemester an der PH Heidelberg im Jahr 2016 begegnete ich in Mannheim einer Kunstlehrerin, die ihren Unterricht gemäß Band III des Handbuchs gestaltete, wie die an den Wänden präsentierten Schüler*innenarbeiten belegten, und die im Gespräch bestätigte, dass das Handbuch Grundlage ihrer Ausbildung in den 1970er Jahren gewesen sei. Auch die bis heute in den Studienseminaren oft gelehrte Konstruktion von Aufgaben geht auf das Handbuch zurück (Engels 2017a: 18f., Engels 2017b: 182f.). Der Begriff «Kunstbetrachtung» geht auf Alfred Lichtwarks Übungen im Betrachten von Kunstwerken (1922) zurück (Engels 2015: 26).

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1

Buchumschlag zu Karl Klöckner (Hg.), Werken und plastisches Gestalten, 1957.

«Werken und plastisches Gestalten» und «Farbe als Material» Der Band II.1 Werken und plastisches Gestalten – von Karl Otto, dem damaligen Direktor der Hochschule für bildende Künste Berlin, im Geleitwort zum Band als «freies oder zweckgebundenes Gestalten in Werkstoff» (Otto in Klöckner 1961: 7) präzisiert – fußt auf drei Grundannahmen: «der Umgang mit Werkzeug und Material ist uralt und im Wesen des Menschen selbst begründet», «das Werken [kommt] dem ursprünglichen Verlangen des jungen Menschen nach Erkundung und ­Gestaltung von Werkstoffen und nach technischem Experiment entgegen» und die «Heranbildung eines schöpferischen technischen Nachwuchses ist für unsere Wirtschaft von ebenso entscheidender Bedeutung wie die Erziehung zur guten Formgebung in Bau und Gerät» (Trümper in ebd.: 9f.), wie Trümper im Vorwort zum Band formuliert. Insbesondere die letztgenannte Annahme führt unmittelbar zum Bauhaus zurück, während die erste Annahme einer ganz alten Idee entspricht. Wie bereits der Umschlag verrät, sind alle benannten Punkte im Band grundlegend berücksichtigt. Abb. 1 Dementsprechend finden sich darin sehr traditionelle, aber auch viele spielerisch-experimentelle Beispiele. Abb. 2 und 3 Dem Kapitel zu den einzelnen Aufgabenbeispielen ist ein Kapitel zu den Werkstoffen selbst vorangestellt. Neben den klassischen Werkstoffen wie Holz, Ton und Papier stellt der Autor Karl Klöckner überdies neue Materialien, wie u.a. Ytong-Porenbeton, Kunststoffe und «Abfall als Werkstoff», ausführlich hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten vor (ebd.: 235-379).

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Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus

2 a–d

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Arbeitsergebnisse in Karl Klöckner (Hg.), Werken und plastisches Gestalten, 1957.

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3 a–d

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Arbeitsergebnisse in Karl Klöckner (Hg.), Werken und plastisches Gestalten, 1957.

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4

Übung zum Werkstoff Metall in Willi Kaul, Werkunterricht und Technik, 1967.

5

Übung mit Wellpappe in Willi Kaul, Werkunterricht und Technik, 1967.

In den 1960er Jahren werden die Grenzen zwischen Kunst- und Werkunterricht neu ausgelotet. Für das Handbuch der Kunst- und Werkerziehung bedeutet dies, dass der Band II.1 Werken und plastisches Gestalten nun zwei verschiedenen ­Fächern dient. Während im Fach Werken der Fokus auf Bauen, Konstruieren und Technik gelegt wird («Werkzeug, Maschinen, Apparate»; Klöckner 1969: 13), sind gestalterische Aspekte nunmehr im Fach Kunst relevant. Im Vorwort der dritten Auflage aus dem Jahr 1969 schreibt Klöckner: In den Kunstunterricht gehören nun: das «plastische Gestalten» und alle Dinge, die als «Gebilde» ihren Sinn in sich selbst und keine andere Funktion haben als unser Gestaltempfinden zu befriedigen, alles, was primär «Aussagecharakter» hat und alle auf solche Leistungen hinzielenden «formalen Übungen». (Ebd.) Doch auch die im Band II.3 Werkunterricht und Technik (Kaul 1967) präsentierten Aufgaben sprechen durchaus das «Gestaltempfinden» an, wie zahlreiche ­Beispiele belegen. So sind die «Grunderfahrungen» zu den jeweiligen Werkstoffen (hier Ton, Papier, Holz und Metall) von einer Berücksichtigung der «Formgebung» geprägt. Beispielsweise heißt es in einer Übung «Plastisch-räumliche Form in Schwüngen» zum Werkstoff Metall: «Hinweise zur Gestaltung: Bogenlängen, Bogenspannen

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6

Beispiel «Kraftübertragung» in Willi Kaul, Werkunterricht und Technik, 1967.

7

Beispiel «Raum und Licht» in Willi Kaul, Werkunterricht und Technik, 1967.

und Verbindungsknoten sind rhythmisch zu ordnen.» (Kaul 1967: 215) Abb. 4 Die Hinweise zum «Wellpappe-Relief», das Grunderfahrungen mit dem Werkstoff Papier ermöglicht, lauten: «Reihen, Richtungen, Stufen, Barrieren, Binnenräume, Höfe, Felder werden gegeneinander ausgespielt. Gegensätze: Große und kleine, senkrecht und waagerecht gerichtete, breit- und schmalstreifige Felder; kleine, große, offene und geschlossene Gruppen.» (Ebd.: 147) Abb. 5 Die Grunderfahrungen mit den Werkstoffen werden durchweg verbunden mit Überlegungen zu immanenten ­Gestaltungspotenzialen. Die abgebildeten Beispiele zu den «Grunderfahrungen mit Naturkräften», z.B. Kraftübertragung oder Raum und Licht Abb. 6 und 7, belegen einmal mehr, dass Aspekte der Gestaltung stets eine Rolle spielen. Farbe wird im Handbuch ebenfalls als Material begriffen. Im Teilband IV.1 Das ­Malen und die Zugänge zu Werken der Malerei (Otto/Trümper 1966) erläutert Reinhard Pfennig, inwiefern Grunderfahrungen zum Materialwert der Farbe ermöglicht ­werden können. Er beschreibt «das Verhältnis von Konsistenz und Werkzeug» als «nicht konstant» und nennt Übungen, die «systematische Untersuchungen der Möglichkeiten, die der Farbe innewohnen», umfassen, wie z.B. dünne Lasuren; Farbe schwemmen; Farbteiche trocknen an; [...] H ­ insetzen und Wegnehmen (Rakel); negative Linien und Flächen durch Wegziehen oder -schieben der nassen Farbe (Lappen oder Pinsel mit Kleister ohne

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Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus

8

Schülerarbeiten «Farbe» in Reinhard Pfennig, Die Farbe im Prozess des Malens, 1966.

Farbe); Verschmelzung der feuchten Farbe mit pastosem Malen oder Spachteln oder die Verbindung mit festen Farbelementen; Collage usw. (Pfennig 1966: 82f.) Abb. 8 6 Solche Untersuchungen des Materials, mit dem gearbeitet werden soll, finden sich wieder in den Auftakt-Experimenten zum «Künstlerischen Projekt» nach Carl-­Peter Buschkühle. Beispielsweise sollen Schüler*innen in einem Projekt zu Papier ­zunächst ein einfaches Blatt in die «Dreidimensionalität heben», um Bearbeitungsmöglichkeiten zu finden (Buschkühle 2010: 208). Für Aufruhr in der Fachwelt hat die Erkundung eines ungewöhnlichen Materials gesorgt: In einer Ausgabe der Zeitschrift Kunst+Unterricht zum «Künstlerischen Projekt» beschreibt Gerd-Peter Zaake, wie er seine Schüler*innen dazu aufforderte, mit einem Rinderdarm (und einem Mundstück, mit dem Luft hineingeblasen werden kann) gestalterisch zu experimentieren (Zaake 2005). Abb. 9 Hubert Sowa fragt kritisch nach den zu erwerbenden Kompetenzen und danach, was die Schüler*innen in Bezug auf ihr Leben lernen können und wie ein solcher Unterricht zur Gerechtigkeit des Bildungs­ systems beitragen kann (Sowa 2007: 102). Das sind grundlegende Fragen, auf die auch für die Übungen im Bauhaus-Vorkurs und die «Grunderfahrungen» im Handbuch der Kunst- und Werkerziehung kaum konkrete Antworten gegeben werden können. Es bleibt offen, ob diese überhaupt gefunden werden müssen.

6

In der Erläuterung zu dem Beispiel heißt es: «Das Erforschen der bildnerischen Möglichkeiten der Farben, ihrer Stofflichkeit und Natur, ihrer Wirkungen und Reaktionen erfolgt hier im spielenden Experimentieren, im expeditionellen Umgang mit ihnen. Das ist kein ‹abstraktes› Malen, sondern ein höchst konkretes, denn die Farben sind hier die Dinge, mit denen der Schüler spricht und umgeht: das Malen und Manipulieren mit den Farben stellt sich dar.» (Pfennig 1966: 80f.)

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9

Gerd-Peter Zaake, Rinderdarm als Material für eine Übung, Atemluft für Darmblähungen, 2005.

Das Material in der kunstpädagogisch orientierten ­Kunstgeschichtsschreibung Was die Rezeption von Kunst angeht, so zeigt sich, dass ein materialorientierter Blick auf Kunstwerke in den 1950er Jahren geprägt wurde. Der Handbuch-Teilband V.1, von dem in Hamburg tätigen Kunsthistoriker Otto Stelzer verfasst, erscheint in der ersten Auflage 1957. Es handelt sich um ein «Schulbuch zur Kunstbetrachtung und Kunstgeschichte» (Trümper 1953: 2) und war gedacht «zum Selbststudium und als Unterrichtswerk für die Oberstufe der höheren Schulen» (Stelzer 1970: 5). Wie in Teilband V.2 von Franz Winzinger, ebenfalls zur Kunstbetrachtung, ist die Organisation des Bildmaterials dem «Vergleichenden Sehen» verpflichtet, eine Methode, die insbesondere durch Heinrich Wölfflins Buch Kunsthistorische Grundbegriffe von 1915 und Paul Brandts Werk Sehen und Erkennen – erstmals 1910 und letztmalig 1968 in der 13. Auflage erschienen – populär wurde.7 Und wie in Teilband V.2 geht es um das Erfassen eines überzeitlichen «Wesens» (Winzinger 1954: 8) der Kunst – folglich nicht um eine lineare Darstellung einer Geschichte der Kunst.8 Während Teilband V.2 (Winzinger 1954) in thematische Blöcke gegliedert ist (z.B. 7 8

Brandts Buch wurde fortwährend geändert; bis zur 7. Auflage hat Brandt selbst die Überarbeitungen vorgenommen, nach seinem Tod 1932 hat der Verlag dies besorgt, so das Vorwort zur 13. Auflage 1968. Der Altphilologe Paul Brandt war im Schuldienst tätig und gab zeitweilig Unterricht in Kunstgeschichte (Bushart 2009: 37, Kehr 1983: 96). Als Unterrichtsmedium stellen die Bände eine Neuheit dar. Womöglich hat Wölfflin dazu angeregt: «Man könnte diesen U ­ nterricht [‹Anschauungsstunden›; S.E.] anhand von Kunstwerken geben – und warum sollte nicht jeder Schüler ein Bilderbuch in die Hand bekommen, wie er ein Lesebuch hat –, man könnte die Grundbegriffe des künstlerischen Schaffens an Einzelfällen v­ erständlich machen, aber es sollte das Schulbilderbuch nur ausgewählte Beispiele geben, keinen Leitfaden der Kunstgeschichte darstellen wollen.» (Wölfflin 1946: 163f.; Engels 2015: 120) Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, dass Winzinger in Teilen seiner Darstellung einem nationalsozialistischen Lehrbuch zur Kunstbetrachtung folgt (Engels 2015: 136f.). Der Herausgeber Trümper hat allerdings nicht selbst alle Autoren ausgesucht; sie wurden z.T. vom Verleger verpflichtet (ebd.: 298, Anm. 139).

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Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus

10 Doppelseite mit Kunstwerken in Otto Stelzer, Kunstbetrachtung, 1970.

«Abbild und Sinnbild» oder «Die Wirkung der Zeit»), stehen in Teilband V.1 (Stelzer 1970) die Werkmittel, das Material also, sowie die spezifischen möglichen Bearbeitungsweisen und die e ­ ntsprechenden Wirkungen im Vordergrund. Die Gattungen Plastik, Grafik und Malerei werden jeweils daraufhin befragt. Abb. 10 zeigt eine Doppelseite aus Band V.1. Links zu sehen ist ein Relief von Michelangelo und eine Skulptur von Auguste Rodin. Hier liegt das Augenmerk auf der spannungsvollen Bearbeitung des Steins und damit auf den Möglichkeiten, die dieses Material (Marmor) bietet. Stelzer demonstriert hier ganz im Sinne Monika Wagners, die 2001 eine umfassende Sammlung materialorientierter Analysen zeitgenössischer Kunst vorgelegt hat, «die Kontrastierung von Form und Formlosigkeit» (Wagner 2001: 175). Auf der rechten Buchseite sind ein «indianisches Stück» und eine Figur von Ernst Barlach abgebildet. Dort wird auf die die Gestaltung bestimmende Ausgangsform des Baumstamms hingewiesen. In beiden Fällen geht es darum, die Nähe trotz der großen räumlichen und zeitlichen Distanz aufzuzeigen (Stelzer 1970: 60) und die Materialität mit ihren Bedingtheiten herauszuheben. Bemerkenswerterweise sind in den Handbuch-Band auch damals recht aktuelle Kunstwerke aufgenommen worden, wie z.B. Der schreitende Mann I (L’Homme qui marche I, 1960) von A ­ lberto Giacometti oder Mobile (1932) von Alexander Calder, und in die Neuauflage von 1970 beispielsweise Werke von George Rickey (1907–2002) oder Julio Le Parc (geb. 1928) sowie Wolf Vostell (1932–1998) (Stelzer 1970).

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Die Unterteilung der Kapitel gemäß den klassischen Gattungen mag nicht besonders innovativ erscheinen. Doch die Grundidee des Bandes, die Betrachtung von den Werkmitteln ausgehen zu lassen, trägt der zeitgenössischen Entwicklung der Kunst selbst Rechnung, die von einer Abwendung von der Naturnachahmung und einer Hinwendung zum Material geprägt ist (Stelzer 1970: 11). Stelzer erläutert, es gebe zwei Wege in der Kunst: «Ich habe eine Idee und suche nach einem bestimmten Material, um sie zu verwirklichen […] Ich habe ein Material und den Trieb, mit ihm künstlerisch umzugehen, und die Idee kommt still hinterher». Somit sei klar, dass «das Werkmittel […] eben nicht in jedem Fall nur Mittel» ist. «Eine unausweichliche Konsequenz» könne daher formuliert werden: «Kunstbetrachtung ist ohne Materialbetrachtung nicht möglich.» (Ebd.: 10) Nicht nur bei Paul Klee und Pablo Picasso zeugten die Experimente mit Materialien von deren «befruchtenden Kräften», sondern auch «der Unterricht des modernen Kunsterziehers bedient sich» ihrer. Gerade er wisse, dass es «kein Material gibt, welches nicht fruchtbar gemacht werden könnte im Dienste der künstlerischen Gestaltung.» (Ebd.: 12) Kunstunterrichtende waren demnach – anders als oft tradiert9 – schon in den 1950er Jahren ganz nah am Puls der Zeit! Wagner hat eine Erklärung dafür, dass Kunstbetrachtung ohne Materialbetrachtung offensichtlich doch möglich blieb. «Die kunstgeschichtliche Forschung hat die Marginalisierung des Materials fortgeschrieben. Zentrale Methoden des Faches wie die Ikonologie wurden auf der Basis von Fotoreproduktionen entwickelt, welche die Materialität der Werke zurücktreten lassen. Zwar ist dies angesichts weltweiter Bilddatenbanken von enormem Vorteil, doch überführt die Fotografie die ursprüngliche Materialität eines Werkes in ihre eigene und r­eduziert das Werk damit auf seine Form.» (Wagner 2001: 11) Genau dies ist in der Kunstpädagogik mit Erstarken der Visuellen Kommunikation in den 1970er Jahren tatsächlich virulent geworden, doch hinsichtlich der Kunstbetrachtung ist sie ihrer auf dem Vergleichenden Sehen fußenden Methode treu geblieben. Oberflächenbeschaffenheit und Materialität sind nach wie vor wichtige Aspekte, die verglichen und abgefragt werden, wie gesammelte Beispiele für Klausuraufgaben belegen (Stark 2017: LK 2016-7; ebd. LK 2014-10; LK 2015-8). Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Explorieren von Materialeigenschaften, wie es Albers in den Übungen in seinem Bauhausvorkurs angeregt hat, in der Kunstpädagogik bis in die heutige Zeit tradiert wird. Genauso besteht eine Tradition, das Material bei der Betrachtung von Werken gezielt in den Blick zu nehmen. Eine kunstpädagogische Perspektive auf Kunst, so zeigt sich zudem, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von einer kunstwissenschaftlichen Perspektive. Das Erkenntnispotenzial mag ein anderes sein, ist aber nicht weniger groß (Engels 2015: 333–336). 9

In der kunstpädagogischen Geschichtsschreibung hat sich ein Bild verfestigt, das die vorottonische Kunstpädagogik (vor Gunter Otto) als geprägt von Rückständigkeit zeichnet. Der Sprachduktus mutet tatsächlich oftmals sehr altbacken und paternalistisch an, doch waren viele damalige Ideen durchaus neuartig und zukunftsgewandt. Allein 1953 mit dem ersten Handbuch-Band eine umfänglich begründete Fachdidaktik (nicht Fachmethodik!) auf den Weg gebracht zu haben, noch bevor dies grundsätzlich auf dem 4. Deutschen Pädagogischen Hochschultag 1959 für alle Fächer gefordert wurde, ist eine durchaus beachtliche Leistung (Engels 2015: 209f.). Die kunstpädagogische «Geschichtsklitterung» beschreibt zuletzt Johanna Tewes (Tewes 2018). In diesem Zusammenhang sei außerdem darauf hingewiesen, dass die Bilder des Alltags, u.a. Werbeplakate, Gebrauchsgeräte und Möbel zu frühen Zeiten Gegenstand der Kunstpädagogik waren: Mit der «gestalteten Umwelt» befasst sich Teilband V.3 (Braun-Feldweg 1956).

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Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus

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4

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Pfennig, Reinhard (1966): Die Farbe im Prozess des Malens. In: Otto, Gunter / Trümper, Herbert (Hg.), Das Malen und die Zugänge zu Werken der Malerei. Fachliche und didaktische Grundlagen des Malens und der Bildwerkbetrachtung. Handbuch der Kunst- und Werkerziehung. Berlin, Rembrandt; IV.1, S. 71–120, hier S. 97. Zaake, Gerd-Peter (2005): Atemluft für Darmblähungen, S. 36.

10 Stelzer, Otto (1970): Kunst-Betrachtung. Ursprung, Werkmittel und Wirkung der bildenden Kunst [1957]. 2., erw. Aufl. Berlin, Rembrandt, Handbuch der Kunst- und Werker­ ziehung; V.1, S. 64–65. Biografie

Sidonie Engels, seit 2018 Professorin für Ästhetische und Kulturelle Bildung in der Kindheit an der Evangelischen Hochschule Berlin, zuvor Vertretungsprofessorin im Fach Kunst an der ­Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Promotion mit einer Studie zur kunstpädagogischen Fachgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Inklusion, Bilderbücher, Künstlerische Bildung, häufig mit Bezug auf die Fachgeschichte.

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Material in Kunstpädagogik und Kunstgeschichte nach dem Bauhaus

Alexandra Panzert

Silber, Stahl, Ebenholz, Kunststoff

Werkstätten und Material an Kunst- und Gestaltungsschulen der Weimarer Republik

Was ist die sogenannte Bauhaus-Idee? Auch an heutigen Kunst- und Designschulen wird (und wurde verstärkt im Jubiläumsjahr 2019) sehr gern auf sie zurück­ gegriffen. Mit ihr soll sich in den verschiedensten Projekten auseinandergesetzt werden, sie soll auf ihre heutige Bedeutung befragt werden, sie soll Aktualisierung erfahren. In den allermeisten Fällen lassen diese Phrasen jedoch offen, was mit der Bauhaus-Idee eigentlich gemeint ist. Ist sie das Zusammendenken von künstlerischer und handwerklich-technischer Ausbildung? Eine Offenheit für das Experiment? Oder umfasst sie nicht nur die Schule, die das Bauhaus ja in erster Linie war, sondern alle Lebensbereiche? Ist sie eine diffuse Anmutung von Erneuerung und dem Zusammenführen verschiedener Disziplinen? Die Bauhaus-Idee eignet sich noch heute als Projektionsfläche und Verweis für verschiedene kreative und pädagogische Anliegen (Meer/Walzel 2019). Das Bauhaus dient als Symbol. Gerade die Werkstätten spielen dabei eine besondere Rolle. Sie scheinen ein Hort für das Entstehen neuartiger Produkte und Lehrkonzepte gewesen zu sein, ‹Laboratorien› nannte sie Walter Gropius. Doch der tiefgreifende Reformwille der 1920er Jahre lässt sich nicht nur am Bauhaus festmachen, denn Werkstätten waren ein verbreitetes Phänomen in der künstlerischen Ausbildung. Das Bauhaus war Teil einer breiten Strömung reformierter Kunstschulen. Es hat alleine nur im geringen Maße die Ausbildungspraxis seiner Zeit beeinflusst – aber

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in großem Umfang unseren Blick auf das 19. Jahrhundert, wo in der Kunstgewerbeschulbewegung tatsächlich viele Wurzeln der Ausbildungspraxis der 1920er Jahre liegen, die teilweise bis heute einflussreich sind. Die radikale Abgrenzung des Bauhauses von aller Vergangenheit verstellt den Blick auf diese kunstpädagogischen Errungenschaften und in der Bauhausrezeption übernahmen viele Forschende diese Selbstdarstellung der Schule. Dieser Beitrag thematisiert reformierte Kunst- und Gestaltungsschulen der ­Weimarer Republik und im Besonderen deren Werkstätten und Materialeinsatz.1 Wie agierte das Bauhaus in diesen Bereichen im Vergleich zu anderen Schulen? Das Bauhaus wird im Kontext von drei weiteren Schulen betrachtet: den Kölner Werkschulen, den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin mit der Vorgängerinstitution Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums und der Burg Giebichenstein – eine exemplarische Auswahl aus insgesamt mehr als 30 gleichartigen öffentlichen Ausbildungsanstalten, die nach dem Ersten Weltkrieg in der künstlerischen und gestalterischen Ausbildung Reformen umsetzten.2 Punktuell werden weitere Schulen einbezogen. Ziel dieses Perspektivwechsels ist, die Praktiken des Bauhauses beim Thema Werkstätten und Material zu kontextualisieren und durch einen Vergleich mit Bestrebungen anderer Schulen zu fragen, wie die Innovationen des Bauhauses zu bewerten sind. Die hier vorgenommene exemplarische Betrachtung möchte die sich auf das Bauhaus konzentrierenden Forschungen um neue Perspektiven auf die Kunstschulen der 1920er Jahre ergänzen. Sie lässt Erkenntnisse über die Gleichzeitigkeit und Wechselseitigkeit der Entwicklungen an den Institutionen untereinander zu, zeigt aber auch deren Besonderheiten auf. Der Blick auf das Bauhaus, das sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Wahrnehmung als Solitär gilt, lässt sich mit der Betrachtung der reformorientierten Kunstschulen erweitern. Sie bildeten ­Gestalter*innen für noch unklare Aufgaben in der Zukunft aus. Wie tiefgreifend die Industrialisierung alle Lebensbereiche beeinflusste, war allen Beteiligten bewusst, jedoch nicht unbedingt, wie man in der Ausbildung für kreative Berufe darauf ­reagieren sollte. Überraschenderweise wählten die reformorientierten Institutionen Strategien, die bei näherer Betrachtung stärker an das 19. Jahrhundert anknüpften, als es die Selbstdarstellung der Schulen vermuten lässt. Dieser Beitrag wird im Folgenden auf grundlegende Aspekte der Kunstschulreform eingehen, den Aspekt der Schulwerkstätten mit dem Fokus auf das dort verwendete Material näher ­betrachten und dabei die Strategien einzelner Schulen schlaglichtartig beleuchten sowie beispielhaft die Rolle des Materials bei Industriekooperationen der Reformschulen untersuchen.

1 2

Der Beitrag basiert auf Forschungen im Rahmen der sich in Entstehung befindenden Dissertation der Autorin Das Bauhaus im Kontext. Kunst- und Gestaltungsschulen der Weimarer Republik im Vergleich, an der Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Kommunikationswissenschaften, betreut von Prof. Dr. Patrick Rössler und Prof. Dr. Anja Baumhoff. Die Kölner Werkschulen hießen bis 1926 zunächst Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Köln, werden in diesem Text aber durchgängig mit Kölner Werkschulen bezeichnet. Sie unterstanden von 1919 bis 1933 nacheinander den drei Direktoren Martin Elsässer, Richard Riemerschmid, beide Architekten, und Karl With, Kunsthistoriker. Offizieller Name der Burg Giebichenstein in Halle war zunächst Handwerkerschule der Stadt Halle, ab 1922 Werkstätten der Stadt Halle / Staatlich-städtische Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein, im Text wird sie jedoch durchgehend als Burg Giebichenstein bezeichnet.

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Die Kunstschulreform in der Weimarer Republik Der Begriff Kunstschulreform wird u.a. von Hans Maria Wingler und Rainer K. Wick für die Häufung von Reformbestrebungen in der künstlerischen Ausbildung Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre verwendet (Wingler/Bothe 1977; Wick 2000). Besonders in der Zeit politischer und gesellschaftlicher Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg erfanden sich viele öffentliche Schulen neu und setzten Reformen um, die in den Jahren zuvor erdacht worden waren. In diesem zeitlichen Rahmen bewegen sich die folgenden Betrachtungen, wobei viele Ideen der Kunstschulreform in der Weimarer Republik aus dem Umkreis des Arbeitsrates für Kunst und dem Deutschen Werkbund stammen. Das Bauhaus und andere Reformschulen verschrieben sich ähnlichen Zielen. Die Idee eines umfassenden Gestaltens für eine noch nicht bekannte Zukunft vereinte die Institute in der Nachkriegszeit. Die Forderungen der Kunstschulreform-Protagonist*innen stimmten in vielen Bereichen überein und umfassten vier zentrale Reformideen: Die Einheit aller künstlerischen Äußerungsformen, ob frei oder angewandt, war eine zentrale Vorstellung. Demensprechend wurden nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Städten Kunsthochschulen und Kunstgewerbeschulen zu Einheitskunstschulen ­zusammengelegt, etwa in Karlsruhe, Berlin, Weimar und Frankfurt. Hans Poelzig realisierte das Konzept schon vor dem Ersten Weltkrieg in Breslau an der Königlichen Kunst und Kunstgewerbeschule (Hölscher 2003). Die gesteigerte ­Wertschätzung einer praxisbezogenen Ausbildung kam in der Aufwertung des Handwerks und der Einrichtung von Werkstätten zum Ausdruck. Sie war schon in Hermann Muthesius’ Lehrwerkstättenerlass von 1904 konzipiert und wurde u.a. von Henry van de Velde in Weimar umgesetzt (Maciuika 2008: 118–125). In diesem Zusammenhang stand auch die Forderung nach der Zusammenarbeit mit externen Firmen und Betrieben oder mit öffentlichen Behörden. Als wichtige pädagogische Maßnahme sollte eine Art Vorkurs in die Ausbildung aufgenommen werden, der Fähigkeiten und Vorlieben der Studierenden sondierte.

Die Werkstätten an reformierten Schulen und ihr Umgang mit Material An allen hier untersuchten Schulen nahmen die Werkstätten einen zentralen Platz im Schul- und Ausbildungskonzept ein und wurden als Vermittler handwerklicher Fähigkeiten als grundlegend erachtet. Der Praxisorientierung wurde große Bedeutung zugesprochen und in den Werkstätten sollte direkt mit Materialien gearbeitet werden, um Kenntnisse über deren Verarbeitung zu erlangen. Materialgerechtigkeit war seit Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Stichwort; es blieb in den reformierten Schulen der 1920er Jahre wichtig. Am Bauhaus in Weimar waren die Werkstätten vor allem in der Anfangszeit der zentrale Teil des Lehrkonzeptes. Hier sollten die Schüler*innen in den Feldern Tischlerei, Metall, Weberei, Glasmalerei, Keramik, Grafik und Buchdruck oder Wandmalerei praxisnah lernen. Neben der schulischen Ausbildung konnte man einen Gesellenbrief erlangen, doch nutzten nur wenige die Gelegenheit. Das bekannte

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1

Lotte Pottel, Prospektseite mit Arbeiten der Werkstätten der Burg Giebichenstein, Halle, 1930.

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Arbeiten der Metallklasse der Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst, Ausstellung Werkkunst, Berlin, 1927.

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Bauhaus-Prinzip war eine duale Ausbildung: in der Werkstatt durch einen Handwerksmeister, unterstützt durch die kreative Anregung des Künstlers, dem Formmeister, der einen höheren Status innehatte. Das System brachte auch Probleme mit sich, denn die Studierenden waren nicht so sehr an der handwerklichen, sondern vielmehr an der künstlerischen Ausbildung interessiert (Wahl/Ackermann 2001: 319). Im Laufe der Entwicklung des Bauhauses wurde der Entwurf (vor allem für die industrielle Produktion) immer wichtiger und damit nahm die Bedeutung der Werkstätten immer mehr ab. Sie konnten nie in nennenswerter Weise zur Finanzierung der Schule beitragen. An der Burg Giebichenstein in Halle Abb. 1 verwandelte der Direktor Paul Thiersch seit 1916 eine Handwerkerschule in eine Kunstgewerbeschule mit Werkstätten (Schneider 1992). Die dort entwickelten Produkte waren 1920 sehr erfolgreich auf der Leipziger Messe vertreten und so entschied Thiersch 1922, die in ständiger Entwicklung befindlichen Werkstätten zu Produktionsstätten aufzubauen – noch bevor Gropius die Entscheidung traf, seine Schule durch Werkstattprodukte mitzufinanzieren. Die Lehrenden in Halle waren nicht nur Künstler*innen, sondern Kunstgewerbler*innen – ein teilweise verpöntes Wort zu dieser Zeit, doch beschrieb es die Doppelqualifikation zwischen Handwerk, Gestaltung und Kunst. Auch in Halle hatte man die Möglichkeit, einen Gesellenbrief während einer Ausbildung zu erwerben. Die Schule war mit ihrer klaren Ausrichtung sehr erfolgreich. In den Werkstätten arbeiteten Angestellte gemeinsam mit Studierenden im Bereich Tischlerei, Metall, Textil, Emaille, Keramik, Buchdruck und Grafik. Die Produkte wurden im Kunsthandel in ganz Deutschland verkauft und international auf Messen ausgestellt. Sie trugen zur Finanzierung der Schulwerkstätten bei. An den Vereinigten Staatsschulen in Berlin Abb. 2 war eine handwerkliche Ausbildung schon Zulassungsvoraussetzung.3 Die Werkstätten (u.a. Keramik, Weberei, Metall, Dekorationsmalerei, Holzplastik, Buchbinderei, Glasmalerei, Grafik, E ­ maille und Stuck) dienten dann nicht unmittelbar der Lehre, sondern dazu, Entwürfe auszuprobieren, um die richtige Verwendung des Materials und Funktionalität zu gewährleisten. Die Ausbildung war damit in Fachklassen für den Entwurf und Werkstätten für die Ausführung unterteilt, im Gegensatz zu Bauhaus und Burg Giebichenstein, wo das Ausbildungskonzept beides gemeinsam in der Werkstatt verortete. Eine Finanzierung der Schule durch Werkstättenprodukte war nie ­angedacht, stattdessen sollten die Studierenden vom Verkauf ihrer dort hergestellten Objekte profitieren. An den Kölner Werkschulen Abb. 3–5 richtete der erste Direktor Martin Elsässer nach dem Ersten Weltkrieg Werkstätten ein, deren Ziel die gleichzeitige Unterstützung der Ausbildung verschiedener Berufsgruppen war: Handwerker*innen, selbst­ ständig entwerfende Kunsthandwerker*innen und Gestalter*innen, die für die ­industrielle Produktion arbeiten sollten. Die Werkstätten (Tischlerei, Metall, Keramik, Dekorationsmalerei, Buchbinderei, Bildhauerei, Textil, Emaille und Glas) sollten für alle Berufe als Ausbildungs- und Versuchsraum dienen. Daneben gab es Entwurfsklassen. Auch unter dem zweiten Direktor Richard Riemerschmid (ab 1926) blieben 3

Die Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin entstanden 1924 in der Zusammenlegung der Unterrichts­ anstalt des Kunstgewerbemuseums und der Hochschule für Bildende Künste unter dem Direktorat von Bruno Paul.

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die Werkstätten von Bedeutung, er baute sie sogar aus. Die gestalterische Ausbildung fand jedoch vor allem in Entwurfsklassen statt, die Werkstätten dienten als wichtige Ergänzung. Eine Eigenfinanzierung der Werkstätten durch Produktion war zwar erhofft, konnte aber nie realisiert werden. Bei den hier exemplarisch aufgeführten Reformschulen überrascht, dass sie, trotz Fortschrittsorientierung und Innovationsstreben, gerade in den Anfangsjahren der Weimarer Republik auf Mittel zurückgriffen, die aus heutiger Sicht wenig zeit­gemäß für die wirtschaftlichen Umstände nach dem Ersten Weltkrieg erscheinen: Obwohl sie unbedingt vermeiden wollten, als konservativ oder gar rückschrittlich wahrgenommen zu werden, sahen sie Anfang der 1920er Jahre trotz der immer ­umfassenderen Massenproduktion eine handwerkliche Ausbildung als grund­ legend an. Auch die Auswahl der Werkstätten, Fächer und der damit in Verbindung stehenden Materialien erinnert noch sehr an Kunstgewerbeschulen des 19. Jahrhunderts und war in den meisten Schulen sehr ähnlich: Tischlerei, Weberei, Metallwerkstatt, Druckwerkstatt, Buchbinderei, Glasmalerei etc. Die Materialien, die in der Ausbildung in den Werkstätten verwendet wurden, waren sehr traditionell: verschiedene Holzarten, auch edlere wie Ebenholz, Silber neben gewöhnlicheren Metallen, Ton und Porzellan, Glas, verschiedene textile Stoffe. Trotz der finanziellen Engpässe, die es an allen Schulen gab, durften die Schüler*innen auch mit wertvolleren Materialien arbeiten. Es entstanden Teekannen aus Silber, teilweise mit edlen Hölzern kombiniert. Zwar herrschte eben durch die finanziellen Gegebenheiten Mangel auch in der Ausstattung von Werkstätten, doch war bei Weitem nicht alles improvisiert, wie es manche Berichte, gerade über das Bauhaus, vermitteln. In den für die Kunstschulreform so wichtigen Werkstätten war die Materialauswahl damit eher konservativ. Das Experiment mit dem Material war weniger in der handwerklichen, sondern vielmehr in der künstlerischen Ausbildung verortet, wie im Vorkurs des Bauhauses. Es ist die einzige hier untersuchte Schule, für die sich ein experimentelles Vorgehen mit Material im Vorkurs nachweisen lässt. Zwar wurde auch an anderen Schulen praktische Materialkunde in Vorbereitungskursen gelehrt – in den Quellen ist jedoch leider nicht überliefert, welche Arbeiten entstanden. In den angewandten Fächern dauerte es eine Weile, bis sich neue Disziplinen in der Ausbildung etablierten. Anfang der 1920er Jahre hatte keine Schule eine ­Abteilung für Werbegrafik, Fotografie oder Industrieprodukte im Programm, obwohl diese Tätigkeiten in der Wirtschaft gefragt waren. Teilweise ist dies wohl mit dem Schock des Ersten Weltkrieges zu erklären, der die Begeisterung für die ­industrielle Produktion dämpfte. Aber die Schulen entwickelten sich im Laufe der 1920er J ­ ahre in ähnlicher Weise weiter und führten Fachklassen ein, deren Aufgabe der Entwurf von Objekten für die industrielle Fertigung war. Die Kunstgewerbeschule Stuttgart vergab bereits ab 1919 Lehraufträge für Fotografie. In anderen Schulen folgte dies dann nach und nach in der zweiten Hälfte des folgenden Jahrzehnts. Eine Abteilung für Modeentwurf für die industrielle Fertigung gab es an den Kölner Werkschulen ab 1924, worauf andere Schulen folgten. An der Burg Giebichenstein, am Bauhaus und an der Frankfurter Kunstschule wurden in den Jahren 1925/26 Werkstätten für Werbung bzw. Reklame eingerichtet. Im Bereich der Werkstätten wird deutlich, wie die Schulen nach Möglichkeiten der Ausbildung für Industriedesigner*innen suchten, doch noch nicht wussten, wie sie

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Franz Willeke, Kronleuchter, Entwurfsklasse für Industriemodelle unter Walter Maria Kersting, Kölner Werkschulen, um 1929



Franz Willeke, Bestandteile des Kronleuchters, Entwurfsklasse für Industriemodelle unter Walter Maria Kersting, Kölner Werkschulen, um 1929



Kölner Werkschulen, Klasse Bachmann, Die moderne fußlose Küche, Werkschul-Ausstellung der Kölner Messe, 1929.

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dieses Ziel erreichen sollten. Die Unterteilung zwischen Entwurf und Ausführung, die typisch für das Industriedesign ist, hatte seit den Kunstgewerbeschulen des 19. Jahrhunderts keinen guten Ruf, da genau dieses Konzept keine Absolvent*innen hervorbrachte, die in der Lage waren, qualitativ und gestalterisch hochwertige Produkte zu entwickeln. Also traten die Schulen in den 1920er Jahren einen Schritt zurück: zum Handwerk, dem sie die Kunst hinzufügten. So wollten sie auf der einen Seite einen Neuanfang, waren aber auf der anderen Seite doch verhaftet im vorindustriellen Zeitalter. Werkstätten blieben Symbol für diesen Neuanfang und dienten vor allem pädagogischen Zwecken. Es musste erst erprobt werden, welche Fähigkeiten für neue Berufsfelder ausgebildet werden mussten. Die Schulen gingen zu den Grundlagen zurück, um der Erkenntnis gerecht zu werden, dass Werkstätten allein nicht genug waren, um industrielle Güter wesentlich zu verbessern. Im Kontext der Werkstätten wurde die Rolle von freier und angewandter Kunst, ­Mechanisierung und die Frage nach der notwendigen Qualifikation Studierender diskutiert. Das Bauhaus, das seine Werkstätten als Laboratorien bezeichnete, agierte dabei nicht anders als andere Reformschulen.

Materialfragen bei Industriekooperationen Der Praxisbezug in der Ausbildung sollte neben der Werkstättentätigkeit durch Industriekooperationen gewährleistet werden. Wo, wenn nicht in einer solchen Zusammenarbeit konnten die Schulen praxisnah neue Materialien kennenlernen? Anfang der 1920er Jahre wurde die Idee der Entwicklung industriegerechter F ­ ormen in der Ausbildung geboren, obwohl an den Schulen kaum Kenntnisse der industriellen Produktion vorhanden waren (Breuer 2017: 78). Die Kenntnisse der traditionellen Materialien, die in den Werkstätten vermittelt wurden, erwiesen sich als unzureichend, denn Firmen waren in diesen Belangen viel erfinderischer. Dennoch gibt es Beispiele für erfolgreiche Kooperationen. An der Burg Giebichenstein ­arbeitete die Keramikwerkstatt unter Marguerite Friedlaender erfolgreich mit der Staatlichen Porzellanmanufaktur Berlin zusammen. In Halle wurden Modelle zur Fabrikationsreife entwickelt, in Berlin auf Verwendbarkeit für Massenproduktion überprüft und an die Produktionsbedingungen angepasst. Auch das Bauhaus ­kooperierte erfolgreich mit der Firma Rasch Tapeten und der Beleuchtungsfirma Körting und Mathiesen. Es waren einzelne Kooperationen, die mit neuen Materialien arbeiteten: 1928 stellte die WMF, die Württembergische Metallfabrik in Geisslingen eine Koope­rationsanfrage an die Kölner Werkschulen für Objekte in einer neuen Edelpatina-Technik. Dabei entstand die Kollektion Kölner Werkschulen (Burschel / Scheiffele 2006). Im Rahmen dieser Kooperation spiegeln sich jedoch auch die Probleme, die beim Aufeinandertreffen von Schule und Firma aufkamen (Archiv Technische Hochschule Köln). Die Firma war unzufrieden mit den Entwürfen, denn das Material würde nicht genug berücksichtigt, vieles müsste noch umgearbeitet werden. In Köln wurde auch mit den Deutschen Linoleumwerken kooperiert, es entstanden Linoleumteppiche und -läufer. Experimente mit neuen Materialien wie Kunststoff waren Ausnahmen und lassen sich nicht direkt in der Lehrpraxis verorten. Christian Dell entwarf während seiner Zeit als Lehrkraft an der Frankfurter

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Kunstschule für die H. Römmler AG ein stapelbares Kunststoffservice und 1929 eine der ersten Kunststoffleuchten, welche die Eigenschaften des neuen Materials ­berücksichtigte (Breuer 2017: 83f.). Während es dem Bauhaus gelang, die Werke seiner Lehrenden und Studierenden mit der Institution zu verknüpfen, war dies an anderen Schulen nicht der Fall. Auch die Futura Paul Renners, die er während seiner Zeit an der Frankfurter Kunstschule entwickelte, wird nicht mit seiner Tätigkeit dort verbunden. Die Stahlrohrmöbel Marcel Breuers, die er außerhalb des Bauhauses entwickelte, werden hingegen mit der Schule in Verbindung gebracht (Neurauter 2013: 320–324).

Fazit Obwohl sich die reformierten Kunstschulen der 1920er Jahre von den Kunstgewerbeschulen des 19. Jahrhunderts abgrenzen wollten, arbeiteten sie doch in den Werkstätten, die eine grundlegende Bedeutung für die Ausbildungspraxis hatten, mit sehr klassischen Materialien: Metall, Holz, Keramik, Textil, Papier. Der Gedanke der handwerklichen Grundlage aller künstlerischen Tätigkeit findet sich an allen hier untersuchten Schulen, auch wenn die Umsetzung in verschiedener Weise erfolgte. Die sogenannte Bauhaus-Idee, die Handwerk, Werkstätten und künst­ lerische Ausbildung miteinander vereinen wollte, war nicht einzigartig. Werkstätten in Kombination mit Elementen akademischer Ausbildung wie Aktzeichnen und Malereikursen waren schon in den Kunstgewerbeschulen des 19. Jahrhunderts ­üblich. Auch die Industriekooperationen führten nur begrenzt dazu, mit neuen Materialien zu experimentieren. Oft wussten die Schüler*innen nicht, wie Material industriell verarbeitet wurde. Auf dem Feld der angewandten Kunst sind somit keine speziellen Veränderungen im Materialeinsatz festzustellen und die Werkstättenpraxis war eher konservativ. Stattdessen verlor die Arbeit mit dem Material ab Mitte der 1920er Jahre an ­Bedeutung: Die Studierenden sollten sich zwar mit Stoffen und handwerklichen Techniken auskennen, aber auf oberflächlicher Basis. In der Entwicklung des Feldes Produktdesign – und das war letzten Endes das Ziel der Schulen, wenn auch der Begriff noch unbekannt war – führte dies in Ansätzen wieder zur Idee der Trennung von Entwurf und Ausführung, so wie es im Prinzip schon die Kunstgewerbeschulen im 19. Jahrhundert praktizierten. Den Schulen ging es bei einer zentralen Reformidee der künstlerischen Ausbildung, dem Praxisbezug in Form von Werkstätten und Industriekooperationen, letztendlich vielmehr um die Gestaltung neuer Formen als um die Entwicklung von Gestaltungen, die den Eigenschaften neuer Materialien gerecht werden. ­Materialexperimente kamen weniger im angewandten Bereich vor, sondern vor allem im künstlerischen: im Vorkurs am Bauhaus beispielsweise. Auch bei Industriekooperationen waren es nicht in erster Linie die Materialien, mit denen gearbeitet wurde – es ging um einen Entwurf, also um die Erstellung einer Form. Die freie Kunst, die an den Reformschulen in Ablehnung der akademischen Künstlerausbildung programmatisch zurückgestellt war, hatte letzten Endes einen höheren Stellenwert als die Werkstättentätigkeit. Der kreative Entwurf (auf dem Papier)

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stand vor der handwerklichen Arbeit mit dem Material. Im Bereich Werkstätten agierte das Bauhaus im Bezug auf Materialien nicht herausragend. Die Erprobung neuer Materialien wie Kunststoff oder Linoleum lässt sich eher an den Kölner Werkschulen oder der Frankfurter Kunstschule feststellen. Obwohl das Bauhaus heute als Designschule gilt, waren es die künstlerischen Aspekte – die Materialexperimente im Vorkurs von Johannes Itten beispielsweise, oder die Einstellung von künstlerischem statt kunstgewerblichem Lehrpersonal – die letztlich zu den Besonderheiten der Schule zählen. Die Betrachtung des Bauhauses im Kontext anderer zeitgleicher Schulen macht deutlich, wie sehr es Teil einer Strömung war. Im Hinblick auf seine Errungenschaften und Ideen im Bereich des Materialspektrums der Werkstätten und Industriekooperationen ist anhand eines Vergleiches festzustellen, dass das Bauhaus nicht herausragend agierte, wie es die Schule in seiner Öffentlichkeitsarbeit darstellte und wie die Bauhausprotagonisten es nach dem Zweiten Weltkrieg dann zu vermitteln versuchten (Haus 1994). Nicht während der Existenzzeit des Bauhauses, sondern erst in der späteren Rezeption konnten die Designklassiker aus den Werkstätten ihre Wirkung entfalten.

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Bildnachweise

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Joppien, Rüdiger (1982): Die Kölner Werkschulen 1920– 1933 unter besonderer Berücksichtigung der Ära Richard Riemerschmids. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Jg. 43, S. 247–277, hier S. 269.

5 Ausst.-Kat. Werkkunst. Berlin 1927. Berlin, Vereinigte Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst, o.S. Biografie

Alexandra Panzert, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theorie/Kunst- und Designgeschichte an der Designfakultät der Hochschule Hannover. Aktuell Arbeit am Promotionsprojekt Das Bauhaus im Kontext. Kunst- und Gestaltungsschulen der ­Weimarer Republik im Vergleich. Forschungsschwerpunkte: Künstlerausbildung in der Moderne; Selbstdarstellung und Rezeption der Avantgarde; Beziehungen zwischen Kunst und Design in Zentraleuropa in den 1920er Jahren.

Carolin Höfler

 «Jeder Mensch ist tast- und raum-sicher» Über die haptische Erfahrbarkeit virtueller Umgebungen

Die Erforschung der taktilen und haptischen Wahrnehmung erfährt seit Beginn des 21.  Jahrhunderts eine bemerkenswerte Konjunktur. Zahlreiche Ansätze in den ­Bereichen Mensch-Computer-Interaktion, Virtual Reality (VR) und Game Design nehmen die kunsttheoretische und ästhetische Nobilitierung des Tastsinns zum eigentlichen Realitätssinn auf, ohne jedoch die vermeintliche Omnipotenz des Auges infrage zu stellen. Aktuelle medientechnische Bestrebungen sind von dem Ziel geleitet, die visuelle Wahrnehmung digitaler 3D-Welten durch zueinander passende und einander ergänzende Tasteindrücke zu verstärken. Dabei gewinnt die Berührung von physischen Materialien und Strukturen zunehmend an Bedeutung, vor allem dann, wenn der am Kopf montierte Bildschirm die Sicht auf die zu ertastenden Dinge nimmt. Indem sich Displayträger*innen die virtuelle Welt durch körperliche Bewegung und Berührung erschließen, werden charakteristische ­Eigenschaften physischer Raumerfahrung nachgebildet und damit die Suggestivkraft der Virtual Reality wesentlich gesteigert (Zenkert 2019: 51). Der Wunsch, an einer technischen, primär visuell wahrgenommenen Welt mit allen Sinnen teilzuhaben, ist nicht so neu wie die sensorischen Virtual-Reality-Systeme, die seine Erfüllung verheißen. Der Wunsch äußert sich auch in den Material- und Strukturforschungen am Bauhaus der 1920er Jahre sowie in den dort geführten Debatten, die sich mit dem Wandel menschlicher Apperzeption in der modernen Gesellschaft befassten. Die Sehnsucht nach Verknüpfung der virtuellen mit der physischen Raumerfahrung wird im Folgenden durch die Gegenüberstellung von

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haptisch-taktilen Wahrnehmungsexperimenten in VR-Laboren und solchen am Bauhaus konturiert, wobei der Vergleich ein neues Licht auf beide Phänomene werfen soll. Dem Vergleich zugrunde liegen architekturpsychologische und raumphänomenologische Ansätze des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ebenso für die Untersuchung der Konstruktionen virtueller Welten fruchtbar gemacht werden sollen. Der vorliegende Beitrag nimmt die Prominenz des Haptisch-­Materiellen in gegenwärtigen VR-Spielen und Experimenten zum Ausgangspunkt, um vor der Gedankenfolie dieser Ansätze über Versprechungen und Enttäuschungen sensorischer Feedbacksysteme nachzudenken und alternative Gestaltungen physischvirtueller Handlungsräume zu diskutieren.

Trompe-corps Als Facebook, Samsung, Google und HTC vor wenigen Jahren ihre neu entwickelten VR-Brillen für den globalen Massenmarkt ankündigten, riefen sie eine Denkfigur auf, die seit den 1920er Jahren für diskursive Aufregung gesorgt hatte: Sie prophezeiten die Utopie einer virtuellen Realität, die von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheidbar sei (Höfler 2018). Unter Zuhilfenahme von Head-Mounted-Displays der neuesten Generation, so lauteten ihre Werbeslogans übereinstimmend, würde der Wunsch endlich erfüllt, eine bildlich dargestellte Welt als betret- und erlebbare räumliche Realität zu erfahren. Anlass zur Hoffnung auf Realitätssteigerung gab vor allem die Kombination von zwei technischen Verfahren: des stereoskopischen Seheindrucks und des verzögerungsfreien Nachvollziehens von Kopfbewegungen. Beide Verfahren fördern die Vorstellung, in einem täuschend echt gestalteten ­Erlebnisraum zu sein und dort mit Akteur*innen und Dingen zu interagieren. Das Versprechen von der Aufhebung der Diskrepanzen zwischen virtueller und physischer Realität weckt unmittelbar Assoziationen an die prophetische Beschreibung des Ultimate Display von Ivan E. Sutherland aus dem Jahr 1965, wonach virtuelle Erfahrungen möglich seien, die auch die Sinne überzeugen würden: The ultimate display would, of course, be a room within which the ­computer can control the existence of matter. A chair displayed in such a room would be good enough to sit in. Handcuffs displayed in such a room would be confining, and a bullet displayed in such a room would be fatal […]. (Sutherland 1965: 508) Die Vorstellung eines solchen vollständig technisch kontrollierten Raumes, der jedes virtuelle Objekt haptisch nachbilden kann und fühlbar werden lässt, entwickelte bereits Marcel Breuer in seiner Collage ein bauhaus-film. fünf jahre lang, die 1926 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift bauhaus veröffentlicht wurde. Abb. 1 ­Breuers Filmstreifen zeigt die gestalterische Entwicklung seines Stuhldesigns vom handgefertigten Objekt über den industriellen Prototypen bis hin zu einer Zukunft, in der das gestaltete Objekt obsolet wird und verschwindet. «Am Ende», so ­Breuer, «sitzt man auf einer elastischen Luftsäule» (Breuer 1926: 3).

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Marcel Breuer, ein bauhaus-film. fünf jahre lang, 1926, Fotocollage, Bauhaus-Archiv Berlin.

Auch heute werden in den Virtual-Reality-Diskursen jene Einheits- und Vermischungsmetaphern bemüht, die schon die Debatten in den 1920er und 1960er Jahren begleitet haben: Mehr denn je dominiert in den Forschungs- und ­Entwicklungsbereichen Human-Computer Interaction, Virtual und Augmented Reality sowie Game und Interaction Design die Vorstellung von einer nahtlosen Verschmelzung des physischen mit dem virtuellen Raum in einer Mixed Reality. In einer solchen vermischten Realität wird entweder die physische Umgebung um virtuelle Informationen angereichert – wie in Augmented-Reality-Szenarien – oder die virtuelle Umgebung um physische Informationen erweitert – wie etwa in Virtual-­ Reality-Anwendungen, die mit haptischem Feedback arbeiten. Beide Ausprägungen würden Zwischenstadien im so bezeichneten reality-virtuality continuum bilden, wie es die Forscher Paul Milgram und Fumio Kishino in ihren Schriften der frühen 1990er Jahren erläutert haben (Milgram u.a. 1994: 283).

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 «Jeder Mensch ist tast- und raum-sicher»

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Toast VR, Richie’s Plank Experience, 2016, Virtual-Reality-Spiel, Screenshot.

Toast VR, Richie’s Plank Experience, 2016, Ausstellungsansicht, Frankfurter Kunstverein, 2017, Foto: Norbert Milguletz.

Im Mittelpunkt des Diskurses über die Vermischung der realen mit der virtuellen Welt steht die holistische Vorstellung, wonach der physische Raum zusammen mit der virtuellen Sphäre einen Gesamtraum bildet. Den Verfechter*innen der Fusionsidee zufolge wird dieser Gesamtraum vor allem visuell erfahren. Aktuelle Entwicklungen von Virtual Reality suchen diese ganzheitliche Raumsicht zu steigern, indem sie weitere Sinneswahrnehmungen zur Unterstützung des visuellen Eindrucks aktivieren. Was die neuen VR-Installationen und Experimente eint, ist ihr besonderes Verhältnis zur Physis der Rezipierenden, welche die virtuelle Szene nicht nur betrachten, sondern mit dem ganzen Körper erfahren (Frankfurter Kunstverein 2017). Die ­virtuelle Welt soll einerseits durch den Einsatz realweltlicher Elemente verstärkt werden, andererseits soll sie reiner und intensiver erscheinen als die physische Welt. Um diesen Bewusstseinszustand gesteigerter Wahrnehmung zu erreichen, werden Elemente virtueller 3D-Umgebungen physisch materialisiert und in das VR-Setting integriert. Eine solche Arbeit, welche die sinnliche Wahrnehmung in dieser Weise zu vertiefen sucht, ist Plank Experience des australischen Spieleentwickler-Kollektivs Toast VR (Toast VR 2016). Mit einer VR-Brille auf dem Kopf findet sich der Spieler in Abb. 2 in einer Großstadt wieder und begibt sich in den virtuellen Aufzug eines Wolkenkratzers. Die Tür öffnet sich hoch über einer Skyline. Ein Balken ragt über den Abgrund. Im physischen Präsentationsraum liegt auf dem Boden nur ein Holzbrett, auf dem der Displayträger balanciert. Doch durch die Bilder, die er in seiner Brille sieht, wirkt es so, als trete er auf einen lebensgefährlich ungesicherten Schwebebalken, zumal ihm ein Ventilator Wind ins ­Gesicht bläst. Er schaut mit

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der Brille in schwindelerregende Tiefen, der Wind weht stärker. Abb. 3 Der Körper reagiert energisch. Der Displayträger tastet mit dem Fuß in den Abgrund – der ist hart und stabil, aber die Bilder zeigen ihm, dass er stürzt. Aktuell entstehen zahlreiche VR-Projekte, die nicht nur das Auge, sondern auch andere Sinne stimulieren wollen. Bei der Arbeit Swing VR von Christin Marczinzik und Thi Binh Nguyen setzt man sich mit einer VR-Brille auf eine Schaukel und schaut in eine fantastische Landschaft (Marczinzik/Nguyen/Herbst 2015). Je stärker man schaukelt, desto höher fliegt man. Die Einbeziehung der Rezipient*innen in die fiktive Raumszene erfolgt hier nicht nur über immersive Bilder, sondern auch über ihre körperlichen Bewegungen, mit denen die Bilder gesteuert werden können. Wer wen oder was antreibt, und was Ursache und Wirkung im Verhältnis zwischen Mensch und Maschine sind, lässt sich hier nicht mehr eindeutig bestimmen. Bei all diesen medialen Installationen gehe es, wie der Architekturkritiker Niklas Maak jüngst feststellte, um eine Verstärkung der Körperwahrnehmung und darum, das Wissen um die realphysische Umgebung zurückzudrängen: «Dem klassischen ‹Trompe-l’œil› folgt jetzt das ‹Trompe-corps›» (Maak 2018). Aber erschöpfen sich die Szenarien tatsächlich darin, den Körper der Rezipient*innen zu täuschen, wie bei der Darstellung großer Höhe? Geht es nicht auch darum, mit dem Körper w ­ ieder einen Bezug zur physischen Welt herzustellen? Arbeiten wie Plank Experience oder Swing VR zielen nicht nur auf eine Täuschung des Körpers durch das Bild, sondern auch auf eine Verwirklichung des Bildes durch den Körper. Das Bild erfährt seine Realisierung, wenn die Betrachter*innen etwa auf einem echten Boden stehen oder auf einer echten Schaukel sitzen, auch wenn diese Dinge visuell und räumlich anders dargestellt werden. Die sensorischen und motorischen Wahrnehmungen, die Gleichgewichts- und Ungleichgewichtserfahrungen binden den Körper an den physischen Raum zurück. Der Blick hingegen bleibt entfesselt: Das zu Sehende wird von der realen Umgebung getrennt und durch eine sichtbar konstruierte Bildwelt ersetzt, die wiederum von anderen Sinneswahrnehmungen wie dem Spüren von Flugwind bestätigt wird (Frankfurter Kunstverein 2017). Auf diese Weise lösen die digitalen Bilder heftige körperliche Reaktionen aus. Die Erinnerung an ein ­Erlebnis im virtuellen Raum ist dabei oft intensiver als die Erinnerung an ein Ereignis im physischen Raum. Involviert in die interaktiven Bewegtbilder, bringt der Körper, im Sinne des Enaktivismus, ein Erlebnis im virtuellen Raum aktiv gestaltend hervor, wodurch es nicht als virtuelle Imagination, sondern als reale Erfahrung ­abgespeichert wird (Breyer 2016: 43). Dadurch verschieben sich die Bedeutungen, welche die Rezipient*innen den physischen und medial vermittelten Sinneseindrücken zuweisen. Von hier ausgehend drängt sich die Frage auf, wie sich die Wahrnehmung verändert, wenn der physische Raum, in dem sich ein*e Displayträger*in befindet, nicht durch fiktive Bildwelten ersetzt, sondern digital konstruiert wird und mittels VR-Brille betrachtet und gesteuert werden kann. Ebenso lässt sich fragen, wie sich die Wahrnehmung verändert, wenn Aspekte des virtuellen Raumes physisch nachgebildet und damit haptisch erfahrbar werden. VR-Brillen erwecken dann den Anschein, durchsichtige Augengläser zu sein, indem sie die Betrachter*innen in ein fotorealistisches, stereoskopisches Digitalmodell der realen Umgebung blicken lassen.

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Dialogische Räume Eine solche Engführung der Wahrnehmungen versprechen gegenwärtig vor allem VR-Parks, die jüngst im Game- und Freizeitbereich entstanden sind. Im Jahr 2016 errichtete das US-Start-up mit dem sprechenden Namen The Void einen Vergnügungspark in Pleasant Grove, Utah, bei dem Komponenten der virtuellen Spielräume physisch materialisiert wurden (Gruber 2015). Die Besucher*innen tragen eine Rapture HMD genannte Datenbrille mit zwei geschwungenen, extrem hochauflösenden Bildschirmen, integrierten Kopfhörern und einem Mikrofon. Zusätzlich ziehen sie eine Weste und Handschuhe an, die zahlreiche Sensoren für haptisches Feedback und Bodytracking enthalten. Mit der am Körper angelegten Hardware durchschreiten sie ein Ensemble physisch gebauter Räume, die wiederum mit zahlreichen Bewegungs- und Interaktionssensoren ausgestattet sind. Das Herzstück von The Void ist ein Spielfeld namens Gaming Pod, ein bis zu 330 Quadratmeter großes System aus Gängen, worin sich die Spielenden frei bewegen können, ohne Gefahr zu laufen, gegen ein Hindernis zu stoßen. Der freie Lauf ist möglich, weil die physischen Begrenzungen und Objekte des Spielfelds integrale Bestandteile der digital konstruierten Bildräume sind. Die echte Spielarchitektur ist digital nachmodelliert und wird als Visualisierung in die VR-Brille eingespielt, wo sie mit interaktiven Bewegtbildern von Texturen und 3D-Figuren überlagert wird. Abb. 4 Die Bildprojektionen erscheinen ausschließlich im virtuellen Raum, wohingegen die Handlungen der Spieler*innen gleichzeitig im physischen wie virtuellen Raum ausgeführt werden. In diesem Setting greifen die mit Display und Wearables ausgestatteten Besucher*innen körperlich und digital in den Spielverlauf ein und steuern tastend die beweglichen Lichtbilder, die auf die digitalen Raumflächen projiziert werden. Das Verfahren, detailreiche virtuelle Bildinformationen im Vordergrund mit detailärmeren physischen Raumformen im Hintergrund zu verbinden, knüpft an moderne Formen der Raumbildung an, für deren Beschreibung der Bauhausmeister László Moholy-Nagy 1929 die Begriffe des «lichtdiagramms» und des «virtuellen volumens» (Moholy-Nagy 1929: 166f., 170, 175) fand. Die Virtual-Reality-Umgebungen lassen sich als zeitgenössische Versionen der städtischen Lichtarchitekturen und - reklamen mit verschwindender und neuerscheinender Lichtschrift b ­ etrachten. Abb. 5 In dem Bauhausbuch von material zu architektur entschlüsselte Moholy-­Nagy den ästhetischen Funktionalismus einer kommerziellen Unterhaltungsindustrie, die ihre Symbolik auf die visuelle Wahrnehmung ihrer Kund*innen aus dem Automobil oder als Fußgänger*innen ausrichtete. Während die Trägerarchitekturen eine einfache Gestalt aufweisen, sind deren Botschaften aufwendig gestaltet und ­offensiv an Fassaden oder auf Dächern angebracht – als übergroße Werbetafeln und Leuchtzeichen. Bildumwelten wie The Void erscheinen als eine nochmals gesteigerte Version der städtischen Lichtdiagramme der 1920er Jahre. Die digitalen Zeichen, welche die gebauten Kulissen wie eine virtuelle Haut überziehen, sind individuell an die sich bewegenden Betrachter*innen angepasst, dynamisch ­veränderbar und durch interaktive Berührung steuerbar. Das grundlegende Versprechen von The Void besteht in der totalen Immersion, bei der die visuelle Erfassung durch zueinander passende und einander ergänzende

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4 a–b

Ein Spieler im VR-Park The Void und seine ­Displayansicht, Pleasant Grove, Utah, 2015. Stills.

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lichtdiagramm. eine szenenverdichtung der großstadtnacht, 1929.

Sinneswahrnehmungen im physischen Raum verstärkt wird. Spezifische Einrichtungen und Apparaturen sorgen dafür, dass die Spieler*innen Temperatur wie Feuchtigkeit empfinden, Vibrationen fühlen, Gerüche wahrnehmen und Objekte ertasten können. Doch welche Auffassung der Sinne und ihrer Eigenarten liegt dem Versprechen der Totalimmersion zugrunde, deren Virtualität unbemerkt bleiben soll? Was bedeutet es für die Wahrnehmung, Orientierung und Navigation, wenn bildlicher Sehraum und physischer Tastraum voneinander getrennt werden und durch digitale, in Echtzeit generierte Bewegtbilder des umgebenden Raumes wieder zusammengeführt werden? Es handelt sich bei diesem Zusammenspiel

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weniger um eine Verschmelzung von physischem Hier und virtuellem Dort, wie es metaphorisch oftmals heißt, als vielmehr um die besondere Wahrnehmung einer Schwellensituation zwischen Körper und Bild, zwischen physischem Raum und virtueller Sphäre. Welche Formen von Zuordnungen werden entwickelt, wenn der bildlich dargestellte Raum zwar den Größendimensionen des physisch gebauten Umraumes entspricht, aber dennoch andere materielle und haptische Qualitäten aufweist? Welche Wahrnehmungsverschiebungen und Skalierungseffekte entstehen, wenn – wie bei The Void – eine Kulissenarchitektur von einfacher Form und Materialität erspürt, aber ein dichter, fluider Informations- und Lichtraum gesehen wird? Kann die Empfindung durch Imagination ersetzt werden?

Wirklichkeitswert der Sinne Physisch-digitale Environments wie The Void gehen von einem ganzheitlich orientier­ten Modell der Sinnesstruktur aus, wonach die Sinne, die jeweils einem spezifischen Feld der Wahrnehmung zugehören, synthetische Leistungen in der Konstitution von Raum erbringen. Es ist diese herkömmliche Vorstellung von der Einheit und Gewichtung der Sinne, die heute den Einsatz und die Interpretation von VR-Verfahren motiviert und prägt. Obgleich Sinnesempfindungen intensiv miteinander verknüpft werden, liegt den physisch-digitalen VR-Environments – vor allem im Game- und Unterhaltungsbereich – ein Wahrnehmungsmodell zugrunde, bei dem das Sehen hierarchisch über den anderen Möglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung rangiert. Dies äußert sich beispielsweise darin, dass die physischen Objekte und Raumbegrenzungen auf einfache Außenkonturen reduziert werden, wohingegen die interaktiven Bewegtbilder an Detaillierung und Komplexität ­zunehmen. Mit dem bildschirmbasierten stereoskopischen Sehen, das auf eine Steigerung und Intensivierung der visuellen Wahrnehmung zielt, deutet sich eine Rekonzeption und radikale Erweiterung der traditionellen Sinneshierarchie an, an deren Spitze das Sehen steht. Denn die Ordnung, die dem Sehsinn eine Vorrangstellung zuweist, ist durch mobile Displaytechniken bestimmt. Die erneute Debatte über das Zusammenwirken körperlicher und kognitiver Leistungen bei der Raumerfahrung lässt sich als Fortsetzung einer Traditionslinie verstehen, die ihren Anfang in der sensualistischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts nahm. Innerhalb dieser Traditionslinie wurden kunst- und architekturtheoretische sowie philosophische Perspektiven auf den Raum entwickelt, der nur mehr abhängig von den Rezipient*innen und der Gesamtheit ihrer Wahrnehmungs- und Gefühlsregungen existiert (Gleiter 2008: 113–126). Bestimmend hierfür ist die Vorstellung einer gefühlsmäßigen Verschmelzung von Subjekt und Objekt in der ästhetischen Wahrnehmung, für die Robert Vischer 1872 den Begriff der Einfühlung prägte (Vischer 1873: VII; 18–33). Statt weiterhin tradierten Verfahren der Repräsentation, des Ornaments und der Ikonografie zu folgen, zielten die Bestrebungen dahin, die Architektur im Kontext der synästhetischen, optisch-taktilen Wahrnehmung zu rekonzeptualisieren. Einsicht in einen solchen Perspektivwechsel lieferten exemplarisch die Aufsätze Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur von Heinrich Wölfflin (1886), Ueber den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde von August

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Schmarsow (1896) und Das räumliche Sehen von Paul Klopfer (1919). An die Stelle eines fixen Raumprinzips tritt hier ein dynamisches Prinzip, wonach Raum im Moment der Wahrnehmung hergestellt wird. Die ­Vorstellung sich bewegender, aktiver Rezipient*innen gilt als Voraussetzung für diese Art der Raumbildung. Im Übergang vom Tastraum als «Daseinsform» zum Gesichtsraum als «Wirkungsform» finde die räumliche Erfahrung statt (Schmarsow 1896:  50). Durch die Bewegung des Körpers ­entstünden «fliessende [sic] Erinnerungsbilder», die in der subjektiven Anschauung zum Raum generiert würden (ebd.: 55, 59). Systematischer und unter Zurückweisung des Psychologismus entwickelte der Philosoph Edmund Husserl die Vorstellung von der sensomotorischen Verknüpfung aller Sinne und der sinnlich-leiblichen Verfasstheit der Wahrnehmung. Die ­moderne Phänomenologie des Raumes, wie sie Husserl in seinen Vorträgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet hat, geht davon aus, dass der Eindruck der Räumlichkeit mit dem Bewusstsein der eigenen Körperbewegung zusammenhängt und das Ergebnis einer Wahrnehmungssequenz in Bewegung ist (Husserl 1973: 155f.). Bezugnehmend auf diese phänomenologischen und psychologischen Ansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersuchte der ungarische Philosoph Alexander Gosztonyi die Eigenarten der einzelnen Sinne (Gosztonyi 1972: 67–97). Dabei betrachtete er nicht nur die fünf klassischen Sinne wie Gesichts-, Gehör-, Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn, sondern auch die «Sinne des Körpergefühls», von denen «der Vibrationssinn, der Temperatursinn, die Sinne für Gleichgewicht, für Schwere und die Tiefensensibilität» (ebd.: 67f.) die wichtigsten seien. Sein Interesse richtete sich dabei auf die Frage, wie die unterschiedlichen Sinne miteinander konkurrieren oder sich verbinden. Konstitutiv für das vorherrschende physiologisch-rationale Verständnis von Human-­ Computer Interaction, Virtual und Augmented Reality sowie Game und Interaction Design ist vor allem Gosztonyis Betonung des «Wirklichkeitswertes», den jeder Sinn in zweifacher Sicht habe: Jeder Sinn verfüge über einen «Realitätswert» und einen «Evidenzwert» (ebd.: 68). Der Tastsinn als Nahsinn habe einen hohen Realitätswert, weil er den materiellen Widerstand erleben lasse, wohingegen der ­Gesichtssinn einen geringen Realitätswert habe. Der Gesichtssinn als Fernsinn habe wiederum einen hohen Evidenzwert, weil er imstande sei, Übersicht und Einsicht in formale Zusammenhänge zu vermitteln. Erst das Zusammenspiel von Realitäts- und Evidenzwert mache den Wirklichkeitsgrad der wahrgenommenen Umgebung aus. Auch wenn Gosztonyi die wechselseitigen Wirkverhältnisse der Sinne als Voraussetzungen für die Konstruktion von Wirklichkeit betrachtete, ging er von einer hierarchischen Sinnesordnung aus: «Der Tastsinn ist nicht dominant […]. Der Sehende ordnet das Ertastete den Sehformen unter und ordnet die Tastqualitäten und die Tastformen in das Sehfeld ein» (ebd.: 81). Solche tradierten Vorstellungen von der Eigenart und Hierarchie visueller und taktil-haptischer Sinneswahrnehmungen wirken in den Diskussionen um physische und virtuelle Realitäten fort. Die Vorstellung des Tastsinns als ein wenig prägnanter Drucksinn, der umso stärker Realität erzeugt, bestimmt gegenwärtig die Gestaltung mobiler Endgeräte und interaktiver Umgebungen, deren physische Schnittstellen haptisches Feedback geben. Die Tastformen sind im Unterschied zu den Sehformen nur schwach ausgebildet.

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Zirkuläres Gehen Die wechselseitigen Verstrickungen von digitalem Bild und physischer Berührung, von visueller Ansicht und haptischem Eindruck der VR-Umgebungen verändern grundlegend die Vorstellung und Gestaltung des architektonischen Raumes. In den Fokus des Entwurfsinteresses gerät zunehmend die Konstruktion spezifischer Handlungsräume, die durch das Zusammenspiel von menschlichen Körpern, technischen Dingen und physisch-digitalen Umwelten entstehen. Zum einen werden die gebauten Räume durch Chips, Tags und Sensoren mit den Körpern und Dingen vernetzt, zum anderen werden sie auf bestimmte Sinneswahrnehmungen hin ­entworfen. Das bedeutet, dass raum- und objektbegrenzende Flächen im physischen Setting so geformt werden, dass sich angenommene oder erwünschte Sinneswahrnehmungen, Raumerfahrungen und Verhaltensweisen im Virtuellen einstellen. Die gestaltungsleitende Frage zielt dann auf die Parameter, die der physische Raum erfüllen muss, damit die Benutzer*innen einer VR-Brille den ­virtuellen Raum als real akzeptieren. Wie muss ein physischer Raum geformt sein, damit der Eindruck des körperlichen Eintauchens, Kontrollierens und Intervenierens in virtuellen Welten gestärkt wird? Diese Frage geht von der Annahme aus, dass Displayträger*innen vor allem dann den virtuellen als physischen Umraum akzeptieren, wenn sie sich möglichst natürlich in ihm bewegen können. Doch die Körperwahrnehmung ist mitunter trügerisch, wenn den Rezipierenden die Sicht auf den zu ertastenden Raum verwehrt wird. Durch die visuell intensivierte Wahrnehmung können andere körperliche Erfahrungen abgeschwächt werden: Zwischen einem in Wirklichkeit abgeschrittenen und einem gleichzeitig virtuell vollzogenen Weg können große Unterschiede bestehen, ohne dass dies den Rezipierenden auffallen muss. Von dieser Diskrepanz zwischen physischer und virtueller Bewegung ist der Ansatz des redirected walking im Bereich der VR-Entwicklung motiviert (Steinicke 2016: 59-86). Ausgangspunkt hierbei ist die Erkenntnis, dass Displayträger*innen beim Gehen relativ unempfindlich gegenüber Kurven sind und Entfernungen in virtuellen Welten schlecht einschätzen können. Mit verbundenen Augen oder einer VR-­Brille geradeaus zu gehen, endet gewöhnlich darin, dass Proband*innen eine kleine Kurve laufen, ohne dies zu bemerken. Diese Beobachtungen werden für die Konstruktion von physisch-digitalen VR-Environments nutzbar gemacht, vor allem dann, wenn die physische Gehfläche gegenüber der virtuellen Weite beschränkt ist. Displayträger*innen werden dann physisch um eine Kurve geführt, während sie glauben, in der virtuellen Welt geradeaus zu gehen. Studien zufolge ist ein Radius von rund 22 Metern notwendig, damit die Displayträger*innen nicht merken, dass sie eigentlich im Kreis laufen (ebd.: 77). Eine typische Raumkonfiguration, die das Gehen permanent umleitet, stellt der Unlimited Corridor dar, den Ingenieure und Informatiker der University of Tokyo in Kooperation mit dem US-Unternehmen Unity Technologies im Jahr 2016 entwickelten (Matsumoto u.a. 2016: 1f.). In dieser räumlichen Installation berührt der Displaytragende ständig mit einer Hand die Korridorwand, um die Glaubhaftigkeit der virtuellen Umgebung zu verbessern. Abb. 6 Auch dieses Experimentalsystem geht von der Annahme aus, dass sich VR-Anwender*innen dann am besten in

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Keigo Matsumoto & Team, Unlimited Corridor, 2016, University of Tokyo.

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Microsoft, VR-Handsteuerungsgerät Haptic Revolver, 2018.

­ nbekannten virtuellen Welten orientieren können, wenn sie möglichst viele senso­ u rische Eindrücke erhalten. Die Seheindrücke verschränken sich hier mit Bewegungs- und Tasterfahrungen. Die Konfiguration des Unlimited Corridor ist von einer Ideologie bestimmt, die unterstellt, dass Raumwahrnehmung und Raumbewegung den Sinneseindrücken folgen. Von dieser Vorstellung sind die aktuellen multisensorischen VR-Settings im Game- und Interaction-Bereich maßgeblich geprägt. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig die stofflichen und haptischen Eigenschaften des real gebauten Raumes und der physischen Dinge in solchen Settings berücksichtigt werden.

Haptisches Sehen Der Umgang mit haptischem Feedback in avancierten VR-Anwendungen spiegelt die Polarisierung wider, welche die Debatten über den Tastsinn bisher gekennzeichnet hat – sowohl in der europäischen Philosophie als auch in der wissenschaftlichen Erforschung (Harrasser 2017: 8f.). Auf der einen Seite wird das Tasten zugunsten des Sehens regelmäßig abgewertet und diesem untergeordnet, in der Annahme, dass der Tastsinn mit einer Vielzahl von Affektmodulationen verknüpft ist, und Berührung besonders heftige, unkontrollierte Reaktionen aufruft. Auf der anderen Seite lässt sich eine Art Berührungsmetaphysik beobachten, in der dem Tastsinn eine privilegierte Stellung im Zugang zur Wahrheit zukommt – Jacques Derrida sprach einst von «Haptometaphysik» (Derrida 2000: 179f.). Reflexhaft wird hier das Tasten mit Authentizität assoziiert. Die Berührung fungiert quasi als letzte Instanz der Gewissheit – im Sinne von: was mich berührt, ist wahr. An dieses Realitätsversprechen knüpfen die neuen VR-Devices an: Um den Wirklichkeitsgrad einer 3D-Spielumgebung zu steigern, die über eine VR-Brille erfahren wird, entwickelte der amerikanische Hersteller Microsoft jüngst den Haptic Revolver (Whitmire u.a. 2018: 3, 6, 8, 10). Mit diesem Handgerät können die Display­ träger*innen in einem virtuellen Pokerspiel unterschiedliche Materialien von der Spielkarte über die Plastikmarke bis zum Filzteppich erspüren. Abb. 7 Der haptische Revolver enthält ein kleines Rad, das rotiert und mit verschiedenen stofflichen

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Disney Research, Feedback-Technologie AIREAL, 2013, Los Angeles.

Texturen belegt ist. Greift ein*e Displayträger*in virtuell nach einer Spielkarte, dreht sich das Rad mit dem passenden Material unter dem Zeigefinger, wodurch der Eindruck vermittelt werden soll, als ob eine physische Spielkarte berührt würde, die über eine Tischfläche gleitet. Die Bewegung wird hier von der Hand auf das Material verlagert und die Berührungsempfindung nur ungenau nachgebildet. Die Abschwächung der materiellen Erfahrung zugunsten des bildlichen Eindrucks geht noch weiter: Mit neuartigen Feedbacksystemen werden die haptisch-taktilen Eigenschaften eines Objektes von seiner physischen Form und Stofflichkeit entkoppelt und in Luftdruckimpulse oder Ultraschallsignale übertragen. In Kombination mit einer Gestensteuerung ermöglicht beispielsweise das Gerät AIREAL von Disney Research, dass ein*e Displayträger*in von virtuellen Objekten im Raum berührt wird – etwa von einem Schmetterling, der auf den virtuellen Arm projiziert wird (Sodhi u.a. 2013: 7; Rupert-Kruse 2018: 203–205). Um diese haptischen Empfindungen hervorzurufen, werden innerhalb des Gerätes stabile Luftwirbelringe produziert, die mit unterschiedlicher Intensität, Reichweite und Größe auf die Anwender*innen geschossen werden. Abb. 8 Noch flüchtiger und gleichsam immateriell wirkt das System UltraHaptics, wenn es haptisch-taktile Empfindungen per Ultraschall auslöst (Carter u.a. 2013: 2–4). Dabei führt ein*e Displayträger*in die Hand über ein Array von kleinen Lautsprechern, die gezielt Ultraschallsignale senden. Die Signale werden als leichte Vibrationen auf der Haut wahrgenommen, sodass man meint, dreidimensionale Oberflächen zu fühlen. Der Anspruch solcher Force-Feedback-Technologien ist es, den Wirklichkeitsgrad des Dargestellten zu erhöhen. Aber was für eine Vorstellung von Wirklichkeit wird gezeichnet, wenn die fühlbaren virtuellen Objekte und Flächen keinen haptischen Widerstand bieten? Bildlichkeit und Materialität werden in diesen Fällen nicht etwa intensiv miteinander verschränkt, sondern das Physische diffundiert bei diesen Technologien zunehmend in das Virtuelle. Dabei wäre eine Performance wünschenswert, die das mögliche Verhältnis zwischen physischer und virtueller Realität beständig rekonfiguriert und so neuartige tastbildliche wie tasträumliche Phänomene hervorbringt.

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Sense of being here Die weitverbreitete Praxis, das Agieren in virtuellen Realitäten auf das Sehen zu zentrieren, das durch passende Tasteindrücke lediglich verstärkt wird, erweist sich als zu schematisch. Die vordergründige Privilegierung des Sehens verkennt die vielfältigen Verflechtungen der Sinneseindrücke untereinander genauso wie die provozierende Wirkung des Tastsinns (Harrasser 2017: 8f.). Sie führt dazu, dass sehr simplifizierende Vorstellungen vom Zusammenspiel physischer und virtueller Wahrnehmungen entwickelt werden. Was hier jedoch interessiert, ist das Potenzial des Haptischen und Taktilen, komplizierte und polyvalente Beziehungen zu stiften. Dass die experimentellen Taststudien in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts den Tastsinn als Vermittler der Sinne angesprochen haben, ist die Motivation, sie hier aufzurufen (Höfler 2019: 28f.). So scheint es auch kein Zufall zu sein, dass der haptische Revolver von Microsoft an die drehbare Tasttrommel erinnert, die Rudolf Marwitz 1928 im Vorkurs von Moholy-Nagy am Bauhaus in Dessau entworfen hat. Abb. 9 Es war vor allem der vielseitige Künstler, Theoretiker und Bauhauslehrer Moholy-­Nagy, der sich mit der Transformation sinnlicher Wahrnehmungsweisen in der industriellen Gesellschaft befasste und den zunehmend untätig werdenden Tastsinn neu zu sensibilisieren suchte (Bittner 2019). Ausgehend von der Grundformel des Seins, dass «jeder Mensch […] tast- und raum-sicher» (Moholy-Nagy 1929: 14) ist, entwickelte er in seinem Unterricht ein spezielles Training der haptischen und taktilen Fähigkeiten (ebd.: 21–32). Hierzu wurden eigens gestaltete Tasttafeln und -räder eingesetzt, auf denen Materialien in auf- und absteigender Stufung systematisch angeordnet sind. Abb. 10 Mit den Fingern können die auf den Tafeln arrangierten Materialien nach ihrer Oberflächenbeschaffenheit, genauer nach ihren Raustufen, unterschieden werden, wohingegen ihre Differenzierung mit den Augen nur schwer gelingt. Ebenso können verschiedene Bearbeitungsweisen desselben Materials ertastet werden. Auch dynamische Stoffeigenschaften wie Druck und Schwingung lassen sich wahrnehmen, wenn die Finger beispiels­ weise auf gespannten Gummihäuten trommeln. Über das Ergreifen und Erspüren kann eine mikrostrukturelle Vorstellung der Dinge und Materialien gewonnen werden, die dichter und präziser zu sein scheint als jede visuelle Darstellung. In solchen Tastexperimenten fungiert die Hand als Medium des Erkennens, Erforschens und Erfahrens, wodurch dem Auge das tradierte Perzeptions- und Erkenntnis­primat streitig gemacht wird. Diese Perspektive erfasst Materialien und Strukturen nicht als statische Anschauungsformen, sondern als Elemente erlebter Kontinuitäten. Neben der Vorstellung der Stoffe beeinflusst die Erfahrung der Tastbilder auch die Wahrnehmung der Sehbilder. So vermag die flächige Fotografie von Moholy-Nagy taktile Reize auszulösen, wenn sie Materialien in scharfer Nahsicht oder Lichterscheinungen in körperlich-plastischer Weise zeigt. Abb. 11 Absichtlich verwischen die Stofftafeln, Collagen und Fotografien aus dem Vorkurs von Moholy-Nagy die Trennschärfe zwischen Optik und Haptik und lassen eine Form von Tastbildlichkeit hervortreten. Das berührende Tasten und das tastende Sehen stärken hierbei den Glauben an die Realität der Dinge und der Bilder.

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Rudolf Marwitz, drehbare tasttrommel, 1928.

10 Thomas Flake, vierzeilige tasttafel und das dazugehörende diagramm, 1928.

11

fakturen: ulmenrinde und fichte nach Käferbefall, 1929.

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Carolin Höfler

Von dieser präsenzstiftenden Kraft der Berührung gehen auch die Entwickler*innen haptischer Technologien für virtuelle Environments aus. In Kombination mit der zunehmend hyperrealistischen Wiedergabe der Materialität, Struktur und Oberflächenbeschaffenheit von Objekten versprechen die sensorischen Feedbacksysteme eine gesteigerte taktile und haptische Erfahrung. Allerdings zielen sie darauf ab, Sinnestäuschungen herbeizuführen, wohingegen die Studierenden und Lehrenden am Bauhaus Sinneswirklichkeiten zu gestalten suchten. Die Feedbacksysteme bleiben zudem von einer tradierten Sinneshierarchie und Sinneszersplitterung geprägt: Die Rezipierenden ordnen das physisch Erspürte den virtuellen Sehformen unter. Die aufgenötigten Tasterfahrungen dienen weniger der Erweiterung als der Disziplinierung der Wahrnehmung, die auf die visuelle Simulation von Wirklichkeit zugerichtet werden soll. Mit Blick hierauf bieten die Gestaltexperimente aus dem Vorkurs von Moholy-­Nagy ein geradezu subversives Programm an, denn sie fokussierten nicht nur eine Mobi­ lisierung aller Sinnesmodalitäten, sondern auch einen Wahrnehmungsakt, in dem die Hierarchisierung der Sinne infrage gestellt wurde. Ging Moholy-Nagy von einer grundsätzlichen Tast- und Raumsicherheit eines jeden Menschen aus, so führten seine Materialexperimente doch eine bewusste Verunsicherung der Sinneswahrnehmungen herbei. Nur auf diese Weise, so lässt sich Moholy-Nagy zufolge argumentieren, wären die Gleichwertigkeit und Simultaneität der Sinneserfahrungen, ihre gegenseitigen und wechselnden Abhängigkeiten und die darauf gründenden Veränderungen zu fassen. Nur so könnten die Sinne geschärft werden, um «sie gegen alle möglichen Überrumpelungen [zu schützen], und zwar mit intuitiver ­Sicherheit, vorbeugend für einen noch nicht eingetroffenen, aber sicher erfolgenden Zustand» (Moholy-Nagy 1929: 15). Mit einer solchen Abkehr von der Sinneshierarchie kann auch eine produktive ­Umorientierung virtueller Gestaltung stattfinden: weg von dem Zwang, eine täuschend echte Darstellung von Wirklichkeit zu erzeugen, und hin zu dem Versuch, eine unmittelbare Kommunikation zwischen Körpern und Materialien zu ermöglichen, die zugleich ihre Vermitteltheit offenlegt. Bei diesem paradigmatischen Wechsel rücken Ansätze in das Zentrum der Aufmerksamkeit, welche die Polarisierung explizit meiden und stattdessen den medialen Charakter des Tastsinns herausarbeiten. Dabei gerät nicht nur das Material, sondern auch die Haut als Medium in den Blick – die Haut, die Kontakt mit der physischen und virtuellen Welt aufnimmt, indem sie eine Grenze zu ihr bildet, die sich aufspannt, um Signale einzufangen (Harrasser 2017: 7). Ein so gestalteter Zugang ermöglicht einen Umgang mit physisch-materiellen Dingen in VR-Settings, der diese nicht lediglich als passive Bedeutungsträger oder stumme Zeugen der visuellen Darstellung sieht, sondern der ihre Sperrigkeit und ihr Eigenleben anerkennt. Dann kann der Tastsinn auch Anstoß und Provokation von unerwarteten haptischen Erfahrungen sein, die ein absichtsvolles, zielgerichtetes Handeln verformen und Abweichungen hervorbringen (Rheinberger 2016: 42, 45, 64). In dieser Perspektive wird der Raum des Sehens als Raum des Tastens erst generiert. In Anbetracht des vortastend-experimentierenden Charakters des Tastsinns drängt sich auch die Frage auf, welche Alternativen zum körperhaften Versinken in 3DRäumen entwickelt werden können. Welche medialen Strategien im Umgang mit

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 «Jeder Mensch ist tast- und raum-sicher»

Virtual Reality kann es geben, die das Eintauchen in immersive Umgebungen unterlaufen und damit die Überwältigungsverfahren offenlegen? Wie lässt sich mit Fragmentierungen auch innerhalb einer immersiven Umgebung arbeiten? Solchen Strategien des Unterwanderns und Brechens liegt ein Denken zugrunde, das auf die Überwindung tradierter Gegensätze zwischen Körper und Geist zielt und Sinnes­wahrnehmungen weder individualistisch-hierarchisch noch kollektivistischholistisch deutet. In dieser Perspektive werden Sehen, Hören und Fühlen nicht als natürlich gegebene Fähigkeiten, sondern als mediale Praktiken verstanden (Ochsner/Stock 2016: 9). Ein solcher Ansatz verlangt andere Modelle und Narrative der physisch-materiellen Gestaltung in VR-Settings als jene, die in ihr nur Bildträger oder Wahrnehmungsverstärker sehen. Es müssen haptische Architekturen und Gegenstände erdacht und entworfen werden, die das charakteristische Erleben, sich innerhalb einer virtuellen Umgebung zu befinden (sense of being there) nicht permanent bestätigen, sondern vielmehr entkräften, indem sie das Gefühl von körperlicher Anwesenheit und Präsenz im physischen Raum erzeugen (sense of being here). So könnten sie Wahrnehmungen und Bedeutungen jenseits der ­beweglichen Bilder der Displays hervorbringen, welche die Rezipient*innen im Verhältnis zu den wahrgenommenen 3D-Räumen erst deuten müssten; und die nicht beständig auf Affirmation und affektive Wirksamkeit, sondern auf Verstörung und Zweifel setzen würden. Es bedarf also einer Gestaltung des Physisch-­Virtuellen, die «intolerant gegenüber Eindeutigkeit» (Harrasser 2017: 12) ist. Und es bedarf der Einsicht, dass Immersion und Emanzipation weniger dissonante als vielmehr komplementäre Aktionskonzepte in physisch-virtuellen Handlungsräumen sind (Zenkert 2019: 55).

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Aus: bauhaus. zeitschrift für gestaltung, Jg. 1, H. 1, 1926, S. 3. Bauhaus-Archiv Berlin, © Thomas Breuer. © Frankfurter Kunstverein. © Toast VR.

4 a–b URL: https://www.youtube.com/watch?v=cML814JD09g (01.11.2020). © The Void.

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Moholy-Nagy, László (1929): von material zu architektur. München, A. Langen, S. 175, Abb. 163. Foto: Wochenschrift Pestrý Týden (Prag, 1926–1945).

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Moholy-Nagy, László (1929): von material zu architektur. München, A. Langen, S. 25, Abb. 5. Foto: P. Clasen, ­Dessau. Moholy-Nagy, László (1929): von material zu architektur. München, A. Langen, S. 28, Abb. 8. Foto: P. Clasen, ­Dessau. Moholy-Nagy, László (1929): von material zu architektur. München, A. Langen, S. 43, Abb. 26 und Abb. 27. Fotos: Wochenschriften Pestrý Týden (Prag, 1926–1945) und Koralle (Berlin, 1925–1944).

Biografie

Carolin Höfler, Professorin für Designtheorie und -forschung an der Köln International School of Design der Technischen Hochschule Köln. Promotion mit der Arbeit Form und Zeit. Computerbasiertes Entwerfen in der Architektur. Forschungsschwerpunkte: Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design; Räumlichkeit und Medialität; Materialsysteme; Architekturethnografie; ephemerer Urbanismus.

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 «Jeder Mensch ist tast- und raum-sicher»

Ina Scheffler

Spielzeuge aus dem Bauhaus Spielmittel als Spektren der Tätigkeiten, Anregungen und Möglichkeiten

Der Farbkreisel Ludwig Hirschfeld-Macks zeigt verschiedene Farbflächen. Bringt man ihn in Bewegung, so verändern, mischen sich die Farben optisch. Abb. 1 Je nach Geschwindigkeit und Winkel gestalten Betrachtende die Gewichtung, Geschwindigkeit und Qualität der Farbe und nehmen sie unterschiedlich wahr. In dem ­Spielzeug laufen verschiedene künstlerische und pädagogische Intentionen und Vorarbeiten zusammen, wie in den Vorarbeiten deutlich wird. Basierend auf einem Seminar, das Hirschfeld-Mack 1922/23 in der grafischen Druckerei am Bauhaus veranstaltete und in dem er sich intensiv mit Farbe auseinandersetzte (Schoon 2006: 69f.), entwickelte er zwei unterschiedliche Versionen des Kreisels, die Wahrnehmung in ihrer pädagogischen Funktion jeweils unterschiedlich ermöglichten und thematisierten. Der Kreisel war sowohl als Spiel- als auch als Lehrmittel konzipiert. Im Kontext von Lehre können mehrfarbige, im Spielkontext einfarbige Ringe auf den Kreisel gesteckt werden. Für die Funktion des Spielmittels sind die ergänzten Ringe weitaus aufwendiger gestaltet und aus verschiedenen bearbeiteten Materialien erstellt. Ebenso wie in den künstlerischen Arbeiten HirschfeldMacks spielen Farbe und Raum auch in denen Alma Buschers eine zentrale Rolle. Beide studierten am Bauhaus und in ihren Gestaltungen spiegeln sich i­ ndividuelle gestalterische sowie künstlerische Entwicklungen und Strategien. Der Kontext Bauhaus ist durch diese Aspekte, besonders durch die Betonung der Materialität,

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Ludwig Hirschfeld-Mack, Drei Kreisel, 1924, Holz, Farbe, ca. 10 cm.



Alma Siedhoff-Buscher, Bauspiel Schiff, 1923, Holz, Farbe, 6,5 × 27 × 4 cm.



Ludwig Hirschfeld-Mack, Pädagogische Puppenstube, 1924, Sperrholz, 50 × 50 × 40 cm.

die differenzierte Auseinandersetzung mit Farbwirkung sowie mit den Möglichkeiten der gestalterischen und formellen Offenheit, klar erkennbar. Diese ­Elemente bilden für die Spielenden einen Rahmen und Anlass, im Spiel tätig zu werden. Buscher kam 1922 an das Bauhaus (Baumhoff 2009: 191f.). Hier entwickelte sie als Anlass für Spiel das Schiff-Bauspiel Abb. 2, das ebenso wie der Kreisel oder die pädagogische Puppenstube Hirschfeld-Macks unendliche Möglichkeiten einer Kombinatorik aus Einzelelementen ermöglicht. Im Werkzeichenunterricht wurde diskutiert, Lehrmittel oder pädagogisches Spielzeug zu erfinden und herzustellen (Meisterrats­protokoll 1923: 324ff.). In diesem Kontext entwickelte Hirschfeld-Mack dann die pädagogische Puppenstube (Tietze 2001: 119f.) Abb. 3, die in ihrer Gestaltung Hauptelemente des Kreisels wie Farbe, Kombinations- und Bewegungsmöglichkeiten der Spielzeugteile sowie eine geringe Größe aufnahm (Hollein/Luyken 2004: 37). Auf einer Grundfläche konnten mit Streben und Plättchen Wände nach Belieben kombi­niert und aufgezogen werden. Parallelen zu Hirschfeld-Macks Puppenstube, die auf traditionelle Funktionen und Dekorationen wie Tapeten, Gardinen oder gerahmte Bilder verzichtet, weist Buschers Gestaltung der Kinderzimmer für das Haus Am Horn auf, das 1923 als Versuchshaus des Bauhauses errichtet wurde. Für dieses entwarf sie Wandverkleidungen aus gelben, roten und blauen Wandtafeln, die flexibel verschoben werden konnten. Neben der Einrichtung selbst gestaltete sie auch ein Puppentheater sowie das bereits genannte Schiff-Bauspiel, das sich zu einer Ikone des Bauhauses entwickelte und bis heute produziert und vertrieben wird. Sie selbst kommentierte: «Es will nichts sein – kein Kubismus, kein Expressionismus, nur ein lustiges Farbspiel aus glatten, eckigen Formen, nach dem Prinzip der alten Baukästen.» (Will 1997: 47f.) Alte Baukästen wie der Anker-Steinbaukasten sind historische Vorbilder, bestehend aus Sets an Bausteinen, die frei kombi­niert werden konnten. Die Formteile sind gepresst sowie gebacken aus Sand, Schlämmkreide und Leinöl. Entsprechend den drei traditionellen Materialien am Bau – Ziegelstein, Sandstein und Schiefer – werden sie in den Farben rot, gelb und blau hergestellt. Anders als in späteren Entwicklungen konzeptuell vergleichbarer Bausatzsysteme wie denen von Lego sind sie komplett glatt und nicht als Stecksystem konzipiert. Sie bilden also keine im Verbund verbaubaren, ineinandergreifenden Teile, weshalb beim Bauen in einem besonderen Maße auf Statik geachtet werden muss. Im Kontrast zu Lego, wie auch zu Buschers Schiff-Bauspiel, beruht die Idee des kombinierbaren Baukastens auf einem ausformulierten, päda­gogischen Konzept.1 Eine weitere Gemeinsamkeit der Steckspiele Buschers und Hirschfeld-Macks war, dass diese zu den erfolgreichsten Spielzeugen gehörten, die von den Bauhauswerkstätten ab 1924 auf den Markt gebracht wurden. In den bauhausbüchern wurde der Kreisel 1925 sogar als «mustergültiges Spielzeug» vorgestellt, da dieser «seine Funktion praktisch erfüllt, ästhetisch ansprechend war und sich zugleich für die industrielle Herstellung eignet.» (Tietze 2001: 110) Öffnet man den Blick auf Kinderspiel und seine Gegenstände, ihre Formen und Inhalte sowie auf die von ihnen entfalteten Spielmöglichkeiten und betrachtet die 1

Zeitgleich wurden diese künstlerisch-praktischen Auseinandersetzungen auch theoretisch reflektiert. So entwickelte der Pädagoge Friedrich Fröbel die didaktische Figur der Spielgaben. Durch die Systematik aufeinander aufbauender Ergänzungskästen mit beiliegenden Bauanleitungen gilt das Architektur- und Modellspiel, erfunden 1882 in Rudolstadt von den Brüdern Gustav und Otto Lilienthal, als Prototyp des Systemspielzeugs (Werner 2016: 302f.).

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Spielzeuge aus dem Bauhaus

4 a–c

Fernand Léger, Le Ballet Mécanique, 1924.



Film-Still, Minute 09:29.



Film-Still, Minute 09:31.



Film-Still, Minute 09:33.

Grundlagen des Spiels, treten Elemente der Interaktion in den Vordergrund. Beson­ ders Aspekte der Bewegung, der Reflexion und die Vielzahl und Endlosigkeit von Entscheidungen, die von Spielenden individuell oder kollektiv getroffen werden, werden immer wieder beschrieben und reflektiert (Bartholomae/Wiens 2016: 3f.). Spielende handeln im Spiel. Unterschiede finden sich hierbei zwischen den Handlungsmöglichkeiten im freien und im reglementierten Spiel, Spiel funktioniert mit Dingen und Orten, sie können abstrakt oder sehr konkret und begrenzt sein. ­Beobachtet man Kinder, die spielen, stellt sich auch die Frage: Was ist Handlung? Umfasst Handlung die sichtbare, physische Handlung oder gehören die Gedanken, die nicht von außen erkennbar sind, zu der Handlung, da sie diese thematisch einbetten, inhaltlich rahmen und Motivation und Ziel darstellen? Kinder nehmen die Dinge im Spiel intensiv wahr, sie untersuchen sie, ertasten ihre Textur, kennen ihre Materialität, ihre Form und Inhalte und gehen mit ihnen um.

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Bewegung und Handlung als Spiel Der Blick ins erweiterte Umfeld des Bauhauses öffnet die Möglichkeiten der ­Reflexion der künstlerischen Strategien anderer Künstler*innen für den Umgang mit den Phänomenen der Bewegung, die Auswahl und die Reduktion der Formelemente des Spiels sowie die der sinnlichen Zugänge. Grundsätzliche Fragen der Bewegung, dem Zusammenspiel der Sinne, dem Verhältnis des menschlichen Körpers zum Artefakt, Mechanik und Technik stellen sich neu. Zwei Elemente, die so betrachtet eine zentrale Rolle spielen, sind Form und Inhalt. Die Bewegung entsteht auch in Relation zu den Dingen. Positioniert man Materialfragen in Bezug auf die Betrachtung künstlerischer Auseinandersetzungen mit Spiel weiter in den Hintergrund, treten Fragen nach Form, Inhalt und weiteren Ausdrucksmöglichkeiten stärker hervor. Dies öffnet weitere Perspektiven für Fragen nach dem Spiel an sich, nach der Komplexität der Konzepte und weiteren Möglichkeiten der Partizipation und damit der Entwicklung der spielenden Individuen. Die Gestaltung des direkten Umfelds durch Dinge, der Umgang mit ihnen sowie die Wahrnehmung und Veränderung ebendieser Verhältnisse sind grundsätzliche, unendliche sowie genuin pädagogische und künstlerische Themen und Fragestellungen. Sie berühren zahlreiche weitere Felder, zeigen sich in der Kunst, in pädagogischen Konzepten und Reflexionen in einer Weise, die über kunstpädagogische Aspekte hinausgeht und diese zur Kultur- und Ideengeschichte öffnet. Emblematisch zeigt sich diese Auseinandersetzung mit Bewegung, Wahrnehmung und Gestaltung in der Reflexion des Denkens über Bewegung in Fernand Légers einzigem Film, dem Ballet ­Méchanique. Dieser entstand in den Jahren 1923 und 1924 und ist bei einer für die damalige Zeit üblichen Projektionsgeschwindigkeit von 16 Bildern pro Sekunde etwa 15 Minuten lang (Pramann 1988: 71). Als der Film anlässlich der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik im September 1924 in Wien zum ersten Mal öffentlich vorgeführt wurde, erschien auch ein Katalog mit dem Titel Ballet Méchanique – Film de Fernand Léger et Dudley Murphy – Synchronisme Musical de George Antheil (Kiesler 1924). Vergleichbar mit anderen Produktionen der Zeit sollte die Musik in Form eines zur Filmprojektion synchron dirigierten Vorspiels zu Gehör gebracht werden. Da es zum Zeitpunkt der Produktion keine Tonaufzeichnungen in Form einer Randspur auf dem Filmstreifen gab, sind sämtliche in Museen ­gelagerten Kopien ohne Ton. Da die Musik des US-amerikanischen Komponisten George Antheil mit dem Titel Ballet Mécanique von 1924 auf eine Vorspielzeit von einer halben Stunde angelegt ist, ist diese doppelt so lang wie der Film Légers. Heute gilt als sicher, dass es weder auf der Wiener Ausstellung noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt zu einer Synchronvorführung gekommen war. Léger ­beschreibt den Film in dem ersten Wiener Ausstellungskatalog: «Objets – Images – les plus usuels. Figures, fragments des figures, fragments mécaniques, métalliques, objets fabriqués ... aucun scénario – Des réactions d’images rhythmées c’est tout.» (Ebd.: 39f.) Die fünfte der ersten elf Filmsequenzen stellt die Reflexion des bildnerischen Nachdenkens über Bewegung und Technik in filmischen Bilderfolgen exemplarisch dar. Im 118. Kader, in der 7,5. Sekunde, sieht man eine Folge von Aufnahmen eines stark durch Schminke konturierten Mundes einer jungen Frau. Abb. 4 Dieser öffnet

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Spielzeuge aus dem Bauhaus

und schließt sich von einer neutralen Position in ein offenes Lächeln übergehend, in zwei ähnlichen Abb. 5, aber nicht identischen Wiederholungen Abb. 6. Zwei Faktoren lassen dieses Lächeln mechanisch erscheinen: Zum einen der Umstand, dass das Gesicht ab der Nase durch eine Maske abgedeckt ist und so der Mund seltsam isoliert erscheint; zum anderen bringt die Wiederholung eine Doppelung, die das Bild deutlich verfremdet und die Abfolge von den anderen Bildern des Films abhebt und so verdichtet. «Der mechanische Zug» (Pramann 1988: 74) wird durch die Aufteilung des Bildes in einen unteren hellen, ausgeleuchteten und konturierten Teil sowie einen oberen, dunklen und formell ungeklärten Teil erwirkt. Die Schablone stellt den Mund aus und dieser wird als Formbestand deutlich. Dieser Eingriff, eine Isolierung eines Elements, zeigt exemplarisch, wie sich Künstler*innen der Zeit intensiv mit Form auseinandersetzten, diese extrapolierten und isolierten und ihre Eigenschaften betonten. Wenn also eine einzelne Form aus dem Kontext gelöst betrachtet werden kann und zum Gegenstand der Reflexion wird, bekommt der einzelne Gegenstand durch diese Herausstellung Bedeutung.

Spielsachen, ihre Gestaltung und Funktion Um die Jahrhundertwende konnte von einer psychologischen Fundierung pädagogischer Aussagen über Spielsachen und Spielzeug noch kaum gesprochen werden. Zeitgenössische Publikationen, die sich mit Spielzeugen – also den Dingen, mit denen gespielt wird – auseinandersetzen, sind erste Versuche, Kategorien für die Bewertung von Spielsachen in ihrer Qualität zu entwickeln. So kritisiert Max Enderlin in seiner Schrift Das Spielzeug in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes an dem drei Jahre früher erschienenen Buch von Paul Hildebrandt (Hildebrandt 1904), dass es «eine eingehende von psychol. Gesichtspunkten geleitete pädagogische Würdigung der einzelnen Spielsachen vermissen» (Enderlin 1907: 9) lasse und noch jeder Versuch fehle, «die einzelnen Spielsachen nach ihrem Werte für die Entwicklung des Kindes gegeneinander abzuwägen» (ebd.: 8). Im Gegensatz dazu erklärt Enderlin das Spielzeug zu einem «der wichtigsten Mittel, das die Erziehung besitzt» (ebd.: 7). Bedingt durch den diskursiven Kontext seiner Zeit ist er in seinen kinderpsychologischen und spieltheoretischen Aussagen noch kein Phasentheoretiker. Vielmehr bezieht er sich auf den entwicklungspsychologischen Erkenntnisstand der Jahrhundertwende, der von physiologisch-mechanistischen Theorieansätzen geprägt ist (Retter 1979: 149). Enderlin zufolge soll das Kind nicht zu viel spielen, da es dann «leicht in einen ‹rauschähnlichen Zustand›» (Enderlin 1907: 18) hineinkomme. Das einzelne Spielzeug in seiner Form und seinen Eigenschaften spielt auch für Enderlin eine große Rolle, er sieht in ihm eine Aufforderung an das Kind, sich im Spiel jeweils nur einem einzelnen Gegenstand zu widmen. Er begründet dies damit, dass schon der Anblick anderer Spielmittel die Aufmerksamkeit ablenke. Parallelen zwischen Spiel und der Entwicklung des Charakters werden gezogen. So bewertet Enderlin Puppenspiel insofern als Gefahr, da es zu «Eitelkeit, zur Verstellung, zum Hochmut und zum Neid» (ebd.: 34) reize. Auch soll die Zahl der Dinge im Kinderzimmer überschaubar, dafür aber ihre Qualität hoch sein. Enderlin

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Ina Scheffler

begründet dies damit, dass zu großer Überfluss zu «einer gewissen Blasiertheit und der Sucht nach stetem Wechsel und Veränderung» (ebd.: 13) beitragen k­ önnte. Er hat klare Vorstellungen von den Aufgaben und Möglichkeiten der Spielzeugauswahl: «Man versorge das Kind daher vor allen Dingen mit Spielsachen, die so ausgewählt sind, daß durch sie die Möglichkeit der Entwicklung aller Anlagen und Kräfte des Kindes gegeben ist.» (Ebd.: 12) Enderlin schätzt vor allem Bausatz- und Kombinationsspiele als besonders günstig für die Entwicklung des Kindes ein (ebd.: 13). Enderlins Zuordnung von Spielzeug zu bestimmten Entwicklungsabschnitten bezieht sich lediglich auf das Vorschulalter. Sein Ausgangspunkt sind Tätigkeiten und Fähigkeiten des Kindes. Die einfache Form des Spielzeugs steht immer im Fokus, lediglich der Grad der Kombinations- und Komplexitätsniveaus wird höher. Bewegungs- und Greifbedürfnisse sowie die Ausbildung der Sinnesorgane stehen im ersten Lebensjahr im Mittelpunkt der Bedürfnisse des Kindes. Enderlin sieht vor allem Bedürfnisse nach Reizen und Eindrücken sowie einen starken Drang nach Betätigung beim Kind. Diese Tendenz erweitere sich in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres. Die Ansprüche an die Spielzeuge würden komplexer, die Kinder begönnen damit, die Spielzeuge zu zerlegen, zu trennen, auseinanderzunehmen. Enderlin nennt hierfür besonders Schachtel- bzw. Kubusspiele sowie alles Material, das zum Auseinandernehmen geeignet ist. Mit der nun fortwährend gesteigerten Mobilität und ­Reproduktivität der Vorstellungen beginne gleichzeitig das Gestalten, das Zusammenfügen, Aneinanderreihen, Aufeinanderstellen, das seinen Höhepunkt in komplexeren Formen des Bauens und in der konstruktiven Fantasie- und Denktätigkeit finde. Obwohl Enderlin davon abrät, Spielmittel selbst herzustellen, sieht er Fundstücke wie Naturmaterialien, vor allem Sand, Steine aller Art und Größe, Hölzer, Wasser usw. als besonders geeignet an. Enderlin sieht diese im freien Spiel verwendet und betont die Notwendigkeit der Erfindung sowie der b ­ ewussten Imitation. Das Nachbilden und Nachahmen von Gegenständen führe zum Gestal­ ten mit Ton, Plastilin und entsprechenden Baukästen. Außer Spielmitteln zum bloßen Nachahmen benötige das Kind aber solche zum fantasiegemäßen Gestalten, «nämlich Fingerspiele, die aus seinem eigenen Inneren heraus beleben, mit deren Hilfe es die Tätigkeiten der Personen seiner Umgebung nachbilden, auf die es seine Gefühle, seine Interessen und Neigungen projizieren kann.» (Ebd.: 30) Die Rolle der Puppe im Spiel sieht er kritisch: Je eleganter und vollkommener sie sind, desto weniger Anregung geben sie dem Kind, und je mehr ein Kind in dieser Beziehung verwöhnt wird, je mehr man teure und zierliche Puppen in Besitz bringt, desto weniger spielt es überhaupt. (Ebd.: 34) Nur mit größtmöglicher Einfachheit der Form könne dies vermieden werden. Bewegungen und Handlungen, zu denen Spielzeuge besonders deutlich ermuntern, seien die Gelegenheiten, in denen die Kinder durch «alle dem Werfen und Zielen dienenden Spielsachen» angeregt würden. Durch das stetige Wachsen der Freude am Hervorbringen von Wirkungen seien besonders Ball, Kegel, aber auch Reif und Kreisel geeignete Spielmittel für das Kind, die seine Entwicklung besonders

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Spielzeuge aus dem Bauhaus

­ egünstigten. Enderlin sieht in Spielgeräten, die durch «Antreiben» vom Kind b ­beliebig lange in Bewegung gehalten werden können, Dinge, die Persönlichkeitsund Machtbewusstsein und damit auch helfen einen Willen zu entwickeln (Retter 1979: 150f.). In Hinblick auf spätere Entwicklungen ist seine Einschätzung des mechanischen Spielzeugs durchaus progressiv. Er betont die Wichtigkeit, das Kind mit der Technik seiner nächsten Umgebung vertraut zu machen. Er nennt in diesem Kontext Geräte des Haushalts wie Küchen-, Schreib-, Nähmaschinen, Telefon, Staubsauger, Uhren, Aufzüge usw. (Retter 1979: 153f.). In späteren Konzepten zu Arbeitsschulen finden sich vergleichbare Argumentationen (Kerschensteiner/Gonon 2002: 52; Reble 1979: 112). Enderlin zufolge wird das Kind von einem «Ursachenhunger» umgetrieben, der seinen Höhepunkt meist im vierten Lebensjahr habe. Prägnantester Ausdruck dessen seien «Warumfragen». Wirkungszusammenhänge zeigten sich für das Kind exemplarisch im mechanischen Spielzeug und ließen sich dort erkunden. Eine solide Materialverarbeitung und die Verständlichkeit des Mechanismus seien für Spielzeuge wie Eisenbahnen zum Aufziehen, sich bewegende Tiere oder Miniaturkarussells wesentliche Qualitätsmerkmale und Auswahlkriterien. Einfache, mechanische Spielzeuge bildeten «die ersten Grundlagen zu einer technischen Bildung» (Enderlin 1907: 38f.) und könnten drohende Defizite vonseiten der Schule ausgleichen: In das Verständnis und den praktischen Gebrauch aller dieser Dinge schon durch das Spielzeug einzuführen, erscheint umso notwendiger, als von Seiten der Schule, die doch sonst ihre praktischen Aufgaben so sehr betont, in Bezug auf die technische Ausbildung zur Zeit noch so gut wie gar nichts geschieht. Es wird jedoch eine derartige Einführung mit Hilfe des Spielzeugs auch nur dann von Erfolg gekrönt sein können, wenn sie in planmäßiger Weise vor sich geht, d.h. wenn die mechanischen Spielsachen in systematischer Folge, nach dem Grade der Kompliziertheit geordnet dem Kind dargeboten werden. (Ebd.: 39) Enderlins Schrift bleibt ohne große Resonanz. Elf Jahre später beschäftigt sich Oskar Frey mit den Spielmitteln und ihrem weiteren Kontext in Bezug auf Kindheit. Er beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf Puppen, Baukästen und mechanisches Spielzeug. In seinen Ausführungen zur Psychologie des Spiels stützt er sich – ähnlich wie Enderlin – auf die Spieltheorie von Karl Groos und auf den von Konrad Lange in Anspruch genommenen Begriff der «Spielillusion», kann aber bereits die kinderpsychologischen Erkenntnisse William Sterns (Stern 1914: 5f.) verwerten. Nach Frey sind Spielzeuge «alle jene Dinge, die eine Spielillusion hervorrufen oder verstärken» (Frey 1918: 377). Er setzt sich intensiver als Enderlin mit der Wirkung und dem inneren Erleben des Spiels auseinander. Dieses erfahre im zunehmenden Alter eine immer stärkere Differenzierung und zeige sich im frühen Spiel mit ­Puppen zuerst. Das Kind «objektiviert mit seinen Puppen all den Zwang der frühesten körperlichen und geistigen Erziehung» (ebd.: 377). Durch Bewegung, Mimik und Sprache werde eigenes Erleben dargestellt, in einem zweiten Schritt führe das Kind – gleichsam in einem Puppentheater – dies vor. Gesteigert werde die

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Darstellung durch wachsende Fähigkeiten der Dramatisierung und Inszenierung. Das Kind entwickle das eigene Spiel weiter: «von bloßen Formen der äußeren Nachahmung zu Formen, die den psychischen Inhalt des Erlebnisses darzustellen versuchen». Durch diese Beobachtungen kommt Frey, in einer einfachen Form der Spieltheorie, psychoanalytischen Vorstellungen nahe. Gegenüber dem beim Puppen- und Rollenspiel bestehenden Bedürfnis nach sprachlichem Ausdruck ist das Bauspiel aus Freys Sicht eine Form kindlichen Ausdruckslebens, dem materiale Darstellungsmittel zugrunde liegen. Bauen ist laut Frey mehr als ein Nacherleben von Formen, denn in der Bautätigkeit würden ständig einfachste Kausalbeziehungen hergestellt: «Die Zweckmässigkeit [sic] des Nebeneinander, Übereinander, des Legens, Stellens, aller jener einfachen motorischen Begriffe wird beim Spiel mit dem Baukasten erlebt.» (Ebd.: 388) Alle höheren Formen motorischer Kausalität finden ihre Entwicklung im Spiel mit Mechanismen. Frey weist darauf hin, dass die im Umgang mit mechanischem Spielzeug wahrgenommenen Bewegungen ebenso wichtig sind wie eigene Handlungsvollzüge, da sie für das Erfassen der Kausalität unentbehrlich seien. «Die Mechanismen bedeuten für das Kind ‹lebendiges Spielzeug›. Es ist wesentlich, daß das Kind den Zustand des Lebendigseins nach seinem Willen hervorrufen und abändern kann.» (Ebd.: 389) Während die Puppe zum Spielen, die Bausteine zum Bauen herausfordern, liege der Anreiz zur Tätigkeit beim mechanischen Spielzeug im Erproben.

Aspekte zur Erweiterung des Spielbegriffs im künstlerischen Kontext seit dem Bauhaus Wie auch der Kunstbegriff erfuhr der Spielbegriff vor dem Hintergrund von Zugängen wie dem von Enderlin und Frey zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine graduelle Öffnung und Erweiterung. Dies spiegelt sich im Kontext der Philosophie, in der der Spielbegriff allgemein in einem erweiterten und übertragenen Sinne benutzt wurde. Spiel wird gleichsam als ein Instrument betrachtet, mit dessen Hilfe bestehende Denkansätze einer neuen Interpretation zugänglich gemacht werden können. Karl Rahners Deutungen des Schöpfungsaktes als Spiel (Rahner 1952: 17f.) könnten hier ebenso genannt werden wie der Versuch Hans Georg Gadamers, den Spielbegriff als Grundbegriff für die Hermeneutik zu interpretieren (Gadamer 1960: 14f.). Das Bauhaus setzte in seinen vielen Ausprägungen Akzente, die bis heute wirken. Andere, vor allem technische Weiterentwicklungen, tragen diese Grundelemente fort und entwickeln sie weiter, sodass Bezüge nicht mehr so deutlich sind, aber immer noch bestehen. In der zeitgenössischen bildenden Kunst zeigen sich, wie am Bauhaus, der produktive Umgang und das Interesse am Spiel in einer Vielzahl an Interpretationen und künstlerischen Arbeiten, die mit Elementen des Spiels arbeiten, diese zeigen, kombinieren und auflösen. Nicht zufällig fallen Ende der 1990er Jahre die ersten Game Art-Ausstellungen mit der rasanten Entwicklung und der zunehmenden Verfügbarkeit von Computertechnologien und Internet zusammen. Die im Zuge von Ausstellungen wie RE:PLAY (1999) im Barbican Centre in London oder Synreal und Synworld (1999) in Wien geführten Diskussionen

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­ arkieren, dass Computerspiele für künstlerische Produktionen im Begriff waren, m von großer Bedeutung zu werden. Zahlreiche Spielmodifikationen, Internetspiele, Multi-User-Spiele, Ego-Shooter und Spiele für Mobiltelefone folgten und wurden in einer Reihe von Ausstellungen wie SHIFT-CTRL (2000) in Irvine in Kalifornien, Games von KünstlerInnen (2003) in Dortmund oder PLAYGROUND PROJECT (2018) in Bonn thematisiert und vorgestellt. Die Spanne der künstlerischen Auseinandersetzungen wie auch deren Präsentationen reichen von Banalität über sensationsheischendem Opportunismus bis hin zu ernsthaften Thematisierungen. Oft wird dabei übersehen, dass die künstlerische Beschäftigung mit Spielen nicht erst mit dem digitalen Zeitalter begann und sich Parameter wie Materialität, Form und Inhalt kaum verändert haben. Grundlage einer über die Gestaltung von klassischen Spielen wie Schach hinausgehenden Auseinandersetzung bot die in der historischen Avantgarde beginnende Partizipation der Betrachter*innen. Künstler*innen wie Yoko Ono und Öyvind Fahlström erweiterten, basierend auf Marcel Duchamps Ready-mades, Umberto Ecos Verständnis des offenen Kunstwerkes und John Cages Einführung des Zufalls, mit ihrer Beschäftigung mit Partizipation, Spielen und Spielregeln, den Kunstbegriff hin zum Spiel (Buchhart/Fuchs 2005a: 5f.; dies. 2005b: 6) Der Umschwung ins Virtuelle brachte mit der Gattung der Computerspiele auch neue Spielende hervor. Sie gehen aktiv mit dem Medium und seinen Erscheinungsformen um und steuern diese, da Computerspiele nicht einseitig wie ein Film oder wie eine Fernsehsendung betrachtet werden, sondern die Illusion entstehen lassen, unter bestimmten Bedin­gungen teilnehmen zu können. Spiele sind ein Medium, das in seiner Dialogstruktur mit den Spieler*innen lebt, und Spiele ohne Spieler*innen sind «toter Code» (Atkins 2005: 116). Die Rolle und die Bedeutung der Betrachter*innen haben sich in der zeitgenössischen Kunst ab der ­zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweitert. In vielen Ausstellungen der Gegenwartskunst werden Werke präsentiert, die auf die eine oder andere Weise das Publikum beteiligen, indem es Entscheidungen treffen muss und Handlungen ausführt, wodurch seine Rolle in jene von Partizipient*innen gewandelt wird (Hofbauer 2004: 91f.). Der Mensch als Teilhabender in der Welt ist in der Auseinandersetzung mit Spielenden und ihren Welten ein wiederkehrendes Leitmotiv und findet sich in vielen Beispielen visionärer Auseinandersetzung mit Spiel und seinen Möglichkeiten. Man and his World war das Leitmotiv der Weltausstellung, die 1967 in Montreal stattfand. Die Schau sollte weder eine reine Produktionsschau sein, noch ausschließlich der Reklame dienen. Themen wie der «Mensch als Produzent», als «Forschender», als «Schöpfer» oder der «Mensch in der Gemeinschaft» wurden in Pavillons inszeniert und schufen eine verbindende Topografie für unterschiedliche nationale Selbstdarstellungen (Buckminster Fuller 1971: 12f.). Bereits 1965 hatte Richard Buckminster Fuller (1895–1983) der U.S. Information Agency ein Konzept für den nordamerikanischen Beitrag vorgelegt. Sein Konzept sah eine «geodätische Kuppel» vor – mit einem Durchmesser von 130 Metern. In deren Innerem wäre ein Globus befestigt gewesen, der sich in regelmäßig wiederkehrenden Abständen langsam in einen Ikosaeder verwandelt hätte, also einen Körper aus 20 gleichseitigen Dreiecken, an den Dreieckskanten geöffnet, ausgefaltet und langsam auf den Boden sinkend. Nach der Transformation von der Kugel zur ­Karte

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hätte sich eine fußballfeldgroße Erdoberfläche simultan überblicken lassen. Verkabelt und mit computergesteuerten Leuchtdioden ausgestattet, wäre die Karte veränderbar gewesen. Fuller hatte 40 Jahre lang an der University of Southern Illinois Daten in einem Inventar «of human trends, known needs and fundamental behavior characteristics» (Krausse/Lichtenstein 1999: 25f.) gesammelt, diese wären über Computer-Apparaturen abrufbar und visualisierbar gewesen. Mit dem World Game wollte er spieltheoretisch begründete Strategien militärischer Supermächte analytisch und auf reale Ressourcen bezogen widerlegen. In einem Hearing vor dem Committee On Government Operations des US-Senats beschrieb er die Ausgangssituation solcher War-Games, die unter der angenommenen Voraussetzung gespielt würden, dass einer wachsenden Weltbevölkerung keine ausreichenden Ressourcen mehr zur Verfügung stünden (Findling 1990: 90f.). Dieser Zugang, die Mittel zu spezialisieren, sie zu demokratisieren und das Spiel so eng zu gestalten, soll aus wenigem viel machen – more for less – und stellt eine Weiterentwicklung von Spielkonzepten des frühen 20. Jahrhunderts dar, die in deutlichem Gegensatz zu frühen Versionen stehen. Die Offenheit und damit das freie Spiel mit den Elementen, die Abstraktion, die im Bauhaus eine zentrale Rolle gespielt haben und so ein gewisses Maß an Freiraum im Denken, Handeln und Kontextualisieren der Spielenden ermöglichte, wird geschlossen. Regeln, Vorgaben und eine klare Ausrichtung auf Erfolg geben den Rahmen vor. Ziel des World Game, das dazu konzipiert war, von Teams oder Einzelnen gespielt zu werden, war «to make it possible for anybody and everybody in the human ­family to enjoy the total earth without any human interfering with any other human and without any human gaining advantage at the expense of another» (ebd.: 90f.). ­Fullers Vorschlag, sein World Game auf der kanadischen Weltausstellung zu präsentieren, wurde schließlich abgelehnt. Als verkleinerter Entwurf wurde seine geodätische Kuppel realisiert, die nicht als schicke künstlerische Architektur wahrgenommen werden wollte, sondern konzeptuell ein Medium einer technischen Repräsentation sozialen Weltwissens darstellen sollte, die jede*n Benutzer*in mit den von Fuller zur Verfügung gestellten Daten und Erkenntnisstrukturen zu einem Player im Weltgeschehen hätte werden lassen. Deutlich ist auch im Spiel: «Keine Innovation ohne Repräsentation» (Latour 2004: 18f.). Im Bauhaus realisiert sich diese Repräsentation oftmals abstrakt und sehr offen, wie konträr Fullers Arbeit entgegengesetzt. Seine codierten, auf Vorerfahrung zurückgreifenden Welten, in denen Regeln repro­duziert werden – ästhetisch wie habituell – bilden quasi das andere, entgegengesetzte Ende eines Spektrums, auf dem man Spiele und ihre Mittel verorten kann. Zwischen Graden größtmöglicher Offenheit oder Geschlossenheit stehen sie sich gegenüber. Wie dargestellt, spielen sowohl bei Hirschfeld-Mack als auch in den Arbeiten von Buscher Farbe und Raum eine zentrale Rolle. Aus dem Kontext des Bauhauses entwickelten sie individuelle, gestalterische und künstlerische Strategien und Spielmittel. Der Bezug zum Bauhaus ist, besonders durch die Betonung der Materialität, der differenzierten Auseinandersetzung mit Farbwirkung sowie mit den Möglichkeiten der gestalterischen und formellen Offenheit klar erkennbar. Im Spiel, also der Realisierung und Anwendung der Mittel, bilden diese für die Spielenden den Rahmen und Anlass, hier spielend tätig zu werden. So werden Inhalte, Form und Regelwerk je nach Zeitpunkt, Konstellation und Interesse der

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Spielenden relevant. Dies öffnet weitere Perspektiven auf Fragen nach Komplexität der Konzepte und weiteren Möglichkeiten der Partizipation und damit der ­Entwicklung der spielenden Individuen. Wählt man Erfolg als Parameter für die Relevanz und Sichtbarkeit von Spielen, zeigt sich die Gemeinsamkeit der Steckspiele Buschers und Hirschfeld-Macks. Wenn der Kreisel, wie bereits beschreiben, in den bauhausbüchern 1925 sogar als «mustergültiges Spielzeug» vorgestellt wurde, da dieser «seine Funktion praktisch erfüllt, ästhetisch ansprechend war und sich zugleich für die industrielle Herstellung eignet» (Tietze 2001: 110), zeigen d ­ iese Parameter das weite Spektrum zwischen spielerischer, industrieller, künstlerischer sowie ästhetischer Praxis, die Spielmittel- und Welten öffnen. In Spielzeug laufen künstlerische und pädagogische Intentionen und Vorarbeiten sowie der jeweilige historische und zeitgenössische Bezug zusammen. Aus kunstpädagogischer Perspektive zeigen sich Raum-, Material und Konzeptfragen an den Dingen, die anders als die Spiele, Geschichten und Bewegungen der Kinder nicht zeitlich und situativ bedingt sind und dementsprechend verloren gehen. Spiel-Entwicklungen seit dem Bauhaus bis heute zeichnen sich durch Komplexität, Weiterentwicklungen und Rückschritte – besonders in Bezug auf Gender (Euler/Lenz 2013) – aus. Dennoch finden sich immer wieder Rückbezüge, Zitate und Weiterentwicklungen, die zeigen, wie durchdacht, pointiert und zeitunabhängig die am Bauhaus entwickelten Interpretationen und künstlerischen Setzungen waren.

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Spielzeuge aus dem Bauhaus

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Bildnachweise 1

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URL: https://www.pinakothek-der-moderne.de/ausstellungen/reflex-bauhaus/ (01.04.2020). Foto: © Die Neue Sammlung – The Design Museum (A. Laurenzo), Kaj ­Delugan, Wien.

Siedhoff-Buscher, Alma (1991): Das Bauspiel. In: Droste, Magdalena: bauhaus 1919–1933. Berlin, Taschen, S. 93. Foto: Hans-Joachim Bartsch. Scan: DadaWeb, Universität zu Köln, Kunsthistorisches Institut.

Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst via blmk.de, Das Bauhaus in Brandenburg, URL: https:// www.blmk.de/programm/unbekannte-moderne-bauhaus-brandneburg-design-handwerk-ausstellung/ (14.01.21)

4 a–c Legér, Fernand (1924): Le Ballet Mécanique. URL: https:// www.youtube.com/watch?v=ZTdlnE4Vy2c (01.04.2020). Screenshots: Ina Scheffler. Biografie

Ina Scheffler, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich ­Berufsund Wirtschaftspädagogik an der Universität Siegen, von 2018–2019 Vertretungsprofessur für Kulturelle Bildung e ­ benda, von 2015–2018 Vertretungsprofessur für Kunstdidaktik an der Kunsthochschule Mainz. Promotion über die Rolandschule als erstem Zero-Raum und kunstdidaktische Funktionen von Schularchitektur. Forschungsschwerpunkte: Schularchitektur, Bildungsräume, Curriculumsentwicklung und Kinderzeichnung.

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Kreativitätsbildung im Kontext künstlerischer Bildung Spuren der Bauhaus-Pädagogik im Black Mountain College und in der kunstpädagogischen Theorie des HOMO CREANS

Als Wesensmerkmal des Menschen gehört das Schöpferische nicht erst heute zu den zentralen Bildungsinteressen. In seinem Grundsatzvortrag Creativity 1950 beim Kongress der American Psychological Association prägte der amerikanische Intelligenzforscher Guilford (1897–1987) den heute geläufigen Terminus der Kreativität und lieferte damit entscheidende Impulse für die moderne psychologische Kreativitätsforschung (Allesch 2007: 11). Im Kontext gegenwärtiger Bildungs- und Entwicklungsaufgaben sowie gesellschaftlicher Anforderungen bietet das Schöpferische persönlichkeitsbildendes Potenzial. Auf diesem Hintergrund werden Kreativität und Kreativitätsbildung mehr denn je diskutiert (z.B. Berner 2018; Jansen 2009; Kirchner/Peez 2009; Reckwitz 2012). Es zeichnen sich eine Reihe von gegenwärtigen Bildungs- und Entwicklungsaufgaben ab, zu denen Kreativitätsbildung

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einen Beitrag leisten kann: Lebenslange Identitätsgestaltung geht mündig mit den eigenen kreativen Potenzialen um. Dabei kann eine differenzierte Gestaltungskompetenz (z.B. auf der Grundlage von Kommunikations-, Bild- und Medienkompetenzen) dazu beitragen, die eigenen Fertigkeiten kritisch zu nutzen. Zudem bedarf es einer Reflexionskompetenz, die von ideologiekritischer Selbstständigkeit, Orientierungs- und Beziehungsfähigkeit getragen ist (Eder 2018). Anfang des 20. Jahrhunderts reagierte die Bauhaus-Pädagogik auf zeitgenössische Bildungs- und Entwicklungsaufgaben und setzte damit bereits Maßstäbe, die bis in gegenwärtige kunstpädagogische Theorien wirken. Angeregt durch die utopistische Forderung nach ästhetischer Umgestaltung des Lebens verfolgten das Bauhaus und später das davon inspirierte Black Mountain College Ansätze künstlerischer Bildung, denen jeweils ein entgrenztes Kunstverständnis sowie ein Schwerpunkt auf Kreativitätsbildung zugrunde liegen. Es wird sich zeigen, dass die Bauhaus-Pädagogik einen immanent kreativitätsbildenden Ansatz verfolgte. Johannes Itten und Josef Albers sprachen etwa von der Entfaltung der schöpferischen Kräfte des Menschen (vgl. Abschnitt 1). Im Folgenden werden kreativitätsbildende Lehrkonzepte der beiden Kunstschulen dargestellt und anhand künstlerischer Fallbeispiele veranschaulicht. Der Umgang mit dem Material bzw. der kreative Prozess als Bildungsmaterial stehen hier ­besonders im Fokus. Die daraus hervorgehenden Parallelen und künstlerischkreativen Strategien leiten über zur zeitgenössischen kunstpädagogischen ­Theorie HOMO CREANS (Eder 2016).

Künstlerische Bildung am Bauhaus Von Beginn an steht das 20. Jahrhundert im Kontext gesellschaftlicher Aufbrüche. Z.B. entsteht in den Wellen der Reformpädagogik um die Jahrhundertwende die Kunsterzieherbewegung, die ihre erste Tagung am 28. und 29. September 1901 in Dresden abhält. Sie fordert die Ausbildung ästhetisch sensiblen Bewusstseins, der Selbstständigkeit und des schöpferischen Tuns. Unter der Prämisse «durch Kunst zu erziehen, nicht zur Kunst» (Götze 1902: 152) soll der Zeichenunterricht zum schulischen Hauptfach erhoben werden, um rezeptive und produktive Kräfte sowie die entsprechenden Ausdrucksmittel entwickeln zu können. Das Bildungsziel ist also nicht die Kunst selbst. Ziel sind vielmehr inter- und intrasubjektive Bildungsprozesse des Menschen und der Persönlichkeit mithilfe der Kunst. Das kunstpädagogische Verständnis am Bauhaus hat Anklänge an diese Ideen des jungen 20. Jahrhunderts. Es geht um neue Räume des Denkens, des Machens und Lebens – um nichts weniger als die intellektuelle, kulturelle und kreative Befreiung des Menschen hin zu einer neuen Gesellschaft. Im Jahr 1919 gründet der Architekt Walter Gropius das Staatliche Bauhaus in Weimar, eine staatliche Hochschule für Bau und Gestaltung. Diese steht für Interdisziplinarität und Vernetzung.

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Die Lehrerschaft setzt sich zusammen aus avantgardistischen Persönlichkeiten.1 Die prozessorientierte Lehre am Bauhaus verbindet künstlerische Ausbildung mit wissenschaftlich-systematischem Unterrichtsstil und startet mit einer handwerklichen Grundausbildung. Gemäß dem Bauhaus-Manifest von 1919 sind die beiden pädagogischen Schwerpunkte das Handwerk als Basis künstlerischer Intuition sowie die Einheit von Künsten und Handwerk: Kunst entsteht oberhalb aller Methoden, sie ist an sich nicht lehrbar, wohl aber das Handwerk. Architekten, Maler, Bildhauer sind Handwerker im Ursinn des Wortes, deshalb wird als unerläßliche Grundlage für alles bildnerische Schaffen die gründliche handwerkliche Ausbildung aller Studierenden in Werkstätten und auf Probier- und Werkplätzen gefordert. (Wick 1994: 30f.) Das Studium ist in drei Abschnitte gegliedert. Zunächst besuchen alle Studierenden den halbjährigen Vorkurs, ein von Itten konzipiertes Grundstudium aus Formunterricht und Materialübungen. Er ist von 1919–1923 Lehrer am Bauhaus. Dort entwickelt er seine Farbenlehre und baut die Werkstätten auf. Er will die Studierenden dazu führen, durch Improvisation und künstlerische Experimente den eigenen gestalterischen Weg hin zu einem autonomen Künstlertum zu finden. Die individuelle Kreativität – Itten selbst nennt sie die «schöpferischen Kräfte» (ebd.: 105) – wird u.a. durch Aufgabenstellungen angeregt, bei denen die Studierenden z.B. auf den Straßen banale Gegenstände finden sollen, die dann als assoziative Grundlage eigenständig entwickelter, kreativer Objekte dienen. Ittens Anspruch der ganzheitlichen Menschenbildung und Persönlichkeitsentwicklung hat eine mitunter religiöse Aufladung. Diese Radikalität birgt Konfliktpotenzial. Gropius, Direktor von 1919–1928, drängt zunehmend auf die ökonomisch orientierte Ausrichtung der Lehre auf Industriedesign und professionalisierte Serienproduktion. 1923 verlässt Itten das Bauhaus und László Moholy-Nagy übernimmt die Leitung des Vorkurses. Er verlegt den Schwerpunkt von künstlerischen auf technische Fragen. Von 1928–1933 ist Albers offizieller Leiter des Vorkurses. Er selbst besuchte 1920 als Schüler unter Itten den Vorkurs. Auch Albers geht es weiterhin um die Konfrontation der Studierenden mit grundsätzlichen Gestaltungsaufgaben. Allerdings erfolgt eine didaktische und methodische Neukonzeption (ebd.: 169ff.). Inspiriert durch die reformpädagogischen Ideen u.a. John Deweys propagiert ­Albers ein handlungsorientiertes, entdeckendes Lernen durch Erfahrung, in dem sich Pädagogisches und Künstlerisches unmittelbar verschränken (ebd.: 179). Sein Ansatz stellt das Schöpferische in den Mittelpunkt. Es geht ihm um die Erfindung, um die Erziehung «gestaltender Menschen» gemäß dem Motto «Probieren geht über studieren» (Albers 1928: 3). Hier lässt sich die künstlerische Strategie des spielerischen Forschens erkennen: 1

Unter den internationalen Lehrer*innen, Meistern und Professoren sind: Ise Gropius (Lektorat), Walter Gropius (Architektur, Direktorat), Anni Albers (Textilkunst, Grafik, Weberei), Josef Albers (Malerei, leitet den Vorkurs), Johannes Itten (Farbtheorie, leitet den Vorkurs), Wassily Kandinsky (Wandmalerei, freie Malerei), Paul Klee (Buchbinderei, Gold-, Silber- und K ­ upferschmiede, Glasmalerei), Oskar Schlemmer (Malerei, Graphik, Bildhauerei, Wandgestaltung, Choreografie, Bühnenwerkstatt), Lyonel Feininger (Malerei, Graphische Werkstatt), Lucia Moholy (Fotografie), Laszlo Moholy-Nagy (Experimente mit Licht, Film, Kinetik, Metallwerkstatt), Ludwig Mies van der Rohe (Architektur), Wilhelm Wagenfeld (Metallwerkstatt), Marcel Breuer (Möbelwerkstatt).

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Aber die Erfindung – auch die Wieder-Erfindung – ist das Wesen des Schöpferischen. […] Erfindendes Bauen und entdeckendes Aufmerken werden entfaltet – zumindestens zu Anfang – durch ungestörtes, ­unbeeinflusstes, also vorurteilsfreies Probieren, das (zuerst) zweckloses spielerisches Basteln in Material ist. Also durch unfachliche (das heißt, nicht durch Lehre beschwerte) Versuchsarbeit. (Ebd.: 3ff.) Es geht Albers darum, das Handwerkliche durch die Dimension des Schöpferischen hin zur Gestaltungsfähigkeit zu erweitern. Konkret wird dies in der intensiven Auseinandersetzung mit Materialien und Werkstoffen. Zu seiner induktiven Strategie gehört es, in kreativen Prozessen das, was bekannt ist (z.B. Werkzeuge und Arbeitsverfahren), zu untersagen und zu unvoreingenommenem Ausprobieren anzuregen. Die Begrenzung des Handlungsspielraums durch einschränkende Vorgaben eröffnet innerhalb des gesetzten Rahmens dann maximale kreative Gestaltungsspielräume. Die dabei entstehenden Primärerfahrungen werden dann in einer Ergebnisdiskussion reflektiert. Albers’ Modell der künstlerischen Kreativitätsbildung operiert also besonders mit der kreativen Prozesshaftigkeit zwischen ästhetischer Produktion und Rezeption. Kreativitätspädagogik steht hier im Kontext kreativen Denkens als lernendes und entgrenzendes Denken. Nach dem Vorkurs folgt die Aufnahme in die Werklehre. Dabei entscheiden sich die Studierenden für eine Fachrichtung in einer der Lehrwerkstätten.2 Die Ausbildung erfolgt im handwerklichen Umgang mit Objekten und Projekten. Die leitenden Lehrenden der Werkstätten heißen Formmeister. Sie werden jeweils durch einen Werkmeister unterstützt, der die Grundlagen des Handwerks beherrscht. Die einzige von einer Frau geleitete Werkstatt ist die Weberei. Anni Albers hat von 1931– 1933 ihre Leitung. Auch wenn sie als Kunstgewerbe in der Hierarchie von Kunst und Handwerk an letzter Stelle steht, ist die Weberei eine überaus produktive Werkstatt. Was die Textilkünstlerinnen dort an progressiven Ideen und Neuerungen entfalten, führt zu einem Entwicklungsschub im Industriedesign und zu einer künstlerischen Neubewertung der Textilkunst. Der dritte Studienabschnitt besteht aus der Baulehre, der Mitarbeit am Bau mit bedingungsabhängiger Dauer. Als Abschluss wird ein Meisterbrief der Handwerkskammer und bei besonderer Begabung auch des Bauhauses vergeben. Einige der Studierenden arbeiten nach ihrer Berufsausbildung als Meister am Bauhaus weiter. Das Einheitsbestreben zwischen Künsten, Handwerk und Technik setzt sich fort in der kreativen Lern-, Arbeits- und Lebensgemeinschaft der Lehrenden und Studierenden. Die Ideen der Reformbewegung, die am frühen Bauhaus eine zentrale Rolle spielen, fördern ein freies Miteinander von Lehrenden und Studierenden, Männern und Frauen. Studium und Freizeit fließen ineinander: z.B. bei Festen, Vorträgen, auf der Bauhausbühne und bei Konzerten, in der Bauhausmensa und im hauseigenen Gemüsegarten. Auch Bücher und Zeitschriften produzieren die Studierenden. Damit soll die Welt konstruktiv gestaltet und verändert werden. Denn die individuelle Förderung der schöpferischen Kräfte motiviert sich auch aus einem 2

Bereits ab 1920 hatten die Frauen keine wirkliche Wahl mehr, sondern wurden in die Weberei geschickt, welche zur «Frauenklasse» (Müller 2009: 10) erklärt wurde.

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politischen Impetus, der utopistischen Forderung nach ästhetischer Umgestaltung der Gesellschaft. In diesem Kontext hat die alles umfassende Gemeinschaft ­besondere Funktion. Aufgrund der Durchdringung der Denkweisen und Lebensbereiche seiner Mitglieder sowie ihrer fehlenden Distanzierungsmöglichkeit muss das Bauhaus jedoch einem gewissen Ideologieverdacht standhalten.

Musterhaus Am Horn An einem herausragenden kunstpraktischen Beispiel veranschaulicht sich der kreativitätsbildende Ansatz des Bauhauses, in dem die individuelle, experimentelle Kreativität einzelner Künstler*innen und Werkstätten in die Gestaltung eines großen Ganzen zusammenfließen. Anlass ist die erste große Ausstellung der Schule vom 15.08.–30.09.1923. Als konzeptionelle Gemeinschaftsproduktion soll sie das gestalterische und pädagogische Selbstverständnis der Schule veranschaulichen und Förderer akquirieren. Alle Werkstätten sollen nach den Grundsätzen des Produktdesigns, der Funktionalität sowie der technischen Reprodu­ zierbarkeit, in einem gemeinschaftlich errichteten und ausgestatteten Bau die mitunter experimentellen Ideen zeitgemäßen Wohnens verwirklichen, die sich am Bauhaus entwickelt haben. Als Ideal für die Projektdurchführung dient die mittelalterliche Bauhütte. Die einzelnen Kunstgattungen und Gewerke sollen am Bau zu einem großen Ganzen verbunden werden. Den Entwurf für die Schauarchitektur liefert der Maler Georg Muche, der seit 1921 in der Weberei tätig ist und Lehrerschaft wie Schülerschaft in einer schulinternen Abstimmung am 6.10.1922 von seiner modular angelegten, puristischen Architektur überzeugt. Die Ausstattung der Wohnräume erfolgt durch die Bauhauswerkstätten: Bildhauerei, keramische Werkstatt für das Geschirr, Möbelwerkstatt, Metallwerkstatt, Werkstatt für Wandmalerei sowie die Weberei für Teppiche und Textilien. Das Musterhaus Am Horn zählt heute zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Kreativitätspädagogik am Bauhaus Der Ansatz des Bauhauses fußt zunächst auf der Idee eines entgrenzten Kunstverständnisses im Kontext der Gestaltung von Gesellschaft und Leben. Die Künste, Handwerk und Technik werden nicht mehr getrennt voneinander gedacht und gemacht, sondern in einem kreativen Umfeld, mithilfe kreativer Methoden und in gemeinschaftlicher Vernetzung inter- bzw. transdisziplinär zusammengeführt. Im Projekt des Musterhauses Am Horn treten künstlerische Strategien wie die ­Forschung, Komposition und Collage hervor. Der Vorkurs unter Albers operiert besonders mit der Verschränkung von Pädagogischem und Künstlerischem im handlungsorientierten, entdeckenden Lernen durch Erfahrung z.B. in der intensiven, spielerischen und forschenden Auseinandersetzung mit Materialien und Werkstoffen. Die kreative Prozesshaftigkeit steht zwischen Produktion und Rezeption – z.B. im Rahmen von eingrenzenden Aufgabenstellungen mit offener Problemformulierung, die eine Vielzahl verschiedener kreativer Lösungen provozieren.

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Kreativitätspädagogik steht hier im Kontext kreativen Denkens, subjektiven ­Erlebens und einer inhärenten kreativen Grundhaltung. 1933 wird das Bauhaus von den Nationalsozialisten zur Selbstauflösung gezwungen. Einige Protagonist*innen wie Anni und Josef Albers, Walter Gropius, László ­Moholy-­ Nagy und Ludwig Mies van der Rohe emigrieren in die USA und finden u.a. am Black Mountain College Arbeit, wo sie die Bauhaus-Ideen weitertragen. Albers’ Modell der künstlerischen Kreativitätsbildung erweist sich dabei als besonders einflussreich.

Künstlerische Bildung am Black Mountain College Auch am Black Mountain College geht es – wenn auch in anderer Weise – um einen gewissermaßen ganzheitlichen Bildungsansatz (Becker 2018; Busse 2009; Harris 2002). Das Black Mountain College wird 1933 in North Carolina/USA vom Musikwissenschaftler John Andrew Rice gegründet und besteht bis 1957. Es verfolgt ein transdisziplinäres Curriculum mit offenem Abschluss. Daraus gehen viele einflussreiche Persönlichkeiten und Avantgarde-Künstler*innen hervor.3 Viele Studierende ergreifen später auch ganz andere Berufe. Josef Albers lehrt ab 1933 dort und wird künstlerischer Leiter. 1948/49 ist er Direktor des Black Mountain College. Anni Albers lehrt von 1939–1949 als Assistant Professor in der Weberei. Das allgemeinbildende Curriculum mit natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern hinterfragt Gattungsgrenzen. Folgende Disziplinen werden gelehrt: Bildende Kunst, Theater, Literatur, Musik, Architektur, Geschichte, Physik, Ökonomie. Besonderen Stellenwert hat die künstlerische und musische Ausbildung. Basierend auf Deweys pädagogischer Konzeption vertritt das Black Mountain College eine liberal arts education, eine progressive, experimentelle, interdisziplinäre Kunstpädagogik. Es gründet auf der zentralen Wichtigkeit künstlerischen Ausdrucks in jeglichem Erkenntnisprozess, frei von instrumentalisierenden Interessen. Die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Kunst, Musik, Theater, Literatur und Kunsthandwerk soll auch das Studium der anderen Fächer beeinflussen. Denn man versteht die Künste als zentral für die Selbstentfaltung und die Entwicklung der Kreativität. Künstlerische Experimente dienen als Mittel der Welterkenntnis, mit deren Hilfe man übergeordnete, übertragbare Erfahrungen, Fertigkeiten und Kompetenzen sammeln will. Es gibt keine Noten, kein Pflichtcurriculum, keine Prüfungen, keine Studiengebühren und es macht den Studienabschluss, wer will. So wie am Bauhaus leben auch hier die Lehrenden und Studierenden zusammen in einer Gemeinschaft auf dem Campus, wo Studium und Alltagsleben verschränkt sind. Sie lernen, arbeiten und feiern zusammen. Dies zieht die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts an: Kunstschaffende aus den Bereichen Komposition, Tanz, Literatur und Poesie sowie Architektur. Manche bleiben jahrelang, manche nur für einen Sommer. Die Grenzen zwischen den Kunstgattungen verwischen. 3

Lehrende: Josef und Anni Albers, John Cage, Merce Cunningham, Albert Einstein, Richard Buckminster Fuller, Walter Gropius, Allan Kaprow, Franz Kline, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Mary Caroline Richards; Schüler: Ruth Asawa, John Chamberlain, Robert Rauschenberg, Cy Twombly.

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Kunst wird zur sozialen Praxis. Es ist gleichsam ein think tank zur Entwicklung von Ideen, ein kreatives, kollaboratives, freiheitliches Experimentierfeld. So nimmt auch die Geschichte der Performance Kunst hier ihren Anfang.

Untitled Event Im Sommer 1952 kommt es zu einer Kunstaktion, bei der die beteiligten Künste in einem Werk zusammenfließen. Im Zentrum stehen Künstler*innen rund um John Cage. Von 1941–1957 hat er mehrere Lehraufträge am Black Mountain College, dessen am Bauhaus angelehntes Schulkonzept ihn beeindruckt. Im Sommer 1952 inszeniert er dort die multimediale Arbeit Untitled Event, die als erstes performatives Happening der Kunstgeschichte gilt. Der Speisesaal des Colleges ist in vier, auf die Raummitte ausgerichtete Dreiecke unterteilt. Zuschauerraum und Bühnenraum sind nicht voneinander getrennt. Die Performance ist nicht öffentlich. ­Beteiligte erinnern sich an 35–50 Zuschauer*innen. Auf jedem Zuschauerstuhl steht eine weiße Tasse. Teilnehmende Kunstschaffende in Malerei, Musik, Tanz und Poesie sind Merce Cunningham, Charles Olsen, Robert Rauschenberg, Mary Caroline Richards, Alan Watts, David Tudor und John Cage. Die Partitur von Cage gibt lediglich time brackets vor. Von einer Leiter herab liest Cage einen Text über die Beziehung zwischen Musik und Zen-Buddhismus sowie Auszüge aus Meister Eckharts mystischen Schriften. Außerdem führt er eine Komposition mit einem Radio auf. Rauschenberg spielt alte Schallplatten auf einem Phonographen und projiziert abstrakte Dias und Filmausschnitte auf die Decke und an eine Wand. Seine White Paintings hängen neben einem Bild von Franz Kline von der Decke. Tudor bearbeitet ein prepared piano und gießt Wasser aus einem Eimer in einen anderen. Von einer zweiten Leiter herab tragen Olsen und Richards abwechselnd eigene Dichtungen vor. Cunningham tanzt mit anderen Tänzern durch und um das Publikum. Watts spielt auf verschiedenen Musikinstrumenten. Am Ende schenken vier weiß gekleidete Jungen den Zuschauer*innen Kaffee in die Tassen (FischerLichte 2002; Herzogenrath/Nierhoff-Wielk 2012; Schmidt 2012). Inspiriert wird Untitled Event – neben Bezügen zu Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks, Dada und den Futuristen – durch die Essay-Sammlung Le Théâtre et son Double (1938) des französischen Schriftstellers Antonin Artaud. Dieser stellt die künstliche, literarische Form des Theaters der sinnlichen Erfahrung lebendiger Rezeption gegenüber und greift damit theatralische Konventionen an. Zentraler Gedanke von Untitled Event ist die Interaktion zwischen Kunstschaffenden und Publikum bzw. die Aktivierung der Rezipient*innen. Akteur*innen und Zuschauer*innen sind im Raum verteilt. Es gibt weder eine vorgegebene Bedeutung der Handlungen, noch einen Fokus der Rezeption. Inhalt ist vielmehr ein flüchtiger Prozess, in dem die Zuschauer*innen selbst den Fokus wählen und die Bedeutung im Moment der partizipatorischen Wahrnehmung selbst mitgestalten, indem sie Bezüge herstellen zwischen Akteur*innen und Handlungen. Die Rezipient*innen beobachten sich auch gegenseitig, blicken in eine Art Spiegel, werden zu Beobachteten. Nicht zuletzt die Tasse ermöglicht den Zuschauer*innen, selbst Akteur*­ innen zu werden. Die Tasse kann als Requisit gesehen werden, das die Spielstätte

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thematisiert, oder als Programm, das die co-kreativen Zuschauer*innen aktiviert und einbindet in dieses Gesamtkunstwerk jenseits der Gattungsgrenzen. ­Performer*innen und Beobachter*innen werden zur Einheit in einem besonderen Raum-, Zeit- und Körperempfinden. Die Rezipient*innen werden gleichsam zu Beteiligten, die das Werk vervollständigen.

Kreativitätspädagogik am Black Mountain College Am Untitled Event lassen sich viele Elemente ablesen, die für das Kunstverständnis sowie das kunstpädagogische Verständnis am Black Mountain College stehen. Deutlich erkennbar wird z.B. ein entgrenzter Kunstbegriff auf der Grundlage interdisziplinärer Vernetzungen sowie der Interrelationalität zwischen Akteur*innen und Rezipient*innen. Des Weiteren lassen sich künstlerische Strategien wie das Spiel, die Collage, die Komposition und der Zufall darin erkennen. Parallelen zu gegenwärtigen Überlegungen im Kontext von Kreativitätsbildung können in einer für das Black Mountain College kennzeichnenden Schwerpunktsetzung auf komplexen Bezügen und Beziehungen erkannt werden. In Weiterführung der reformpädagogischen Ansätze am Bauhaus richtet sich die interdisziplinäre Ausbildung der Studierenden auch hier auf die grundlegende Persönlichkeitsbildung. Ästhetische Bildung vollzieht sich auf rezeptiver und produktiver Ebene, auf der Grundlage von kreativen Grundhaltungen, kreativen Beziehungen und multiperspektivischem Lernen.

HOMO CREANS Die jeweiligen Lehrkonzepte des Bauhauses sowie des Black Mountain Colleges weisen viele Parallelen und Gemeinsamkeiten auf – z.B. treten aus einer heutigen Sicht kreativitätsbildende Momente und der Umgang mit künstlerisch-kreativen Strategien hervor: spielerische Forschung und Vernetzung von Handwerk und Künsten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gewinnt der Begriff der Kreativität enorm an Bedeutung und rückt ins Bewusstsein verschiedenster Forschungen und Interessensgemeinschaften. Andreas Reckwitz diagnostiziert den Stressfaktor kreativer Imperativ (Reckwitz 2012: 10). Die Erwartung an das Individuum, kreativ zu sein, verspricht Selbstverwirklichung. Doch ist dies häufig auch mit Instrumentalisierung und Bewertung von Innovationskraft gekoppelt. Eine idealisierende Überhöhung der Kreativität als pädagogische Zielsetzung ist deshalb kritisch zu sehen. Im Folgenden geht die kunstpädagogische Theorie des HOMO CREANS (Eder 2016), des schöpferischen Menschen, hier weiter in die Tiefe und entwirft einen kreativitätsbildenden Ansatz, der auf aktuelle Bildungs- und Entwicklungsaufgaben ausgerichtet ist. HOMO CREANS wählt dafür den Fokus des künstlerisch-kreativen Prozesses mit seinen künstlerisch-kreativen Strategien und fußt dabei u.a. auf Albers’ Lehrkonzepten am Bauhaus und am Black Mountain College.

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Kreativer Prozess Im 20. Jahrhundert stellen die Wissenschaften, besonders die Psychologie und die Neurowissenschaften, immer differenziertere Erklärungsmodelle des kreativen Prozesses – ganz allgemein, auch jenseits von künstlerischen Prozessen – vor. Rainer Holm-Hadulla spricht von fünf Phasen des kreativen Prozesses: Präparation, Inkubation, Inspiration, Inkarnation und Verifikation (Holm-Hadulla 2011: 83ff.). In der Präparation wird eine offene Problemstellung erkannt und analysiert. Zur Lösung werden Informationen gesammelt und Fertigkeiten angeeignet. Die Präparation stellt sich in Beziehung zur Innen- und Außenwelt der Protagonist*innen, deren Wissen und Können. Doch das Problem ist noch nicht lösbar. Die Inkubation spielt im freien Fantasieren und sammelt weiteres Wissen. An einem gewissen Punkt wird die aktive Suche eingestellt. Lösungsprozesse laufen jedoch unbewusst weiter. Mit Bezug auf Nancy Andreasen beschreibt Holm-Hadulla, dass sich die komplexesten Hirnareale während dieser unbewussten, assoziativen Denkprozesse im neuronal interaktiven Zustand des Random Episodic Silent Thought, dem REST befinden (Holm-Hadulla 2011: 67–70). Informationen werden miteinander abgeglichen und auf eine Passung hin geprüft. Plötzlich entsteht aus der Kombination von Beziehungen und Bezügen Neues. Im Augenblick der Inspiration tritt die Lösung ins Bewusstsein. In der Vision der Lösung finden ratio und emotio ins Gleichgewicht. Der Schlüsselmoment des kreativen Prozesses ist die ästhetische Erfahrung des Flow. Der Psychologe Mihály Csikszentmihályi formulierte 1975 das Konzept des Flow-Erlebens (Csikszentmihalyi 1985). Anschließend realisiert sich diese Vision in den Gestaltungsprozessen der Inkarnation. Die Realisierbarkeit der kreativen Idee wird geprüft und mühsam ausgearbeitet. Das kreative Produkt erhält seinen Sinn jedoch erst in der konfrontativen Verifikation und Legitimation. Ein kreativer Prozess kann wenige Sekunden oder viele Jahre dauern. Die fünf Phasen folgen nicht linear aufeinander, sondern durchdringen sich in einem Rückkopplungskreis. Sie umfassen Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Selbstgestaltung und Weltgestaltung, Haltungen und Persönlichkeitseigenschaften der kreativen Protagonist*innen, ein kreatives Umfeld, den Umgang mit dem kreativen Produkt, seine Rezeption und Weiterentwicklung. Kreativität beschränkt sich damit nicht auf eine gestalterische Kompetenz, sondern wird zu einer grundsätzlichen Lebenshaltung und Bildungsaufgabe (Eder 2016: 18).

Künstlerisch-kreative Strategien In meiner Publikation HOMO CREANS (2016) leite ich aus künstlerisch-kreativen Prozessen fünf implizite, künstlerisch-kreative Strategien ab, die den kreativen Prozess strukturieren und sich bereits in der Darstellung von Albers’ Lehre als künstlerischer Kreativitätspädagogik sowie dem Musterhaus Am Horn und dem Untitled Event zeigten: Forschung, Spiel, Komposition, Zufall und Vernetzung.

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Forschung entspricht hier einem künstlerisch forschenden Experiment, das sich auf Fragestellungen und Forschungsgegenstände hin öffnet, die für Protagonist*­ innen subjektiv relevant sind. Die Strategie des Sammelns erkundet und erforscht Felder und Räume, sichert Spuren, analysiert und ordnet Erlebtes anhand ­bestimmter Kriterien. Das Spiel schafft eine eigene, in sich abgeschlossene, fiktive und gleichzeitig reale symbolische Als-ob-Welt. Hier gibt es verschiedene Spielformen, z.B. die Improvisation. Die Komposition konstruiert oder dekonstruiert, schafft oder zerstört Ordnung und entwickelt neue Strukturen. Inhalt, Form und Medium des Werks werden nach einem gewählten Regelwerk in einen stimmigen Zusammenhang gebracht. Der Zufall greift unvorhergesehen in UrsacheWirkungs-Relationen ein und schafft neue Formen. Dazu zählt auch der Fehler. Nicht zuletzt vernetzt künstlerische Kreativität differenzierte Wahrnehmungsleistungen, Kontexte, Können, Selbst-Reflexion und Entscheidungen zu kreativen Neukombinationen. Diese künstlerisch-kreativen Strategien stellen die methodische Grundlage der kreativitätsbildenden Theorie des HOMO CREANS dar.

Grundzüge der Kreativitätsbildung Heute versteht man Bildung u.a. als lebenslangen, interrelationalen, d.h. an die wechselseitige Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden gebundenen (­Thomä 2009: 233), entgrenzenden Formungsprozess der menschlichen Persönlichkeit. Bei der Kreativitätsbildung geht es darum, den individuellen Menschen als verantwortungsbewusstes, kooperatives, demokratisches Gemeinschaftswesen in seinen angeborenen Talenten und Fähigkeiten, seiner Freude, Urteilskraft, Mündigkeit, Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit zu stärken. Kreativität entsteht weniger unter dem Druck von Selbstoptimierung, Konkurrenz bzw. Innovationsforderung, sondern in der Vertrautheit mit sich selbst und den eigenen Stärken (ebd.: 242ff.). Ausgehend von ästhetischen Erfahrungen ist Kreativitätsbildung ein elementarer, lebenslanger, ganzheitlicher, sinnbildender, selbstbildender und selbstentgrenzender, interrelationaler Gestaltungsprozess. Bereits Johann Heinrich Pestalozzi wählte für Entwicklungsprozesse die drei ­metaphorischen Ebenen Kopf, Herz und Hand, die jeweils für intellektuelle, ­sittlich-religiöse sowie praktische Kräfte stehen (Pestalozzi 1932). Im Lebenskontext Pestalozzis steht das Herz also für moralische bzw. religiöse Bildungsziele, die heute so anders formuliert werden würden. Dennoch lassen sich die drei Metaphern auch auf den gegenwärtigen Kontext der Kreativitätsbildung übertragen.

Kopf, Herz und Hand Die Metapher Kopf steht hier für entgrenzendes Denken. Frei von Furcht, von Gewissheiten, Routine oder perfektem Vorbild schafft die Vorstellungskraft Als-obWirklichkeiten. Notwendige Ausgangspunkte hierfür sind Unvollkommenheiten, eine Krise, das Hinterfragen von Grenzen und der Transfer von Wissen auf andere

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Denkfelder. Das Ungeplante stellt ein Schlüsselelement der kreativen Wissensgenerierung dar. Zeiten der Stille und das Üben von Fantasie stehen damit in ­Verbindung. Herz bedeutet die Ebene subjektiven Erlebens und dessen inhärente Haltung aktiver Hingabe. Die Hand impliziert eine ethische Komponente. Neben handwerklichtechnischem Können bzw. bildnerisch-künstlerischen Techniken als wichtigen Elementen kreativen Handelns braucht freiheitliche Entfaltung geregelte Umgangsformen, gleichberechtigte, wertschätzende, interrelationale Beziehungen.

Kreativitätsförderung und Hemmnisse Populäre Ratgeber versprechen eine Kreativitätssteigerung durch strukturierte Techniken. Karsten Noack unterscheidet hier drei Oberkategorien: assoziative Techniken, bildliche Techniken und Analogien sowie systematisches Vorgehen (Noack 2008: 40). Zielgerichtete Kreativitätsförderung durch Techniken ist jedoch auch kritisch zu sehen. Denn Kreativität ist ein Interaktionsprozess zwischen Subjekten und ihren Lebenswelten. Ihre Instrumentalisierung kann die Motivation, den Prozess und das Produkt korrumpieren. Kreativität lässt sich nicht herstellen. Doch ihre Verhinderung lässt sich vermeiden. Ein kreativitätsbildender Prozess wird z.B. angeregt durch ein gewisses Maß an Notwendigkeit, ein heterogenes Umfeld, sinnliche Erfahrungen, Lernanreize und ein Ergänzungsverhältnis von intrinsischer und extrinsischer Motivation, das sich im Wechselspiel von Struktur und Freiheit, von innerem Antrieb und äußerer Anerkennung entfaltet. Der kreative Prozess ist geprägt von Beziehung, Vernetzung und Transfer, durch technisches Können sowie durch Reflexion. Ein Rückzugsort und Rituale können helfen. Welche Entwicklungen angestoßen werden, liegt letztlich an der intrinsischen Motivation, an Spielräumen und diversifizierten Bildungsangeboten, an Selbstregulierung und der Grundhaltung der Handelnden (Kirchner/Peez 2009: 10–18). Diese stellt eine nicht-messbare Ressource dar, die gerade hinsichtlich aktueller Anforderungen für die Entwicklung von werteorientiertem, kreativem Denken und Handeln entscheidend ist. Kreativität wird im Kindesalter, in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter jeweils anders erlebt und erfüllt verschiedene Aufgaben in der individuellen Entwicklung und Lebensbewältigung (Eder 2016: 371ff.).

Pädagogische Maxime Kunstpädagogische Kreativitätsbildung mit Kopf, Herz und Hand will den ästhetischen Erfahrungsraum in Form von Wahrnehmungs-, Denk-, Handlungs- und Lernprozessen eröffnen und begleiten. Das Prinzip der Handlungsorientierung als nachhaltiges Lernen bezieht sich dabei sowohl auf den praktisch-materiellen Aspekt wie auch auf geistiges Handeln (Wiater 2012: 4). Die zentrale Dynamik ist der Wechselstrom aus konvergentem und divergentem Denken, aus sinnlicher Wahrnehmung, neuen Erkenntnissen und differenzierenden Reflexionen. Werden diese kognitiven Dimensionen der Kunst und des künstlerischen Handelns nicht

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ausgeschöpft, bleiben kreative Bildungsprozesse an der Oberfläche von sinnlichem Hedonismus. Aus dem kreativen Prozess lassen sich – in Erweiterung der Zusammenstellung von Eid, Langer und Ruprecht (2002: 160–192) – die folgenden fünf pädagogischen Maximen kunstpädagogischer Kreativitätsbildung entwickeln: • Sensibilität: Mündige Kreativität braucht Sensibilität für schöpferische und zerstörerische Ambivalenzen, für Instrumentalisierungen und Ideologien, um Verantwortung für Gesellschaft und Welt sowie deren nachhaltige Mitgestaltung übernehmen zu können. • Selbständigkeit: Selbstorganisation von Input und Output, Fantasie, die Fähigkeit, Pausen im Sinne des REST einzulegen und Transfer herzustellen. Sie ist notwendig für lebenslanges, forschendes Lernen. • Genussfähigkeit: Sie integriert Gefühl und Verstand, Genuss, Erkenntnisfähigkeit und Frustrationstoleranz. Sie geht kritisch mit den Potenzialen und Problematiken kreativer Emotionen um und entwickelt eine Mündigkeit für ethisches Handeln. • Kommunikationsfähigkeit: Kritische Entscheidungsfähigkeit, Urteilskraft und (Selbst-)Reflexionskompetenz. • Beziehungsfähigkeit: Die Interrelationalität der Kreativität setzt Dinge spielerisch in Beziehung, erkennt Beziehungen. Deshalb bedarf sie einer sensiblen, verantwortungsbewussten, verbindlichen Beziehung zu sich und den eigenen Bedürfnissen, zu den Mitmenschen und zur Welt. Diese fünf Teilziele sowie die fünf künstlerisch-kreativen Strategien bilden die Rahmenbedingungen einer methodischen Umsetzung. Die kunstpädagogische Position des HOMO CREANS generiert sich aus den fünf Phasen des kreativen Prozesses, den künstlerisch-kreativen Strategien, kreativen Dynamiken sowie aus den pädagogischen Zielsetzungen. Sie will hinsichtlich der individuellen Persönlichkeitsentwicklung wie auch der Sozialisierung hin zur mündigen Teilhabe an Gesellschaft und Kultur pädagogisch wirksam sein und so zur Orientierungs- und Beziehungsfähigkeit in einer komplex vernetzten Welt beitragen. Unsere globalisierte Gegenwart steht im Spannungsfeld medialer Vernetzungen, kultureller Transformationen und entgrenzter Identitäten. Vor dem Hintergrund pluralistischer Weltbilder und heterogener Lebensentwürfe, digitaler Reizüberflutung, Pandemien und artificial intelligence ist jede*r herausgefordert, sich im großen Ganzen zu orientieren, das eigene Handeln mit Sinn und Verantwortung zu belegen. Es bedarf der kreativen Grundkompetenz, Struktur in die wachsende Komplexität zu bringen, Zusammenhänge herzustellen, Sachverhalte kritisch zu diskutieren und zu beurteilen. Kunstpädagogik und Kunstvermittlung müssen auf diese Implikationen reagieren. Ein Fokus auf den künstlerisch-kreativen Prozess als Element künstlerischer Bildung birgt hier ein Potenzial, das es zu erkunden gilt. Die kunstpädagogischen Ansätze des Bauhauses und des Black Mountain C ­ olleges bieten uns hier einen erprobten Fundus an kreativen Grundhaltungen, Herangehensweisen und Zielsetzungen. Diese gilt es zu aktualisieren, anzupassen, weiter

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zu erproben und zu verifizieren. Denn das persönlichkeitsbildende Potenzial kreativer Prozesse kann auch in unserer komplexen Gegenwart vielfältige Beiträge leisten für die aktuellen Bildungs- und Entwicklungsaufgaben.

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Johanna G. Eder, von 2017 bis 2021 Leiterin der Kunstvermittlung am Diözesanmuseum München-Freising. Zudem ist sie künstlerisch tätig. Promotion mit der Arbeit HOMO CREANS – Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst. Forschungsschwerpunkte: Artistic Research; Kunstvermittlung.

Hofmann, Gabriele (Hg.) (2007): Identität & Kreativität. Beiträge aus Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Augsburg, Wißner.

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Angela Weber

Woraus wird Morgen gemacht sein Ein transdisziplinäres Bildungsprojekt im Bauhaus-Jubiläumsjahr

Wir streben eine sich erneuernde, lebendige und eigenständige Wissenschaft an, die Elfenbeinturm und Agora gleichermaßen wäre. Unser Ziel ist es, in Zeiten von Stagnation, dem Wiedererstarken rechter Strömungen sowie vielfältiger Untergangsszenerien einen institutionen-, disziplinen- und generationenübergreifenden Prozess gemeinschaftlichen Gestaltens anzustoßen. Dieser kann einen starken Gegenpol bilden und liefert zudem einen zentralen Beitrag zu einer aktiven Demokratie. Dies meinen wir, wenn wir von Bildung/Bilden/Gestalten (im Sinne einer ästhetischen Praxis) sprechen. Mit vereinten Kräften forcieren wir einen emanzipatorischen Prozess hin zu einer Gesellschaft der Ungleichheit gleicher Menschen1 an der wir heute schon – spätestens morgen – an der wir jeden Tag aufs Neue bauen. (http://morgenmachen.org)2

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In Anlehnung an Jacques Rancières kritisches Verständnis von Bildung: «Die öffentliche Bildung, die eingerichtete gesellschaftliche Fiktion der Ungleichheit als Rückstand, ist die Zauberin, die all diese Vernunftwesen versöhnen wird. […] Man muss wählen zwischen einer Gesellschaft der Ungleichheit mit gleichen Menschen oder einer Gesellschaft der Gleichheit mit ungleichen Menschen. Wer Geschmack für die Gleichheit hat, dürfte nicht zögern: Die Individuen sind die realen Wesen und die Gesellschaft eine Fiktion. Für die realen Wesen hat die Gleichheit einen Wert, für eine Fiktion hingegen nicht. Es würde für alle genügen zu lernen, sich als gleiche Menschen in einer Gesellschaft der Ungleichheit anzusehen. Das bedeutet, sich zu emanzipieren.» (Rancière 2018: 154f.) Mission Statement auf der Projekt-Website. Die im Folgenden verwendete Wir-Form hat programmatischen Charakter. Auf diese Weise wollen wir, die am Projekt Beteiligten, zum Ausdruck bringen, dass die gleichberechtigte Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit unterschiedlichen Akteur*innen (Studierenden, Schüler*innen, Bürger*innen) den Handlungsrahmen unseres Projektes absteckt. Das hier präferierte Wir ist heterogen, wohlwissend, dass alle Akteur*innen einen anderen Erfahrungshorizont einbringen. Es ist uns wichtig, den unterschiedlichen Stimmen und Sichtweisen gerecht zu werden.

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bauhausnow: das kulturelle Erbe der Avantgarden das ziel des bauhauses ist eben kein stil, kein rezept und keine mode! es wird lebendig sein, solange es nicht an der form hängt, sondern hinter der wandelbaren form das fluidum des lebens selbst sucht! (Gropius 1974: 11) Das transdisziplinäre Bildungsprojekt Woraus wird Morgen gemacht sein? hat das Jubiläum zum Anlass genommen, die Frage zu stellen, wie das Potenzial des Bauhauses als Denkbild ins Jetzt überführt und für unsere Zukunft produktiv ­gemacht werden kann. Besonderes Interesse galt dem Thema gemeinschaftlicher Partizipation in Bezug auf die Gestaltbarkeit unseres gemeinsamen Morgens, dessen politisches Potenzial wir an der Schnittstelle von Schule, Universität und Öffentlichkeit kontrovers diskutiert haben. Im Rückblick auf die Umbruchs- und Krisenzeit des Jahres 1919 – Gründungsjahr der Weimarer Republik und des Bauhauses – haben wir unsere eigene Gegenwart kritisch betrachtet und nach Möglichkeiten gefragt, wie wir diese aktiv selbst ­gestalten können. Dies geschah mit dem Ziel, das Potenzial der Avantgarden, in denen die Zukunft in Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Pädagogik und Literatur neu erfunden wurde, in unsere Zeit zu überführen sowie an der Schnittstelle von Universität, Schule und Öffentlichkeit neue Handlungsdimensionen zu erproben. Das Titelzitat «Woraus wird morgen gemacht sein»3 verweist dabei auf die Gestaltbarkeit unserer Gegenwart als Beitrag zu einer aktiven Demokratie. Abb. 1

«Woraus wird Morgen gemacht sein?» Wenn aber angesichts der apokalyptischen Stimmung die Alternative darin besteht, sozusagen am Boden zu bleiben in einem Drift zur vergleichsweise kleinräumlich gedachten «Heimat», darf man sich wohl ganz zu Recht zurücksehnen nach etwas mehr Flughöhe, nach mehr kühler Sachlichkeit, gepaart mit experimenteller Courage, nach den schwebenden Manifesten dieser «Schule des Wagemuts». (Schleper 2018: 8) Mit Studierenden der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) und der Universität Duisburg-Essen haben wir eine Bandbreite unterschiedlicher Projekte für acht weiterführende Schulen entwickelt, die von den Studierenden eigenständig umgesetzt wurden. Ausgehend von der Beschäftigung mit dem Bauhaus als Denkraum und Impulsgeber haben wir die Frage nach der Gestaltung unseres gemeinsamen Morgen kreativ, kollektiv und kontrovers durchgespielt. Studierenden sowie Schüler*innen wurde so die Möglichkeit geboten, ihre Vorstellungen und ihre ­Zukunftsentwürfe näher zu befragen und vielfältig sichtbar werden zu lassen. Der Ort Schule eröffnete den Schüler*innen einen Möglichkeitsraum und Lebensort, um die eigenen Bedürfnisse und Wünsche hörbar werden zu lassen. Studierende 3

Das Zitat ist Victor Hugos Gedicht Napoleon II (1832) entnommen (Orig.: «De quoi demain sera-t-il-fait?»). Es erscheint im Titel des Interviewbandes von Jacques Derrida und Élisabeth Roudinesco (Stuttgart, Klett-Cotta, 2006 / Paris, Fayard, 2001).

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Angela Weber

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FutureCamp 2019 Poster, September 2019.

und Schüler*innen bekamen Gelegenheit, sich ihres Teilhabepotenzials in Bezug auf gesellschaftliche Prozesse bewusst zu werden, es zu erproben und ihm Ausdruck zu verleihen. Der dabei angestrebte Transfer ermöglichte einen zwischen den Fachdisziplinen, Institutionen, Generationen und Zeiten angesiedelten Denk- und Erfahrungsraum mit dem Ziel einer (selbst-)kritischen Reflexion vergangener sowie gegenwärtiger Bildungs- und Demokratisierungsprozesse. Ein Schlüsselgedanke der Begegnung 1919/2019 war es, das politische Erbe der Avantgarden sowohl in Erinnerung zu rufen als auch als Anregung zu verstehen, unsere durch Neoliberalismus und ­zunehmenden Populismus geprägte Gesellschaft kritisch zu hinterfragen, auch hinsichtlich unseres gegenwärtigen Demokratieverständnisses. So setzten die Prophet*innen der Lebensreform einst auf die Kraft revolutionärer Veränderung. Die Ästhetisierung der Alltagswelt sollte primär auch zur Verbesserung der herrschenden Verhältnisse beitragen. Im Gründungsmanifest des Bauhauses verknüpfte Walter Gropius die Idee des Gesamtkunstwerks mit der Idee eines kollektiven Handelns für eine neue Gesellschaft. Diesen starken Impuls haben wir in unserem Projekt mit dem Ziel aufgenommen, gestalterische Prozesse ­anzustoßen und transdisziplinär operierende Proberäume im Bauhaus-Jahr bereitzustellen.

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Zudem haben wir die für die Avantgarden zentrale Haltung, dass die Künste die Kraft und den Auftrag zu gesellschaftlicher Veränderung haben, auf ihre mögliche Gegenwartstauglichkeit befragt. Der Philosoph Jacques Rancière knüpft mit seiner Auffassung von Kunst als einer Praxis und Metapolitik, die in der Lage ist, gesellschaftliche Veränderungen nicht nur zu formalisieren, wie es in Politik und Rechtsprechung geschieht, sondern auch zu realisieren und zu aktualisieren, an diesen Standpunkt an. Die operationelle Verbindung von Kunst und Politik als einer wirksamen Form gemeinschaftlichen Handelns bildet den Leitgedanken des Projekts. Vor diesem Hintergrund haben wir die damals wie heute zukunftsrelevante Frage nach Bildung in ergebnisoffenen und prozesshaft operierenden Formaten diskutiert. Am Ausgangspunkt dieser Diskussion stand die durch die Beschäftigung mit der Moderne inspirierte Einsicht, dass zeitgemäße Bildung kein statisch und fest umrissener Bereich ist, sondern aus Prozessen des Bildens und (Mit-)Gestaltens überhaupt erst hervorgeht. Das an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst, Alltag und Öffentlichkeit angesiedelte Projektvorhaben setzt auf den produktiven Transfer von Theorie und Praxis. Rancières Auffassung, dass bereits das Denken an ästhetische Umgestaltung von Erfahrung rühre und Theorie und Praxis sich folglich bedingten, ist hier leitend.4

Bilden und Gestalten: ein Blickwechsel In der Jugend, die allmählich lernen soll zu arbeiten, sich selbst ernst zu nehmen, sich selbst zu erziehen, im Vertrauen zu dieser Jugend vertraut die Menschheit ihrer Zukunft, die nicht nur soviel mehr erfüllt ist vom Geiste der Zukunft – nein! – die überhaupt soviel mehr erfüllt ist vom Geiste, die die Freude und den Mut neuer Kulturträger in sich fühlt. (Benjamin 1977: 5) Ausgehend von der damals wie heute hochaktuellen Debatte um zeitgemäße Konzepte von Lernprozessen haben wir in unserem Projekt einen Schwerpunkt auf das Thema Bildung gelegt. Wie können, wie wollen wir künftig miteinander lernen? Wo ist dringender Handlungsbedarf? An der Frage, wie es gelingen wird, Bildung für alle zugänglich und attraktiv zu gestalten, entscheidet sich die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Der Universität als Stätte des Wissens und des Lernens kommt in diesem Punkt eine große Verantwortung zu. In Anlehnung an das Bauhaus haben wir das in der Etymologie des Begriffs bereits angelegte performative Moment von Bildung – das Bilden und Gestalten – im Anschluss an reformpädagogische Konzepte betrachtet. Seit jeher eignet dem überaus dehnbaren Begriff von Bildung eine Dialektik vom Formen und Geformtwerden an. Wie lässt sich diese Dialektik produktiv machen innerhalb eines Verständnisses von Bildung, das die generationenübergreifenden Austauschprozesse gleichwertiger Akteur*innen im Sinne einer gesellschaftsverändernden und gesellschaftsformenden Kraft 4

Unter der Überschrift Über das zweideutige Erbe der Avantgarde wird der für das vorliegende Projekt relevante Zugriff auf Rancières materiell ausgerichteten Kunstbegriff vertiefend ausgeführt und im Sektionskontext verortet.

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2 Schulprojekt Schule vs. Natur u. Ökologie #neuesbauennow, Februar–April 2019.

v­ ersteht? Das Anstoßen und Moderieren interaktiver Lernprozesse auf Augenhöhe bedarf zunächst eines radikalen Blickwechsels und der Bereitschaft aller Akteur*innen, sich auf diesen Prozess einzulassen. Die Frage, wie sich (kulturelle) Bildung institutionsübergreifend positiv auf demokratische Prozesse auswirken kann, rückt deren emanzipatorisches Potenzial in den Blick. So können offene Bildungsprozesse eine wichtige Vermittlerrolle innerhalb eines umfassenden ­gesellschaftlichen Transformationsprozesses spielen, wobei die wirksamen Modi Operandi Sichtbarkeit und Teilhabe wären. Abb. 2 Sollten der Blickwechsel sowie die nachhaltige institutionelle Verankerung von Bildung innerhalb eines generationen- und spartenübergreifenden gemeinschaftlichen Lernens gelingen, dann hätten diese das Potenzial, gesellschaftliche Veränderung zu moderieren und voranzutreiben. Das Profil künftiger Tätigkeitsfelder von (kultureller) Bildung würde demnach nicht mehr primär darin bestehen, die vielfältigen gesellschaftlichen Löcher zu stopfen und Konfliktfelder zu moderieren sowie zu beschwichtigen. Vielmehr käme diesem Feld eine aktiv gestaltende Rolle zu, in die alle beteiligten Akteur*innen konstruktiv und gleichberechtigt eingebunden werden könnten. Dies wäre mit der Bereitschaft verknüpft, Kultur und Bildung als dynamischen und ergebnisoffenen Prozess wechselseitiger Einflussnahmen und Interessensbekundungen zu verstehen. Zeitgemäße Bildung könnte einen wesentlichen Beitrag zu einer Partizipationskultur im eigentlichen Sinne und zu einer aktiven Demokratie leisten, die die Stimmen und Bedürfnisse gerade jener in den Blick nimmt, die von der öffentlichen Meinung ausgeschlossen werden (z.B. Kinder und Jugendliche, insbesondere mit Migrationshintergrund). Unsere (post-)migrantische Gesellschaft gewänne deutlich an Profil und könnte neue Problemlösungsansätze zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen und Krisensituationen liefern.

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Erstellen eines Architekturmodells, Schulprojekt Schule vs. Natur u. Ökologie #neuesbauennow, Februar–April 2019.

Gemeinsame Arbeit am Mood-Board, Schulprojekt Schule vs. Natur u. Ökologie #neuesbauennow, Februar–April 2019.

So zielt das von der Universität angestoßene Engagement auf eine Erweiterung unserer jeweiligen Ausdrucks-, Wahrnehmungs-, und Anerkennungsmöglichkeiten, die im gegenseitigen generationen- und spartenübergreifenden Austausch ­produktiv gemacht werden können. Die Bereitschaft, sich kontrovers mit anderen Sicht- und Lebensweisen auseinanderzusetzen, kann überdies dem Entstehen von Feindbildern und manipulativen Meinungsbildungsprozessen produktiv ­entgegenwirken. Ein wesentliches Ziel bei all diesen Austauschprozessen ist es, die Bereitschaft zu fördern, unsere direkte Umwelt in ihrer Komplexität wahrzunehmen und wertzuschätzen. Dies begreifen wir zudem als Auftrag einer lebendigen Wissenschaft, als deren Vermittler sich unsere Studierenden im Austausch mit den Schüler*innen erfahren haben. Im Sinne eines gemeinsamen forschenden Lernens haben wir in unserem Projekt mit Studierenden der HHU und der Universität Essen-Duisburg sowie Bürger*innen der Stadt Essen (intra-)kulturelle (Möglichkeits-)Räume der Recherche, des Aushandelns, der Kontroverse und der Transformation geschaffen. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Intensivierung des Austauschs zwischen Lehrenden und Lernenden. Die Studierenden fungierten als Vermittler*innen und Initiator*innen eines Prozesses der Kollaboration, des ­Erfahrungsaustausches und der gemeinsamen Horizonterweiterung. Auf diese Weise wird die Universität ihrer Rolle der Wissensproduktion und vermittlung auch über die institutionellen Grenzen hinweg gerecht und vermag überdies, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Verständigung und Veränderung zu leisten.

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Wie meine Erfahrung auch aus vergangenen Projekten zeigt, gestaltet sich das, was längst zur Leitidee zeitgemäßer Bildungskonzepte gehören mag, in der konkreten Umsetzung im Schulalltag häufig als konfliktreich. Hierfür gibt es vielfältige Gründe und es würde den Rahmen dieses Beitrags übersteigen, die hiermit verbundene komplexe Problemlage als Indiz für eine tiefgreifende Krise des Systems Schule detailliert aufzufächern. Erwähnt werden soll an dieser Stelle, dass unsere Studierenden ihre Projekte ganz bewusst nicht im Selbstverständnis zukünftiger Lehrer*innen umgesetzt haben. Im Vordergrund stand vielmehr das persönliche Engagement, ein interessantes und gesellschaftsrelevantes Thema eigenständig und im lebendigen Austausch mit den Schüler*innen zu gestalten. So lag die Motivation der Studierenden eben nicht darin, sich in berufsvorbereitender Weise als Referendar*innen zu qualifizieren, d.h. in die Rolle von zukünftigen Lehrer*innen zu schlüpfen, sondern im Gegenteil darin, einen neuen, anderen Blick – jenseits eines festen Curriculums – in den Schulalltag einzubringen. Es darf an dieser Stelle ­erwähnt werden, dass die hiermit verbundenen Konflikte meist nicht aufseiten der Schüler*innen entstanden sind. Diese haben das Angebot eines ergebnisoffenen, gemeinschaftlichen Lernprozesses durchgehend dankend angenommen. Die Konflikte lagen häufig aufseiten der Lehrerschaft und können als Indiz dafür dienen, dass die Fixierung auf konventionelle Lernprozesse insbesondere durch die immer noch relativ strikten Vorgaben des Lehrplans weiterhin relativ hoch ist.

Methode: Ästhetische Praxis Ich würde es für einen Fehler ansehen, wenn sich das Bauhaus nicht mit der realen Welt auseinandersetzt und sich als isoliertes Gebilde für sich betrachtet. (Gropius 1923: 150) Wenn ich an das Bauhaus denke, so denke ich an eine Haltung, die das Formen und Kultivieren von Möglichkeiten im Kontext des Alltagslebens ermutigt. (Akpokiere 2015: 363) Kunst und Kunsterziehung spielten in der Zeit des Bauhauses und der Avantgarden eine zentrale Rolle für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Das Bauhaus als Denkraum eröffnete damit eine Perspektive weitreichender Reformen, in der die Künste neue Formen von Gemeinschaft und zudem umfassende Emanzipationsprozesse anstoßen konnten. Ziel des Projekts ist es, den hiermit verknüpften Gedanken eines Transfers von Kunst und Leben im Sinne einer ästhetischen Praxis wiederzubeleben. Ästhetische Praxis meint hier das Generieren von kreativen (Austausch-)Prozessen, in denen Denken und Handeln sowie Theorie und Praxis wechselseitig ineinandergreifen. Um das Potenzial dieser auf Selbstbestimmung ausgerichteten Prozesse ausschöpfen zu können, ist die Einbettung in einen größeren kulturellen Handlungsrahmen sowie die stete Reflexion historischer Bezugnahmen und Entwicklungen unbedingt erforderlich. Ein solches Vorhaben lässt sich folglich nicht in Form des gewöhnlichen (Kunst-)Unterrichts umsetzen, sondern erfordert ebenso wie im vorbereitenden Seminar einen erweiterten

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­ andlungsrahmen, der auf Partizipation und situatives Lernen setzt. Ästhetische H Praxis umschreibt einen aktiven und gestaltenden Zugang zur Welt, der auf komplexe Sinngebungsprozesse in einer pluralistischen und dynamischen Gesellschaft einzuwirken vermag. Die Engführung von Erfahrungs-, Denk- und Handlungsräumen, der ironisch-subversive Umgang mit gesellschaftlichen Prozessen sowie das Bauen und Kreieren einer Gesellschaft als autonomer Denkraum eröffnen konkret vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, die sich jeweils auch in den verschiedenen Schulprojekten wiederfinden. Wir sehen hierin einen engagierten Beitrag zu einer lebendigen, sparten- und generationenübergreifenden Wissenschaft. Abb. 3 und 4 Eine weitere interessante historische Parallele zum Bauhaus ergibt sich aus dem Umstand, dass die zentralen Bildungsinstitutionen – Schulen, Universitäten und Akademien – auch heute noch stark herausgefordert sind, wenn es wie jetzt darum geht auf die großen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse flexibel und angemessen zu reagieren. So könnte eine mögliche Einsicht aus der aktuellen globalen Krise in der wichtigen Aufgabe der Schule bestehen, die Schüler*innen auf die immensen Herausforderungen einer ungewissen Zukunft vorzubereiten. Unsere derzeit vielleicht engagierteste Schulreformerin, Magret Rasfeld, fordert in diesem Zusammenhang, dass die Schule in der Verantwortung ist, die Schüler*innen zu veritablen Zukunftsgestalter*innen auszubilden. Dafür bedarf es eines weitaus größeren Handlungsfeldes als es bislang im fächerorientierten Curriculum vorge­ sehen ist: Der «UNESCO-Bericht für das 21. Jahrhundert, plädiert für eine Neuausrichtung und Neuorganisation des Curriculums entlang der vier Säulen: Lernen, Wissen zu erwerben; Lernen, zusammenzuleben; Lernen zu handeln; Lernen für das Leben.» (Rasfeld 2018: 17) Angesichts der derzeitig großen und – wie es scheinen mag – allumfassenden Krise bekommt dieser Aspekt nun eine weitere, besonders dringliche Bedeutungsdimension. Wir müssen unsere Kinder eben nicht nur zu Zukunftsgestalter*innen, sondern auch dazu ausbilden, in Krisensituationen agil und kooperativ handeln zu können. Um zu fördern, was die Gesellschaft für die große Transformation braucht: mutige und kreative Weltbürger mit Empathie und Gestaltungskompetenz. Menschen mit Lösungshaltungen und Handlungsmut, die bereit sind, ihr Wissen, ihre Kompetenzen und ihre Herzkraft in den Dienst gemeinsamer Anliegen zu stellen, und die es gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für sich, für ihre Mitmenschen und für unseren Planeten, Mutter Erde. (Ebd.: 22) In dieser Hinsicht ist ästhetische Praxis als fächerübergreifendes Arbeiten angelegt, das auch den lebensweltlichen Erfahrungshorizont der Lehrer*innen und der Schüler*­innen miteinschließt. Die Verbindung der Gebiete des Wissens mit denen der praktischen Gestaltgebung im Alltag bildet den übergeordneten Rahmen unserer Schulprojekte. Wünschenswert wäre, das Potenzial dieser Politik des ­Alltags im Großen – der weltgesellschaftlichen Verfasstheit – wie im Kleinen – dem Agieren in Gefügen des täglichen Lebens – in künftigen Kooperationsprojekten zwischen Schule und Universität weiter austesten und erproben zu können. Hierin

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liegt zudem ein starker Berührungspunkt zum Denkraum Bauhaus. Über die Grenzen von Kategorisierungsversuchen hinweg und durch sie hindurch ergänzen sich die unterschiedlichen Modi, Perspektiven und Disziplinen zu einem irreduziblen, in seiner Vielschichtigkeit einzigartigen Ereignis: dem Kaleidoskop Leben. Durch den ­Anschluss an verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens kann die Philosophie selbst als eine Praxis, die Reflexion und Handlung verbindet, Teil unterschiedlicher Lebensrealitäten werden. Es eröffnet sich ein genuin politischer Raum für Rekonfiguration, Verknüpfung und eine interaktive Diskussionsplattform des (intra-)kulturellen Austauschs: Ästhetische Praxis kann in diesem Sinne als ­gesellschaftlich relevante gemeinsame Gestaltungsarbeit verstanden werden. Ziel unseres Projekts ist es, den fruchtbaren Austauschprozess darüber, wie wir unsere Zukunft aktiv gestalten können, weiter wachsen zu lassen. Wir sind davon überzeugt, dass diese Auseinandersetzung den Rahmen eines jeden Curriculums auf produktive Weise übersteigt und damit einen interessanten Beitrag zu sozialen, politischen und ethischen Fragestellungen leisten kann und sollte. Eine solche Auseinandersetzung ist angesichts der aktuellen weltgesellschaftlichen Herausfor­ derungen unumgänglich. Mehr noch: Wir empfinden dies als unbedingte Verantwortung, uns und anderen Teilen der Welt gegenüber. Es ist ein wesentlicher Aspekt des – zwischen ­theoretischer und ästhetischer Praxis interferierenden – Emanzipationsprozesses.

Schulprojekte Demokratie ist als politisches System instabil, solange es sich darauf beschränkt, nur ein politisches System zu sein. Sie sollte nicht nur eine Regierungs-, sondern eine Gesellschaftsform und eine Lebensweise sein, die sich in Einklang mit dieser gesellschaftlichen Form befindet. (Richard Henry Tawney, Equality, 1931. Zit.n. Sennet 2002: 316) Ästhetische Praxis entsteht in der kollaborativen Arbeit von prozesshaften Austauschformaten, die wiederum situativ, anschlussfähig und potenziell offen sind. Dies beschreibt den Handlungsrahmen, den wir für unser Projekt gewählt haben. So haben wir unseren Studierenden im Seminar zunächst einen offenen Inspirations- und Denkraum zum Bauhaus bereitgestellt, wobei sich die durchgehende Verflechtung und wechselseitige Spiegelung der Jahre 1919 und 2019 als enorm produktiv erwies. Die Studierenden haben in diesem Rahmen unterschiedliche Projektideen für die Schulen entwickelt und umgesetzt. Auch hier war es wichtig, die jeweilige Idee im laufenden Prozess auf die Bedürfnisse der Schüler*innen abzustimmen und gegebenenfalls zu erweitern oder zu verändern. Die Umsetzung der Projekte wurde durch regelmäßige Gespräche begleitet, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben flexibel auf die Erfordernisse in den jeweiligen (Lern-) Gruppen zu reagieren. Die Begegnung mit dem Jahr 1919 diente auch dazu über den Tellerrand zu schauen und die Frage nach Erwartungen und zeitgemäßen Lernformen sowie einem neuen Verständnis von Schule aus Schüler*innensicht zu beantworten.

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Ziel der Intervention in den Schulen war es, eine Werkstattatmosphäre zu erzeugen und den Schulraum auf diese Weise in einen Ort des Experimentierens und Spielens zu verwandeln. Gefördert werden sollte die Lust am Spiel im Sinne einer ­ästhetischen Praxis, die im Ausloten der Grenze zwischen früher und heute, Schule, Alltag und Laboratorium sowie im Transfer unterschiedlicher kreativer Ausdrucksweisen den Schüler*innen die Möglichkeit bietet, ihre eigene Stimme in einem erweiterten öffentlichen Raum hörbar werden zu lassen. Dieser Anspruch ist in einem kritischen Demokratieverständnis begründet, wonach emanzipativer Kampf immer neu begonnen werden muss. So geht Rancière davon aus, dass der Dissens im Sinne des Streithandels eine zentrale Funktion einer jeden Demokratie ist, und verknüpft dies mit der Forderung, dass der Teil der Anteillosen – das Volk, das nicht gewählt werden kann – sich das Wort nimmt (Rancière 2008: 11f.). Die Jugendlichen – insbesondere jene aus sogenannten bildungsfernen Regionen und Stadtteilen – repräsentieren den Teil der Anteillosen. Das europaweit wahrzunehmende Wiedererstarken rechter Positionen kann vor diesem Hintergrund sicher auch als Folge fehlenden Streithandels gedeutet werden. Wir erblicken hierin eine für unsere Demokratie besorgniserregende Entwicklung, der es mit aller zu G ­ ebote stehenden Macht entgegenzuwirken gilt. Der Ort Schule wurde zum Möglichkeitsraum und Lebensort, um sich des Teilhabepotenzials in Bezug auf die Gestaltung des gemeinsamen Morgens bewusst zu werden, es zu erproben, ihm vielfältigen Ausdruck zu verleihen und sich selbst als Zukunftsgestalter zu erfahren. Die Verknüpfung von politischen Ereignissen und künstlerischen Prozessen unserer Begegnung der Jahre 1919/2019 war evident. So stellt das Jahr 1919 als Gründungsjahr der Weimarer Republik auch für die Demokratie in Deutschland ein denkwürdiges Datum dar. Wir haben dies zum ­Anlass genommen, die Frage nach zeitgemäßen Bildungskonzepten insbesondere auch vor diesem Horizont zu diskutieren.

Geschichtsbewusstsein wecken Das aufgeklärte Bewusstsein des Gebildeten ist nicht nur kritisches ­Bewusstsein. Es ist auch geprägt von historischer Neugierde: Wie ist es dazu gekommen, dass wir so denken, fühlen, reden und leben? (Bieri 2005: 2) In der konzeptionellen Arbeit war es uns wichtig, die historische Auseinandersetzung mit dem Bauhaus-Komplex nicht aus dem Blick zu verlieren. Für den visionären Blick in die Zukunft kann sich der Umweg über die Vergangenheit durchaus als Erkenntnisgewinn erweisen. Alle Projekte, die wir gemeinsam mit unseren Studierenden für die Schule entwickelt haben, zielten auf diesen Transfer zwischen dem Bauhaus und unserer eigenen krisenbewegten Gegenwart ab. Die detaillierte Beschreibung aller Projekte findet sich zum Nachlesen auf unserer Internetseite http://morgenmachen.org. Ein zentrales Anliegen war es, bei den Schüler*innen ein Geschichtsbewusstsein zu wecken und sie auf diese Weise für die spannende Frage zu sensibilisieren, wie sie sich selbst in ihrer eigenen Gegenwart verorten.

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Wie nehmen sie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen ganz konkret in ihrem eigenen Umfeld und ihrer alltäglichen Erfahrungswelt wahr? Wie bewerten sie diese Erfahrungen in einem größeren gesellschaftlichen Kontext? Was sagt all dies über die Zeit aus, in der sie selbst leben? Wie spiegelt sich dies wiederum im eigenen Lebensgefühl wider? Überwiegt bei den Jugendlichen eher das Gefühl ihre Gegenwart passiv zu ertragen oder sehen sie sich als aktiven Teil der Gesellschaft, der Forderungen stellen darf und auf diese Weise auf das Bewusstsein anderer einwirken kann? Ästhetische Praxis berührt damit auch die Frage nach dem ­Zusammenspiel von politischer Bildung und den persönlichen Erfahrungen und Bindungen. Welches Potenzial hat der Transfer zwischen früher und heute für die Ausbildung eines politischen Bewusstseins? Wie kann ein künstlerisches Vermittlungsprojekt die Jugendlichen dazu motivieren, ihre konkreten Bedürfnisse und Konflikterfahrungen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext einzuordnen und auch zu benennen? Wie ist es letztlich möglich, die Schüler*innen in ihrer Entwicklung zu mündigen Bürger*innen zu bestärken? Wie kann der Transfer zwischen dem Bauhaus und unserer Gegenwart konkret dazu beitragen?

Der neue Mensch – Personal Design – social media experiences Nichts liegt mir ferner, als mich damit voranzustellen, es sei denn im Sinne des Erklärers bei einem Lichtbildervortrag; die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu, und es wird eigentlich nicht so sehr mein Schicksal sein, das ich erzähle, sondern das einer ganzen Generation – unserer einmaligen Generation, die wie kaum eine im Laufe der ­Geschichte mit Schicksal beladen war. (Zweig 2013: 11) Das Projekt Der neue Mensch – Personal Design – social media experiences hat diese Fragen in überaus kreativer und spielerischer Weise aufgegriffen und produktiv gemacht. Die für die Jugendlichen so zentrale lebensweltliche Erfahrung, dass realer und digitaler Raum nahtlos ineinander überzugehen scheinen und wechselseitig aufeinander verweisen, lieferte den konkreten Handlungs- und ­Experimentierrahmen für die Projektidee. Ausgehend von der Revolutionierung des Menschenbildes Anfang des 20. Jahrhunderts luden wir die Schüler*innen ein, die digitale Gestaltbarkeit der Vergangenheit und der Zukunft mit dem Fokus auf Personality Design zu erfahren. Wie hätte es ausgesehen, wenn Bauhausschüler*­ innen Social-Media-Kanäle gehabt hätten? Wie hätten die Menschen in den 1920er Jahren einen Instagram-Kanal gestaltet? Die Schüler*innen haben in einem ersten Schritt tatsächliche Persönlichkeiten aus dem Bauhaus-Universum am Social-­ Media-Leben der Gegenwart teilnehmen lassen. Im weiteren Verlauf haben wir gemeinsam mit den Schüler*innen der Erich  Kästner-Gesamtschule in Essen fiktive Bauhaus-Identitäten im digitalen Raum inszeniert, platziert und weitergedacht. Ziel war es, die Grenzen des eigenen Handelns im spielerischen sowie subversiven Umgang mit Social Media auszuloten. Die Jugendlichen wurden auf

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diese Weise zu Regisseuren ihrer im virtuellen Universum erschaffenen Kreaturen: Welche Eigenleben werden diese Kreaturen fortan führen? Welche Spuren erzeugen die neuen Identitäten und Geschichten im World Wide Web? Der Einstieg in den geschichtlichen Kontext erfolgte über das Studieren der Biografien der Bauhausschüler*innen. Die krisenbewegte Zeit spiegelte sich in mannigfaltiger Weise in den häufig prekären Lebenswegen wider. Ziel war es, im Erinnern ein persönliches, empathisches Verhältnis aufzubauen und sich zu überlegen, an der Stelle der einstigen Bauhausschüler*innen gewesen zu sein. Die Identifikation und Solidarität mit dem jeweiligen Einzelschicksal kann weiteres Interesse wecken: Wie war das möglich in einer Zeit, in der in Deutschland gerade noch die erste demokratische Verfassung auf den Weg gebracht worden war? Was hat dies mit unserer Gegenwart zu tun? Das Gedankenexperiment – Entwickeln fiktionaler Biografien – eröffnete einen eigenständigen Imaginationsraum, der die Vergangenheit und Gegenwart kreativ zu einem dritten autonomen Raum verdichtet hat, in den die Schüler*innen sich mit ihren Erfahrungen und Wünschen individuell eingeschrieben haben. Die Realität blieb fester Bezugspunkt und dennoch war es möglich, auf der Schwelle zwischen realer und digitaler Welt neue Vorstellungswelten und Handlungsformen zu kreieren. Mit Referenz auf das Bauhaus brachten sich die Jugendlichen zudem auf spielerisch-subversive Weise in einen größeren Erinnerungsraum ein, wurden sozusagen Teil davon. Diese im Projekt angestrebte experimentelle Ausrichtung sowie das beziehungsreiche Spiel mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen lässt interessante Parallelen zur aktuellen Kunstströmung im Bereich der Performancekunst – Reality Art – ­erkennen. Die im Anschluss an die folgende Beschreibung dieser neuen Kunstform formulierten Fragen erweitern die für das Bauhaus so interessante Frage nach der Verbindung von Kunst und Leben sowie nach der Bedeutung von künstlerischem Handeln in den digitalen Raum hinein und eröffnen damit ein sehr weites Feld subversiv-künstlerischer Handlungsformen: Reality Art ist der Begriff, mit dem ich die Idee der Verschmelzung gelebter Realität mit Abstufungen von Performance und künstlerischer Intention als Mittel des subversiven Ausdrucks und der Darstellung für ein Onlinepublikum beschreibe. Es handelt sich um eine metamodernistische Annäherung an Leben und Handeln im Zeitalter technologischer Singularität. Worin besteht der Unterschied zwischen Handeln und Leben, wenn man ein Fotohandy in der Hand hält? Wie «real» kann etwas sein, wenn es in den Medien existiert? Wirft die Abwesenheit von Medien unsere gelebten Szenarien in einen irrealen oder hyperrealen Raum? (Pierce 2019: 57)

Sichtbarkeit und Widerstand – Plädoyer für eine aktive Demokratie Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas

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zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnende Möglichkeit aus. (Rancière 2006: 26f.) Der im Projekt angestoßene kritische Bildungsdiskurs zielte zudem darauf ab, das Potenzial partizipatorischer Prozesse im Austausch mit der Stadtgesellschaft fruchtbar zu machen und einen gemeinsamen Dialog mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Veränderung anzustoßen. So liegt ein Schwerpunkt des Projekts darauf, die vielfältigen (Kreativ- und Austausch-)Prozesse auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um diese für die Anliegen der Schüler*innen und Studierenden zu interessieren und zu sensibilisieren. Ziel ist es, den Schulraum gedanklich zu öffnen und auf diese Weise Koordinaten der Bildung räumlich zu erweitern, sichtbar zu machen und (mittels verschiedener ästhetischer Praktiken) nach außen zu tragen. Neben dem Ausbreiten vielfältiger Spuren und Fährten zum Themenfeld Bildung und Gestaltung können die öffentlichkeitswirksamen Formate zudem ­Signalwirkung entfalten, was einen wirksamen und nachhaltigen Wissenstransfer zwischen Bürger*innen und Universität betrifft. Interdisziplinäre Lehre und ­forschendes Lernen fungieren dabei als Methoden breit gefächerter intergenerationeller Austauschprozesse. Das dabei entstehende kaleidoskopische Bild/Archiv einer pluralistischen Gesellschaft haben wir in verschiedenen Formaten – Kampagne, Magazin, Film, Website – öffentlichkeitswirksam inszeniert. Ziel ist es hierbei, im zugleich forschenden und künstlerischen Ausloten unserer vielfältigen hochkomplexen und widersprüchlichen Zugänge zur Welt auch alternativen Realitätskonstruktionen Raum zu geben: Gemeinsam wollen wir unsere Welt(en) neu vermessen, öffnen, durchlöchern, immer wieder neu erfinden. Die Aufgabe der Studierenden ist es, sich in die transitorische Situation hinein­ zudenken, um so bestmögliche Inszenierungsformate zu entwickeln und den Denkraum als partizipativen Ort zu gestalten. Dies entspricht unserem Anliegen, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen sowie im Transfer von Universität und Öffentlichkeit neue Felder für Kommunikation zu schaffen: Wie werden aus Denkräumen Möglichkeitsräume? Die Studierenden erfahren sich gleichermaßen als Moderatorinnen und Moderatoren wie als Gestalter*innen von Austauschprozessen zwischen der Universität und der Stadtgesellschaft. Wir verstehen dies als Form der Wertschätzung für die Anliegen der Schüler*innen und der Studierenden, deren gesellschaftlicher Relevanz (als Form der Teilhabe) Nachdruck verliehen wird. So wäre es ein Ziel, dass die vielen Stimmen, die kontroverse Inszenierung von Möglichkeitsräumen, das spielerische und subversive Ausloten der Grenzen zwischen dem Realen und dem Imaginären im Rahmen von Ausstellungs- und Publikationsprojekten auch künftig ihr öffentlichkeitswirksames politisches Potenzial entfalten könnten. Die Vielheit der unterschiedlichen Stimmen, Blickweisen und Erfahrungen soll dabei eindrucksvoll das Bild einer im permanenten Wandel befindlichen pluralen Gesellschaft vermitteln, deren Reichtum in der gemeinsamen Gestaltung unserer Zukunft liegen könnte – somit als Akt demokratischer Teilhabe wirken könnte. Wir sehen hierin einen engagierten Beitrag zu einer lebendigen, sparten- und generationenübergreifenden Wissenschaft.

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Über das zweideutige Erbe der Avantgarde Die materiell sinnliche Ausrichtung von Rancières folgenreicher Verschiebung des Ästhetikbegriffs als einer Politik der Ästhetik ist für unser Projekt von besonderer Relevanz. Interessanterweise ist die Neudeutung der widerständigen Wirkungsweisen der Künste verknüpft mit einer re-visionären Lektüre der Moderne, die auf eine Verbindung von Kunst und Politik zielt. Rancière begreift die Künste als Tätigkeitsformen und betont damit zugleich ihre materielle Seite. Dabei scheint es ein zentrales Anliegen zu sein, das bislang nicht ausgeschöpfte Potenzial der Avantgarde zu reaktivieren. Der Rückbezug auf die produktiven Kräfte der Avantgarde in einem ästhetischen Regime der Künste ist für Rancière allerdings nur möglich im Eingedenken der Gräuel und der Vernichtungslager des Nationalsozialismus, die mit der ersten Deutung der Avantgarde – als «topographisch-militärische[s] Konzept einer Kraft» (Rancière 2006: 485) – die Möglichkeit eines Umschlages ins Totalitäre als historisches Faktum belegen. Rancière deutet die Postmoderne in Anlehnung an Lyotard als indirekte Bezugnahme auf die Moderne als einen fortan existierenden Möglichkeitsraum: […] was die Moderne war: der verzweifelte Versuch, das «Eigene der Kunst» auf einer simplen Teleologie der Evolution und der historischen Brüche zu begründen. Aus dieser verspäteten Anerkennung einer grundlegenden Gegebenheit des ästhetischen Regimes der Künste einen faktischen zeitlichen Einschnitt und das tatsächliche Ende einer historischen Epoche zu machen, wäre nicht wirklich nötig gewesen. (Ebd.: 47) Dies allerdings setzt eine Trauerarbeit voraus, die von der Postmoderne geleistet werden muss. Der reaktivierende Zugriff auf die Moderne ist nur als Umweg über das historische Faktum des Umschlags in den Faschismus denkbar. Zwischen dem Vorher und dem Nachher liegt das Faktum der Vernichtungslager. Eingedenk dieser historischen Tatsache vermisst Rancière mit seiner Hinwendung zum emanzipatorisch sinnlichen Erfahrungsraum den Raum der Moderne neu. «Was man als Postmoderne bezeichnet, ist genau der Prozess einer Wende.» (Ebd.: 46) Die von Rancière ins Spiel gebrachte zweite Deutung der Avantgarde als Grundlegung seiner radikalen Umdeutung der Künste gestaltet sich damit zudem als Reflex und Widerstand gegen jegliche faschistischen Strukturen und Denkformen. Das auf Materialität und einen kollektiven sinnlichen Erfahrungshorizont gerichtete erweiterte Verständnis der Künste zielt auf die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Veränderung. Weder erschöpft sich die Moderne im Paradigma der Brüche, noch ist ihr Abgesang beschlossene Sache. In der Gegenüberstellung von zwei konträren Deutungen der Avantgarde – einer politischen sowie einer ästhetischen – ­gelingt es Rancière einen Möglichkeitsraum zu eröffnen, der grundlegend für sein Verständnis von Ästhetik als Politik ist und den er bereits realisiert sieht. So steht 5

«Zum einen ist Avantgarde das topographisch-militärische Konzept einer Kraft, die vorne an der Spitze marschiert, die die Intelligenz der Bewegung auf sich vereint, deren Kräfte bündelt, die Richtung der historischen Entwicklung bestimmt und die subjektiven politischen Orientierungen auswählt. Kurz, eine Vorstellung, die politische Subjektivität mit einer bestimmten Form verbindet: die Partei als Vorhut, die ihren Führungsanspruch aus ihrer Fähigkeit ableitet, die Zeichen der Geschichte lesen und interpretieren zu können.»

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die Avantgarde am Beginn eines Prozesses, der bis in unsere Gegenwart hinein weiter fortwirkt. Dieses Fortwirken ist mit dem Versprechen verknüpft, im Aufzeigen eines reduktionistischen Kunstbegriffs das Spielfeld der Künste im Sinne einer politischen Praxis und Lebensform neu zu vermessen und auszuweiten: Zum anderen gibt es jene andere Idee von Avantgarde, die im schillerschen Modell der ästhetischen Antizipation der Zukunft wurzelt. Wenn der Begriff der Avantgarde innerhalb des ästhetischen Regimes der Künste eine Rolle spielt, dann in Form dieser zweiten Vorstellung. Nicht als Vorhut einer künstlerischen Neuerung, sondern als Erfindung sinnlicher Formen und materieller Rahmenbedingungen für ein künftiges Leben. (Ebd.: 48) Im Vordergrund dieser zweiten Deutung der Avantgarde steht das nicht ausgeschöpfte Potenzial, den politischen Raum gemeinschaftlich sinnlich neu zu vermessen und von innen heraus zu verändern. Das Zukünftige sucht uns nicht heim. Zentral ist vielmehr das ursächliche Versprechen der Demokratie: Wir verantworten und gestalten unsere Zukunft aktiv selbst. In jedem Moment sind wir Zukunftsgestalter. Die zentrale Frage unseres Projekts Woraus wird Morgen gemacht sein? zielt produktiv auf diese Praxis einer Vorwegnahme des Zukünftigen und zwar ­innerhalb verschiedener kollaborativer Tätigkeitsformen und -felder. Der im Transfer von Politik und Ästhetik entstehende Raum ist kein Raum primär für Ideen, sondern für «die Erfindung sinnlicher Formen und materieller Rahmenbedingungen» (ebd.: 48). Innerhalb des Regimes der Künste öffnet sich ein realer, materiell-sinnlich kollektiver Erfahrungsraum, ein Artikulations- und Aktionsraum, in dem sich das Zukünftige in sinnlichen Formen als Versprechen bereits abzeichnet. Dieser Artikulationsraum steht jedem zur Verfügung. In den, zwischen den Feldern Ästhetik, Politik und Demokratie neu vermessenen, (Aktions-)Räumen gibt es keine exponierten Positionen. Alle Akteur*innen sind gleichwertig und gleichberechtigt. Rancières Zuspitzung des Avantgardebegriffs zielt nicht zuletzt auf die Produktivität des Lebens selbst und der damit verbundenen Aufhebung der Trennung von Leben und Kunst als einem zentralen Erbe der Avantgarde: Genau das hat die «ästhetische» Avantgarde der «politischen» Avantgarde mitgegeben oder wollte oder glaubte es ihr mitzugeben, als sie aus der Politik ein totales Programm des Lebens machte. (Ebd.: 48f.)

«Die Zukunft braucht den ganzen Menschen» jeder gesunde mensch hat ein tiefes vermögen, die in seinem menschsein begründeten schöpferischen energien zur entfaltung zu bringen, wenn er seine arbeit innerlich bejaht. (Moholy-Nagy 1929: 14) Auch das Erziehungssystem, darauf zielt bereits Moholy-Nagys vor fast hundert Jahren formulierte Kritik, bedarf einer umfassenden Reform sowie eines radikalen

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Umdenkens und Blickwechsels. Moholy-Nagys Demokratisierung von Bildung und Lebensform nimmt die Beuys’sche Idee – jeder ist ein Künstler – vorweg und ­erweitert das Tätigkeitsfeld der Künste in die Praxis eines sinnlichen Artikulationsraums, mit dem Versprechen einer universellen Zugänglichkeit und Potenzialität. Jeder ist dort «Sprecher»: ursprünglich ist ein jeder begabt zur aufnahme und erarbeitung von sinneserlebnissen. jeder Mensch ist ton- und farbenempfindlich, tast- und raumsicher usw. das bedeutet, daß ursprünglich ein jeder Mensch aller Freuden der Sinneserlebnisse teilhaftig werden kann; das heißt weiter, daß der gesunde Mensch aktiv musiker, maler, bildhauer, architekt usw. sein kann, wie er, wenn er spricht – ein «sprecher» ist. (Ebd.: 14) Begabung zur Aufnahme und zur kreativen Weiterverarbeitung von Sinneserlebnissen gehört zur Grundausstattung eines jeden Menschen, ist demnach integraler Bestandteil seines Menschseins – seines Menschwerdens. Moholy-Nagy entwickelt und kultiviert hier ein Bild vom Menschen als einem schöpferisch begabten Kollektivwesen. Was der Einzelne aus sich zu schöpfen weiß, darüber entscheidet nicht seine außerordentliche einzigartige Befähigung. Ob er seine Begabung nutzen kann und will, die ihm wie jedem anderen Menschen auch als Grundausstattung (mit)gegeben ist, darüber entscheidet seine Einstellung, seine Haltung, in letzter Instanz sein Gemeinschaftssinn. Die «schöpferischen energien» (ebd.), sofern der Mensch sie nutzen kann, kommen wiederum der Gemeinschaft/dem Kollektiv zugute. hilfe liegt nur bei dem sich selbst erkennenden und sich mit anderen zur gemeinschaft größten ausmaßes zusammenschließenden menschen. (Ebd.: 16) (Selbst-)Erkenntnis meint hier nicht das kognitive Fassungsvermögen eines einzelnen Menschen, sondern ist Modus Operandi einer Gemeinschaft größten Ausmaßes – und damit zentraler Fluchtpunkt von Moholy-Nagys Gesellschaftsutopie, die hoffnungsvoll am Horizont seiner pädagogischen Revolte auftaucht und von dort aus ins rechte Licht gesetzt wird. Sie trägt bereits die Grundzüge einer radikal demokratischen Existenz- und Lebensweise, die im Kollektiv wurzelt. Wie Moholy-Nagy unterstreicht, folgt die «rein materielle[ ] verwertung seiner vitalität, unter der verflachung [der] instinkte» (ebd.: 13) des sektorhaften Menschen einer kapitalistischen Verwertungslogik, wobei deren Hauptflanken – Konkurrenzkampf und stete wechselseitige Überbietung –, wenn nicht direkt zum Kollaps, so doch zu einer sich im Zustand permanenter Erschöpfung befindlichen Gesellschaft führen. Erschöpft und ausgehöhlt ist jene wertvolle Ressource intensiver Wahrnehmung der (Um-)Welt sowie der hieraus unmittelbar entspringenden schöpferischen Energien. Mit dem gemeinschaftlich Schöpferischen als Mehrwert/Potenzial produktiver gesellschaftlicher Gestaltungsprozesse zeichnen sich die Umrisse einer alternativen Ökonomie ab, die Gabe/Begabung an die Stelle von Überbietung/Kampf und Wachstum setzt. In diesem nicht ausgeschöpften Potenzial liegt die utopische

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Dimension; diese stellt wohlgemerkt keine Utopie im eigentlichen Sinne dar, ­sondern bedarf einer bestimmten Praxis und der kontinuierlichen Arbeit an einem anderen gesellschaftlichen Nährboden, um wirksam zu werden: «utopie? nein, aber eine unermüdliche pionierarbeit.» (Ebd.: 16) obwohl aus äußeren gründen eine semestereinteilung noch beibehalten wurde, sollte der alte begriff und inhalt «schule» überwunden werden und eine arbeitsgemeinschaft entstehen. die einem jeden innewohnenden kräfte sollten zu einem freien kollektiv zusammengeschlossen werden. (Ebd.: 17) In ihren Grundzügen zielt die von Moholy-Nagy skizzierte pädagogische Revolte auf eine andere Praxis des gemeinsamen Arbeitens und Lernens, in der ein Klima herrscht, das jeden Einzelnen zur Entfaltung seiner agilen Begabung drängt oder ermutigt, die er der Gemeinschaft im steten fluktuierenden Austausch wiederum als Gabe schenkt. So plädiert Moholy-Nagy dafür, den Begriff der Schule für den der Arbeitsgemeinschaft einzutauschen. Diese weichenstellende Umdeutung des Lernortes und damit des alten Begriffs von Schule zu einem freien Kollektiv trägt die Züge einer kulturellen Revolution. Die Schule wird von einem Ort reinen Lernens zu einem Lebensort. Vorbild hierfür ist das Bauhaus. Dort sieht Moholy-­Nagy die utopische Ausrichtung eines gemeinschaftlichen Arbeits- und Möglichkeitsraums verwirklicht. Die im Kontext des Bauhauses, wenn auch nur für relativ kurze Zeit, möglich gewordene utopische Existenzweise hat Vorbildcharakter für seine pädagogische Revolte. Das Bauhaus als singuläres historisches Ereignis dient damit als Exempel weitläufiger gesellschaftlicher Transformationsprozesse und als vielversprechender Möglichkeitshorizont. Dabei sollte der Wirkungsradius keinesfalls auf die Reformschule beschränkt bleiben, ihre reformatorische (Strahl-)Kraft sollte auch in die Umgebung hineinwirken. Abb. 5 ein solches kollektiv bedeutet lebenspraxis. seine einzelglieder müssen demnach nicht nur sich und ihre eigenen kräfte, sondern auch die lebensund arbeitsbedingungen der umwelt beherrschen lernen. diese beherrschung auch des äußeren lag dem erziehungsprogramm des bauhauses – oder entsprechender gesagt – der bauhausarbeit zugrunde. (Ebd.: 18) An dieser Stelle verbindet sich Moholy-Nagys Erziehungsprogramm mit der historisch verbürgten Praxis der «Bauhausarbeit». Sein Glaube an die visionäre Kraft dieser Bewegung war augenscheinlich auch im Erscheinungsjahr seines Bauhausbuches, 1929, als die Schließung der Reformschule bereits kurz bevorstand, ­ungebrochen. Moholy-Nagys Schrift Von Material zu Architektur, die in programmatischer Weise mit dem Kapitel Erziehungsfragen beginnt, beendet die Reihe der Bauhausbücher – ohne um diese historische Dimension zu wissen – mit einem starken Appell für eine aus dem Geist der Bauhaus-Bewegung hervorgehende, weichenstellende Reform von Erziehung, die in eine größere kulturelle Revolution eingebettet ist.

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Auf der Schwelle, inmitten einer durch vielfältige Krisen und Umbrüche gekennzeichneten Zeit, die die Bedrohung durch den Faschismus schon deutlich ­abzeichnete, formuliert Moholy-Nagy sein visionäres, auf Emanzipation und Selbstbestimmung gerichtetes Erziehungsprogramm. Es entspringt unmittelbar dem Erbe der europäischen Avantgarden, als dessen in der Einheit von Ort und Zeit situiertes, vielleicht signifikantestes Beispiel das Bauhaus angesehen werden kann. Im Wiederlesen und Sich-Vergegenwärtigen dieses längst nicht eingelösten Erbes ertönt zunächst zaghaft, dann immer lauter werdend der Ruf: «die zukunft braucht den ganzen menschen.» (Ebd.: 11)

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1–2 Foto: Lena Roord. 3

Foto: Claudia Lo Gatto.

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Foto: Schüler*in Frida Levy Gesamtschule.

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Foto: Lena Roord.

Biografie

Angela Weber, bis 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, forschend und lehrend im Bereich der kulturellen Bildung tätig. Forschungsschwerpunkte: transdisziplinäre Bildungsprojekte zu Demokratie, Partizipation und Transkulturalität, Ästhetischer Praxis und Rassismuskritik.

Das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter

Einleitung

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Katharina Gimbel, Ulrike Buchmann Die Beiträge im vierten Teil des Bandes werfen die Frage auf, inwiefern das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter eine Inspiration für die Forschung und Gestaltung im Umfeld beruflicher Bildung sein kann. Mit Blick auf eine dazu passende Curriculumforschung wird der Versuch unternommen, einen Beitrag zur Grund­ legung neuer Wissensarchitekturen zu leisten. Im Rahmen der erziehungswis­ senschaftlichen Reflexion werden neben den eher etablierten Bezugswissen­ schaften (u.a. Technikdidaktik, Soziologie, Ökonomik, Politik) auch neue (Teil)Disziplinen (u.a. ästhetische und kulturelle Bildung, Postwachstumsökonomik, Informatik, Medienwissenschaften) berücksichtigt, deren Expertise zur Bearbeitung aktueller (berufs)bildungswissenschaftlicher Fragen notwendig erscheint. In der Verbindung von Künsten, Handwerk und Technik wurden am Bauhaus Grundprinzipien entwickelt, deren Neubeachtung angesichts gesellschaftlicher Transfor­ mationen wie Internationalisierung, Globalisierung, Technisierung, Digitalisie­ rung und Verwissenschaftlichung sowie demographischer Umbrüche lohnenswert erscheint. Die Beiträge begründen dabei u.a. die Annahme, dass die ökonomischen Teildisziplinen Plurale Ökonomik und ­Ubiquitous Design/Wirtschaftsinformatik zum Verständnis und zur Mitgestaltung der skizzierten Veränderungen im Rahmen neuer Arbeitsbündnisse einen Beitrag leisten können. In diesem Zusammenhang werden deren Schnittmengen zur Erzie­ hungswissenschaft herausgearbeitet. Zum einen werden Gedanken transdiszi­ plinärer Anschlussfähigkeit der bisher weitgehend disziplinär gebundenen theo­ retischen Überlegungen unternommen

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und zum anderen transmediale Gestaltungs­ prozesse verhandelt. Die erziehungswissenschaftliche Reflexion des Bauhauses weist mit wenigen Ausnahmen (etwa Konrad Wünsche oder Klaus Mollenhauer) Desiderate auf, deren Bearbeitung für die erziehungs­ wissenschaftliche Teildisziplin der Berufs­ bildungswissenschaft in den vergangenen Jahren begonnen wurde. Diesbezügliche theoretische und ideengeschichtliche Überlegungen erörtert Ulrike Buchmann im Rahmen des ersten Beitrags der Sektion Das Bauhaus – eine Inspiration für die berufliche Bildung?! Oder: über den Blick zurück in die digitale Zukunft?. Lasse man sich von der regulativen Idee des Bauhauses im Rahmen der beruflichen Bildung im digitalen Zeitalter inspirieren, sei der ­Einbezug theoretisch grundgelegter neuer Wissensarchitekturen erforderlich. Dementsprechend wird im Beitrag ein transdisziplinäres Werkstatt-Prinzip kategorial gefasst. Gemäß der Idee zur Grundlegung neuer Wissensarchitekturen entstammen die folgenden Beiträge der Perspektive alter und neuer erziehungswissenschaft­ licher Bezugsdisziplinen. Im Beitrag 150 Jahre Bauhaus. Ein Interview mit Klara Kobel aus dem Jahr 2049 gehen Judith ­Dörrenbächer, Matthias Laschke und Marc Hassenzahl im Rahmen eines fiktiven Interviews dem exemplarischen Design­ prozess des «Langsamen Reisens» nach. Gestaltung sei hierbei motiviert durch die Annahme, die sie «Utopien für Realisten» nennen. Ferner beleuchten sie die Bedeutung des partizipativen Einbezugs von Interessengruppen in gegen­ wärtigen und zukünftigen Gestaltungs­ prozessen, die am Bauhaus nicht berück­ sichtig wurden. So seien im Rahmen des partizipativen Design gemeinsam mit Interessensgruppen Utopien zu entwickeln und daraufhin prototypisch zu realisieren.

Dieser partizipative Prozess werde als Input professioneller Gestaltung gefasst, wobei sich diese neben Artefakten vor allem auf nicht materiell Greifbares wie Dienstleistungen und soziale Systeme spezialisiere. Im daran anknüpfenden Beitrag Utopien erleben. Eine Methode für soziale Innovationen stellen Dörrenbächer, Laschke und Hassenzahl eine auf der Praxis von «Design Fiction» basierende Methode vor, die bewusst weder Probleme noch Technik zum Ausgangspunkt des Gestaltungsprozesses erklärt. Es werden Einblicke in einen partizipativen Workshop eröffnet, in welchem diese Methode zur Gestaltung von sozialen Innovationen und entsprechender Techniken getestet wurde. Dabei ist die Frage von Bedeutung, was passiert, wenn Utopien in der Realität Form gewinnen und Subjekte in ihnen und mit ihnen ­interagieren können. Utopien – primär im Sinn positiver sozialer Visionen – werden als Ausgangspunkt von Gestaltung samt damit einhergehenden komplexen Wechselwirkungen reflektiert. Technik habe sich im Designprozess demzufolge nach diesen Visionen auszurichten und nicht die Visionen nach den Möglichkeiten der Technik. Katharina Dutz und Niko Paech verfolgen in dem Beitrag Industrie 4.0 versus Postwachstums­ ökonomie: Arbeit und Bildung den Zusam­ menhang von Postwachstumsökonomie und Bildungsfragen. Dazu reflek­tieren sie u.a. die Bedeutungen kollektiver Struk­ turen, der Digitalisierung sowie ­handwerklicher Fähigkeiten und Praktiken beispielsweise zur Nutzungsdauer­ verlängerung von Produkten im Hinblick auf neue wachstumskritische und ­postwachstumstaugliche Lebensformen. Ralf Dreher befragt die Aktualität der ­Pädagogik des Bauhauses angesichts der Lernfeldorientierung an Berufskollegs im

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Beitrag Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept – ­diskursimmanente Parallelität oder zeitgeistige Überhöhung? Abschließend geht Katharina Gimbel unter dem Titel (Zer)Denken: BauhausPädagogik in Gegenwart digitaler Transformationen aus (berufs)bildungs­ wissenschaftlicher Perspektive der Frage nach, inwiefern die Bauhaus-Pädagogik angesichts gesellschaftlicher Trans­ formationen im Zuge des digitalisierten Medienumbruchs der Gegenwart und damit veränderter Formen von (Erwerbs)Arbeit als Impulsgeber für die Curriculumforschung dienen kann. Dabei werden Einblicke in den Workshop Hacken und Critical Making: Phänomene der (Post-)Bauhaus Community? ermöglicht, der gemeinsam mit einer ­regionalen Community entwickelt und im Fab Lab der Universität Siegen realisiert wurde.

Ulrike Buchmann

Das Bauhaus – eine Inspiration für die berufliche Bildung?! Oder: über den Blick zurück in die digitale Zukunft? Erziehungswissenschaft, Technik, Ökonomie und Architektur – eine alte Verbindung gegen die Fragmentierungen der Gegenwart reaktivieren? 355

Zunächst mag es überraschen, dass im Kontext hochdynamischer gesellschaft­ licher Prozesse ausgerechnet auf einen Ideenkontext abgestellt wird, der seine Wurzeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts verortet. Doch im Jubiläumsjahr des 1919 von Walter Gropius gegründeten Bauhauses bietet sich die besondere Gelegenheit, sich von den am Bauhaus entwickelten pädagogischen Aktivitäten erneut inspi­ rieren zu lassen (zum Folgenden auch Buchmann/Kell 2013, Buchmann 2020). Die Antinomie von Tradition und Moderne repräsentierte Gropius selbst in besonderer Weise: Orientiert am Ideal mittelalterlicher Handwerkskunst war seine Vision einer Verbindung von Kunst und Kunsthandwerk, von Werkstatt und Meisterklasse, ­geradezu revolutionär. Die zugrundeliegenden handlungsleitenden Prinzipien las­ sen sich konkret machen als • ein Universalismus, der Ganzes und Teile relationierbar und damit ‹verstehbar› werden lässt, • den Umgang mit und die Bearbeitung von gesellschaftlich provozierten Widersprüchen, • ein spezifisches Theorie-Praxis-Verhältnis sowie • Gestaltung als reale Gesellschaftsutopie (Imagination eines alternativen Möglichkeitsraums) Diese Prinzipien ermutigen dazu, das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter neu zu erfinden (dazu auch Gimbel im vorliegenden Band). Insofern beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit der Frage, inwiefern insbe­ sondere die pädagogischen Konzeptionen des Bauhauses im Rahmen aktueller (berufs)bildungswissenschaftlicher Fragestellungen anschlussfähig sind und viel­ leicht noch vielmehr, warum es ggf. Sinn machen könnte, den u.a. digitalen Heraus­ forderungen des dritten Jahrtausends ausgerechnet mit Ideen begegnen zu wollen, die vor 100 Jahren in Weimar entwickelt wurden und die bereits 14 Jahre später – aufgrund der barbarischen politischen Liquidation durch die National­ sozialisten – in Deutschland Geschichte waren. Wie an anderer Stelle ausführlicher begründet (Buchmann 2020) gibt es gute Argumente, in der Bauhaus-Idee Ansätze zur Überwindung von Fragmentierungen der Gegenwart zu suchen und das Bauhaus als eine regulative Idee im Hinblick auf das (mäandernde) Wesen der Moderne genauer zu betrachten (ebd.). Auch die wissenschaftliche Arbeitsteilung ist von den für moderne Gesellschaften so typischen Fragmentierungen nicht ausgenommen; so dokumentieren diesbezüg­ liche Segmentierungen eine historische Entwicklungsgeschichte, im Verlaufe derer sich – in enger Anbindung an die arbeitsteilige Organisation moderner Wirt­ schaftssysteme – monodisziplinäre Weltsichten und ein Prinzip der Teillogiken etabliert haben (Buchmann 2009). Die Berufsbildungswissenschaft als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin ­beschäftigt sich analytisch-theoretisch mit den Fragen eines sich in Transforma­ tion befindlichen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt- und Objektseite menschlicher Existenz. Dieses Verhältnis verändert sich im Kontext der digitalen Transformationen dahingehend, dass Komplexität, Interdependenzen und Unübersichtlichkeiten zunehmen, sodass wissenschaftliche Expertise in allen

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Ulrike Buchmann

gesellschaftlichen Zusammenhängen bzw. Bereichen an Bedeutung gewinnt. Die These von der Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlichen Bereiche, von Produktion/Dienstleistung und Reproduktion wurde bereits zu Beginn der 1960er Jahre von Schelsky (1965) aufgestellt und ist heute über die Disziplinen hinweg unstrittig. Damit entsteht die erziehungswissenschaftliche Herausforderung, das Verhältnis von Spezialbildung (überwiegend auf Erfahrungswissen basierend) und Allgemeinbildung (auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertise) bzw. von vor­ akademischen und akademischen Bildungsgängen als Entwicklungsrahmen bzw. Vergesellschaftungsmodus der nachwachsenden Generation auf der Grundlage erziehungswissenschaftlicher bzw. berufsbildungswissenschaftlicher Forschung neu bewerten zu müssen. Denn bisher ist die Frage nach den empirisch begründ­ baren Wissensarchitekturen als Grundlage für bewusste Lern-, Denk- und Prob­ lemlöseprozesse, von denen aus das Individuum die Welt interpretieren, verstehen und verändernd auf sie einwirken kann, nach wie vor nicht geklärt. Insbesondere der Inklusionsdiskurs hat darauf aufmerksam gemacht, dass die wissenschaftli­ chen Disziplinen, insofern auch die Erziehungswissenschaft, die Erklärungskraft ihrer mono- bzw. teildisziplinären Wissensbestände überprüfen muss und sich damit im transdisziplinären Spektrum von Bildung, Recht, Gesundheit, Politik, Kunst, Ökonomie, Technik und Ökologie die Chance bietet auf neue substantielle Wissensarchitekturen und die Einheit der wissenschaftlichen Rationalität und Verantwortung. Diese wissenschaftliche Rationalität und Verantwortung fokussierend haben wir im Rahmen der internationalen Tagung Bauhaus-Paradigmen – Von Gestaltungsutopie zu Popkultur? der Fakultät II der Universität Siegen im Herbst 2019 einen interdiszi­ plinären Diskurs initiiert, in dem Kolleg*innen aus der Erziehungswissenschaft, Ökonomie und Architektur mit je spezifischem berufsbildungswissenschaftlichem, postwachstumsökonomischem, sozioinformatischem, technikdidaktischem und architektonischem Erkenntnisinteresse Digitalisierungsfragen im Hinblick auf eine zukünftige moderne Berufsbildung ventiliert haben. Dabei haben sie sich eingelas­ sen auf ein experimentelles Setting an einem nicht alltäglichen Ort (Fab Lab) sowie durchaus kontroverse Positionsbestimmungen – alles der Einsicht geschuldet, dass die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich als Zusammenspiel von demografischen, technischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Trans­ formationen fassen lassen, nach neuen Antworten, nach Utopien verlangen, die ein Hinausdenken über das Bestehende ermöglichen. Sie verleihen kritischen Gesell­ schaftsanalysen eine besondere Aktualität, für die Marcuses Techniktheorie als Gesellschaftstheorie exemplarisch steht – sind es doch insbesondere die digitalen Transformationen, die komplexe Rationalisierungsprozesse und Entmischungen (Buchmann 2007), mithin fundamentalen gesellschaftlichen Wandel provozieren, der vielfach als Weg in Kontrollgesellschaften (Deleuze 1993, Sennett 1998) diag­ nostiziert wird. Diesem vermeintlich festgelegten Weg sind alternative Zukunfts­ entwürfe entgegenzusetzen.

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Das Bauhaus – eine Inspiration für die berufliche Bildung?! Oder: über den Blick zurück in die digitale Zukunft?

Warum es ohne gesellschaftliche Utopien nicht geht oder das Projekt der Moderne vollenden! Herbert Marcuse formulierte als einer der Vordenker einer modernen Technik­ theorie in den 1960er Jahren eine Gesellschaftstheorie angesichts einer fortschrei­ tenden Technisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche: Die gegenwärtige ­industrielle Zivilisation beweise, dass sie eine Stufe erreicht habe, auf der die freie Gesellschaft über die traditionellen Begriffe ökonomischer, politischer und geisti­ ger Freiheit nicht mehr angemessen bestimmbar sei – nicht etwa, weil diese Funk­ tionen bedeutungslos geworden seien, sondern, weil sie zu bedeutsam seien, um auf traditionelle Formen begrenzt zu bleiben. Entsprechend den neuen Fähigkeiten der Gesellschaft bedürfe es neuer Weisen der Verwirklichung (Marcuse 1969: 127). Im Sinne Marcuses könnte sich Wissenschaft (rück)besinnen auf ästhetische Ver­ nunft, das freie Spiel, den Übermut der Einbildungskraft und nicht zuletzt die Phan­ tasie der Umgestaltung, um so das Universum der Herrschaft zu überwinden. In der vielleicht etwas ‹unterkühlten› Formalsprache der Berufsbildungswissen­ schaft wurden Anfang 2019 als Anregung für die Diskussionen im Rahmen der 20. Hochschultage Berufliche Bildung Digitale Welt – Bildung und Arbeit in Transformationsgesellschaften an der Universität Siegen folgende Fragen formuliert: Vor welchen Herausforderungen steht die berufliche Bildung angesichts von Entwick­ lungen, die aktuell unter Begrifflichkeiten wie «Wirtschaft 4.0», «Industrie 4.0» oder «Gesundheit 4.0» subsumiert werden? Welche Ideen zur Bewältigung dieser ­Herausforderungen werden derzeit diskutiert? Welche Gestaltungsperspektiven im Hinblick auf das Handlungsfeld berufliche Bildung und ggf. auch darüber hinaus werden in den Blick genommen? Digitalisierung mithin Digitalität (Stalder 2016) ist jenseits technischer Lösungen und primär ökonomischer Einsparungspotentiale im Hinblick auf ökologische ­Gestaltungsperspektiven, neue Formen des sozialen Miteinanders, ortsunabhän­ gige Beschäftigung in Kombination mit neuem Denken in Bezug auf Konsum in den Blick zu nehmen. Von diesen primären Funktionszusammenhängen abstrahiert geht es um nichts Geringeres als darum, das Projekt der Moderne zu vollenden (dazu Habermas 1994). Das Projekt der Moderne ist in eine ideengeschichtliche Referenz einzuordnen, die sich exemplarisch u.a. über folgende Kernsätze ­skizzieren lässt: • Um zu leben, besser zu leben, gut zu leben (Philosophie: Whitehead 1956) • Gegen eine intellektuelle Unterwerfung, mit der sinndifferente ­Informationsaufnahme und Speicherung erzwungen werden (Bildungstheorie: Blankertz 1972) • Das Überleben der Menschheit sichern, aber nicht um jeden Preis, sondern in Würde ([Postwachstums-]Ökonomie: Maedows u.a. 1972; aktuell: Dutz/Paech im vorliegenden Band) • Eine Theorie der Technisierung ist als Theorie der Gesellschaft zu denken (Pollock 1956; Ropohl 1979; Rammert 1983; Huisinga 1996; Buchmann 2007).

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Als Wesensmerkmale der Moderne lassen sich Antinomien, Ambivalenzen und Ambiguitäten diagnostizieren, deren Nichterkennen und -bearbeiten (beispielhaft könnte man das an der Finanzkrise oder dem Dieselskandal zeigen) hilflose Über­ forderung gepaart mit einem Denken von vorgestern und unternehmerischer Überheblichkeit hervorgebracht hat. Jedoch ist kein Technikeinsatz wertneutral, sondern immer Ergebnis einer politischen Entscheidung. Als solche allerdings sind – in demokratischen Gesellschaften – Klärungen maßgebend – mindestens im Hinblick auf Sinn, Ziele, Ausrichtungen und Utopien (als Ausdruck neuen Denkens). Statt schneller Lösungen sind offene, breit angelegte und ehrliche Diskurse ­erforderlich, um zu klären, in welcher Welt wir zukünftig leben wollen – darauf müs­ sen sich Bestandsdenker*innen einlassen und dazu müssen (junge) Menschen befähigt werden, ebenso wie zur Gestaltung in komplexen, vielfach widersprüch­ lichen Zusammenhängen. Wie das allerdings geschehen soll, ist nach wie vor offen. Weder ist die Frage nach empirisch begründbaren Wissensarchitekturen als Grundlage für bewusste Lern-, Denk- und Problemlöseprozesse, von denen aus das Individuum die Welt interpretieren, verstehen und verändernd auf sie ein­ wirken kann, auch nur annähernd geklärt. Noch scheint derzeit eine (Real-)Utopie als Zukunfts-(!)Orientierung in Sicht. Fiction ist aktuell apokalyptisch auf MenschMaschine-Kriege fokussiert, die die Menschen üblicherweise verlieren, um sich dann – im besten Fall – wie Phönix aus der Asche zu erheben, um sich neu zu ­erfinden. Das ist m.E. keine Perspektive; wir brauchen dringend Alternativszenarien.

Inklusion – oder die Re-Etablierung der Idee einer gemein­ samen Welterschließung in kollektiver Vernunft (Pongratz 2009) Gesellschaftliche Transformationen provozieren Widerspruchslagen, Passungs­ problematiken, Timelags und Verwerfungen, die als Mismatches für individuelle (z.B. Übergangsprobleme, Erschöpfungssymptomatiken) und gesellschaftliche (z.B. Arbeitsmarktverwerfungen, Politikverdrossenheit) Risikolagen verantwortlich gemacht werden und eine weitverbreitete, geteilte Sorge um das Auseinander­ fallen von Gesellschaft provozieren.1 Politisch sollte den Mismatches seit den 1980er Jahren mit neuen Steuerungen im Bereich öffentlicher Dienstleistungen (New Public Management) begegnet werden: Die zunehmende Komplexität ­gesellschaftlicher Praxis ließ bürokratisch-verallgemeinerbare Umgangsformen mit ihr zunehmend obsolet werden. Also setzte man politisch-strategisch auf die mit dem Subsidiaritätsprinzip der deutschen Verfassung vereinbare Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, indem die Ver­ antwortlichkeit für bis dato öffentlich geregelte Aufgaben sukzessive in die Hände der Bürger*innen (zurück-)überantwortet wurden – mit durchaus unterschiedlichem Erfolg, je nachdem, ob man primär qualitative Verbesserungen oder eine Indivi­ dualisierung der Gemeinwohlkosten (zwecks Entlastung der Unternehmen und öffentlichen Haushalte) im Blick hat bzw. präferiert. 1

Ein empirisch begründetes Risikolagen-Modell zur Klärung des Verhältnisses von Bildungs- und Beschäftigungssystem ­unter Transformationsbedingungen wurde als Grundlage für eine wissenschaftsrückbezogene Curriculumkonstruktion 2007 ­entwickelt (Buchmann 2007; dies. 2011).

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Das Bauhaus – eine Inspiration für die berufliche Bildung?! Oder: über den Blick zurück in die digitale Zukunft?

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird aus einer sozialpolitischen Perspektive die regulative Idee Inklusion zur Bewältigung der Transformationsrisiken diskutiert. In Anlehnung an die sozialwissenschaftlichen Diskurse steht Inklusion allerdings insgesamt für einen offenen Prozess im Kontext von Freisetzungs- und Vergesell­ schaftungsprozessen, der einen Bedarf an gesellschaftlicher Neubewertung und Reorganisation des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft dokumentiert. Insbesondere hat der Inklusions-Diskurs darauf aufmerksam gemacht, dass die wissenschaftlichen Disziplinen (auch die Erziehungswissenschaft bzw. Berufsbil­ dungswissenschaft) die Erklärungskraft ihrer monodisziplinären Wissensbestände überprüfen müssen und sich damit im Spektrum von Bildung, Recht, Gesundheit, Politik, Kunst, Ökonomie, Technik und Ökologie die Chance auf neue ­substantielle Wissensarchitekturen sichern ebenso wie auf die Einheit wissenschaftlicher ­Rationalität und Verantwortung. Die Suche nach dieser Rationalität ist keinesfalls eine Entwicklung jüngeren Datums, sondern lässt sich im Rahmen einer – nicht auf Vollständigkeit ausgerichteten – historischen Spurensuche an folgenden Zusam­ menhängen dokumentieren: Der Grunderkenntnis moderner Wissenschaft folgend ist von einem ­unauflöslichen Zusammenhang, einer Trinität des Denkens, Fühlens und Wollens auszugehen.2 Entsprechend war der mittelalterliche Lehrplan der septem artes liberales aufge­ baut: In Anlehnung an Aristotelesʼ antike Lehrkunst bildeten sprachliche, auf den menschlichen Geist, die Haltung und formale Bildung des Intellekts bezogene Belehrung (Trivium oder artes serminocales, logica, später: humanorica) und Kennt­ nisse über die äußeren Dinge der Natur, die Gesetze der Zahl, des Raumes, der ­Gestirne, der Töne als inhaltlich materiale Anreicherung (Quadrivium oder artes reales, physika) eine Einheit, die in Verbindung mit der sinnlichen Verarbeitung ein Erkennen und Verstehen und damit letztlich Gestaltung ermöglichen sollte. Die zunehmende Säkularisierung von Bildung im Sinne staatlicher und privater Nütz­ lichkeitserwägungen löst diese Einheit z­ ugunsten einer Vorherrschaft der artes reales zunehmend auf bzw. interpretiert sie um, nicht zuletzt, um zugleich Herr­ schaft zu sichern. In dieser Hinsicht ist bis heute die reale Trennung von allge­meiner und beruflicher Bildung wirksam (dazu Stratmann 1993: 247–381). Die Säkularisierung der freien Künste ging auch mit einem Vorrang der mit physi­ kalischer Gegenwart präsenten Artefakte einher, was sich zu Lasten diskursiv entwickelnder Künste wie der Poesie auswirkte. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Diskussion um Materialität und Immaterialität 1766 in Lessings Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten, die als historische Zäsur in der Geschichte der Ästhetik fortan zwischen simultan und synchron, nebeneinander im Raum durch Farben und Formen angeordneter Malerei und in der Zeit aufeinanderfolgender, sich nacheinander diskursiv entwickelnder Poesie unterschied. Auch für die Archi­ tektur blieb das nicht folgenlos: Ihre anschließende Subsumierung unter die Raum­ künste – falls sie überhaupt jenseits funktionaler Ingenieurtechnik als künstlerische Disziplin wahrgenommen wurde – hat das disziplinäre Selbstverständnis und ­Erkenntnisinteresse bis heute nachhaltig geprägt (dazu Lohmann 2012). L ­ essings Position – ursprünglich entstanden aus der Kritik an der Eindimensionalität einer 2

Die folgende historische Replik findet sich in ausführlicherer Form in Buchmann/Kell 2013.

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künstlerisch-physikalischen Objektdominanz – wurde vielfach kritisiert. Speziell unter Bezugnahme auf die zeitlich-historische Dimension, die Teil jedes künstle­ rischen Werks sei. Als einer der Vertreter der modernen Kunst, die sich zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts ihrer geistigen Erneuerung verpflichtet fühlten, setze Klee darauf, eine neue Wirklichkeitsdimension von Kunst zu generieren, die der vielfach präsenten Vor­ stellung, hinter der Leinwand setze sich die Realität fort, eine deutliche Absage erteilte. Ihm ging es darum, die nicht sichtbare, hinter den sichtbaren Erscheinun­ gen verborgene, eigentliche Realität (Zeit, Raum. Bewegung, Rhythmus) darzu­ stellen, damit sie selbst Wirklichkeit werde (Ulbrich 2000: 151). In vergleichbarer Weise leistete Blossfeld (1865–1932) mit seinen Pflanzenstudien nicht nur eine exakte Formenanalyse botanischer Details und eine differenzierte Dokumentation komplexer Natur- und Lebensräume, sondern intendierte gleichsam eine asso­ ziative, über die äußeren Erscheinungsformen hinausgehende Betrachtung der Pflanzen. Als modernerer Kritiker der lessingschen Differenzsicht bemüht Benja­ min mit seinem Begriff der Aura ein «sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit», das «an das Hier und Jetzt gebunden [ist]. Es gibt kein Abbild von ihr.» (Benjamin 1977: 378) Er versucht damit der Dialektik von zeitlicher und räumlicher Bedingtheit aller Artefakte einen Namen zu geben. In seinem Entwurf einer künstlerischen Symboltheorie rekurriert Goodman auf einen allographen Kunstbegriff, der dem Werk eine Notation unterstellt, die der (künstlerischen) Auslegung bedarf, dabei sind Raum und Zeit voneinander ­abhängige und aufeinander verwiesene Dimensionen (Goodman 1995). Bertram aktualisierte die Kritik mit Bezug auf Film, Happening und Tanz, in denen Räum­ lichkeit und Zeitlichkeit, körperliche Materialität und Immaterialität ineinander übergingen. Die Räumlichkeit der Zeitkunst bestehe in der Entfaltung; Raumkunst besitze bereits durch ihr Selbstverständigungsgeschehen eine zeitliche Dimen­ sion (Bertram 2005: 67). Spätestens an dieser Stelle wird das Subjekt unhinter­ gehbar, sind die entfalteten Humanpotentiale (selbstverständlich vorausgesetzter) Teil der kunsttheoretischen Betrachtungen, wird die Bildungsfrage zu einer ­transdisziplinären Angelegenheit, die nach reorganisierten Wissensarchitekturen geradezu verlangt. Mollenhauer ist einer der ersten erziehungswissenschaftlichen Protagonisten, der diese «Vergessenen Zusammenhänge» (Mollenhauer 1983) in den disziplinären Diskurs und darüber hinaus reimplementiert. Er stellte die Frage, inwiefern die in künstlerischen Artefakten (z.B. Bildern und Texten) zum Ausdruck kommenden ge­ lebten Lebensformen die Gestaltung einer eigenen Zukunft ermöglichen oder aber dieser eher im Wege stehen. Die intendierte «Rückholung der Erziehungswissen­ schaft in das Zentrum ihrer Fragen» (wie der Verlag bei der Erstveröffentlichung titulierte) ist als ein Modernisierungsansatz zu verstehen, der eben nicht nur auf den unauflösbaren Zusammenhang von Bildung und Kultur und der jeweils rele­ vanten Disziplinen als implikatives Verhältnis rekurrierte, sondern gleichsam über künstlerische Artefakte die Gesetzmäßigkeiten, Logiken, Regeln etc. einer (vielfach unbewussten) lebensweltlichen (Erziehungs-)Praxis aufzuschließen ­intendierte. Das betrachtend lernende Subjekt ist Teil der künstlerisch-ästhetischen Artefakte und als solches nicht nur Ursprung und Ziel von Kunst gleichermaßen, sondern

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immer auch Träger der zeitlichen Dimension. Mit der Konsequenz, dass Notation als Ausdruck gattungsgeschichtlicher Entwicklung erst in der Betrachtung, in der Auseinandersetzung, im Verstehen und konstruktiven Verarbeiten durch das ­betrachtende Subjekt Gestaltung erfährt. Der gattungsgeschichtliche Aneignungs­ prozess findet keineswegs voraussetzungslos statt, ist auf ein individuell entfalte­ tes Potential formaler Bildung angewiesen, wie er gleichsam einen Beitrag zu dessen fortschreitender Erweiterung leistet. Im Umkehrschluss ist dann allerdings das entfaltete Subjekt zugleich notwendige Bedingung für die Gestaltung und Rezeption als Aneignung künstlerisch-ästhetischer Formgebungen (Architektur, Kunst etc.). Bildungswissenschaftlich-didaktisch betrachtet entsteht mit dem «Erbe» der Tren­ nung von Raum- und Zeitdimension allerdings ein Problem, auf das bereits Rous­ seau (1712–1778) aufmerksam gemacht hat. In seinen 10 Lehrbriefen zur Botanik für artige Frauenzimmer (Orig.: Lettres èlémentaires sur la Botanique, A Madame de L***, 1782 [datiert 1771–1773]) beschäftigte er sich mit den Grundlagen des Pflanzen­ sammelns und Herbarisierens. Im Zuge dieser Arbeit hatte er mit Blick auf die Pflanzenmorphologie einerseits und die zeithistorisch bis ins Groteske ausufern­ den Benennungen für Pflanzenarten andererseits, wie schon sein Zeitgenosse Hegel, auf einer (didaktisch notwendigen) Unterscheidung zwischen dem Wesen und der Erscheinung einer Sache/eines Artefakts insistiert. Hier nun schließt sich der Kreis zum elaborierten kunsttheoretischen Diskurs, der ja, wie gezeigt wurde, eben diese Unterscheidung zwischen eigentlicher, durch den Betrachter zu offen­ barender Realität (Wesen) und Artefakt (Erscheinung) zugrunde legt und damit eine gesellschaftstheoretische Fundierung realisierte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem zunächst ideengeschichtlich – mit der Weimarer Reichsverfassung auch realgeschichtlich – eine Demokratisierung der Gesellschaft als politische Utopie Kontur gewann (Gründung der Nationalver­ sammlung), entstanden am 1919 von Walter Gropius gegründeten und 1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten liquidierten Bauhaus im genannten Sinne bahn­ brechende pädagogische Aktivitäten. In dieser kurzen Spanne von nur 14 Jahren wurden am Bauhaus nicht nur maßgebliche Beiträge zur Grundlegung dessen erarbeitet, was wir heute allgemein als Design bezeichnen, auch wurden an dieser Kunst­ schule neuen Typs pädagogische Konzeptionen entwickelt und ange­ wandt, deren Aktualität über Jahrzehnte hinweg aufs neue beschworen worden ist, die andererseits allerdings auch zu einem neuen Akademis­ mus geführt haben, dem mit Skepsis, Kritik oder auch totaler Ablehnung begegnet wurde […]. (Wick 1994: 14) Ohne hier im Einzelnen auf die disziplinär und erkenntnistheoretisch differenten Positionen der Bauhäusler*innen eingehen zu können, repräsentieren sie in ihrer Gesamtheit als gemeinsame Perspektive die Suche nach Überwindung einer frühen Fragmentierung und der Suche nach Norm, Standard und Universalität als Repräsentation einer progressiven Gegenwart.

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Das Bauhaus oder wie unterrichtet man Zukunft? Die regulative Idee, das grundlegende sozialpolitische Ziel des Bauhauses, wird anders als in den vielfachen Teil-Rezeptionen m.E. in seinem Gründungsmanifest deutlich: «Kunst und Volk müssen eine Einheit bilden! Die Kunst soll nicht mehr Genuß Weniger, sondern Glück und Leben der Masse sein» (Schlösser 1980: 127). Wendet man sich den Zielperspektiven des Bauhauses im Einzelnen zu, so lassen sich folgende Ideen zusammenfassend formulieren: • eine Reintegration der durch die Industrialisierung hervorgebrachten Trennung von Kunst und Leben, künstlerischer und produktkultureller Sphäre sowie der zersplitterten Kunstgattungen; • eine Aufhebung der mit den modernen Produktions- und Lebens­ weisen einhergehenden Antinomien; • eine Nutzung der Kunst selbst als Instrument einer kulturellen und sozialen Regeneration, orientiert am Gedanken des «Gesamtkunstwer­ kes», der im Mittelalter und Barock – wenn auch als «Einheitsbekun­ dung» – selbstverständlich war, wurde von den Bauhäusler*innen als «Einheitsstreben» im Sinne der Utopie neu formuliert; • eine Hinwendung zur rigorosen handwerklichen und industriellen Gestaltung. «Architekten, Maler und Bildhauer müssen die vielgliedrige Gestalt des Baues in seiner Gesamtheit und in seinen Teilen wieder kennen und begreifen lernen, dann werden sie von selbst ihre Werke wieder mit architektonischem Geiste füllen, den sie in der Salonkunst verloren», wie es im Gründungsmanifest des Staatlichen Bauhauses Weimar heißt (zit.n. Wick 1994: 30). Diese Grundprinzipien folgen der regulativen Idee Inklusion und fanden am Bau­ haus ihre didaktische Umsetzung in Vorklassen und so genannten Meisterklassen, die eine Abkehr vom traditionellen Prinzip der Nachahmung bedeuteten, indem die Lehre an (objektivierbaren) Gestaltungsregeln und (subjektiver) Intuition und damit an «Gesetz und Empfindung» gleichermaßen orientiert wurde. Grundlage war die generelle Frage nach dem Lehr- und Lernbaren – ein für die Bauhauslehre insgesamt zentrales Problem. Die Auffassung von der Entwicklung einer Kultur des Denkens, Fühlens und Wollens war Teil eines lebendigen Bildungsverständnisses. Dieses Verständnis erst ermöglichte dann den anderen Umgang mit «Materialien», deren besondere Eigenschaften unter Kontrast- und Ordnungskriterien unabhän­ gig von praktischen Verwertungsinteressen analysiert und im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Funktionalität(en), Gesetzmäßigkeiten, Regeln, Prinzipien etc. offen gelegt und nachvollziehbar und damit letztlich gestaltbar wurden (z.B. Le Corbusiers Modulor). Später hat sich aus diesem generellen Verständnis die regu­ lative Idee der Lehrkunst entwickelt. Aus didaktischer Perspektive dient Lehrkunst der Ermöglichung von Verstehen und Ordnen, von Weltverstehen und Weltaufschluss als Voraussetzung für Weltgestal­ tung, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität (Holzkamp 1995: 190),

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sodass ästhetische Formgebungen in Kunst und Architektur als Ausdruck gattungs­ geschichtlicher Entwicklungen mit spezifischem Lebensweltbezug und eigenen Notationen eine besondere, auch (berufs-)bildungswissenschaftlich neu zu ­bewertende Bedeutung im Sinne der Vermittlung (Huisinga/Buchmann 2006) haben müssten. Der Bauhausidee folgend geht es um Lernprojekte, die erstens das «Gesamtkunstwerk» und mit ihm seine Konstruktionsprinzipien, Gesetzmäßigkei­ ten, aber auch Konflikte und Widersprüche, die es provoziert, «in sich tragen» und zweitens unabhängig von den sozialisatorischen Vorprägungen der Rezipienten ein Verstehen und In-Beziehung-Setzen ermöglichen. Auch dafür braucht Vermitt­ lung als Professionsfeld entwicklungs- und innovationsförderliche Lernorte.

Das Prinzip Werkstatt als Ort der Vermittlung neu gedacht Im Allgemeinen ist die Werkstatt durch vielfältige alltagssprachliche Verwendungen in handwerklichen, künstlerischen oder sozialpolitischen Kontexten gekennzeich­ net. Kategorial gedacht lässt sich das der Werkstatt zugrundeliegende Prinzip – auch unter Bezugnahme auf das sozialräumliche Denken im Kontext des Bauhauses – als spezifisches Setting sinnstiftender Aneignungsimpulse und Auseinandersetzungen mit materiellen und immateriellen Dingen deuten, die eine Entwicklung und Entfal­ tung des menschlichen Vermögens (mithin Kreativität und Gestaltungswillen) im Hinblick auf eine durch vielfältige politisch-ökologische, technisch-ökonomische und gesundheitlich-soziale Herausforderungen gekennzeichnete Zukunft ermög­ lichen. Das Prinzip Werkstatt ist in diesem Sinne gekennzeichnet durch a) eine ­reflexive Theorie-Praxis-Verzahnung; b) ein fallorientiertes Vorgehen unter Mitwir­ kung unterschiedlicher Disziplinen und ihrer Expertise auf der Suche nach kreativen und innovativen Lösungsszenarien; c) ein Mentoring als neue Rationalität des Lernens (Fragestellungen aus dem Feld; erkenntnisorientiert-fallrekonstruktive Bearbeitung, die in der Aus- und Weiterbildung neu miteinander verzahnt werden; diese Verzahnung erfolgt über alternative institutionelle Netzwerke [Polis]) (Buch­ mann/Köhler 2016); d) eine neue Verbindung von Arbeiten (Erwerbsarbeit, Öffent­ liche Arbeit, Familienarbeit), Lernen und Forschen unter inspirierenden räumlichen Bedingungen (i.S.d. Spatial turn, dazu u.a. Löw 2001). Die Werkstatt greift insofern bislang in unterschiedlichen Disziplinen bzw. Teildis­ ziplinen entwickelte Konzepte weiterführend auf, indem eine gestaltungsoffene Arbeit am Fall erfolgt, die erkenntnistheoretisch gedacht der Verknüpfung von Erfahrungswissen und wissenschaftlichem Wissen zwecks Reflexion und Entwick­ lung von Autonomie im Hinblick auf Gestaltungsfähigkeit dient und damit das viel­ fach suspendierte Subjekt konstitutiv in den transdisziplinären Diskurs (re-)involviert. Ziel der Verknüpfung von unterschiedlichen Handlungspraxen und theoretisch bestimmten Reflexionen ist es, die Freude an herausfordernden Aufgaben und Begeisterung für Unbekanntes und Entdeckungen zu erhöhen. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, von welchem Punkt aus und durch welche Strategie Erkenntnis und Aufklärung so möglich ist, dass über kreatives Potential Autonomie im Hinblick auf eine innovative Zukunftsgestaltung entstehen kann.

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Neben dem Bauhaus-Prinzip liegt den kategorialen Überlegungen zur Werkstatt der Demokratisierungs-/Zivilgesellschaftsgedanke bei Jungk (1989) zugrunde: Mit der Einführung von Zukunftswerkstätten sollten die Bürger*innen an Entschei­ dungsprozessen beteiligt und somit Kreativität geweckt, gefordert und entfaltet werden. Darüber hinaus ging es um die Aktivierung verschütteter Phantasiequellen bei den Teilnehmer*innen über ihre neue Rolle als Mitgestalter*in und damit um demokratische Teilnahme. Somit dient die Zukunftswerkstatt der Förderung eines Interesses an Demokratie und der gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Mit Blick auf das dargelegte Erkenntnisinteresse wäre das Subjekt-Objekt-Verhält­ nis als Sozialraum «Werkstatt» neu zu konzipieren, und zwar im Hinblick auf die Entwicklung curricularer Repräsentanzen. Der Entwurf eines alternativen Lebens­ zusammenhangs in den Strukturen verwissenschaftlichter Erwerbsarbeit ist rela­ tiv unwahrscheinlich; für die Akteur*innen gibt es kaum konsistente Praxisfiguren. Eine erweiternde regulative Idee stiftet hier das transdisziplinäre Werkstattprinzip, das ähnlich der Weltbank für niedrigschwellige Länder mit dem Modell der «Klein­ ökonomie» zu konzeptionieren wäre (Buchmann/Huisinga 2010). Impulse für weitergehende Überlegungen und für den transdisziplinären Workshop Das Bauhaus als regulative Idee im digitalen Zeitalter im Rahmen der internatio­nalen Tagung Bauhaus-Paradigmen der Fakultät II haben nicht zuletzt die Fachtagungen und Workshops im Rahmen der Hochschultage Berufliche Bildung 2019 an der Universität Siegen (Buchmann/Cleef 2020) gegeben. Sie nahmen eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte der neuen digitalen Welt ins Visier und spiegeln den optimistischen Anspruch, die Veränderungen durch die Digitalisierung als Subjekt gestalten und Entscheidungen und Weichenstellungen bewusst mit Blick auf eine menschliche, sozial gerechte, demokratische Arbeitswelt vornehmen zu können. So wurden in diesem Sinne Aneignungsprozesse des eigenen Lebens, repräsentiert über unterschiedliche Artefakte, aufgegriffen und zeigten in je spezifischer Weise, dass Lernprozesse – im Sinne der Vermittlung zwischen Individuum und Gesell­ schaft – offensichtlich eine Reorganisation des sozialräumlichen Settings voraus­ setzen, wie z.B. das Zulassen von Regression und alternativer Notationssysteme, neuer Selbstverständnisse der Beziehungsstrukturen zwischen den Akteur*innen, Decodierungen von Anspruchs- und Erwartungshaltungen, Gestaltungswillen, ­professioneller Kreativität und Flexibilität. Insofern ist es eine ziel- und prozess­ bezogene Grunddimension eines neuen Bildungsprofils im digitalen Zeitalter, ­sowohl individuelle als auch institutionelle, strukturelle und ideelle Implikationen zu überdenken – dazu böte das transdisziplinäre Werkstatt-Prinzip eine Chance. Angesichts einer schwindenden Erklärungskraft monodisziplinärer Erkenntnisse setzt das strategische Werkstatt-Netzwerk mit neuen Akteur*innen auf eine innova­ tive Wissensarchitektur, die ihren Mehrwert über die Verzahnung bisher unverbunden existierender oder noch zu generierender Wissenssegmente schöpft und kreative Zukunftsgestaltungen ermöglicht – ganz im Sinne der Vordenker*innen am Bauhaus.

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Judith Dörrenbächer, Matthias Laschke, Marc Hassenzahl

150 Jahre Bauhaus

Ein Interview mit Klara Kobel aus dem Jahr 2049 Im Rahmen des Jubiläumsprogramms zu 150 Jahren ­Bauhaus sprechen wir mit Klara Kobel, Geschäftsführerin von UTech (Utopia Technologies) darüber, wie das Bauhaus bis heute ihre Arbeit und Gestaltungspraxis prägt. Sie berichtet über materialisierte Utopien, partizipatives Design und das Erfolgsgeheimnis ihres Unternehmens.

Frau Kobel, Ihr Unternehmen UTech wurde im Jahr 2021 gegründet – etwa 100 Jahre nach Gründung des Bauhauses. UTech hat seither nicht nur die Designpraxis stark geprägt, sondern mit ihren Projekten auch unsere gesellschaftliche Realität enorm verändert. Insbesondere als Sie 2022 das damals kontrovers diskutierte Konzept des ‹Langsamen Reisens› etablierten, machten Sie sich damit einen Namen. Heute ist Langsames Reisen nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken. Manche verstehen diese Idee als den zentralen Auslöser einer bedeutenden gesellschaftlichen Transformation. Ursprünglich war ‹Langsames Reisen› gar nicht so groß ausgelegt. Das Konzept war erst einmal nur für ältere Menschen gedacht. Unser Ziel war, Senior*innen ein entspanntes Reisen zu ermöglichen, bei dem sie jeden zurückgelegten Kilometer ganz bewusst wahrnehmen können, die Landschaft genießen, andere Reisende kennenlernen und ganz nebenbei noch etwas für die eigene Gesundheit und das Klima tun. Daraus entstand allerdings eine Bewegung. Man sprach damals ja sogar von einer Art «Altenbewegung» in Anlehnung an die Jugendbewegungen des 20. Jahrhunderts. Und letztlich hatten die Alten ja tatsächlich auch diesen enormen Einfluss auf die Jungen – womit wir so nicht gerechnet haben. Nach und nach sind immer mehr jüngere Menschen auf das Konzept aufgesprungen. Es stellte einfach

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den Effizienzgedanken der Mobilität in Frage: Ist denn schneller immer notwendig und besser? Es traf damit den Zeitgeist auch bei den gestressten Jüngeren. Wie erklären Sie sich den damaligen Erfolg? Nun, da kam wohl vieles zusammen. Alle Menschen suchten eine Alternative zum Höher, Schneller, Weiter der damaligen Zeit. Wir hatten also einen Nerv getroffen. Viele sprach die Idee an, ihre direkte Umgebung wieder mit dem eigenen Körper und mit allen Sinnen zu verstehen. Wirklich erfolgreich wurde das Konzept allerdings, weil es ganz unterschiedlichen Interessensgruppen die Möglichkeit bot, daran anzuknüpfen. Im Wirtschaftsministerium entstand beispielsweise sehr schnell Interesse, denn damals wurde klar, dass jeder mit dem Auto zurückgelegte Kilometer die Volkswirtschaft 18 Cent kostet, während jeder Kilometer zu Fuß 36 Cent einbringt. Diese Ersparnis entsteht primär durch Effekte auf die Gesundheit. Damit hatten wir auch das Interesse des Gesundheitsministers geweckt. Reisen zu Fuß – das war ja die Basis von Langsamem Reisen – wurde also wirtschaftlich interessant. UTech erhielten zunächst eine Förderung und unsere Kund*innen wurden steuerlich entlastet, wenn sie Langsames Reisen praktizierten. Außerdem war die Reisebranche zu der damaligen Zeit geschwächt. Sie erinnern sich, 2020, das war das Jahr, in dem die Pandemiekrise begann. Flug- und Fernreisen waren damals kaum mehr möglich und verloren so langsam ihren Reiz. Erst dachte man, das wäre schnell vorbei, aber ein Impfstoff ließ auf sich warten und als er entwickelt war, gab es wieder einen neuen Virus. Man kann wohl behaupten, eine Reise-Ära neigte sich dem Ende zu. Die Fernreise war passé. Alle suchten nach neuen Geschäftsmodellen, und da kamen wir mit unserem Konzept – ­regional, nachhaltig und zukunftsorientiert. Da sind dann einige auf den Zug aufgesprungen. Es gab ja zu Beginn beispielsweise noch dieses Konzept der ‹Altenherbergen›. Altenherbergen? Ja, jedes unserer Mitglieder hatte damals das Recht auf eine freie Übernachtung an den etablierten langsamen Reiserouten. Dadurch entstanden schnell Herbergen, die sich noch deutlich an die damalige Zielgruppe wandten. Wissen Sie, das langsame Reisen hatte etwas vom Pilgern. Das erklärt sicher auch den Erfolg. Heute reist ja jeder langsam, daher wird der Begriff der Altenherberge auch mittlerweile nicht mehr genutzt. Ein Zufallstreffer? Nein, ganz und gar nicht. Das Projekt nahm seinen Ausgang in einer positiven V ­ ision bzw. wir nennen diese Visionen ganz altmodisch ‹Utopien› – Utopien für Realisten. Was genau meinen Sie damit? Wie sah diese positive Vision aus? Die Utopie entwickelten wir 2020 zusammen mit einer Gruppe von Senior*innen. Wir diskutierten damals, wie wir als Gesellschaft miteinander leben wollten und was uns –  insbesondere beim Reisen – glücklich machen könnte. Den Teilnehmer*innen wurde klar, dass sie von einem Gut mehr besitzen als junge Leute: Zeit. Und da wurde der Grundstein gelegt für Langsames Reisen. Senior*innen konnten sich die Langsamkeit leisten, sie wurde plötzlich als Luxus verstanden. Wir lernten

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weiter, dass das gemeinsame Reisen in Gruppen bereichert. Neben der gemeinsamen Zeit mit Menschen war aber auch das Erleben der Landschaft zentral. Nicht die Highlights großer Städte, also nicht das Brandenburger Tor, sondern die Details tauchten in der positiven Vision des Reisens auf: kleine Dörfer, Feldwege, in Vergessenheit geratene stillgelegte Industrieanlagen, der Blick über den Gartenzaun unbekannter Orte, das «wahre Leben», wie es damals hieß. Und es ging auch ganz viel um Vorfreude – Vorfreude auf die Enkel, die 100 km entfernt wohnen, oder auf die Freunde, die einen ab der nächsten Stadt begleiten würden. Mit jedem Tag und mit jedem marschierten Kilometer wuchs die Vorfreude. Mit der Langsamkeit ­verbanden viele auch Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung. Für manche spielte hingegen das Kompetenzerleben eine große Rolle: die Erfahrung, Strecke mit dem eigenen Körper bewältigen zu können und sein Leben selbstbestimmt zu meistern. Wir malten die Utopie Stück für Stück gemeinsam aus –  auch konkrete Dienstleistungen und Angebote, wie diese Erlebnisse ganz praktisch realisiert werden könnten. Langsames Reisen war also wohlüberlegt. Gestaltung motiviert durch eine Utopie – das war ja lange Zeit beinahe verpönt, erinnert aber an Designbewegungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts einflussreich waren. Welchen Einfluss hatte das Bauhaus auf Ihr Unternehmen? Oder: Welchen Einfluss hat das Bauhaus noch heute auf Ihre Gestaltungspraxis? Ja, tatsächlich hat auch das Bauhaus sich an Utopien ausgerichtet und b ­ ezweckte eine gesellschaftliche Transformation. Allerdings versuchte man die positive ­Gesellschaft anders herbeizuführen. Im Bauhaus wurden die Utopien, meines Wissens, hauptsächlich am Reißbrett entworfen und durch Autorendesign umgesetzt. Dass dies so nicht immer funktioniert, ist klar. In der sozialen Realität der Menschen entwickeln Konzepte ja meist ein Eigenleben. Manchmal führt das dann sogar zu unerwünschten Zuständen – plötzlich wird aus einem Möbel, das als Massenprodukt gedacht war, durch Interessensgruppen, die im Gestaltungs­ prozess nicht bedacht wurden, ein für die meisten kaum bezahlbares Status­symbol. Das war die Tragik des Bauhauses, würde ich sagen. Daraus haben Sie gelernt? Ja, unser Ziel war es und bleibt es – ähnlich wie im Bauhaus – positive Visionen, also Utopien, zum Ausgang zu nehmen, aber – anders als damals üblich – diese dann nicht im luftleeren Raum zu gestalten. An erster Stelle steht die Frage: Wie wollen wir leben? Und dann: Wie können wir das realisieren? Wie funktioniert so ein Gestaltungsprozess bei UTech? Nun, nachdem wir gemeinsam mit unterschiedlichen Interessensgruppen ihre Ziele und Bedürfnisse eingeordnet und darauf aufbauend eine Utopie entwickelt haben, realisieren wir die Utopie prototypisch. Wir schlüpfen in unterschiedliche Rollen und spielen das Konzept, beispielsweise Langsames Reisen in einer Performance durch. Damit können wir Stärken und Schwächen des Konzepts am eigenen Körper erleben. Die ganze Komplexität wird so transparenter. Wir hatten beispielsweise auch 2020 schon eine Ahnung davon, wer neben den Senior*­ innen an Langsamem Reisen Interesse entwickeln könnte – die Sache mit dem

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Gesundheitsamt hatten wir durch das Rollenspiel vorab im Blick und konnten damals offensiv Akquise betreiben. Letztlich hilft die Performance gemeinsam mit den unterschiedlichen Interessensgruppen zu antizipieren, wo es haken könnte – also welche Personen unseren Entwurf missbrauchen oder torpedieren könnten. Oder welche positive Dynamik das Konzept im Laufe der Zeit auslösen könnte, wer also langfristig profitiert. Und mit diesem Wissen können wir unsere positiven Visionen so anpassen, dass die Wechselwirkungen und Komplexität in der Realität uns bestenfalls in die Karten spielen. Sie betreiben also partizipatives Design. Das war damals allerdings auch schon umstritten, richtig? Ja, berechtigterweise, denn wirklich innovativ und revolutionär wird es oft gerade dann nicht, wenn unterschiedliche Personen gleichberechtigt gestalten. Dann verderben, wie man so schön sagt, viele Köche den Brei. Sie können sich sicher denken, dass Kompromisse manches Mal für alle Beteiligten unbefriedigend sind. Aber um Wechselwirkungen verstehen zu lernen – was ja unser Ziel ist –, braucht es einfach unterschiedliche Akteure, die miteinander und mit uns interagieren. Wir verstehen den partizipativen Prozess daher als Input für die professionelle ­Gestaltung. Damit umgehen wir letztlich den Einheitsbrei. Bei uns setzen am Ende dann doch wieder Expert*innen Konzepte um, so bleiben die Konzepte provokant und progressiv – da sind wir also dem Bauhaus wieder ähnlich. Während am Bauhaus insbesondere Produkte gestaltet wurden – vom Sessel bis zur Teekanne – hat sich ihr Unternehmen schon früh auf Dienstleistungen oder soziale Systeme spezialisiert. Der Designbegriff hat sich in den letzten 150 Jahren stark verändert, oder? Ja, Design hat sich tatsächlich sehr stark verändert. Natürlich ging es auch im Bauhaus nicht nur um das Ding an sich, sondern darum, über Dinge Gesellschaft zu transformieren. Die materiellen Dinge waren dabei aber zentral. Heute ist vieles was wir gestalten, gar nicht mehr materiell greifbar. Wir gestalten, so kann man vielleicht sagen, Wechselwirkungen und Beziehungen, Erlebnisse und Bedeutung. Dinge spielen dabei immer noch eine Rolle, aber nicht die erste Geige. Im späten 20. Jahrhundert wurde im Design außerdem nur noch selten mithilfe von positiven Visionen oder Utopien gestaltet. Möglicherweise waren die Resultate vieler Designbewegungen eher abschreckend – und es gab ja zahlreiche weitere Designansätze als jene, die im Bauhaus entwickelt wurden, die ihre hochgesteckten Ziele nie erreichten. Und auch die Utopien in der Politik sind im 20. Jahrhundert ja gescheitert. Um die Jahrtausendwende hatte dann das Krisendenken Hochkonjunktur. Klimakrise. Demografische Krise. Wirtschaftskrisen. Flüchtlingskrise. Später dann auch noch die Pandemiekrisen. Alles wurde in erster Linie als Problem verstanden, das zu lösen sei. Sogar in experimentellen Gestaltungsansätzen – etwa in Design Fiction und Speculative Design –  lag der Fokus meist auf negativen Schreckensvisionen also eher auf Dystopien als auf Utopien. Das hat uns aber motiviert. Es war vermutlich einfach an der Zeit, den Spieß mal wieder umzudrehen und nach den positiven Möglichkeiten der Zukunft zu fragen.

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Führt utopisches Denken denn immer zu einem Erfolg? Nein, auch wir verwerfen viele Utopien im Unternehmen. Ein Leben mit einer ­Lebenszeituhr, die den eigenen, natürlichen Tod auf die Minute vorhersagen kann? Wir waren 2040 mittendrin, diese Idee zu realisieren. Einige sagten, sie würden es sehr genießen, ihr Leben besser planen zu können. Sie erinnern sich: Bucket Lists waren in Mode, 1000 Orte, die man vor seinem Tod gesehen, Dinge, die man getan haben sollte und so weiter. Der Zugang zu enormen Datenmengen, insbesondere zu Gesundheitsdaten, machte es möglich. Die Idee führte allerdings in unseren Future-Labs zu starken Kontroversen. Am Ende mussten wir uns eingestehen: Damit erreichen wir das Gegenteil von dem, was wir eigentlich wollen. Diese Uhr führt nicht zu mehr Sicherheitsempfinden, sondern zu einer ständigen Sorge um die eigene Gesundheit und die Zukunft. Utopien zu gestalten ist eben nicht ganz einfach. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Kobel!

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Eine Methode für soziale Innovationen aus dem Jahr 2020

Der Ausgangspunkt für Gestaltung ist meist ein Problem, ein nicht zufriedenstellender Zustand, der aufgelöst werden soll: die Meeresverschmutzung, das unzugängliche Interface eines Fahrkartenautomats, ein Produkt, das sich nicht mehr verkauft. Oft werden im Design Probleme sogar erst gesucht, um sie dann a ­ ufwendig zu lösen. In diesem ‹Solutionismus› entstehen mit jeder Lösung schnell neue Probleme. Dabei bleibt fraglich, inwiefern durch Problemlösungen im Design überhaupt positive Entwicklung oder grundsätzlich Entwicklung geschieht. «Es gibt keinen Fortschritt im Design, nur die permanente Anpassung von Artefakten an Kontexte» (Jonas 2010: 80), so etwa der Designwissenschaftler Wolfgang Jonas. Ergänzen lässt sich, dass nur, weil etwas gut funktioniert und keinen Ärger macht, es noch lange keine positive Wirkung hat. Designer*innen werden auch beauftragt, wenn eine neue Technik bereits existiert, aber ihr Einsatz noch fraglich ist –  z.B. ein internetfähiges Telefon, wo und wie könnte man dieses Gerät im Alltag gebrauchen? So werden durch Design also nicht nur Probleme gelöst und gleichzeitig kreiert, sondern auch Bedürfnisse ­gestaltet, von denen Nutzer*innen zuvor noch gar nichts wussten. Dies geschieht nicht, da man den Alltag verändern will, sondern weil eine Technik unter das Volk gebracht werden soll. In diesem Text stellen wir eine Methode vor, die bewusst weder Probleme noch Technik zum Ausgangspunkt des Gestaltungsprozesses erklärt. Stattdessen wollen wir soziale Innovationen, positive Visionen und mögliche alternative Welten gestalten und materialisieren, um ethische Dimensionen von Konzepten und Design zu verhandeln. Die Methode basiert auf der Praxis der Design Fiction und reagiert auf vier Kritikpunkte, denen sich Design Fiction stellen muss.

Vier Kritikpunkte an Design Fiction Während der Begriff Design Fiction ursprünglich eine literarische Methode bezeichnete (Sterling 2009), wird darunter seit 2009 die Praktik verstanden, Artefakte aus

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fiktiven Welten mit gestalterischen Mitteln zu visualisieren und zu prototypen (Bleecker 2009). Design Fiction wird in der Forschung bereits im Zusammenhang mit ‹Research through Design› (Freyling 1993) eingesetzt. Gemeint ist ein ­Forschungsansatz, bei dem durch Gestaltung – in diesem Fall durch die Gestaltung von Fiktionen – Wissen generiert wird. Design Fiction ist eng verwandt mit Critical Design (Dunne/Raby 2001; Dunne 2005) und Speculative Design (Dunne/Raby 2013), die jeweils insbesondere von Anthony Dunne und Fiona Raby geprägt wurden. Artefakte, die in diesen Zusammenhängen entstehen, sollen weder im Alltag ­genutzt werden, noch Zustände optimieren oder Probleme lösen. Bei Design Fiction geht es vielmehr darum, Diskussionen und Reflexion zu provozieren, um so Erkenntnisse über mögliche Zukünfte aber auch über die Herausforderungen der Gegenwart zu ermöglichen (Bleecker/Malpass 2013; Auger 2013). Designer*innen, die im Sinne von Design Fiction Artefakte der Zukunft gestalten, setzen vielfach auf schwarzen Humor, Ironie und Parodie (eine Beobachtung u.a. von Blythe u.a. 2016). Während sich durch das Schüren von Ängsten die e ­ rwünschte Aufmerksamkeit für Debatten über die Zukunft in der Öffentlichkeit erregen lässt, steht die negative Haltung auch in der Kritik. Der Designforscher Cameron Tonkinwise beispielsweise kritisiert Dunne, Raby und Kolleg*innen: «Everything they make real is concerning at best and often just horrifying.» (Tonkinwise 2014: 187) Er plädiert dafür aufzuzeigen, was in der Zukunft wünschenswert sein könnte: «[T]here should be much more readily identifiable moments of non-ironic endorse­ ment, elements that make clear cases for what would be valuable (and not just sexy or fun) about these futures for significant sections of the population.» (Ebd.: 186) Tatsächlich existieren allerdings nur wenige Design Fictions, die nicht destruktiv sind und deren Designer*innen sich für konstruktive Kritik, positive Fiktionen und humorvolles (‹seriously silly›) statt ironisches Design aussprechen (Blythe u.a. 2018; Blythe u.a. 2016; Blythe u.a. 2015). Die frühen Ansätze von Design Fiction stehen außerdem dafür in der Kritik, nur Artefakte und keine Szenarios zu visualisieren und zu materialisieren. Indem die Komplexität der zukünftigen Welt selbst nicht dargestellt wird, entstünden unbestimmte Ängste bezüglich der Zukunft. Erst seit wenigen Jahren sprechen sich Designforschende für Methoden der Design Fiction aus, die Mehrdeutigkeit, unterschiedliche Perspektiven und die Komplexität der fiktiven Welt erfahrbar machen (Pschetz/Pothong/Speed 2019; Elsden u.a. 2017; Noortmann u.a. 2019). Als dritte Problematik gilt der Umstand, dass Design Fiction meist in Kunstgalerien, Magazinen oder Büchern veröffentlicht wird (Koskinen/Binder/Redström 2008). Menschen, die als Nutzer*innen im Alltag normalerweise die Möglichkeit haben, mit Dingen aktiv und kreativ umzugehen, werden bei Design Fiction zu passiven Zuschauer*innen. Außerdem wird nur, wer sich für Kunst und Design sowieso schon interessiert, von Design Fiction erreicht. Design Fiction und das verwandte Critical Design werden entsprechend dafür kritisiert, elitär nur eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen (Ivari/Kuutti 2017). Gestaltende von Design Fiction würden oftmals als moralische Agent*innen auftreten, die ihre Bestimmung darin sehen, andere, die in ihren Augen weniger aufgeklärt sind, mit ihren fiktiven Renderings, 3D-­ Modellen und Fotografien zu belehren (Bardzell/Bardzell 2013). Entsprechend wird zunehmend eine partizipative Version von Design Fiction gefordert und exploriert

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Zweigeteilte Bühne. Auf der rechten Seite ein Tisch für die Diskussion (Schritt 1) und Raum für das performative Spiel (Schritt 2). Auf der linken Seite eine Hohlkehle, um die Statements der fiktiven Bürger*innen zu dokumentieren (Schritt 3).

(Ivari/Kuutti 2017; Ahmadpour u.a. 2019; Heidingsfelder 2018). In den bereits existierenden Design Fiction-Ansätzen, die als partizipative Design Fiction bezeichnet werden, übernehmen die beteiligten Personen allerdings meist nach wie vor nicht die Aufgabe, Design Fiction selbst zu gestalten, sondern vielmehr bestehende Design Fiction zu evaluieren. Es existieren nur wenige Beispiele für Design Fictions, die tatsächlich co-gestaltet wurden, etwa durch kreatives Schreiben (Ambe u.a. 2019), Co-Sketching (Nägele u.a. 2018) oder Performance (Dörrenbächer/Hassenzahl 2019; Elsden u.a. 2017; Wilde/Underwood/Pohlner 2014). Eine vierte Schwachstelle ist, dass für Design Fiction bisher kaum definierte Evaluationsmethoden existieren. Eine Ausnahme stellt der Ansatz Anticipatory Ethnography dar, bei dem Expert*innen (Designethnograph*innen) eine Fiktion so observieren und auswerten, als ob sie Realität wäre (Lindley u.a. 2015). Darüber hinaus ist es zunehmend üblich, Laien mit Design Fictions zu konfrontieren und sie im Anschluss zu interviewen (Ahmadpour u.a. 2019). In beiden Fällen wird die Design Fiction von außen und auf Distanz analysiert und evaluiert. Die evaluierenden Personen sind nicht Teil der Fiktion.

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Utopien co-gestalten Um soziale Innovationen und entsprechende Technik sinnvoll mit Design Fiction entwickeln zu können, haben wir eine Methode erarbeitet, die auf die vier Kritikpunkte eingeht. Unsere Methode ist eine Antwort auf 1. die negative Ausrichtung, 2. die Kontextlosigkeit, 3. die elitäre Autorenschaft, und 4. die fehlenden Evaluationsmethoden bei Design Fiction. Die Methode besteht aus drei Schritten: sich Utopien ausmalen, Utopien materialisieren und erleben und Utopien evaluieren. Getestet haben wir die Methode in einem Theatersetting Abb. 1 mit fünf Teilnehmer*innen. Schritt 1: Utopien statt Dystopien ausmalen. Wir gehen davon aus, dass utopisches Denken essenziell ist, um gesellschaftlich positive Veränderungen zu ermöglichen. Ob eine perfekte Gesellschaft tatsächlich existieren kann, ist eine andere Frage, doch die Vision von ihr kann wie eine Triebfeder funktionieren. Wir wollen andere nicht von oben herab mit dystopischen Zukunftsvorstellungen provozieren und irritieren, ohne diesen Vorstellungen etwas Positives entgegensetzen zu können. Unser explizit auf das Positive fokussierte Vorgehen basiert auf Argumentationen der Positiven Psychologie (Seligmann u.a. 2005) und der Wohlbefindensorientierten Gestaltung (Hassenzahl u.a. 2013). ­Beide Ansätze orientieren sich an Chancen und Stärken und nicht an Problemen und Schwächen. Mit unserer Methode ergänzen wir außerdem die wenigen bereits existierenden positiven Ansätze im Zusammenhang mit Design Fiction. In diesem ersten Schritt wurden die Teilnehmer*innen des Workshops gebeten, sich vorzustellen, in einer utopischen Gesellschaft zu leben – beispielsweise in einer perfekt nachhaltigen Welt. Dabei sollten sie schriftlich den folgenden Satz ergänzen: «In einer nachhaltigen Gesellschaft fühle ich mich positiv weil…». Auf diese Weise wurde als erstes der Fokus auf die möglichen positiven Gefühle innerhalb einer fiktiven Gesellschaft gelenkt, statt sofort Technik zur Lösung von realen Problemen zu ersinnen. Es resultieren Antworten wie: «…ich anderen Menschen mit den Ressourcen helfen kann, die ich selbst besitze» oder: «…ich mehr Zeit mit Menschen als mit Dingen verbringe». Nachdem alle Teilnehmer*innen ihre Antworten gestellt hatten, wurden die Ergebnisse diskutiert und die positiven Gefühle gemeinsam spezifiziert. So wurde beispielsweise deutlich, dass sich Menschen in der nachhaltigen Utopie beliebt oder miteinander verbunden fühlen wollen. Erst nachdem die Teilnehmenden ihr positives Empfinden deutlich ins Bewusstsein gerufen hatten, wurde diskutiert, welche Technik dieses Gefühl hervorrufen könnte. So entstanden Ideen für technische Artefakte oder Systeme, die nicht in erster Linie negative Probleme lösen, sondern hingegen positive Möglichkeiten bestärken – beispielsweise ein Infrastrukturkonzept namens Hyperpipe. Durch Hyperpipe konnte man anderen eine Freude machen und sich als Teil eines sinnvollen großen Kreislaufs und in diesem aufgehoben fühlen. Das System verbindet Haushalte miteinander und ermöglicht, physische Dinge via Knopfdruck miteinander zu teilen oder zu verschenken.

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Utopien erleben

Schritt 2: Utopien im Kontext materialisieren und aktiv erleben, statt fertige Fiktionen passiv konsumieren. Der Begriff Utopie leitet sich vom Altgriechischen ab und bedeutet so viel wie ‹Nicht-Ort› oder ‹ortloser Ort›. Utopien existieren normalerweise nur mental in der Vorstellung. Wir untersuchen, was passiert, wenn Utopien in der Realität Form gewinnen, sodass es möglich wird, in ihnen zu interagieren. Dabei beziehen wir uns auf die bereits erwähnten existierenden Ansätze zu greifbarer Fiktion und Partizipation in Design Fiction. Im zweiten Schritt der Methode nutzten unsere Teilnehmenden einfache Requi­siten (u.a. Pappen, Hocker, Tücher, Kissen), um ihre zuvor imaginierte Utopie gemeinsam auf einer Art Bühne zu konstruieren. Nachdem Rollen festgelegt wurden (etwa Großeltern, Bürgermeister*in oder Spaziergänger*in) und ein spezifischer Kontext erarbeitet wurde (in einem Mehrfamilienhaus), wurde die Utopie durch Rollen­spiele zum Leben erweckt. In unserem Workshop zur Nachhaltigkeit spielte ein Teilnehmer einen Unternehmer, der Hyperpipe vermarktet, und ein anderer den Bürgermeister des Ortes ‹Kleinstadt›, der davon überzeugt werden sollte, in die Infrastruktur zu investieren. Im Anschluss nutzte ein Elternpaar von Kleinstadt Hyperpipe, um Winterkleidung an Menschen zu verschicken, die eine entsprechende Anfrage gesendet hatten. Während die Utopie real wurde, kamen zahlreiche Konflikte auf. So kam beispielsweise in manchen Haushalten Streit darüber auf, welche P ­ rodukte geteilt werden sollten und welche nicht. Entsprechend musste die ursprüngliche Utopie, die immer wieder keine mehr war, kontinuierlich adaptiert werden, um möglichst alle Akteure zufrieden zu stellen. Schritt 3: Die Utopie aus der Utopie heraus evaluieren. Da die Realität deutlich komplexer und unvorhersehbarer ist, als Visionen es sind, werden Utopien kompliziert, sobald man versucht in ihnen zu leben –  dies ­insbesondere, wenn unterschiedliche Personen eine Utopie beleben. Schließlich existiert nicht nur eine Utopie, sondern eine Vielzahl an Utopien – abhängig davon, wer sie entwickelt und erlebt. So kann das, was aus der Perspektive von Teenagern eine perfekte Gesellschaft ist, für ältere Menschen zum Albtraum werden. Im letzten Schritt unserer Methode werden die unterschiedlichen Perspektiven auf Utopien berücksichtigt. Es wird ähnlich wie bei der Anticipatory Ethnography eine fiktive Welt evaluiert – allerdings nicht von außen aus ethnographischer, möglichst neutraler Perspektive, sondern aus Perspektive unterschiedlicher fiktiver ­Individuen, die die Utopie zuvor im Rollenspiel erleben konnten. Die Analyse und Evaluation passierten also nicht über eine Design Fiction, sondern innerhalb der Design F ­ iction. Nachdem die Utopie im Rollenspiel zum Leben erwachte und ausagiert wurde, wurden die Teilnehmer*innen nacheinander gebeten, vor eine Kamera zu treten und über die fiktive Technik, die durch sie entstandene Welt und ihre diesbezüglichen Gefühle und Meinungen zu sprechen. Abb. 2 So entstanden Statements wie das folgende: Mein Name ist Marvin und ich bin der Bürgermeister von Kleinstadt. Als ich das erste Mal von Hyperpipe hörte, dachte ich: «Das scheint mir ziemlich teuer zu sein, aber da unser Städtchen etwas abgelegen ist, könnten

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Bürger*innen von Kleinstadt evaluieren die fiktive Technik.

wir davon profitieren». Direkt nachdem wir Hyperpipe installiert hatten, brach ein Tauschrausch aus. Die Leute suchten Kontakt, indem sie sich beschenkten. Das war erstmal eigentlich für alle ein Gewinn. Mittlerweile habe ich allerdings den Eindruck, dass kaum noch jemand das Haus verlässt. Ich befürchte, wir müssen unsere neuen Gewohnheiten etwas verändern, bevor das öffentliche Leben in Kleinstadt stirbt. Die so gesammelten Kommentare von fiktiven Individuen, die Vertreter*innen sehr unterschiedlicher Interessensgruppen waren, halfen dabei, unterschiedliche Standpunkte, Widersprüche und Konflikte einer utopischen Vision zu identifizieren.

Die Utopie als Ausgangspunkt für Gestaltung Unser aus drei Schritten bestehender Ansatz ist positiv, kontextualisiert, partizipativ und er wird aus der Fiktion heraus evaluiert. Aus der vormals utopischen Vision wurde ein greifbares und verhandelbares Szenario mit teils widersprüchlichen positiven und negativen Reaktionen. Die Utopie entwickelte ein Eigenleben. Auf diese Weise erhielten wir Einblicke in unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche, ­Befürchtungen und Hoffnungen von unseren Teilnehmer*innen, die durch diverse fiktive Charaktere sprachen. Wir gestalteten also keine Artefakte aus imaginären

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Utopien erleben

Welten, wie bei Design Fiction üblich, sondern komplexe, soziale Wechselwirkungen innerhalb einer Fiktion. Mit unserem Ansatz schlagen wir eine Alternative vor sowohl zur überwiegend elitären und dystopischen Praxis der Design Fiction als auch zu problemorientiertem und technikgetriebenem Design. Denn wir gehen davon aus, dass primär positive soziale Visionen die Arbeit von Designer*innen bestimmen sollte. Technik sollte sich nach diesen Visionen ausrichten und nicht die Vision nach den Möglichkeiten der Technik. Selbstverständlich entstehen Probleme sowieso, ganz gleich wie positiv ein sozialer Entwurf ursprünglich war, aber sie sollten nicht von vornerein der Ausgangspunkt für Gestaltung sein. Es macht allerdings Sinn, die möglichen Probleme zu antizipieren, um noch während des Entwurfsprozesses auf diese zu reagieren und damit die positiven Visionen anpassen zu können. So lässt sich vermeiden, dass aus einer Utopie letztlich in der Realität eine Dystopie wird. Die im Beitrag beschriebenen Arbeiten wurden durch das Referat «Interaktive Technologien für Gesundheit und Lebensqualität» des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH gefördert.

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Utopien erleben

Bildnachweise

1–2 Lehrstuhl Ubiquitous Design Biografien

Judith Dörrenbächer, Dipl.-Designerin am Lehrstuhl Ubiquitous Design der Universität Siegen und Leitung des BMBF-geförderten Projekts GINA. Forschungsschwerpunkte: Performative Methoden im Design, Design Fiction, Gestaltung von Gegenübertechnik (u.a. Roboter) und Übertragung von Theorien zum Animismus auf die HCI-Forschung (Techno-Animismus). Matthias Laschke, Post-Doc am Lehrstuhl Ubiquitous Design der Universität Siegen. Seine Forschung fokussiert sich auf die Themengebiete der Verhaltensänderung, Gegenübertechnik und Experience Design in der HCI. Neben der Gestaltung von Technologie stehen ihre Beziehung und ihr soziokultureller ­Einfluss auf den Alltag von Menschen im Zentrum seiner Arbeit.

Marc Hassenzahl, Professor für Ubiquitous Design am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Siegen. Promotion in Psychologie. Mit seiner Arbeitsgruppe bestehend aus Designer*­innen und Psycholog*innen erforscht er die Theorie und Praxis der Gestaltung freudvoller, bedeutungsvoller und transformierender interaktiver Technologien.

Ralph Dreher

Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept Diskursimmanente Parallelität oder zeitgeistige Überhöhung? 1

Zum aktuellen Lernfeldkonzept beruflicher Bildung2 Berufliche Bildung wird seit Mitte der 1990er Jahre durch den Ansatz des Lernfeldkonzepts3 geprägt, der zu einer völlig neuen Art sehr offener Curricula für die berufliche Erstausbildung geführt hat. 1

2 3

Wesentliche Teile dieses Textes entstanden Mitte 2019 zum hundertjährigen Jubiläum der Bauhaus-Bewegung, aber zugleich auch unter dem Eindruck der großen medialen Analogiesetzung von 1920 und 2020. Dieser wird nachfolgend über das Prinzip der Diskursanalyse auch gefolgt. Hierzu hätte aus Sicht der Drucklegung Ende 2020 zweifellos auch gehört, die im Abstand eines Jahrhunderts so unwahrscheinlich erscheinende, aber reale Synchronität der pandemischen Ereignisse (Spanische ­Grippe und COVID-19) aufzuarbeiten. Der nachfolgende Text kann durch diese fehlende Analogie auch fälschlicherweise als eine implizite Leugnung der zum Zeitpunkt seiner Drucklegung aktuellen Situation verstanden werden. Aussagen darüber, welche der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der COVID-19-Pandemie einhergehen, bleiben werden, sind zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulationen und basieren nicht auf einem Wissenschaftskonzept. Der Text verzichtet daher auf eine solche Gleichstellung der Ereignisse. Die folgenden Aussagen zum Lernfeldkonzept basieren auf der Handreichung der Kultusministerkonferenz (KMK 2018). Fächerübergreifendes curriculares Prinzip mit Handlungsfeldbezug an Beruflichen Schulen, das 1996 durch die KMK implementiert wurde.

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Kernpunkte dieses Konzepts sind: • Statt kleinteiliger fachinhaltlicher Beschreibungen gelten Kernarbeitsprozesse als curriculare Elemente. Ein Beruf manifestiert sich dabei in 12 bis 15 solcher Kernarbeitsprozesse, deren Zweck und Inhalt über das jeweilige Lernfeld curricular beschrieben werden. • Curriculare Vorgabe ist es, diesen Arbeitsprozess mit den Schüler*­ innen im Rahmen von 60–120 Stunden (je nach Komplexität) zu ergründen, wobei die Unterrichtsstruktur jeweils durch das Prinzip der vollständigen Handlung geprägt ist (umfasst nach momentanen Verständnis die Handlungsschritte Informieren – Planen – Entscheiden – Durchführen – Kontrollieren – Reflektieren), die jeweils eine Lernsituation repräsentiert. Jedes Lernfeld soll dabei durch jeweils zwei bis vier Lernsituationen arbeitsprozessural vollständig abgebildet werden. • Unterrichtsziel jeder Lernsituation ist also der vollständige Vollzug einer beruflichen Handlung und deren Reflexion ausgehend vom erzielten Ergebnis (der Qualität des erzeugten Produktes oder der realisierten Dienstleistung). Damit wird zunächst der Erlangung von Arbeitsprozesswissen, also wie etwas gemacht wird, der Vorzug gegeben. Durch die Reflexion dieses Handlungsvollzugs im Verhältnis zur Wertigkeit des dabei erzielten Arbeitsergebnisses wird die grundsätzliche Frage nach dem Warum des faktisch Erreichten genutzt, um zum einen fachwissenschaftliche Unmöglichkeiten bzw. Fehleinschätzungen aufzuarbeiten und zum anderen zu hinterfragen, wie es trotz des Informierens und Planens zu diesen Fehlern kommen konnte. Wesentlich hierbei: Das Lernfeldkonzept fordert nicht nur eine funktionale (i.S.v. problemreduzierende) Lösung, sondern einen nachhaltigen Lösungsansatz im kaum gleichmäßig zu erfüllenden Beziehungsdreieck zwischen sozialen Folgen, ökologischer Verantwortbarkeit und ökonomischer Machbarkeit. Aus dieser Forderung resultiert das eigentliche Bildungsziel beruflicher Bildung, nämlich die Förderung einer Gestaltungskompetenz, die darauf ausgerichtet ist, berufliche Handlungen im Bewusstsein zu entwickeln und nachzuvollziehen, dass diese jeweils gesellschaftlich gestaltend wirken und deshalb diesbezügliches Handeln einer präzisen Rechtfertigung bedarf. Ein Transfer dieses Gestaltungsanspruchs als Kernelement von Bildung auf die Sphäre der außerberuflichen ­Lebenswelt wird dabei als explizites Richtziel beruflicher Bildung benannt (Mitgestaltung von Berufs- und Lebenswelt, KMK 2018: 10, 14f.). Als Unterrichtsprinzip haben sich projekthafte Unterrichtsformen etabliert, die jeweils von einem berufsrealen Arbeitsauftrag ausgehen, den es als Lerngruppe von vier bis fünf Schüler*innen zu bewältigen gilt. Der Lehrkraft kommt dabei eine komplexe Aufgabe in der Unterrichtsvorbereitung zu (Aufgabenauswahl, Planung der möglichst realen Durchführungsphase, Bereitstellen von Informationsmedien und Planungsinstrumenten, Initiieren der Reflexionsphase), im Unterricht selbst eine stark moderierende oder begleitende Rolle.

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Ebenso muss festgestellt werden: Das Lernfeldkonzept ist zwar seit nunmehr 15 Jahren curricular verankert, seine Umsetzung gelingt jedoch nicht durchgängig, da zum einen die Durchführungsphase oft nicht genügend gut oder gar nicht realisiert werden kann. Das bedeutet: Die ergebnisbasierte Reflexionsphase ist nicht in der dem curricularen Richtziel entsprechenden Tiefe möglich, da ein Reflexionsgegenstand aus der Durchführungsphase fehlt. Zum anderen muss konstatiert werden: Die Reflexionsphase, bei der schnell das Agieren der Lehrkraft zum Diskussionspunkt werden kann, wird genau deshalb oftmals nicht angestrebt. Des Weiteren stellt sich angesichts des Lernfeldkonzepts die Frage, wie denn ein erreichtes Maß an Gestaltungskompetenz im Rahmen der Arbeit an einer Lernsituation als benotete Leistung abzubilden ist; ein für die Umsetzung in die unterrichtliche Praxis primäres Problem, was zwar durch die Vorschläge zur kompetenzorientierten Leistungsmessung in der beruflichen Bildung (verwiesen sei hier auf die Instrumente COMET4 und ASCOT5) wissenschaftstheoretisch aufgearbeitet wurde. Die Implementierung derartiger Kompetenzmessverfahren in die schulische Praxis stößt aber bislang schnell an organisatorische Grenzen. Zudem ist die Verfügbarkeit der Instrumente für alle Berufe und die dazu entsprechende Lehrkräftebildung nicht vorhanden.

Warum ein Konzeptvergleich – und womit? Die Konkretisierung einer Bauhaus-Didaktik6 aus der Bauhaus-Pädagogik (Wick 1988, 2003, 2009) heraus mit dem vorab beschriebenen aktuellen Lernfeldansatz vergleichen zu wollen, erscheint womöglich als ein gewagtes wissenschaftliches Vorhaben. Ein solcher Versuch wurde bereits unternommen, allerdings mit klarer Fokussierung auf die Farb- und Raumtechnik (Baabe-Mejer 2006). Aufgrund dieser ersten vergleichenden Betrachtung erscheint das Vorhaben aus den folgenden Gründen zugleich gewagt sowie angesichts aktueller technikdidaktischer Fragen ertragreich: Erstens: Es gibt keine originär dargelegte Bauhaus-Didaktik, also keine Dokumente mit Referenzcharakter, welche das pädagogische Konzept des Bauhauses in seinem Begründungszusammenhang und seinen daraus resultierenden Unterrichtsprinzipien hinreichend differenziert beschreiben. Um das Konzept der (Aus-) Bildung am Bauhaus zu verstehen, ist man daher darauf angewiesen, aus den vorhandenen Dokumenten die Positionierung der Unterrichtung am Bauhaus ausgehend von den wesentlichen didaktischen Fragen (wie sie in Tabelle 1 auftreten) interpretativ zu beantworten – woraus wiederum eine eher autorenfixierte Analyse des didaktischen Konzeptes des Bauhauses entsteht. Zweitens: Kernanliegen des Bauhauses war zweifellos, ein Umdenken und Neudenken in einer Gesellschaft voranzutreiben, der es nach den Grauen des Ersten Weltkrieges an Orientierung fehlte. Die Bauhaus-Bewegung verstand sich vor allem als sozialer Impuls, indem 4 5 6

Das COMET-Testverfahren ist ein Medium der Qualitätsentwicklung beruflicher Bildung (Rauner 2018; Dreher/Lehberger 2015). Ziel der BMBF Forschungs- und Transferinitiative ASCOT – Technologiebasierte Kompetenzmessung in der beruflichen Bildung ist die Entwicklung und Praxiserprobung digitaler Lern- und Messinstrumente für Kompetenzen von Auszubildenden (Beck/ Landenberger/Oser 2016). Resultate (bauhaus-)pädagogischer Überlegungen sind immer didaktische Fragen.

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Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept

1

Grundidee der Baushaus-Ausbildung, entwickelt von Walter Gropius, 1922.

sie neue Lebensformen und ein neues Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Technik gestalten wollte. Das Lernfeldkonzept wiederum entspringt der Erkenntnis, dass sich moderne Facharbeit zusehends hochgradig eigenverantwortlich in flachen Hierarchien realisiert. Die konstruktivistische Frage nach dem «Was mache ich wie und warum?» in ihrer weitaus höheren Komplexität, löst dabei die einem behavioristischen und späterhin kognitivistischen Ansatz folgende Grundfrage der beruflichen Bildung «Was soll ich jetzt wie oder so wie immer machen?» ab. Damit wird der Prozess der Handlungsgenerierung auf die Ebene der Ausführenden verlagert, was als Effekt Hierarchiestufen einspart und damit den Wertschöpfungsprozess profitabler werden lässt und zugleich verschlankt. Die dazu erforderliche Notwendigkeit, Arbeit, Arbeitswelt und letztlich das eigene Denken selbst (!) zu gestalten, entspringt somit nicht wie in der Bauhaus-Pädagogik einem primär sozialreformatorischen, sondern zunächst einem ökonomischen Streben. Dieses durch die Fokussierung auf Nachhaltigkeit gestalterisch und damit als nicht ausschließlich utilitaristischen Bildungsprozess aufzuweiten, ist ein sekundärer Akt der Lernfelddidaktik, der berufsbildnerisch unbedingt(!) geleistet werden muss, aber eben nur mittelbar und nicht unmittelbar konzeptimmanent ist. Angesichts der vorab geführten Diskussion erscheint es zunächst nicht geboten, ein nur vage beschriebenes Konzept mit gesellschaftlichem Lenkungsanspruch aus dem gestalterischen Bereich äquivalent zu setzen mit einem Berufsbildungskonzept, welches zunächst auf ökonomischen und arbeitssoziologischen

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­ berlegungen zur Weiterentwicklung der Idee und den Inhalten von Facharbeit Ü basiert, welche sich nicht synergetisch entwickelt haben, sondern durch Setzungen deter­miniert sind. Das initiale Moment, hier trotzdem etwas vergleichen zu wollen, liegt im Prinzip des Vorkurses der Bauhausausbildung. Dieser war stark vom Prinzip der Projektorientierung geprägt Abb. 1: Idee und Realisierung, Entwurf und Theorie verschränken sich auch hier zu einem umfassenden Gestaltungsprozess. Wissen und Handeln werden damit zu einer Einheit im Rahmen des Gestaltens in einem sich gegenseitig bedingenden Prozess – hier ist eine deutliche Affinität zum Prinzip der vollständigen Handlung erkennbar, wie sie das Lernfeldkonzept als Unterrichtsstruktur vorgibt. Was zudem nicht unterschätzt werden darf: Das Bauhaus als Ausbildungsstätte hatte eben nicht nur den Anspruch, künstlerisch zu bilden, sondern zugleich nach den klaren Kriterien handwerklicher Ausbildung auszubilden – mit dem Ziel einer Facharbeiterqualifizierung. Damit erhebt sich das Bauhaus in den Rang einer vollschulischen Berufsbildungsstätte und nimmt zugleich implizit für sich in Anspruch, hier entsprechend berufsbildnerisch wirken zu wollen und zu können, was es tatsächlich auch tat, wie die vielen Berufsabschlüsse (inklusive der Erlangung der von den Handwerkskammern anerkannten Meisterabschlüsse) dokumentieren. Diese Form der gewerblich-technischen Bildung stellt eine Alternative zur tradierten dualen Berufsqualifizierung dar, was die Frage erlaubt: Ist es in den vergangenen einhundert Jahren gelungen, die berufliche Bildung konzeptionell so weiterzuentwickeln, dass diese auf die Herausforderungen des Lebens besser oder wenigstens gezielter vorbereitet? Und finden sich dabei jene Impulse wieder, die schon im Berufsbildungsanspruch des Bauhauses vorgedacht wurden?

Methodisches Vorgehen Angesichts der vorab skizzierten wissenschaftsmethodischen Herausforderungen soll über ein vierstufiges Vorgehen versucht werden, Antworten auf die vorab gestellten Fragen zu finden, in welchem Verhältnis die didaktischen Ansätze der Bauhaus-Pädagogik und des Lernfeldkonzeptes zueinanderstehen. In einem ersten Schritt wird mittels Dokumentenanalyse ergründet, was den Unterricht am Bauhaus prägte, wie also diejenigen, die im Bauhaus aktiv in die Lehre eingebunden waren, die didaktisch wesentlichen Fragen (für sich) beantwortet haben. Dabei wird auf in der Bauhaus-Rezeption gut abgesicherte Aussagen von Walter Gropius, Johannes Itten, Oskar Schlemmer u.a. zurückgegriffen. Dass dabei dann dazu passende Aussagen von weiteren Akteur*innen nicht ergänzend genannt werden, ist ein Nachteil dieses Vorgehens, welches sich jedoch zugutehält, durch diese Reduktion auf das Originäre jene fundamentalen Konzeptmerkmale herauszuarbeiten, die es ermöglichen eine Bauhaus-Didaktik im Sinne ihrer direkten Protagonist*innen zu denken. Um trotzdem nicht dadurch zu einer völlig eigenständigen und den Rezeptionsstand zur Bauhaus-Pädagogik zu sehr vernachlässigenden Konzeptbeschreibung zu gelangen, wurden in einem zweiten Schritt der originären Textauswahl ergänzende Beiträge hinzugefügt – mit der Absicht, die

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Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept

eigene Interpretation der Originalaussagen abzusichern. Es soll eine Vorstellung dessen entstehen, welche Merkmale (nach bestem Wissen und Gewissen) für die didaktischen Aspekte der Bauhaus-Pädagogik, also für den konkreten Bauhausunterricht in Konzeption und Durchführung, prägend waren. In einem dritten Schritt soll der weitaus schwierigeren Frage nachgegangen werden, warum innerhalb der Unterrichtung am Bauhaus etwas so und nicht anders angestrebt wurde. Die somit im ersten Schritt vollzogene und im zweiten Schritt abgesicherte Herausarbeitung von Merkmalen der Bauhaus-Didaktik (innerhalb einer hier als homogen betrachteten Bauhaus-Bewegung) soll in einem dritten Schritt um die Frage nach dem Grund (Warum wollte man innerhalb der Bauhaus-Bewegung genau diesen Konsens?) ergänzt werden. Dieses Vorhaben ist nicht unähnlich dem Vorgehen in der Literaturwissenschaft, Autorenwerke in den Kontext zu dem zu setzen, was diese in ihrer Entstehungszeit geprägt hat. Den Zugang zu einer autorenimmanenten Texterschließung, die eben nicht auf die tatsächliche, sondern die beabsichtigte Wirkung abzielt, leistet die Diskursanalyse, die Friedrich Kittler wie folgt beschreibt: Eine Diskursanalyse kann – im Unterschied zu Interpretationen, deren Grenzwert Einzeltexte über Einzeltexte sind – immer nur von einer Menge von Äußerungen ausgehen. Ihre Sache ist die Vernetzung, die faktisch ergangenen Diskurse in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit organisiert haben. (Kittler 1987: 24) Um abschließend die im Titel formulierte Frage beantworten zu können, werden ausgehend von den geleisteten Schritten der Benennung von Original- wie Rezeptionsaussagen und deren diskursanalytischen Reflexion die so gefundenen ­belastbaren Merkmale der Bauhaus-Didaktik im abschließenden vierten Schrittverglichen mit den eingangs hergeleiteten Merkmalen des Lernfeldkonzepts. Metho­disch wurde festgelegt: Beim Lernfeldkonzept handelt es sich um einen berufsdidaktischen Ansatz, der über die vergangenen 15 Jahre in den Handreichungen zur Erstellung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz (KMK) stets weiterentwickelt wurde. Diese Genese der „Lernfelddiskussion“ wird nicht weiter berücksichtigt; es wird das Konzept in seiner aktuellen Form zum Entstehungszeitpunkt dieses Beitrags zugrunde gelegt.

Darstellung ausgewählter Diskurse zur Bauhaus-Pädagogik Wesentliche didaktische Fragen werden im Folgenden mit ausgewählten Aussagen von zentralen Protagonisten des Bauhauses in Beziehung gesetzt (Tabelle 1).

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Didaktische Frage

Aussage der Akteur*innen

WOFÜR? (Bildungsziel)

«Die notwendigste Aufgabe ist, [sic] die Entfesselung der Individualität, ihre Befreiung von der toten Konvention zugunsten persönlicher Erlebnisse und Erkenntnisse, die ihr das Bewusstsein vermitteln, welche Grenzen ihrer Schaffenskraft von der Natur gesetzt wird» (Gropius 1923: 11).

WAS? (Inhaltsfindung)

‹Gropius-Itten-Kontroverse›: «Itten will den Handwerker erziehen, dem Beschaulichkeit und Denken über die Arbeit wichtiger als diese […]. Gropius will den lebens- und arbeitstüchtigen Menschen, der in der Wirklichkeit und in der Praxis reift.» (Schlemmer 1994: 459)

WIE? (Methodenwahl)

«‹Die Werklehre und die Formlehre bilden die Grundlage: kein Lehrling oder kein Geselle kann von der einen oder der anderen befreit werden.› […] Die Werklehre […] bekämpft bewusst den kunstgewerblichen Dilettantismus.» (Gropius 1923: 12; Herv.i.O.)

WER? (Rolle der Lehrkraft)

«Fast instinktiv erkannte ich, dass jede Kritik und Korrektur beleidigend und zerstörend auf das Selbstbewusstsein wirkt, dass Aufmunterung und Anerkennung für geleistete Arbeit das Wachsen der Kräfte fördert.» (Itten 1963 zit.n. Wick 1988: 98)

WER? (Rolle der Schüler*innen)

«Die übrige Zeit [außer am Samstag, R.D.] arbeiten die Schüler an den gestellten Aufgaben und eigenen Problemen ganz allein und ohne Korrektur in ihren Wohnungen. Dieses ‹Auf-sich-selbst-angewiesen Sein› war sehr bedeutungsvoll für das ‹Sich selbst-Finden›. Das Vollstopfen der Studenten mit fremdem Wissen und der Mangel an Zeit zur Selbstbe­ sinnung verhindern individuelles inneres Wachstum» (Itten 1963: 9).

Tabelle 1  Didaktische Grundfragen im originären Bauhaus-Diskurs.

Wesentlich hierbei: Es ist dokumentiert wie diskutiert, dass vor allem Gropius und Itten sich sehr uneinig waren über das Ziel in der Bauhausausbildung (u.a. Wagner 2009). Während Gropius einen klaren Verwertungs- und Vermarktungscharakter der projekthaften Arbeiten präferierte, stand Itten für eine Ausbildung, die eher den (Selbst-)Findungsprozess als primäres Ziel des Bauhaus-Unterrichts sah (ebd.). Dieser in der Literatur als Gropius-Itten-Kontroverse (u.a. ebd.) genannte Dissens zur Wahl der Inhalte/Themen der Gestaltung – ausgehend vom angestrebten Bildungsziel – prägt somit die ambivalente Beschreibung über den Bildungsanspruch des Bauhauses und verbietet neben anderen Gründen zugleich eine homogene Rezeption der Bauhaus-Pädagogik. Was Gropius und Itten jedoch offensichtlich einte: Es ging darum, sich von Konventionen und Vorgaben zu befreien bzw. diese zu hinterfragen. Dieser Anspruch wiederum impliziert umfängliche freie Gestaltungsprozesse, um das Bekannte und Tradierte zu verlassen. Vermittelt werden soll die immer wiederkehrende Auseinandersetzung, wie etwas ohne Rücksicht auf das schon Gedachte und Erstellte besser werden kann und was das «besser» in der Meinung der Gestalter*innen ist. Außerdem wurde die dialektische Auffassung zur Inhaltsfindung sowie Gestaltung des Bildungsprozesses zwischen Produkt- und Prozessorientierung versus Einheit von Kunst und Technik als Kontroverse über den notwendigen oder eben genau unnötigen Grad von Utilitarismus in der Bauhaus-Ausbildung auch als solche ­dokumentiert – mit dem Ziel, zu zeigen, dass es die Bauhaus-Didaktik eben nicht gibt –, sondern (wie in jeder freiheitlich geprägten Gemeinschaft) verschiedene Diskurse, was aus der Kernintention des Bauhauses für die dort konzipierte und praktizierte (Aus-)Bildung folgen soll bzw. folgen muss. Die Rezeption der Bauhaus-Pädagogik dokumentiert zahlreiche Facetten mit Ausnahme einer konkreten Auseinandersetzung mit den zentralen Fragen zur Umsetzung umfangreich. Den folgenden Aussagen im Rahmen der Rezeption des Bauhauses fehlt es daher oftmals an der wünschenswerten Konkretisierung aus

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Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept

Sicht der Didaktik als Bezugswissenschaft (Tabelle 2). Die Zitate sollen deshalb zugleich als Ergänzung zur originären Konzeption der Bauhaus-Didaktik (Tabelle 1) dienen. Didaktische Frage

Aussage der Akteur*innen

WOFÜR? (Bildungsziel)

Gestaltungsfähigkeit zur «neuen Gesellschaft» (Wick 2009); Schöpferisch und harmonisierend wirken (Droste 2019: 98)

WAS? (Inhaltsfindung)

Produkt- vs. Prozessorientierung: Auftragsorientierung? (Droste 2019: 94); «Einheit von Kunst und Technik» vs. Mazdaznan-Spiritualität (Wagner 2009: 104)

WIE? (Methodenwahl)

Subjektzentrierte Theorie-Praxis-Verzahnung als Erfahrungsprozess (Schlömerkemper 2005); Systematisierung von Entwurf und Umsetzung (Droste 2019: 310)

WER? (Rolle der Lehrkraft)

Vorkurs: Individuelle, schöpferische Selbstentfaltung anregen (Wick 1988: 88); Reflexion in der Gruppe als Bildungsmoment (Schlömerkemper 2005)

WER? (Rolle der Schüler*innen)

Eigenverantwortung statt Fremdbestimmung (bei der Suche nach Ästhetik) (Schlömerkemper 2005); «Aktives Lernen» am Konkreten mit Lösung als Anspruch (Wagner 2009: 106)

Tabelle 2  Rezeption didaktischer Grundfragen.

Anhand der vergleichenden Betrachtung von Tabelle 1 und Tabelle 2 lassen sich folgende Merkmale einer Bauhaus-Didaktik extrahieren: Die Gestaltung des Konkreten dient als Ausgangspunkt für Lern- wie Bildungsprozesse. Die Theorieerschließung einerseits und die Wirkung des eigenen Tuns in Form des Erschaffens andererseits geschieht ausgehend vom Gegenstand bzw. der hinreichend visualisierten Vorstellung. Die die Ausbildung Abb. 1 wesentlich prägende Baulehre mit ihrem induktiven L ­ ernakt am Exemplarischen ermöglicht einen Rückbezug auf die Werk- wie auf die Formlehre. Offen bleibt, ob dieses Prinzip des Handelns aus dem erfahrungsbasierten Handlungsergebnis heraus ein tatsächlich durchgängiges Prinzip der Bauhausmeister*innen war – festgestellt werden kann aber, dass durch den Bezug auf das Gegenständliche dieses Prinzip möglich war. Die motorische Schulung fand unabhängig von deren vor- oder nachgelagerter theoretischer Begründung immer am konkreten Objekt statt – und nicht durch zweckfreies Üben in Form von Arbeitsproben. Allerdings: Unklar bleibt hier das Prinzip des Vorkurses, wo nach Abb. 1 offenbar eher aus einer vorgeschalteten naturwissen­ schaftlich-technischen wie vor allem materialkundlichen und produktionstechnischen Wissensvermittlung heraus grundlegende Erstellungsprozesse über das Experiment auf dem Versuchsplatz buchstäblich erfahren werden sollten. Unabhängig vom konkreten Lernszenario ist damit zumindest die potenzielle Möglichkeit einer Prinzipienumkehrung für die Phase nach dem Vorkurs angelegt. Aus einem theoriebeeinflussten und damit angeleiteten Handeln im Vorkurs wird ein experimentell-erschaffendes Handeln in der Baulehre, wobei sich der Begründungszusammenhang des Gelingens (Umsetzbarkeit des Entwurfs, Akzeptanz des Entwurfs) oder des Scheiterns (Nicht-Erstellbarkeit des Entwurfs, Ablehnung des Entwurfs) aus der Werk- wie Formlehre ergibt. Das Moment der Reflexion wird als wesentlicher Akt gesehen, um einen Prozess der Ausbildung in einen B ­ ildungsprozess zu

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überführen. Denn die Rückkopplung aus der Gruppe gilt zunächst als Maßstab und Korrektiv, zugleich bietet sich damit der Gruppe jedoch die Möglichkeit zur Inspiration und Einsicht (zum Beispiel im Hinblick auf Machbarkeit, Tolerierbarkeit, Durchsetzbarkeit, Sinnhaftigkeit). Gerade durch diese explizit benannte Reflexionsphase als wesentliches Moment der Bauhaus-Lehre konnte die Förderung des selbstbestimmten wie eigenverantwortlichen, des sozial mitgestaltenden wie Individualität (be)schützenden Menschen gelingen – für und gegenüber sich selbst, über die selbst vollzogene und abgeglichene Gestaltungsarbeit ebenso wie durch Agieren in, Mitverantworten und Entwickeln sozialer Interaktion. Allerdings muss konstatiert werden: Es bleibt letztlich bei aller Quellenanalyse unklar, inwieweit die dargelegten Konzepte der Bauhaus-Pädagogik auch umgesetzt wurden bzw. umgesetzt werden konnten: ob und inwieweit die Bauhausmeister*­ innen wirklich ein erfahrungsgeleitetes Lernen (mit der Möglichkeit des Scheiterns) zuließen; ob die Bauhausschüler*innen diese Lernkultur (ausgehend von ihren lernbiografischen Erfahrungen) annehmen konnten; und schließlich, ob die für den Bildungsanspruch des Bauhauses als wesentlich dargestellten Akte der Reflexion auch so moderiert wurden, dass sie der tatsächlichen Entfesselung der Individualität dienten und nicht der Überführung des Kreativen in einen neuen ideologischen Überbau – mit einer dann wiederum als Konvention wirkenden Beschreibung einer neuen Gesellschaft mit anderer notwendig definierter Funktionalität (vgl. hierzu meine These, dass die das Bauhaus-Design prägende Reduktion auf die Funktion zugleich ja auch den Menschen als Nutzer funktional und effizient, aber ohne ­eigene Ausgestaltungsmöglichkeit integrierte). Die bisherigen Ausführungen lassen es zu, die Ideen, Absichten und Leitgedanken der didaktischen Methoden der BauhausPädagogik mit dem didaktischen Lernfeldkonzept beruflicher Bildung zu vergleichen, nicht jedoch deren tatsächliche Wirkung auf einen realen Prozess beruflicher Bildung, da die Umsetzung nicht mehr vollständig nachvollziehbar ist (BauhausDidaktik) oder aber höchst individuell vor Ort realisiert wird (Lernfeldkonzept).

Diskursimmanente Analyse: Was ermöglicht ein Vergleich des Lernfeldkonzepts beruflicher Bildung mit der Bauhaus-Didaktik? Tatsächlich erscheinen fünf Aspekte bzw. Parallelitäten wesentlich, die letztlich den Anstoß zum hier verfolgten Vergleich gaben, inwieweit die Bauhaus-Didaktik ohne direkte Nennung und Bezugnahme den heutigen Ansatz der Lernfelddidaktik in der beruflichen Bildung beeinflusst hat: (1) Die Gestaltungsorientierung, wie sie im Lernfeldkonzept manifestiert ist, führt den Ansatz der Bauhaus-Didaktik im Prinzip weiter: Aus dessen Orientierung bezüglich der Nutzbarkeit mit der inhumanen Implikation der Funktionalisierung des Menschen wird eine Fokussierung hin zur Nachhaltigkeit mit deren Frage nach gleichzeitiger sozialer, ökologischer und ökonomischer Verantwortbarkeit. Die Grundfrage bleibt dabei identisch: Was bedarf es tatsächlich, damit Du glücklich wirst? Und ist das ­wenige Richtige nicht letztlich für Dich besser, als das viele Falsche?

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Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept

(2) Im Kontext beruflicher Erstausbildung betonte das Bauhaus als Bildungsinstitution nachdrücklich die Theorie-Praxis-Verzahnung, die u.a. Buchmann in diesem Band erläutert. Gestalter*innen mussten Entwürfe also u.a. dem Aspekt der Reali­ sierbarkeit unterwerfen oder der Prämisse der Machbarkeit. Konsequenterweise war die Ausbildung am Bauhaus deshalb auch immer eine parallele künstlerische wie handwerkliche Ausbildung. Der Abschluss als Facharbeiter*in bzw. Handwerksmeister*in im dem Material am nächsten stehenden Beruf war integraler Bestandteil. Hochgradig bemerkenswert ist dabei, dass die Bauhaus-Didaktik im völligen Gegensatz zur zu diesem Zeitpunkt für die industriellen Metallberufe entwickelten Form der lehrgangsorientierten und somit standardisierten Berufsausbildung,7 eine klare Projektorientierung favorisiert, indem von Beginn an die frei zu vollziehende Realisierung des eigenen Entwurfs gefordert wird und in dieses Schaffen hinein die Heranentwicklung der arbeitsplanerischen, wie motorischen, Fähigkeit integriert wird.8 Bis in die 1990er Jahre hinein wurde das Prinzip beruflicher Bildung unter dem Sammelbegriff Eisen erzieht zur Bezeichnung von Folgendem verwendet: Anfertigung mehr oder weniger funktionsfreier Bauteile zur Schulung der Arbeit mit handgeführten Werkzeugen in der Metalltechnik, die in ihrer Sinnfreiheit zwar über die Entwicklung kognitiver wie motorischer Fähigkeiten begründet wird, de facto aber vor allem auch die Förderung von Durchhaltevermögen und den Umgang mit der eigenen körperlichen Unzulänglichkeit unterstützt und in keinerlei Weise die aktuell als fundamental erkannte Fähigkeit zur Problemdurchdringung und -lösung in Form eines wechselseitigen informatorisch-planerisch-reflexiven Akts fordert. Die Bauhaus-Didaktik nutzt dabei bereits weit vor dem Lernfeldansatz das Prinzip des ergebnisfokussierten, aber lösungsoffenen Projektunterrichts als Moment beruflicher Bildung. (3) Der erste technisierte Krieg der Geschichte hatte u.a. Existenzangst zur Folge (Oswalt 2019: 17). Zudem änderte sich mit zunehmender Technisierung zugleich die Art zu denken und zu produzieren radikal. Wo ist in dieser hochmechanisierten Welt, in der dieser Wahnsinn immanent schlummert, mein Platz – wenn es diesen überhaupt noch gibt? Bin ich existent und doch überflüssig? Oskar Schlemmer entwarf hier als Projekt die Vision der symbiotischen Mensch-Maschine (Wick 1982: 265), offenbar inspiriert von der Vision des Übermenschen nach Nietzsche – ein aus heutiger Sicht erschreckendes Streben, aber zugleich der Versuch, Mensch und Maschine zur nutzbringenden Koexistenz zu vereinigen und damit der im Ersten Weltkrieg erlebten Angst einen positiven Gegenentwurf zu geben, eben weil in diesem Entwurf die Maschine vom Menschen (weiterhin) abhängig ist. Gleiches betrifft die Jetztzeit 2020, nur dass aus Mechanisierung Digitalisierung geworden ist und aus der Zunahme bzw. Substitution von motorischen Fähig­keiten über die Mechanik der Ersatz menschlicher Kognition durch automatisierte Entscheidungsfindung – und zwar aus Sicht des Einzelnen wiederum ohne die explizite Bereitschaft zur symbiotischen Lösung. Algorithmen – so die diffuse Existenzangst – werden mein Leben, die Möglichkeiten zur Realisierung von ­Lebensentwürfen, beschränken oder aber in letzter Konsequenz mir einen 7 8

Vgl. hierzu die von Herkner (2013: 17f.) bilanzierte Arbeit des DATSCH (Deutscher Ausschuss für Technische Schulbildung) in den 1920er Jahren. Vgl. hierzu die Darstellungen von Wick (2003) zur Konzeption und Fertigung von Holzspielzeug.

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ökonomisch determinierten Lebensentwurf aufoktroyieren – wobei mir die Möglichkeit zur (Mit-)Gestaltung verwehrt bleibt, eben weil ich nicht in die Lage versetzt wurde, zu gestalten. Aber genau dieses wiederum ist die Forderung des Lernfeldkonzepts, welches nicht nur den Gestaltungswillen, sondern die Gestaltungsmöglichkeiten als Gradmesser von Bildung definiert. Es zeigt sich hier bereits die nachfolgend skizzierte Fokussierung beider Didaktiken auf eine Gestaltungsfähigkeit, die darauf abzielt, gesellschaftlich mitzubestimmen und Reflexivität im Sinne von Folgenabschätzung und Verantwortbarkeit (gegenüber Aktionismus) als Absi­ cherung des eigenen Tuns zu verstehen. (4) Als eine große Bürde der Weimarer Republik wird der Versailler Vertrag angenommen, der die Fundamentalprinzipien erfolgreicher Friedensverträge außer Acht ließ – Frieden zu schließen, bedeutet zu vergeben, bedeutet die Achtung vor dem Wahnsinn des Krieges als Warnung, aber eben auch das Überwinden von Kriegstaten statt deren Sühne. Diese Prinzipien konnten sich angesichts der Grausamkeit des Ersten Weltkriegs nicht durchsetzen – Deutschland fühlte sich als Kontinentalmacht ungerecht behandelt und das gesamte politische Spektrum der Republik setzte sich eine Revision dieses Vertrags zum Ziel. Auch wenn die Gesamtkatastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht direkt vorhersehbar war – Unsicherheit zeigte sich in diesem Leben in einer Zwischenwelt und wurde überspielt durch eine geradezu ekstatische Lebensfreude, welche das diffuse Gefühl verdeckte, sich mit einem ungewollten Provisorium arrangieren zu müssen, dessen Überwindung weitere fundamentale Einschnitte in meinem Leben erfordern würde. Was das genau sein würde, blieb unklar – ebenso unklar, wie die aktuelle Frage, welchen Lebensstil jede*r Einzelne in der heutigen Industriegesellschaft annehmen muss und praktizieren darf, um angesichts der globalen Klimaentwicklung als ebenso notwendiges wie diffuses Moment im Sinne von zweifelsfrei richtiger Handlungsoption zu reagieren. Die Kriegsangst von 1919 und Angst vor dem Verlust der Lebens­grundlagen von 2019 müssen hier als hochgradig kongruent angesehen werden, ebenso die jeweilige Ohnmacht des Subjekts vor sich selbst mit seinen Bedürfnissen nach Sicherheit und Wohlstand. Und da es für das daraus resul­tierende Tun zwar eigentlich klare Grenzen gibt und eine Trommelei für neue weltweite Kriege (noch) ebenso wenig opportun erscheint wie eine Politik der Ausbeutung, das konkrete Handeln in der eigenen Lebenswelt aber durch das Verlangen nach Bedeutung und Absicherung ebenso wie durch Trägheit und persönlicher Gier unter Rechtfertigungsdruck gerät, entsteht das Gefühl einer fundamentalen Angst vor mir selbst und um mich selbst. Die u.a. in Feuilletons und entsprechenden wissenschaftlichen Diskursen diskutierte Parallelität zwischen den 1920er und den 2020er Jahren erfährt hier eine Konkretisierung durch die Angst und die persönliche Ohnmacht vor erneuten Weltenbränden (Beck 2015), wenngleich aktuelle Ursachen dafür im Zusammenhang mit den seit den 1920er Jahren vollzogenen Transformationen stehen (dazu Gimbel im vorliegenden Band). Deutlich wird: Es bedarf eines Bildungskonzeptes, welches primär (!) darauf abzielt, Fundamentalwandel als ebenso positiv wie notwendig zu begreifen, sich selbst zum einen im eigenen Bedeutungsanspruch zu relativieren und zum anderen ebenso nachdrücklich wie konsensual Veränderung mit zu gestalten.

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Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept

2

Gemeinschaft der Bauhäusler während des Bauhausfestes im Ilmschlösschen bei Weimar, 29.11.1924.

(5) Die Gemeinschaft fördern durch Kunst – oder noch vermessener: Mit der angewandten Kunst dem Menschen dienen. Diese selbstformulierten Ansprüche der Bauhäusler*innen zeigen, dass das Bauhaus selbst sich als ein soziales Projekt verstand, welches zum einen ein Habitat (Wohnraum, Hausrat) über Funktionalisierung und einfache (Re-)Produzierbarkeit wirksam (im Sinne von gut nutzbar, einsetzbar und das Leben verbessernd) und sozial gerecht zur Verfügung stellen wollte, sich zum anderen jedoch von der Frage treiben ließ, was der Mensch wirklich wie will. Dass dieser zutiefst humanistische Anspruch mit den späterhin verwirklichten Visionen eines verdichteten Wohnens am Effekt der Ghettoisierung scheiterte, dass Gemeinschaft eben genau nicht per se positiv regulierend wirken muss, ändert nichts am grundsätzlichen Anspruch des Bauhauses, über das Wirken von Gemeinschaft Ängste abbauen zu wollen und Lösungsprozesse zu initiieren; die Photographie Abb. 2 kann dafür als Visualisierung stehen. Katastrophe und Leidenschaft, Antritt und Abtritt, Spannung und Pause (oder doch Spannung und Katastrophe?): sie zeigen die Ambivalenz dessen, was eine sich schnell wandelnde Gesellschaft mit epochalen Chancen wie Risiken an Euphorie – wie an Urängsten – im Menschen auslöst; und dass der Mensch des Menschen bedarf, dass er eben ein soziales Wesen und damit auf Gemeinschaft angewiesen ist. Dieser Erkenntnis folgend erscheint es im Kleinen (pädagogische Konzepte des Bauhauses) wie im Großen (Siedlungsbau durch Hochhausvisionen) alles andere als vermessen anzunehmen, dass dem Bauhausgedanke ein hohes Maß

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an sozialer Vernetzung innewohnt. So formulierte Hannes Meyer 1926: «Cooperation beherrscht alle Welt» und verdeutlichte zeitgleich: «Die Gemeinschaft ­beherrscht das Einzelwesen» (Meyer 1926: 221). Auch hier kann wieder eine enge Analogie zum Heute festgestellt werden: Die im Zuge der Digitalisierung möglich gewordene Vernetzung wurde u.a. ebenfalls zunächst als uneingeschränkt ­positive neue Möglichkeit wahrgenommen, menschliches Tun durch Vergemeinschaftung auf das Ziel der Verbesserung hin zu fokussieren.9 Doch die propagierte Schwarmintelligenz als Konzept, um Ängste durch hochrationale, weil breit und basis­ demokratisch abgesegnete Handlungen abzubauen und durch allseits tragfähige Visionen zu ersetzen, entpuppte sich nur als eine Seite der Medaille. Trolle und Fake News, auf Zerstörung angelegte Chats und Blogs mit der von ihnen geschaffenen Welt des Darknets sowie global vernetzte (Daten-)Oligopole, die mit ihren Algorithmierungen den Anspruch auf Selbstbestimmung der Gemeinschaft pervertieren, zerstören diese Welt der Vernetzung aller für alle und sind die andere Seite der Medaille. Das Internet ist eben genau nicht die vernetzte Gemeinschaft aller, die das Internet als soziales Medium gestalten, sondern ein Instrument exklusiver Gemeinschaften, die aus einer zweck- wie selbstdefinierten Elite heraus dessen Möglichkeiten für ein problemverschärfendes Streben nach Ausbeutung, Ausgrenzung und Konformisierung nutzen.10

Konklusion Das Grundprinzip der Bauhaus-Didaktik ist die Projektorientierung und damit ein induktiver Erkenntniszuwachs aus dem Gegenständlichen (also der konkreten Gestaltungsaufgabe) heraus. Als Bildungsziel kann dabei die Fähigkeit zur ­Gestaltung definiert werden, wobei Gestaltung als ein ständig zu reflektierendes Wechselspiel zwischen der Produktgestaltung einerseits und der Gestaltung gesell­schaftlichen Lebens anderseits anzunehmen ist. Die Bauhaus-Didaktik ­fokussierte sich eben genau nicht ausschließlich auf die Erschaffung eines als «schön» zu empfindenden Designs, sondern auf dessen Wirkung für die Gesellschaft. Als tatsächliche Bildungsmomente müssen dabei die explizit dokumentierten Reflexionsphasen verstanden werden, was sich auch an den gefundenen Aussagen zur Rolle von Lehrkräften und Schüler*innen widerspiegelt. Demnach dominiert ein Selbstlernen und Selbsterkennen, welches jedoch einerseits gestützt wird durch die Reflexionsgespräche, vor allem innerhalb der Konzeptionsphasen, und zum anderen auf der pragmatischen Ebene durch die Übernahme von Fachwie Verfahrenswissen von den Werkmeister*innen als Teil der Realisierungsphasen. Zumindest die didaktische Idee eines unterrichtlichen Prinzips, Freiräume zu schaffen, in denen ein selbsterkenntnisgesteuertes, reflexives Lernen mit Ite­ rationen zugelassen und erwünscht ist, erscheint damit für eine Didaktik des ­Bauhauses charakteristisch. 9

U.a. für den kritischen Diskurs: Han 2013; Schirrmacher 2015. U.a. für den optimistischen Diskurs: Shirky 2008; Schmidt/Cohen 2013. 10 Beispielhaft dafür steht die Macht von Administrator*innen, die Inhalte u.a. in sozialen Medien und Chat-Groups von ­Messenger-Diensten ohne Diskurs innerhalb der Gemeinschaft einfach löschen oder hinzufügen können.

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Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept

Ausgehend von diesen Merkmalen der Bauhaus-Didaktik kann der folgende ­Vergleich zum Lernfeldkonzept vollzogen werden (Tabelle 3). Didaktisches Konzept

Die Bauhaus-Didaktik…

Das Lernfeldkonzept…

Gestaltungsanspruch

... will sowohl eine produktformale Gestaltung als auch den damit implizierten gesellschaftlichen Wandel; allerdings: Die Fokussierung auf die Nützlichkeit des Designs bzw. dessen Ergonomie (z. B. bei der Frankfurter Küche) bedeutet zugleich eine Funktionalisierung des Menschen in einem ihm angepassten, aber nicht veränderbaren Umfeld der Wertschöpfung.

... will über die Auseinandersetzung mit selbstgeschaffenen Lösungsprozessen zur Bewältigung berufstypischer Aufgaben dem Menschen eine Mündigkeit eröffnen, die ihn nicht funktionalisiert, sondern sich unter dem Primat der Nachhaltigkeit ständig fortentwickeln lässt; allerdings: Wie der Transfer von der auf Wertschöpfung basierenden Arbeitswelt in seine Lebenswelt stattfinden soll, bleibt bislang weitestgehend unbeantwortet.

Gemeinschaft

... erkennt Wohnen als wesentlichsten Bereich menschlichen Zusammenlebens und schafft daher die Idee des kollektiven Wohnens mit dem Ziel, einander zu achten, sich zu verstehen und voneinander zu lernen; allerdings: Das Konzept scheitert am Effekt der Ghettoisierung und dem Verlangen des Menschen nach mehr Intimsphäre, findet sich aber aktuell in den Quartiersentwicklungen der Großstädte in Form von Wohnprojekten wieder.

... erkennt vor allem im teamorientierten und weitergehend vernetzten Arbeiten den Ansatzpunkt, das gegenseitige Achten, Verstehen und Lernen zu fördern; allerdings: Das Konzept stößt angesichts der sozialen Realität bei der Nutzung anony­ misierbarer Chats verbunden mit dem Einsatz von Messenger-Bots als effiziente Form destruktiver Kommunikation an seine Grenzen.

Nachhaltigkeit

... sieht ihre Aufgabe aufgrund der Funda­ mentalangst vor allem in der Vermeidung weiterer Kriege und will durch Anpassung der Produkte und Produktionskonzepte dem Menschen die Kriege begünstigende Existenzangst nehmen (Signal des Neuanfangs, Platzzuweisung innerhalb der Mechanisierung); allerdings: Ebenso wie beim Wohnen werden inhumane Momente (Verlust persönlichen Gestaltungsraums, Diktat definierter Ästhetik mit Orientierungsverlust gegenüber dem Gewohnten, Effizienzanforderung durch Funktionalisierung) vor der größer erscheinenden Idee einer neuen Gesellschaft ausgeblendet.

... fokussiert sich auf die nahezu erfüllbare Forderung nach gleichzeitiger ökologischer wie sozialer Verantwortung bei ökonomischer Machbarkeit, wobei zum einen alle drei Kriterien nur relativ diffus definiert werden und unklar bleiben, zugleich aber die Fokussierung auf die wesentlichen Herausforderungen Weltklima und Digitalisierung hin zu einer hochgradig kognitiv geprägten Arbeitsund Lebenswelt mit individuell zu verant­ wortender Automatisierung explizit berücksichtigt werden; allerdings: Welche Gewichtungen und damit Verzerrungen im Dreieck warum akzeptabel erscheinen, bleibt ebenso unklar wie der Umgang mit den inhuman erscheinenden Momenten von Reduktion des Lebensstandards und Konsumverzicht.

Tabelle 3  Vergleich der Didaktikkonzepte.

Als Gemeinsamkeit zeigte der Vergleich projektbasierte induktive Lern- und ­Erkenntnisprozesse als jeweiliges Kernmerkmal auf, gleichermaßen die Möglichkeit, nachhaltige, weil selbsterlebte und nicht oktroyierte Bildungsprozesse zu initiieren. Zugleich sind beiden Didaktiken aber auch grundsätzliche konzeptionelle Mängel immanent, die sich vor allem in zwei Ausprägungen zeigen: Die jeweils inhumanen Konzeptgrenzen sind zum einen nach Quellenlage undokumentiert und damit unreflektiert und zum anderen bleiben wesentliche Fragen zur für den Bildungsanspruch unabdingbar notwendigen Reflexion von Lernprojekten (z.B. Ergonomie vs. Funktionalisierung; Ökologie vs. Soziales vs. Ökonomie) unbeantwortet. Beide Konzepte gehen von einem gemeinsamen Rollenverständnis von Lehrkraft wie Lernenden aus, welches durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung, Kooperation und Einlassen auf den jeweils Anderen geprägt ist. Dieses erfordert

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seitens der Lernenden eine Öffnung hin zu einer derartigen Lernkultur, seitens der Lehrkräfte die Fähigkeit, zuzulassen, was zunächst irrelevant, unpassend oder sie selbst zu überfordern scheint. Nicht zuletzt erfordert es eine Bildungsadministration, welche im Vertrauen auf diese Selbststeuerung die entsprechende Offenheit zulässt. Der Bauhaus-Didaktik war dieses bekanntermaßen nicht vergönnt, und da sie sich den Wunsch nach bildungsadministrativer Regulierung nicht unterwarf, konnte sie in dem schwächer werdenden demokratischen Diskurs der Weimarer Republik nicht überleben. Heute fallen hingegen folgende Problemlagen auf: Eine Deprofessionalisierung des Lehrerberufs über Quer- und Seiteneinsteigermodelle, der unablässige Ruf nach zentralistischer Qualitätssteuerung zur Angleichung von Bildungsprozessen unter dem Paradigma der letztlich globalen Vergleichbarkeit ersetzt schleichend die als frei propagierte Lehre (Rothe 2006: 85f., Expertenkommission 2013: 33). Die dazu passend als Notwendigkeit zum Zusammenleben propagierte Notwendigkeit einer zertifizierbaren Lernzieloperationalisierung (ECTS und ECVET11) speziell für die berufliche Bildung verhindert letztlich die vorab ­skizzierte Lernkultur des (ergebnis-)offenen, aber nach Erkenntnis strebenden Diskurses. Dass der Vergleich beider Konzepte zugleich auch deren idealitären Anspruch offenlegt, skizzieren die abschließenden Fragen, die 1920 und 2019 unbeantwortet im Raume stehen: • Warum lassen wir, Lernende wie Lehrende, die zuvor skizzierten neuen und alten Abhängigkeiten in Gegenwart gesellschaftlicher Transformationen zu? • Warum versuchen wir als Berufsbildner*innen nicht zumindest – wie es die Bauhäusler*innen immer wieder versucht haben, sich zu ihrer Zeit allen Repressalien zum Trotz an neuen Orten mit der gleichen Idee zu halten – uns gegen die zunehmende Bevormundung zu erheben? • Welche Sanktionen drohen uns – außer dem Verlust an persönlichem Komfort und falscher Reputation – durch Angepasstheit? • Oder ist der demokratische Diskurs schon wieder so schwach geworden, dass es uns wirklich nicht mehr möglich ist, die Notwendigkeit von universellen Bildungsmomenten aus dem konkreten Gestalten heraus als Funktion von beruflicher Bildung zu reklamieren?

11 Europäisches Leistungspunktesystem Digitalisierte Arbeit und generative Fertigung nach den englischen Bezeichnungen: European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) und European Credit System for Vocationals Education and Training (ECVET).

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Die Didaktik des Bauhauses als Impulsgeber für das Lernfeldkonzept

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2 URL: https://www.bauhauskooperation.de/kooperation/ projektarchiv/magazin/verstehe-das-bauhaus/der-neuemensch-in-bewegung-kopie-1/ (22.11.2020). Foto: Louis Held, 29.11.1924. © Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin.

Tabelle 1–3 Zusammenstellungen Ralph Dreher. Biografie

Ralph Dreher, Professor für Technik am Berufskolleg an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Inhalte und Methoden eines modernen TT-TVET (Teacher Training for Technical and Vocational Education and Training); Einsatz von berufswissenschaftlichen Instrumenten zur Arbeitsprozessanalyse im Bereich des Automotive-Service; Digitalisierte Arbeit und generative Fertigung.

Katharina Dutz, Niko Paech

Industrie 4.0 versus Postwachstumsökonomie: Arbeit und Bildung Einleitung: Ein ökologischer und mentaler Schadensbericht An den absehbar lebensbedrohenden Nachhaltigkeitsdefiziten wird sich entscheiden, ob das mit Zuschreibungen wie «Humanismus» und «Aufklärung» ­geschmückte Zeitalter der Moderne an seinen eigenen Ansprüchen scheitert. Was als glorreicher Fortschritt proklamiert wurde, droht in einem historischen Desaster zu enden. War das 20. Jahrhundert von zwei Weltkriegen und einigen Völkermorden gezeichnet, so könnte das 21. Jahrhundert eine Epoche des Aussterbens vieler Arten und nachfolgend des Zusammenbruchs menschlicher Zivilisationen einläuten. Offenkundig leidet der Planet unter multiplem Modernisierungsstress. Dieser äußert sich nicht mehr allein als ökologische Krise, sondern als ökonomische und soziale Instabilität sowie als grassierender Sinn- und Orientierungsverlust. Einblicke in den mentalen Zustand einer sich progressiv wähnenden Gesellschaft gewährten jüngst die Reaktionen auf das dramatische Insektensterben – sie blieben

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einfach aus. Die Rettung ausgerechnet jener Wirtschaftszweige, die das Desaster verstärken, insbesondere die Rekonstruktion eines Wohlstandes, der dem Prä-­ Corona-Lebensstil gleicht, scheint wichtiger genommen zu werden als ­existenzielle Überlebensfragen. Gleichwohl grassiert ein Furor um Weltrettungspläne, ­zumindest solange daraus keine spürbaren Konsequenzen für moderne ­Lebensstile zu erwarten sind. Es dürfte diesem Vorbehalt geschuldet sein, dass alle bisherigen Nachhaltigkeitsbemühungen, zumindest gemessen an ihrer Gesamtbilanz, fehlgeschlagen sind. Es findet sich kein ökologisch relevantes Handlungsfeld, in dem die Summe bekannter und neuer Schadensaktivitäten nicht permanent zugenommen hätte. Der vorliegende Beitrag konfrontiert diese Gemengelage mit einem Gegenentwurf, dessen Ursprünge in der wachstumskritischen Nachhaltigkeitsforschung zu ­verorten sind. Das Konzept der Postwachstumsökonomie (Paech 2008; ders. 2012) basiert auf den Prinzipien der Thermodynamik und mithin einer Nullsummenlogik: Ein Mehr an materiellen Freiheiten und ökonomischen Handlungsspielräumen ist niemals ohne zusätzlich verbrauchte physische Ressourcen und ökologische Schäden zu haben. Diese Erkenntnis widerspricht zeitgenössischen Modernitätskonstruktionen, die unterstellen, dass ökonomische Überschüsse durch gesteigerte Effizienz und angewandtes Wissen quasi aus dem materiellen Nichts ­erschaffen, sodann ausgeschüttet und verteilt werden können. Hinter dieser Fehleinschätzung verbirgt sich der Fortschrittsglaube, dass die «Menschheitstragödie der Konkurrenz» (Simmel 1920: 306) mittels ökonomischen Wachstums gelindert werden könnte. Konträr dazu beruht die Postwachstumsökonomie auf der Prämisse, dass ein ­gerechter Zustand nur erreicht werden kann, wenn akzeptiert wird, dass die verfügbare Verteilungsmasse begrenzt ist. Denn ein vermeintlicher sozialer Fortschritt, der daraus resultiert, einen Überschuss gerecht verteilen zu wollen, der in einer gerechten Welt gar nicht erst hätte entstehen dürfen, weil er auf ökologischer Plünderung beruht, führt sich ad absurdum. Globale Gerechtigkeit innerhalb physi­ scher Grenzen, die sich technisch nicht verschieben lassen, kann nur als interpersonelle Relation beschrieben werden. Schon in seiner Schrift Zum ewigen Frieden hatte Kant (1795) für ein Weltbürgerrecht plädiert, dessen Ergänzung und Übertragung auf die Gegenwart bedeuten könnte, dass Gerechtigkeit nicht zwischen Staaten oder Kontinenten, sondern nur zwischen Menschen zu beschreiben ist: Welcher Reichtum kann einem einzelnen Individuum maximal zustehen, ohne dass es sich mehr aneignet als der (Welt-)Gesellschaft als Ganzes zuträglich sein kann, wenn andere Menschen dasselbe Recht beanspruchen? Neben Programmen einer umfänglichen «Selbstbegrenzung» (Illich 1975) ergibt sich daraus auch die Notwendigkeit, etablierte Versorgungs- und Beschäftigungsmodelle reduktiv zu transformieren. Bedeutsam sind neue Kombinationen ­zwischen industrieller Arbeitsteilung und moderner Subsistenz. Letztere umfasst Praktiken der Reparatur, Gemeinschaftsnutzung und eigenständigen sowie kollaborativen Produktion. Wenngleich darauf gründende Daseinsformen zuvorderst ökologischen Erfordernissen geschuldet sind, eröffnen sie zwei weitere Perspektiven, die sie anschlussfähig erscheinen lassen: Erstens ökonomische Autonomie und ­Resilienz, verstanden als Krisenstabilität sowie zweitens neue Chancen auf sinnstiftendes Arbeiten und zukunftstaugliche Bildung.

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Die Produktivitätsfalle Fortwährende Erhöhungen der Arbeitsproduktivität bedingten seit Einführung der Dampfmaschine einen fulminanten Zuwachs an materiellem Wohlstand. Während verschiedener Phasen der industriellen Entwicklung konnte menschliche Arbeitskraft zusehends durch Mechanisierung, Elektrifizierung, Automatisierung und schließlich Digitalisierung in ihrer Wirkung und Reichweite gesteigert oder sogar komplett ersetzt werden. Die hierdurch erwirkten Produktivitätssteigerungen ­eröffneten außerdem kontinuierlich neue Spielräume für Reallohnerhöhungen, sodass die Zuwächse von der Nachfrageseite absorbiert werden konnten. Der arbeitssparende technische Fortschritt bedingte überdies humanere, in vielerlei Hinsicht komfortablere Arbeitsbedingungen. Mit der stetigen Erschließung doppelter Freiheitsgewinne – wachsende Kaufkraft und abnehmende Arbeitsbelastung – konnten sich immer mehr Menschen individuell entfalten, zudem am epochalen Unterfangen einer (konsum- und mobilitätsorientierten) sozialen Emanzipation teilhaben. Insoweit dieses Fortschrittsnarrativ unabdingbar auf Produktivitätssteigerungen gründet, wird damit jedoch ein heikles Verhältnis zwischen technischer, ökonomischer, ökologischer und sozialer Entwicklung heraufbeschworen. Zunächst ließe sich fragen, welche der unzähligen technologischen Produktivitätsfortschritte auch dann noch so bezeichnet werden könnten, wenn ihnen alle zeitlich, räumlich, materiell oder systemisch verlagerten Nebenfolgen gegenübergestellt würden (Kümmel/Lindenberger/Paech 2018). Eine noch augenscheinlichere Ambivalenz rührt daher, dass zunehmende Arbeitsproduktivität nur bei hinreichendem Wirtschaftswachstum in sozialen Fortschritt transformiert werden kann. Andernfalls kehrt sich die moderne Vision vom steigenden Wohlergehen möglichst vieler Menschen in sein Gegenteil, nämlich in zunehmende soziale Desintegration um. Die Arbeitsnachfrage einer Volkswirtschaft (oder Branche) entspricht dem Produkt aus Output und dem pro Outputeinheit benötigten Arbeitsinput. Sinkt letzterer aufgrund zunehmender Arbeitsproduktivität, ist entsprechendes Produktionswachstum nötig, um keine oder möglichst wenig Beschäftigte freisetzen zu müssen. Die von den ersten drei industriellen Revolutionen induzierte Produktivitätsdynamik war noch von einer mehr oder weniger auskömmlichen ökonomischen ­Expansion begleitet, sodass ein genügender Anteil der Bevölkerung weiterhin in Arbeitsprozesse integriert werden konnte, überdies auf einem stetig höheren Einkommensniveau. Demgegenüber könnte die als «Industrie 4.0» oder «Second Machine Age» (Brynjolfsson/McAfee 2015) bezeichnete Entwicklung alle bislang für denkbar gehaltenen Potenziale arbeitssparenden technischen Fortschritts deutlich übertreffen: Massive Entwicklungssprünge in der künstlichen Intelligenz, neue Generationen von Industrie- und Dienstleistungsrobotern, das Internet der Dinge, 3D-Druck, Big Data, erweiterte Sensor-Technologien, digitale Endgeräte mit SLAM-Charakteristik (Simultaneous Localization and Mapping) etc. werfen die Frage auf, für welche wertschöpfenden Verrichtungen und Prozesse demnächst noch (menschliche) Arbeitskräfte benötigt werden. Welches Wertschöpfungswachstum wird diesmal nötig sein, um eine soziale Spaltung der Gesellschaft in jene, die noch gebraucht werden, und jene, die überflüssig

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sind, zu verhindern? Je reicher eine Gesellschaft kraft technischer Mittel wird, desto stärker wächst ihr Zwang, noch reicher zu werden. Diese Paradoxie gipfelt in dem Versuch, das benötigte Wirtschaftswachstum infolge ansonsten erschöpfter Mittel und gesättigter Märkte ausgerechnet durch digitale Innovationen zu indu­zieren, somit unweigerlich in weitere Erhöhungen der Arbeitsproduktivität zu investieren, die den Wachstumsbedarf abermals steigern. Die «technologische Gesellschaft» (Ellul 1964: The technological society) ähnelt einem Abhängigen, der ständig höhere Dosen benötigt, die ihn zwar kurzfristig stabilisieren, aber dafür langfristig umso sicherer in den Abgrund befördern. Denn die vormals «bewährte» Strategie, aus dieser sich selbstverstärkenden Eskalation herauszuwachsen, stößt mehr denn je auf ökologische Grenzen, die nicht mit sich verhandeln lassen. Der Irrglaube, dass digitalisierte oder dienstleistungsbasierte W ­ ertschöpfungsprozesse, ganz zu schweigen von der Utopie eines «grünen Wachstums», zu einer entmaterialisierten Ökonomie beitragen könnten, darf mittlerweile als theoretisch und empirisch widerlegt gelten (Paech 2011).

Bildung als Teil des Problems oder Teil der Lösung? Vorherrschende Bildungsprogramme sind längst zum Beschleuniger einer industriellen und konsumorientieren Moderne geworden. Sie tragen dazu bei, Individuen dergestalt zu konditionieren, dass sie sich nahtlos in das Zusammenspiel aus Konsumversorgung und spezialisierter Arbeit integrieren lassen. Technologische Innovationen und die daraus resultierenden, vermeintlich lebens- und arbeitserleichternden Anwendungen orientieren sich zumeist nicht an den basalen Bedürfnissen der Menschen, sondern fordern diese dazu heraus, sich an die B ­ edingungen einer digitalisierten und automatisierten Welt anzupassen. Immer kürzere Innovationszyklen zwingen zu Lernprozessen, die zumeist nicht über die Bedienung der Artefakte hinausreichen, denn es fehlt die Zeit, um tiefer in die Konstruktions- und Produktionsprozesse sowie die daraus resultierenden Folgen eindringen zu können. Für eine Reflexion und Bewertung dieser Entwicklung wäre ein Innehalten notwendig, das jedoch in einer sich beständig beschleunigenden Welt ein Paradoxon darzustellen scheint. Die Digitalisierungswut der Bildungspolitik spiegelt diese Entwicklung: Auch auf eine umfassende Diskussion über die vielfältigen Folgen und Risiken einer ­digitalen Transformation der Bildung wird weitgehend verzichtet. Vielmehr dient der Hinweis auf die Konkurrenzsituation, in der sich die Industrienation Deutschland im g ­ lobalen Vergleich befindet, dazu, alle berechtigten Zweifel an der grundsätzlichen ­Sinnhaftigkeit dieser Entwicklung zu ignorieren. Bildungsexperten empfehlen ­angesichts der globalen Digitalisierung der Arbeitswelt die materielle Aufrüstung von Bildungseinrichtungen sowie komplementär die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. In diversen Studien wurde nachgewiesen, dass Fernsehkonsum sowie die Nutzung digitaler Endgeräte bei Kindern und Jugendlichen motorische und sprachliche Entwicklungsverzögerungen, Hyperaktivität, Unruhe, Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsstörungen, einen erhöhten BMI sowie soziale Isolation hervorrufen

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und die bildhafte Wahrnehmung stark beeinträchtigen können (Büsching/Riedel 2018; Adam 2018; Spitzer 2015). Dennoch geht es immer nur um das Wie, niemals um das Ob einer Digitalisierung der Bildung in allen Altersstufen. Unabhängig von medizinisch und psychologisch diagnostizierbaren Schäden führt die intensive Nutzung digitaler Artefakte zu Verhaltensänderungen und beeinflusst unsere Sinneswahrnehmung. Angesichts einer zunehmend unvorhersehbaren globalen Entwicklung, die ein nur unzureichend antizipierbares Spektrum an Risiken und Nebenwirkungen nach sich zieht, wird die Frage der sozialen und psychischen Resilienz virulent. Resilienzen zu erzeugen in einer Welt, die sich derzeit in unverantwortlicher Weise einer auf Wachstum ausgerichteten Fortschrittsgläubigkeit verschrieben hat, gelingt aber nicht durch eine wachsende Abhängigkeit von komplexen technischen Strukturen, sondern nur durch die Bereitschaft zur Übernahme individueller Verantwortung, die Rückbesinnung auf handwerklich-technische basale Fähigkeiten und Wissensbestände, die Selbstbestimmung und Autonomie fördern sowie durch eine kluge Abwägung, was sinnvollerweise zu lernen sich lohnt und welche Lernprozesse tendenziell schädlich sind (Simon 2002). Wenn aufgrund der Geschwindigkeit gesellschaftlicher Veränderungen ein implizites Wissen um die negativen Folgen persönlicher und kollektiver, vermeintlich folgenloser Entfaltungsmöglichkeiten nicht erworben werden kann, dann ist es notwendig, die Bildung auf die Bedeutung individueller Verantwortung, die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit sowie auf die daraus resultierenden handlungspraktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu fokussieren. Solange die Bildung sich aber willfährig dem Wachstumsparadigma der Wirtschaft unterwirft, ist sie nicht nur nicht Teil der Lösung, sondern des Problems, weil sie Wissensvermeidung und Handlungsunfähigkeit indirekt dort fördert, wo eine tiefgreifende Beschäftigung mit alternativen gesellschaftlichen Entwicklungen und daraus resultierenden ­Inhalten und Praktiken notwendig wäre. In Bildungseinrichtungen wird nach wie vor die Chance einer sinnstiftenden, fächerübergreifenden Vermittlung basaler Inhalte vertan, aus denen Erkenntnisse bezüglich möglicher Zukünfte antizipiert und bewertet werden können. Die Konkurrenz der Fächer und Fachgebiete, die ihre exponentiell steigenden Informationszu­ wächse in die Curricula implementieren wollen, hat bislang dazu geführt, dass aus dem Ziel, mittels Wissensvermittlung Erkenntnisse zu generieren und Reflexionsfähigkeit zu befördern, ein Flickwerk aus unabhängigen, komplexitätsreduzierten Splittern entstanden ist (Nida-Rümelin/Zierer 2017). Dies genügt weder in der Schule noch an den Universitäten dem Anspruch, zumindest im Ansatz sinnstiftende Zusammenhänge erkennen zu lassen. Mit dem Einzug der Digitalisierung in die Bildungslandschaft wird diese Konkurrenz zunehmen. Humanistische Bildungsinhalte und traditionelles Wissen werden immer stärker verdrängt, weil es unmodern, aufwändig zu vermitteln und unbequem ist. Verdrängt wird damit aber auch eine Form der Handlungsorientierung, in der nicht nur der Geist, sondern auch der Körper lernt. Die Erkenntnis, dass Körper, Geist und Emotionen in Lernprozessen in engster Verbindung stehen, wird ebenso ignoriert wie die Notwendigkeit der Wiederherstellung eines emotionalen Bezugs zu unseren Lebensgrundlagen.

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Die Verknüpfung körperlicher, geistiger und emotionaler Eindrücke ist jedoch grundlegend und unverzichtbar für das Denken, die Entscheidungsfindung, das Sozialverhalten sowie für die Kreativität (Damasio 2004). Die Digitalisierung der Lernprozesse trägt zu dem Prozess der Entkopplung von körperlicher Wahrnehmung und abstrakter Informationsvermittlung bei, indem Scheinrealitäten an die Stelle der realen Welt treten (Funk 2011). Auf der Strecke bleibt das Bedürfnis, in einer derart beschleunigten sowie der Wahrnehmung aus erster Hand beraubten Welt einen Ort verlässlicher Werte und Normen zu finden, der Orientierung und Referenzpunkte vermittelt, ebenso wie die Entwicklung der Fähigkeit, sich über einen längeren Zeitraum auf eine Sache zu konzentrieren, Zusammenhänge zu erkennen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und die Bedeutung des Gegenstandes kritisch bewerten zu können. Wenn die Atomisierung des Wissens mittels digitaler Lernplattformen, Apps, mehr oder weniger seriöser Internetwissensquellen wie Wikipedia, Youtube oder Facebook & Co. eine weitere Steigerung erfährt, dann steht zu befürchten, dass die Zunahme vermeintlich verfügbaren Wissens in Wahrheit zu einer stetigen Entfernung von basalen Einsichten und Kompetenzen führt. In einer Welt, in der die ­Informationsflut exorbitant geworden ist und in der neben sinnvollen Fakten und Wissensbeständen zunehmend sinnfreie Mitteilungen oder Falschinformationen im digitalen Netz zu finden sind, ist ein Mehr an Informationen so ziemlich das Letzte, was ein Lehrer seinen Schülern vermitteln muss. […] Stattdessen benötigen die Menschen die Fähigkeit, Informationen zu interpretieren, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden und vor allem viele Informationsstückchen zu einem umfassenderen Bild der Welt zusammenzusetzen […]. (Harari 2018: 344)

Postwachstumsökonomie: Resilienz und Sinnstiftung durch duale Arbeit Benötigt wird ein ökonomischer Zukunftsentwurf, der nicht nur dazu verhilft, den überlebensnotwendigen Rückbau des industriellen Fremdversorgungssystems zu organisieren, sondern Resilienz gegenüber den sozialen Verwerfungen digitalisierter Wertschöpfung verspricht. Das Konzept der Postwachstumsökonomie korrespondiert mit einem prägnant verkleinerten Industrie- und Mobilitätssystem, jedoch ohne den Anspruch auf Vollbeschäftigung aufzugeben. Wenn die infolge einer graduellen De-Industrialisierung verringerte, volkswirtschaftlich noch erforderliche Arbeitszeit auf alle Erwerbstätigen umverteilt wird, entsteht die Basis für ein duales Versorgungsmodell. Würde am Ende einer selektiven und schrittweisen Verkleinerung der Industriekapazität um ca. 50 Prozent Vollbeschäftigung herrschen, könnte dies mit einer durchschnittlichen (monetär entlohnten) Wochen­ arbeitszeit von ca. 20 Stunden einhergehen. Komplementär zu dieser finanziellen Grundversorgung ließen sich die nunmehr freigestellten 20 Stunden als Input für Subsistenzleistungen einsetzen.

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Die Dualität von Subsistenzpraktiken und spezialisierter, wenngleich in reduziertem Umfang wahrgenommener, Erwerbstätigkeit führt zu höherer Resilienz. Denn je breiter das Spektrum an unterschiedlichen, sich ergänzenden Versorgungsquellen ist, umso geringer ist das Risiko, von den Folgen künftiger Ressourcen- oder ­Finanzkrisen betroffen zu sein. Wer nicht mehr allein von einer einzigen, zumal monetären und damit vulnerablen Einkommenskomponente abhängig ist, sondern einen Teil seiner basalen Bedürfnisse durch Eigenarbeit, gemeinschaftliche Nutzungsformen oder Reparatur und Bestandspflege befriedigt, erzielt Autonomiegewinne. Menschliche Arbeitskraft auf diverse Handlungsfelder verteilen zu können, erweitert Freiheitsgrade, um sinnstiftend und kreativ wirksam zu sein. Während persönliche Erfolgserlebnisse und Anerkennung im herkömmlichen Erwerbsmodus einer monokausalen Einkommens- und Effizienz-Codierung unterworfen sind, ­eröffnet die Subsistenz alternative Logiken der Selbstwirksamkeit. Dazu zählen nicht nur handwerkliche und künstlerische Aktivitäten, sondern auch soziales oder gesellschaftliches Engagement. Eine Persönlichkeitsentwicklung jenseits (ausschließlich) monetär-wirtschaftlicher oder konsumförmiger Bestrebungen wäre nur mit einem anderen, weniger materialisierten Begriff von Lebensqualität oder «Wohlstand» kompatibel. Entsprechend veränderte Lernprozesse und Bildungskonzepte ließen sich daran koppeln. Darauf wird im übernächsten Abschnitt eingegangen. Duale Beschäftigungsmodelle sind nicht das einzige Element einer Postwachstumsökonomie, zumal damit notwendigerweise ein geringeres Konsumniveau einhergeht. Jede auch nur graduelle Abkehr von einer vollständigen Versorgung durch globale und industrielle Wertschöpfungsketten impliziert eine verringerte Produktivität und somit Kaufkraftverluste. Diese wären durch weitere Entwicklungsschritte aufzufangen. Grob vereinfacht resultiert eine Postwachstumsökonomie aus einem fünfstufigen Programm der Reduktion beziehungsweise Selbstbegrenzung. Suffizienz: Reduktionspotenziale auf der Nachfrageseite zu erschließen, ist nicht mit Verzicht gleichzusetzen. Das Suffizienzprinzip konfrontiert konsumtive Selbstverwirklichungsexzesse mit einer schlichten Frage: Von welchen Energiesklaven und Komfortkrücken ließen sich überbordende Lebensweisen und die Gesellschaft als Ganzes zum eigenen Nutzen befreien? Welcher Wohlstandsschrott, der längst das Leben verstopft, obendrein Zeit, Geld, Raum sowie ökologische Ressourcen beansprucht, ließe sich schrittweise ausmustern? Dafür liefert eine «zeitökonomische Theorie der Suffizienz» Beweggründe jenseits moralischer Appelle (Paech 2010). In einer Welt der Informations- und Optionenüberflutung, die niemand mehr verarbeiten kann, wird Entschleunigung zum psychischen Selbstschutz. Das zuneh­ mend «erschöpfte Selbst» verkörpert die Schattenseite einer gnadenlosen Jagd nach Glück, die immer häufiger in Überlastung umschlägt (Ehrenberg 2004). Eine Befreiung vom Überfluss würde heißen, sich auf eine Auswahl an Konsumaktivitäten und objekten zu beschränken, die eingedenk begrenzter Aufmerksamkeitsressourcen überhaupt bewältigt werden kann. Selbstbegrenzung und vor allem Sesshaftigkeit – globale Mobilität hat Konsumaktivitäten als klimaschädlichste Form der Selbstverwirklichung längst verdrängt – bilden eine Voraussetzung für verantwortbare und genussvolle Lebenskunst, die nebenbei der Ökosphäre zugutekommt.

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Subsistenz: Konsumenten könnten sich die Kompetenz (wieder) aneignen, manche Bedürfnisse aus eigener Kraft jenseits einer Inanspruchnahme kommerzieller Märkte zu befriedigen. Würde die Industrieproduktion prägnant reduziert, könnte das dann ebenfalls verringerte Quantum an noch erforderlicher Lohnarbeitszeit dergestalt umverteilt werden, dass eine Vollbeschäftigung mit 20 Stunden ­Wochenarbeitszeit einherginge. Damit würden Zeitressourcen zur Eigenversorgung freigestellt. Gemeinschaftsgärten, Tauschringe, Netzwerke der Nachbarschaftshilfe, Verschenkmärkte, Einrichtungen zur Gemeinschaftsnutzung von Geräten und Werkzeugen würden nicht nur zu einer graduellen De-Globalisierung, sondern zu einem geringeren Bedarf an Technik, Kapital, Transportwegen und überdies zu mehr Autonomie verhelfen. Wenn Produkte länger genutzt, eigenständig instandgehalten, repariert, gepflegt und im Bedarfsfall möglichst gebraucht erworben werden, sinkt die Abhängigkeit von industrieller Versorgung. Ähnliches bewirkt die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchsgegenständen. Eine verdoppelte Nutzungsdauer oder verdoppelte Anzahl von Nutzern desselben Gegenstandes senkt den Bedarf an materieller Produktion und an Einkommen, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. Regionalökonomie: Viele der Konsumbedarfe, die weder durch Suffizienz noch durch Subsistenz reduziert werden können, lassen sich auf regionalen Märkten, basierend auf stark verkürzten Wertschöpfungsketten, befriedigen. Komplementäre, parallel zum Euro einzuführende Regionalwährungen könnten Kaufkraft an die Region binden und damit von globalisierten Transaktionen abkoppeln. So würden die Effizienzvorteile einer geldbasierten Arbeitsteilung zwar weiterhin ­genutzt, aber innerhalb eines kleinräumigen, ökologieverträglicheren und krisenresistenteren Rahmens. Insbesondere in der Nahrungsmittelproduktion, Gemeinschaftsnutzung und Nutzungsdauerverlängerung könnten regionalökonomisch agierende Unternehmen dort tätig werden, wo die Potenziale der Subsistenz enden. Umbau der restlichen Industrie: Der verbleibende Bedarf an überregionaler industrieller Wertschöpfung würde sich auf die Optimierung bereits vorhandener O ­ bjekte konzentrieren, nämlich durch Aufarbeitung, Renovation, Konversion, Sanierung und Nutzungsintensivierung, um Versorgungsleistungen so produktionslos wie möglich zu erbringen. Hierzu tragen auch Märkte für gebrauchte und reparierte Güter sowie kommerzielle Sharing- und Verleihsysteme bei. Die Neuproduktion materieller Güter beschränkte sich darauf, einen konstanten Bestand an materiellen Gütern zu erhalten, also nur zu ersetzen, was durch sinnvolle Nutzungsdauerverlängerung nicht mehr erhalten werden kann. Zudem würde sich die Herstellung von Produkten und technischen Geräten an einem reparablen und sowohl physisch als auch ästhetisch langlebigen Design orientieren. Institutionelle Maßnahmen: Zu den nötigen Rahmenbedingungen zählen Boden-, Geld- und Finanzmarktreformen, wobei die vom globalisierungskritischen Netzwerk Attac geforderte Finanztransaktions- sowie eine Vermögensteuer hervorzuheben sind. Anknüpfend an die oben dargestellte Verteilungslogik hätte jede Person ein Anrecht auf dasselbe jährliche Emissionskontingent, das allerdings interpersonal und zeitlich übertragbar sein könnte. Veränderte Unternehmensformen wie ­Genossenschaften, Non-Profit-Organisationen oder Konzepte des solidarischen Wirtschaftens könnten Gewinnerwartungen dämpfen. Subventionen – vor allem in

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den Bereichen Landwirtschaft, Verkehr, Industrie, Bauen und Energie – müssten gestrichen werden, um sowohl die hierdurch beförderten ökologischen Schäden als auch die öffentliche Verschuldung zu reduzieren. Maßnahmen, die Arbeitszeitverkürzungen erleichtern, sind unabdingbar. Dringend nötig wären zudem ein Bodenversiegelungsmoratorium und Rückbauprogramme für Industrieareale, Autobahnen, Parkplätze und Flughäfen, um diese zu entsiegeln und zu renaturieren. Ansonsten könnten auf stillgelegten Autobahnen und Flughäfen Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien errichtet werden, um die katastrophalen Landschaftsverbräuche dieser Technologien zu reduzieren. Weiterhin sind Vorkehrungen gegen geplante Obsoleszenz unerlässlich. Eine drastische Reform des Bildungssystems müsste zum Ziel haben, handwerkliche Kompetenzen zu vermitteln, nicht nur um durch Eigenproduktion und vor allem Instandhaltungs- sowie Reparaturmaßnahmen den Bedarf an Neuproduktion senken zu können, sondern um geldunabhängiger zu werden.

Übung und genügsame Lebenspraxis Je höher das aktuelle Fremdversorgungsniveau ist, umso mehr wird die Rückkehr zu global übertragbaren Mobilitäts- und Konsummustern als Entbehrung empfunden. Situationen, die den bislang beanspruchten Komfort vermissen lassen, rufen die Angst hervor, an bescheideneren Daseinsformen mangels hinreichender Belast­barkeit und manueller Fertigkeit zu scheitern. Zu meistern wäre überdies nicht nur das Gefälle zwischen dem bisherigen Komfortniveau und einer postwachstumstauglichen Lebensführung, sondern auch die Konfrontation mit den Erwartungen und Normalitätsvorstellungen des sozialen Umfeldes. E ­ ntsprechende Beziehungskonflikte, Scham- und Ausgrenzungsgefühle lassen sich nur schwer bewältigen oder ertragen. Die hierzu nötige Disziplin erweist sich als unvereinbar mit den dominierenden Freiheitsvorstellungen. Zudem müsste manches von dem, was vormals bequem von außen bezogen wurde, durch selbsttätig zu erbringende Subsistenzleistungen ersetzt werden. Die nötigen Kompetenzen – etwa im Bereich handwerklicher, landwirtschaftlicher und anderer körperlicher Verrichtungen – mussten auf dem Weg in einen alles umfassenden Konsumismus systematisch aufgegeben werden. Was in einer überfrachteten Konsumumgebung an eigener Kompetenz übrigbleibt, besteht bestenfalls noch in einem mühelosen Dahingleiten auf uniformierten Benutzeroberflächen, so als sei das erfüllte Leben gleichbedeutend mit einem allgegenwärtigen Touchscreen. «Lebenserleichternde» Automatisierung befreit von der Notwendigkeit, etwas Substanzielles zu beherrschen. So wird eine Virtuosität des Nicht-Könnens kultiviert. Sie fokussiert darauf, ständig neue Ansprüche zu ­begründen, für unabdingbar zu erklären und deren Erfüllung mit nur minimalem eigenem Einsatz auszulösen. Diese Sachlage erweist sich unter demokratischen Bedingungen als unvereinbar mit einer politischen Rahmengestaltung, durch die eine ökologische Entlastung erreicht werden soll. Denn eingedenk des Fehlschlagens grüner Wachstumskonzepte könnten umweltpolitische Instrumente – ganz gleich ob als harte Regulierung

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oder marktkonformes Anreizsystem – nur wirksam sein, wenn sie entsprechende Reduktionsleistungen erzwingen, die umso einschneidender ausfallen müssten, je ruinöser die vorherrschenden Lebenspraktiken sind. Paradoxerweise ist dieser Weg gerade dort versperrt, wo er am dringlichsten wäre. Gerade jene, deren Ökooder CO2-Bilanz am weitesten von einer global übertragbaren Daseinsform entfernt ist, weil sie ein entsprechend hohes Mobilität-, Konsum- und Bequemlichkeits­ niveau kultiviert und routiniert haben, dürften kaum eine Politik akzeptieren, die ihnen genau das abverlangt, wogegen sich sämtliche sozialen E ­ ntwicklungsstränge seit dem zweiten Weltkrieg gestemmt haben – nämlich Mäßigung. Der reduktive Wandel scheitert nicht an mangelnder Aufklärung oder Wissensdefiziten, sondern eher an nicht eingewöhnter Belastbarkeit und Kompetenz. Diese Lücke kann von keiner politischen Instanz geschlossen werden, sondern ist nur als Bottom up-Prozess und vor allem basierend auf einem veränderten ­Verständnis von Bildung zu meistern.

Woran sich zukunftsfähige Bildungskonzepte orientieren können Eine auf Wachstumsrücknahme gerichtete Bildung kann sich nur in Räumen entwickeln, die Anlass zur Erweiterung von Fertigkeiten und Erfahrungen bieten, weil diese der Schlüssel zu einem Selbstbild sind, das eine Rückbesinnung auf das Wesentliche erst möglich macht. Sie bildet den Kontrapunkt zu einer Konsumorientierung, die neben der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen Ängste davor erzeugt, mit wenig zufrieden sein zu müssen. Diese Form der Erkenntnis bedarf aber der Übung und Erfahrung, die in der Bildungswirklichkeit einen verschwindend geringen Anteil eingeräumt bekommen. Solange die Gesellschaft nicht bereit ist, dem Erfahrungswissen den ihm gebührenden Raum zuzuordnen und die Fähigkeit zu fördern, sich in eine Tätigkeit zu versenken, wird der Anspruch, aus Informationen Wissen und aus Wissen Erkenntnis zu formen mit dem Ziel, sich konstruktiv den wichtigen Fragen unserer Welt zu stellen, in vielen Bereichen auf der Strecke bleiben. Das Bauhaus hat mit seiner Gründung der Bedeutung dieser Forderung schon vor hundert Jahren durch Wiederbelebung des Handwerks und besonders durch die Verbindung mit Kunst einen Raum geschaffen, der einen Gegenentwurf zur industriell organisierten Massenproduktion in sich birgt und in dem die Verbindung von expliziten und impliziten Erfahrungswissen eine besondere Bedeutung hat. Von dem richtigen Gleichgewicht der Arbeit aller schöpferischen Organe hängt die Leistung des Menschen ab. Es genügt nicht, das eine oder das andere zu schulen, sondern alles zugleich bedarf der gründlichen Bildung. Daraus ergibt sich Art und Umfang der Bauhauslehre […]. (Gropius 1923: 3) Die sich in diesem Konzept verbindenden Elemente der Poiesis und Praxis sind Lern- und Schaffenszugänge, die grundlegend für eine auf suffiziente Lebensformen vorbereitende Bildung sind. Mit dem Begriff der Poiesis bezeichnete A ­ ristoteles

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die Kunst des Hervorbringens oder Herstellens eines Gebrauchsgegenstandes oder Kunstwerks, während die Praxis der Handlungsvollzug ist, dessen Zweck in der Handlung selbst liegt und deren Bedeutung in der Klugheit, der moralischen bzw. situativen Angemessenheit liegt (Aristoteles 1972). Jeder Handlung geht eine Antizipation voraus, die als Handlungsschema den gesamten Prozess der Planung, Durchführung und Kontrolle sowie Bewertung umfasst (Peterßen 1999). Damit diese Antizipation überhaupt erfolgen kann, ist insbesondere bei handwerklichen und künstlerischen Arbeiten Erfahrung die unabdingbare Voraussetzung: die Integration des Tastens, Greifens und Sehens. Die Hand beispielsweise formt sich entsprechend dem Gegenstand, bevor sie ihn berührt. Das Gehirn ist in der Lage, bei der Betrachtung einer zweidimensionalen Darstellung die aus der physischen Erfahrung gespeicherten Daten aufzurufen und in die Vorbereitung der Handlung einfließen zu lassen (Crawford 2016). Diese Daten können die Größe, die Form oder das Gewicht des Gegenstandes betreffen, aber auch taktile Wahrnehmungen vorbereiten, etwa die Erfahrung, dass ein Gegenstand eine bestimmte Temperatur oder Textur hat. Die durch ständiges Üben entstehenden Konzepte lassen sich generalisieren und dienen der Antizipationsfähigkeit, ohne vollständige Informationen eine Handlung sicher ausführen zu können. Diese als Prehension bezeichnete Vorwegnahme einer Bewegung bzw. einer Handlung sind in großen Teilen unbewusst (Sennett 2014). Die Verknüpfung von Wissensinhalten, die im semantischen Gedächtnis gespeichert und konsolidiert werden sollen, erhalten durch die Handlung einen engen Bezug zu der Situation, in der sie relevant sind. Der Abruf von Inhalten geschieht in der Verbindung von Handlung und Information und befördert den Aufbau komplexer psychischer und physischer Handlungsmuster. Je häufiger Arbeitsabläufe wiederholt werden, desto besser können über Rückkopplungen erfolgreiche Handlungsschritte und die damit verbundenen neuronalen Verschaltungen konsolidiert werden (Gudjons 2014; Crawford 2016). Die Rückkopplung an das Gehirn, die durch die taktilen Sinneswahrnehmungen einer korrekten oder auch inkorrekten Ausführung zustande kommen, führen zu einer zunehmend differenzierteren Auseinandersetzung mit dem Material und damit verbunden zu einer Zunahme physischer Sicherheit. «Die hart erarbeiteten Bewegungen prägen sich dem Körper immer tiefer ein, und der Spieler erwirbt Schritt für Schritt immer größere Fertigkeiten» (Sennett 2014: 215). Was Sennett bei Musikern feststellt, gilt in gleichem Maße für die Fertigkeiten, die ein Handwerker durch geduldiges Üben erwirbt. Der stetige Abgleich der antizipierten Bewegung mit der tatsächlich ausgeführten muss notwendigerweise im Prozess des Erarbeitens zu Fehlern führen. Der Versuch, den Prozess der Aneignung «abzukürzen», indem Fehlerquellen und nicht zielführende Verfahren im Vorfeld ausgeschlossen werden, eliminiert aber auch die Möglichkeit der Rückmeldung fehlerhafter Handlungen. Um eine Fertigkeit zu erwerben, muss der Arbeitsprozess dem ordnungsliebenden Geist etwas Unangenehmes antun – er muss ihm zumuten, sich zeitweilig auf chaotische Zustände einzulassen: auf falsche Wege, verpatzte Anfänge und Sackgassen. Aber in Wirklichkeit ist dieses Durcheinander für den experimentierenden

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Handwerker in der Technik wie in der Kunst weit mehr als bloßes Chaos. Er produziert es, um seine Arbeitsverfahren besser zu verstehen […]. (Ebd.: 216) Sobald Bildungsinhalte poietische und praktische Relevanz haben und eine ­Bewertung in Hinblick auf die ökologischen und sozialen Implikationen erfolgt, besteht die Chance, dass sie einen maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgewohnheiten und Bewertungsmuster der Menschen nehmen. Der derzeit favorisierte Ersatz von Praxis und Poiesis durch Digitalisierung steht diesem Konzept diametral gegenüber. Wenn die Erkenntnisse hinsichtlich der ökologischen, sozialen, psychischen, physischen und geistigen Folgen einer zunehmenden Digitalisierung mit einem wachstumskritischen Bildungsanspruch konfrontiert werden, so lässt sich konstatieren, dass eine postwachstumstaugliche Bildung nicht ein Mehr, sondern im Gegenteil ein Weniger an Digitalisierung braucht.

Ausblick Bis heute war und ist keine Partei oder politische Initiative, die reduktive, lebensstilrelevante Maßnahmen fordert, in irgendeinem Parlament vertreten. Solange die gegenwärtige Wohlstandskultur fortbesteht, kann politisch nur mehrheitsfähig sein, was ökologisch ins Desaster führt. Dies mit Aufklärungs- oder Wissensdefiziten zu begründen, zählt zu den tragischen Fehleinschätzungen des Nachhaltigkeitsdiskurses. Nicht nur die Bildungspolitik im Allgemeinen hat versagt. Auch die sog. «Umweltbildung» oder «Bildung für nachhaltige Entwicklung» unterwirft sich willfährig einer technikaffinen und kosmopolitischen Daseinsform, die aufgrund maßloser Mobilitätsansprüche ökologisch ruinöser nicht sein könnte. Mit dem «Akademisierungswahn» (Nida-Rümelin 2014) werden jene basalen Fähigkeiten und Praktiken verdrängt, die eine suffiziente, sesshafte und an moderner Subsistenz orientierte Lebensführung ermöglichen. Die letzte Option, proaktiv auf eine reduktive Anpassung des Wohlstandsmodells hinzuwirken, bevor dieses krisenbedingt unfreiwillig transformiert wird, besteht vorerst nur jenseits mehrheitsfähiger Nachhaltigkeitspolitiken und basierend auf einer veränderten Bildungsprogrammatik. Denn die zeitgenössische Ökonomie ähnelt einem manövrierunfähigen Ozeanriesen, der genauso unrettbar ist wie einst die Titanic. Ratsam wäre es daher, autonome Rettungsboote zu entwickeln, die sich unterhalb des politischen Radars dezentral und kleinräumig gestalten lassen. Dies bedeutet, jene Minderheiten der Zivilgesellschaft anzusprechen, die für einen Wandel zum Weniger erreichbar sind. Daraus ergäben sich zwei Chancen. Erstens: Postwachstumstaugliche Lebensstile können schon jetzt ein – wenn auch vorläufig noch begrenztes – Verbreitungspotenzial entfalten. Indem diese von Pionieren glaubwürdig und sichtbar praktiziert werden, führt bereits ihre pure Existenz zu einer Konfrontation. Wenn es gelingt, ökologisch übertragbare Subkulturen in Nischen zu stabilisieren, kann damit die Tragfähigkeit alternativer Daseinsausprägungen kommuniziert werden. Sie kann gemäß einer ‹sozialen Diffusion› (Rogers 1995) sukzessive von jenen frühen

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­ doptern aufgegriffen werden, die dazu längst fähig und willens waren, einen indiA viduellen Wandel jedoch mangels sozialer Anknüpfungspunkte und imitierbarer Praxisbeispiele bislang nicht vollzogen haben. Zweitens entstünde ein Vorrat an abrufbereiten Praktiken – etwa im Sinne der von Beuys so bezeichneten «sozialen Plastik» –, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn Krisen dies nahelegen oder erzwingen. Möglichst viele Individuen resilient d.h. robust gegenüber ökonomischen Strukturbrüchen werden zu lassen, um in einem heraufziehenden Zeitalter der reduzierten Wohlstandsansprüche ein würdiges Dasein meistern zu können, dürfte die dringendste Vorsorgemaßnahme darstellen. Eine derartige Strategie der horizontalen Vervielfältigung postwachstumstauglicher, auf mikroökonomischer Ebene gestaltbarer Versorgungsformen erfüllt das Kriterium, weder von politischen Mehrheitsentscheidungen abhängig zu sein, noch technischer Innovationen oder voluminöser Finanzquellen zu bedürfen. Somit könnten viele, sich in Reallaboren vernetzende Individuen vergleichsweise voraussetzungslos damit beginnen, zukunftsfähige Lebensführungen einzuüben. Dies wären die Orte, an denen neue Bildungskonzepte erprobt und etabliert werden könnten. Ebenso wird sich hier die Zukunft der Arbeit entscheiden, nämlich als Kombination aus moderner Spezialisierung und Subsistenz.

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Katharina Dutz, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Technische Bildung. Forschungsschwerpunkte: Nachhaltigkeit und Technikbewertung; Technik und Ethik in der Schule; Einbindung technischer Inhalte in fächerübergreifende Unterrichtsplanung; sprachsensibler Fachunterricht.

Niko Paech, außerplanmäßiger Professor für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen. Leiter des BMBF-geförderten Projekts NASCENT 2.0, das Potenziale und Grenzen der Solidarischen Landwirtschaft zum Wandel des Agrar- und Ernährungssektors mittels eines transdisziplinären Ansatzes untersucht. Außerdem Verantwortlicher der Plattform www.postwachstumsoekonomie. de. Forschungsschwerpunkte: Postwachstumsökonomie und Postwachstumsökonomik (eine auf den Gesetzen der Thermodynamik basierende Teildisziplin der Nachhaltigkeitsforschung); wachstumskritische Nachhaltigkeitsforschung und Praxis.

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(Zer-)Denken: Bauhaus-Pädagogik in Gegenwart digitaler Transformationen Im vorliegenden Beitrag gehe ich aus (berufs-)bildungswissenschaftlicher1 Perspektive der Frage nach, inwiefern die Bauhaus-Pädagogik angesichts gesellschaftlicher Transformationen im Zuge des digitalisierten Medienumbruchs der Gegenwart und damit veränderten Formen von (Erwerbs-)Arbeit als Impulsgeber 1

Mit Bezug auf Buchmann (2011) verwende ich den Terminus Bildungswissenschaft synonym für Erziehungswissenschaft und Berufsbildungswissenschaft anstatt Berufs- und Wirtschaftspädagogik.

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für die Curriculumforschung dienen kann. Paradigmen des historischen Bauhauses prägen das Denken bei der Vorstellung davon, was Bauhaus-Pädagogik war, heute und in Zukunft sein könnte. Solche Denkmuster ziehe ich zur Bearbeitung der Ausgangsfrage im Folgenden heran. Dabei unternehme ich, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, den Versuch, das Bauhaus als regulative Idee2 im digitalen Zeitalter und darauf basierend seine Pädagogik neu zu denken.

Die organische Idee des Bauhauses als einende Rahmung der pädagogischen Konzeptionen Das folgende Zitat von Walter Gropius, Gründungsdirektor des staatlichen Bauhauses, enthält m.E. implizit eine Reflexion im Hinblick auf das Fortwirken des Bauhauses im Sinne einer regulativen Idee nach seiner erzwungenen Schließung: Seit der Gründung des Bauhauses sind über 36 Jahre vergangen; wo und wie hat sich sein Einfluß in der Welt ausgewirkt? Das Wesen des B ­ auhauses bestand in einem sich ständig weiterentwickelnden Prozeß, nicht in der Schaffung eines «Stils». Es folgte einer organischen Idee, die sich entsprechend den wechselnden Lebensbedingungen umwandeln kann, also weder an Zeit, Ort oder Nation gebunden ist. Daher hat es nicht nur in europäischen Ländern, sondern, wie ich durch örtliche Nachforschungen feststellen konnte, auch in Nord- und Südamerika, in Australien und Asien – namentlich in Japan – Wurzeln geschlagen. (Gropius 1955: 7) Nach Gropius folgte das Wesen des Bauhauses demnach einer organischen Idee. Um herauszufinden, was er damit bezeichnen könnte, nehme ich die Motive zur Gründung der Institution sowie die historischen Rahmenbedingungen in den Blick. Während des Ersten Weltkrieges entwickelte Gropius Ideen zu jenem Vorhaben, das dann später Bauhaus hieß, die bereits Merkmale einer Bildungsinstitution (Erziehungsanstalt) trugen (Wünsche1992: 10). Im Zuge des ersten technisierten Kriegs der Geschichte fand ein Traditions- und Zivilisationsbruch unvorstellbarer Härte statt (Oswalt 2019: 17). Damit einhergehende existentielle Erfahrungen und die darin ­ruhende Sehnsucht nach neuen Lebensformen teilte Gropius mit anderen Bauhäusler*innen. Gropius, eigentlich Architekt, war zur Kriegszeit Husarenoffizier im Feld und sah nach seinen Worten «die Welt im Hass ersticken», sah sie «stürzen», sah sich selber in einer schweren inneren Krise, das Gemüt «wie in Narkose» (zit.n. Wünsche 1992: 10). Er selbst war sich «voll bewusst», dass seine 2

Eine regulative Idee im Sinne Kants bezeichnet nach Simmels Lesart keine für das menschliche Erkennen und Handeln notwendige Fiktion, sondern diene als Wegweiser für «Richtung und Fortschritt der Erkenntnis oder des Handelns», sie kann dabei niemals vollkommen erreicht werden (Simmel 1924: 18f.). Die Vorstellung, mittels raffinierter Methoden oder eines komplexen Design Thinkings könne die Idee gar umgesetzt werden, steht im Widerspruch zur hier gewählten Perspektive: Zum einen, da die regulative Idee als Wegweiser des Erkenntnisinteresses unentbehrlich und damit auf einer ideengeschichtlichen Ebene und nicht der realgeschichtlichen zu verorten ist. Zum anderen, da die hier verfolgte Position der (berufs-)bildungswissenschaftlichen Subjekt-Objekt-Dialektik in Tradition der Kritischen Theorie – insbesondere angesichts des Bildungsauftrags – das Subjekt zwar im Rahmen von schulischen, außerschulischen und betrieblichen Vermittlungskontexten dazu befähigen möchte, der Objektseite weitgehend emanzipiert gegenüberzustehen, gemäß des Denkmodells aber die Vergesellschaftung – also die Abhängigkeit des Subjektes von der Objektseite – im Gegensatz zu beispielsweise radikal konstruktivistischen Positionen immer, wenn auch graduell unterschiedlich, vorhanden ist.

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theoretischen Ideen zum ersten Mal während der Kriegserlebnisse Form angenommen hätten und insofern die Idee zum Bauhaus erst ein Resultat des Weltkrieges sei (ebd.). Gezeichnet von prägenden Kriegs- und Nachkriegserfahrungen rief Gropius zu «einer neuen geistigen Menschlichkeit» auf (ebd.: 12). Nach Konrad Wünsche lassen Manuskripte, die Gropius nach seiner Rückkehr aus dem Krieg verfasste, bereits Grundlagen der Bauhaus-Erziehung erkennen, die in der Formel eine «das ganze Leben umfassende Architektur» und «die menschliche Natur» benannt worden waren (ebd.). Gropius beabsichtigte eine Gemeinschaft zu gründen, in der zunächst als Zielsetzung Kunst und Handwerk eine neue Einheit bildeten, um die neue Menschlichkeit durch die Gestaltung neuer Lebensformen ­erproben und entstehen zu lassen (ebd.: 14). Dafür müssten die «geistigen Menschen» weg von der zerbrochenen Sprachgemeinschaft hin zu einer gemeinsam nachvollziehbaren Notation (ebd.: 13). Das Verständnis einer gemeinsamen Sprache bezieht sich dabei nicht nur auf Schriftzeichen, sondern generell auf Arte­fakte. Die Umsetzung der skizzierten Prozesse verlange einen Schonraum, in dem es erst zur Entstehung der neuen Menschlichkeit kommen könne, die dann wiederum ins Volk strahlen solle (ebd.: 14). Die Idee des Bauhauses, an welchem Lehrende, die zugleich Künstler*innen waren, und Lernende gemeinsam lebten und arbeiteten, war geboren. Ein halbes Jahr nach Ende des Ersten Weltkrieges entstand das Staatliche Bauhaus in Weimar, nach Wick (1982: 14) eine «Kunstschule neuen Typs». Zugleich entstand das Bauhaus auch als experimentelles Labor des Lebens, das nach Gropius, nicht nur die politische, sondern auch die «vollendete geistige Revo­ lution» anstrebte. Erst diese sei in der Lage, tatsächliche Aufgeklärtheit zu erwir­ken (Gropius zit.n. Wünsche 1992: 14). Die Spur der organischen Idee, der ich folge, zeichnet sich anhand der zuvor skizzierten Zusammenhänge m.E. als sozialpolitisches Ziel mit Bildungsauftrag im Sinn einer regulativen Idee ab. Zu einer Zeit, in der mit der Weimarer Reichsverfassung auch realgeschichtlich eine Demokratisierung der G ­ esellschaft als politische Utopie Kontur gewann, entstanden am Staatlichen Bauhaus revolutionäre pädagogische Aktivitäten (Buchmann 2020b). Die anfänglich propagierte Zielperspektive der Einheit von Kunst und Handwerk wurde ab 1923 durch die Einheit von Kunst und Technik erweitert, womit der Weg zur industriellen Formgebung und Produktion geebnet war. Es entstanden industrielle Artefakte und Modelle in der Formensprache ihrer Zeit, die für die Masse gedacht waren.3 Die Bauhaus-Pädagogik besteht aus unterschiedlichen pädagogischen Konzeptionen, die von Künstler*innen am Bauhaus entwickelt und umgesetzt wurden, womit sie nicht im Singular vorliegt. Den Begriff «Bauhaus-Pädagogik» verwende ich dennoch, um zu verdeutlichen, dass sämtliche Konzeptionen mit der organischen Idee des Bauhauses verwoben waren, da diese sowohl in die Programmatik als auch in die institutionelle Fassung des Bauhauses gleichsam eingeschrieben war. Daher erschöpft sich die Bauhaus-Pädagogik keineswegs z.B. in Johannes Ittens Vorkursen, in denen es im Rahmen der Vermittlung um übergreifende, ästhetische und gestalterische Grundlagen ging, oder in Paul Klees Farbenlehre oder der Spezialisierung 3

Ein komplexes Ursachengeflecht, welches angesichts der hier gewählten Perspektive nicht näher erläutert wird, führte m.E. dazu, dass die Bauhaus-Produkte dieses Ziel verfehlten, dessen Realisierung womöglich IKEA für die Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz 2018) innerhalb der letzten Jahrzehnte gelang.

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in Werkstätten, die in der Rezeption des Bauhauses häufig als ihre Synonyma herhalten mussten. Bleibt die organische Idee, die das Zusammenwirken der unterschiedlichen Konzeptionen der Bauhauspädagogik kuratierte, in der Rezeption unberücksichtigt, verpufft ihr innovatives Potenzial weitgehend, denn in ihr ruht gerade die Kraft, an Gestaltung orientierte Bildungsprozesse generell und Erziehungswissenschaft speziell anders zu denken. Diese These erscheint jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn man mit dem Erziehungswissenschaftler Klaus Mollenhauer die Bedeutung des Bauhauses folgendermaßen bestimmt: «In unserem Jahrhundert schließlich entstand (seit 1919) im «Bauhaus» ein Problemlösungstypus, in dem ästhetische, soziale, ökonomische, rationale und emotionale, individuelle und kollektive Komponenten – mit Piaget zu sprechen – «koordiniert» werden sollten» (Mollenhauer 2008: 154).  Damit ist nach Mollenhauer ein Niveau für pädagogische Problemstellungen im Bauhaus vorgezeichnet, das die erziehungswissenschaftliche Theorie immer noch nicht erreicht habe. Mollenhauers Einschätzung greift heute – nach der Zeit der Reformpädagogik, in die sich die Bauhaus-Pädagogik einreihen lässt (Behnken/du Bois-Reymond 2019) – mehr denn je, denn in der Zwischenzeit boten u.a. eine überbordende Kompetenzorientierung und Modularisierung idealen Nährboden für Spezialisierungen, wie z.B. die starke Fachorientierung in der Lehramtsausbildung und die scheinbar bevorzugte finanzielle Förderung vornehmlich teildisziplinär ausgerichteter und empirisch quantitativer Forschungsperspektiven, während (inter- und transdisziplinäre) hermeneutische Theoriebildung das Dasein eines Eremiten zu führen schien.4 Die Spezifik der Bauhaus-Pädagogik gründet in der zuvor skizzierten organischen Idee, die zum Teil ambivalente und komplexe Implikationen – die sich im Zusammenspiel aus zeithistorischen Umständen, Zielsetzungen und den institutionellen Rahmungen des Bauhauses sowie den verschiedenen pädagogischen Konzeptionen ergaben – fruchtbar aufeinander zu beziehen vermochte. Das Aushalten von Konflikten und das Handeln in Ambivalenzen war dazu notwendig. Zudem charakterisieren folgende – heute curricular neu zu fassende – Dimensionen die Bauhaus-Pädagogik: • vorbereitende allgemeine und teilweise elementar bildende Vorkurse, die nicht werkstattgebundene Einführung in das Studium mit (u.a. freien und experimentellen) Materialstudien, Form- und Farbenlehre sowie Bildanalyse; • Formen der Spezialbildung als produktionsorientierter Ausbildung in verschiedenen Werkstätten, die jeweils unterschiedliche Werkstoffe, Materialien sowie dazu passende Werkzeuge und (industrielle) Fabrikationsmöglichkeiten favorisierten: z.B. Weberei, Buchbinderei, grafische Druckerei, Tischlerei, Glas- und Wandmalerei, Töpferei, Metall-, Holz- und Bühnenklasse;5 4 5

Zumindest aus Perspektive der Aufmerksamkeitsökonomik mag dies der Fall gewesen sein, die betreffenden Theoretiker*innen blieben jedenfalls weiterhin im Feld tätig und isolierten sich auf dem (medial) vermittelten, öffentlichen Markt der Aufmerksamkeiten (meist) nicht freiwillig. Die meisten der am Bauhaus eingerichteten Werkstätten gab es mit Ausnahme der Bühne mit Bühnenklasse auch an anderen Kunstgewerbeschulen, einige auch an Akademien (Droste 2019).

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• Das Erziehungsprogramm des Bauhauses ruhte dabei auf dem Gedanken des Kollektivs als Lebensgemeinschaft: Residenzpflicht für Lehrende und Lernende, gemeinsames Feiern von Festen, Besuch von Vorträgen und Theateraufführungen, aktives Praktizieren eines Beziehungsnetzwerkes zwischen Bauhäusler*innen, die nach der erzwungenen Schließung der Institution weltweit verstreut im Exil lebten etc.; • Die Curricula zielten auf die gegenseitige Durchdringung der Inhalte der Vorkurse mit jenen des Werkstattunterrichts (Droste 2019: 74), womit eine systematische Versuchsarbeit in Theorie und Praxis angestoßen wurde: Im Rahmen der Erziehung durch Gestaltung entstanden in der theoretischen Auseinandersetzung mit Material und Artefakten und der Produktion dieser prinzipiell lesbare d.h. decodierbare Notationen; • Das Erziehungsprogramm wurde durch das spezifische Lehr-Lern-­ Arrangement der Meister*in-Schüler*in-Beziehung angereichert;

Von agilen Curricula am Bauhaus Die Curricula (Ausbildungs- und Bildungsgänge) und institutionellen Rahmenbedingungen des Bauhauses wurden während seines nur vierzehnjährigen Bestehens mehrfach den sich verändernden Rahmenbedingungen sowie der jeweiligen programmatischen Ausrichtung des amtierenden Direktors angepasst. Das betraf die Veränderung der Ausbildungsdauer, Modifizierung der Inhalte der Vorkurse und inhaltliche Fokussierung der Werkstätten. Somit reagierte das Bauhaus als Institution auf die realen gesellschaftlichen Unsicherheiten und Herausforderungen seinerzeit dynamisch. Auftragsarbeiten wurden beispielsweise erst nach einiger Zeit seines Bestehens und im weiteren Verlauf in Anzahl und Volumen variierend umgesetzt, wobei die Motive von der Orientierung am produktionsorientierten Schulkonzept von Gropius über finanzielle Engpässe bis hin zur Fokussierung der Architekturschule unter Ludwig Mies van der Rohe reichten. Die Agilität der Curricula zeigt sich auch darin, wie die widrige Situation des politisch erzwungenen Umzugs nach Dessau im Jahr 1925 genutzt wurde, um zukunftsträchtige Anpassungen vorzunehmen. Die weitreichendsten Veränderungen gemäß der damals neu propagierten Einheit von Kunst und Technik betrafen die Druckwerkstatt und die Weberei, die technisch neu ausgerüstet wurde, womit sich der Schritt hin zur Industrialisierung vollzog (Droste 2019: 304, 308). Konsequenter und früher als in allen anderen Werkstätten erarbeitete Gunta Stölzl einen Bildungsgang für die Weberei, der sich zweistufig in eine Lehrwerkstatt und eine Versuchs- und Modellwerkstatt gliederte (ebd.: 308, 310). Für den Unterricht entwickelte sie eine Versuchs- und Materiallehre samt Lehre und Produktion des Färbens. Die Schülerinnen6 lernten den Produktionsprozess vom Entwerfen und Färben über das Weben 6

Die Weberei war am Bauhaus aufgrund des Wirkens nicht vollends überwundener geschlechtlicher Stereotype – die Institution war bei aller Innovation auch Kind ihrer Zeit – weiblich besetzt.

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und Anfertigen von Mustern/Modellen bis hin zur Stoffbestellung kennen (ebd.: 310). Gleichzeitig erwarben sie bei Paul Klee Kenntnisse über die Gesetze der Musterung und Farbanordnung (ebd.). Somit war das Berufsbild der Dessinatrice in der Textilindustrie entstanden (ebd.: 310). In der Druckwerkstatt, die am Standort Weimar eine Kunstdruckerei war und die später zur Anpassung an gesellschaftliche Transformationen Druck und Reklame vereinte, entstanden unter Herbert Bayer die Voraussetzungen für das neue Berufsbild des Grafikdesigns (ebd.: 308f.). In beiden Werkstätten wurden die jungen Menschen im Rahmen neuer Bildungsgänge an der Schnittstelle von Gestaltung und Technik im weitesten Sinn auf ­Berufsbilder mit Zukunft hin ausgebildet, die es praktisch bis dahin noch nicht gab (ebd.: 308).

Transformationen seit Bestehen des Bauhauses bis heute: Passungsprobleme7 zwischen (Berufs-)Bildungssystem und Beschäftigungssystem Die Berufsbildungswissenschaft, Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, beschäftigt sich mit Fragen eines sich in Transformation befindenden Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, das hier für die Zeitspanne seit Bestehen des ­Bauhauses bis heute beispielhaft beleuchtet wird. Bezogen auf technische ­Entwicklungen formuliert der heute 101-jährige James Lovelock, der mit seiner Gaia-Hypothese als Ökodenker populär wurde, Folgendes: Die meisten von uns halten die heutige IT, Flugreisen und das Geschenk der modernen Medizin für selbstverständlich. Aber denken wir 100 J ­ ahre zurück, bis zu der Zeit, in der ich geboren wurde, am Ende des Ersten Weltkriegs. Damals gab es (außer für die Reichen) kein elektrisches Licht, keine Autos oder Telefone, kein Radio oder Fernsehen und keine Antibiotika. Es gab Schellackplatten, die man auf Aufziehgrammophonen abspielte, mit Schallrichtern als Lautsprecher, aber das war alles. (Lovelock 2020: 92) In der Zwischenzeit führten neue technische Entwicklungen in Kombination mit den Märkten zu Beschleunigung, Komplexitätserweiterung und Globalisierung mit Auswirkungen auf die (Erwerbs-)Arbeit. Der positive Fortschrittsgedanke, der vielfach mit zunehmender Technisierung einherging, bröckelt heute – in der Spätmoderne – angesichts von beispielsweise akut werdenden Umweltkrisen und -katastrophen zunehmend. Aktuell engagieren sich daher viele junge Menschen für den Umweltschutz, etwa innerhalb der sozialen Bewegungen Fridays for F ­ uture (FFF) oder Extinction Rebellion (XR). Ihnen geht es z.B. darum, Flugreisen, die in der Spätmoderne zur Lebenswelt vieler gehören, bedeutend einzuschränken, gleichzeitig möchten sie gesundheitliche Belange betreffend auf dem hochentwickelten Stand der Medizin der Gegenwart leben. Mit Entstehung der Technik für 7

Qualitative und quantitative Mismatches (mindestens) zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem.

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Flugreisen, stieg die (weltweite) Mobilität, sie nutzende (globale) Arbeitsweisen und private Reisen wurden ermöglicht, wobei hohe Umweltkosten entstehen, die wiederum zu gesamtgesellschaftlichen Kosten werden (dazu Dutz/Paech im vorliegenden Band). Mit Ambivalenzen der technischen Errungenschaften waren die Bauhäusler*innen ihrerzeit auch konfrontiert: Während des Ersten Weltkrieges hatten sie damit verbundene Gräuel kennengelernt, später nutzten sie Möglichkeiten der damals entstehenden Techniken sinnstiftend, um neue (Lebens-)­ Modelle zu imaginieren und zu gestalten. Andreas Reckwitz zufolge war die Industrietechnik zur Zeit des Bauhauses ein Motor der funktionalen Rationalisierung und Versachlichung, das gegenwärtige digitale Computernetz sei dagegen ein Generator der gesellschaftlichen Kulturalisierung und Affektintensivierung. Kulturalisierung zeige sich dabei als ubiquitär sowie als Kultur der Visualität, die die Trennung zwischen bürgerlicher Hochkultur und Massenkultur der organisierten Moderne überwinde (Reckwitz 2018). Die ­Entstehung digitaler Techniken und Medien führte innerhalb zentraler gesellschaftlicher Felder wie Arbeit, Lernen, Information und Kommunikation zu neuen Praktiken der Subjekte und damit auch zu neuen Selbst- und Weltbildern. Dies liegt in Anlehnung an Ralf Schnell insbesondere an der veränderten Wahrnehmung innerhalb des Cyberspace – so die hier formulierte Annahme. So stellen sich nach Schnell angesichts der digitalen Medien der Gegenwart «Fragen nach dem ­Zusammenhang von geschichtlicher und natürlicher Wahrnehmungungsveränderung» (Schnell 2005: 10.). Die COVID-19-Pandemie bekräftigt dies, indem sie ein (bisher) einmalig hohes Ausmaß an Erwerbsarbeit im sogenannten Home-Office erzwingt, womit vermehrt Möglichkeiten zu remoten Arbeitsweisen innerhalb des Cyberspace entstehen. Diese waren vor Corona auch abseits des Home-Office – z.B. in heimischen Cafés oder auf Reisen an fremden Stränden – als ­selbstgewählte Form der (Erwerbs-)Arbeit insbesondere der «digitalen Bohème» (Friebe/Lobo 2006) im Rahmen des Freelancing vorbehalten. Im Kontext von remoten Arbeitsweisen verschmelzen die Grenzen zwischen Privatheit und Beruf – prägend für die spätmoderne Arbeitswelt – in besonderer Weise, was berufsbildungswissenschaftlich als Entgrenzungsproblematik mit hoher Arbeitsverdichtung und gestiegenen Abhängigkeiten diskutiert wird (u.a. Baethge/Oberbeck 1986). Ermöglicht wurden remote Formen der (Erwerbs-)Arbeit durch die Entwicklung der Technik des digitalen Computernetzes, das auch Grundlage des Entstehens der sogenannte Gig Economy8 ist. Mit ihr gehen alte und neue Beschäftigungsmöglichkeiten und Tätigkeiten einher, welche sich oft lediglich diffus mit dem Berufsbegriff erfassen lassen.9 Umgangssprachlich wird häufig verkürzt von Internetberufen gesprochen. Mit der Plattformarbeit geht zudem ein Trend zum Zweit- und Drittjob einher. Somit stehen den Vorteilen einer flexiblen und selbstbestimmten Arbeit neue und alte Zwänge sowie Risiken gegenüber.10 Das spätmoderne Subjekt hat nach Reckwitz jenseits 8

Die Gig Economy bezeichnet einen vergleichsweise neuen Teil des Arbeitsmarktes, in dem kleine Aufträge kurzfristig an ­ nabhängige Freiberufler*innen über digitale Plattformen vergeben werden. «So wie Musiker von einem bezahlten Auftritt (Gig) u zum nächsten hangeln sich beispielsweise Uber-Fahrer oder Deliveroo-Boten von einem Auftrag zum anderen. Auf Plattformen wie Myhammer oder Taskrabbit werden Handwerks- oder Putztätigkeiten vermittelt. Bei Twago oder Upwork können Firmen einzelne Aufträge oder Projekte an Designer, Übersetzer oder Texter vergeben.» (Koch 2017) 9 Z.B. liegen sogenannte Prosumenten m.E. «quer» zu vielen etablierten Berufsbildern. 10 Dargestellt z.B. in den Filmen Sorry We Missed You (UK, F, B 2019; Regie: Ken Loach) oder The Factory (Johannes Büttner, ­Installation, 2020, Tale of a tub, Rotterdam).

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von Klassen und Stand das historisch neue Privileg, sich in der Kulturmaschine11 darzustellen und beständig an seiner Selbstrepräsentation zu arbeiten (Reckwitz 2018: 245). Die Subjekte unterlägen aber auch dem zunehmenden Zwang, sich in Sozialen Medien zu präsentieren. Innerhalb dieser Medien seien Bilder, insbesondere in Form von Fotografien und Videos, ein primärer medialer Träger, der im Internet kreiert, dort zirkuliert und betrachtet werde (ebd.). Technik sei dabei immer weniger ein Werkzeug, sondern werde immer mehr zu technologischen Umwelten, innerhalb derer sich die Subjekte bewegten (ebd.: 237). Damit einhergehende ­digitale Bildkulturen (z.B. Selfies, Memes, Bildproteste) verdeutlichen u.a. die ­permanente und überall vorzufindende Ästhetisierung der Lebenswelten der Subjekte (u.a. Kohout 2019; Ullrich 2019). Damit schließe ich an dieser Stelle die Beispiele für gesellschaftliche Transformationen ab und gehe der Frage nach, ob aktuelle Curricula angesichts dieser modifiziert werden müssen. Die betreffende Literatur dazu fasst Ulrike Buchmann bereits 2006 wie folgt zusammen: «Gängige Curricula erreichen einen erheblichen Teil der nachwachsenden Generation weder emotional noch sozial oder kognitiv» (Buchmann 2006: 63). Indizien dafür sind beispielsweise die zunehmend beobachtbaren Erschöpfungszustände und gefühlten Überforderungen der Subjekte. An anderer Stelle sind diesbezügliche Passungsprobleme und Mismatches weiterführend erläutert (z.B. Buchmann 2011; dies. 2020a). Es gilt also, die etablierten Curricula zu modifizieren, damit sie ihre Funktion, die Vermittlung12 zwischen Subjekt und Welt, erfüllen können. Das dahinterliegende Gedankenmodell der SubjektObjekt-Vermittlung geht zum einen von der Vermitteltheit der Lehrpläne und zum anderen ihrer Vermittlungsfunktion aus. Diese zeigen sich nach Huisinga und Buchmann (2006: 31) zum einen darin, dass sich im Zuge der vollendeten Freisetzung funktionalen Lernens das Problem der Einheit von unmittelbarem und vermitteltem Lernen entwickele, wobei die Grundlage der Bildungstheorie das Verständnis dieser Einheit sei. Zum anderen gehe es dabei immer auch um die Frage des Grades von Aufklärung, Reflexion und Kritik gegenüber dem Objektsein, folglich um Autonomie und Emanzipation im Hinblick auf die Weltgestaltung. Klaus Holzkamp erfasst diese Zusammenhänge in Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung (1995) mit den Begriffen Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und erhöhte Lebensqualität (zit.n. ebd.: 19). Diese ergeben sich in funktional-erzieherischen Bedingungen eo ipso. Die skizzierten Transformationen belegen eine Komplexitätserweiterung, die verdeutlicht, dass Lernen heute aus dem unmittelbaren Lebenszusammenhang in hohem Maße heraustritt. Aufgrund dessen bedarf es, curricular argumentiert, einer sinnbezogenen Vermittlungsleistung und ­demnach einer Repräsentation von Welt, die den Rückbezug auf den Lebenszusammenhang erlaubt. Diese Repräsentationen erfüllen ihre Vermittlungsfunktion zwischen Subjekt und Welt nur, wenn sie stets dynamisch den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen angepasst werden. 11

«Das digitale Computernetz ist eine Kulturmaschine, d.h.: Es handelt sich um Technologien, in deren Zentrum die Produktion, Zirkulation und Rezeption von – narrativen, ästhetischen, gestalterischen, ludischen – Formen der Kultur steht.» (Reckwitz 2018: 233f.) 12 Nach der erziehungswissenschaftlichen Denkfigur der Subjekt-Welt-Vermittlung ist Vermittlung immer als Implikation und niemals als Trivialfigur zu sehen (Huisinga/Buchmann 2006: 30ff.).

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Bauhaus-Pädagogik als Inspiration zur Erarbeitung curricularer Alternativen Bei der Suche nach curricularen Alternativen argumentiere ich gesellschaftstheoretisch von den zuvor skizzierten Transformationen ausgehend, die angesichts des immer wieder neu zu erfüllenden Bildungsauftrags dazu auffordern, passende Repräsentationen, also curriculare Zugänge zu den Subjekten, zu entwickeln. Demgemäß sind in der dafür erforderlichen erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung neben den aktuell veränderten Formen der (Erwerbs-)Arbeit u.a. Verschränkungen zwischen den zuvor wissenschaftlich dokumentierten Dimensionen zu berücksichtigen: Ästhetisierung aller Lebenswelten, Bedeutungsgewinn visueller Kommunikation im Rahmen der digitalen Kulturmaschine, Zunahme der Praktiken innerhalb des Cyberspace und sich abzeichnende Kosten bzw. Grenzen des Fortschrittsgedankens. Zur (berufs-)bildungswissenschaftlichen Erklärung dieser Erscheinungen sind neben den etablierten Bezugsdisziplinen (z.B. Soziologie, Psychologie, Politik, Ökonomie, Technikdidaktik) auch neue zu berücksichtigen, wie beispielsweise Kunstpädagogik, ästhetische und kulturelle Bildung, (Wirtschafts-)Informatik, Medienwissenschaften und Postwachstumsökonomie. Die vorliegende Perspektive (dazu Buchmann/Kell 2013; Buchmann/Gimbel 2015; Gimbel 2017; Buchmann 2020) unternimmt den Versuch, bei der Suche nach curricularen Alternativen insbesondere «die vergessene Dimension des Ästhetischen» (Mollenhauer 1990: 3) zu berücksichtigen. Damit kann Bildung im Rahmen neuer Wissensarchitekturen ermöglicht werden (Buchmann/Gimbel 2015: 73). Die organische Idee des Bauhauses erlaubt es, Bauhaus-Pädagogik fluide gemäß der sich verändernden Rahmenbedingungen neu zu denken, was einst Josef Albers am Black Mountain College im Exil gelang (Dogramaci 2019: 43f.). Dabei sind u.a. zentrale Transformationen an der Schnittstelle von Kunst, Handwerk und Technik zu berücksichtigen, die auch dazu führten, dass die Grenzen der Felder gemäß der Eingemeindung von Hoch- und Trivialkultur verwischten. Beispielsweise bringt die gegenwärtige Technik der digitalen Kulturmaschine eine an Singularitäten orientierte Formensprache mit sich, wohingegen die Industrietechnik zur Zeit des Bauhauses die Formensprache einer funktionalen Rationalisierung und Versachlichung sprach (Reckwitz 2018: 226f.).13 Die Bauhaus-Pädagogik kann dabei nicht simpel reproduziert oder zu den ideengeschichtlichen Modellen der Bildungswissenschaft ergänzend hinzugefügt werden. Es geht vielmehr darum, die bisher disziplinär oder gar teildisziplinär gebundenen Wissensbestände gemäß der Entwicklung und Entfaltung des Humanvermögens neu aufeinander zu beziehen. In diesem Sinn kann die Lernfeldorientierung14 an Berufskollegs aktuell als Chance ergriffen werden (dazu Dreher im vorliegenden Band), um einen systematischen Bezug von Lebens- und Systemwelt über z.B. materielle oder auch immaterielle Artefakte der Kulturmaschine zu realisieren. In diesem Sinn vermochte auch der Workshop15 Hacken und Critical Making: Phänomene der (Post)Bauhaus C ­ ommunity?, 13 Bezogen auf Ubiquitous Design siehe dazu weiterführend Dörrenbächer/Laschke/Hassenzahl im vorliegenden Band. 14 Fächerübergreifendes curriculares Prinzip mit konkretem Handlungsfeldbezug an Beruflichen Schulen, das 1996 durch die KMK implementiert wurde. 15 Dieser knüpfte an den Gedankengängen des Vortrags an, der diesem Beitrag zugrunde liegt.

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der am 11. Oktober 2019 im Fab Lab16 der Universität Siegen stattfand, zum Themenfeld an der Schnittstelle von Pädagogik, Hacken und Critical Making fruchtbare Allianzen zwischen bekannten und neuen Bezugsdisziplinen auszuloten. Die folgenden Einblicke wollen dies skizzieren. Im Rahmen des Workshops ging die regionale Community,17 bestehend aus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik und dem Fab Lab der Universität Siegen, dem Chaos Computer Club Siegen e.V.,18 dem Projektraum und Atelier edition/19,19 dem Hackspace Siegen e.V. und dem Bruchwerk Theater der Frage nach, wie Lerninhalte und curriculare Repräsentationen aussehen können, die Bauhaus-Pädagogik heute in der Verschränkung von Kunst, Handwerk und Technik neu denken. Im Rahmen des Workshops wurden auch die Potenziale des Fab Lab als neue Werkstatt20 im digitalen Zeitalter ausgelotet und die Frage nach der Bedeutung von kollektiven Strukturen für die Weiterentwicklung von Pädagogik im Hinblick auf eine aufgeklärte, kritische Techniknutzung aufgeworfen. Der experimentelle Workshop bot den Teilnehmer*innen die Gelegenheit, sich im Rahmen von drei Stationen aktiv einzubringen. Die erste Station bestand in einer Hommage an Adam Harveys Arbeit CV Dazzle (2010), um darauf basierend kreativ und gemäß aufgeklärter Techniknutzung mit den Algorithmen des Kameratyps zu interagieren, der im öffentlichen Raum zunehmend zur Überwachung eingesetzt wird. Die zweite Station beschäftigte sich mit der Herstellung einer Weste mittels eines digitalen Schnittmusters, einem Laser Cutter und klassischem Nähen von Hand oder per Nähmaschine. Die dritte Station bestand in einer stark körperbezogenen Performance von Schauspieler*innen, die die Teilnehmer*innen zur Aktivierung eigener Erfahrungen, Erinnerungen und Gefühlen animierte. Somit ging es im Workshop nicht darum, analoge gegen digitale Techniken und Praktiken auszuspielen. Angesichts des Bildungsauftrags zielte der Workshop hingegen darauf ab, ein aufgeklärtes und kreatives Verhältnis im Umgang mit und der Gestaltung von analogen und digitalen Praktiken anzuregen. Beispielsweise fungieren im Sinn dieses aufgeklärten Verhältnisses analoge Fabrikationsmöglichkeiten in Kombination mit handwerklichen Fähigkeiten im Rahmen der Postwachstumsökonomie zur nachhaltigen Lebensdauerverlängerung von Produkten bzw. Artefakten (dazu Dutz/Paech in diesem Band). Die Beschäftigung mit curricularen Fragen ist m.E. angesichts des den Beitrag abschließenden Zitates von Klaus Mollenhauer (2008: 10) stets relevant: «Jeder Bildungsprozeß ist Erweiterung und Bereicherung, aber auch Verengung und Verarmung dessen, was möglich gewesen wäre.»

16 Das Fab Lab (Fabrication Laboratorie, dt. Fabrikationslabor) der Wirtschaftsinformatik der Arbeitsbereiche von Prof. Dr. Volkmar Pipek und Prof. Dr. Marc Hassenzahl der Universität Siegen ist eine interdisziplinäre Werkstatt, in der das gemeinschaftliche Arbeiten und Experimentieren im Mittelpunkt steht. Fab Labs sind nah verwandt mit Hack- und Makerspaces, allgemeiner mit Innovation Hubs. Ihnen geht es um die kreative Nutzung von Technologien. 17 Viele Mitglieder der regionalen Community, die auch abseits des Workshops regelmäßig gemeinsame Projekte konzipiert und realisiert, sind in Personalunion in mindestens zwei weiteren (Arbeits-)Gruppen/Vereinen/Institutionen aktiv. 18 Der Chaos Computer Club Siegen e.V. (https://chaos-siegen.de) ist ein Erfahrungsaustauschkreis und lokale Vertretung des Chaos Computer Club e.V. (https://www.ccc.de). Der CCC ist die weltweit größte Hacker*innenvereinigung und seit über 30 Jahren im Spannungsfeld technischer und sozialer Entwicklungen aktiv. 19 Die Community der in Siegen ansässigen edition/19 eint das gemeinsame Interesse am transdisziplinären Experiment an der Schnittstelle von Kunst/Kultur, Technik und Gesellschaft. U.a trägt edition/19 im Rahmen von verschiedenen Angeboten zur Grundbildung der Bürger*innen im digitalen Zeitalter bei. 20 Zum Werkstattprinzip Buchmann im vorliegenden Band.

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Dank Zuletzt möchten wir noch die Gelegenheit nutzen und uns bei all denjenigen ­bedanken, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben: Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die sich bereit erklärt haben, ihre Tagungsbeiträge für die Publikation auszuformulieren. Darüber hinaus bedanken wir uns herzlich bei Eva Bös für ihr umsichtiges Lektorat und bei Martin Golombek für das gelungene Grafikdesign. Weiterer Dank gilt den an der Publikation beteiligten studen­ tischen Hilfskräften Anne Barkhausen und Lina Maxeiner für ihre sorgfältige Arbeit. Auch im Rahmen der Tagung haben wir Unterstützung erfahren: Jürgen NielsenSikora danken wir für die Moderation der Tagungsbeiträge zum Thema Pädagogik und Gestaltung, dem Team des Fab Labs der Universität Siegen sowie den ­beteiligten regionalen Akteur*innen für ihr Engagement in der Sektion IV. Der Fakultät II der Universität Siegen danken wir für die Unterstützung der Tagung und des Bandes sowie Katja Richter, Arielle Thürmel und Kerstin Protz vom De Gruyter Verlag für die gute und ­vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die Herausgeber*innen