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German Pages 254 Year 2016
Edoardo Costadura, Klaus Ries (Hg.) Heimat gestern und heute
Histoire | Band 91
Edoardo Costadura, Klaus Ries (Hg.)
Heimat gestern und heute Interdisziplinäre Perspektiven
Gedruckt mit Unterstützung der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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Inhalt
Heimat – ein Problemaufriss
Edoardo Costadura und Klaus Ries | 7 Orte und Zeiten, Innenwelten, Aussenwelten. Konjunkturen und Reprisen des Heimatlichen
Friedemann Schmoll | 25 Kommentar von Klaus Ries | 47 „Heimat denken“ im Völkerrecht. Zu einem völkerrechtlichen Recht auf Heimat
Martina Haedrich | 51 Kommentar von Walter Pauly | 77 Heimat denken – ein biologischer Streifzug
Frank H. Hellwig | 81 Kommentar von Manfred Seifert | 107 Ego enim Tolosae positus, tu Treveris constituta. Gallien im Briefwerk des Sulpicius Severus und des Paulinus von Nola
Meinolf Vielberg | 115 Kommentar von Edoardo Costadura | 139 Zwischen „irdischer“ und „ewiger Heimat“. Der Heimatbegriff in systematisch-theologischen Kontexten und als Thema religionspädagogischer Bildungsforschung
Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein, Gregor Reimann und Michael Wermke | 145 Kommentar von Gisela Mettele | 161 Heimat „hören“ und „singen“. Musikforschung
Michael Chizzalli und Christiane Wiesenfeldt | 171
Topographien des Imaginären. Thesen zum Konzept der ‚Heimat‘ in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts
Anja Oesterhelt | 201 Kommentar von Andreas Schumann | 213 Konzeptionen von Heimat und Heimatlosigkeit in der deutschsprachigen Exilliteratur nach 1933
Gregor Streim | 219 Kommentar von Karsten Gäbler | 243 Autorinnen und Autoren | 249
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Kaum ein Thema findet derzeit mehr öffentliche Resonanz als die Frage nach Heimat. Schon vor der Flüchtlingsproblematik stand „Heimat“ angesichts der allgemeinen Globalisierungstendenzen und der Folgen des politisch-sozialen Umbruchs von 1989/90 auf der medialen Tagesordnung. Die Flüchtlingsströme aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten und die je unterschiedlichen politischen Reaktionsweisen heizten dann jedoch die Debatte um Heimat, Heimatverlust und Heimatlosigkeit erst richtig an. Gibt es ein Recht auf Heimat – oder gar ein „Grundrecht auf ein besseres Leben“, wie der ungarische Ministerpräsident Victor Orban zugespitzt und zugleich verneinend fragte.1 „Was ist eigentlich Heimat“, so der jüngste Buchtitel der Journalistin Renate Zöller, die mit Flüchtlingen, Exilanten und Auswanderern gesprochen hat und „die Annäherung an ein Gefühl“ verspricht.2 War nicht sogar „am Anfang [...] Heimat“, wie der in Buenos Aires geborene und in Deutschland lebende Feuilletonredakteur Eberhard Rathgeb sein neuestes Buch titelte, in dem er den individuellen, aber dennoch generali-
1
Vgl. etwa den entsprechenden Artikel „Kritik aus Ungarn“, In: FAZ vom 12. September 2015. Zum rechtswissenschaftlichen Rahmen des Rechts auf Heimat vgl. den Beitrag von Martina Haedrich im vorliegenden Band.
2
Zöller, Renate: Was ist eigentlich Heimat? Annäherung an ein Gefühl, Berlin 2015.
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sierbaren „Verschlingungen eines komplizierten Gefühls“ nachgeht.3 Auch in Architektur und Städtebau hat das Thema seinen Niederschlag gefunden: Auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig wird der deutsche Beitrag von Oliver Elser und Peter Cachola Schmal mit dem visionären Ausstellungskonzept antreten: „Making Heimat – Germany, Arrival Country“.4 Dabei geht es vor allem um Frage: „Wie gibt man Hunderttausenden, die größtenteils dableiben werden, nicht nur ein vorläufiges Dach über dem Kopf, sondern auch Räume, die sie in ihrer neuen Heimat tatsächlich ankommen lassen?“5 Und um noch ein letztes aktuelles Beispiel zu nennen: Die neueste Jahrestagung der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ (Mai 2016) steht unter dem Motto: „heimatlos/Verlust und Traumatisierung – Sehnsucht und Hoffnung“.6 Ausgehend von der Frage Jean Amérys „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“7 und von den spezifisch deutschen historischen Erfahrungen nach 1945 widmet sich die Tagung dem komplexen Problem von Heimatverlust, wobei es nicht nur um „Verlust einer ‚äußeren Heimat‘“ gehen soll, „sondern um die Entwicklung eines Sicherheitsgefühls, die Regulierung des seelischen Gleichgewichts, die Folgen schwerer Traumatisierungen und Defizite und um ihren Niederschlag in den menschlichen Beziehungen“.8 Dieser regelrechte „Hype um Heimat“, der beinahe täglich neue Ideen und neue Artikel hervorbringt, hat uns bewogen, das Thema wissenschaftlich und interdisziplinär zu beleuchten.
3
Rathgeb, Eberhard: Am Anfang war Heimat: auf den Spuren eines deutschen Gefühls, München 2016, Zit.: Inhaltstext.
4
Siehe den Artikel Ist Getto nicht doch gut? In: FAZ vom 12. März 2016, S. 11.
5
Ebd.
6
Vgl. die Webside der DPG unter URL: http://www.dpgpsa.de/News/jahresta gung-der-dpg-2016-stuttgart.html. Den Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Friedemann Schmoll.
7
Vgl. Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch?, In: Ders. (Hrsg.): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 74-101.
8
Siehe die Webside der DPG.
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HISTORISCH
Am Anfang steht die Frage nach dem Begriff von Heimat, einer deutschen Bezeichnung, die sich schon früh etwa im germanischen „haima“ findet. Überhaupt scheint „Heimat“ auf den ersten Blick ein spezifisch deutsches Problem zu sein, wie die oben genannten aktuellen Beispiele zeigen, die sich allesamt auf Deutschland beziehen. Es gibt keine begriffliche Entsprechung im romanischen Sprachraum. Im Italienischen bezeichnen „patria“ bzw. „paese“ nicht exakt das gleiche und auch das französische „le pays“ oder „le bercail“ stehen nicht allein für den Begriff und die Bedeutung von Heimat. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1877 wird das Wort definiert erstens als „patria, domicilium“, d.h. „das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat“; zweitens als „der geburtsort oder ständige wohnort“ und an dritter Stelle wird noch hinzugefügt: „Selbst das elterliche haus und besitzthum heiszt so, in Baiern.“9 Heimat bezeichnet ursprünglich also eine klar definierte und begrenzte Lebensumwelt. Walter Jens hat daran erinnert, dass „Heimat“ ursprünglich alles andere als idyllisch war: es war ein „nüchternes Wort“, es war „raue Wirklichkeit“ – die raue Wirklichkeit eines Bauernlebens im Ancien Régime.10 Dies ändert sich im 19. Jahrhundert grundlegend. Ausgehend vom Ende des 18. Jahrhunderts, als erste Auswanderungswellen Deutschland in Richtung Amerika verließen, und von der Romantik, als das Wort eine ungeahnte pathetische und mitunter pathologische Aufladung und Erweiterung erfuhr, umspannt die Geschichte des Begriffes Heimat die neuere deutsche Geschichte mit all ihren Höhen und Abgründen. Eine bislang noch unerledigte Aufgabe der deutschen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung bestünde in der umfassenden Aufarbeitung dieser Geschichte. Ein solches Vorhaben, das in einem dezidiert inter-
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Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, Abth. 2: H. I. J. [H. – Juzen], bearb. v. Moritz Heyne, Leipzig 1877. Interessant ist der Verweis auf Bayern, wo es auch heute als einzigem Bundesland ein Staatsministerium für Heimat gibt.
10 Jens, Walter: Nachdenken über Heimat. Fremde und Zuhause im Spiegel deutscher Poesie, In: Bienek, Horst: Heimat: neue Erkundungen eines alten Themas, München u.a. 1985, S.14-26; hier S. 14.
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disziplinären Kontext realisiert werden müsste, steht auch am Horizont des vorliegenden Bandes. Aus historischer Perspektive11 lassen sich – ganz grob vereinfacht – folgende vier zeitliche Phasen unterscheiden: 1. Eine erste Formatierungsphase umspannt die von Reinhard Koselleck sogenannte „Sattelzeit“ von ca. 1750 bis 1850 (wobei anzumerken ist, dass der Begriff „Heimat“ bezeichnenderweise in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ nicht erfasst ist12). In dieser Phase prägt sich der moderne Heimat-Begriff aus und es lässt sich bereits so etwas wie eine praxeologische Dimension – d.h. Heimat als politisch-soziale Bewegung – erkennen. Der moderne Heimatbegriff zeichnet sich vor allem durch drei Faktoren aus: Erstens durch eine Multidimensionalität, die sich laut Gerhard Handschuh in einer räumlichen, zeitlichen, sozialen und kulturellen Dimension niederschlägt.13 Zweitens ist das moderne Heimatverständnis zugleich auch ein reaktives Phänomen, d.h. es entsteht erst in Reaktion auf Modernisierungsund Transformationsumbrüche und auf die damit zusammenhängenden Verlusterfahrungen.14 Heimat ist nunmehr nichts mehr Natürliches, Vorge-
11 Vgl. hierzu u.a. Neumeyer, Michael: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens, Kiel 1992, S. 17-63; vgl. ferner Korfkamp, Jens: Die Erfindung der Heimat. Zu Geschichte, Gegenwart und politischen Implikaten einer gesellschaftlichen Konstruktion, Diss., Frankfurt/M./Berlin 2006, S. 27-81. 12 Vgl. Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, H-Me, Stuttgart 2004. 13 Handschuh, Gerhard: Brauchtum – Zwischen Veränderung und Tradition, In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 294/1), Bonn 1990, S. 635. 14 Vgl. Sebald, W.G.: „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001, hrsg. v. Torsten Hoffmann, Frankfurt/M. 2011, S. 225. Gespräch mit Doris Stoisser, 2011: „die Heimat oder das, was man als solches bezeichnet, ist sichtbar nur aus der Entfernung. Und deshalb gibt es diesen Begriff ja auch erst seit dem 19. Jahrhundert, also in diesem genaueren Sinn, in dem wir ihn heute verstehen. Heimat ist dann eine Art Schimäre, die man aus der großen Distanz sieht. Also, seit die Leute eben begonnen haben, zahlreich auszuwandern […] sahen sie dann von der anderen Seite des Ozeans nach Italien, nach Deutschland zurück. Und aus dieser Entfernung heraus, glaube ich, ergab sich diese Vorstellung von
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gebenes, gewissermaßen Gottgegebenes, in das man sich einfügt, sondern ein Reflexionsbegriff, der erst in Reaktion auf einen sozialen, wirtschaftlichen und/oder politischen Umbruch entsteht – einen Umbruch, den man mit Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelten“ bezeichnen könnte.15 Der Modernisierungsumbruch der Französischen Revolution und die reale Erfahrung dieses Umbruchs in Form des napoleonischen Imperiums stehen als Hintergrund dieses beginnenden Reflexionsprozesses. Daher könnte man als drittes Kennzeichen des modernen Heimatverständnisses das selbst-reflexive Moment nennen: Heimat als Reflexionsbegriff. Auch dies scheint bei aller Multidimensionalität in der Sache, die wir über die Zeiten hinweg bereits erkennen können, ein neues Moment zu sein: sowohl in der Vormoderne, d.h. der unmittelbaren Vormoderne der frühen Neuzeit16 als auch in der Antike fehlt noch das Reflektieren über die einzelnen Dimensionen und deren Zusammenhang. Alle drei Momente – Multidimensionalität, Reaktionsphänomen und Reflexionsbegriff – lassen sich in der Formatierungsphase von 1770 bis 1830/50 ausmachen. Heimat wird jetzt, das ist das Entscheidende, ein reaktives Phänomen: Mit den Umbrüchen im Gefolge der Französischen Revolution wird zum ersten Mal diese Rückzugsdimension thematisiert und es wird auch erstmals intensiv über Heimat nachgedacht. Die erste große „Gegenbewegung“, die Heimat zum Thema hat, ist natürlich die Romantik. Hier wird bewusst der als zu rational und gefühlskalt empfundene Umbruchsprozess in seiner Einseitigkeit hinterfragt und zugleich auf kleinere, überschaubare Einheiten aus dem unmittelbaren Lebensraum verwiesen. Heimat wird nun auch literarisch reflektiert, sie wird idyllisiert und poetisiert. Diese erste Formatierungsphase reicht in etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn man dann vor allem im Zuge der Auswanderung nach der 1848er-Revolution eine ganz „andere HeimatBewegung“ erkennen kann, die all dies schon verinnerlicht hat, was in der
Heimat. Also als etwas, was einem abhanden kommt oder kommen könnte, was einem abhanden gekommen ist.“ 15 Die „Kolonialisierung der Lebenswelten“ wird durch den unbarmherzigen Modernisierungsprozess ausgelöst und bedingt wiederum eine Reaktion der Betroffenen. Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 2
1997.
16 Vgl. hier den Beitrag von Friedemann Schmoll.
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ersten Phase erst herausgebildet wurde: wenn – kurzum – reflexive Idee und soziale Bewegung ineinander zu greifen beginnen. 2. Die zweite Phase ist die Phase eines regelrechten „Heimat-Hypes“: Gemeint ist die Heimat-Bewegung um 1900. Dies zeigt sich in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Hier haben wir z.B. die Heimatschutzbeweung oder die sogenannte Heimatschutzarchitektur, die zunehmend in nationalistisches und dann auch in völkisches, ja sogar militaristisches Fahrwasser gerät. Das gleiche gilt auch für den Naturschutz.17 Dies sind jetzt klar erkennbare sozialgeschichtliche Phänomene, die wiederum – das reaktive Moment bleibt das Entscheidende – eine Reaktion auf den grundstürzenden wirtschaftlichen Umbruchsprozess, den Industrialisierungsprozess als einen den gesamten Alltag betreffenden Modernisierungsprozess und seine vielfältigen sozialen Umbrüche und Verwerfungen darstellen. Die „Industriemoderne“ (sozusagen die zweite Moderne), die ab 1870 auch in Deutschland unwiderruflich eingetreten und erkennbar ist, führt zu Gegenbewegungen. Die Naturschutzbewegung oder die Heimatschutzbewegung sind eine zeitlich versetzte Reaktionsbewegung: Nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch politisch reagiert man auf die Zentralisierungsbestrebungen, die von Anfang an vom deutschen Kaiserreich wegen mangelnder Einheit ausgingen, und vor allem auf die weitergehenden Vereinheitlichungsbestrebungen des Wilhelminischen Kaiserreichs. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt bei der Reichspolitik und auch den gesellschaftlichen Eliten gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Man will den unterschiedlichen Partikularismen im Deutschen Reich begegnen (etwa den sozialen Gruppen, den Katholiken, den Juden, den Sozialdemokraten, usw.), um die Einheit zu stabilisieren. Und diese offenkundigen Zentralisierungstendenzen, diese erneute Kolonialisierung der jeweiligen Lebenswelten führt zu Gegenbewegungen. Hierhin gehören etwa die historistischen und zugleich heimatverbundenen Romane von Paul Schreckenbach.18 Die zweite große Heimat-Bewegung hängt auch mit dem Durchbruch des Historismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu-
17 Vgl. den Beitrag von Frank Hellwig in diesem Band. 18 Schreckenbach, Paul: Die Eiserne Jugend. Burschenschaftsroman aus Jena, Leipzig 1921; Ders.: Um die Wartburg. Roman aus dem Mittelalter, Berlin 2009 (Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1912).
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sammen.19 Und sie ist wie der Historismus nicht nur rückwärtsgewandt und konservativ, sondern bewahrt auch einen rationalen, geradezu aufklärerischen Kern. Friedrich Nietzsche hat dies – wie so oft – früh erkannt und treffend in Worte gefasst in einem seiner schönsten Gedichten: „Vereinsamt“ bzw. „Abschied“ aus dem Jahre 1884.20 Der Text beschreibt den Verlust der Heimat in einer zunehmend raueren und rationaleren Welt, womit auch der Verlust von Freiheit verbunden ist. Nietzsche bindet Heimat damit ganz modern an den individuellen Freiheitsgedanken und beschreibt keine irrationale Idyllisierung, sondern eher einen selbstverschuldeten Verlust: „Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat! Nun stehst du starr, Schaust rückwärts, ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt entflohn? Die Welt - ein Tor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt.
19 Zum Historismus jetzt in vergleichender Perspektive: Ottner, Christine/Ries, Klaus (Hrsg.): Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Ideen-Akteure-Institutionen, Stuttgart 2014. 20 Nietzsche, Friedrich: „Abschied“ [„Vereinsamt“], In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 11. Nachgelassene Fragmente 1884-1885, 2. durchgeseh. Aufl., München u.a. 1988, S. 329. Es handelt sich hierbei um den ersten Teil eines zweiteiligen Dialog- bzw. Rollengedichts mit dem Gesamttitel „der Freigeist“. Der Text wurde 1894 zuerst unter dem Titel „Vereinsamt“, gekürzt um die „Antwort“, veröffentlicht und wurde in der Überlieferung in dieser Form vielfach nachgedruckt und kanonisiert.
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Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg, Vogel, schnarr Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! Versteck, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, Weh dem, der keine Heimat hat!“
Ob „Wandervogelbewegung“, „Naturfreunde“, „Heimatschutzbewegung“ oder „Heimatschutzarchitektur“: es sind im Grunde allesamt Fluchtbewegungen, die eine Idyllisierung der Lebenswelt betreiben und einen irrationalen Kern beinhalten und mithin den „Kult des Irrationalen“ (wie Theodor Mommsen dies einmal genannt hat) beschwören.21 Man müsste also fragen, inwieweit die Heimatbewegung um 1900 tatsächlich ausschließlich Motor der – wie es Max Weber nannte – neuerlichen ‚Verzauberung der Welt‘darstellte oder ob ihr nicht auch ein rationaler Kern innewohnt (wie bei dem Nietzsche-Gedicht mit dem Verweis auf den selbst herbeigeführten Freiheitsverlust des Individuums deutlich wird). 3. Die dritte Phase ist natürlich – vor allem in Deutschland, aber durch den allgemeinen Ausgriff allenthalben spürbar – die Zeit des Nationalsozialismus. Hier zeigt sich zweierlei: zum einen der Höhepunkt einer radikalisierten Heimat-Bewegung (wo man durchaus eine Kontinuität zur völkischen Heimat-Bewegung um 1900 ziehen kann), die jetzt zudem noch rassistisch und biologistisch begründet wird und staatslegitimatorische Funktion übernimmt (Blut und Boden, Rasse, Biologie werden jetzt an Heimat
21 Im Kult des Irrationalen, der allenthalben um die Jahrhundertwende (um 1900) erkennbar ist, glaubte bekanntlich Max Weber einen, wenn nicht den Hauptgegner, seines Verständnisses von der Moderne als einer „entzauberten Welt“ erkennen zu können.
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gebunden und Heimat ist jetzt dieser Staat selbst). Andererseits entsteht sehr rasch eine massive Fluchtbewegung (erneut ein reaktives Moment), die nunmehr ein neues Heimatverständnis oder neue Reflektionen über Heimat mit sich bringt, nämlich „Heimat im Exil“22, das Heimatverständnis der Exilanten, der Thomas Mann, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, Herrmann-Neiße, u.a. Dieses neuartige Reflektieren über Heimat (kann man eine neue Heimat im Ausland, in der Fremde finden?) ist das Produkt eines mindestens hundert Jahre alten, vielleicht um 1830/40 im Vormärz einsetzenden Reflektionsprozesses, in welchem Heimat als metaphysische Größe diskutiert wurde. 4. Die vierte und letzte Phase ist die Zeit nach dem II. Weltkrieg. Hier müsste man gerade was Deutschland betrifft die BRD und die DDR strikt unterscheiden. Ein Staat, der nicht zur Nation (DDR) wurde, entdeckt die Heimat gewissermaßen als Nationsersatz, um so wiederum eine Legitimation für den Staat aufzubauen.23 Auch in der frühen Bundesrepublik lässt sich dies in ähnlicher Weise beobachten: solange die nationale Identifikation noch nicht hergestellt ist (gerade nach den singulären Verbrechen des Nationalsozialismus), solange dient auch hier die Heimat als Nationsersatz – eine Heimat, die an kultur-nationale Identifikationsmuster gebunden wird. Was die BRD betrifft, kann man unterschiedliche Schübe erkennen: a) Die neue Heimatbewegung beginnt recht früh schon in den 1950er Jahren durch die Heimatvertriebenenproblematik und den Bund der Vertriebenen. Hier findet wieder eine ganz andere Reflektion über „Heimat im Exil“ und auch „Heimat in Deutschland“ statt: Wo ist die Heimat – in den deutschen Ostgebieten, in Schlesien, in Siebenbürgen oder doch in Deutschland? Jährlich wird hier ein „Gedenktag der Heimat“ begangen, eine „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ entworfen, usw.24 Dies ist
22 Vgl. den Beitrag von Gregor Streim in diesem Band. 23 Vgl. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München, 1979, S. 12. 24 Vgl. Fremde Heimat – Das Schicksal der Vertrieben nach 1945, ein Film von Henning
Burk
und
Erika
Fehsen
(2013),
In:
Youtube.de,
URL:
https://www.youtube.com/watch?v=TrCDA6y_W6M (aufgerufen am 18. April 2016); vgl. Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2009; vgl. Pommerscher Kreis- und Städtetag (Hrsg.): Die pommerschen Heimatkreise 1945-1995. 50 Jahre Arbeit für Pommern, Lübeck 1998; vgl. Tag der Heimat, In: tagesschau.de, URL:
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eine konservativ aufgeladene (auch von Linken stark bekämpfte) HeimatBewegung. b) Daneben und danach gibt es aber zweitens in den 1960er/70er Jahren eine neuerliche, nunmehr auch von Linken inszenierte, positiv assoziierte Heimat-Bewegung in der Naturschutz- und dann Grünen-Bewegung und Politik. Hier lässt sich gleichermaßen eine Kontinuität mit Blick auf die Zeit um 1900 erkennen, wo diese alternativen Lebenskonzepte (Stadtflucht etc.) ebenfalls vorhanden waren, nunmehr jedoch – nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und dessen Heimat-Instrumentalisierung – ganz anders akzentuiert werden. Man kann vielleicht sagen, dass auch der Hype der ersten Heimat-Filmtrilogie von Edgar Reitz noch in jene junge Bewegung fällt, wenn diese in den Filmen auch nicht unkritisch gesehen wird, so handelt es sich insgesamt doch um eine durchweg positive Rezeption mit erstaunlicher öffentlicher Wirkung: wenn man so will, eine affirmative 'demokratische' Heimatbewegung. Hierhin gehört schließlich auch die bis heute anhaltende Diskussion um „Beheimatung“25, worin auch die Diskussion um Migration und um Asylpolitik impliziert ist. Auch hier findet sich ein demokratisches, positives Heimatverständnis. c) Seit den 1990er Jahren erleben wir eine dritte Phase. Wir sind heute stärker denn je mit den Ambivalenzen des Heimatverständnisses durch die Globalisierung und ihren Vereinheitlichungstendenzen konfrontiert. In gewisser Weise, aber in einem ganz anderen kulturhistorischen Kontext, sind die heutigen westlichen Gesellschaften, ähnlich wie die vom Sog der Französischen Revolution erfassten Gesellschaften des ausgehenden Ancien Régime, stark unifizierenden und zentralisierenden Kräften ausgesetzt, die nunmehr globale Ausmaße und Auswirkungen haben. Der (post-)moderne Mensch bzw. der Mensch der ‚dritten Moderne‘ ist mehr denn je der Kon-
https://www.tagesschau.de/inland/bund-der-vertriebenen-fluechtlinge-101.html (aufgerufen am 18. April 2016); vgl. Vertriebene gedenken ihrer Heimat, In: Lausitzer Rundschau vom 21. September 2015, URL: http://www.lronline.de/regionen/hoyerswerda/Vertriebene-gedenken-ihrer-Heimat;art1060,51 75795 (aufgerufen am 18. April 2016); vgl. Würdiges Gedenken zum Tag der Heimat, In: Leverkusen, URL: http://www.leverkusen.com/presse/db/presse. php?view=00032658 (aufgerufen am 18. April 2016); vgl. Zayas, Alfred M. de: Heimatrecht ist Menschenrecht, München 2001. 25 Vgl. den Beitrag von Martina Haedrich in diesem Band.
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tingenz, der Beschleunigung und der Diskontinuität seiner Lebenswelten ausgesetzt.26 In diesem Zusammenhang können sich im Begriff „Heimat“ zum Teil sehr heterogene Bewältigungsstrategien artikulieren. Einerseits kann Heimat immer noch als Weltflucht verstanden werden, aber als eine Flucht ohne Ziel, ein bloßer Rückzug in eine innere und äußere Emigration. Andererseits taucht „Heimat“ mit Rückbezug auf die NS-Vergangenheit und unter expliziter Bezugnahme auf den Begriff „Heimatschutz“ im Diskurs rechtspopulistischer und rechtsradikaler Gruppierungen auf. Die derzeitige Flüchtlingsdebatte ist ein Zeugnis für die Ambivalenz des HeimatDiskurses, nicht zuletzt in Deutschland, wo die Heimat-Problematik in den vergangenen 25 Jahren eine besondere Dringlichkeit erhalten hat. Denn auch der deutsche Einigungsprozess impliziert eine nicht unproblematische Rekonfiguration des Heimatverständnisses. 1990 und dann immer stärker in den Folgejahren bestand für viele DDR-Bürger das geradezu paradoxe Gefühl einer spezifischen Heimatlosigkeit in der eigenen Heimat. In einem berühmten Gedicht schrieb Volker Braun: „Mein Land geht in den Westen“.27 Umgekehrt ging aber auch der Westen in sein Land und veränderte es gänzlich.
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Heute erleben wir eine Renaissance des Heimatgefühls und mithin eine vielfältige literarisch-publizistische, wissenschaftliche, juristische, naturwissenschaftliche etc. Auseinandersetzung mit Heimat: eine Vielfalt von „Heimat-Diskursen“, die womöglich gemeinsamen Konstanten gehorchen. Man kann dies ironisch quittieren – als eine Art von Rückkehr der verdrängten biedermeierlichen Gemütlichkeit, als Rückzugsgestus, als verinnerlichte Form von Konservatismus. Als citoyens und Wissenschaftler müssen wir dieses Phänomen hinterfragen, ergründen und historisch perspektivieren. Es ist zu fragen, ob sich im heutigen Verständnis von Heimat
26 Vgl. den Beitrag von Friedemann Schmoll; vgl. ferner Rosa, Hartmut: Beschleunigung: die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005; sowie Ders.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt/M. 2016. 27 Braun, Volker: Das Eigentum, in: Die Zeit vom 10. August 1990.
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in Deutschland eine gesamteuropäische bzw. weltweit gestellte Frage abbildet: die Frage nämlich nach der Gestaltung und Verortung von Lebensformen im global village. „Heimat“ könnte mit anderen Worten die besondere Konstellation des modernen globalisierten Menschen im Spannungsverhältnis zwischen Welt und Um- bzw. „Nahwelt“ bezeichnen. Heimat erscheint heute nicht mehr so eindeutig zuschreibbar wie noch vor hundert Jahren. Die „Heimatbewegung“ in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat als dezidiert anti-moderne Bewegung in Erscheinung: Sie wandte sich gegen die Urbanisierung, gegen die Industrialisierung und gegen die Rationalisierung der Lebenswelten. Heimat wurde emotionalisiert, aber auch für politisch-ideologische Zwecke dienstbar gemacht: als Projektionsfläche für eine nationale Identitätsfindung, als idyllische Verklärung des deutschen (Sonder-)Wegs hin zu einer heilen Volksgemeinschaft. Die Nation avancierte zur Heimat. Heute ist Heimat hingegen längst nicht mehr jenes konservativ-reaktionäre Phänomen, das vom Nationalsozialismus relativ problemlos vereinnahmt werden konnte. Es ist weder ‚rechts‘ noch ‚links‘ zuzuordnen. Heimat ist die zutiefst emotionale Verbundenheit des Individuums mit einer Umgebung, die infolge dramatischer politischer und/oder gesellschaftlicher Entwicklungen zwangsweise verlassen werden muss und die als Gedächtnissubstrat das Hineinleben in die neue Umgebung maßgeblich beeinflusst. Heimat ist aber auch das, worauf sich diejenigen berufen, die auf diese Prozesse mit mehr oder minder bewusster Angst, Ablehnung bzw. mit Abschottungsphantasien reagieren, um darin Zuflucht vor der Entgrenzung und der Entfremdung ihrer Lebenswelt zu suchen. Diesen HeimatVorstellungen, die mehr oder weniger eng mit der Idee des Ursprungs- und Geburtsorts als einer historisch gewachsenen „Nahwelt“ verwandt sind, steht ein auf den ersten Blick ganz anderes, ja entgegengesetztes Verständnis des menschlichen In-der-Welt-Seins gegenüber. Gemeint ist die sogenannte globalisierte Welt als „global village“. Dieser neuartige Lebensraum, in dem die Grenzen – seien sie politischer, finanzieller oder kommunikationstechnischer Natur – aufgehoben zu sein scheinen, vermittelt die Illusion einer globalen und total durchlässigen Gemeinschaft, ja vielleicht sogar Heimat. Die Medien sind allerdings sowohl für die Strukturierung als auch für den Erhalt dieses Raums unverzichtbar, denn das global village existiert primär als medialer Raum und generiert erst als solcher Zugehörigkeitsgefühle. Man kann insofern fragen, ob die Medien der Globalisie-
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rung (Internet, social networks etc.) nicht dieselben Bedürfnisse nach Geborgenheit und „Heimat“ bedienen, die sie implizit für obsolet erklären. In den modernen Gesellschaften treffen unterschiedliche, zum Teil unvereinbare Heimat-Konzeptionen bzw. Heimat-Konstrukte aufeinander – Konstrukte, die womöglich auch zu unterschiedlichen „Zeitschichten“ gehören. Deutschland liefert ein Paradebeispiel, welches als exemplarisch für die gegenwärtige Situation in anderen europäischen Ländern (wie etwa Italien oder Frankreich) gelten kann. Als verhältnismäßig „junges“ Einwanderungsland muss die Bundesrepublik ihr Selbstverständnis überdenken und sich Fragen der kulturellen bzw. nationalen Identität stellen. Die Bildung von Parallelgesellschaften, die man womöglich als (problematische) Heimatkonstruktionen deuten könnte, stellt den modernen Rechtsstaat vor neue Herausforderungen. Gegenwärtig sieht sich Deutschland mit einem Zufluss von Menschen konfrontiert, die ihre Heimat zwangsweise verlassen und eine neue Heimat suchen. Dieses Phänomen hat Erinnerungen an Flucht und Vertreibung nach 1945 wieder erwachen lassen: Mitten in der globalisierten Post-Moderne, mitten in der medialisierten, postnationalen Welt wird man an die Konkretheit von urtümlichen Verlusterfahrungen erinnert. Hinter Facebook und Starbucks gibt es doch noch konkrete Heimaterfahrungen, die durch Flucht und Vertreibung in grundlegend existentielle Nöte umschlagen können. Die Flüchtlingsfrage spült Heimat-Konzeptionen an die Oberfläche des Bewusstseins und des politischen Diskurses, die unsere modernen Gesellschaften meist überwunden wähnten – überwunden weil transformiert: sublimiert und ästhetisiert im Medium des Films, der Literatur, der Musik und der Massenmedien (Fernsehen, Zeitschriften, Ratgeber etc.). Es wird uns bewusst, dass es verschiedene Heimatentwürfe gibt, die konkurrieren, die miteinander korrelieren, die sich aber auch gegenseitig ausschließen können: So muss der Heimatbegriff der Flüchtlinge nicht unbedingt kompatibel sein mit der landläufigen Vorstellung von „Heimat“. Die Wahlplakate der NPD schließen die Vorstellung des global village aus; sie lassen sich aber auch nicht mit der post-industriellen Heimatsehnsucht vereinbaren, die in den neuen deutschen Heimatromanen oder in den vielen Garten- und Naturzeitschriften artikuliert wird.
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Der Heimat-Begriff ist im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts mehrfach manipuliert, verbrämt, seines Sinnes entleert, dekonstruiert und schließlich neu erfunden worden. Um sich dem Heimat-Komplex zu nähern, empfiehlt es sich, sich nicht nur auf eine interdisziplinäre, sondern auch auf eine inter- bzw. transkulturelle Ebene zu begeben. Es ist zu fragen, ob Heimat „nur“ ein deutsches Wort und eine deutsche bzw. deutsch-deutsche Frage ist. Handelt es sich etwa um eine „anthropologische Konstante“28, die je unterschiedlich in Zeit und Raum artikuliert wird? Kann man Heimat außerhalb des deutschen Sprachraums denken und benennen? Trotz des oben erwähnten Fehlens einer genauen begrifflichen Entsprechung steht die Heimat-Frage bzw. die Heimat-Problematik beispielsweise im romanischen Sprachraum spätestens seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts im Zentrum literarischer, philosophischer und politischer Debatten (es sei auf französischer Seite auf nunmehr klassische Autoren wie Maurice Barrès, François Mauriac, Louis Guilloux, Maurice Genevoix, Jean Giono und Henri Bosco, ferner auf die zeitgenössischen Werke von Jean-Christophe Bailly, Pierre Michon und Pierre Bergounioux verwiesen; auf italienischer Seite müssten vornehmlich Schriftsteller aus der Romagna, wie etwa Bacchelli und Pasolini bzw. aus dem Veneto, wie Piovene, Parise und Meneghello, in Betracht gezogen werden). Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat die Frage gar eine politische Brisanz erhalten, wie die separatistischen Bewegungen in Norditalien, in der Bretagne, im Baskenland, in Katalonien etc. bezeugen. Heimat ist aber auch im „postkolonialen Raum“ ein Thema, beispielsweise in den französischen, spanischen und englischen Antillen, wo die Aufarbeitung der kolonialen Herrschaft sich kreuzt mit der Aufarbeitung der Verschleppung aus der ursprünglichen afrikanischen „Heimat“.29
28 So Frühwald, Wolfgang: Heimat ist mehr als ein Ort. „Heimat“ und „Fremde“ in Literatur, Geistesgeschichte und Gegenwart, In: Forschung & Lehre, Nr. 2, 2011, S. 96-98. 29 Vgl. Césaire, Aimé: Cahier d'un retour au pays natal; préface de André Breton, Paris 1947; Édition définitive, préface de Petar Guberina, Paris 1956.
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Z UM
VORLIEGENDEN
B AND
Heimat ist heutzutage somit ein komplexes und multifunktionales Konstrukt geworden, das der globalisierten Moderne strukturell inhärent ist. Was ist Heimat? Dieser für die modernen Gesellschaften entscheidenden Frage möchte der vorliegende Band in einer ersten diachronen, synchronen und transdisziplinären Spurensuche nachgehen. Der Band geht zurück auf einen Workshop an der Friedrich-Schiller-Universität Jena vom 7. und 8. November 2014. Mit dem Treffen wollten wir einerseits Prozesse beschreiben und historisch einordnen – ohne sie zu werten, d.h. ohne dem einen oder dem anderen Prozess das „Label“ des „modernen“ aufdrücken zu wollen. Hinter dem Wort „Heimat“ – wenn dieses Wort ausdrücklich benutzt wird – oder hinter benachbarten Formulierungen (zumal in anderen Sprachen, die dieses Wort nicht kennen und keine genaue Entsprechung dafür haben) verbergen sich lebensweltiche Wirklichkeitsbezirke, die in der Zeit von diskursiven (gesellschaftlichen) Prozessen erfasst und dadurch verändert evtl. missbraucht und manipuliert werden. Mit dem Workshop wollten wir andererseits aktuelle Befindlichkeiten und konkrete Lebenswelten erfassen und auf diese Weise (Denk-)Aufgaben für Gegenwart und Zukunft entwerfen. Ein Ausgangspunkt des Workshops war die Frage des Verhältnisses zwischen Ort und Diskurs. Die Beiträge und die daraus hervorgegangenen Diskussionen, haben es ermöglicht, einen breiten historischen Rahmen zu überblicken und somit die Fragestellung zu perspektivieren. Bereits in der römischen Antike (wie der Beitrag von Meinolf Vielberg zeigt) werden zwei unterschiedliche Begriffe entwickelt, die beide anhand des Wortes patria bezeichnet werden: eine „Nahwelt“ bzw. einen Ursprungsort (die patria naturae) und ein abstrakter juristischer und politischer Begriff (die patria civitatis od. patria juris). Damit kommt in das Denken bzw. Nachdenken über Heimat von Beginn an eine Differenzierung zwischen einem Konkreten und einem Abstrakten – zwischen einem Individuellen und einem Kollektiven bzw. Gesellschaftlichen. Analog dazu bedingt die durch den Beitrag von Michael Wermke eingebrachte theologische Perspektive eine Verklammerung von irdischer und ewiger Heimat, wobei zwischen dem Alten Testament, in dem ein eschatologisches Heimat-Verständnis fehlt, und dem Neuen Testament differenziert werden muss.
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Diese Differenzierung findet man immer wieder in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit und der Neuzeit, der unsere besondere Aufmerksamkeit galt. Nur mit anderen Gewichtungen, mit unterschiedlichen Akzentverschiebungen und v.a. in anderen Konstellationen. Es hat sich dabei bestätigt, was mittlerweile in der Forschung – sowohl in der geschichtswissenschaftlichen als auch in der volkskundlichen und anthropologischen – Konsens ist: dass nämlich im Laufe des 18. Jahrhunderts und verstärkt in der sogenannten Sattelzeit eine Rekonfiguration des Verhältnisses zwischen patria naturae und patria civitatis, zwischen der heimatlichen Nahwelt und der abstrakten Staatsform eines wie auch immer gestalteten Vaterlandes erfolgt. Aus dem Nebeneinander beider Begriffe wird ein Spannungsverhältnis. Beide Begriffe – und der eine heißt mittlerweile, im Deutschen, „Heimat“ – treten in Konkurrenz. Der Heimat-Begriff wird nicht nur – wie bislang – emotional, sondern auch entschieden ideologisch aufgeladen: es wird ein Gegenentwurf zum Vaterland, zur staatlichen Ordnung der Lebenswelt. Nur verliert er dabei seine ursprüngliche ausschließliche Ortsgebundenheit, seine ursprüngliche ausschließliche Konkretheit und Individualisierung. Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass in der Moderne zeitweilig – z.B. unmittelbar nach 1945 – das Verhältnis zwischen dem nahweltlichen Heimatbegriff und dem politischen sich umkehrt: Nun ist Heimat ein Abstraktum, Vaterland ein Konkretum. Heimat wird – nach einem Wort von Bernhard Schlink – zu einer Utopie30: Es scheint nur in der Abwesenheit und in der Imagination (in der Literatur) stattfinden zu können. In Edgar Reitz‘ letztem Film Die andere Heimat ist das durch die Buchlektüren imaginierte Brasilien die eigentliche (ersehnte) Heimat der Hauptfigur Jakob Simon.31 In den letzten Jahrzehnten hat sich diese für die Nachkriegszeit typische Konfiguration im Zuge der Globalisierung, aber auch der allmählichen EntTabuisierung der Vertreibungsproblematik (gerade in Deutschland) erneut verändert. Heimat scheint erneut verortet, sie scheint erneut „verortbar“ zu sein. Nach der De-Realisierung der unmittelbaren Nachkriegszeit erleben wir nunmehr eine Art „Re-Realisiserung“ von Heimat. Nur wird die hei-
30 Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie, Frankfurt/M. 2000. 31 Reitz, Edgar: Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht, ERF EDGAR REITZ FILMPRODUKTIONS GMBH München, LES FILMS DU LOSANGE Paris, ARTE FRANCE CINEMA, 2013.
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matliche Nahwelt anders artikuliert als in der römischen Antike oder in der frühen Neuzeit: nicht in der unmittelbaren Lebensumwelt des Dorfs oder der Region, sondern auf der Ebene der Welt und der Umwelt, der Natur und des Ökosystems.32 Die Definition von Heimat ist an einer sensiblen Nahtstelle zwischen geisteswissenschaftlichem bzw. sozialwissenschaftlichem und naturwissenschaftlichem Diskurs angesiedelt: sie berührt die Geschichtswissenschaft, die Volkskunde, die Literaturwissenschaft, die Rechtswissenschaft, die Soziologie, die Sozial- und Kulturgeographie und die Botanik. Eine Schwierigkeit dieser Frage liegt dabei darin, dass man stets vor eine Alternative gestellt wird oder gestellt zu sein meint: die Alternative zwischen Phänomen und Diskurs, zwischen phänomenologisch-empirischer Forschung und semantischer Analyse. Die Herausforderung liegt vermutlich gerade darin, den phänomenologisch-empirischen Ansatz mit dem semantischdiskursiven zu verklammern. Mit dem vorliegenden Band möchten wir uns nicht zuletzt dieser methodischen Herausforderung aus einer dezidiert interdisziplinärer Perspektive stellen.
32 Vgl. den Beitrag von Frank Hellwig.
Orte und Zeiten, Innenwelten, Aussenwelten Konjunkturen und Reprisen des Heimatlichen F RIEDEMANN S CHMOLL
Das Reden über Heimat ist einerseits verknüpft mit der zeitlosen anthropologischen Herausforderung, eine unwirtliche Welt in ein menschliches Zuhause, eine für Menschen verlässlich bewohnbare Welt zu verwandeln. Andererseits freilich handelt es sich um ein Wortgeschöpf, das erst unter den spezifischen Bedingungen der Sesshaftigkeit Plausibilität zu entfalten vermochte und erst in der frühen Neuzeit Eingang in den deutschen Sprachgebrauch fand. Mit der Bezugnahme auf Heimat werden stets Ein- und Ausgrenzungen vollzogen; es erfolgt beständig die Festschreibung einer Polarität von Heimat (als vertrauter, überschaubarer und verstandener Welt des Eigenen) und der Fremde als unvertraute, unverstandene Welt der Anderen. Nach einer zunächst eher engeren und funktionellen Verwendung (als Haus, Anwesen, Besitz, Heimatrecht) erfuhr der Heimatbegriff vor allem in der Entfaltung der Industriemoderne Bedeutungsaufladungen als eine von Emotionalität getragene Bindung an Orte (Nahwelt), Zeiten (Herkunft) und Menschen (Gemeinschaft). Seither erweist er sich für unterschiedliche Interessenlagen verfügbar, um Bedürfnisse nach Bindung, Zugehörigkeit, Herkunftsgewissheit und Zukunftsvertrauen, Anerkennung, die Verlässlichkeit sozialer Beziehungen oder intakten Beziehungen zwischen Mensch und Natur zu thematisieren. In der Entfaltung der Moderne, also beschleunigten
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historischen Prozessen und Erfahrungen eines umfassenden „Vertrautheitsschwundes“ sowie des Verlusts an „Herkunftsgewissheit“,1 weist das Reden über Heimat kompensatorische Funktionen auf. Wenn die Lebensbedingungen in modernen Gesellschaften dem Individuum zunehmend Erfahrungen zweckhafter und funktioneller Lebenszusammenhänge vermittelten, des Zerfalls sozialer Gemeinschaften, von Anonymität und undurchschaubarer Komplexität, versprach umgekehrt die idealisierte Ausschnittwelt Heimat Zugehörigkeit und Einbindung in ein intaktes und verlässliches Netz sozialer Beziehungen und die Verständlichkeit überschaubarer Ordnungen. Heimat erschien hierbei als organische, gleichsam naturhafte Einheit von sozialer Gemeinschaft, natürlicher Umwelt und historischer Herkunft. Das Reden über Heimat lieferte so ein Versprechen auf die identitätsverbürgenden Dimensionen des Raumes und zog strikte Grenzen zwischen dem vertrauten Heimatraum und einem vagen, feindlichen Außen. Die Emotionalität von Heimat erwies sich gleichermaßen verfügbar für emanzipatorische wie konservative Interessen und ließ sich als Mobilisierungsressource aktivieren für jedwelche Kollektive des Lokalen, Regionalen oder Nationalen. Der Begriff der Heimat scheint seine geistige Heimat in agrarischen Gesellschaften zu haben und entfaltete dann allerdings die Vielfalt seiner Bedeutungen und Qualitäten erst in der Auseinandersetzung mit Wirklichkeiten der modernen, industriegesellschaftlichen Welt. Hat er damit im globalen Zeitalter zunehmender Mobilität und Flexibilität, der „Nicht-Orte“2 und eines neuen Nomadismus an Aktualität und Sinnstiftungspotenzial verloren? So jedenfalls suggeriert Peter Sloterdijk: „Darum gehört auch das deutsche Wort ‚Heimat‘ zu einem Zeichen-Reservoir, dessen Hauptgeltungszeit offenkundig vorüber ist: zum Leitvokabular des agrarischen Weltalters, mitsamt seiner Politik und Metaphysik.“3 Wie plausibel sind die vielfach angestimmten Reden vom Verschwinden des Raumes? Wie ist das
1
Lübbe, Hermann: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, London 1982, S. 18.
2
Augé, Marc: Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt 1994.
3
Sloterdijk, Peter: Der gesprengte Behälter. Notiz über die Krise des Heimatbegriffs in der globalisierten Welt, in: SPIEGEL Spezial 06/1999, S. 24-29, hier S. 24.
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im Zeitalter der Globalisierung mit der Bedeutung von Orten und Räumen als Möglichkeit menschlicher Beheimatung? Was wären mögliche Folgen eines Endes stabiler Verbindungen von Ort und Selbst, Szenarien eines „Selbst ohne Ort“ bzw. eines „Orts ohne Selbst“, wie sie Peter Sloterdijk skizzierte?4 Auch wenn die Rede grenzenloser Mobilität anderes suggerieren möchte, bleibt festzuhalten: Wir können nicht überall leben und wohnen, sondern immer nur an ganz konkreten Orten. So ist weiterhin zu fragen: Wie sollte es denn künftig um diese bestellt sein? Wie sollt sie beschaffen sein, um darin zu leben, zu arbeiten, zu lieben und zu sterben? Welche Orientierungen und Stimuli kann die vielfach vorbelastete Frage nach Heimat in diesen Zusammenhängen geben?
A MBIVALENZEN : G EMÜTLICHKEIT UND B ARBAREI , H UMANISIERUNGSVERSPRECHEN UND V ERNICHTUNGSOBSESSIONEN Das Reden und Denken über Heimat will nach einer jahrhundertelangen Gebrauchsgeschichte des Wortes mit all seinen Bedeutungsverschiebungen, Akzentuierungen und Neuaufladungen nicht aussterben. Schon dieser Befund erscheint bemerkenswert, sei doch nur an sein Ideologiepotenzial als Abwehr- und Abschottungsformel gegen alles irgendwie Fremde und Kosmopolite in den völkischen Bewegungen und im Nationalsozialismus erinnert, an die entfalteten Destruktionsenergien, mit denen unter Berufung auf Heimat das Eigene und Vertraute mit konsequentester Brutalität gegen etwaig Fremdes und deshalb Bedrohliches verteidigt werden sollte. Immer wieder kippten die Versprechen der „Identitätsfabrik“ Heimat5 ins Xenophobe, sodass sich durch und durch Ambivalentes – Glück und Verbrechen, Humanisierung und Barbarei, Regression und Zukunftsentwurf – an dieses eigentümlich schillernde Wort anlagerte. Diese Ambivalenzen verweisen auf die Frage, wie Imaginationen des Heimatlichen nicht immer auch als Nachtseite, als Kehrseite, das Verbrechen, die Bereitschaft zu rücksichtlo-
4
Sloterdijk: Der gesprengte Behälter, S. 26.
5
Köstlin, Konrad: „Heimat“ als Identitätsfabrik, In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 99 (1996), S. 312-338.
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sem Exzess in sich tragen – das Unheimliche als verdrängter Anteil des Heimisch-Vertrauten.6 Die Ambivalenzen waren beständig präsent: Ungestilltes Heimweh und Heimatlosigkeit, die barbarische Gewalt zu entfesseln vermochten; nur vordergründig Nicht-Zusammengehörendes kennzeichnet die beiden Seiten einer deutschen Heimat-Geschichte. Dabei scheint das Reden über Heimat stets einer reaktiven Logik zu folgen, als Thematisierung einer untergegangenen, womöglich so nie dagewesenen, aber immer heilen Welt. Darunter mengt sich auch einfach nur Banales und Borniertes, weshalb Heimat denn auch regelmäßig unter „Senilitätsverdacht“7 gestellt werden konnte – für Martin Walser anno 1968 jedenfalls ganz schlicht „das schönste Wort für Zurückgebliebenheit“,8 eine folkloristische Kulissenwelt aus Melkschemeln, Gamsbärten, Trachten und anderen rural-bodenständigen Requisiten einer vormodernen Welt, die sehr viel verständlicher erschien als eine komplexe, undurchschaubare Moderne. Kurzum: Heimat war vielfach verfügbar – als „Kompensationsraum Heimat“9 für die Verlusterfahrungen im Zuge gesellschaftlichen Wandels, als Sedativum und Schutzraum, um ein Unbehagen an der Industriemoderne erträglicher zu gestalten, Kampfparole, Rückzugsort. Stets waren dabei heimatliche Räume und Sphären durch Geschlossenheit und Homogenität, nicht durch Heterogenität und Differenz gekennzeichnet. Die Herausforderungen beim Reden über Heimat scheinen indes darin zu liegen, dass dieses allen Dekonstruktionsabsichten und ideologiekritischen Auseinandersetzungen zum Trotz nicht verstummen will. Gleich einem hartnäckigen Wiedergänger nimmt die Rede über Heimat in regelmäßigen Konjunkturen und Reprisen Sehnsüchte und Bedürfnisse auf und entfaltet aufs Neue Plausibilität, um vagierende Bedürfnisse nach Vertrautheit,
6
Freud, Sigmund: Das Unheimliche, In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919), S. 297-324; für die Heimatforschung produktiv gemacht vgl. z. B. Jeggle, Utz (Hrsg.): Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen. Eine Heimatkunde, Tübingen 1988.
7
Bausinger, Hermann: Heimat und Globalisierung, In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, LV/104 (2001), S. 121-135, hier S. 122.
8
Walser, Martin: Heimatkunde, In Ders.: Heimatkunde. Aufsätze und Reden, Frankfurt/M. 1968, S. 40-50, hier S. 40.
9
Bausinger, Hermann: Chamäleon Heimat – eine feste Beziehung im Wandel, In: Schwäbische Heimat, Jg. 2009, Heft 4, S. 396-401, hier S. 396.
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verlässlichen gemeinschaftlichen Bindungen, Wiedererkennung des Inneren im Äußeren, Herkunftsgewissheit und Zukunftsvertrauen, Zugehörigkeit, Geborgenheit, sinnlicher Welterfahrung, lebensweltlicher Konkretheit, Selbstbestimmung, intakten Beziehungen zwischen Mensch und Natur etc. auf eine Formel zu bekommen, die offenkundig ohne dieses Wörtchen Heimat nicht auszukommen scheint.10 Die jahrhundertelange Benutzung des Begriffs zeigt im Falle von Heimat (eben nicht in vermeintlicher Kontinuität, sondern gerade im Wandel unterschiedlicher Bedeutungen vom konkreten und handfesten Rechtsort hin zur Gemüts- und Innerlichkeitskategorie) , dass mit dieser Suchbewegung nach Heimat immer wieder Bedürfnisse transportiert und offene Fragen thematisierbar werden konnten, die so auch Jean Améry mit seiner aus existenziellen Exilerfahrungen der im Zustand der Heimatlosigkeit erzeugten Entfremdung heraus vorgetragenen Frage aufgriff: „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“11 Dem Begriff ist eine vielsagende Unschärfe eigen und deshalb eine erstaunliche Verfügbarkeit für unterschiedliche Interessenslagen und eine vielschichtige Bedeutungsoffenheit einzuräumen. Dabei wandelt sich beides: das, was als Heimat selbst dingfest gemacht wird, sowie die Bedeutungen, die ihr zugewiesen werden. Diese bestimmte Unbestimmtheit und assoziative Offenheit stellt zwar die Brauchbarkeit als präzise analytische Kategorie in Zweifel, erzeugt aber gerade deshalb eine bemerkenswerte Persistenz in Prozessen und Diskursen der gesellschaftlichen Selbstverständigung.12 Die Gründe hierfür scheinen zum einen in anthropologischen Dimensionen zu liegen, zum anderen in der lebensweltlichen Konkretheit, sind doch die konstitutiven Bedeutungselemente in der Regel geknüpft an die Unmittelbarkeit alltäglicher Erfahrungsräume und das Nahfeld sozialer Beziehungsgeflechte. Das, was mit Heimat jeweils gemeint ist, folgt weitgehend der Unterscheidung Edmund Husserls in Fremd- und
10 Gebhardt, Gunter/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007. 11 Améry, Jean: Wie viel Heimat braucht der Mensch?, in Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1966, S. 71-100. 12 Bausinger, Hermann: Heimat in der offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, in Kelter, Jochen (Hrsg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Weingarten 1986, S. 89-115.
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Heimwelt, wobei Letztere eben die „Welt der All-Zugänglichkeit [...] weitreichende Grundschicht des Normalen, des Allverständlichen in Verharren und Wandel (alltäglich normale Umwelt, alltägliches Menschentum, ‚Durschnittsmenschlichkeit‘)“ umfasst. 13 Der Mensch ist von Natur aus nirgendwo und überall zuhause. Hieraus resultiert eine anthropologische Dimension von Heimat. Im Unterschied zu anderen Lebewesen steht der Mensch von Natur aus in disharmonischer Beziehung zur Welt. Während Tiere aufgrund ihrer Organ- und Instinktausstattung an spezifische Umwelten gefesselt und in diese eingepasst sind, ist der Mensch nirgendwo zuhause. Diese biologische Uneindeutigkeit und „exzentrische Positionalität“14 (Helmuth Plessner) verwandeln sich allerdings von einem vermeintlichen Nachteil in einen Vorteil durch den Status der Weltoffenheit. Nicht der Mensch passt sich der vorgefundenen Welt an, sondern umgekehrt: Er passt diese als Kulturwesen seinen Bedürfnissen an und verwandelt dabei handelnd eine für ihn unwirtliche Welt in sein Zuhause. Beheimatung stellt sich also als eine Aufgabe der Weltaneignung, die dem Wesen Mensch im Sinne einer Produktion und Gestaltung einer stabilen Umwelt, als spezifischer Modus des In-der-Welt-Seins immer und überall gestellt ist. Sie umfasst die Erzeugung von Stabilität, Verhaltensund Orientierungssicherheit durch die Ausbildung verlässlicher soziokultureller Institutionen. Die Aufgabe der Beheimatung umfasst auch die Synchronisation natürlicher und soziokultureller Prozesse, den Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft. Sie zielt notwendigerweise auf die Etablierung räumlicher Ständigkeit und zeitlicher Stetigkeit in der Schaffung und Sicherung zivilisierter, befreundeter Räume.15
13 Husserl, Edmund: Heimwelt als Welt der All-Zugänglichkeit. Fremdheit als Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit (Schluchsee, 10. September 1933), In: Husserliana. Bd.15, Den Haag 1973, S. 627-631, hier S. 629. 14 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die Philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975. 15 Vgl. Greverus, Ina Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt/M. 1972.
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M ENSCHEN , O RTE , Z EITEN – B EZÜGE UND B INDUNGEN Im Folgenden soll nun stichwortartig den Rhythmen des Redens und Denkens über Heimat mit der Intention nachgegangen werden, die Geschichte dieses vieldeutigen Begriffs im Groben zu rekonstruieren und Fragen an seine Aktualität zu stellen. Tragende Überlegung dabei: Jenseits aller Unbestimmtheit und der Varietät jeweiliger Konnotationen sind es doch spezifische Merkmale und Möglichkeiten, die ihn für immer neue Aufladungen und Aktualisierungen prädestinieren. Maßgeblich als Identitätsressourcen sind dabei nicht die einzelnen Aspekte und Akzentuierungen, sondern die Qualitäten der Verbundenheit mit ihnen: •
Die räumliche Perspektive (Haus, Dorf, Stadtteil, Region, Landschaft): Das Reden über Heimat zeichnet sich aus durch räumliche Konkretheit, lebensweltliche Unmittelbarkeit, Ortsbestimmtheit und Unverwechselbarkeit alltäglich erfahrbaren Nah-Welten. Es eröffnet die Möglichkeit, innere Einstellungen mit äußeren Verhältnissen, innere und äußere Räume in Korrespondenz miteinander zu setzen und hieraus Fragen nach der Gestaltung menschlicher Lebensräume zu entwickeln: Wie soll die Welt beschaffen sein, in der Menschen leben?16
•
Die zeitliche Dimension: Heimat verknüpft Fragen der Herkunft (Tradition) mit solchen der Zukunft (Heimat als Utopie eines unentfremdeten Daseins)17 und besitzt dadurch gleichermaßen regressive wie progressive Potenziale.
16 Treinen, Heiner: Symbolische Ortsbezogenheit, Eine soziologische Untersuchung zum Heimat-Problem, In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17 (1965), S. 73-97; S. 254-297. 17 Der letzte Satz in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung: „Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3, Frankfurt/M. 1973, S. 1628. Vgl. auch Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie, Frankfurt/M. 2000.
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•
Heimat ermöglicht die Thematisierung eines sozialen MiteinanderSeins und zielt dabei primär auf zweckfreie, von Vertrautheit und Verlässlichkeit geprägte soziale Nahbeziehungen in einer überschaubaren Ausschnittwelt.
•
Kulturelle Aspekte – Identitäten: Heimat bezieht sich nicht nur auf einen Ort, sondern auch auf ein geistiges Zuhause in einer als vertraut erfahrenen Sprache, Kultur oder Lebensweise.
•
Natur und Gesellschaft: Heimat eröffnet eine Klammer, welche Wirklichkeit nicht auseinander dividiert in Menschengemachtes und außermenschliche Wirklichkeit und ermöglicht dadurch die Thematisierung von Fragen nach den Beziehungsmöglichkeiten zwischen Mensch und Natur.18
•
Heimat suggeriert das Versprechen einer Gewissheit und Selbstverständlichkeit verlässlicher räumlicher, sozialer und zeitlicher Bindungen, die nicht hinterfragt oder legitimiert werden müssen, weil sie im Rahmen primärer Sozialisationsprozesse entstanden sind und damit gesetzt scheinen. Heimat bedarf keiner Erklärungen, Begründungen und Legitimationen, wie es das Herder zugeschriebene Bestseller-Zitat unterstreicht als Ort, an dem „man sich nicht erklären“ müsse, weil man sich hier eben verstanden weiß. Oder mundartlich bairisch ganz schlicht: „Dahoam is dahoam!“
Stets geht es beim Reden über Heimat also um spezifische Qualitäten und Intensitäten von Bindungen – Bindungen an konkrete Orte und Räume (Geburts- und Kindheitsheimat, Region, Landschaften etc.,) soziale Bindungen an Menschen und Gruppen (Lebensweltliche Nähe, Familie, Ver-
18 Vgl. Piechocki, Reinhard/Wiersbinski, Norbert (Bearb.): Heimat und Naturschutz. Die Vilmer Thesen und ihre Kritiker (= Naturschutz und Biologische Vielfalt, Heft 47), Bonn 2007; Ott, Konrad: „Heimat“-Argumente als Naturschutzbegründungen in Vergangenheit und Gegenwart. In: Deutscher Rat für Heimatpflege (Hrsg.): Landschaft und Heimat, Meckenheim 2005, S. 24-32; Schmoll, Friedemann: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M. 2004.
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trautheit, Anerkennung), an Sprache (Werte, Ideen, Weltbilder, geistiges Zuhause) oder Bindungen an historische Herkunft (Abstammung). Und diesen Bindungsqualitäten ermöglichen, so das Heimat-Versprechen, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Herkunftsgewissheit und Zukunftsvertrauen, Anerkennung, Verlässlichkeit sozialer Beziehungen oder die Erfahrung intakter Beziehungen zwischen Mensch und Natur.
V ERLUST UND W IEDERGEWINNUNG , R HYTHMEN UND K ONJUNKTUREN : K OMPENSATION UND K ONTINGENZBEWÄLTIGUNG Das Denken und Reden über Heimat korrespondiert stets mit Erfahrungen des Wandels, die als Verlust Bearbeitung erfahren oder es reagiert auf Komplexitätsüberforderungen und präsentiert sich insofern als Strategie der Kontingenzbewältigung. Wiewohl die Bedeutungsoffenheit von Heimat ein Symptom der Moderne darstellt,19 wie überhaupt das beschwörende Reden über Heimat sich als Reflex auf umfassende Prozesse der Enttraditionalisierung erweist, ist auch der vormoderne Gebrauch des Wortes durch Mehrdeutigkeit gekennzeichnet. Das mittelhochdeutsche „heimõt“ leitet sich von dem „Heim“ her; „Heimat“ etablierte sich in der deutschen Schriftsprache seit dem 15. Jahrhundert.20 Es fungierte als sachliche und verortende Bezeichnung für das Heim, den (väterlichen) Besitz, Anwesen, Hof, den Wohnort, das Erbe („der Älteste erhält die Heimat“), später als Synonym für Patria, Vaterland, oder auch frühneuzeitlich als religiöse Metapher im Sinne der ewigen, der himmlischen Heimat. Zunächst also ist Heimat an
19 Vgl. z. B. Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010. 20 Detaillierter vgl. u.a. Grimm, Jakob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 10, München 1984, Sp. 864 ff.; Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 19. Aufl., neu bearbeitet von Walther Mitzka, Berlin 1963, S. 299; Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen 1995, S. 20-23.
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Besitz gebunden – Heimat „hat“ man, wodurch gleichermaßen Exklusivität und Anspruch angelegt sind. Heimat ist in diesem vormodernen Kontext geknüpft an die Idee und Lebensweise der Sesshaftigkeit in agrarischen Gesellschaften und Kulturen. Sie grenzt ein und aus; mit dem Reden von Heimat erfolgen Grenzziehungen: Festgeschrieben wird hier bereits die Polarität von Heimat als das Eigene gegenüber dem Fremden. So folgte denn auch das durch Geburt, Heirat oder Aufnahme in eine Gemeinde erworbene, seit dem 16. Jahrhundert vor allem in Süddeutschland gebräuchliche vormoderne Heimatrecht dem Sesshaftigkeitsideal einer vormodernen statischen Gesellschaft und fungierte bis ins 19. Jahrhundert als soziales Sicherungssystem. Allerdings: Dieses exklusive Privileg basierte auf Exklusion, weil es als Recht eben nur jenen eingeräumt wurde, die aufgrund ihres materiellen Besitzes auch den daran geknüpften Verpflichtungen nachkommen konnten. Das Ideal der Sesshaftigkeit konnte in vormodernen Gesellschaften Mitteleuropas also nur durch die erzwungene Mobilität der Heimatlosen realisiert werden. Jenseits des funktionellen (aber deshalb natürlich keinesfalls zwangsläufig sentimentfreien) Gebrauches als Geburtsort, Haus und Hof sowie als Rechtsort finden sich hier, in der fragilen Verlässlichkeit räumlicher und sozialer Bindungen, die Bedingungen für die baldige Emotionalisierung von Heimat und die Pathologisierung ihrer Nicht-Existenz. Symptomatisch hierfür steht in der Schwellenphase der Frühen Neuzeit die Geschichte des Heimwehs als Leiden, nicht dort sein zu können, wo man sich zuhause wähnt und hinzugehören glaubt – eben in der Heimat.21 Ent-Ortung als Entfremdung, das trifft just jene soziale Gruppen, für die es in einer an ihre Grenzen gekommene traditionale Gesellschaft keinen verbindlichen Platz (mehr) zu geben scheint und die die heimatlichen Horizonte aus Not hinter sich lassen müssen: Schweizer Soldaten, Gesinde, Tagelöhner, Auswanderer, Vaganten, Bettler, Dienstmädchen... Hier, in der Krisenlage der ländlichen Gesellschaften, erfolgt die Thematisierung von Heimatlichem in Reaktion auf erzwungene Mobilität und Migration, die als Verlust erfahren und bearbeitet werden. In der Geschichte des europäischen Heimwehs präsentiert sich dieses Gefühl in unterschiedlichsten Erscheinungsformen und Spielarten – als todbringende Krankheit, auf die sich die Medizin keinen
21 Vgl. Bunke, Simon: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg 2009.
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eingängigen Reim zu machen vermochte und die auf alle Fälle in einer ungesunden Erfahrung der Fremde zu wurzeln schien, als romantische Sehnsucht, alsbald als harmlos kitschiges Sentiment und unversehens als Humus brutaler Gewalt. In jedem Fall: Die todbringende Krankheit „Heimweh“ erscheint als Leiden an einer ungewollten Fremde. Diese Fremde bleibt deshalb abweisend und verschlossen, weil sie nie erlernt wurde und deshalb immer nur auf das beschränkte Eigene zurückweist. Wenn die Bindung an das Eigene zur Fessel wird, dann entfaltet sich das Unheimliche – als Affekt der Unsicherheit und Angst: fehlende Souveränität gegenüber Unvertrautem sucht Entladung in Gewalt – in den dann von der Forensik des 19. Jahrhunderts vielbeachteten Verbrechen Brandstiftung oder Kindsmord, wie sie aus Heimweh von jungen, instabilen Dienstmädchen und heranwachsenden Männern begangen wurden.22 Aus dieser pathogenen Fixierung erwächst das tödliche Zusammenspiel aus Heimweh und Verbrechen – je unversöhnlicher die fremde Außenwelt mit einer unfreien Innenwelt kontrastiert, desto radikaler der Drang sie wieder in eins zu setzen. Mit allen Mitteln. Mit den Übergängen zur Industriemoderne war der soziale Sinn des Heimatrechts an ein historisches Ende gekommen. Die Gesellschaften der Moderne benötigten Menschen in Bewegung, räumlich mobil und innerlich flexibel, sodass das Heimatrecht in deutschen Staaten im 19. Jahrhundert im Zuge der Freizügigkeitsbemühungen nach und nach abgeschafft wurde. Erst die Freisetzung des Heimatbegriffes aus seinen rechtlichen und sozialen Funktionen schuf im 19. Jahrhundert die Voraussetzungen für das Überschreiben des Begriffes und für die Modellierung eines modernen, zunehmend von Emotionalität getragenen Heimatverständnisses, das Heimat nun immer stärker als Gegenwelt entwarf. Ging es zuvor primär um äußere und formale Regelungen von Bindungen, standen nun sehr viel stärker innere, seelische Bindungen im Mittelpunkt, die auch in einem modernen Heimatverständnis nachhaltig wirksam blieben: „Ich weiß, ich weiß“, so lässt Siegried Lenz den Helden seines Romans „Heimatmuseum“, Zygmunt
22 Jaspers, Karl: Heimweh und Verbrechen. Mit Essays von Elisabeth Bronfen und Christine Pozsár, Heidelberg 1996 (Univ.-Diss. Leipzig 1909); Schmoll, Friedemann: Von der todbringenden Krankheit zum Sentiment. Eine kleine Geschichte des Heimwehs aus aktuellem Anlass, In: Schwäbische Heimat, Jg. 2016/Heft 1, S. 5-12.
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Rogalla, sagen, „Heimat, das ist der Ort, wo sich der Blick von selbst nässt, wo das Gemüt zu brüten beginnt, wo Sprache durch ungenaues Gefühl ersetzt werden darf [...].“23 Die Sehnsucht nach Heimat wird gespeist durch eine Haltung der Distanz: Je dynamischer sich der gesellschaftliche Wandel und der Umbau der äußeren Wirklichkeit gestalteten, desto vehementer wurde als Reaktion auf die Absenz von Vertrautheit und Identitätsverunsicherungen die imaginäre Heimat still gestellt und als statische Kleinwelt gezeichnet – als ländliche Idylle, vermeintlicher Ort sozialer Harmonie, als intakte Gegenwelt, „Spazierwelt“ und „Besänftigungslandschaft“.24 Seit der Romantik erscheint Heimat zunehmend als Gegenentwurf zu den negativen Folgen und Begleiterscheinungen äußerer und innerer Modernisierungsprozesse, wird konturiert als bürgerliche Wunsch- und Traumwelt, die Fluchtmöglichkeiten aus den Zumutungen des modernen Lebens aufzeigt: Wo dieses zunehmend geprägt wird von Funktionalität, dem Zerfall sozialer Gemeinschaften, überschaubaren Ordnungen, von Anonymität und Komplexität, verspricht Heimat umgekehrt Zugehörigkeit, Wärme, Einbindung in ein intaktes und verlässliches Netz sozialer Beziehungen und naturhafte Ordnungen. Heimat erschien hierbei als organische, gleichsam naturhafte Einheit von Gemeinschaft, natürlicher Umwelt und historischer Herkunft. Es ist dies eine Welt, die im Reinen mit sich schien und in der vom Individuum eine Übereinstimmung mit sich und der Welt erfahren werden durfte. Heimat bildete in einer chaotischen, komplexen und undurchschaubaren Welt der Moderne einen Ausschnitt, der Übersichtlichkeit, Einheitlichkeit und Geschlossenheit suggeriert. Erst die Erfahrungen von Schwund und Verlust lieferten die Stimuli zur Kreation von Heimat-Bildern. Das Reden über Heimat erweist sich in der Entfaltung der Industriemoderne somit als Krisen- und Entfremdungssymptom in Zeiten beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, der Brüche und Zäsuren, als Reflex auf Enttraditionalisierungsprozesse und als Ersatz für misslingende Emanzipation, im deutschen Fall als Antwort auf politische Zentralisierungsprozesse und Hegemonialisierungstendenzen des spezifisch
23 Lenz, Siegfried: Heimatmuseum, Hamburg 1978, S. 119 f. 24 Bausinger: Heimat in der offenen Gesellschaft, S. 96.
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deutschen nation-building.25 Aus diesen Dynamiken formierten sich die allfälligen Bewegungen, ästhetischen und stilistischen Tendenzen, die Heimat in programmatischer Absicht als Appendix aufnahmen: Heimatliteratur,26 Heimatmuseen, Heimatbewegungen, Heimatkunde, Heimatstil, Heimatschutz, Heimatpflege, Heimatkunst, Heimatfilm... Die Heimaten, die hier thematisiert wurden, waren stets ländliche, traditional verfasste Räume – äußerlich und innerlich geschlossene, harmonische Lebenszusammenhänge, die als Gegenwelten zu einer undurchschaubaren Moderne aufgebaut wurden. Die Träger und Akteure der Bewegungen entstammten jedoch mehrheitlich einem städtischen Bildungsbürgertum, das sich gegen das rücksichtslose Hinwegsetzen der Moderne über alles Vorgefundene (Tradition, Natur, Landschaft....) formierte. Die positive Hinwendung zur ländlichen und traditionalen Heimat implizierte gleichzeitig meist Großstadtfeindschaft und mindestens Skepsis gegenüber der Moderne. Die bewahrende Zuwendung zur Heimat (sammeln, bewahren, schützen) wurde von dem Bewusstsein getragen, in einer epochalen Wendezeit zu leben; in den Gegenwartsdiagnosen und historischen Selbstverortungen der Heimatbewegungen spielte das Motiv des radikalen Bruchs ihrer Zeit mit aller Vergangenheit eine tragende Rolle, wie der Aufruf zur Gründung des Bundes Heimatschutz unterstrich: „Ja, die Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges haben nicht so verheerend gewirkt, so gründlich in Stadt und Land mit dem Erbe der Vergangenheit aufgeräumt, wie die Übergriffe des modernen Lebens mit seiner rücksichtslos einseitigen Verfolgung praktischer Zwecke.“27 Die Gegenrezeptur tönte zunächst simpel: „Jeder Mensch sollte lernen
25 Ditt, Karl: Die deutsche Heimatbewegung 1871-1945, In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 294/1) Bonn 1990, S. 135-154; Applegate, Celia: A nation of provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990. 26 Vgl. z. B. Schumann, Andreas: Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914, Köln 2002. 27 Flugblatt Aufruf zur Gründung eines Bundes Heimatschutz, o.O. u. o.J. (1903/04).
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sich irgendwo zu Hause zu fühlen.“28 In dieser schlichten, 1880 vorgetragenen Forderung des Heimatschutz-Nestors Ernst Rudorff nach Beheimatung der „Entwurzelten“ artikulierten sich Bedürfnisse, über die sich die Moderne offenbar rücksichtslos hinwegzusetzen schien: Geborgenheit, Zugehörigkeit, Harmonie, Überschaubarkeit, Sicherheit und Stabilität. In diesem Sinne gewann die Rede von Heimat nicht als präziser Begriff Bedeutung, sondern als vages und assoziationsgesättigtes Gegenkonzept, das die Zumutungen, Destruktionspotenziale und unverarbeiteten Begleiterscheinungen des modernen Lebens thematisierte: Entfremdungserfahrungen, Anonymität, Funktionalität, den Triumph technischer Zivilisation gegen eine idealistische Kultur, den Zerfall traditionaler Sozialstrukturen sowie die mit Hilfe von Wissenschaft und Technik möglich gewordene Kontrolle und Unterwerfung der Natur. Heimat als emotionale Bindung erschien variabel verfügbar für unterschiedliche Ausschnitte und Einheiten wie Dorf, Landschaft, Region, Volk, Staat, Nation etc. Wiewohl die deutschen Heimatbewegungen zunächst auch als regionale Reflexe auf die Verreichlichungstendenzen im Zuge der Nationalstaatsgründung von 1871 reagierten, denen sie die Eigenständigkeit partikularer Einheiten wie Stamm und Region gegenüber stellten, sollte sich die Bezugnahme auf Heimat besonders nach dem Ersten Weltkrieg als mühelos transformierbar erweisen für ethnopolitische Projekte unter dem Programm der deutschen „Volksgemeinschaft“.29 Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Bewegung des Heimatschutzes durchaus drängende Fragen der Zeit aufgegriffen und auch die Frage nach der Natur als eine Schlüsselfrage moderner Gesellschaften thematisiert. Sie hatte den Fortschrittsoptimismus konterkariert mit den Destruktionspotenzialen moderner Industriezivilisation, auf die Folgen einer Ökonomisierung und Rationalisierung der Natur verwiesen, die im Zeitalter von Wissenschaft, Technik und Industrie historisch ungeahnte Dimensionen erreichten, und sich – so der Tenor der zeitdiagnostischen Beschreibungen – offenbar rücksichtslos über alles Vorgefundene in Natur und Kultur hinwegzusetzen
28 Rudorff, Ernst: Ueber das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur, In: Preussische Jahrbücher 45 (1880), S. 261-277, hier S. 272. 29 Oberkrome, Willi: „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in WestfalenLippe und Thüringen (1900 – 1960), Paderborn 2004.
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schienen. Jedenfalls avancierte der Faktor Mensch zu einer unvergleichlich prägenden Einflussgröße für die Naturverhältnisse, wie dies aus vormodernen Gesellschaften nicht vertraut war. Diese historisch neuen Erfahrungen ließen sich auch mit der Frage nach „Heimat“ zunächst legitim und rational thematisieren: Wie sollte die Welt beschaffen sein? Wäre ein Primat der Natur nicht höher zu bemessen als jener der Ökonomie? Gab es Grenzen in der menschlichen Naturbeherrschung und Naturausbeutung, die dank moderner Technik und Wissenschaften ins Grenzenlose gesteigert werden konnten? Spätestens nach den Nationalisierungsschüben der traumatisch erfahrenen Weltkriegsniederlage von 1918 war die allmähliche Mutation einer Bewegung, die sich dem Anliegen des Bewahrens und Schutz des Lebendigen verschrieben hatte, zur Erfüllungsgehilfin einer Ideologie der Vernichtung unübersehbar – da vollzog sich in der Zwischenkriegszeit im Reden und Denken über Heimat ein konsequentes Hinübergleiten von Grün nach Braun.30 Der Schutz deutscher Landschaft und Wildnis komplettierte jedenfalls alsbald allerbestens den Schollenkult, die Heimattümelei und den Bauernkult der NS-Ideologie. Nicht erst im Nationalsozialismus, aber nun als radikalisierte Variante erfuhr Heimat eine obsessive Aufladung als eine biologistisch begründete Abwehr-, Reinheits- und Gleichartigkeitsideologie. Über die Kategorie der „Eigenart“ oder des „Heimischen“ konnte Heimatliches gegen eine feindliche und bedrohliche Welt der Nivellierung und Standardisierung in Stellung gebracht werden. Das Anliegen des Bewahrens des Eigenen mutierte jetzt zur Ideologie und Praxis der Vernichtung der Anderen. Die über „Blut und Boden“- Zugehörigkeiten ausgeschlossenen Fremden, das waren diejenigen, die nicht „eingewurzelt“ schienen, vor allem die „heimatlosen“ Juden, denen Bindungs- und Verantwortungsfähigkeit für den Boden abgesprochen wurde.31 Gerade im Nationalsozialismus offenbarte sich die kom-
30 Bausinger, Hermann: Zwischen Grün und Braun. Volkstumsideologie und Heimatpflege nach dem Ersten Weltkrieg, In: Cancik, Hubert (Hrsg.): Religionsund Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 215-229. 31 Schmoll, Friedemann: Die Verteidigung organischer Ordnungen. Naturschutz und Antisemitismus zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, In: Radkau, Joachim/Uekötter, Frank (Hrsg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2003, S. 169-182.
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pensierende Funktion von Heimatideologien in ihrer ganzen Ambivalenz: Neben dem Versprechen auf den sicheren Rückzugsraum Heimat und hinter deren Kulissen wurden eine expansionistische Politik der Großraumplanung, Zentralisierung und eine entgrenzende technologische Modernisierung betrieben. Historisch mutierte in der deutschen Geschichte die Vorstellung der gegen Uniformierung und Nivellierung zu behauptenden Eigenart im 20. Jahrhunderts zur Überhöhung des Art-Eigenen. Eine Integrationsidee mutierte damit zur Ausgrenzungs- und Vernichtungsideologie: „Was das nationale Deutschland will, das will und wollte schon immer der Heimatschutz in seinem Teil: Unser Eigenleben verteidigen und erhalten, der internationalen Farblosigkeit, der rein technisch-wirtschaftlichen Lebensauffassung, dem Amerikanismus, entgegenwirken, der Entwurzelung [entgegen]steuern und die Entwurzelten wieder in den Heimatboden pflanzen, also dem Menschen zu einer neuen, bewussten Verbindung mit der Heimat und ihren Gütern verhelfen. Steht doch die deutsche Kultur auf dem Spiel, und die städtische Gleichmacherei drohte die wertvollsten und heiligsten Dinge zu verschlingen, die einem Volk allein die Kraft gaben, sich selbst treu zu bleiben und in Zukunft zu bestehen.“32 Gemütlichkeit und Brutalität – zwei Seiten einer deutschen HeimatMedaille. Nach dem Nationalsozialismus erschien dieser nicht etwa als gesteigerte Variante antimodernistischer Abwehrideologien, sondern in der Spätblüte der Kulturkritik der zwischen Fortschrittseuphorie und Rückwärtsbesinnung unentschiedenen 1950er-Jahre der BRD als konsequente Fortführung instrumenteller Zweckrationalität und modernen „Menschenmassentums“. Somit mussten der erneute Bezug auf heimatliche Geborgenheit und die Kontinuität eines auf Gemeinschaft zielenden HeimatBegriffes nur plausibel und legitim erscheinen.33 Nach der Erfahrung von Flucht und Vertreibung in den inneren und äußeren Trümmerzuständen der Nachkriegszeit und den Erfahrungen von über zwölf Millionen deutscher
32 Schwenkel, Hans: Heimatschutz im nationalen Deutschland, In: Mein Heimatland. Badische Blätter für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Denkmalund Heimatschutz 20 (1933), S. 227-242, hier S. 230 f. 33 Vgl. Knoch, Habbo (Hrsg.): Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001.
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Heimatvertriebener versprach Heimat erneut Aufgehobensein und Geborgenheit in einer undurchschaubaren Welt.34 Und natürlich: Heimat erschien als die verlorene Heimat in der Geschichte der Heimatvertriebenen, in der die Konsequenzen von Nationalsozialismus und Weltkrieg unfreiwillige Fortsetzung fanden, unkomfortabel für die Nachfolgegesellschaften, weil ihr Schicksal beidseits des Eisernen Vorhangs nicht so geschmeidig in dominante Geschichtsbilder zu integrieren war und die politische Rhetorik ihrer professionellen Verbände so ungebrochen zu tönen schien.35 Heimat ist hier die Erinnerung an einen verlorenen Ort der Geburt und Herkunft, der zwangsweise und unrechtmäßig verlassen werden musste.36 Demgegenüber wurde in der DDR der Heimatbegriff mehrfach in Stellung gebracht – zum einen ideologiekritisch im Rahmen der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, zum anderen in Absetzung gegen einen so diagnostizierten chauvinistisch Revanchismus des Westens – gegen die ostentativ in Anführung gesetzten „Heimatvertriebenen“, welche „Heimatgefühle für politisch-reaktionäre Ziele [...] mißbrauchen und in nationalistische Anmaßung, Völkerhaß und Chauvinismus [...] verwandeln.“37 Absetzung also gegen bürgerlich-nationale Traditionsstränge zum einen und Aneignung und Anschluss zum anderen: In diesem Sinne erfolgte in den integrationsideologisch motivierten Bemühungen um einen sozialistischen Heimatbegriff die emotionale Mobilisierung durch die Transformation heimatlicher Gefühlswerte auf den sozialistischen Staat. Hierbei unterschied sich denn auch dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ der Heimatbegriff grundsätzlich kaum, wenn etwa auch das „Kulturpolitische Wörterbuch“ in der DDR die an primäre Sozialisationserfahrungen geknüpfte essenzielle Prägekraft von Heimat herausstrich und diese definierte als „territoriale
34 Neben diesen Renovationstendenzen in nationalem Horizont sind nach 1945 auch die in universalistischer Absicht forcierten völkerrechtlichen Diskussionen um ein „Recht auf Heimat“ festzuhalten. 35 Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M. 2000. 36 Vgl. Fendl, Elisabeth (Hrsg.): Zur Ikonographie des Heimwehs. Erinnerungskultur von Heimatvertriebenen, Freiburg 2002; Beer, Mathias (Hrsg.): Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010. 37 Artikel Heimat, In: Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin 21978, S. 263.
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Einheit des natürlichen, sozialen und kulturellen à Milieus, in dem der Mensch seine erste wesentliche Persönlichkeitsprägung erfährt; im engeren Sinn die Landschaft und Siedlungsform (Dorf oder Stadt bzw. Stadtbezirk, in der die Jugend verlebt wird, der Mensch zum gesellschaftlichen Individuum heranwächst und seine ersten gemeinschaftlichen Bindungen (Kameradschaft, Freundschaft, Liebe) eingeht.“38 Heimat blieb indes in der BRD kein Monopol des politischen Konservativismus, sondern fand sich nach der Fortschritts-, Planungs- und Machbarkeitswelle der Wirtschaftswunderjahre als Sinnstiftungsvokabel neuer sozialer Bewegungen wieder. Sinn stiftete sie etwa bei den Protestbewegungen, die sich im emanzipatorischen Engagement gegen politische Zentralisierung, Bürokratisierung, Umweltzerstörung und technologische Großprojekte die Forderung nach Regionalisierung, Dezentralisierung und Transparenz politischer Entscheidungsprozesse auf die Fahnen schrieben.39 Thematisiert wurde hier Heimat als Ort aktiver Weltaneignung und menschlich gestalteter Umwelt, die Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstbestimmung ermöglicht. Zur Funktionsgeschichte moderner Heimat-Thematisierungen zählt indes genauso die von der Kulturindustrie produzierte und gelieferte Kulissen-Heimat – als Kitschroman, Schlager oder Heimatfilm. Auch hier fungieren Heimat-Botschaften als Sedativum und lösen Widersprüche in konsumierbaren Bildern heiler Welt und Kitschidyllen auf. Die Anziehungskraft der Heimatfilme der 1950er-Jahre wäre ohne vorangegangene NSDiktatur und Weltkriegserfahrungen nicht plausibel.40
38 Ebd. 39 Vgl. Bredow, Wilfried von/Foltin, Hans-Friedrich: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls, Berlin 1981. 40 Bahlinger, Dieter/Kaschuba Wolfgang u.a. (Hrsg.): Der deutsche Heimatfilm. Bildwelten und Weltbilder. Bilder, Texte und Analysen zu 70 Jahren deutscher Filmgeschichte, Tübingen 1989.
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Z UR A KTUALITÄT : H EIMATLOSIGKEIT , Z UGEHÖRIGKEITEN , B EHEIMATUNG
UNGEKLÄRTE
So sind Heimatkonjunkturen in immer ähnlichen Verlaufsformen, aber mit immer wieder neuen Qualitäten zu konstatieren; das Unzeitgemäße, das Heimat anzuhaften scheint, erweist sich als durchaus zeitgemäß. Seit dem Zerfall der politischen Machtblöcke nach 1989 sind es die technologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Prozesse der Globalisierung, die ein intensiveres Nachdenken über Heimat – über das Verhältnis von Lokalem und Globalem, Vielfalt und Homogenität, Eigen-Sinn und Differenz, Herkunft und Zugehörigkeit – stimulieren und eine Heimat-Renaissance in unterschiedlichsten Erscheinungsformen befördern.41 Erneut sind es Erfahrungen der räumlichen Mobilität und zeitlichen Beschleunigung, die nicht nur als Befreiung, sondern auch als Zwang erfahren werden, durch die Heimat in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse gerückt wird. Auch die aktuellen Heimat-Konjunkturen sind durch die geläufigen Ambivalenzen gekennzeichnet. In den gesellschaftlichen Problemlagen wachsenden Migrationsdrucks, steigenden Anforderungen an innere und äußere Mobilität, der Pluralisierung von Lebensformen, des Abhandenkommens von Normalitäten und Selbstverständlichkeiten sind gegenläufige Strömungen des Öffnens und Schließens zu konstatieren – hie Verteidigung des Vertrauten und Eigenen als Abschottungsreflex, da Beheimatung als Partizipation- und Humanisierungsversprechen an die Unbehausten und Heimatlosen. Wie ehedem sind Bezugnahmen auf unterschiedlichsten Ebenen zwischen verspielter Harmlosigkeit, folkloristischem Feierabendeskapismus, Ansprüchen auf Selbstbestimmung und Anerkennung sowie entfesselter xenophober Brutalität möglich. So sind die Schauplätze von Heimat-Reden vielfältig. Heimat fungiert als mentaler Geschmacksverstärker und als Retusche, um die Widersprüche zwischen Konsumtionsbedürfnissen von Verbrauchern und Verhältnissen der Agrar- und Lebensmittelindustrie aufzulösen. Je rigoroser ländliche
41 Vgl. ausführlicher Hüppauf/Bernd: Heimat – die Wiederkehr eines verpönten Worts. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung, In: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 109-140.
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Räume als instrumentelle Produktionsräume optimiert werden,42 desto vehementer produzieren Werbung und Bewusstseinsindustrie just die gegenteiligen Landschaftsbilder: kitschige Hübschbilder der trivialen „Landlust“Ästhetik oder folkloristisch-rustikale Kulissen dörflicher BlumenkübelIdyllen, ohne welche die Agrarindustrie ihre industriell gefertigten Produkte offenbar nicht in die Mägen der Konsumenten zu schleusen vermag. Gegen die Undurchschaubarkeit einer komplexen globalen Nahrungsmittelindustrie, gegen die Verunsicherungen durch Lebensmittelskandale und um die wachsende Distanz zwischen Produktion und Konsumtion zu überbrücken, wird die Wiedererkennung des Intakten und Vertrauten gesetzt – die identitätsverbürgenden Dimensionen der lokalen Nahwelt Heimat garantieren für Verlässlichkeit und Qualität von Produkten.43 Labels wie dasjenige von Lidl „Ein gutes Stück Heimat. Heimat ist Ursprung“ oder das „UnsereHeimat“-Siegel von Edeka schenken die Suggestion, die Lebensmittel entstammten intakten ökologischen und sozialen Verhältnissen. Das Zeitalter der Globalisierung erzeugt freilich auch spielerische, ironische Heimat-Feelings – Heimat als sentimentales Versatzstück oder im Gewande der Verdirndelung, als Lokalkolorit in Heimat- und Regionalkrimis, als Statement und Bekenntnis zu regionaler Herkunft, Retro-Trend und Pop-Kultur.44 Derweil findet die Doppelbödigkeit von Heimweh-Sehnsucht und Fremdenfurcht ihre Fortschreibung. Heimat als Krisensymptom entfaltet sein Bedeutungsreservoir in der ganzen Ambivalenz zwischen Humanisierungsversprechen und Abwehrreflexen in den zeitgenössischen Problemlagen von Globalisierung und Migration. Erneut lassen sich in der jüngeren Vergangenheit zwei gegenläufige Tendenzen im politischen Reden über
42 Vgl. zur Transformation von Kulturlandschaften in nur noch ökonomisch zweckhafte Produktionsräume den Bildband des Fotografen Spohler, Henrik: The Third Day/Der dritte Tag. Texte von Christiane Stahl und Friedemann Schmoll, Ostfildern 2013. 43 Köstlin, Konrad: Heimat geht durch den Magen. Oder: Das Maultaschensyndrom – Soulfood in der Moderne, In: Beiträge zur Volkskunde in BadenWürttemberg 4 (1991), S. 147-164. 44 Zu diesen zeitgenössischen Aufladungen und Ästhetisierungen vgl. Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden, München 2014.
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Heimat konstatieren, die sich freilich beide an sozialen Konflikten und Verwerfungen einer globalisierten Welt als Fragen um Missachtung, Anerkennung und Zugehörigkeit entzünden. Gegen die Beheimatungsansprüche von Flüchtlingen und Migranten wird auf den Transparenten der PegidaDemonstranten eine spezifische Heimat in Stellung gebracht: „Unsere Heimat bleibt deutsch“. Die NPD geht strategisch nicht eben erfolglos als „Heimatpartei“ auf Stimmenfang und reklamiert „Heimat“ als muffig-borniertes Mausoleum des Eigenen, eben des Arteigenen. Dort, wo Modernisierung und Strukturwandel Verlust und Verfall des Ländlichen Raums bedeuten, entstehen offenkundig nicht nur Wirtschafts- und Sozial-, sondern auch Sinnstiftungsbrachen – dort lässt sich erfolgreich mit brauner Ökologie, mit Themen wie Heimat und Naturschutz Resonanz und Zustimmung finden. „Heimatschutz“ als Reservat traditioneller Heimatverbände avancierte als „Thüringer Heimatschutz“ zu einem programmatischen Etikett, das in die grauenhafte Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mündete.45 Hier wird Heimat als Kampfbegriff in völkischer Kontinuität mobilisiert, der Entfremdung als Überfremdung und Unterwanderung diagnostiziert. Mit Kalkül setzt die politische Rechte auf das „weiche“ Thema Heimat und zielt dabei auf rigide Verteidigung heimatlicher Ordnungen. Geht es hierbei also vor allem um Exklusion, erfolgt auch eine Berufung auf Heimat, die an die Intention der Inklusion geknüpft ist, wenn es um Verständigungsprozesse der deutschen Gesellschaft als heterogene Einwanderungsgesellschaft, um Migration, Integration und Fragen der Asylpolitik geht. Dies liegt nahe, geht es doch schließlich, wenn von Heimat die Rede ist, immer auch um Fragen der Zugehörigkeit, Anerkennung, Formen des Zuhause-Seins, die unter neuen historischen Bedingungen neu beantwortet werden müssen. Nach den völkisch-nationalistischen Ideologisierungen im 20. Jahrhundert und unter den Bedingungen einer globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts häufen sich deshalb die Plädoyers, Essenzialisierung und Statik herkömmlicher Heimatbegriffe zu vermeiden, den Begriff aus seiner Bindung an Räume zu lösen und stattdessen von „Beheimatung“ im Sinne einer aktiven, freieren Aneignung und Gestaltung ver-
45 Vgl. oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.): Ökologie von rechts. Braune Umweltschützer auf Stimmenfang (= Politische Ökologie 30, 2012), Bd. 131.
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trauter Lebenswelten und der Erzeugung sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung zu sprechen.46
46 Z. B. Binder, Beate: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung, in: Zeitschrift für Volkskunde 104 (2008), S. 1-17.
Kommentar von Klaus Ries
Friedemann Schmoll konstatiert zunächst den eher befremdlichen Befund einer ungemein starken Persistenz des Heimatbegriffs und der Heimatsehnsucht über die Jahrhunderte hinweg und dies trotz allen Wissens um die ideologischen Vereinnahmungen. Dabei verweist er einerseits auf eine anthropologische Dimension, dass der Mensch sich immer ein Zuhause schaffen möchte; und zum anderen darauf, dass Heimat in der beschleunigten Moderne „kompensatorische Funktionen“ übernommen hat. Während die Lebensbedingungen zunehmend funktionaler und partikularistischer wurden, suggerierte Heimat eine idyllisierte Sicherheit überschaubarer Räume und Ordnungen, eine „gleichsam naturhafte Einheit von sozialer Gemeinschaft“ und lieferte so „ein Versprechen auf die identitätsverbürgenden Dimensionen des Raumes“. Schmoll fragt vor allem nach den „Ambivalenzen“ des Heimatbezugs zwischen „Gemütlichkeit und Barbarei“ sowie zwischen „Humanisierungsversprechen und Vernichtungsobsessionen“, um auf diese Weise die „bemerkenswerte Persistenz“ von Heimat „in Prozessen und Diskursen der gesellschaftlichen Selbstverständigung“ deutlich machen zu können. Dabei kann er als entscheidendes Kriterium die „bestimmte Unbestimmtheit“ und „assoziative Offenheit“ herausarbeiten, welche die jahrhundertelange Benutzung des Begriffs Heimat in je unterschiedlichen Kontexten und „im Wandel unterschiedlicher Bedeutungen“ erklärt. Um die Geschichte des Begriffs zu rekonstruieren und zugleich Fragen an seine Aktualität zu richten, geht Schmoll einige spezifische Merkmale durch, die sich jenseits aller Unbestimmtheit herauskristallisierten und in ihrer „Verbundenheit“ als „Identitätsressourcen“ fungierten: Die räumliche Perspektive, weil sich das Reden über Heimat durch räumliche Konkretheit
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auszeichnet; die zeitliche Dimension, denn Heimat verknüpft Fragen der Herkunft mit denjenigen der Zukunft, besitzt also regressive wie progressive Potentiale; die soziale Dimension, die sich auf die Vertrautheit und Verlässlichkeit sozialer Nahbeziehungen konzentriert; die kulturellen Aspekte, weil Heimat nicht nur auf einen Ort, sondern auf ein „geistiges Zuhause“ verweist; das Beziehungsverhältnis von Natur und Gesellschaft und schließlich das unhinterfragte „Versprechen einer Gewissheit und Selbstverständlichkeit verlässlicher räumlicher, sozialer und zeitlicher Bindungen“. In einem dritten Schritt geht Schmoll den „Rhythmen und Konjunkturen“ des Heimatbegriffs und der Heimatbewegung nach: Beginnend mit der frühen Neuzeit, als Heimat primär an „die Idee und Lebensweise der Sesshaftigkeit in agrarischen Gesellschaften und Kulturen“ geknüpft, aber eben auch schon auf „Exklusion“ ausgerichtet war, liegt die eigentliche Zäsur, an welcher „der soziale Sinn des Heimatrechts an ein historisches Ende“ gekommen war, im Übergang zur „Industriemoderne“, d.h. für Deutschland ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von nun an kam es zu einer bewussten „Modellierung eines modernen, zunehmend von Emotionalität getragenen Heimatverständnisses, das Heimat nun immer stärker als Gegenwelt entwarf“. Im deutschen Kontext stellt Heimat eine „Antwort auf politische Zentralisierungsprozesse und Hegemonialisierungstendenzen des spezifisch deutschen nation-building“-Prozesses dar. Wenn auch die thematisierten Räume immer noch in erster Linie „ländliche, traditional verfasste Räume“ waren, so entstammten die Träger und Akteure dieser neuen Heimatbewegung dem städtischen Bildungsbürgertum, das sich der modernen Kontingenzbewältigung annahm und erneut ein „vages und assoziationsgesättigtes Gegenkonzept“ entwarf. So blieb Heimat weiterhin „variabel“ ausdeutbar und sollte sich so „besonders nach dem Ersten Weltkrieg als mühelos transformierbar erweisen für ethnopolitische Projekte unter dem Programm der deutschen ‚Volksgemeinschaft‘“. Für Schmoll bildet das Ende des Ersten Weltkrieges die entscheidende Zäsur, wonach eine zuvor noch offene, zumeist der Natur zugewandte ‚grüne‘ Bewegung allmählich zu einer ‚braunen‘ Bewegung mutierte. Im Nationalsozialismus radikalisierte sich diese Variante und erfuhr „eine obsessive Aufladung als eine biologistisch begründete Abwehr-, Reinheits- und Gleichartigkeitsideologie“, die sich vor allem auf die „heimatlosen“ Juden konzentrierte. Jetzt zeigte sich „die kompensierende Funktion von Heimatideologien in ihrer ganzen
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Ambivalenz“, denn im Rücken der Versprechungen auf einen gesicherten Rückzugsraum wurde eine entgrenzende Großraumpolitik betrieben. Nach 1945 kam es recht früh zu einem erneuten Bezug auf heimatliche Geborgenheit, zum einen als Resultat einer modernisierungsgeschichtlichen Deutung des Nationalsozialismus und zum anderen aufgrund der spezifischen Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen. Schmoll verweist hier noch auf den Heimatbegriff der DDR, der sich zwar von den bürgerlichnationalen, NS-verseuchten Traditionssträngen des Westens distanzierte und eine „Transformation heimatlicher Gefühlswerte auf den sozialistischen Staat“ unternahm, sich am Ende aber grundsätzlich kaum von demjenigen des Westens unterschied. In der BRD blieb Heimat nicht auf konservative Kreise beschränkt, sondern wurde auch von den linken Protestbewegungen als „Ort aktiver Weltaneignung und menschlich gestalteter Umwelt“ thematisiert. Am Ende geht Schmoll noch auf die aktuelle Entwicklung ein und betont die Vielfältigkeit des Redens über Heimat: von „der trivialen ‚Landlust‘-Ästhetik“ über die zum Teil sinnentleerten Werbestrategien der Nahrungsmittelindustrie bis zur radikalen Instrumentalisierung durch rechtslastige und dezidiert reaktionär-nationalistische Gruppen und Parteien wie Pegida und die NPD. Besonders der sog. „Thüringer Heimatschutz“ interessiert ihn, weil er – öffentlich bekannt durch die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds – explizit „Heimat als Kampfbegriff in völkischer Kontinuität mobilisiert“. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts taucht jedoch auch noch eine andere Variante des Umgangs mit Heimat auf, nämlich das Plädoyer, „Essenzialisierung und Statik herkömmlicher Heimatbegriffe zu vermeiden, den Begriff aus seiner Bindung an Räume zu lösen und stattdessen von ‚Beheimatung‘ im Sinne einer aktiven, freieren Aneignung und Gestaltung vertrauter Lebenswelten“ zu sprechen. Es bleibt nicht viel zu kritisieren an dem Beitrag von Herrn Schmoll, auch weil sich einer der besten Kenner der Materie zu dem Thema äußert. Aus historischer Perspektive wären zwei kleine Punkte zu bedenken: Erstens ob man die Kontinuitätslinie von der „grünen“ zur „braunen“ HeimatBewegung nach 1918 so dick ziehen oder nicht vielmehr auch in den 1920er Jahren nach alternativen Konzepten des Heimatbegriffs und der Heimatbewegung Ausschau halten sollte. Das würde der bis zum Ende der Weimarer Republik mehr oder weniger ‚offenen‘ Entwicklung eher gerecht werden und den Aufstieg des Nationalsozialismus aus dem Gefängnis der
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Zwangsläufigkeit (welche übrigens die NS-Propaganda selbst bediente) befreien. Und zum zweiten ist die Frage, ob der von der DDR verwendete sozialistische Heimatbegriff vielleicht weniger eine „Transformation“ heimatlicher Gefühle auf den sozialistischen Staat darstellte, sondern wie Ernst Bloch zeigen konnte, eine Kontinuität sozialistischen Denkens, in welchem die wirkliche Heimat immer schon die klassenlose Gesellschaft, Heimat also immer eine Utopie auch im sozialistischen Sinne war. Dies würde vielleicht den relativ reibungs- und problemlosen Gebrauch von Heimat in der DDR noch deutlicher erklären. Schließlich verdeutlicht der Beitrag von Herrn Schmoll – und dies ist keine Kritik, sondern eine positive Bestätigung eigener Annahmen – ,dass der Heimatbegriff wie auch die Heimatbewegung über die Zeiten hinweg ein reaktives Phänomen darstellten, das jeweils in politisch-sozialen und/oder wirtschaftlichen Umbruchszeiten eine spezifische Mobilisierung und Intensivierung erfuhr.
„Heimat denken“ im Völkerrecht Zu einem völkerrechtlichen Recht auf Heimat M ARTINA H AEDRICH
1. E INFÜHRUNG Die Frage nach der Entstehung eines Rechts auf Heimat ist auch die Frage nach dem Ursprung der Menschenrechte. Am Anfang stehen nicht Strömungen oder Denkrichtungen, sondern systemisch und strukturell begründete Unrechtserfahrungen, auf die mit der Forderung nach Menschenrechten reagiert wird. In zahlreichen Menschenrechtsdokumenten spiegelt sich das wider. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 verweist in der Präambel darauf, dass „Akte der Barbarei“, womit der Nationalsozialismus und Faschismus als die Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts schlechthin gemeint sind, stattgefunden haben und es „wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts“ zu schützen. Der Holocaust, d. h. Deportation in die Vernichtungslager und Ermordung von 6 Millionen Juden, sowie die Vertreibung von über 500 000 Juden aus Deutschland, sind schwerstes Unrecht. Deportation und Ausrottung wurden im Statut des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg vom 8. August 1945 als Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen eingestuft. Angesichts des Ausmaßes an Unrecht, das den Juden in Deutschland widerfahren ist, stellte sich für die meisten Überlebenden die Frage nach einem Recht auf Rückkehr und der Verwirklichung eines Rechts auf Heimat in Deutschland nicht. Viele betrachteten das Exil als neue Heimat. Die überwiegende Zahl der jüdischen Emigranten kehrten nicht nach Deutschland zurück. Sie integrierten sich in die Gastländer und setzten dort ihre Karrieren fort – sie fanden
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eine neue Heimat. Doch auch weitere Gründe verhinderten die Rückkehr. Es waren die schrecklichen Erfahrungen, die sie im Deutschland der Nationalsozialisten gemacht haben und die Tatsache, dass nicht selten diejenigen, die im Dritten Reich öffentliche Ämter bekleideten, auch in der Bundesrepublik Deutschland führende Positionen eingenommen hatten. Auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den deutschen Ostgebieten in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 am Ende des Zweiten Weltkriegs, die auf 12-14 Millionen Menschen beziffert wird, gehören zu solchen Unrechtserfahrungen. Doch die Anerkennung eines Rechts auf Rückkehr oder auf Restitution erfolgte nicht. Die Schatten der Massenvertreibungen und des Vernichtungskrieges des Dritten Reiches waren zu stark, als dass eine solche Rechtsforderung auf internationaler Ebene auf Resonanz stieß. Trotz der zahlreichen und seit den 1990er Jahren stark zunehmenden Konflikte, die massenhafte Vertreibungen mit sich brachten und bringen, existiert bis heute kein Recht auf Heimat in Gestalt eines eigenständigen Menschenrechts als Konsequenz von Flucht und Vertreibung in einem universell geltenden Vertrag oder im Völkergewohnheitsrecht. Zu fragen ist nach den Gründen, warum sich ein solches Recht bis heute nicht etabliert hat. Aktuelle Entwicklungen im Völkerrecht lassen ein breiteres Verständnis dessen, was unter Heimat zu fassen ist, erkennen. Darauf wird näher einzugehen sein. Doch zuvor bedarf es einer Verständigung über den Heimatbegriff mit völkerrechtlichem Bezug im Kontext mit dem Begriff Recht auf Heimat.
2. D ER B EGRIFF „H EIMAT “ IM D EUTSCHEN UND DER B EGRIFF „R ECHT AUF H EIMAT “ IM V ÖLKERRECHT Oft wird gesagt – und dafür mag Carl Jakob Burckkard für viele stehen – dass das Wort Heimat nur die deutsche Sprache kennt, dass es ein Wort ist, „das unser Sprachraum geschaffen hat, das in anderen Sprachen nicht zu
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finden ist“.1 In der Tat scheint es im Englischen mit den Begriffen „home“, „hometown“ oder „homeland“ keine direkte Entsprechung zum Begriff Heimat zu geben, der nicht nur den Ort meint, sondern auch die Beziehung zu diesem ausdrückt. Bernhardt Schlink hat einen Vortrag vor der American Academy in Berlin mit dem Titel „The place of Heimat“ überschrieben2 und damit deutlich gemacht, dass Heimat im Englischen nicht oder schwer übersetzbar ist. Doch gibt es durchaus Äquivalente in anderen Sprachräumen. Zu nennen sind das russische Rodina, das slovenische und kroatische Domovina oder Domowina im Serbischen. Auch das italienische Paese dürfte dem Wort Heimat ähnlich sein und das arabische Watan, als Niederlassung und Sesshaftwerdung übersetzt, weist gewisse Parallelen auf. Der bis Mitte des 17. Jahrhunderts gebrauchte und auf die Grundherrschaft eines Landes bezogene Begriff „Heimatrecht“ unterscheidet sich von dem heute verwendeten Begriff des Rechts auf Heimat. Es meint ein Recht durch Geburt oder Heirat bzw. durch Erbe und sichert ein Recht auf Aufenthalt und Versorgung in Gestalt eines Armenrechts. Mit der Entstehung von Territorialstaaten verlor das Heimatrecht seine Bedeutung. Mit dem 19. Jahrhundert hat sich der Rechtsstatus des Staatsangehörigen herausgebildet, auf deren Grundlage Rechte und Rechtsansprüche gegenüber dem eigenen Staat bestehen und das Heimatrecht wurde obsolet.3 Als deutscher Rechtsbegriff im Völkerrecht hat sich „Recht auf Heimat“ etabliert, doch ist zuweilen, synonym gebraucht, vom Heimatrecht die Rede. Auch der Terminus „Recht auf die Heimat“ findet Verwendung. Der Artikel vor dem Wort Heimat, so Otto Kimminich, soll hervorheben, dass es nicht um irgendeine Heimat geht, auch nicht um eine solche, die jemandem zugewiesen wird, sondern um einen vorgegebenen Raum, in dem der Einzelne ansässig war
1
Burckkhardt, Carl Jakob: Schweizer Historiker und Diplomat. Über den Begriff der Heimat. Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 26. September 1954, Sonderdruck, Frankfurt/M. 1954.
2
Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie, Frankfurt/M. 2000.
3
Spiegel, Ludwig: Das Heimatrecht und die Gemeinden, In: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte und Gemeinden, Bd. 6, 1907, S. 7 ff.; Künkel, Hans: Das Heimatrecht des Deutschen Volkes und seine Verwirklichung durch den Häuserbau, Jena 1926.
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bzw. ist.4 Diese Bezugnahme auf einen bestimmten Ort, ausgedrückt durch den bestimmten Artikel vor dem Wort Heimat, war und ist ganz überwiegend an die Gebiete geknüpft, aus denen Deutsche während und nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden.5 Entsprechungen, die, wie schon der Heimatbegriff selbst, das subjektive Element der Beziehung zu einem Ort weit weniger als im Deutschen zum Ausdruck bringen, sind im Englischen „the right of home“, the right to a homeland“ und „the right to one`s homeland“ oder im Französischen „le droit à la terre“, „le droit au foyer“ oder „le droit au sol natal“. In französischen Texten wird mitunter das deutsche Wort Heimat übernommen. Der die Heimat umfassende Raum (Lebensraum, Stück Land, Gebiet) als Ort der Geburt, Herkunft oder Ansässigkeit stellt das beanspruchte Rechtsobjekt dar. Als Synonym für Heimat findet sich auch der Begriff Heimstatt, der stärker als der weite Begriff Heimat auf den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts zielt. Die Rechtssubjekte/Rechtsträger der Heimat sind Einzelne oder Gruppen, die dem Raum zugehörig sind. Diese Zugehörigkeit drückt sich in Tradition, Kultur und daraus resultierenden Gemeinsamkeiten aus, die schließlich zu einer Zusammengehörigkeit führen. Auch wenn das Recht nicht in der Lage ist, emotionale Momente in sich aufzunehmen, vermag es doch Intentionen der Rechtssubjekte, wie Zusammengehörigkeit oder innere Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen. Bezogen auf die Heimat ist es vor allem das Beheimatetseinwollen, das auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogen sein kann. Die hier aufgeführten Elemente, die den Ort bezeichnen, das Rechtssubjekt benennen und das besondere Verhältnis eines Menschen oder einer Menschengruppe zu einem Ort ausdrücken, machen das Recht auf Heimat aus. Viel umfassender als die Rechtswissenschaft wenden sich andere Wissenschaften, beispielhaft seien die Philosophie, Soziologie oder die Kulturwissenschaft genannt, diesen Fragestellungen zu. Um das Verhältnis zwischen Mensch und Raum zu bestimmen, werden hier Verbindungen und
4
Kimminich, Otto: Das Recht auf die Heimat, Bonn 1989, S. 19.
5
Murswiek, Dietrich: Die völkerrechtliche Geltung eines Rechts auf die Heimat, In: Gornig, Gilbert/Murswiek, Dietrich (Hrsg.): Das Recht auf die Heimat, Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 23, Berlin 2006, S. 17 ff.
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Bindungen in ihren objektiven und subjektiven Bezügen umfassend reflektiert. In der Rechtswissenschaft wird dagegen mit den Begriffen Verbindung, Beziehung und Verhältnis nur insoweit operiert, als diese objektivierbar sind. Der wohl vor allem in der Soziologie gebräuchliche Begriff der Nahwelt, der Erfahrung, Verlässlichkeit , aber auch Hoffnung zum Ausdruck bringt und damit so angelegt ist, dass er vor allem subjektive Elemente in sich einschließt6, findet in der Rechtswissenschaft keine direkte Entsprechung, wohl aber Bezugspunkte in dem Begriff Naheverhältnis. Im Nottebohm-Fall stellte der Internationale Gerichtshof in Den Haag für das Bestehen einer effektiven Staatsangehörigkeit auf den genuine link, die tatsächliche Verbindung und Verbundenheit des Einzelnen zu seinem Staat ab. Gemeint ist hier zwar primär das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat, doch gehen die das Naheverhältnis begründenden Elemente ständiger Aufenthalt, Teilnahme am öffentlichen Leben und Bindungen, die nicht nur auf einen Staat, sondern auch auf ein Gebiet oder einen Ort bezogen sein können, ebenfalls in diesen Begriff ein und können auch auf das Verhältnis des Einzelnen zur Heimat bezogen sein. Dasselbe gilt für die in der Entscheidung gebrauchten das subjektive Element betonenden Begriffe „interests and sentiments“.7 In der völkerrechtlichen Literatur ist die Haltung zu einem Recht auf Heimat distanziert. Schon die nach dem Ersten Weltkrieg verabschiedeten Umsiedlungsverträge führten in der Bewertung durch die Völkerrechtswissenschaft jener Zeit nicht zu dem Schluss, dass mit Umsiedlungen ein Recht auf Heimat verletzt werden könnte.8 Als Ausnahme ist der französische Völkerrechtler Robert Redslob anzuführen. Er bejaht in einem Vortrag im Jahr 1931 vor der Akademie für Internationales Recht in Den Haag einschränkungslos seine Existenz und qualifiziert es als Menschenrecht.9
6
Bausinger, Hermann: „Kulturelle Identität“ – Schlagwort und Wirklichkeit, In: Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur, hrsg. v. K. Köstlin u. a., Neumünster/Wachholtz 1980.
7
Nottebohm Case, Liechtenstein v. Guatemala, 6 April 1955, ICJ Reports 1955, 4/23.
8
Siehe dazu mit Nachweisen Kimminich, Otto: Das Recht auf die Heimat, Bonn 1989, S. 138 ff.
9
Redslob, Robert: Le Principe des Nationalité, Recueil des Cours 1931, Vol. 37, S. 45.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den Alliierten darum, Maßnahmen zu ergreifen, „dass Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann.“10 Das Potsdamer Abkommen beschloss die Besetzung Deutschlands und konstatierte, dass das deutsche Volk beginnt, „die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden“11. Doch auf der Potsdamer Konferenz wurde nicht nur über die politische Zukunft Deutschlands entschieden, sondern auch der Verlauf der Westgrenze neu bestimmt, die Grenzen für Polen, die Sowjetunion und die Tschechoslowakei festgelegt und eine neue Nachkriegsordnung konzipiert. Beschlossen wurde die Überführung deutscher Bevölkerungsteile aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“12. Dass Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten von schweren Menschenrechtsverletzungen geprägt waren, wurde von den Alliierten und den Repräsentanten des Nachkriegseuropas verdrängt und Konsequenzen nicht thematisiert. Die Souveränität der Staaten und das Ziel, schnell eine stabile internationale Ordnung zu schaffen, hatte Priorität. Eine Rückkehr der deutschen Vertriebenen in die ehemals deutschen Ostgebiete hätte durch die neuen Grenzziehungen eine Rückkehr in fremdes Hoheitsgebiet bedeutet, die die Gefahr neuer Konflikte heraufbeschworen hätte. Den Alliierten ging es auf der Potsdamer Konferenz gerade um die Festlegung eines status quo. Im Vordergrund stand, Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Ganz in diesem Sinne äußerte sich die überwiegende Mehrheit der Völkerrechtler. Die Aussage von Georgio Balladore Pallieri auf einer Tagung des Institut de Droit International im Jahr 1952, dass angesichts der Gräuel des Zweiten Weltkriegs im Vordergrund steht, alles zu verhindern, was zu einer Kriegsgefahr werden könnte und Umsiedlungen ausnahmsweise gerechtfertigt sind13, entsprach der Meinung bekannter Völkerrechtler auch wenn Vertreibungen grundsätzlich als völkerrechtswidrig ein-
10 Kap. III Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945. 11 Kap. III Potsdamer Abkommen. 12 Kap. XIII Potsdamer Abkommen. 13 Balladore Pallieri, Giorgio: Schlussbericht zum Thema Bevölkerungsaustausch des Institut de Droit International 1952, In: Annuaire de l’Institut de Droit International 1952, Vol. 44/II, S. 138 ff.; S. 142.
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gestuft wurden. Christian Tomuschat zieht anglo-amerikanische und französische Literatur heran, die Zwangsdeportationen im Allgemeinen verurteilen, sich aber nicht zu den Vertreibungen der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten äußern.14 So wurde der Etablierung eines Rechts auf die Heimat außerhalb Deutschlands angesichts der Forderungen der deutschen Vertriebenen nach Rückkehr und Entschädigung ablehnend begegnet. Deutsche Völkerrechtler haben schon auf ihrer ersten Tagung nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1947 in einer Entschließung ein „Recht, in der Heimat zu leben und nicht gewaltsam aus ihr vertrieben zu werden“, bejaht.15 Die Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht forderte dann auf ihrer ersten Tagung im Jahr 1952, dass in einer Kodifikation der Grundrechte des Menschen „das Recht auf den Verbleib in seiner Heimat“ ausdrücklich aufgezählt werden sollte.16 In der deutschen Völkerrechtsliteratur war es zuerst Rudolf Laun, der die Existenz eines Rechts auf die Heimat in einem Beitrag des Jahres 1951 bejahte17, doch dieses später als Recht auf die Heimat ihrer Vorfahren in einem Beitrag im Jahr 1958 verneinte. Dabei verwies er darauf, dass das geltende Völkerrecht ein solches Recht nicht kennt, aber Massenvertreibungen und die dadurch geraubte Heimat einen schweren Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit darstellen.18 Auch der Deutsche Bundestag hat in den frühen Debatten zu den Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ein Recht auf die Heimat bejaht und dieses Recht, „in der angestammten Heimat zu leben und über die Staatsform und das Staatsgebiet selbst zu bestimmen“, als Teil
14 Tomuschat, Christian: Das Recht auf Heimat. Neue rechtliche Aspekte, In: Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung. Festschrift für Karl Josef Partsch, Berlin 1989, S. 183 ff., 186 f. 15 Entschließung in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, H. 1 1957, S. 72 f. 16 Entschließung in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, H. 1, 1957, S. 76. 17 Laun, Rudolf: Das Recht auf die Heimat, Hannover 1951. 18 Laun, Rudolf: Das Recht der Völker auf die Heimat ihrer Vorfahren, In: Internationales Recht und Diplomatie 1958, S. 165 ff.
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der allgemeinen Menschenrechte und konkret als Bestandteil des Rechts auf persönliche Freiheit betrachtet.19 Zurückhaltender erfolgte die Diskussion zu einem solchen Recht bei der Verfassungsgebung im Parlamentarischen Rat. Der Vorschlag, ein eigenes Grundrecht auf Heimat in das Grundgesetz aufzunehmen, wurde zwar eingebracht20, doch wurde dieses Anliegen von Dr. Heuss schon mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Begriff „Recht auf Heimat“ eine unmögliche rechtspolitische Formulierung sei.21 Die Verfassungsgeber verfolgten mit der Aufnahme des Terminus Heimat in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG das Ziel, Zugewanderte vor Diskriminierung zu schützen, die als „Heimatfremde“ betrachtet werden. Gerichtet war die Regelung vor allem auf den Schutz der Vertriebenen deutscher Volkszugehörigkeit.22 Vor diesem Hintergrund wird Heimat als „örtliche Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit“ umschrieben.23 und als Gegenbegriff zur „diskriminierungsgefährdeten ‚Fremdheit‘ in anderer Umgebung“ verstanden.24 Damit zielt diese Bestimmung auf Gleichbehandlung der Flüchtlinge und Vertriebenen mit den „Ansässigen“. Auf Bindungen und Verbindungen zum ursprünglichen Ort der Vertreibung kommt es nicht an. Entscheidend nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ist, ob eine an das Merkmal der Heimat anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung führt.25 Der Begriff Heimat in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ist (wie die anderen darin aufgeführten Begriffe) an das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 GG geknüpft und zielt darauf, dass eine Person an einem neuen Ort heimisch werden kann und dabei nicht diskriminiert werden darf.26
19 Drucksache des Deutschen Bundestags, 29. Oktober 1953:99. 20 Seebohm, Dr.: Parlamentarische Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, S. 531. 21 Ebd., S. 532. 22 JöR n.F., Bd. 1, 1951, S. 67. 23 BVerfGE 5, 17, 22. 24 Osterloh, Lerke: Art. 3 Rn 295, In: Grundgesetz. Kommentar, hrsg. v. Michael Sachs, München 2011. 25 BVerfGE 92, 94. 26 Siehe zur innerstaatlichen Relevanz eines Rechts auf Heimat und zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Guckelberger, Annette: Recht auf Heimat und Grundgesetz, In: Wittinger, M./Wendt, R./Ress, G. (Hrsg.): Verfassung-
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Insbesondere Otto Kimminich27 und später Dieter Blumenwitz28, sind zu nennen, die für ein Recht auf die Heimat plädiert haben und – dem Bund der Vertriebenen nahe stehend – auch die Vertreibung der Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert haben. Der Österreicher Felix Ermacora sah das Recht auf die Heimat als einen Komplex verschiedener Einzelrechte und nennt das Verbot der Zwangsausweisung, Vertreibung und Deportation sowie das Recht auf Freizügigkeit, das Rückkehrrecht und den Eigentumsschutz als diesem Komplex zugehörige Regelungen.29 Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek vertreten die hergebrachte Position eines Rechts auf die Heimat der aus den ehemals deutschen Ostgebieten Vertriebenen und beziehen dabei auch die Interessen und Rechte der neuangesiedelten Bevölkerung ein. Murswiek betont, dass das Recht auf die Heimat die rechtlich garantierte Möglichkeit umfasst, „in der angestammten Heimat leben zu können“30 sagt aber auch, dass das Recht auf Rückkehr als Individualrecht nicht vererbt werden kann und auch ein Gruppenrecht nur solange bestehen kann, wie die Gruppe sich ihrer Identität bewusst ist31. Hinsichtlich der neu angesiedelten Bevölkerung, die ein solches Recht erworben hat, sind bei möglichen Kollisionen Lösungen anzustreben, die möglichst den Interessen beider Gruppen entsprechen32.
Völkerrecht-Kulturgüterschutz. Festschrift für Wilfried Fiedler, Berlin 2011, S. 122 ff. 27 Kimminich, Otto: Das Recht auf die Heimat, Bonn 1963. 28 Blumenwitz, Dieter: Flucht und Vertreibung und ihre vermögensrechtlichen Folgen, In: Flucht und Vertreibung, Köln u.a. 1987; Ders.: Das Recht auf die Heimat. Bilanz nach 50 Jahren, In: Blumenwitz, Dieter/Gornig, Gilbert (Hrsg.): Rechtliche und politische Perspektiven deutscher Minderheiten und Volksgruppen, Bonn 1995, S. 13 ff. 29 Ermacora, Felix: Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Bd. 1, Wien 1974, S. 515. 30 Murswiek, Dietrich: Die völkerrechtliche Geltung eines Rechts auf die Heimat, In: Gornig, Gilbert/Murswiek, Dietrich (Hrsg.): Das Recht auf die Heimat, Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der studiengruppe Politik und Völkerrecht, Bd. 23, Berlin 2006, S. 17 ff.; S. 21. 31 Ebd., S. 32. 32 Ebd., S. 32.
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Auch Gornig plädiert für einen angemessenen Ausgleich im Rahmen der praktischen Konkordanz zwischen den beiden Gruppen und weist darauf hin, dass dies nicht die Wiedergutmachungsansprüche der vertriebenen Bevölkerung beeinträchtigen darf33. Christian Tomuschat operiert mit dem Begriff des Stammrechts oder des Primärrechts in Bezug auf das Recht auf Heimat resp. auf Verbleib am angestammten Ort34. Anders als die oben aufgeführten Autoren legt sich Tomuschat nicht auf den Terminus mit bestimmtem Artikel „Recht auf die Heimat“ fest und verwendet gleichermaßen die Begriffe Recht auf Heimat und Heimatrecht. Dies geschieht wohl deshalb, weil die englische und französische Literatur zum Thema in den Blick genommen wird, die eine solche Unterscheidung zwischen dem Recht auf die Heimat und dem Recht auf Heimat oder Heimatrecht sprachlich nicht kennt (the right to a homeland; the right of home und le droit a`la terre und le droit au sol natal). Tomuschat geht vom vorhandenen Bestand der Rechtsinstrumente aus, in denen vom eigentlichen Primärrecht nicht die Rede ist, sondern von Sekundärrechten, die zur Voraussetzung haben, dass ein Eingriff in das Primärrecht erfolgt ist35. Eher als bloßes rhetorisches Manöver ist wohl die Auffassung von Alfred de Zayas zu verstehen, wenn er annimmt, dass das Recht auf die Heimat deshalb nicht expressis verbis formuliert wurde, weil es im Westen ganz offenkundig als existent angenommen wird, so dass westliche Juristen es für unnötig oder überflüssig erachten, es in Verträge oder Konventionen aufzunehmen36. In einem anderen Beitrag nimmt der Autor dann aber
33 Gornig, Gilbert: Das Verbot von Vertreibung und ethnischer Säuberung, In: Rill, Bernd (Hrsg.): Gegen Völkermord und Vertreibung. Die Überwindung des 20. Jahrhunderts, München 2001, S. 41 ff.; S. 51 f. 34 Tomuschat, Christian: Das Recht auf die Heimat, In: Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung. Festschrift für Josef Partsch, Berlin 1989, S. 183 ff.; S. 188. 35 Ebd. 36 de Zayas, Alfred-Maurice: Collective expulsion in the light of international law, In: AWR-Bulletin 1977, S. 270.
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durchaus Initiativen „in Richtung der Kodifizierung des Rechts auf die Heimat und des Rückkehrrechts der Vertriebenen“ zur Kenntnis 37. Um der in der Völkerrechtswissenschaft überwiegend vertretenen Position, dass das Recht auf Heimat kein eigenständig existierendes Recht ist, entgegenzuwirken, gab es auch Bemühungen, wie die von Florent Peeters, dieses als überpositives Recht, d. h. als Naturrecht zu begreifen38, das per se existiert, über den Rechtsordnungen und damit auch über der Völkerrechtsordnung steht und weder in völkerrechtlichen Verträgen noch im Völkergewohnheitsrecht nachgewiesen zu werden braucht.
3. R ECHTSGRUNDLAGEN Anknüpfungspunkte für ein Recht auf Heimat bieten im Allgemeinen Völkerrecht vor allem die Internationale Konvention über politischen Rechte und Bürgerrechte aus dem Jahr 1966 und das gewohnheitsrechtlich geltende Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie eine Fülle von Länderresolutionen, die ein Rückkehrrecht der betroffenen Völker oder Volksgruppen in ihre Heimstätten fordern. Diese Resolutionen sind zwar grundsätzlich unverbindlich, doch tragen sie durch immer wiederkehrende Forderungen dazu bei, dass sich diese zu einem Recht verfestigen, mithin von soft law zu hard law werden können. Neben dem Allgemeinen Völkerrecht ist das Humanitäre Völkerrecht anzuführen, das in Zeiten bewaffneter Konflikte gilt. Ihm sind ebenfalls Rechte und Verbotsnormen zu entnehmen, die in der Konsequenz zu einem Recht auf Heimat führen können. Diese Regeln sollen zuerst in den Blick genommen werden.
37 Ders.: Das Recht auf die Heimat – Neue Kodifikationsentwicklungen und aktuelle Diskussion, In: Rill, Bernd (Hrsg.): Gegen Völkermord und Vertreibung. Die Überwindung des 20. Jahrhunderts, München 2001, S. 29 ff. 38 Peeters, Florent: Naturrecht und Recht auf Heimat, In: Hoffmann, Josef/Verdross, Alfred/Vito, Francesco (Hrsg.): Naturordnung in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft. Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck 1961, S. 498 ff.
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a) Humanitäres Völkerrecht Mitunter wird zur Begründung eines Vertreibungsverbots schon die gewohnheitsrechtlich geltende Haager Landkriegsordnung aus dem Jahr 1907 genannt. In der Präambel wird die Martens’sche Klausel herangezogen, die besagt, dass die Bevölkerung unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts steht und dass sich diese aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben und im Weiteren mit den Artt. 43 und 46 argumentiert. Art. 43 verpflichtet die Besatzungsmacht, die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wieder herzustellen und aufrecht zu erhalten. Art. 46 fordert, die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und das Privateigentum zu achten. Daraus könnte gefolgert werden, dass die Missachtung dieser Rechte und Verbotsnormen auch Vertreibungen und ein Recht auf Heimat erfasst. Jean Pictet, geistiger Vater der Genfer Konventionen von 1949 und ehemaliger Direktor für Allgemeine Angelegenheiten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, begründete das Fehlen des Tatbestands der Vertreibungen im Haager Kriegsrecht damit, dass diese bis zur Verabschiedung dieser Abkommen nicht stattgefunden haben39. Vertreter der Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten stützen sich deshalb auf die Haager Landkriegsordnung, weil diese zum Zeitpunkt der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten Ende des Zweiten Weltkriegs galt und bis dahin auf andere normative Regelungen nicht zurückgegriffen werden kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedeten Regelungen sind eben wegen des Rückwirkungsverbots nicht direkt auf die Situation der Vertriebenen während und nach dem Zweiten Weltkrieg anwendbar. Ein Vertreibungsverbot kann aus der Haager Landkriegsordnung durch eine weite Auslegung der genannten Bestimmungen noch abgeleitet werden, ein Rückkehrrecht und weitere Folgerechte sind von der Haager Landkriegsordnung nicht mehr getragen. Diese Rechte sind erst später zustande gekommenen Regeln zu entnehmen. Die zweite Kodifikation aus dem Bereich des Humanitären Völkerrechts, die hier von Bedeutung ist, ist das IV. Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten aus dem Jahr 1949, das etwa seit den 1960er Jahren auch gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt hat. Nach
39 Pictet, François-Jules: The Geneva Conventions of 12 August 1949. Commentary, Geneva 1958, Introduction.
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Art. 49 Abs. 1 sind Einzel- oder Massenverschickungen sowie Verschleppungen untersagt. In Art. 49 Abs. 2 wird gefordert, dass die evakuierte Bevölkerung in ihre Heimat zurückzuführen ist. Damit findet sich hier ein Umsiedlungs- sowie Verschleppungsverbot, dem ein Bleiberecht und ein Rückkehrrecht entnommen werden kann. Damit kann festgestellt werden, dass mit der IV. Genfer Konvention aus dem Jahr 1949 ein Vertreibungsverbot als positives Recht im Rahmen des Humanitären Völkerrechts existiert. Dies ist für die Beurteilung aller nach 1949 liegenden Fallkonstellationen relevant. Auch das Zusatzprotokoll I zum Schutz der Opfer in internationalen bewaffneten Konflikten und das Zusatzprotokoll II zum Schutz der Opfer in nicht internationalen bewaffneten Konflikten zu den Genfer Konventionen aus dem Jahr 1977 enthalten Vertreibungsverbote. Art. 85 Abs. 4a Zusatzprotokoll I verbietet Verschleppungen und Überführungen und Art. 17 Zusatzprotokoll II verbietet Zwangsverlegungen. Im Rahmen des Völkerstrafrechts sind das Statut des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg vom 8. August 1945 und das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aus dem Jahr 1998 heranzuziehen. Das Statut des Internationalen Militärtribunals, das der Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse diente, ist in Art. 6b und 6c Deportation als Tatbestand von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs konkretisiert das IMT-Statut und qualifiziert „Vertreibung oder zwangsweise Überführung“ (Art. 7 Abs. 1d) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und „rechtswidrige Vertreibung oder Überführung …“ (Art. 8 Abs. 2a, vii) als Kriegsverbrechen. b) Allgemeines Völkerrecht Aus dem Allgemeinen Völkerrecht ist besonders Art. 12 Abs. 4 der Konvention für politische und Bürgerrechte von 1966 Bezugspunkt für ein Recht auf Heimat, der sagt: „Niemand darf willkürlich das Recht entzogen werden, in sein Land einzureisen“ („No one shall be arbitrarily deprived of the right to enter his own country“.). Entscheidend ist, dass hier eine Verknüpfung des Vertriebenen mit seinem Land (his own country; son propre pay), mithin ein Naheverhältnis besteht. Manfred Nowak folgert daraus, dass mit der Zugehörigkeit aller Menschen, auch der Staatenlosen, zu ihrem
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Land der Gedanke eines Rechts auf Heimat enthalten ist.40 Eine weitere wichtige Voraussetzung zur Anwendung des Art. 12 Abs. 4 besteht darin, dass sich die Gebietshoheit des Staates, in den der Rückkehrwillige einreisen will, nicht geändert hat. Der General Comment Nr. 27 zu Art. 12 aus dem Jahr 1999, der diese Bestimmung näher auslegt, hebt hervor, dass ein Recht auf Rückkehr von Vertriebenen unter der Voraussetzung besteht, dass dieses dem Einzelnen und einer Gruppe zusteht und eine Beziehung oder Verbindung zu diesem Land als seinem eigenen Land nachgewiesen werden kann.41 Damit existiert mit dem Rückkehrrecht des Art. 12 Abs. 4 eine weitere gewichtige Teilregelung eines Rechts auf Heimat. Ein Bleiberecht, so wie es aus Art 49 Abs. 2 IV. Genfer Konvention aus dem Verbot von Massenzwangsverschiebungen und Verschleppungen zu entnehmen ist, ist aus Art. 12 Abs. 4 der Konvention über politische Bürgerrechte nicht direkt ableitbar. Bei der Suche nach Teilrechten eines Rechts auf Heimat wird man auch in regionalen Menschenrechtsabkommen fündig. Aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Achtung des Privat- und Familienlebens, ergibt sich ein Anspruch auf Schutz gegen Vertreibung und Zwangsumsiedlung aus der angestammten Heimat42 Das 4. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1963 hat in Art. 3 Abs. 1 sowohl das Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger als auch in Art. 4 das Verbot der Kollektivausweisung ausländischer Personen zum Gegenstand. Damit ist diesen beiden Regelungen ein Bleiberecht als einem wesentlichen Teil eines Rechts auf Heimat zu entnehmen. In Verbindung mit dieser Regelung ist anzumerken, dass die Bundesregierung eine Denkschrift zum 4. Zusatzprotokoll verfasst hatte, die für die rechtliche
40 Nowak, Manfred: UN Convention on Civil and Political Rights. CCPR Commentary, Kehl 22005, S. 282 ff.; S. 287. 41 CCPR/C/21/Rev. 1/Add. ). Erwähnt werden kann in diesem Zusammenhang auch der General Comment Nr. 7 (Forced eviction and adequate housing) zur Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der in Paragraf 13 unter Verweis auf Art. 49 der IV. Genfer Konvention und die Zusatzprotokolle I und II auf das Verbot von Vertreibungen und die Zerstörung von Privateigentum verweist. UN Doc. E/1998/22, Annex IV at 113 (1997). 42 Hillgruber, Christian/Jestaedt, Matthias: Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz nationaler Minderheiten, Köln 1993.
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Bewertung der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ost- und Mitteleuropa am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg insoweit von Bedeutung ist, als hier zum Ausdruck gebracht wird, dass das völkerrechtliche Verbot von Massenvertreibungen schon vor den erfolgten Vertreibungen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten galt. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, Rechtsansprüche auf diese Bestimmungen zu stützen.43 In der Denkschrift wird darauf verwiesen, dass die in Art. 3 Abs. 1 und 4 enthaltenen Verbote „in ihren Wurzeln bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück(reichen)“44. Angeführt werden „insbesondere die Erörterungen im 1. Unterausschuss des Ausschusses II der Zweiten Haager Friedenskonferenz von 1907“45. Darin sind allgemeine Rechtssätze und die Martens’sche Klausel, die auch in der Präambel der Haager Landkriegsordnung enthalten sind, angesprochen. Auch Art. 49 IV. Genfer Konvention, der ausdrücklich Massenzwangsverschickungen und Verschleppungen verbietet und eine Rückführung fordert, wird in der Denkschrift angeführt. Die Genfer Konventionen wurden allerdings erst im Jahr 1949 also nach den Vertreibungen der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa verabschiedet. Eine Bezugnahme auf die darin enthaltenen Regelungen ist daher nur mittelbar möglich.46 Art. 12 Abs. 5 der Afrikanischen Konvention der Rechte des Menschen und der Völker von 1981 enthält ein Verbot von Kollektivausweisungen von Ausländern. Die Kollektivausweisung wird in dieser Regelung als eine gegen nationale, ethnische oder religiöse Gruppen gerichtete Ausweisung begriffen. Art. 26 Abs. 2 der Arabischen Menschenrechtscharta von 2004 regelt ein einschränkungslos geltendes (under all circumstances) Verbot von Kollektivausweisungen und ohne ausdrücklichen Bezug auf Ausländer. Damit geht die Arabische Charta in ihrem Wortlaut noch weiter als die Afrikanische Konvention. Einen besonders komplexen Zusammenhang zum Recht auf Heimat weist das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf. Es hat sich in der Dekolonisierungsphase der 1950er und 1960er Jahre begonnen zu etablieren und existiert heute, von der Völkerrechtswissenschaft anerkannt, als völkergewohnheitsrechtliche Norm. Auch in die gleichlautenden Art. 1 der Konven-
43 Drucksache des Deutschen Bundestags V/1679, S. 8. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Siehe zur Haager Landkriegsordnung und zum IV. Genfer Abkommen Ab. 3a.
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tion für politische und Bürgerrechte und der Konvention für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 hat es Eingang gefunden und ist seitdem auch völkervertraglich fixiert. Die Prinzipiendeklaration vom 24. Oktober 1970, die eine authentische Interpretation der UN-Charta darstellt, begreift das Selbstbestimmungsrecht als das Recht der Völker, in innerer und äußerer Freiheit zu leben. Ein solches Recht schließt Vertreibung aus und impliziert ein Recht auf Leben in Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Von daher kann auch aus dem Recht, in innerer und äußerer Freiheit zu leben, ein Recht auf Heimat abgeleitet werden. Eine ausdrückliche Erwähnung dieses Rechts oder seiner Teilrechte, wie das Rückkehr und das Bleiberecht, erfolgt hier allerdings nicht. Noch eine weitere, grundsätzlich das Selbstbestimmungsrecht betreffende Resolution der Generalversammlung ist für die Normwerdung eines Rechts auf Heimat relevant. Sie trägt den Titel: „Universal realization of the right of peoples to selfdetermination“47 und hat zahlreiche Aktualisierungen erfahren. Zum einen ist das Dokument bedeutsam, weil es die universelle Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts hervorhebt und konstatiert, dass das Selbstbestimmungsrecht eine grundlegende Voraussetzung für die Rechte aller Völker, einschließlich solcher unter kolonialer, ausländischer und fremder Herrschaft stehen, darstellt, Menschenrechte zu gewährleisten und zu beachten. Deutlich wird damit zum einen, dass das Selbstbestimmungsrecht für alle und nicht nur für solche unter Fremdherrschaft stehender Völker gilt und zum anderen, dass Rechte Einzelner und Gruppen nicht erst unter einem Staat bestehen, sondern auch in Verbindung mit Gebilden (entities), die nicht mehr als Staat (failed states) oder noch nicht als Staat exisiteren. Des Weiteren bekräftigt die Resolution das Rückkehrrecht, wenn es heißt, dass Flüchtlinge und Vertriebene, die durch Handlungen, wie militärische Intervention, Aggression und ausländische Besetzung entwurzelt werden, das Recht zur freiwilligen Rückkehr in sicherheit und Würde haben (to return to their homes voluntarly in safety and honour).48 c) Rechtsbildung Einen umfassenden Versuch, das Recht auf Heimat als selbständig existierendes Menschenrecht auszugestalten, hat die Menschenrechtskommission
47 A/RES 35/35 B, 14 November 1980; A/RES 36/10, 28 October 1981. 48 Eine aktuelle Fassung: A/RES 51/84, 28 Februrary 1997, para 4.).
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der Vereinten Nationen im Jahr 1994 unternommen.49 Ausdrücklich ist hier nicht nur, wie bereits in Art. 12 Abs. 4 der Konvention über politische und Bürgerrechte universell verankert, von einem Rückkehrrecht des Flüchtlings in seine Heimat (the right of refugees and displaced persons to return in safety and dignity to their own countries and/or within it, to their place of origin or choice) die Rede, sondern auch von einem Bleiberecht des Einzelnen in seiner Heimat (the right of persons to remain in place of their own houses, on their own lands and their own countries). Schließlich hat die Unterkommission für Menschenrechte zur Verhütung der Diskriminierung und zum Schutz der Minderheiten der Menschenrechtskommission einen ausführlichen Bericht unter Leitung von Awn Shawkat Al-Khasawneh unter dem Titel „Freedom and Movement. Human rights and population transport“50 vorgelegt, der von der Menschenrechtskommission angenommen und vom Wirtschafts- und Sozialrat bestätigt wurde. Der darin enthaltene Entwurf einer Declaration on population transfer and the implantation of settlers (Annex II) sollte der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Abstimmung unterbreitet werden. Doch dazu und auch zu der im Bericht vorgeschlagenen Bildung einer Arbeitsgruppe ist es bislang nicht gekommen. Dies lässt den Schluss zu, dass trotz einzelner Initiativen das Interesse an der Etablierung eines eigenständigen Rechts auf Heimat noch immer gering ausgebildet ist. Dies mag zum einen an dem sich zwar schrittweise relativierendem, aber noch immer dominierenden Souveränitätsverständnis liegen, das die Souveränität grundsätzlich vor die Menschenrechte stellt. Zum anderen spielen politische Interessen von Staaten in Bezug auf ihre eigene Praxis gegenüber Flüchtlingen und Vertriebenen eine Rolle. Die Generalversammlung und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beziehen sich in einer inzwischen unübersehbaren Zahl von Resolutionen auf Situationen von Flucht und Vertreibung vor allem auf die gewohnheitsrechtlich geltenden Regelungen des Humanitären Völkerrechts und auf Forderungen aus dem Selbstbestimmungsrecht, wenn sie bei Länderkonflikten Vertreibungen verurteilen und Rechtsansprüche postulieren. Aussagen für ein Vertreibungsverbot und ein Recht auf Rückkehr erfolgten u. a. in Bezug auf Zypern, Kambodscha, Afghanistan, auf Gebiete des ehemaligen
49 E.CN.4.Sub./1994/24, 24 August 1994. 50 E/CN.4/Sub.2/1997/23, 27. June 1997.
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Jugoslawien, auf die Demokratische Republik Kongo, Ruanda, Somalia und den Sudan und seit Jahrzehnten und jährlich wiederkehrend in Bezug auf Israel und den Palästinenserkonflikt.51 Die erste Resolution zu einem Recht auf Rückkehr der Palästinenser stammt aus dem Jahr 1948.52 Die Praktiken Israels gegenüber den Palästinensern werden in den Resolutionen der Generalversammlung als flagrante Verletzung des IV. Genfer Abkommens verurteilt, Zwangsumsiedlung (eviction), Verschleppung (deportation), Ausweisung (expulsion), Vertreibung (displacement) und Umsiedlung (transfer of the occupied territories) als Verstöße ausdrücklich genannt und die Rückkehr aller vertriebenen palästinensischen und arabischen Bewohner der besetzten Gebiete in ihre Heimstätten (to return into their homes or former places of residence) gefordert. Beispielhaft soll die jüngste Resolution zum Schutz palästinensischer Flüchtlinge aus dem Jahr 2014 angeführt werden, die gleich ihren Vorgängerresolutionen das Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihre Heimstätten („to return to their homes or former places of residence …“ gefordert53. Die überwiegende Literatur bejaht ein solches Recht auf Rückkehr der Palästinenser in Gestalt einer Repatriierung, einer Pflicht zur Rückübernahme durch Israel und der Annahme einer seit 1948 bestehenden dauerhaften Verletzung (continuing violation) durch Israel mit der Konsequenz der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit.54
51 Im Folgenden sollen nur solche Dokumente herangezogen werden, die für den Rechtsbildungsprozess eines Rechts auf Heimat in besonderem Maße bedeutsam erscheinen. 52 A/RES/194 (III), 11 December 1948. 53 A/RES 69/89, 5 December 2014. 54 Siehe mit umfangreichen Verweisen Boling, Gail J.: The Question of „Timing“ in Evaluation Israels’s Duty under International Law to Repatriate the 1948 Palestinian Refugees, In: Benvenisti, Eyal/Gans, Chaim/Hanafi, Sari (Hrsg.): Israel and the Palestinian Refugees, (= Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 189), Berlin u. a. 2007, S. 219 ff.; S. 247 f. Gegen ein Recht auf Rückkehr resp. eine Repatriierung argumentiert Yaffa Zilbershats mit der Begründung, dass Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht dafür keine Grundlage bilden und die Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats weithin nicht bindend sind und Empfehlungscharakter tragen. Zilbershats, Yaffa: International Law and the Palestinian’s Rights of Return to the State of Israel, In: Ebd., S. 191 ff.
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Bezogen auf die Gebiete des ehemaligen Jugoslawien soll statt vieler die Resolution 1244 des Sicherheitsrates aus dem Jahr 1999 angeführt werden, die eine Rückkehr der Kosovaren in ihre angestammte Heimat fordert, für die die vom Sicherheitsrat gebildete United Nations Interim Administration Mission (UNMIK) eingerichtete Institution Voraussetzungen für eine „safe and unimpeded return of all refugees and displaced persons to their homes in Kosovo“ schaffen soll.55 Auch die Resolutionen des Sicherheitsrates zur Situation in afrikanischen Staaten in Krieg und Bürgerkrieg, wie in der Demokratischen Republik Kongo, enthalten ein umfassendes Rückkehrrecht von Zivilpersonen, indem es heißt, dass eine freiwillige, sichere und würdevolle Rückkehr der Binnenvertriebenen und Flüchtlinge oder eine freiwillige lokale Eingliederung oder Neuansiedlung ermöglicht werden soll.56 Die Liste der Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats, in denen Vertreibung verboten und Rückkehr an die ursprünglichen Orte gefordert wird, könnte noch erweitert werden. Wichtig ist, dass an den zahlreichen Länderresolutionen nachgewiesen werden kann, dass durch die ständige Wiederholung von Teilrechten eines Rechts auf Heimat dieses zu einer verbindlichen Norm erwachsen kann. Wiederkehrend und durch die Zustimmung der weit überwiegenden Zahl der Staaten wird ein Recht auf Heimat in Anknüpfung an das völkergewohnheitsrechtlich geltende Selbstbestimmungsrecht in den Länderresolutionen anerkannt. Die Staaten drücken damit ihre Rechtsüberzeugung aus, dass dieses Recht in den aufgeführten Teilrechten besteht.
4. D IE W IRKUNG DER ESKALIERENDEN K ONFLIKTE AUF DEN R ECHTSBILDUNGSPROZESS Die seit Anfang der 1990er Jahre eskalierenden Konflikte über Staatsgrenzen hinaus, aber mehr und mehr auch innerhalb von Staaten, aktuell insbesondere Syrien, Afghanistan oder Eritrea, aber auch Ruanda, Somalia, Sudan oder die Demokratische Republik Kongo betreffend, haben Flüchtlingsbewegungen bis dahin ungekannten Ausmaßes verursacht. 2015 ist
55 S/RES 1244 (1999), 10 June 1999. 56 S/RES 1925 (2010), 28 May 2010.
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weltweit die 60 Millionen-Marke überschritten worden. Die massenhaften Fluchtbewegungen zwingen auch auf rechtlicher Ebene, völkerrechtlich, europarechtlich und auf Staatenebene zu neuen Regelungen, um die Flüchtlingsströme, die angesichts der weiter bestehenden Konflikte auch nicht abnehmen, sondern zunehmen werden, zu bewältigen. Die Wiederansiedlung wird nach wie vor für die palästinensischen Flüchtlinge, aber auch für Flüchtlinge aus Ruanda und Somalia sowie aus der Demokratischen Republik Kongo ein geeignetes Mittel sein, den Flüchtlingen eine Perspektive zu geben. Hier wird ein Ausbau der der Möglichkeiten zur Wiederansiedlungen erforderlich sein. Für Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan werden angesichts des Terrors in diesen Ländern Integration im Zufluchtsland oder Neuansiedlung (Resettlement) in einem Drittstaat die geeigneten Alternativen sein. Die Eskalation der Konflikte und die dadurch ausgelösten Massenfluchtbewegungen beeinflussen die Rechtsentwicklung. Sie wirken wie Katalysatoren bei der Ausformung und Entstehung von Recht – Integration und Neuansiedlung stellen sich als staatliche Aufgaben und auch Verpflichtungen dar, denen Rechte des Einzelnen korrespondieren, die sich in einem Recht auf neue Heimat niederschlagen können. a) Wiederansiedlung (Repatriation) In den Resolutionen der Vereinten Nationen, die zu diesen Konflikten Stellung beziehen, wird, wie bereits dargelegt, gefordert, die Lage derer, die von ihren Heimstätten vertrieben wurden oder von ihren Dörfern geflohen sind, zu lindern und Bedingungen zu schaffen, die eine Wiederansiedlung ermöglichen. In diesen UN-Resolutionen werden nicht nur die Rechtsgrundlagen für das Vertreibungsverbot und das Rückkehrrecht aus den oben genannten völkergewohnheitsrechtlich und konventionsrechtlich geltenden Regeln übernommen, sondern durch weitere Forderungen konkretisiert, die sich auf einzelne Maßnahmen zur Wiederansiedlung und deren Durchsetzung erstrecken. Neben der Fülle von Resolutionen der Vereinten Nationen zu speziellen Konflikten, in denen Wiederansiedlung gefordert wird, existieren auch Vertragswerke, die durch die Aufführung konkreter Maßnahmen zur Rückführung und Wiederansiedlung ein Recht auf Rückkehr in die angestammten Gebiete umsetzen sollen. Ein frühes Beispiel sind die freiwilligen Rückführungen afghanischer Flüchtlinge aus Pakistan durch ein bilaterales Ab-
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kommen zwischen Pakistan und Afghanistan im Jahr 198857 , das mehrmals aktualisiert und später zu einem Dreierabkommen durch die Teilnahme des UNHCR erweitert wurde.58 Als eines der jüngsten Beispiele sei das unlängst verabschiedete Dreierabkommen zwischen Kenia, Somalia und dem Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen vom 10. November 2013 angeführt.59 Es soll die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen aus dem mit 330 000 somalischen Flüchtlingen größten und über 20 Jahre bestehenden Flüchtlingscamp in Dadaab, Kenia, ermöglichen. Das Abkommen enthält, wie die anderen Rückführungsabkommen auch, nicht nur die oben genannten gewohnheitsrechtlich und konventionsrechtlich geltenden Regeln, sondern zudem Passagen aus Resolutionstexten zu Länderkonflikten. Damit werden die Forderungen, die in den UN-Dokumenten in der Regel unverbindlich aufgestellt wurden, als Bestandteile eines völkerrechtlichen Vertrags nunmehr für die Vertragsteilnehmer verbindlich. Die Dreierabkommen reagieren auf die massenhaften Erscheinungen von Flucht und Vertreibung und zielen auf die Umsetzung eines Rückkehrrechts, durch nachhaltige Rückführung (sustainable return to their own) und freiwillige Wiederansiedlung (voluntary Repatriation) mit dem Ziel einer dauerhaften Wiedereingliederung (sustainable Reintegration). Auf diese Weise verpflichten sich die Vertragsteilnehmer zu Maßnahmen, die eine Konkretisierung der Teilrechte eines Rechts auf Heimat darstellen und durch die vertraglichen Verpflichtungen eine verbindliche Umsetzung des Rechts auf Heimat bedeuten.
57 Bilateral Agreement between the Rebublic of Afghenistan and the Islamic Republic of Pakistan on the Voluntary Return of Refugees, abgedruckt in: UN Press Release UNIS/PS 14, 15 April 1988. 58 Extension of the Agreement between the Government of the Islamic Republic of Pakistan, the Transnational Islamic State of Afghanistan and the United Nations High Commissioner for Refugees Governing the Voluntary Repatriation of Afghan Citizens Living in Pakistan, 16 August 2013, URL: www.refworld. org/Category,LEGAL,UNHCR,Multilateral (aufgerufen am 2. September 2015). 59 Tripartite Agreement between the Government of the Republic of Kenya, the Government of Federal Republic of Somalia and the United Nations High Commissioner for Refugees, Governing the Voluntary Repatriation of Somali Refugees, Living in Kenya, 2013, URL: www.ecre.org/index.phhhhhp?option =com_downloads&id=817 (aufgerufen am 2. September 2015).
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b) Integration im Zufluchtsland Nicht in allen Fällen ist eine Rückkehr, Wiederansiedlung und Reintegration möglich. Oftmals werden die Gebiete, von denen die Menschen vertrieben werden, von verfeindeten ethnischen Gruppen übernommen oder wie im Falle der Terrororganisation Islamischer Staat, besetzt. Um auch denjenigen Vertriebenen, bei denen eine Rückkehr zu ihren Heimstätten ausgeschlossen ist, eine Existenzgrundlage zu geben, muss ihnen neuer Lebensraum zur Verfügung gestellt werden. Dies geschieht durch Integration vor Ort und durch Ansiedlung in dem Land, in dem die Flucht endete in der Regel realisiert durch Asyl. Nach positiver Beendigung eines Asylverfahrens haben Personen, denen Asyl gewährt wird, je nach den nationalen Regelungen im Zufluchtsland Anspruch auf ein unbefristetes Aufenthaltsrecht und auf besondere integrationsfördernde Maßnahmen. Damit ist Integration Aufgabe und Verpflichtung des asylgewährenden Staates gegenüber dem Asylberechtigten, Voraussetzungen zu schaffen, dem Einzelnen eine neue Heimat zu geben. c) Neuansiedlung (Resettlement) Des Weiteren werden, ebenfalls durch das Hochkommissariat für Flüchtlinge initiierte Programme zur Neuansiedlung (Resettlement) in Drittstaaten organisiert60, d. h. für Schutzsuchende, die weder Aussicht auf Integration im Land ihrer ersten Zuflucht haben, noch eine Perspektive, in ihr Heimatland zurückzukehren61. Bisher erfolgten Neuansiedlungen vor allem durch die USA, Kanada und Australien umgesetzt. Schrittweise werden Resettlement-Programme des UN-Flüchtlingskommissars auch durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union umgesetzt.62 Diese Praxis ist nicht völlig neu. Schon nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 hat das Hochkommissariat für Flücht-
60 A new Beginning in a Third Country, URL: www.unhcr.org/pages/4a16b676.ht ml (aufgerufen am 2. September 2015). 61 www.unhcr.de/mandat/dauerhafte-loesungen/resettlement.html (aufgerufen am 2. September 2015). 62 Eine Neuansiedlung erfahren derzeit 42 palästinensische und syrische Flüchtlinge in Deutschland, der ein Resettlement-Programm des UNHCR zugrunde liegt. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Pressemeldungen 12/2015 vom 16.6. 2015.
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linge der Vereinten Nationen derartige Programme zur Neuansiedlung umgesetzt. Ein weiteres frühes Beispiel sind die Neuansiedlungen der Bootsflüchtlinge nach dem Indochina-Krieg aus Vietnam und Kambodscha in Indonesien, Malaysia und Thailand. Auch Flucht und Vertreibung aufgrund von Naturkatastrophen zwingen zur Neuansiedlung. Durch das Verschwinden von Inseln oder bei gravierenden Umweltveränderungen und Umweltzerstörungen sowie extremen Umweltverschmutzungen, die die Böden unbewirtschaftbar und unbewohnbar machen, ist eine Rückkehr in die Heimat nicht möglich. Doch auch diesen Menschen muss ebenfalls der Anspruch auf ein Leben in Würde und Freiheit durch Neuansiedlung erfüllt werden. Einen Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben Umweltflüchtlinge nach überwiegender Auffassung jedoch nicht63. Integration vor Ort in Zufluchtsstaaten und dauerhafte Neuansiedlung in Drittstaaten werden an Umfang und Bedeutung zunehmen64. Die Vertreibung aus Siedlungsgebieten bspw. in Somalia, im Sudan oder im Kongo schließen gerade wegen fortbestehender Furcht vor Verfolgung und drohender Gefahr für Leib und Leben sowie des Entzugs der Existenzgrundlagen in den angestammten Gebieten, etwa durch Ansiedlung anderer Ethnien in den ehemaligen Siedlungsgebieten und durch Inbesitznahme und Kontrolle durch Warlords oder Milizen, eine Rückkehr in die Ursprungsländer oder in andere Regionen innerhalb eines Ursprungslands grundsätzlich aus. In solchen Fällen können nur die Integration vor Ort und Neuansiedlungen in Drittstaaten den Flüchtlingen eine dauerhafte Perspektive geben. Mit der Verfestigung dieser Praxis beginnt sich ein Recht auf eine neue Heimat herauszubilden.
63 Zur Frage, ob den Umweltflüchtlingen nicht doch nach der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz zu gewähren ist, siehe Kreck, Lena: Möglichkeiten und Grenzen des rechtlichen Schutzes für Umweltflüchtlinge, In: Kritische Justiz, Bd. 44, H. 2. 2011, S. 178 ff. 64 UNHCRProjected, Global Resettlement Need 2016, 21st Annual Tripartite Consultations on Resettlement, Geneva: 29th June-1st July 2015, Geneva 2014, URL: www.unhcr.org/558019729.html (aufgerufen am 2. September 2015).
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5. S CHLUSSBEMERKUNGEN
UND
A USBLICK
Die Untersuchung ergibt, dass verschiedene Verbotsnormen und Rechte existieren, die in der Summe das Recht auf Heimat ergeben können. In keiner der völkerrechtlich verbindlichen Regelungen findet sich das Recht auf Heimat expressis verbis, doch ist in zahlreichen Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats zu Länderkonflikten die Forderung nach einer Rückkehr in die Heimstätten und ein Bleiberecht aufgenommen und damit ein Recht auf Heimat angelegt. Diese Resolutionen können als Vorstufen eines verbindlichen eigenständigen Rechts auf Heimat betrachtet werden. Das Recht auf Heimat unterliegt bis heute einem Rechtsbildungsprozess und fortschreitender Ausformung. Zahlreiche Teilregelungen, die in den jüngeren Resolutionen auch miteinander verbunden werden, machen das Recht auf Heimat aus. Damit ist es bisher als ein Kompositum verschiedener auf einander bezogener Rechte zu begreifen; ein eigenständiges Recht auf Heimat existiert nicht. Ob der Rechtsbildungsprozess in ein positives Recht auf Heimat resp. in ein Recht auf neue Heimat einmündet, lässt sich heute nicht abschließend beantworten. In den vor allem auf einzelne Länderkonflikte bezogenen Resolutionen ist erkennbar, dass sich der Heimatbegriff im Recht öffnet. Die Forderungen beschränken sich nicht nur auf das Bleibe- und Rückkehrrecht, sondern auch auf das Recht, vor Ort im Zufluchtsland zu bleiben und auf das Recht auf dauerhafte Neuansiedlung in Drittstaaten. So geht es nicht mehr nur um das Recht auf eine angestammte Heimat, sondern mehr und mehr um das Recht auf einen Ort, der eine Lebensperspektive eröffnet und zur Heimat wird. Damit ist auch für das Völkerrecht der Raum für Heimat größer und geworden. Es dient im Sinne Ernst Blochs der Schaffung einer Welt, die dem Menschen und der Natur gleichermaßen gerecht wird, d. h. es stellt sich dem „Umbau der Welt zur Heimat“.65 Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen hat sich im Jahr 2015 durch Krieg, Bürgerkrieg und Terror dramatisch vervielfacht und stellt Europa vor große Herausforderungen. Besonders die Gewalt der Terrororganisation Islamischer Staat beschleunigt und vergrößert die Fluchtbewegungen. Dies erfordert ein neues Nachdenken, wie den immer zahlreicher werdenden Zuflucht Suchenden dazu verholfen werden kann, eine neue Heimat zu finden.
65 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt 1973, S. 1628.
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Angesichts der anwachsenden Fluchtbewegungen ist es nicht unberechtigt, von einer neuen Völkerwanderung zu sprechen, die zwar keine von Völkern und Ethnien darstellt, aber eine solche von Einzelnen und Familien ist, die nach massenhaft aus den Kriegs- und Konfliktgebieten flüchten und auch nach Europa drängen. Die Flüchtlingsströme haben das Vermögen, die Herausforderung schlechthin für das 21. Jahrhundert zu sein. Um der sich rasch vergrößernden Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen Herr zu werden, müssen die Aufnahmeprozeduren beschleunigt und die Aktivitäten zur Integration und Neuansiedlung verstärkt werden. Dies heißt auch, dass die faktischen Veränderungen nicht nur in effektivere rechtliche Verfahren, sondern auch in revidierte oder neue rechtliche Konzepte Eingang finden müssen. Die dramatische Zuspitzung der Probleme kann zu einem Entwicklungsschub in der Rechtssetzung führen. Damit hat das Recht auf eine neue Heimat das Potential, ein neues Menschenrecht zu werden.
Kommentar von Walter Pauly
In theoretischer Hinsicht kann man eine Rechtsformen- von einer Rechtsinhaltslehre unterscheiden, also die auf die formale Struktur und Beziehung von Rechtsnormen bezogene Formensprache des Rechts auf der einen, die letztlich kontingenten, diachron wechselnden Inhalte des Rechtssystems auf der anderen Seite. Heimat und Heimatrecht rechnen dabei zu den Rechtsinhaltsbegriffen, die ein Rechtssystem aufnehmen und schützen aber genauso gut vernachlässigen oder ablehnen kann, mag es ggf. der Akzeptanz eines Rechtssystems auch zuträglich sein, örtlich radizierte Befindlichkeiten und Sehnsüchte nicht einfach zu ignorieren. Gleichwohl stellt sich die Frage, inwieweit das Recht notwendigerweise eine territoriale Komponente aufweist, also Recht innerlich mit Raum zusammenhängt. So erscheint das Rechtsgebilde „Staat“ neuzeitlich in der Form des Territorialstaates und seine klassische Bestimmung mittels der bis ins heutige Völkerrecht relevanten sog. Drei-Elemente-Lehre hebt auf das Vorliegen eines Staatsgebietes neben einem Staatsvolk und einer effektiven Staatsgewalt ab. Aber selbst diese von Georg Jellinek aufgemachte (lediglich) parataktische Reihung musste sich die Kritik eines Rudolf Smend gefallen lassen, sie vernachlässige das Staatsgebiet als Gegenstand geistigkultureller Erlebnisse und Bindungen, indem sie den Staat auf dem Staatsgebiet abstelle wie eine Tasse auf einer Untertasse. Und nicht zufällig beginnt ein berühmt-berüchtigtes Werk über den Nomos der Erde mit dem Satz, die Erde werde in mythischer Sprache die Mutter des Rechts genannt und die großen Ur-Akte des Rechts würden als erdgebundene Ortungen, vornehmlich Landnahmen, gekennzeichnet. Für Vico bspw. enthielt das erste Recht Agrargesetze und Locke sah das Wesen politischer Macht in erster Linie in der Jurisdiktion über das Land. Otto Brunners 1943 vorge-
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legtes verfassungshistorisches Werk „Land und Herrschaft“ erscheint geradezu als Fundgrube raumkonnotierter Rechts- und Herrschaftsbegriffe, angefangen bei dem Landeshoheitsgebiet, über Landvolk, Landstände sowie Landgericht bis hin zu Land und Leuten, schließlich zur Scholle. Heimat habe ich dort nicht gefunden; es gibt sie aber, etwa zitiert aus einer Landesordnung von 1622 in einem neueren einschlägigen Werk von Blickle. Auch dort, wo die Heimat nicht namentlich auftaucht, kann sie sich unter und zwischen anderen Wörtern verbergen. Bekanntlich gab es auch ein von Vaterland, patria, gesondertes spezielles historisches Heimatrecht in Kodifizierungen und Urkunden, so im 19. Jh. in der Schweiz, Österreich wie auch Bayern, das ein geburtsgemeindebezogenes Aufenthalts- und Rückkehrrecht samt sozialer Absicherungsleistungen kannte. Noch heute sprechen wir im geltenden Recht von Heimat, zunächst im IPR, um mit dem Heimatrecht das Recht des Heimatstaates eines Ausländers zu bezeichnen, geht es etwa darum, zwei in Spanien nach spanischem Recht verheiratete Spanier vor einem deutschen Gericht zu scheiden. In einem weiteren Sinne werden auch rechtlich-kulturelle Bindungen an Herkunftsräume und Kulturtraditionen erfasst, etwa bei der Frage der Strafbarkeit von Beschneidungen, dann aber auch in den klassischen interkulturellen Ehrenmordfällen, in denen die Tötung der angeblich liederlichen Schwester als eine Ehrenpflicht des scheinbar vorbildlichen Bruders nach den Gepflogenheiten der Heimatkultur erscheint. Soll die deutsche Rechtsordnung angesichts der bezeichneten Pflichtenkollision in diesen Fällen einen Strafbonus einräumen oder in der Intransigenz einen schulderhöhenden Umstand erkennen? Entsprechende rechtskulturelle Heimatbindungen können sich subkulturell und ethnisch zu einer Verdrängung der Rechtsordnung des Aufenthaltsstaates auswachsen. Die Existenz von Friedensrichtern in Berlin-Neukölln, also die Behauptung einer Gegenrechtsordnung im Wege der Paralleljustiz, bezeichnet ein gegenwärtiges Problemfeld. Springen wir weiter. Einige Landesverfassungen im deutschen Bundesstaat, etwa in Sachsen, normieren ein vorgeblich unveräußerliches Menschenrecht auf die Heimat, das wie viele andere programmatische Versprechungen föderal-folkloristischer Verfassungslyrik kaum dogmatische Entfaltung gefunden hat. Bayern kennt überraschenderweise keine solche Garantie, sondern behilft sich viel wirkmächtiger mit dem parakonstitutionellen Slogan „Laptop und Lederhose“. Auch das Grundgesetz hat sich nach
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entsprechender Diskussion im Parlamentarischen Rat gegen die Aufnahme eines gesonderten Rechts auf Heimat entschieden. Die Heimat taucht in der Verfassung lediglich in Art. 3 Abs. 3 GG in Form eines Diskriminierungsverbots auf, das u.a. untersagt, jemanden wegen seiner „Heimat und Herkunft“ zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Die den Deutschen im Grundrechtsteil gewährleistete Freizügigkeit im Bundesgebiet liefert in der Sache einen gewissen Heimatschutz, jedoch nicht exklusiv unter Ausschluss anderer, denen der Zu- wie Abzug ebenfalls offensteht. Flankierend verhindern europarechtliche Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote – unbeschadet der unionsrechtlichen Anerkennung und Auszeichnung der Regionen – entsprechende Exklusionen und sorgen für inklusiv angelegte Heimaten in einer offenen Welt. Tendenziell geht es um eine Synthese von weltgesellschaftlicher Mobilität in würde-, freiheits- und identitätsbestimmt konzipierten konkreten Räumen, die Verwurzelungen in Landschaften, Milieus, Lebenserzählungen und -praktiken ermöglichen. Natürlich gibt es auch Gegenläufigkeiten und ließen sich möglicherweise sogar noch Reste von Blut- und Bodenideologie ausmachen, etwa im überkommenen und lange noch geltenden RuStAG. Inwieweit das Eigentumsrecht eine heimatschützende Seite aufweist, hat im letzten Jahr das BVerfG in der Entscheidung Garzweiler II beschäftigt, der das Verschwinden ganzer Dörfer und Landschaften durch den Braunkohletagebau zugrunde lag, mit der Folge von Zwangsumsiedlungen, einhergehend auch mit weitgehendem Verlust gewachsener sozialer Bezüge. Im Ergebnis blieben die Klagen ohne durchschlagenden Erfolg. Wenden wir uns zum Schluss dem völkerrechtlichen Recht auf Heimat zu. Hierzu gab es zunächst eine spezifisch deutsche Diskussion vor dem Hintergrund der Vertreibungen nach 1945, die inzwischen fast vollständig abgeebbt ist. In dieser wurde das sog. „Rechtsgut Heimat“ gegen den „merkwürdigen Realismus neuer Landkarten“, gegen das Diktat des Faktisch-Effektiven der Neuansiedlungen in Stellung gebracht. Dreisprachig aufgezäumte Literaturbände zu „Stand und Kritik der rechtstheoretischen Diskussion zum natürlichen Recht auf die Heimat“ mussten sich bereits an Übersetzungsschwierigkeiten von Heimat und Heimatrecht abarbeiten; aber es komme auf die Sache an, die es vor dem Verdikt „typisch deutsch“ zu bewahren gelte, könne man auch bei Carl Jakob Burckhardt lesen, Heimat sei ein Wort, das erst unser Sprachgeist geschaffen hat, und nur bei Völkern vorkomme, wie ein anderer Autor schrieb, die ethnisch zu denken und zwi-
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schen Volk und Staat zu unterscheiden gewohnt seien. Ein solches Recht auf Heimat oder auf die Heimat zu profilieren, ist ausgesprochen aufwendig, zunächst im Hinblick auf die rechtsquellenmäßige Herleitung aus einem inzwischen verwehten Naturrecht oder versprengten völkerrechtlichen Normierungen, dann im Hinblick auf die Bestimmung des Rechtsguts, des Rechtsobjekts oder Anspruchsinhalts und schließlich in Hinsicht auf das Subjekt dieses behaupteten individuellen oder gruppenbezogenen Menschenrechts in einer doch sehr stark staatenzentrierten Völkerrechtsordnung. Hier finden sich bereits die Unterscheidungen von Beheimatung überhaupt und dem Anspruch auf eine ganz konkrete Heimat, wie wir sie auch dem Papier von Frau Haedrich entnehmen können. Viele dieser Probleme beschäftigen in anderen weltpolitischen Konstellationen die Völkerrechtslehre bis heute, die Deportationsverbote, humanitäre Rechte, Minderheitenschutz wie Selbstbestimmungsrechte in fragmentarisch vorliegenden Rechtsquellen balanciert, für die sich en detail nicht alle intellektuell aufgeschlossenen Menschen per se interessieren werden. Zu Recht fokussiert Frau Haedrich die Perspektive von Neubeheimatungen von Dauerasylsuchenden, von Flüchtlingen nicht allein vor Krieg, sondern auch vor Natur- und Sozialkatastrophen, eine Perspektive, die in multiethnischen, -religiösen und -kulturellen Ordnungen zu entwickeln, unerlässlich erscheint. Das Papier endet mit Blochs Umbau der Welt zur Heimat, einhergehend mit dem Utopischwerden der für immer verlorenen Kindheitsheimat, wie es Bernhard Schlink im Essay „Heimat als Utopie“ beschrieben hat. Das Recht als die grosso modo einzige gesamtgesellschaftlich verbindliche Form von Normativität erscheint als eine bevorzugte Ressource zur Gestaltung der immer veränderlichen Beziehungen zwischen Menschen und definierten Räumen. Dabei muss es darum gehen, jenseits muffiger Heimat- und Heimatschutzvorstellungen inklusive Heimatkonzeptionen zu erarbeiten, die die Vorzüge einer grundsätzlich allen offenstehenden regionalen Einwurzelung mit lokaler Selbstbestimmung verbinden.
Heimat denken – ein biologischer Streifzug F RANK H. H ELLWIG
Naturschutz ist Heimatschutz – so beginnt eine meiner Thesen, die ich zur Vorbereitung des Symposiums „Heimat denken“ formuliert habe. Dies erwies sich bei näherem Hinsehen als eine sehr problematische Formulierung, und zwar aus historisch-politischen Gründen. Heute kann man über das Internet Aufkleber mit dem Slogan „Naturschutz bedeutet Heimatschutz“ beim Antisem Versand1 bestellen, auf der Internetseite der NPD Hannover2 wird zum Füttern der Vögel im Winter aufgerufen mit dem Hinweis „Tierschutz ist Naturschutz und damit Heimatschutz“, und die Formulierung „Naturschutz ist Heimatschutz“ findet sich auch auf Wahlplakaten der NPD3. Immerhin wurde die versuchte Vereinnahmung registriert: die HeinrichBöll-Stiftung publizierte im Januar 2012 eine Broschüre mit dem Titel
1
URL: http://www.antisem.it/produkt/000003.html (aufgerufen am 8. Oktober 2014).
2
URL:http://www.npd-hannover.de/index.php/menue/58/69/id/1221/anzeigemo nat/01/akat/1/anzeige-jahr/2010/infotext/Naturschutz_ist_Heimatschutz/Bundes weite_Nachrichten.html (aufgerufen am 13. Oktober 2014).
3
URL: http://www.npd-rhein-neckar.de/?p=1518 (aufgerufen am 29. Februar 2016).
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„Braune Ökologen“4, die Landeszentrale für Umweltaufklärung des Landes Rheinland-Pfalz gab 2012 eine Broschüre „Naturschutz gegen Rechtsextremismus“5 heraus, und das Bundesamt für Naturschutz, die Internationale Naturschutzakademie auf der Insel Vilm, die evangelische Akademie der Nordkirche und die Universität Rostock veranstalteten im November 2013 eine Tagung zum Thema „Naturschutz – ein aktuelles Themen- und Aktionsfeld der rechtsradikalen Szene“, um nur einige Aktivitäten aufzulisten6. Ist diese Verknüpfung also eine Erfindung der nationalistischen Gruppierungen und Parteien? Der vorliegende Beitrag soll dazu beitragen, der Verbindung von Heimat und Natur nachzuspüren. Dies kann in dem vorgegebenen Rahmen natürlich nur ein Anreißen, eine Annäherung an die Thematik sein. Zusammen mit den anderen Beiträgen zum Symposium „Heimat denken“ möchte die Schrift helfen, Forschungsfragen zu formulieren, die interdisziplinär zu beantworten sind. Heimat – das ist die vertraute Gegend, in der man sich auskennt. Das ist der Ort, an dem manch einem bei der Heimkehr von einer langen Reise ein Schauer über den Rücken läuft. Dabei möchte ich das Wort ganz umfassend verstehen, also die Landschaft mit ihrem gesamten Inventar und auch die sozialen Beziehungen, in die ein Mensch eingebunden ist. Mit der Begriffsgeschichte beschäftigt sich ein anderer Vortrag, sodass ich auf eine genauere Definition verzichte. Ausdehnung, Komplexität und Dichte der Beziehungen sind sicherlich variabel, aber sie bewirken die emotionale Reaktion bei der Heimkehr aus der Fremde oder auch beim Verlust der Heimat durch Flucht und Vertreibung oder durch ihre Zerstörung, zum Beispiel durch den Braunkohletagebau. Wie tief die Menschen in ihrer Heimat verwurzelt sind, zeigt der Protest gegen solche Zerstörungen und die Weigerung vieler, ihr Haus zu verlassen, bis der Bagger vor der Tür steht.
4
Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.): Braune Ökologen. Hintergründe und Strukturen am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns (= Schriftenreihe zur Demokratie 26), Berlin 2012.
5
Franke, Nils: Naturschutz gegen Rechtsextremismus. Eine Argumentationshilfe, hrsg. v. d. Landeszentrale für Umweltaufklärung Rheinland-Pfalz, Mainz 2012.
6
Heinrich, Gudrun: Naturschutz - ein aktuelles Themen- und Aktionsfeld der rechtsradikalen Szene. Gegenwärtige Entwicklungen, Probleme, Abgrenzungen und Steuerungsmöglichkeiten, Tagungsdokumentation, Vilm 2013.
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Im Folgenden beschäftige ich mich mit der Frage, welche Rolle die Naturdinge in dem spielen, was wir Heimat nennen. Dabei werde ich als Botaniker einen Schwerpunkt auf die Vegetation bzw. auf die Pflanzen legen. Sie sind vielleicht nicht in allen Fällen konstitutiv für die Heimat eines Menschen, etwa in der Großstadt, aber doch in den weitaus meisten Fällen. Auch denke ich, dass die Beziehungen zwischen Mensch und Pflanze oder ganz allgemein zwischen und Natur sich in einer Zeit und in einer räumlichen Struktur entwickelt haben, zu der die Großstadt nicht gehört. Wenn das Kind in die Phase seiner Entwicklung eintritt, in der es seine Umwelt erforscht und erobert, weitet sich sein Aktionsradius immer weiter aus („home range expansion“ im entwicklungspsychologischen Sinne). Ist es zunächst nur die häusliche Umgebung, werden schon bald auch der Garten und dann immer weiter entfernte Bereiche der Wohnung erforscht. Dies geschieht am intensivsten allein oder in kleinen Gruppen Gleichaltriger. Wichtig ist dabei die Orientierung im Raum anhand markanter Punkte und Formen. Das sind Landschaftsformen, aber auch Vegetationstypen und Landschaftselemente wie Gewässer, Steilkanten, Wege usw. Wie genau dabei die Umwelt kognitiv erfasst und im Gehirn repräsentiert wird, ist Gegenstand psychologischer Forschung. In dieser frühen Phase der Kindheit, vielleicht zwischen 5 und 15 Jahren, ist aber wohl noch keine reflektierte Identifikation möglich und keine bewusste Zuordnung zur „Heimat“. Es ist eben die vertraute Umgebung, in der das Kind viel Zeit verbringt und die es gut kennt. Später verknüpfen sich mit dem Gesehenen und Erfahrenen dann Überlieferungen, Geschichten und Wissen über historische Ereignisse. Vielleicht wird sogar das selbst Erlebte Teil einer mündlichen Überlieferung, einer kollektiven Erinnerung. Langsame Veränderungen in der Landschaft werden sicher erst relativ spät erfasst, obwohl sie laufend erfolgen und auch beobachtet werden können. Hier wird ein Baum gefällt, dort wächst ein Gebüsch empor oder ein altes Haus wird abgerissen, um einem neuen Gebäude Platz zu geben. Verläuft die Veränderung in mäßigem Tempo und nicht drastisch, wird sie nicht als Verlust der Heimat empfunden. Andernfalls stellen sich Trauer und Desorientierung ein.
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M ENSCH
UND
N ATUR
Wenn die Natur unbedingt zu dem gehört, was wir Heimat nennen, so liegt es nahe zu vermuten, dass der Schutz und die Erhaltung von Naturdingen vielen Menschen ein starkes inneres Bedürfnis ist. Zwar kann man für die Erhaltung von Biodiversität – um einen modernen Begriff zu gebrauchen – rationale Gründe anführen, doch spielen diese bei der individuellen Begründung des Engagements für den Naturschutz nur eine untergeordnete Rolle gegenüber emotionalen Beweggründen. Nicht umsonst äußert sich dieses Engagement vorwiegend im eigenen Lebensumfeld, weit seltener im Einsatz für weit entfernte Schutzziele, vielleicht abgesehen von den fast schon symbolischen Projekten der Rettung des Regenwaldes oder gefährdeter Arten wie dem Großen Panda. Wie steht es nun mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur? Hubert Markl hat in seinem Buch „Natur als Kulturaufgabe“7 dieses Verhältnis als ein dreifaches beschrieben; der Mensch ist ihr Produkt, ihr Nutzer und ihr Beherrscher. Im Lauf der Evolution des Menschen war von Beherrschung zunächst nicht die Rede. Der frühe Mensch war wie alle anderen Lebewesen den Naturgewalten ausgeliefert. Erst seit er in der sogenannten Neolithischen Revolution Ackerbau und Viehzucht entwickelte, verändert der Mensch seine Umwelt massiv. Ackerbau und Domestizierung von Wildtieren vollzogen sich dabei in mindestens drei Regionen der Erde. Für unsere mitteleuropäische Entwicklung liegt der Ursprung der neuen Lebensweise im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds. Die Ackerbauern trafen bei ihrem Weg von dort nach Nordwesten auf eine mehr oder weniger dicht bewaldete Gegend, die sie erst punktuell, dann großflächig umgestalteten. Diese Landschaft war allerdings nicht unbesiedelt. Vielmehr trafen die Ackerbauern auf Menschen, die im und mit dem Wald lebten und eine ganz andere Beziehung zu ihm entwickelt hatten als die Einwanderer aus dem Südosten. Vielleicht kann man ihre Lebensweise am ehesten mit denen der Urwaldbewohner Amazoniens oder der indigenen Völker der Waldgebiete Kanadas und Sibiriens vergleichen, soweit sie noch nicht akkulturiert sind.
7
Markl, Hubert: Natur als Kulturaufgabe, Stuttgart 1986.
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Während also für die bereits im Waldland Mitteleuropa ansässigen Menschen der Wald die Lebensgrundlage darstellte, hatte er für die Neuankömmlinge und ersten Ackerbauern im Gebiet eine andere Bedeutung. Für den Ackerbau wurde Platz gebraucht, Nahrung für das Vieh musste er auch liefern (Waldfrüchte und Laubheu für Weidetiere, denn grasbewachsene Weiden gab es nicht oder nicht in genügender Ausdehnung) und Bauholz für die immer größer und zahlreicher werdenden Behausungen und für Einzäunungen. Auch Hausbrand, Erzverhüttung, Herstellung von Keramik und Seifen- oder Salzsiederei verschlangen große Mengen von Holz. Die Wälder wurden nach und nach zurückgedrängt, aufgelichtet und veränderten sich auch in ihrer Zusammensetzung erheblich. Arten wie die Rotbuche, aber auch Hainbuche, Tanne und gebietsweise die Fichte wanderten erst in dieser Zeit nach Mitteleuropa ein bzw. erreichten größere Anteile an der Baumartenzusammensetzung unserer Wälder. Während der letzten 7000 Jahre formte sich so das uns vertraute Bild einer Landschaft, die eine Kulturlandschaft ist, ohne Urwälder, aber mit den Spuren der landwirtschaftlichen Umbildung, die im Laufe der Zeit mit steigender Bevölkerungsdichte und verbesserten technischen Möglichkeiten immer rascher vor sich gegangen war. Trotz dieser Umbildung der Landschaft hielten sich Einstellungen zum Wald und zu Bäumen über Jahrtausende, deren Wurzeln weit in die Waldzeit zurückreichen. Obwohl Pflanzen später als Tiere in mythischen Erzählungen bzw. Mythenmärchen auftauchen8, spielen sie doch eine Rolle. Zwar kennen wir aus Europa nicht die enge Beziehung Mensch – Pflanze, wie wir sie in Völkerschaften mit totemistischen Vorstellungen (vgl. z.B. den Totemismus der australischen Aborigines9) antreffen, aber zumindest zu herausragenden Pflanzen, wie alten oder besonders großen Bäumen oder auch zu markanten Landschaftsformen bestand lange auch bei uns eine besondere emotionale oder geistige Verbindung. Diese findet ihren Niederschlag in Märchen, Sagen und Liedern, aber auch in der Kunst. Dabei tritt sowohl der Wald als Vegetationsform auf, als auch einzelne Baumarten. Zu diesen gehören vor allem die Eiche(n) und die Linde(n), aber auch Vertreter
8
Wundt, Wilhelm: Völkerpsychologie, V. Band, Mythos und Religion, 2. neu bearbeitete Aufl., 2. Teil, Leipzig 1914.
9
Erckenbrecht, Corinna: Traumzeit. Die Religion der Ureinwohner Australiens, Freiburg i. Br. 1998.
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der wenigen immergrünen Bäume Mitteleuropas wie die Eibe. Manche Bäume wurden zu Kultstätten oder Orten der Götterverehrung. Als Beispiel kann hier die Donareiche genannt werden, die Bonifatius in der Nähe von Fritzlar fällen ließ – zweifellos nur einer von vielen Bäumen, an denen die „Sachsen“ ihre Götter verehrten. Die Eiche wird dabei meistens mit einem männlichen Gott, die Linde mit einer Göttin in Verbindung gebracht10. In der germanischen und auch in der slawischen Tradition sind beide Bäume herausgehoben. Es ist auffällig, dass die Buche in der Mythologie und auch in alten Sagen und Märchen kaum vorkommt. Deutet dies darauf hin, dass die Entstehungszeit der religiösen Vorstellungen zu Eiche und Linde in die Zeit zurück reichen, in denen die Rotbuche noch keine Rolle spielte? Warum aber überhaupt Bäume? Es sind wohl ihre Größe und ihre Langlebigkeit, die diese Lebewesen für Menschen so faszinierend machen. In ihrer individuellen Existenz verbinden sie Generationen von Menschen, und sie stehen gewissermaßen zwischen Himmel und Erde11. Damit spielen sie für das Leben und Zusammenleben der Menschen eine besondere Rolle und werden daher in vielen Ländern und Kulturen geschützt. Dies ist auch bei den australischen Aborigines der Fall oder bei Völkern der afrikanischen Savanne, in deren Leben der Afrikanische Affenbrotbaum (Baobab) eine herausragende Rolle spielt. In Europa werden Bäume häufig als „Merkzeichen“ benutzt. Man pflanzt Eichen, Linden oder andere Bäume zur Erinnerung an historische Ereignisse, etwa Luthereichen oder Friedenslinden oder umgekehrt. Kehren wir zurück zur Veränderung der Landschaft Mitteleuropas durch den Menschen. Die Waldverwüstung und -zerstörung erreichte ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert12 13. Die Holzverknappung bedrohte die wirtschaftliche Entwicklung Mitteleuropas in dramatischer Weise, und ohne die Erschließung fossiler Brennstoffe und die planvolle Erneuerung der Wälder als Forsten wäre die industrielle Revolution in Europa sicher nicht so dynamisch verlaufen und mit ihr auch nicht die Bevölkerungszunahme.
10 Oesterreicher-Mollwo, Marianne: Herder-Lexikon Symbole, Freiburg i.Br. 1978. 11 Wundt: Völkerpsychologie. 12 Schroeder, Fred-Günter: Lehrbuch der Pflanzengeographie, Wiesbaden 1998. 13 Küster, Hansjörg: Die Entdeckung der Landschaft, München 2012.
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Zwar hatte man hier und da schon früher bemerkt, dass der Wald als Rohstofflieferant allmählich knapp wurde, da die Holzentnahme nicht durch nachwachsende Bäume ausgeglichen wurde14, und erließ Schutzverordnungen, „Forstordnungen“, z.B. die schwedische „Holzordnung“ von 1692 für das Herzogtum Bremen-Verden15. Das Umdenken und eine planvolle Wiederaufforstung setzten sich aber erst durch, als Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts eine „rationelle Forstwirtschaft" etabliert wurde16. Zu der Einsicht, dass der Wald aus materiellen Gründen wichtig und wertvoll, also zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen notwendig war, kamen andere Vorstellungen, die mit der Herausbildung von Nationen und den geistigen und politischen Auseinandersetzungen der Zeit verknüpft sind. Unter dem Eindruck des durch Rationalismus und Aufklärung geprägten Zeitabschnitts formierte sich in Deutschland als Gegenbewegung die Romantik, die im Rückgriff auf vermeintliche mittelalterliche Traditionen versuchte, „Philosophie und Religion zu einem neuen Ganzen zu vereinen und auf diese Weise das Vernünftige, die Welt in ihrer Rationalität aber auch in ihrem die Seele ansprechenden Charakter zu verbinden“ 17. Sie war gewissermaßen ein „Aufbegehren gegen den Klassizismus“18. Die Bilder vieler romantischer Maler an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zeugen von einer, wie Piechocki ausführt „spirituellen Durchdringung der Landschaft“. Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich seien hier als Beispiele angeführt. „Für die herausragenden Maler der Frühromantik, Friedrich und Runge, ist Landschaft die von Gott beseelte Natur, in deren Wesenheit sich Gott ständig offenbart. Der Mensch ist nicht Beherrscher der Natur, sondern staunender, ehrfürchtiger Betrachter und Teilhaber.“19. Der starke religiöse Bezug in den Werken der beiden Maler geht nicht zuletzt auf den Kontakt mit dem Rügener Pfarrer Ludwig Gotthard Kosegarten zurück; Runge war sein Schüler, als er Lehrer in Wolgast
14 Carlowitz, Hans Carl von: Sylvicultura oeconomica, Leipzig 1713. 15 Burckhardt, Heinrich Christian: Die forstlichen Verhältnisse des Königreichs Hannover, Hannover 1864. 16 Schroeder: Pflanzengeographie. 17 Piechocki, Reinhard: Romantiker auf Rügen, Hiddensee und Vilm, Putbus 1996. 18 Craig, Gordon Alexander: Über die Deutschen, München 1982. 19 Piechocki: Romantiker auf Rügen, S. 13.
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war. Und auch Friedrich gehört in den Kreis romantischer Maler, die sich auf Rügen trafen, zu denen auch Carl Blechen, Carl Gustav Carus und Friedrich Preller d. Ä. zu zählen sind20. Die ehrfürchtige Einstellung zur Natur und ihren Bildungen findet Ausdruck einerseits in der Malerei21, andererseits in der Dichtung, etwa in Goethes „Werther“ von 1774, um ein sehr frühes Beispiel zu geben. Besonders das 1797 erschienene Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“ von Ludwig Tieck hatte eine nachhaltige Wirkung auf die Zeitgenossen. Er prägte etwa den Begriff „Waldeinsamkeit“. Es würde hier zu weit führen, wollte man alle romantischen Dichter und ihre Werke aufführen, in denen auf das Verhältnis Mensch – Natur – Heimat Bezug genommen wird. Marie Jaedicke hat Zitate dazu gesammelt22. Verwiesen sei auch auf den Beitrag von Erhard Schütz in „Unter Bäumen Die Deutschen und ihr Wald".23 Auch verbanden sich in dieser Zeit Dichtungen und Musik im Spannungsfed Mensch – Natur – Heimat. Zahlreiche Texte wurden zu volkstümlichen Melodien gedichtet oder wurden von Komponisten vertont. Es gibt wohl keine deutsche „Volks“-liedersammlung ohne Lieder, in denen Bäume, Wälder oder Felder auftreten. Zu Bäumen in Liedern vergleiche die Sammlung von Jaedicke und Schoenichen24. Eine besondere Rolle spielen hierbei Mythen und Märchen, wobei in letzteren wieder der Wald wichtig ist. Ob Rumpelstilzchen, der böse Wolf, die Hexe in Hänsel und Gretel – der Wald ist häufig Wohnplatz beängstigender Gestalten oder Schauplatz oft unheimlicher und bedrohlicher Geschehnisse in den Märchen, die Romantiker wie die Gebrüder Grimm gesammelt haben. Gordon Craig25 zitiert Bogumil Goltz26 zur Faszination des Waldes, die dieser auf die Romantiker ausübte: „vor allen Naturszenen […]
20 Piechocki: Romantiker auf Rügen. 21 Vgl. Bernhard, Andreas: Der deutsche Wald in Malerei und Grafik, In: Breymayer, Ursula/ Ulrich, Bernd (Hrsg.): Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2012, S. 129-160. 22 Jaedicke, Marie/ Schoenichen, Walther: Naturschutz-Brevier, Neudamm 1927. 23 Schütz, Erhard: Dichter Wald, In: Breymayer, Ursula/ Ulrich, Bernd (Hrsg.): Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2012, S. 106-121. 24 Jaedicke, Marie/Schoenichen, Walther: Der Baum im Lied, Neudamm 1928. 25 Craig: Über die Deutschen. 26 Goltz, Bogumil: Die Deutschen, Leipzig 1923.
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ist es der Wald, in welchem sich alle Naturgeheimnisse und Naturwohltaten zusammenfinden […] Was die böse, überkluge, nüchterne, lichte und kalte Welt verschuldet und verwickelt, das muß der grüne, geheimnisvolle, bezaubernde, finstere, kulturverschlossene, aber dem Naturrecht getraute Wald wieder lösen und zurechtbiegen. Wer noch ein Herz im Leibe hat, dem muß es weh tun, daß er nicht im Wald wohnen und von Waldbeeren leben kann.“ Selbst in den Lehr- und Fachbüchern der jungen Forstwissenschaft fehlt es nicht an Anmerkungen, die den Wald nicht nur als Holzlieferanten sehen, sondern als höchste Zierde der Länder, als Resultat der „schaffenden Kräfte des Himmels und der Erde, die allermeist unerkannt und verborgen wirken“ 27. Allerdings ist es der Forstwirt, der hier eine große Verantwortung trägt, er sorgt dafür, dass unter Beachtung der obengenannten Kräfte ein Wald entsteht, der von „hoher Naturschönheit“ ist. Dabei wird versucht, das Bedrohliche, Unheimliche des Waldes zu reduzieren, es muss Ordnung herrschen, denn „nur frohes Leben will der Wanderer im Walde sehen.“ Der romantische Forstmann zeigt sich dann, wenn er seltene, besonders große, herrliche Bäume und Bestände erhält. „Vernichten wir vollends die letzten Überbleibsel der Vorzeit: so bleibt Nichts, was die Zukunft mahnen könnte an treuere Befolgung ewiger Naturgesetze; […]28.
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Sucht man genauer nach der Verbindung der beiden Begriffe Natur und Heimat, stößt man auf eine Publikation von Walther Schoenichen, der unter dem Titel „Naturschutz, Heimatschutz“ die Geschichte des Naturschutzes vor allem in Deutschland nachzeichnet29. Für eine moderne Darstellung der Entwicklung des Naturschutzes in der fraglichen Zeit verweise ich auf das Buch von Friedemann Schmoll30. Schoenichen gehört als langjähriger Direktor (1922-1935) der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preu-
27 König, Gottlob: Die Waldpflege, Gotha 1849. 28 König: Waldpflege, S. 302. 29 Schoenichen, Walther: Naturschutz, Heimatschutz, Stuttgart 1954. 30 Schmoll, Friedemann: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M. 2004.
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ßen zu den führenden Vertretern der Naturschutzbewegung in Deutschland und bildet in gewisser Weise die Brücke zwischen den Pionieren des Naturschutzes in Deutschland, Hugo Conwentz und Ernst Rudorff, und seinen modernen Ausprägungen. Die folgenden Ausführungen zu den beiden genannten basieren auf der Darstellung bei Schoenichen. Besonders Ernst Rudorff (1840-1916) zeigt in seinem Leben und Wirken die Verwurzelung des Naturschutzgedankens im Geist der Romantik und die praktische Umsetzung des Natur- und Heimatschutzes in exemplarischer Weise. Rudorff studierte Musik am Leipziger Konservatorium und war dann nach einer Zeit als freier Künstler Lehrer am Kölner Konservatorium und später an der Berliner Königlichen Hochschule für Musik. Rudorff war in seiner Jugend romantischen Einflüssen in Berlin ausgesetzt. Die Brüder Grimm, die Arnims und Ludwig Tieck kannte er persönlich. Rudorff verbrachte jeden Sommer bei seinen Großeltern auf der Burg Lauenstein im Weserbergland. Für sein Engagement für den Heimat- und Naturschutz war entscheidend, dass dort in den 1860er Jahren die sogenannte Verkoppelung durchgeführt wurde. Waren bis ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert hinein in Deutschland noch die meisten Flächen Gemeineigentum, so kam es nun nach dem Vorbild Großbritanniens zunehmend zur Besitzaufteilung. Da dadurch sehr kleine Splitterflächen entstanden, tauschte man die Besitzteile aus, legte neue Wege an, begradigte Waldränder und Wasserläufe. Dies veränderte die Landschaft durchgreifend und musste Menschen wie Rudorff, der auf dem großelterlichen Besitz ein starkes Heimatgefühl entwickelt hatte, sehr nahe gehen. Die empfundene Verschandelung der Landschaft und ihre Verunreinigung durch den aufkommenden Wandertourismus brachten ihn zu dem Entschluss, die Auseinandersetzung öffentlich zu führen. In den Preußischen Jahrbüchern31 prangerte er die Naturzerstörung an, die durch das rasante Wachstum der Städte, durch die Industrialisierung und durch die Verkoppelung verursacht waren. Zum andern befasste er sich mit den negativen Folgen eines ständig wachsenden Tourismus, der der Natur zu schaffen machte „Man feiert die Natur, aber man feiert sein, indem man sie prostituiert […]“. Mit einem gewissen Realismus erkennt Rudorff an, dass man gegen die fortschreitende technologische Entwicklung und Verstädterung wohl
31 Rudorff, Ernst: Ueber das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur, In: Preußische Jahrbücher 45 (1880), S. 261-276.
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nicht tun könne, aber es gelte, letztlich die Heimatgesinnung wieder zu erwecken. „Jeder Mensch sollte lernen, sich irgendwo zu Hause zu fühlen. Diese Kunst, die sich ehedem von selbst verstand, kam uns mehr und mehr abhanden. Sie wieder zu beleben, dafür Sorge zu tragen, daß die Liebe zum heimatlichen Boden wieder eine Macht werde im Volksleben, das müsste als eine der vornehmsten und dringendsten Aufgaben unserer Gesetzgebung, unserer Verwaltung angesehen werden“.32 Diesem Ziel standen Bestrebungen entgegen, das allgemeine Betretungsrecht des Waldes abzuschaffen und das Sammeln von Pilzen und Beeren im Wald ganz zu verbieten. Rudorff wettert: „Der ideale Mitbesitz an Gottes Erde, der dem Menschen als Menschen gebühret und der in der Freiheit, den Wald zu betreten, seinen schönsten Ausdruck findet, wird durch jene Gesetzesparagraphen stillschweigend streitig gemacht, und das ist ein Schnitt in das Herz des deutschen Volkes […] Der tiefe Sinn für Billigkeit, der den Germanen innewohnt, hat von jeher instinktmäßig in dem Begriff ‚freie Natur‘ einen Ausgleich gefunden für die Notwendigkeit der Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden; und man kann nichts Revolutionäreres tun, als hier den Spaten einsetzen, hier die uralten Wurzeln der Rechtspflege erschüttern und stören.“33. Bei dem Versuch, praktische Konsequenzen für einen Schutz der Landschaft zu entwickeln, kam Rudorff zugute, dass auf dem Gebiet der Denkmalpflege und des Denkmalschutzes die Entwicklung schon weiter vorangeschritten war. Aus der tiefen Verbindung von Natur und Kultur leitet er die Verpflichtung an, auch die Landschaft zu schützen. „Es ist hierbei nicht nur an den Schutz des Menschenwerkes gedacht, sondern zugleich an die Schonung landschaftlicher Eigentümlichkeiten, insofern die Natur als Bedingung alles menschlichen Wirkens unzertrennlich von diesem bleibt, auch in der Schätzung ihrer historischen Bedeutung. Alte Bäume, Baumgruppen und Büsche, Quellen, Bäche, Wasserfälle, Hügel, Felsen, Felskämme sind unverändert und unberührt zu erhalten.“ Nach zunächst erfolglosen Versuchen, den Denkmalschutz auch auf die Naturdenkmäler und die Landschaft zu erweitern, versuchte Rudorff auch in den Folgejahren, die Öffentlichkeit von seinem Anliegen zu überzeugen. Schließlich veröffentlichte er unter dem Titel „Heimatschutz“ zwei Schrif-
32 Zit.: Schoenichen, Naturschutz, Heimatschutz, S. 148. 33 Zit.: Schoenichen: Naturschutz, Heimatschutz, S. 149.
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ten mit seinen Ideen34 35, was zur Gründung des „Bundes Heimatschutz“ am 30.3.1904 in Dresden führte. Den Vorsitz übernahm nicht Rudorff, sondern der Architekt, Künstler und Schriftsteller Paul Schultze-Naumburg. Die Heimatschutzbewegung war allerdings keine rein deutsche Angelegenheit. Unter anderem in Frankreich und auch in der Schweiz gab es recht erfolgreiche Bestrebungen, die ebenfalls den Schutz der Landschaft zum Ziel hatten, und in Frankreich war es ebenfalls ein Künstler, Henri Cazalis (1840-1909), der in vorderster Linie für diese Idee kämpfte. Im Jahre 1901 gründete er mit Sully-Prudhomme eine Gesellschaft zum Schutz der Landschaft und der Schönheit Frankreichs: La Société de Protection des Paysages et de l’Esthétique de la France36. Zehn Jahre nach seiner Gründung formulierte der nun „Deutscher Bund Heimatschutz“ genannte Verein seine Aufgaben wie folgt: „Der Bund bezweckt, die deutsche Heimat in ihrer natürlichen und geschichtlich gewordenen Eigenart zu schützen […] Er erstrebt insbesondere den Schutz der Natur, namentlich der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt und der geologischen Eigentümlichkeiten (Pflege der Naturdenkmäler) sowie der Eigenart des Landschaftsbildes, ferner den Schutz und die Pflege […] der Bauten, der beweglichen Gegenstände, sowie der Straßen- und Flurnamen (Denkmalpflege); die Pflege und Fortbildung der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bauweise, die Pflege der Volkskunst auf dem Gebiet der beweglichen Gegenstände, der Sitten, Gebräuche, Feste und Trachten.“37 Nach und nach trat die Naturpflege bei der Vereinstätigkeit in den Hintergrund. Zugleich gründeten sich auch vielerorts eher naturkundlich ausgerichtete Vereine, die die Lücke füllten. Zu einem reichsweit tätigen Naturschutzverein (der sich im Wesentlichen nicht wie der 1899 von Lina Hähnle gegründete Bund für Vogelschutz nur um eine bestimmte Organismengruppe kümmerte) ist es aber nie gekommen. Länderübergreifende Organisationen bildeten sich erst in der Bundesrepublik Deutschland, zu nennen
34 Rudorff, Ernst: Heimatschutz, In: Die Grenzboten 56/2 (1897a), S. 401-414; S. 455-468. 35 Rudorff, Ernst: Abermals Heimatschutz, In: Die Grenzboten 56/4 (1897b), S. 111-117. 36 URL: http://www.lesvoixdelapoesie.com/poetes/jean-lahor (aufgerufen am 13. Oktober 2014). 37 Zit.: Schoenichen: Naturschutz, S. 156.
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sind hier vor allem der 1975 gegründete Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Naturschutzbund Deutschland (NABU; hervorgegangen aus dem Deutschen Bund für Vogelschutz), der sich 1990 mit dem Naturschutzbund der DDR vereinigte. Aber auch die Gründung Ernst Rudorffs existiert in veränderter Form noch. 1937 in Deutscher Heimatbund umbenannt, arbeitete er unter diesem Namen bis 1998, als er sich den heutigen Namen Bund Heimat und Umwelt in Deutschland gab. Sein Ziel ist die Erhaltung der Kulturlandschaft im Sinne Rudorffs.38 Neben diesem Werden des im Volk verwurzelten Engagements für den Natur- und Heimatschutz entwickelte sich auch der administrative Naturschutz, als dessen Begründer Schoenichen Hugo Conwentz (1855-1922) sieht. Conwentz studierte in Breslau und Göttingen mit Schwerpunkt Botanik und promovierte er über ein paläobotanisches Thema, jedoch blieb ihm die akademische Karriere wegen des fehlenden Zeugnisses eines humanistischen Gymnasium verschlossen, das für die Habilitation Voraussetzung war. Im Jahre 1880 übernahm er Aufbau und Leitung des westpreußischen Provinzialmuseums in Danzig. Neben dem Interesse an Fossilien und pflanzengeographischen Problemen widmete er sich auch der Erfassung besonders alter oder sonst bemerkenswerter Bäume. Diese Beschäftigung führte im Jahre 1900 zum Erscheinen der Schrift „Forstbotanisches Merkbuch. Nachweis der beachtenswerthen und zu schützenden urwüchsigen Sträucher, Bäume und Bestände im Königreich Preußen. I. Provinz Westpreußen“39, auch als Rechtfertigung für den Schutzgedanken: „Die urwüchsigen Bestände der Pflanzen- und Tierwelt werden vernichtet oder ihrer Lebensbedingungen beraubt, und künstlerische Züchtungen treten an ihre Stelle. Soll nicht unser Volk der lebendigen Anschauung des Entwicklungsstadiums der Natur gänzlich verlustig gehen, so ist es an der Zeit, die übriggebliebenen hervorragenden Zeugen der Vergangenheit und bemerkenswerte Gebilde der Gegenwart im Gelände aufzusuchen, kennenzulernen und möglichst zu schützen.“ und „Wenn jetzt nicht Maßnahmen getroffen werden, um dem Einhalt zu tun, wird der deutsche Wald, welcher bezeich-
38 URL: http://www.bhu.de/bhu/content/de/index.html (aufgerufen am 14. März 2016) 39 Conwentz, Hugo: Forstbotanisches Merkbuch. Nachweis der beachtenswerthen und zu schützenden urwüchsigen Sträucher, Bäume und Bestände im Königreich Preußen. I. Provinz Westpreußen, Berlin 1900.
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nende Pflanzenvereinigungen darstellt und der auch der Schauplatz der deutschen Sage und der frühesten Geschichte war, in Kürze vom Erdboden verschwinden.“ Wie Schoenichen hervorhebt, liegt die besondere Bedeutung des Büchleins in der Tatsache, dass sein Erscheinen von der preußischen Forstverwaltung und vom Landwirtschaftsminister gefördert und begrüßt wurde. Conwentz regte an, nach dem Vorbild seines Werkes Baumbücher für alle Preußischen Provinzen und auch für andere Länder Deutschlands zu erstellen. Dies gelang jedoch nicht flächendeckend, da es in anderen Ländern und Gegenden bereits etablierte Baumforscher gab, die ihre eigene Herangehensweise verteidigten. Conwentz Werk richtet sich wohl auch in erster Linie an den Forstmann oder die Verwaltungsbeamten, weniger an den interessierten Baumfreund. Jedenfalls ist es nicht zu einem für Preußen oder das Reich einheitlichem Bauminventar gekommen. In den Folgejahren dehnte Conwentz seine Überlegungen zum Baumschutz auf andere Naturbestandteile aus. Im Auftrag der preußischen Regierung verfasste er eine Denkschrift mit dem Titel: “Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung“, die 1904 zuerst veröffentlicht wurde40. Auffällig ist, dass der Begriff „Naturschutz“ nicht fällt. Schoenichen interpretiert dies so, dass Conwentz mit dem Begriff Naturdenkmal sein Anliegen mit dem gesellschaftlich viel stärker verankerten Begriff der Denkmalpflege verknüpfen wollte. Conwentz dehnte den Begriff jedoch sehr stark aus, wodurch er recht unklar wurde. Er verstand neben einzelnen Baumgestalten oder Felsbildungen darunter auch ganze Berge, Gebirgszüge, Landschaftsausschnitte, Lebensgemeinschaften von Pflanzen und Tieren, Tierkolonien und einzelne Arten von Tieren und Pflanzen. Während er lange gepflanzte Bäume (z.B. die Dorflinden) aus seinen Schutzbestrebungen ausgeschlossen hatte, erweiterte er nach und nach seine Definition und billigte auch ihnen den Wert eines Naturdenkmales zu. Der Idee eines Nationalparks, etwa nach dem Vorbild der Schweiz, stand er ablehnend gegenüber. Er favorisierte die Einrichtung kleinerer Schutzgebiete im ganzen Land. Schoenichen hebt hervor, dass Conwentz den Landschaftsschutz mit seinem Konzept der Naturdenkmalpflege durchaus verbunden habe. Neben
40 Conwentz, Hugo: Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung, Berlin 1904.
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praktischen Hinweisen zur wirksamen Schutzmaßnahmen für Naturdenkmäler und Landschaft ist ihm auch die Sensibilisierung und Bildung des Volkes ein besonderes Anliegen. 1904 erschien von ihm „Die Heimatkunde in der Schule. Grundlagen und Vorschläge zur Förderung der naturgeschichtlichen und geographischen Heimatkunde in der Schule“ 41. Die wichtigste Wirkung der Conwentzschen Denkschrift war die Anerkennung des Naturschutzes als Aufgabe staatlicher Organe. Im Jahre 1906 wurde in Danzig die Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen gegründet, deren Leitung Conwentz übertragen wurde. Ihre Aufgeben waren Inventarisierung und Monitoring der Naturdenkmäler, Ausarbeitung von Schutzmaßnahmen und die Beratung der Eigentümer oder Interessierten einschließlich der Entwicklung von Finanzierungskonzepten. Eigene Mittel in größerem Umfang hatte die Stelle jedoch nicht, ebenso wenig hatte sie hoheitliche Funktionen. 1909 erfolgte der Umzug nach Berlin, 1911 wurde die Stelle feierlich eröffnet. Conwentz war darauf bedacht, dass sich der Naturschutz auch in den mittleren und unteren Ebenen der Landesorganisation etablierte. Zugleich veranstaltete er ab 1908 Jahreskonferenzen für Naturdenkmalpflege zum wissenschaftlichen Austausch zu den Fortschritten und Herausforderungen des Naturschutzes. Etwa ab 1915, so Schoenichen42, benutzte Conwentz häufiger das Wort Naturschutz, und er widmet sich zunehmend auch dem Landschaftsschutz. Wälder und Ödland wurden nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend für die Besiedlung und die Nahrungsmittelproduktion in Anspruch genommen. Nun hält Conwentz auch „die Teile der heimatlichen Natur, die von Menschen gehegt und gepflegt werden“ für gefährdet. „In dieser Hinsicht wollen wir […] den Begriff des Naturdenkmales erweitern und das Arbeitsgebiet über die Naturdenkmalpflege im strengeren Sinne hinaus auf das Gesamtgebiet des Naturschutzes und der Naturdenkmalpflege ausdehnen“. Preußen war indes keineswegs führend auf dem Gebiet des wirksamen Naturschutzes. In Bayern gab es schon seit 1908 eine gesetzliche Möglichkeit, Verordnungen zum Schutz von Tieren, Pflanzen und prähistorischen
41 Conwentz, Hugo: Die Heimatkunde in der Schule. Grundlagen und Vorschläge zur Förderung der naturgeschichtlichen und geographischen Heimatkunde in der Schule, Berlin 1904. 42 Schoenichen: Naturschutz. S. 255.
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Funden zu erlassen. 1913 wurde der Bund Naturschutz in Bayern gegründet, der bald sehr aktiv die Sache des Naturschutzes betrieb. Er gab auch die „Blätter für Naturschutz und Naturpflege“ heraus, die viel zur Popularisierung des Naturschutzgedankens beitrugen. Bald gab es in Bayern zahlreiche Naturschutzgebiete, um die gesamte Vielfalt der noch erhaltenen Landschaftsbestandteile zu bewahren. Schoenichen sieht den wichtigsten Grund für die Schwierigkeiten in Preußen in der Position der „Rechtsparteien“, die auf der Grundlage eines „überspitzten Eigentumsbegriffs“ Eingriffe des Staates in den Privatbesitz kategorisch ablehnten. Die Entwicklung konnte damit erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges voranschreiten. Erst nach 1918 wurde im Reich ein Stand erreicht, wie er in Bayern seit 1908 existierte. Als „Zauberparagraph“ wirkte nach Schoenichen43 ein Paragraph, der 1920 in das Preußische Feldund Polizeigesetz aufgenommen wurde44. Er ermächtigte die zuständigen Ministerien und Polizeibehörden, „Anordnungen zu erlassen zum Schutze von Tierarten, von Pflanzen und von Naturschutzgebieten sowie zur Vernichtung schädlicher Tiere und Pflanzen, und zwar auch für den Meeresstrand und das Küstenmeer.“ Dieser Paragraph bildete die Grundlage für die Einrichtung zahlreicher Schutzgebiete in Preußen. Die Reichsgesetzgebung enthielt demgegenüber kaum für den Naturschutz relevante Bestimmungen. Immerhin bestimmt Artikel 150 der Weimarer Reichsverfassung, dass die Denkmäler der Natur sowie die Landschaft den Schutz und die Pflege des Staates genießen. Artikel 153, Abs. 3 bestimmt den Eigentumsbegriff. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.“45 Schnitzler merkt an, dass die Reichsgesetzgebung wegen der starken Rechtsposition des Privateigentums die Absichten der Reichsverfassung nicht wirksam werden ließ. Selbst das BGB half in seiner damaligen Fassung nicht weiter. Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist der oben erwähnte Artikel 150 sinngemäß aufgenommen worden; in Art. 20a GG heißt es: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generatio-
43 Schoenichen: Naturschutz. S. 288. 44 Vgl. Schnitzler, Leo: Naturschutz und Gesetz, In: Schoenichen, Walther (Hrsg.): Wege zum Naturschutz, Breslau 1926, S. 9-27. 45 URL: http://www.documentarchiv.de/wr/wrv.html#F%C3%9CNFTER_ABSCH NITT02 (aufgerufen am 9.März 2016).
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nen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“46 Die Ausgestaltung gesetzlicher Regelungen für den Naturschutz war in der Bundesrepublik sehr lange Ländersache. Erst im Jahre 2009 wurde das Gesetz über Naturschutz und Landespflege (Bundesnaturschutzgesetz) verabschiedet. In Paragraph 1 formulierte der Gesetzgeber zu den Zielen des Naturschutzes und der Landschaftspflege: (1) Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen im besiedelten und unbesiedelten Bereich nach Maßgabe der nachfolgenden Absätze so zu schützen, dass 1. die biologische Vielfalt, 2. die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie 3. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind; der Schutz umfasst auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit erforderlich, die Wiederherstellung von Natur und Landschaft (allgemeiner Grundsatz).47 Gut 100 Jahre nach Gründung des Bundes Heimatschutz durch Ernst Rudorff und Paul Schultze-Naumburg ist damit das auch von Hugo Conwentz so hartnäckig verfolgte Ziel eines staatlichen Schutzes für Natur und Landschaft erreicht worden. Die Verknüpfung des Waldes mit der Deutschen Nationalidentität (selbst wenn sie konstruiert und historisch nicht korrekt war) barg die Gefahr einer gegen andere Völker gerichteten Übersteigerung in sich. Es war daher für die Nationalsozialisten leicht, die etablierten Denkweisen in ihre Ideologie einzubauen. Persönlichkeiten wie Walther Schoenichen oder in
46 URL: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf (aufgerufen am 12. Oktober 2014) 47 URL: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bnatschg_2009/gesamt.pd f (aufgerufen am 12. Oktober 2014).
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besonderer Weise auch Paul Schultze-Naumburg, der erste Vorsitzende des Bundes Heimatschutz, haben hierbei eine unrühmliche Rolle gespielt.
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Wir haben gesehen, welchen Einfluss die romantische Sicht auf Natur und Heimat auf die Entwicklung des Naturschutzes hatte. Der Wert der Heimat mit ihrer Naturausstattung wurde auch mit dem Erhalt der Möglichkeit begründete, dass Menschen sich als Teil einer bis in die frühgeschichtliche Zeit zurückreichenden Erinnerung verstehen, die durch Natur und Landschaft vermittelt wird. Wenn Naturdinge, insbesondere Pflanzen und Tiere so wichtig sind für das Heimatgefühl, wird es nicht überraschen, dass Menschen etwas davon mitnahmen, wenn sie ihre Heimat verließen. Aus praktischen Erwägungen wurden zunächst Tiere auf unbewohnten Inseln ausgesetzt, um für Seefahrer als Nahrung zu dienen (so unter anderem auf den Kanarischen Inseln oder auf den Juan-Fernández-Inseln im Pazifik). Es ist auch ohne weiteres verständlich, dass Auswanderer Nutzpflanzen mit in die neue „Heimat“ genommen haben. Bemerkenswert ist aber, dass sie auch Zierpflanzen und Bäume mitgeführt haben, meist in Samenform. So haben sich einige Zierpflanzen in Gärten auf der ganzen Welt verbreitet und sind zum Teil auch verwildert. Als Beispiele seien Rosen, Chrysanthemen und Geranien, aber auch Zwiebelpflanzen wie etwa Tulpen genannt. Sie findet man in Südamerika wie in Australien und Kanada oder Südafrika in den Gärten wieder, obwohl diese Länder eigene autochthone Blütenpflanzen von großer Schönheit besitzen, die jedoch nur selten in Gärten kultiviert werden. Die Hausgärten in den Auswandererländern zeigen große Übereinstimmungen in ihrem Pflanzeninventar. Es sind auch nicht die in der alten Heimat wild lebenden Pflanzen, die mitgenommen werden, sondern Pflanzen aus Haus und Garten, also meist vor längerer Zeit wiederum aus anderen Ländern eingeführte Arten (Rosen aus dem Vorderen Orient, Geranien aus Südafrika, Chrysanthemen aus Ostasien). Wir beobachten spätestens seit Beginn der Auswanderung aus Europa eine gewisse Globalisierung domestizierter Pflanzen. Natürlich gibt es – schon aus klimatischen Gründen – zwischen Ländern und Regionen Unterschiede in der Flora von Haus und Garten, doch dürfte das Sortiment
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sich mit der Zeit noch weiter angleichen. Es gibt auch keinen Grund, warum die Pflanzenmode sich grundsätzlich anders entwickeln sollte als die Moden bei Kleidung, Autos oder Möbeln. Bei der Kolonisierung fremder Länder durch Europäer wiederholten sich im Grunde die Vorgänge, die wir schon aus der Zeit der Einführung des Ackerbaus kennen. Die geschlossenen Wälder etwa in Chile oder im östlichen Nordamerika mussten zurückgedrängt werden, um Platz für Weideflächen und Äcker zu schaffen. Weide- bzw. Wiesenpflanzen gab es kaum, auch sie wurden eingeführt. Die indigene Bevölkerung muss dies als völlige Zerstörung ihrer Heimat empfunden haben, während sich die Siedler eine Landschaft formten, die derjenigen ähnelte, die sie aus der alten Heimat kannten. Die Einwanderer fanden sich mit einer ihnen völlig unbekannten Flora konfrontiert. Von den Eingeborenen lernte man, welche Pflanzen wie genutzt werden konnten, und es sind auf diese Weise viele Nutzpflanzen in die Alte Welt gebracht worden. Andererseits und besonders in Gebieten, in denen ein Austausch mit der indigenen Bevölkerung nicht oder nur in geringem Ausmaß stattfand, musste man selbst die Natur der neuen Heimat erkunden. Von den Versuchen sich zurechtzufinden zeugt auch die Übertragung von Namen europäischer Bäume auf fremde Gewächse in der Neuen Welt. So wurde der spanische Name der Ulme auf eine Eucryphia-Art übertragen, die keineswegs mit der Ulme verwandt ist. Auch der Name der Eiche wurde für eine ganz andere Baumart verwendet, ebenso wie der Name Zypresse. Sicher ließen sich hier weit mehr Beispiele anführen, doch fehlen hierzu genauere Studien. Die Ähnlichkeit zwischen den europäischen Namensträgern und den Bäumen der Neuen Welt ist, wenn überhaupt vorhanden, oberflächlich. Wie die Namensgebung erfolgte, müsste im Einzelnen und im Vergleich mit mehreren ehemaligen Einwanderungsländern untersucht werden. Die wenigsten Einwohner dieser Länder wissen heute noch, welche Pflanzenwelt es in ihrem Land früher gab und welche Pflanzen eingeführt worden sind. Doch in den letzten 30 Jahren hat auch hier ein Umdenken eingesetzt. Immer mehr Schutzgebiete werden ausgewiesen und Arten gesetzlich geschützt. Dies ist wohl nicht zuletzt auf das Washingtoner Artenschutzabkommen von 1973 zurückzuführen und – noch wichtiger – auf die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung „Rio-Konferenz“ von 1992. Leitidee ist, dass das Naturerbe den jeweiligen Völkern gehöre und die Er-
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träge aus einer potentiellen oder tatsächlichen Nutzung ihnen zustehen, zumindest anteilig. Es sind also weniger emotionale Gründe für den Aufschwung des Naturschutzes auch in den Tropen und Subtropen verantwortlich, sondern eher die Idee der Sicherung materieller Vorteile für die Zukunft. Dennoch ist es bemerkenswert, dass nahezu alle Staaten, in vielen Ländern auch Bundesstaaten und Regionen, Nationalblumen und Nationalbäume bestimmt haben. In Kanada (Zuckerahorn) oder im Libanon (Libanonzeder) finden sich pflanzliche Motive auch in der Flagge. Nicht immer sind diese Pflanzen aber wirklich im Bewusstsein des Volkes fest verankert und präsent. Dies wurde mir deutlich, als ich Chilenen nach ihrem Nationalbaum fragte. Dies ist die Araukarie, aber die meisten Chilenen wussten darauf keine Antwort oder nannten die italienische Säulenpappel. Dieser Baum war sehr früh mit den spanischen Einwanderern nach Chile gekommen und prägt stellenweise die Landschaft, besonders in den Flussoasen des trockenen Nordens. Kaum jemand wird dort eine Araukarie in der Natur gesehen haben, da diese rund 2000 Kilometer weiter südlich vorkommt. Es wäre wohl eine lohnende Aufgabe, die Aneignungs- und Umdeutungsprozesse zu studieren, die die Auswanderung in fremde Länder begleiten. Für manche Mythen und Sagen ist dies in Zusammenhang mit der Christianisierung etwa von Südamerika schon betrachtet worden, doch ist mir keine Arbeit bekannt, die solche Prozesse speziell für das Verhältnis der Siedler zur Natur betrachten.
B IOLOGISCHE I NVASIONEN Der weltweite Austausch von Gütern und die weltumspannende Reisemöglichkeiten haben von jeher auch zu Wanderungen von Tieren und Pflanzen beigetragen, die entweder absichtlich mitgeführt wurden oder als „blinde Passagiere“ den Weg in neue Gebiete gefunden haben. In diesem Jahr gab es den Aufruf eines Biologen in Jena, in dem zur Bekämpfung des Orientalischen Zackenschötchen aufgerufen wurde. In diesem Aufruf, aber auch in Zeitungsartikeln, wurde auf die Gefahr hingewiesen, die diese aus dem Osten eingeschleppte Pflanze für die heimische
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Flora darstelle. In Arbeitseinsätzen sollte die Pflanze dezimiert und wenn möglich ganz beseitigt werden.48 49 Dies ist nur ein Beispiel für die Probleme, vor die uns die Globalisierung beim Schutz unserer heimatlichen Natur stellt. Heute ist viel von Biologischen Invasionen die Rede. Der Begriff stammt von dem britischen Ökologen Charles Sutherland Elton, der 1958 ein Buch mit dem Titel „The ecology of invasions by animals and plants“50 veröffentlichte. Heute versteht die Wissenschaft unter dem Begriff den gesamten Vorgang der Besiedlung eines neuen Gebietes durch gebietsfremde Organismen51. Das Bundesnaturschutzgesetz (§ 40, Abs. 4) verbietet zwar das Ausbringen gebietsfremder Arten in die freie Natur, 52 aber oft entkommen z.B. Pflanzen aus Gärten und sind dann nicht mehr aufzuhalten. Aber auch Krebse, Fische oder Säugetiere erreichen Europa, und einige von ihnen schädigen einheimische Arten, z.B. dezimiert die Bisamratte die Bachmuschel.53 Gebietsfremde Arten werden als invasiv bezeichnet, wenn sie unerwünschte Auswirkungen auf andere Arten, Lebensgemeinschaften oder Biotope haben54. Es geht um die Beobachtung, dass durch die Einführung von gebietsfremden Organismen Ökosysteme in ihrer Funktion auf Dauer geschädigt werden können. Dies führt unter Umständen zum Aussterben von einheimischen bzw. schon Arten. So verdrängt der aus Amerika eingeführte Rote Sumpfkrebs den einheimischen Flusskrebs. Inwieweit es sich tatsächlich um eine Schädigung handelt, hängt von dem jeweiligen Verständnis von Ökosystem ab. Handelt es sich dabei um einen Superorganismus im
48 URL: http://www.jena.otz.de/web/zgt/leben/detail/-/Experte-schlaegt-Alarm-Or ientalische-Zackenschote-vermehrt-sich-in-Thüringen-e-378260386 (aufgerufen am 9. Mai 2016). 49 URL: http://www.facebook.com/otz.de/posts/834812526547528 (aufgerufen am 9. Mai 2016). 50 Elton, Charles Sutherland: The ecology of invasions by animals and plants, Chicago 1958. 51 Heger, Tina/Trepl, Ludwig: Was sind gebietsfremde Arten? Begriffe und Definitionen, In: Natur und Landschaft 83 (2008), S. 399-401. 52 URL: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bnatschg_2009/gesamt.pd f (aufgerufen am 12. Oktober 2014) 53 URL: http://www.neobiota.de (aufgerufen am 13. Oktober 2014) 54 URL: http://www.neobiota.de (aufgerufen am 13. Oktober 2014)
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Sinne von Clements55 oder um eine mehr zufällige Artenkombination? Nur im ersten Fall wird man von einer Schädigung sprechen können56 57. Der Begriff Invasion suggeriert einen massiven Eingriff in die Ökosysteme und ruft bei vielen Menschen Angst und Sorge hervor. In den Medien ist ein gewisser Alarmismus zu beobachten, wenn es um vermeintlich invasive Arten geht. Dieser kann im Einzelfall durchaus berechtigt sein, und rasche und entschlossene Bekämpfungsmaßnahmen sind erforderlich, um die schädlichen Wirkungen einer Einführung oder Einschleppung gebietsfremder Organismen zu begrenzen. Es ist aber noch nie gelungen, eine invasive Art vollständig aus dem „infizierten“ Ökosystem zu verdrängen. Der Umgang mit gebietsfremden Arten ist aufschlussreich in Bezug auf die Motive des Naturschutzes. Wird er hier wieder zum Heimatschutz im verengten Sinne einer „rechten“ Ideologie? Das, was vor den Eindringlingen geschützt werden soll, ist ja selbst ein Konglomerat von Elementen verschiedenster Herkünfte und Einwanderungszeiten. An den meisten Orten unterlag die Landschaft und mit ihr die Vegetation überdies einem mindestens jahrhundertelangen prägenden Einfluss des Menschen. Ab wann ist eine Pflanze heimisch? Sind die oft zum Symbol des botanischen Artenschutzes avancierten Ackerunkräuter heimisch? Schließlich sind die meisten von ihnen als sogenannte Archäophyten erst mit dem Ackerbau in unsere Region gekommen. Neuankömmlinge werden, soweit es sich um Pflanzen handelt, oft Neophyten genannt. Für die Wissenschaft sind dies alle Pflanzen, die nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus in die Alte Welt gekommen sind. Im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff wohl eher eine Pflanze, die eigentlich nicht zu uns gehört, die in unserer heimischen Flora nichts zu suchen hat. Die negative Einstellung gegenüber Neuankömmlingen wird genährt durch die gefährlichen oder unangenehmen Eigenschaften bestimmter Pflanzen. So ist die photosensibilisierende Wirkung der Herkulesstaude gefürchtet und auch das allergene Potential der
55 Clements, Frederic Edward: Plant Succession: An Analysis of the Development of Vegetation, Washington D.C. 1916. 56 Vgl. Piechocki, Reinhard u.a. (Bearb.): Vilmer Thesen zu Grundsatzfragen des Naturschutzes, BfN-Skripten 281, Bonn-Bad Godesberg 2010. 57 Eser, Uta: Die Natur und das Fremde. Ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik, Frankfurt/M./New York 1999.
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Pollenkörner der Ambrosia artemisiifolia, die sich seit einigen Jahren in Deutschland ausbreitet. Viele Neophyten haben aber keinerlei negative Wirkungen auf den Menschen direkt. Allerdings verändern sie Vegetation und Flora in manchmal auffälliger Weise. So hat sich die Kartoffelrose in den Dünengebieten der Nordseeküste auf Kosten der Bibernellrose ausgebreitet. Das drüsige Springkraut besiedelt in individuenreichen Populationen die Ufer der Bäche und Flüsse und dringt mancherorts tief in die Wälder ein, wo sie die Waldwege säumt. Dass dadurch eine andere Pflanzenart ausgestorben wäre, ist nicht belegt, aber es ist offensichtlich, dass sich die Vegetation hier verändert hat. Das Bundesamt für Naturschutz hat zur Invasionsproblematik ein umfangreiches Publikationsprogramm aufgelegt und im Internet unter dem Portal „www.neobiota.de“ eine Datensammlung angelegt. Es ist illusorisch zu glauben, dass bei Zunahme der Reisetätigkeit und bei immer intensiveren weltumspannenden Handelsbeziehungen Wanderungen von Organismen zu vermeiden sind. Für unser Thema sind die Invasionen aber deshalb von Bedeutung, weil sich durch sie unsere Heimat sehr schnell verändert. Heimatgefühl stellt sich ein, wenn ein Mensch sich in seiner Umgebung auskennt und sich durch diese Kenntnis vor Gefahren sicher weiß. Er fühlt sich aufgehoben in einer Landschaft, die ihm an bestimmten Orten Schutz bietet, die ihn mit Früchten und Samen oder mit jagdbarem Wild ernährt, in einer Gemeinschaft von Menschen, die ähnliche Erfahrungen und Kenntnisse über die Landschaft haben und mit denen er eine Überlieferung, ein gemeinsames Erinnern teilt. Sind Bevölkerungsbewegungen zu stark, sodass der letzte Aspekt untergeht, oder wird die Landschaft zu schnell verändert, verändert sich die Tier und Pflanzenwelt zu rasch, geht dieses Verbundenheits- und Sicherheitsgefühl verloren. Ob und welche Bedeutung der Heimatbegriff in der Zukunft haben kann, wenn sich die bereits heute spürbaren Veränderungen intensivieren und beschleunigen, ist eine spannende Frage. Wenn wir den Blick weiten über die überschaubare Heimat des unmittelbaren Lebensraumes hinaus, ergeben sich wieder andere Fragen. Ist es denkbar, dass mit den Möglichkeiten zu reisen, mit dem reichen Angebot an Naturdokumentationen in den Medien, mit den intensiven Kommunikationsmöglichkeiten des Internet zumindest für manche Menschen sich der ganze Planet als Heimat verinnerlicht? Reicht dafür die Möglichkeit der
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Zerstörung unserer Welt durch uns selbst aus? Bildet sich eine globale Erinnerungskultur aus? Wenn wir mit Hubert Markl die Natur als Kulturaufgabe ernst nehmen, werden wir die Erde dann so gestalten können, dass sie für uns auf lange Sicht Heimat bleiben kann? Eines ist jedenfalls sicher: wenn wir die Erde als Heimat behalten wollen mit ihren vielen Heimaten, müssen wir mit der Natur zu einem Ausgleich kommen, vielleicht in einem Garten Erde.
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Kommentar von Manfred Seifert
D YNAMIK VERSUS S TABILITÄT . H EIMATVERSTÄNDNIS UND B IOLOGIE Das gewöhnlich in gesellschaftlich-kulturellen Kontexten verortbare Thema Heimat mit Frank H. Hellwig aus der Perspektive der Biologie zu betrachten, verdient Aufmerksamkeit. Dies aus mehreren Gründen: 1) Der naturwissenschaftliche Zugriff auf das Thema erscheint mit seiner Ausrichtung auf biologische, geografische und mithin physiologische bzw. physikalische Gegebenheiten in ein merkwürdiges, irritierendes Spannungsverhältnis zu treten mit dem Kulturfaktor „Heimat“, wie er seit der frühen Neuzeit bis in unsere Gegenwart als gesellschaftlicher Verständigungsbegriff Verwendung findet. Naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten und Prozesse, Aminosäuren und physikalische Klimafaktoren gewissermaßen, gegenüber der so fluiden Handhabung der Heimatbegrifflichkeit in unserer Kulturgeschichte: Vom bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendeten Rechtsbegriff über das regional und gemeinschaftsstiftend konfigurierte, territoriale Heimatverständnis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit seinen idealisierten, emotionalisierten und ästhetisierten Ausformungen zur dämonisch-folgenreichen sozial- und gesellschaftspolitischen Begriffsfüllung in nationalistischen und eben nationalsozialistischen Zusammenhängen, bis sich ab den 1960er Jahren eine weithin entpolitisierte und zunehmend entregionalisierte Auffassung etabliert, die die Heimat als ländlich-naturverbunden eingekleidete, mental satisfaktionierende Pri-
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vatsphäre entwirft.1 Und um die flexibel-dynamische Begriffsfüllung in der gesellschaftlich-kulturellen Sphäre hinsichtlich ihrer verwirrenden Polyvalenz ganz auszuschreiten, darf jene gerade seit ein paar Jahren in immer stärkerem Maße ausgreifende Anrufung von ,Heimatʻ im öffentlichen Diskurs nicht unterschlagen werden, wie sie vom Tourismus, der Werbung und von Unterhaltungsmedien zum Stimulans, Versprechen und Erklärungsangebot in den Bereichen Lebensstil und Konsum eingesetzt wird.2 Heimat also ein enorm lebendiges, kreatives Feld gesellschaftlich-kultureller Verständigung gegenüber naturwissenschaftlichen Prinzipien, Regeln und Vorgängen. 2) Die Betrachtung von Heimat unter biologischen Gesichtspunkten wirkt jenseits der eben skizzierten Irritationen auch herausfordernd, ja alarmierend. Denn obwohl sich eine naturwissenschaftliche Annäherung an das Kulturphänomen Heimat gewissermaßen wie eine Operation am falschen Körperteil präsentiert und damit von vornherein in die Irre zu gehen droht, bietet doch die Kulturgeschichte des Heimatverständnisses selbst derlei Affiliationen. Dies reicht von den Überlegungen zur Territorialität des Menschen, dessen Revierverhalten analog zum Tierreich eine Wurzel des Heimatbedürfnisses darstelle, über das beliebte Argument einer sich im Heimatbegriff konstituierenden Bindung an einen geografischen Ort, der als Kulturlandschaft Naturphänomene miteinschließe, bis hin zum handgreiflich-aggressiven Einsatz als Argument in nationalistischen, rassistischen und ausländerfeindlichen Kontexten, wo es um Inklusion versus Exklusion
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Schumann, Andreas: Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914, Köln u.a. 2002; Bausinger, Hermann: Auf dem Weg zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, In: Der Bürger im Staat Jg. 33 (1983), Heft 4, S. 211-218; Köstlin, Konrad: Heimat denken. Zeitschichten und Perspektiven, In: Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, S. 23-38.
2
Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden, München 2014; Schumann, Andreas: Heimatbilder reloaded. Populäre Repräsentationen eines alten Begriffs, In: Blätter für deutsche Landesgeschichte Bd. 150 (2014), S. 211-219; Schwarz, Angela: Durch Klick zur Heimat? Virtuelle Heimat-Bilder im World Wide Web, In: Volkskunde in Sachsen 26 (2014), S. 203-228.
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auf der Basis von gerne biologistisch verstandener Reinheit und trennender Ordnung geht.3 Jene vorwiegend in ein harmonisch-idealisiertes Bild gesetzte Attraktivität von Heimat hat mit ihren biologisch-biologistischen Tönungen also auch ihre Schattenseiten, die im Laufe unserer Kulturgeschichte schon mehrmals ausgespielt worden sind und nicht nur in den handgreiflich ausschließenden Positionen der jüngst reüssierenden rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreise auch weiterhin eine Problemzone darstellen. Frank Hellwigs biologischer Streifzug zum Thema Heimat setzt zu einer Tour d´ Horizont an, die unter die untersuchungsleitende Frage gestellt ist, welche Rolle die Naturdinge in dem Diskursphänomen ,Heimatʻ spielen. Als Biologe und Direktor des Instituts für Spezielle Botanik an der Universität Jena fokussiert er dabei auf die Bereiche Vegetation und Pflanzen. Seinen problembewusst und reflektiert angelegten biologischen Streifzug gliedert er in vier Abschnitte. In Abschnitt 1 zum Wechselverhältnis Mensch-Natur steht die Beziehung des Menschen zum Wald und zu Bäumen im Zentrum: sie wird aus paläoanthropologischen Bedingungen des Lebens im Wald abgeleitet und hinsichtlich ihrer Fortwirkung in den Symbolisierungen von Baumarten in mythischen Erzählungen, Volksmärchen, Volksliedern und der Malerei tendenziell bis zu gegenwärtigen waldaffinen Einstellungen verfolgt. Dass die genannten literarisch-künstlerischen Quellen das Ergebnis einer seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert selektiv nach ästhetisch-moralischen Kriterien erfolgten Suche nach den vermeintlich zivilisationsfernen Ursprüngen der Volksseele sind, ist in der jüngeren Kulturforschung hinreichend behandelt worden.4 Für die Beziehung Mensch – Baum bieten auch
3
Von Uexküll, Jakob: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Berlin 1934; Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt/M. 1972; Schmitt-Roschmann, Verena: Heimat. Neuentdeckung eines verpönten Gefühls, Gütersloh 2010, S. 65-76; Egger: Heimat (wie Anm. 2), S. 270-295.
4
Bausinger, Hermann: Lemma Naturpoesie, In: Enzyklopädie des Märchens 9 (1999), Sp. 1273-1280; Brednich, Rolf W./Schneider, Anette/Werner, Ute (Hrsg.): Natur-Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Halle vom 27.9. bis
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etwa die umfangreichen Studien von Albrecht Lehmann eine breite kulturgeschichtliche Rahmung, die die Aspekte der Nationalsymbolik des Deutschen Waldes sowie die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen seiner Freunde und Nutzer hinzufügen.5 In Abschnitt 2 unter dem Titel „Naturschutz und Heimatschutz“ tritt vermittels der Vorstellung der Auffassungen und Programmatiken zweier Pioniere des Naturschutzes in Deutschland (Ernst Rudorff und Hugo Conwentz) klar hervor, wie sich das bürgerliche Heimatverständnis in Reflex auf die Industrialisierung und auf den damit einhergehenden Gesellschaftswandel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Landschaftsnatur in den damals noch als ,intaktʻ empfundenen Kulturlandschaften zuwendet. Auffällig ist das bei beiden Protagonisten aufscheinende statische Verständnis von ,Heimatʻ, die bewahrt werden muss, was hier insbesondere auf das Konservierungsstreben der regionaltypischen Vegetation zielt. Dieses Verständnis ist Teil des idealisierten, emotionalisierten und ästhetisierten Heimatverständnisses, wie es das Bürgertum als gesellschaftsleitende Schicht während des 19. Jahrhunderts ausbildete und zu seiner Utopie bei der Suche nach gesellschaftlicher Orientierung ausbaute. Dieses bürgerliche Heimatverständnis ist klar schichtspezifisch, es gelingt ihm allerdings im 20. Jahrhundert die Sedimentierung als dominante Heimatauffassung mit gesellschaftsweiter Ausstrahlung, die bis zur Gegenwart nachwirkt und ebenso berechtigte alternative Lesarten von ,Heimatʻ nur schwer zur Geltung kommen lässt. Dabei verlangen gerade die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen − ich nenne hier nur die Schlagworte Globalisierung, Mobilität, Migration – nach hieran angepassten Denkweisen über ,Heimatʻ, die nüchterner, rationaler und sozialer ansetzen als diese alten, emotional-
1.10.1999, Münster u.a. 2001. Als historisches Beispiel siehe Mannhardt, Wilhelm: Wald- und Feldkulte, 2 Bde., Berlin 1875/1877. 5
Lehmann, Albrecht: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek bei Hamburg 1999; Ders.: Wald als „Lebensstichwort“. Zur biographischen Bedeutung der Landschaft, des Naturerlebnisses und des Naturbewußtseins, In: BIOS 9 (1996), Heft 1, S. 143-154; Schriewer, Klaus: Die Gesichter des Waldes. Zur volkskundlichen Erforschung der Kultur von Waldnutzern, In: Zeitschrift für Volkskunde 94 (1998) S. 71-90; Seeland, Klaus: Der Wald als Kulturphänomen. Von der Mythologie zum Wirtschaftsobjekt, In: Geographica Helvetica 48 (1993) Heft 2 S. 61-66.
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utopischen Konzepte mit ihrem sozial abgewandten Fokus auf Objekte und Artefakte, auf Orte, Landschaften und entrückte Natur.6 Wie aber diese bürgerlichen Denkmuster der Naturschutzpioniere im Laufe der Zeit in die Landes- und Bundesgesetzgebung einfließen, wo sie bis heute fortgeschrieben werden und sich damit verfestigen, führt dieser zweite Abschnitt deutlich aus. Unter den Titeln „Pflanzen im Gepäck“ und „Biologische Invasionen“ wird in den Abschnitten 3 und 4 aus verschiedenen Perspektiven und beeindruckend kenntnisreich jene statische Auffassung von Natur und Vegetationsverhältnissen gründlich ad absurdum geführt. Denn was sich spätestens seit der Entdeckung Amerikas 1492 auf dem Gebiet der Pflanzen als globaler Austausch zwischen den Kontinenten etabliert hat, stellt keineswegs ein Randphänomen dar. Ursprünglich als bewusste Übersiedelung von Nutzpflanzen nach Europa oder von Europa weg in die Kolonien, bilden diese heute einen kulturell gesuchten und breit akzeptierten Bestandteil unserer Kulturlandschaft. Spannend dabei ist, dass in diesem Bereich die sonst im populären Landschaftsverständnis vorherrschende Haltung einer rückwärtsgewandten Konservierung des traditionell Bestehenden merkwürdig gebrochen erscheint.7 Denn wie der Blick in Hausgärten und Parks offenbart, genügt unserem Empfinden die monotone Zelebrierung des örtlich Vorhandenen eben nicht.8 Dem Menschen als Kulturwesen ist es empirisch
6
Seifert, Manfred: Heimat und Spätmoderne. Über Suchbewegungen nach Sicherheit angesichts von Mobilität, Migration und Globalisierung, In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 39 (2011/2012), S. 199-221.
7
Fischer,
Norbert:
Metamorphosen
des
Landschaftsbegriffs.
Patchwork-
Landschaften in Post-Suburbia, In: Krebs, Stefanie/Seifert, Manfred (Hrsg.): Landschaft quer Denken. Theorien – Bilder – Formationen, Leipzig 2012, S. 241-255; Keller, Simone: Lemma Kulturlandschaften, In: Schnell, Ralf (Hrsg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen
seit
1945,
Stuttgart/Weimar
2000,
S.
273;
Hage,
Gott-
fried/Hoppenstedt, Adrian/Schmidt, Catrin: Kulturlandschaft als Identifikationsraum, In: Garten + Landschaft 2/2010, S. 22-25. 8
Lieske, Heiko: Eigenheimgärten. Zur Gartenkultur in Neubaugebieten, Dresden 2009. Zur Charakteristik von Gärten als Arenen kulturellen Spiels vgl. Ecker, Hans-Peter: Gärten als Spielräume, In: Klose, Joachim/Lindner, Ralph/Seifert, Manfred (Hrsg.): Heimat heute. Reflexionen und Perspektiven, Dresden 2012, S.
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ein Bedürfnis, der schieren Natur die kulturelle Setzung gegenüber zu stellen – ein kulturelles Bedürfnis, das sich seit den vorgeschichtlichen Anfängen zurückverfolgen lässt und sich beispielsweise in latènezeitlichen Viereckschanzen der keltischen Einwohner Mitteleuropas markant dokumentiert: Sie gestalteten ihre Gutshöfe mit deren Kultstätten und gesellschaftlichen Konzentrationspunkten als vom umgebenden Waldland ausgesonderte baumlose Flächen und zur wilden Naturumgebung hin mit Ringwällen abgeschottete Kulturareale.9 Anders sieht es bei den vom Menschen unbeabsichtigten Pflanzen- und Tierwanderungen aus, die sich im Beigepäck des internationalen Güteraustauschs vollziehen. Hier haben der in den letzten Dezennien stark angestiegene Schiffsverkehr sowie der Flugverkehr zur invasionsartigen Verbreitung außereuropäischer Pflanzen geführt, die mittlerweile landschaftsprägende Dimensionen angenommen hat.10 Ich verweise wie Hellwig lediglich auf das Orientalische Zackenschötchen, die Herkulesstaude, die Kartoffelrose oder das Drüsige Springkraut. Wie die aus dem gesellschaftlichen Bereich bekannte fremdenfeindliche Haltung mithilfe einer zum Alarmismus tendierenden Medienberichterstattung zunehmend auf die allgemeine Wahrnehmung der naturhaltigen Umgebungsräume überschlägt und auf diesem Wege mit rechtslastigen Heimatkonzepten amalgamiert, arbeitet Hellwig kritisch und profund heraus. Es erscheint nun allerdings erklärungsbedürftig, wie angesichts der auch in den vorangehenden Abschnitten behandelten Dynamiken, den Aneignungs- und Umdeutungsprozessen im kulturellen Umgang mit Natur und Landschaft, dennoch an einem konsequent ortsbezogenen Heimatverständnis festgehalten werden kann, das stabile Erfahrungswerte benötigt und sich
61-71; Peter Heine: Zur Kultur des Gartens – Ein interkultureller Vergleich, In: ebd., S.137-147. 9
Heiland, Stefan: Naturverständnis. Dimensionen des menschlichen Naturbezugs, Darmstadt 1992, S. 72-92; Bargatzky, Thomas: Naturvölker und Umweltschutz. Ein modernes Missverständnis, In: Universitas 47 (1992), S. 876-886; Neumann-Eisele, Petra (Hrsg.): Viereckschanzen: rätselhafte Bauwerke der Kelten. Stand der Viereckschanzenforschung in Bayern und Baden-Württemberg. Kolloquium Kelheim, Kelheim 2005.
10 Kegel, Bernhard: Die Ameise als Tramp. Von biologischen Invasionen, München 2001.
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neben den gesellschaftlich-sozialen Aspekten wörtlich „unbedingt“ auch auf die Natur bezieht. Denn die Widersprüche zwischen dem bürgerlichen Heimatbild und den gegenwärtigen Dynamiken sowie lebhaften Austauschbeziehungen sowohl in der gesellschaftlichen wie eben auch der zoologisch-botanischen Sphäre erlauben keine Verschränkung ohne Inkonsequenzen. Vielmehr führen sie zu letztlich unangemessenen Perspektivierungen, wie ich meine. Deshalb abschließend kurze Worte zur analytischen Behandlung des Heimatbegriffs in der aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung. Dort wird der Begriff „Heimat“ aus der Subjektperspektive analysiert. Es interessiert der konkrete Umgang des Menschen mit dem kulturellen Konstrukt ,Heimatʻ, indem man die Subjekte in ihren persönlich vergesellschafteten Handlungspraxen und Einstellungsstilen untersucht.11 Aufgrund dieses akteurszentrierten, handlungsorientierten Zugangs offenbart sich ,Heimatʻ seit jeher als ein dynamisches Produkt aktiver Gestaltung, als Vorgang der Beheimatung, der auf je konkreten persönlichen Lebensverhältnissen in ihrer identitätsstiftenden Emotionalität und sozialen Bindung aufruht. Folgerichtig tritt untersuchungstechnisch an die Stelle des obligaten Raumbezugs im klassischen Heimatdiskurs hier der Sozialbezug: ,Heimatʻ und ,Beheimatungʻ werden somit als Sozialkategorien konzeptualisiert – und sie stehen damit in engem Zusammenhang mit der Identitätsbildung. Eine vorsoziale Heimat gibt es demnach jenseits von (medien)gesellschaftlich vermittelten Konsumangeboten nicht. Das Phänomen ,Heimatʻ stellt somit keine objektive oder gar ,natürlicheʻ Sache dar, sondern offenbart sich als ein Interpretament, das individuell im biografischen Verlauf von der Kindheit zum Erwachsenenalter als sekundäre – gesellschaftliche − Bemusterung von primär während der Kindheit subjektiv erfahrenen Vertrautheits- und Sicherheitsgefühlen erfolgt. Beheimatung erweist sich in diesem Sinne lediglich insofern als
11 Vgl. insbes. Binder, Beate: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung, In: Zeitschrift für Volkskunde 104 (2008), S. 1-17; Schilling, Heinz: Heimat und Globalisierung. Skizzen zu einem ausgreifenden Thema, In: Alzheimer, Heidrun u.a. (Hrsg.): Bilder – Sachen –Mentalitäten. Arbeitsfelder historischer Kulturwissenschaften. Wolfgang Brückner zum 80. Geburtstag, Regensburg 2010, S. 589-606; Seifert: Heimat (wie Anm. 6).
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raumbezogen, als die Konstruktion personaler Identitätsbezüge an jeweilige örtlich situiert erlebte Sozialbezüge amalgamiert ist − die allerdings im Kontext plurilokaler Ortsbezüge des spätmodernen Lebens vielfach auf die örtlichen Komponenten verkürzt gehandhabt werden (müssen). Menschliches Denken und Handeln und damit die kulturelle Praxis besitzen letztlich eine biologische Wurzel, doch sie werden gerade nicht (ausschließlich bzw. vorrangig) biologisch-physiologisch „produziert“, wie uns die Neurophysiologie glauben machen möchte.12 Deshalb führt es am Wesentlichen vorbei, kulturelle Konstruktionen wie das ,Heimatʻ-Empfinden biologistisch mit einem anthropologischen Elementarbedürfnis zu erklären. Vielmehr bilden soziale und kulturelle Momente die konstituierenden Grundelemente. In Form von Flora, Fauna und Naturdingen vermögen biologisch-physikalische Gegebenheiten allerdings durchaus atmosphärische Affektationen zu veranlassen, und als szenische Einsprengsel formieren sie freilich ein grassierendes Motiv des populären Heimatbildes seit dem 19. Jahrhundert.
12 Seifert, Manfred: Personen im Fokus. Zur Subjektorientierung in der Europäischen Ethnologie, In: Zeitschrift für Volkskunde 111 (2015), S. 5-30.
Ego enim Tolosae positus, tu Treveris constituta Gallien im Briefwerk des Sulpicius Severus und des Paulinus von Nola M EINOLF V IELBERG
(I) Der Tod des Mönchsbischofs von Tours lag noch nicht lange zurück, als Sulpicius Severus sich in einem Brief an Bassula, wie folgt, bei ihr beklagte: „Wenn es gesetzlich erlaubt wäre, Verwandte vor Gericht zu ziehen, würde ich dich tatsächlich in gerechtem Zorn wegen Diebstahls anklagen und vor das Tribunal des Prätors schleppen… Du lässt nicht das kleinste Blatt bei mir zuhause unangetastet zurück, kein Buch, keinen Brief: Alles stiehlst du und machst es der Öffentlichkeit bekannt. Wenn ich etwas vertraulich an einen Freund geschrieben habe, wenn ich zufällig, zum Zeitvertreib, einige Zeilen diktiert habe, die ich trotzdem lieber unediert lassen möchte – dies alles gelangt fast früher zu dir, als es geschrieben oder diktiert wurde. Offenbar hast du meine Sekretäre auf deiner Gehaltsliste, die dich über alle Kleinigkeiten informieren, die ich verfasse, um sie zu publizieren. Und doch kann ich meinen Ärger nicht an ihnen auslassen, wenn sie dir gehorchen. Schließlich stehen sie mir in erster Linie dank deiner Großzügigkeit zur Verfügung; sie haben nicht vergessen, dass sie mehr zu dir als zu mir gehören.“1
1
Sulp. Sev. epist. 3,1-2. Übersetzung nach Mratschek, 2002 S. 459.
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Ursache des gespielten Gefühlsausbruchs ist das Erstaunen des Severus darüber, dass Bassula einen nicht für die Öffentlichkeit gedachten Brief an Aurelius, der eine Mitteilung über den Tod des Mönchsbischofs von Tours enthielt, 2 an sich gebracht und umstandslos veröffentlicht hatte. Severus ist um so erstaunter, als „er sich selbst in Toulouse aufhielt, während Bassula in Trier wohnte. Notgedrungen berichtet er ihr ,unter dem Siegel der Verschwiegenheit‘ vom Tod und vom Begräbnis des Wundertäters. In Wirklichkeit kam dem Autor ihr Interesse sehr gelegen; er war zweifellos froh, über die Beziehungen und finanziellen Mittel der Aristokratin verfügen zu können.“ 3 Er plante nämlich, seinen Brief an Bassula mit anderen an Aurelius und einen gewissen Eusebius als Anhang der Martinsvita zu veröffentlichen, die gemeinsam den Kern des ,Martinellus‘ bilden, jenes zwischen dem vierten und achten Jahrhundert in Gallien entstandenen hagiographischen Dossiers, in dem das Wirken des Mönchsbischofs beschrieben wird.4 Mit den Worten ego enim Tolosae positus, tu Treveris constituta (ich bin ja in Toulouse, du dagegen in Trier befindlich) bezeichnet Severus dabei aber nicht nur Wirkungsstätten des Mönchsbischofs, sondern beschreibt auch seinen eigenen Lebensraum.5 Im Norden ist er durch Tours begrenzt, im Süden durch Toulouse. Im Westen erstreckt er sich bis zur Atlantikküste, im Osten bis zu einer imaginären Linie westlich von Trier. In Bordeaux hatte der um 363 geborene Severus Rhetorik studiert und war dort als Anwalt tätig. Erst nach dem Tod seiner Frau verzichtete er 394 oder 395 unter dem Einfluss des Mönchsbischofs, den er in Tours besuchte, auf sein ererbtes Vermögen und wandte sich der asketischen Lebensweise zu.6 399 grün-
2
Mratschek, 2002 S. 459-460; Schwitter, 2015 S. 41-44; Chastagnol, 1982.
3
Mratschek, 2002 S. 460.
4
Hellmann, 2002; Vielberg, 2006.
5
Sulp. Sev. epist. 3,1,3.
6
Es wird erschlossen aus Paul. Nol. epist. 5,5 neque te divitiae de matrimonio familiae consularis adgestae neque post coniugium peccandi licentia et caelebs iuventas ab angusto salutis introitu et arduo itinere virtutis in mollem illam et spatiosam multorum viam revocare potuerunt (Übersetzung hier und im Folgenden nach Skeb (1998) 176: „Weder der Reichtum, der dir durch die Heirat in eine konsularische Familie zuteil geworden war, noch die Möglichkeit, nach der Heirat zu sündigen, noch die ehelose Jugend konnten dich vom engen Eintritt in
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dete er in Primuliacum eine klösterliche Gemeinschaft, wo er sein weiteres Leben mit dem Ausbau des Klosters und der Abfassung weiterer Martinsdialoge und einer Weltchronik in zwei Büchern verbrachte. Zwischen 395 und 405 führte Severus einen Briefwechsel mit Paulinus von Nola, der wie er aus Gallien bzw. Aquitanien gebürtig und wie er ein Schüler des Ausonius war. Im paulinischen Briefkorpus nimmt der Briefwechsel mit dreizehn erhaltenen Schreiben an Severus den größten Raum ein. Die Antwortbriefe sind nicht erhalten. Ihr Inhalt kann aber aus den Briefen des Paulinus erschlossen und mit künstlerischen und literarischen Vorhaben des Severus in Verbindung gebracht werden. In der Forschung wurden Martinsvita, Martinsbriefe und Martinsdialoge je für sich und das hagiographische Dossier insgesamt gewürdigt. Es wurden das gallische und das westliche Mönchtum, die Weltchronik des Severus als Einzelwerk und als Teil der spätantiken Geschichtsschreibung erforscht.7 Die erhaltenen Briefe des Severus wurden als Teil des hagiographischen Dossiers überliefert und in Bezug darauf gewürdigt, seine verlorenen Briefe hingegen als Teil der Korrespondenz des Paulinus von Nola behandelt.8 Es gibt aber keinen Versuch, die vorhandenen und die verlorenen Briefe des Severus unter dem Gesichtspunkt ihres Gallienbezugs zu lesen und sie zu den entsprechenden Teilen des hagiographischen Dossiers und der Weltchronik des Severus in Beziehung zu setzen. Der Umstand, dass Südgallien im Briefwechsel der beiden dort befindlichen Eleven des Ausonius erscheint, könnte als selbstverständlich und daher nicht der Rede wert erscheinen. Es fragt sich aber nicht nur, wann, wo und wie sie ihre gallische Heimat darstellen. Es geht auch darum, zu welchem Zweck sie es tun, ob werbend oder verteidigend, ob in der Absicht, den Briefempfänger oder die literarische Öffentlichkeit zu überzeugen oder Leistungen des Briefpartners zu überbieten. Es lohnt sich auch, nach den tieferen Gründen zu fragen, warum Gallien in dieser oder jener Weise dargestellt wird, ob dafür religiöse Motive oder politische Gründe, wie ein besonderes oder allgemeines Gefühl der Bedrohung ausschlaggebend sind, ob andere Befind-
das Heil und vom steilen Weg der Tugend zu jenem weichen und weiten Weg der Vielen zurückrufen ...“). 7
Prinz, 1965; Jenal, 1995; Alciati, 2011; Ghizzoni, 1983; Weber, 1997; Mehl, 2001 S. 190-191.
8
Chastagnol, 1982; Skeb, 1998 S. 74-80.
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lichkeiten im Spiel sind, die sich aus der unterschiedlichen Einsatzbereitschaft für die betreffende Region erklären, oder ob in dem Briefwechsel vielleicht Veränderungen der longue durée sichtbar werden, die auf der lokalen und regionalen Ebene „zu einer Neudefinition von Gruppenzugehörigkeiten und kulturellen Mustern der kollektiven Identitätsbildung“ führen. Unsere vorläufige Antwort auf diese Fragen ist, dass sich in dem Briefwechsel von Paulinus und Severus und dem hagiographischen Oeuvre des letzteren durchaus divergierende Vorstellungen des provinzialrömischen Raums finden, in dem sie leben und dem sie sich verbunden fühlen. Aber auch, dass ihre divergierenden, ja konfligierenden Konzepte auf verschiedenen Vorstellungen von ,Heimat‘ (patria) beruhen und die unterschiedliche Verwendung und versuchte Durchsetzung der unterschiedlichen Vorstellungen nicht nur mit der religiösen Einstellung der Briefpartner, sondern auch mit ihrem familiären Hintergrund und ihren politischen Erfahrungen und ihren davon beeinflussten persönlichen Zielsetzungen und Lebensentwürfen zu tun haben könnte. Zur Entwicklung unserer Hypothese werden wir in drei Schritten vorgehen. Wir werden erstens (1.) die erhaltenen Briefe des Severus, die zwischen 396 und 398 oder, nach der Datierung von Barnes, zwischen 396 und 401 entstanden sind, in ihrem Verhältnis zum ,Martinellus‘ betrachten und dabei auch auf römische Autoren der späten Republik und der frühen Kaiserzeit zurückblicken. Wir werden zweitens (2.) aus dem Briefwerk des Paulinus seine Korrespondenz mit Severus über den Zeitraum von 395 bis 405 untersuchen. Dabei achten wir besonders auf rekurrierende epistolographische Motive, die Gallienbezüge haben und damit zu den gleichzeitig entstandenen Werken des Severus in Beziehung gesetzt werden können. Drittens (3.) werden wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede in dem Briefwechsel und dem hagiographischen Oeuvre, speziell den Martinsdialogen, und der Weltchronik herausarbeiten und daraus auf mögliche Ursachen und Beweggründe zu schließen suchen, die zur kollektiven Identitätsbildung beitragen mochten.
(II) (1) Die Darstellung Galliens in den erhaltenen Severusbriefen Die erhaltenen Briefe des Severus haben gemeinsam, dass sie zwischen 396 und 398/401 an gallische Empfänger gerichtet sind. Als Paratexte sind sie
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notwendige Bestandteile des ,Urmartinellus‘ und haben die Aufgabe, die Martinsvita einzuleiten, sie zu ergänzen und abzuschließen. Der erste Brief ist an einen gewissen Desiderius gerichtet. Desiderius wird mit dem gleichnamigen Briefpartner des Paulinus von Nola aus dem südfranzösischen Narbo identifiziert.9 Es handelt sich um einen Widmungsbrief. Desiderius wird gebeten, die Martinsvita entweder gar nicht oder anonym zu veröffentlichen, damit Severus der Kritik entgehe, die berechtigt und zu erwarten sei. Die Bitte an den expliziten Leser schmeichelt dem Sachverstand der intendierten Rezipienten und wirbt um ihr Wohlwollen. Der zweite Brief ist der erste eines Zyklus von drei Briefen, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit Martins Tod befassen und deutlich machen, dass Severus die zu Lebzeiten des Mönchsbischofs publizierte Vita offen gestaltet und auf Ergänzung der Todesumstände angelegt hatte.10 Der Brief wirkt als Auftakt. Er führt in das gemeinsame Thema ein, indem geschildert wird, wie der Mönchsbischof bei einer früheren Gelegenheit, als er außerhalb von Tours in seiner Diözese übernachtete, noch einmal glücklich dem Tod entkam. Das Haus, in dem er übernachtete, war in Brand geraten. Der Grund des Schreibens ist, dass ein Leser der Martinsvita ihren Verfasser gefragt hatte, wieso der Mönchsbischof, der so viele Feuer gelöscht und viele Menschen von den Toten erweckt habe, beinahe selbst bei einem Brand ums Leben gekommen sei. Die Epistel ist an einen gewissen Eusebius gerichtet, der wohl ein ehemaliger Schüler Martins war11 und, nach dem Zeugnis der Dialoge, zu dem Zeitpunkt, als er das Schreiben erhielt, bereits Presbyter und später Bischof war.12 Der zweite Brief des Zyklus ist an einen Diakon Aurelius gerichtet. Er wird mit dem Priester Aurelius am Anfang des dritten Martinsdialogs identifiziert und war Vorsteher einer Gemeinde bei Primuliacum.13 Severus berichtet, wie ihm morgens, als er allein in seiner Zelle
9
Paul. Nol. epist. 43; vgl. Mratschek, 2002 S. 627; Fontaine, 1968, Bd. 2 S. 360361.
10 Fontaine, 1967 Bd. 1, 119; Vielberg, 2006 S. 50. 11 Fontaine, 1969 Bd. 3, S. 1122. 12 Sulp. Sev. dial. 2,9,5 in epistula tamen postea, quam ad Eusebium, tunc presbyterum, modo episcopum fecit. (Übersetzung hier und im Folgenden mit geringfügigen Abweichungen nach Bihlmeyer 1914: “... aber nachher in dem Briefe an Eusebius, der damals Priester war, jetzt Bischof ist.“). 13 Sulp. Sev. dial. 3,1,4, vgl. Fontaine, 1969 Bd. 3, S. 1184.
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war, im Halbschlaf der Mönchsbischof erschien. Er habe ein Lächeln auf den Lippen und einen libellus in der Hand gehabt. Es ist, natürlich, die Martinsvita. Severus schildert, wie er den Bischof zu umarmen meinte, wie ihm dieser aber aus der Umarmung entrissen und in die Höhe entrückt worden sei, wo er bald in den Wolken verschwand.14 Als Severus aus dem Halbschlaf erwachte, sei er von einer traurigen Botschaft überrascht worden. Aus Tours seien zwei Mönche eingetroffen, die den Tod des Bischofs meldeten. Mit dieser Vision wird das in der veröffentlichten Vita fehlende Ende des Mönchsbischofs mit Hilfe des Briefs ergänzt und eine Brücke zu ihrem Verfasser geschlagen. Der dritte Brief des Zyklus ist an seine in Trier befindliche Schwiegermutter gerichtet. Bassula stammt nicht aus der Hauptstadt des spätantiken Imperium Romanum. Sie lebt dort aber so weit von ihrer Heimat entfernt, dass Severus sich ihretwegen Sorgen macht.15 Bassula, die scherzhaft des Diebstahls seiner Briefe bezichtigt wird, in Wirklichkeit aber als seine Literaturagentin in Gallien und Spanien wirkte16, wird über die letzten Tage und Stunden des Mönchsbischofs und sein Begräbnis in Tours unterrichtet. Es ist der letzte der erhaltenen Briefe des Severus, die dadurch, dass sie das Leben des Mönchbischofs aus dem Blickwinkel seines unmittelbaren und weiteren Umfelds beschreiben, unverkennbar auf die Diözese Tours und die angrenzenden Regionen von Aquitanien über Narbonensis und Lugdunensis bis Belgien bezogen sind. Während in sieben pseudepigraphischen Briefen des Severus, die nicht zum Martinellus gehören und auch getrennt davon überliefert sind, Gallien überhaupt nicht erwähnt wird,17 sind die Adressaten der echten Severusbriefe offenbar Mitglieder eines gallo-römischen Netzwerks.18 Es wird nur
14 Sulp. Sev. epist. 2,4. 15 Sulp. Sev. epist. 3,3 ego enim Tolosae positus, tu Treveris constituta et tam longe a patria filio inquietante divulsa („Ich war in Toulouse, du befandest dich in Trier und warst soweit vom heimatlichen Boden getrennt, daß sich dein Sohn darüber beunruhigte“). 16 Mratschek, 2002, S. 459. 17 Tanner, 1993. 18 Gennadius berichtet von anderen Briefen des Severus, die wegen ihres vermeintlich intim-privaten Charakters nicht weiter verbreitet worden seien (vir. ill. 19): scripsit ad supra dictum Paulinum Nolanum duas et ad alios alias, sed quia in
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einmal mit dem Hinweis auf Trier verlassen, das Konstantin der Große als kaiserliche Residenzstadt ausgebaut hatte, und Rom, die frühere Hauptstadt des Imperium Romanum, wird nirgendwo erwähnt. Mit diesem ganz regionalen Bezugssystem weicht Severus von den Schriftstellern der römischen Republik und frühen Kaiserzeit ab, die ihre Geburtsheimat (patria naturae, patria loci) von ihrer staatlichen Heimat (patria iuris, patria civitatis) unterscheiden.19 Grundlegend für diese Unterscheidung ist Ciceros Konzeption verschiedener patriae im zweiten Buch von De legibus, die wiederum auf griechischen Vorbildern beruhen soll (Cic. leg. 2,5): ... omnibus municipibus duas esse censeo patrias, unam naturae, alteram civitatis: ut ille Cato, quom esset Tusculi natus, in populi Romani civitatem susceptus est, itaque quom ortu Tusculanus esset, civitate Romanus, habuit alteram loci patriam, alteram iuris. Die patria civitatis ist das gemeinsame Vaterland aller Römer und verbindet sich mit der Idee der res publica. Diese Idee existierte in der Kaiserzeit fort und wurde angesichts der äußeren Bedrohung durch die Germanen im späten 4. Jahrhundert durch die heidnische stadtrömische Senatsaristokratie wiederbelebt und von der christlichen Reichsbevölkerung mit der Vorstellung einer nun christlichen römischen patria und pax Romana verbunden.20 „Orosius‘ Gleichung ubique patria, ubique lex et religio mea est ist ... Ausdruck für diese neue Einheit von Kirche und Staat ...“.21 Die andere Heimat, die patria naturae „bezeichnet je-
aliquibus etiam familiaris necessitas inserta est, non digeruntur. Vgl. Schwitter, 2015, 44. 19 Zu den Begriffen vgl. die Studie von Gasser (1999): Germana patria, Die Geburtsheimat in den Werken römischer Autoren der späten Republik und der frühen Kaiserzeit, hier: S. 15. Eichenberger (1991), der den mittelalterlichen Begriff der patria vom 6.-12. Jahrhundert untersucht, stellt (S. 25) fest, dass für diesen Zeitraum keine wirklich umfassende Studie zur patria iuris existiere. Eine begriffliche Entwicklung habe sich in der patristischen Literatur ergeben.„Augustinus hatte mit seiner ausführlichen Gegenüberstellung von civitas Dei und civitas terrena einen wohl entscheidenden Anteil daran, daß patria oftmals begleitet von Adjektiven wie caelestis, aeterna, superna, magna oder immortalis, als Bezeichnung für den christlichen Himmel fester Bestandteil des Vokabulars mittelalterlichen Schrifttums wurde.“ (S. 32). 20 Eichenberger, 1991 S. 27. 21 Eichenberger, 1991 ebenda.
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nen Raum, in den der Mensch hineingeboren wurde“.22 „Zu dieser mit Jugenderinnerungen behafteten Landschaft gehörten für den Römer Eltern, Geschwister und Jugendfreunde, das Vaterhaus, der über Generationen hinweg vererbte Familienbesitz, die Familientraditionen, das Andenken an die Vorfahren und ihre vorbildliche Lebensführung und der Kult der Hausund Lokalgottheiten.“23 Die Verbundenheit mit der patria naturae hatte „nicht nur eine moralische, sondern auch eine entschieden emotionale Qualität“.24 Diese gefühlsmäßige Verbindung mit der ,Heimat‘ wird deutlich, wenn sich römische Schriftsteller in der Fremde befinden. Als Cicero wegen der unrechtmäßigen Hinrichtung der Catilinarier von Clodius in die Verbannung getrieben wird, sehnt er sich dort nach Familie, Freunden und nach Rom (Cic. Att. 5,15,1): … lucem, forum, urbem, domum, vos desidero. Der aus Verona gebürtige Catull kennt die literarischen Kreise seiner Heimat und bezeichnet sich selbst als Angehörigen der Transpadana (Catull. 39,13), stellt aber auch Rom als seinen Wohnsitz und sein neues Lebensumfeld dar (Catull. 68,33-36). Als Catull von einer Reise nach Bithynien im Gefolge des Prätors Memmius nach Sirmio am Gardasee zurückkehrt, betrachtet er die auf der Halbinsel befindliche Villa als sein Zuhause (Catull. 31,9;14). Ovid besucht gern und häufig seine Heimatstadt Sulmo im Pälignerland (Ov. fast. 4,685-687). Er sucht Erholung auf dem Land (am. 2,16) und ist dort Gutsherr (trist. 4,8,9-12). Aber er fühlt sich als Gefangener seiner umbrischen Heimat (am. 2,16,1;37-40), wenn seine Geliebte in Rom ist (am. 2,16,11-40). Als Augustus ihn nach Tomi am Schwarzen Meer verbannt, sehnt sich der Dichter unter den barbarischen Geten und Sarmaten nach Sulmo und Rom (trist. 1,1,57-60; 3,2,21-22; 3,4,13-14; 4,1,105-106). Er lässt sein Gedichtbuch bei Augustus ,antichambrieren‘ und setzt alle Hebel in Bewegung, um in seine doppelte ,Heimat‘ zurückzukehren. Die Verbundenheit des Statius mit seiner Heimatstadt Neapel, die dem Dichter mit dem Unterricht seines Vaters Zugang zu griechischen Stoffen vermittelt (Stat. silv. 5,3,147-158), dokumentiert sich darin, dass das bei Rom gelegene Albanum nur den zweiten Rang hinter seiner griechischen Geburtsstadt einnimmt (Stat. silv. 4,5,21-24). Das lyrische Ich Martials in-
22 Eichenberger, 1991 S. 29. 23 Eichenberger, 1991, S. 29. 24 Eichenberger, 1991, ebd.
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szeniert einen Zwiespalt der Gefühle. Im Tosen des nimmermüden Rom sehnt sich der Dichter nach der Ruhe und Einöde seiner spanischen Heimatstadt Bilbilis. Als er in dem Revirement nach Domitians Ermordung in der römischen Metropole aber den Boden unter den Füßen verliert und schon wieder in seiner Geburtsheimat ist, träumt er davon, er werde von dem Gelächter der vorbeiströmenden Menschenmenge geweckt und Rom befände sich an seinem Bett (Mart. 12,57,24-25): nos transeuntis risus excitat turbae / et ad cubile est Roma. (Mich weckt das Lachen der vorübergehenden Menge, und Rom ist an meinem Lager.)25. Während Roms Schriftsteller somit aus politischen und kulturellen Gründen in mehreren ,Welten‘ lebten und darin zu Hause waren, scheint sich die Aufmerksamkeit des Severus in den überlieferten Briefen auf den einen gallischen Raum zu beschränken. (2) Die Darstellung Galliens in den verlorenen Severusbriefen und im Briefwerk des Paulinus von Nola Auch in dem Briefwechsel des Paulinus Nolanus mit Sulpicius Severus spielen Aquitanien und die angrenzenden Regionen Galliens eine wichtige Rolle. Die Perspektive des Paulinus ist freilich eine andere. Meropius Pontius Paulinus, um 355 in Aquitanien geboren26, gehörte zur gallischen Aristokratie und hatte wie Severus bei Ausonius studiert. Er war aber auch römischer Senator, gewesener Konsul und consularis Campaniae und damit Angehöriger des Reichsadels. Er besaß Landgüter in Gallien bei Bordeaux und Ebromagus, in Spanien und in Italien bei Fundi, Nola und Formiae und hatte sich 389 noch vor dem gewaltsamen Tod seines Bruders im Jahr darauf, in den er trotzdem verwickelt wurde, nach Spanien zurückgezogen. In Spanien begann er im Verlauf des Jahres 393 seinen Besitz und den seiner Gattin Therasia zu verkaufen und seine Aufsehen erregende Konversion zum mönchischen Leben vorzubereiten.27 Aus Spanien und nicht aus Gallien richtet Paulinus auch seinen ersten Brief an Severus. Es ist der erste Brief seines aus 50 Stücken bestehenden
25 Roman, 2010 S. 117. 26 Mratschek, 2002, S. 1; 197. Nach dem Zeugnis von Uran. Ep. de obitu 2 (PL 53,860) wurde Paulinus in Burdigala geboren. Er lokalisiert das solum genitale selbst nördlich der Pyrenäen (Paul. Nol. Carm. 21,397 ff.). 27 Vgl. Rücker, 2012 S. 17-24.
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Briefwechsels und datiert aus dem Jahre 395. Wie der Kirchenvater Augustinus war Paulinus auf Drängen der Gemeinde am Weihnachtstag 394 von Bischof Lampius in Barcelona zum Priester geweiht worden28 und lädt Severus nun dazu ein, das Osterfest des Jahres 395 bei ihm in Barcelona zu verbringen. Als ob er nicht davon überzeugt wäre, dass Severus seiner Einladung folgen werde, bekräftigt er sie mit dem Wort aus Gen 12,1 (Apg 7,3), mit dem Abraham von Jahwe berufen worden war: exi de terra tua et de cognatione tua. „Geh fort aus deinem Land und von deiner Verwandtschaft“ (Paul. Nol. epist. 1,10). Der Weg von Elusio, dem Landgut des Severus in der Nähe von Toulouse, zu ihm nach Barcelona sei in acht Tagen zu schaffen. Er sei so kurz und bequem, dass er nicht einmal in den Pyrenäen steil sei, die – mehr ein Name als ein Bergzug – als abschreckender Wall zwischen der Narbonensis und Spanien lägen (Paul. Nol. epist. 1,11): Iter quantum sit et puer unanimitatis tuae renuntiabit, qui ad nos de Elusone octava, ut adseruit, luce pervenit; tam brevis enim et facilis via est, ut nec in Pyrenaeo ardua sit, qui Narbonensi ad Hispanias agger, nomen magis quam iugum, horrendus interiacet. „Wie lang der Weg ist, wird dir auch der Diener deiner gleichgesinnten Person berichten, der, wie er behauptete, in acht Tagen aus Eluso zu uns gekommen ist. Denn so kurz und leicht ist der Weg, daß er nicht einmal in den Pyrenäen steil ist, die – mehr ein Name als ein Bergzug – als abschreckender Wall zwischen der Narbonensis und Spanien liegen.“
Er unterrichtet Severus auch über seinen neuen Status als Kleriker, unterstreicht aber, dass die Weihe für ihn keine Bindung an eine bestimmte Kirche bedeute (Paul. Nol. epist. 1,10): nam ea conditione in Barcinonensi ecclesia consecrari adductus sum, ut ipsi ecclesiae non adligarer, in sacerdotium tantum domini, non etiam in locum ecclesiae dedicatus.
28 Skeb, 1998 S. 480.
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„Denn ich habe mich unter der Bedingung in der Kirche von Barcelona zur Weihe bewegen lassen, daß ich an die Kirche selbst nicht gebunden werde und nur für das Priestertum des Herrn, nicht auch für den Ort der Kirche bestimmt bin.“
Severus dürfte der Einladung nicht gefolgt sein, sondern, wie Paulinus durchblicken lässt, seine Bediensteten als Vertreter geschickt haben.29 Daher wird die Einladung von Paulinus im nächsten Brief erneuert, doch nun mit einem anderen Ziel: Kampanien. Dorthin hatte sich Paulinus nämlich in der Zwischenzeit begeben, und dorthin soll auch Severus kommen. Wieder macht er ihm die Reise in verschiedener Weise schmackhaft. Er schreibt (Paul. Nol. epist. 5,13): Multa sunt, quae ad nos invitare te et de patria parumper debeant sevocare, prae ceteris amor pacis et zeli fuga, qui maxime conspectu aut vicinia aemulae conversationis accenditur. „Es gibt viele Dinge, die dich zu uns einladen und aus dem Vaterland (patria) auf kurze Zeit wegrufen müssten, vor allem das Verlangen nach Frieden und die Flucht vor dem Streit, der besonders unter den Augen und in der Umgebung eifersüchtiger Menschen entsteht, mit denen wir Umgang haben.“
Er teilt dem Freund mit, dass sich fast alle Bischöfe Kampaniens verpflichtet gefühlt hätten, ihm ihre Aufwartung zu machen, und auch die Bischöfe
29 Paul. Nol. epist. 5,1 et excusandum putasti, frater dilectissime, quod ad nos non ipse venisses secundum sponsionem tuam expectationemque nostram? Tu vero potiore tui parte quam qua manseris, solo corpore domi residens, voluntate ad nos et spiritu et sermone venisti; quamquam ne corporaliter quidem penitus afueris, quando in pueris tuis sancta in domino tibi servitute conexis corporis ad nos tui membra venerunt. „Hast du wirklich geglaubt, überaus geliebter Bruder, du mußt dich dafür entschuldigen, daß du nicht selbst zu uns gekommen bist, wie du versprochen hast und wie wir es erwartet haben? Du bist sogar mit deinem besseren Teil als der, mit dem du zu Hause geblieben bist, zu uns gekommen: mit deinem Willen, Geist und Wort; nur mit dem Körper bist du zu Hause geblieben. Indessen bist du nicht einmal körperlich völlig abwesend gewesen, da auch die Glieder deines Körpers in Gestalt deiner Diener, die durch den heiligen Dienst mit dir verbunden sind, zu uns gekommen sind.“
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Afrikas Boten zu ihm geschickt hätten.30 Er verspricht Severus einen Platz im Kloster in der Nähe des Märtyrers Felix.31 Er versichert ihm, wenn er beim Aufbruch vielleicht weinen sollte, weil er an die Trennung von geliebten Menschen und gewohnten Orten denke, werde sich seine zeitliche Trauer in ewige Freude verwandeln.32 Der nächste Brief an Severus von 397 verdeutlicht, dass Paulinus seinen Brieffreund auch so nicht zu einer Reise nach Kampanien hatte überreden können. Auch wenn seine stabilitas loci unüberwindlich scheint, will Paulinus freilich nicht aufhören, Severus einzuladen, der die Vita Martini inzwischen vollendet und ihm zugesandt hat (Paul. Nol. epist. 11,14): Ego certe, quia necesse est in operis spiritalis profectu caritas maxime, quae plenitudo legis est proficiat, sicut desiderare te, ita et invitare non desinam. Veni ad nos et si potes, advola. „Weil es für den Fortschritt im geistlichen Werk vor allem des Fortschritts in der Liebe bedarf, die die Fülle des Gesetzes ist [...], werde ich sicher nicht aufhören, dich ebenso herbeizusehnen, wie auch einzuladen. Komm zu uns, und wenn du kannst, eile herbei.“
In der Antwort auf Severus, der Paulinus geschrieben hatte, dieser habe sein gallisches Landgut Ebromagus wegen des Gärtchens (hortus), d.h. wegen des klösterlichen Lebens in Kampanien verlassen, hebt Paulinus die Argumentation auf eine neue Ebene, indem er darlegt (Paul. Nol. epist. 11,14), „Wir haben nämlich Ebromagus nicht, wie du schreibst, wegen des Gärtchens verlassen, sondern wir haben jenen Paradiesgarten unserem Vermögen und Vaterland vorgezogen, weil dort eher unser wahres Haus steht, wo das ewige ist, und dort unsere wahrere Heimat ist, wo unser Geburtsland und unser Hauptwohnsitz.“ Ebromagum enim non hortuli causa, ut scribis, reliquimus, sed paradisi illum hortum praetulimus et patrimonio et patriae, quia illic magis domus vera, ubi aeterna, ibi verius patria, ubi originalis terra et principalis habitatio.
30 Paul. Nol. epist. 5,14. 31 Paul. Nol. epist. 5,15. 32 Paul. Nol. epist. 5,19.
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Hier wird Gallien offenbar als eine – aufgrund des Familienerbes, der Herkunft und der Ausbildung – gleichsam irdische Geburtsheimat (patria naturae) gezielt entwertet und der neuen geistlichen bzw. ortloseschatologischen Heimat (patria caelestis) erkennbar untergeordnet als der wahren (magis domus vera), weil ewigen, ja der einzig wahren (verius patria) himmlischen Wohnstatt (sc. der menschlichen Seele, im Sinne ihres ursprünglichen Herkunftsortes und ihres späteren [postumen] Hauptwohnsitzes). Eine gewisse Enttäuschung spricht dann aus dem vorwurfsvollen Ton des 17. Briefs von 398. Paulinus hält dem reisescheuen Freund vor, er wisse nicht, wie Severus mehr Krankheit als Faulheit oder ungleiche Behandlung von Personen als Grund seines Ausbleibens angeben könne, weil Severus innerhalb eines Jahres mit derselben Mühe zu Paulinus nach Kampanien hätte gelangen können, mit der er in so vielen Jahren immer wieder seine Reisen durch Gallien durchführe und auf wiederholten Ausflügen die Einwohner von Tours und entlegenere Gebiete besuche (Paul. Nol. epist.17,4): causari infirmitatem magis quam pigritiam vel exceptionem personarum qui possis, nescio, cum intra annum eadem opera ad nos potueris pervenire ac recurrere, qua Gallicanas peregrinationes tot annis frequentas et iteratis saepe intra unam aestatem excursibus Turonos et remotiora visitas.
Severus war wohl bei der Recherche für weitere Martinsschriften durch ganz Gallien gereist und kann von Paulinus daher mit folgendem Argument unter Druck gesetzt werden (Paul. Nol. epist. 17,4): Iuste fateor et merito Martinum frequentari; sed dico iniuste pernicioseque Felicem ab eodem, qui illum honoret, promissis inanibus ludi vel secura promissi iam ut aboliti dissimulatione contemni. Qua fide speras Christi gratiam in honore Martini, eadem Christi offensam time in offensione Felicis. „Ich gestehe ein, dass Martin gebührend und verdientermaßen häufig aufgesucht wird. Aber ich sage, daß Felix zu Unrecht und verderblich von demselben, der jenen ehrt, mit leeren Versprechungen verspottet wird oder durch die unbekümmerte Verleugnung des Versprechens verachtet wird, als ob es bereits aufgehoben sei. In dem-
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selben Glauben, in dem du die Gnade Christi erhoffst durch die Ehrung des Martin, sollst du auch die Kränkung Christi fürchten durch die Beleidigung des Felix.“
In den Briefen 24 und 29, die beide in das Jahr 400 gehören, scheinen sich Thema und Tenor des Briefwechsels zu ändern. An die Stelle der Einladungen des Briefschreibers und der Entschuldigungen des Briefempfängers tritt an der Oberfläche die für beide Asketen wichtige Frage nach dem vollkommenen Leben. Die Vollkommenheit wird im Sinne der evangelischen Räte als Verzicht auf irdische Güter begriffen. Damit stehen unterschwellig wieder die Besitztümer des Paulinus und ihre Verortung in der gallischen Heimat zur Diskussion, auch wenn die Frage der Besitzlosigkeit zunächst nur allgemein am Verkauf irdischer Landgüter33 und dem Erwerb himmlischer Scheunen34 erörtert wird. Konkreter wird die Frage am Beispiel des Mönchsbischofs von Tours durch Lektüre seiner Lebensbeschreibung von Severus in Anwesenheit der als Gast in Nola befindlichen Melania.35 Paulinus liest Melania, die sich für Mönchsgeschichten interessiert, und Bischof Nicetas aus Dakien die Martinsvita vor und sorgt so für ihre Verbreitung.36 (3) Die Darstellung Galliens im Briefwerk und in den Martinsdialogen Als Literaturagent des Severus wirkt auch Postumianus, obschon er in den Briefen des Paulinus nur als Briefbote in Erscheinung tritt.37 Seine Rolle als literarischer Vermittler wird in den Martinsdialogen deutlich, die zwischen 404 und 406 verfasst worden sein dürften. Das dramatische Datum der Dialoge ist das Jahr 403. Der Autor selbst, der aus dem Orient zurückgekehrte Postumianus und ein gewisser Gallus sind in Primuliacum zusammengekommen. Der Name des dritten Dialogpartners mag Bodenständigkeit
33 Paul. Nol. epist. 24,9. 34 Paul. Nol. epist. 24,11. 35 Paul. Nol. epist. 29,6. 36 Paul. Nol. epist. 29,14. 37 Paul. Nol. epist. 27. Im folgenden Abschnitt gibt es bei der Darstellung des Fremden und des Eigenen in den Martinsdialogen sachliche und sprachliche Überschneidungen mit Vielberg, 2006 S. 51-60.
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verraten.38 Eine Person dieses Namens ist historisch aber nicht greifbar und der Vertreter der lokalen Tradition geriet daher in den Verdacht, eine literarische Erfindung zu sein. Der Martinsschüler erzählt nicht nur vom Hörensagen, sondern kann als Augenzeuge Begebenheiten aus Martins Wirken als Bischof berichten, welche in der Vita ausgelassen worden waren (Sulp. Sev. dial. 1,27,7): deinde cum paululum omnes conticuissemus, Gallus ita coepit: cavendum mihi inprimis esse arbitror, ne ea de Martini virtutibus repetam, quae in libro suo Sulpicius iste memoravit. unde prima illius inter militandum gesta praetereo, neque ea adtingam, quae laicus egit ac monachus. „Hierauf schwiegen wir alle eine Weile. Dann begann Gallus so: „In erster Linie muß ich mich davor in acht nehmen, das, was Sulpicius vom Tugendleben des Martinus schon in seinem Buche erzählt hat, nochmals zu wiederholen. Ich übergehe daher seine Taten als Soldat und will auch das nicht berühren, was er als Laie und Mönch getan hat.“
Postumianus war dagegen auf einer dreijährigen Orientreise von einem Traumgesicht an seinen Freund Severus erinnert und von dem Verlangen erfasst worden, ihn wiederzusehen. Er hatte in letzter Minute ein Schiff bestiegen, das ihn in dreißig Tagen von Ägypten nach Marseille brachte. Von dort erreichte er nach zehn weiteren Tagen Primuliacum und wird, nach einer freundlichen Begrüßung, aufgefordert, von seiner Reise und seinen Erfahrungen in der Fremde zu berichten (Sulp. Sev. dial. 1,2,2): age ergo, quia et secreti inter nos nec occupati sumus et sermoni tuo vacare debemus, edisseras nobis velim omnem tuae peregrinationis historiam, qualiter in Oriente fides Christi floreat, quae sit sanctorum quies, quae instituta monachorum, quantisque signis ac virtutibus in servis suis Christus operetur. „Wohlan denn, wir sind so ungestört beisammen, keine Pflicht drängt und wir können deinem Bericht in aller Ruhe lauschen. Darum erzähle uns doch, bitte, die ganze Geschichte deiner Wanderfahrt, erzähle vom blühenden Glaubensleben der Christen
38 Jedenfalls handelt es sich nicht um einen römischen Eigennamen. Vgl. Schulze, 1904.
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im Orient, vom Frieden der Gottgeweihten, von den Einrichtungen der Mönche, von den wunderkräftigen Zeichen, die Christus durch seine Diener wirkt.“
So beginnt Postumianus mit der Geschichte seiner Fahrt in die Fremde (historia peregrinationis): Die Reise habe ihn von Narbonne nach Karthago zum Grab des Märtyrerbischofs Cyprian und, durch einen Sturm verschlagen, zu einem Eremiten in der Kyrenaika geführt.39 Das ursprüngliche Reiseziel Alexandria habe er nach sieben weiteren Tagen erreicht.40 Die Metropole aber wegen des origenistischen Streits, der dort immer noch herrschte, bald wieder verlassen und sich zu Hieronymus in Bethlehem begeben.41 Sechs Monate sei er geblieben und dann, ohne Dienerschaft und Habe, nach Alexandria zurückgekehrt und weiter in die obere Thebais gezogen, zu den in Klöstern längs des Nils lebenden Koinobiten,42 bei denen es als wichtigste Regel gelte, ganz nach dem Willen des Abts zu leben (Sulp. Sev. dial. 1,10,1): haut longe ab eremo contigua Nilo multa sunt monasteria. habitant uno loco plerumque centeni: quibus summum ius est, abbatis imperio vivere, nihil suo arbitrio agere, per omnia ad nutum illius potestatemque pendere ... haec illorum prima virtus est, parere alieno imperio. „Am Rande der Wüste lagen viele Klöster nahe beim Nil. Die Mönche wohnten manchmal an einem Orte bis zu hundert zusammen. Als wichtigste Regel gilt bei ihnen, nach dem Willen des Abtes zu leben, nicht nach eigenem Gutdünken zu handeln, in allem von dessen Willen und Befehl abzuhängen ... Das ist also bei ihnen die Krone der Tugenden, sich fremdem Willen unterzuordnen.“
Sein Weg habe ihn auch zu den Anachoreten geführt, die abseits vom Nil einsam in der Wüste hausen.43 Dort habe er ein Jahr und sieben Monate verbracht, zwei von dem Mönchsvater Antonius gegründete Klöster und die
39 Sulp. Sev. dial. 1,3,1-2. 40 Sulp. Sev. dial. 1,6,1. 41 Sulp. Sev. dial. 1,6-7. 42 Sulp. Sev. dial. 1,10,1-12,7. 43 Sulp. Sev. dial. 1,13,1.
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Klause des angeblich ersten Einsiedlers Paulus von Theben besucht. 44 Postumianus beendet seinen Bericht mit Erzählungen, die vor Fehlern warnen, welche gerade auch in Gallien verbreitet seien (Sulp. Sev. dial. 1,21,6): sed tu illa potius evolve quae coeperas, et illud, quod adversus falsam iustitiam dicturum te esse promiseras, prode documentum: nam, ut vere tibi fatear, nullo perniciosius malo intra Gallias laboramus. „Nun erzähle du aber wieder weiter und bringe das Beispiel gegen die falsche Gerechtigkeit, das du uns in Aussicht gestellt hast. Ich muß dir nämlich gestehen, daß sie das schlimmste Übel ist, an dem wir in Gallien kranken.“.
Im Vergleich zum Orient erscheint die gallische Heimat zwar als in seinen asketischen Leistungen rückständiger Kulturraum.45 Postumianus will aber auch erfahren haben, dass es auf dem ganzen Erdkreis kaum einen Ort gebe, an dem die Martinsvita nicht bekannt sei. Von der weltweiten Verbreitung der Martinsschriften hört Severus natürlich gern und ernennt Postumianus, der nach anfänglichem Zögern die weltweite Überlegenheit des Mönchsbischofs anerkennt, zu Martins Botschafter, der die Kunde von ihm in der Welt verbreitet.46 Postumianus soll Kampanien aufsuchen, das nicht auf seiner Route liege, aber mit Paulinus einen idealen Multiplikator beheimate, der die Vorzüge aus Pannonien stammenden, aber in Gallien wirkenden Mönchsbischofs so in Italien verbreiten werde, wie er sie bereits in Illyrien verbreitet habe.47 Postumianus selbst sei für die östlichen Zentren verantwortlich, für Karthago, damit dort nicht nur Cyprian verehrt werde.48 Er möge sich auch um die Verbreitung in Griechenland kümmern, damit man in Korinth und in Athen begreife, dass Platon in der Akademie nicht weiser und Sokrates im Kerker nicht standhafter waren.49 Endlich um Ägypten, das erkennen wer-
44 Sulp. Sev. dial. 1,17,1. 45 Sulp. Sev. dial. 1,5,1; 13,4; 20,4. 46 Sulp. Sev. dial. 3,17,2. 47 Sulp. Sev. dial. 3,17,4. 48 Sulp. Sev. dial. 3,17,5. 49 Sulp. Sev. dial. 3,17,6.
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de, dass Europa ihm, also Ägypten, ja ganz Asien in dem einen Martin nicht nachstehe.50 Wenn Postumianus mit seiner Reisetätigkeit auch die weltweite Anerkennung des Mönchsbischofs befördert und damit die Reisemüdigkeit des Severus ausgleicht, so ist Severus doch beständig um den Ausbau und die von Außen kommende Ausgestaltung seines der Martinsverehrung dienenden Klosters in Primuliacum bemüht. Zu diesem Zweck bittet er Paulinus um die Zusendung von Reliquien. Paulinus antwortet im Frühjahr 403, indem er Severus einen Splitter des wahren Kreuzes überlässt51 und ihm die Legende von dessen Auffindung in Jerusalem durch die Kaisermutter Helena schildert.52 Severus wird diese durch Kaiser Konstantin mit Trier verbundene Tradition nicht nur in seinen Chronica, einer Weltgeschichte von der Schöpfung bis zum Jahr 400, aufgreifen.53 Er wird Paulinus auch um Versinschriften für seine Kirchbauten und um Auskünfte zur Geschichte Israels für seine Weltchronik bitten.54 Paulinus verspricht ihm, selbst bei der Suche nach Material für die Weltchronik zu helfen, verweist ihn aber auch an Rufin von Aquileia als Fachmann für Kirchengeschichte (Paul. Nol. epist. 28,5): Attamen nunc operis tui curam gerens, quo te pro utilitate fidei nostrae inspiciendis et conferendis praeteritorum temporum rationibus occupatum indicasti, quod de me non habui de fratris unanimi opulentiore thesauro petivi; et ipsam adnotationem, quam commonitorii vice miseras litteris meis inditam, direxi ad Rufinum presbyterum, sanctae Melani spiritali via comitem. „Indessen kümmere ich mich jetzt um dein Werk, weswegen du nach deiner Mitteilung zum Nutzen unseres Glaubens mit der Untersuchung und dem Vergleich der Zustände vergangener Zeiten beschäftigt bist. Was ich von mir selbst nicht bei-
50 Sulp. Sev. dial. 3,17,7 ... tamen non dedignetur (sc. Aegyptus) audire, quam illi vel universae Asiae in solo Martino Europa non cesserit. (... so soll es doch nicht die Kunde verschmähen, daß Europa ihm, ja dem gesamten Asien in dem einen Martinus nicht nachsteht.) 51 Paul. Nol. epist. 31,1. 52 Paul. Nol. epist. 31,5. 53 Sulp. Sev. chron. 2,34,1-2. 54 Paul. Nol. epist. 32.
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steuern konnte, das habe ich aus dem reicheren Schatz eines gleichgesinnten Bruders erbeten. Diese Notiz, die du wie ein Auftragsschreiben deinem Brief an mich beigefügt hast, habe ich zum Priester Rufinus weitergeleitet, den geistlichen Wegbegleiter der heiligen Melania ...“
In der Weltchronik des Severus wiederholt sich, was wir in seiner Fortschreibung der Martinstradition beobachtet haben. Wie sich in den Martinsdialogen die Geographie des Eigenen über Rom hinaus in den Westen verlagert, so wird die Geschichte des Gottesvolkes in der Weltchronik nach den Epochen Judentum des Alten Testaments, vorkonstantinische Christenverfolgung, Arianismus und Priszillianismus erzählt und damit auf den Mönchsbischof fokussiert, der sich in Trier vor dem kaiserlichen Usurpator Maximus für den Freispruch Priszillians und seiner Anhänger eingesetzt hatte.55 Die als Universalgeschichte des Volkes Israel angelegte Weltchronik des Severus endet somit, überspitzt gesagt, als Partikulargeschichte Galliens.
(III) In den Briefen des Severus und im Briefwechsel des Paulinus mit Severus kommen, um das Ergebnis zusammenzufassen, unterschiedliche Einstellungen zu ihrer gallischen Geburtsheimat (patria naturae) zum Ausdruck, die, bei allen rhetorischen und narratologischen Vorbehalten, welche die gegenwärtige Literaturwissenschaft geltend zu machen sucht, nicht leicht als fiktionale Hervorbringungen ihres jeweiligen epistolographischen Ichs von der Hand zu weisen sind. Was bei Caesar als fremder, imperialer Ordnungsraum erschien, der die mittelmeerische Welt nach Norden hin begrenzt und als Truppenübungsplatz und Aufmarschgebiet für Feldzüge gegen Briten und Germanen, aber auch gegen die Verteidiger der römischen Republik herzuhalten hatte, was unter Nero zum Zentrum einer nationalen Revolte des C. Julius Vindex ge-
55 Sulp. Sev. chron. 2,46-51. Vgl. Girardet, 1974 und Prinz, 1996. Dieser Beitrag wird in leicht abgewandelter Form mit dem Obertitel „Ego enim Tolosae positus, tu Treveris constituta“ auch in einem von Gernot Michael Müller herausgegebenen Sammelband in der Reihe „Roma aeterna“ erscheinen.
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gen Roms imperiale Vormacht geworden war, ist bei den Gallorömern des 4. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise zu etwas Eigenem geworden. Severus ist seiner Geburtsheimat eng verbunden und setzt sich vorbehaltlos für die Belange ihrer Bevölkerung ein. Die Verehrung für den Mönchsbischof lässt ihn in Primuliacum eine klosterartige Vereinigung gründen und Kirchbauten errichten. Sie bringt ihn dazu, regelmäßige Reisen nach Tours und in entferntere Gebiete Galliens zu unternehmen, um Auskünfte über den Mönchsbischof zu erhalten. Sie lässt ihn die Taten dieses aus Pannonien stammenden Fremdlings beschreiben, lässt ihn dessen Vita in seine gallische Lebenswelt einschreiben und lässt ihn die Lebensbeschreibung des Mönchsbischofs auch brieflich in Gallien und über Gallien hinaus verbreiten. Die darin zum Ausdruck kommende Beziehung zu seiner mit einem hagiographischen Koordinatensystem überformten Geburtsheimat scheint tief zu sein und damit für ihn eine so starke und auch dem Adressaten seiner Werke vermittelte Bindung zu begründen, dass er sich trotz wiederholter Einladungen weder auf Auslandsreisen nach Spanien noch nach Italien begibt. Die regionale Verwurzelung des Severus gipfelt in dem Entwurf eines gallienzentrierten Geschichtsbildes in seiner Weltchronik. Auch Paulinus besitzt eine enge Bindung an seine gallische Geburtsheimat, aber diese Bindung ist keine ausschließliche. Wie er als Mitglied des römischen Senats und Angehöriger der global agierenden Reichselite zum Wohl der politischen und juristischen Heimat (patria civitatis), mit der sich allgemeine Bürgerrechte verbinden, weltweit politische Freundschaften pflegt, so besitzt er aus Familienbesitz stammende Landgüter auch in Spanien und Italien. Als er in Gallien nach der Usurpation des Marius Maximus durch die Verwicklung in einen vielleicht politisch motivierten Mordprozess unter Druck gerät, zieht er sich nicht nur auf seine spanischen Besitzungen zurück und begibt sich nach Barcelona, wo er sich zum Priester weihen lässt, ohne sich an eine bestimmte Gemeinde zu binden, sondern verlagert seinen Lebensmittelpunkt später sogar nach Italien, wo er sich auf ererbten Landgütern in Nola niederlässt. Er engagiert sich zwar für die Verbreitung der Martinsschriften und bezeichnet den Mönchsbischof als Martinus noster. Aber auch diese Bindung ist nur eine Bindung unter anderen und besonders verehrt er natürlich den italischen Konfessor Felix von Nola. Er baut Nola zu einem globalen Pilgerzentrum aus und empfängt dort Pilger aus allen Teilen des Römischen Reiches. Trotz dieser bevorzugten Bindung an die neue Wahlheimat, welche ihm den politischen und religiö-
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sen Einsatz für die patria iuris durch die Nähe zu Rom erleichtert, unterstreicht Paulinus, dass für ihn gegenüber jedem irdischen Ort die eschatologisch-ortlose patria caelestis den Vorrang habe. Selbst wenn dies nur ein Argument sein sollte, um Severus zum Verlassen seiner südgallischen Residenz zu bewegen, zeigt es doch zugleich eine größere Weltoffenheit bei den Belangen der patria iuris und eine von Augustinus bekannte neue Art der Weltentsagung des Paulinus, der mehrere Heimaten, mindestens aber zwei patriae, eine, wie er es ausdrückt, wahre und eine noch wahrere (bzw. einzig wahre), zu unterscheiden und zu schätzen weiß und damit eine breiter gefächerte, um nicht zu sagen, multiple Identität besitzt. Trotz der unterschiedlich tiefen Verwurzelung in der religiösen und kulturellen Tradition ihrer Geburtsheimat, an deren Ausgestaltung sie aktiv beteiligt sind, verbinden beide Gallorömer mit ihrem Einsatz für Martin von Tours bzw. Felix von Nola denselben Anspruch, nämlich ihrem lokal verehrten Patron weltweite Geltung zu verschaffen, worin Severus mit der postumen Verbreitung des Martinskults bei weitem größere Erfolge als sein Freund Paulinus erzielen sollte.
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Kommentar von Edoardo Costadura
Meinolf Vielbergs Beitrag liefert uns den Beweis dafür, dass nicht alles in der Sattelzeit anfängt. Die Frage ist aber: Was verändert sich im HeimatBegriff – wenn er vorhanden ist oder unter dem ihm benachbarten patriaBegriff subsumiert werden kann – im Übergang zur Moderne? Vielleicht – so eine mögliche und durchaus plausible Hypothese – verändert sich so viel, dass man von einem neuen Begriff sprechen kann bzw. sprechen muss. Ausgehend hauptsächlich vom Briefwechsel zwischen Sulpicius Severus (360 circa - 420 n.Chr. circa) und dem Heiligen Paulinus von Nola (353 431), fragt Meinolf Vielberg nach dem patria-Begriff am Ausgang der römischen imperialen Weltordnung bzw. der Spätantike. Beide Kronzeugen stammen aus Gallien und dürften gar als Landleute stricto sensu gelten, stammte doch der eine (Severus) aus einem nicht genauer ermittelten Ort Aquitaniens, der andere aus Bordeaux. Auch richtet Herr Vielberg seinen Augenmerk auf den „Gallienbezug“: Abgesehen vom genannten Briefwechsel bezieht er Severus‘ Weltchronik oder Historia sacra ,Severus‘ Martinsvita bzw. „Martinellus“ sowie die Briefe eines Vertrauten des Severus namens Postumianus in das Textkorpus ein. Eingangs formuliert Meinolf Vielberg folgende Fragen: Wann, wo, wie und zu welchem Zweck wird die „gallische Heimat“ dargestellt? Ferner: Welche sind die Gründe für die je spezifische Darstellung Galliens? Und schließlich: Lassen sich an den Briefen des Severus und des Paulinus Anzeichen einer allgemeinen, womöglich zu jener Zeit ansetzenden Entwicklung ausmachen? Mit anderen Worten: Sind diese Briefe exemplarisch für eine „Neudefinition von Gruppenzugehörigkeiten“ bzw. von „kulturellen Mustern der kollektiven Identitätsbildung“?
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Meinolf Vielbergs Arbeitshypothese lautet nun: Im Textkorpus kommen divergierende Vorstellungen des provinzialrömischen Raums zur Sprache, die ihrerseits auf divergierende Vorstellungen von Heimat beruhen. Solche Heimatvorstellungen hängen wiederum mit je unterschiedlichen religiösen Einstellungen, familiären Hintergründen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensentwürfen zusammen. „Heimat“, d.h., zu Latein, „patria“. Und hier, in diesem Wort, liegt natürlich, wenn ich so salopp sagen darf, der Hund begraben. Ist „patria“ eine Entsprechung für Heimat? Herr Vielberg liefert uns einige Anhaltspunkte, die eine solche Vermutung untermauern können.1 Stellvertretend für die römische Kultur der Klassik führt er das Beispiel Ciceros an, der zwischen zwei verschiedenen patriae unterscheidet, nämlich einer patria naturae bzw. germana patria und einer patria civitatis oder patria juris. Während diese ein politisches Konstrukt meint, das mit dem Begriff von res publica als Vaterland korreliert, bezeichnet erstere einen Raum, in dem man hineingeboren wird und zu dem man eine tiefe, enge moralische und auch emotionale Bindung hat oder haben kann. Es stellt sich also die Frage, ob Gallien für Severus und Paulinus eine patria naturae darstellt. Ich überspringe die Briefe des Severus an Eusebius, Aurelius und Bassula, die mir weniger aussagekräftig erscheinen als die anderen Belege, und komme gleich zu den Briefen des Paulinus an Severus. Meinolf Vielberg rekonstruiert auf anschauliche Art und Weise die wiederholten und vergeblichen Versuche des Paulinus, Severus zu einer Reise zu bewegen. Mal lädt Paulinus den Freund nach Spanien, mal nach Süditalien ein, und jedes Mal wird er vertröstet. Severus bleibt in Primuliacum (vermutlich das heutige Premillac, in der Nähe von Périgueux), oder reist in Gallien umher auf der Suche nach Zeugnissen über den Heiligen Martinus von Tours, den Heiligen der Martinsgans und der Martinsumzüge, dessen Vita er damals vorbereitete.2 Über diesen ihm vertrauten Lebensraum wagt sich Severus nicht hinaus.
1
Dabei beruft sich Meinolf Vielberg auf die Arbeiten von Franziska Gasser und Thomas Eichenberger.
2
In der Geschichte der Hagiographie nimmt Severus’ Vita des Heiligen Martinus eine Schlüsselstellung ein, weil damit erstmals nach Athanasius von Alexandri-
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Ganz anders Paulinus, der dem reichen römischen Reichsadel zugehörig, sowohl in Gallien als auch in Spanien und in Italien Häuser und Ländereien besitzt und dort auch „zu Hause“ ist. Nach der Ermordung des eigenen Bruders zieht er zuerst nach Spanien, dann nach Süditalien. Paulinus reflektiert insbesondere die Umsiedlung von Spanien (Barcelona) nach Süditalien (Nola bei Neapel). Er tut dies in einem Brief, in dem er auf eine scherzhafte Unterstellung von Severus reagieren muss, welcher gemutmaßt hatte, Paulinus habe sich in seinem Vorhaben vom Gedanken an den schönen Garten leiten lassen, der in Nola auf ihn wartete. Mitnichten, antwortet Paulinus: Was ihn bewogen und bewegt habe, sei vielmehr die Sehnsucht nach dem Paradiesgarten, d.h. nach dem wahren Haus, der wahren ewigen patria eines jeden Christen – der himmlischen Heimat, die Paulinus auch „terra originalis“ (d.h. Ursprungsland) bzw. Hauptwohnsitz nennt. Angesichts dieser wahren und großen Heimat kann Paulinus die patria naturae nur entwerten. Zwischen-Fazit: Anders als Severus operiert Paulinus ausdrücklich mit einem religiös besetzten bzw. umdeuteten Heimatbegriff. Des Christen Heimat kann nur der Himmel oder das himmlische Jerusalem sein. Herr Wermke, der uns Anlaß gegeben wird, über diese Dimension von Heimat zu diskutieren, zeigt in seinem Beitrag, dass dieser eschatologische HeimatBegriff genuin neutestamentarisch ist und sich hauptsächlich aus den Paulus-Briefen entlehnen lässt. Wie sieht es aber, genauer, bei Severus aus? Seine Repliken auf die Briefe des Paulinus sind nicht erhalten. Über seine enge Bindung an die gallische Heimat kann letztlich nur spekuliert werden. Meinolf Vielberg vermag es jedoch, diese Vermutungen plausibel zu machen. Einerseits betrachtet er Severus’ Hauptwerk, nämlich die sogenannte Weltchronik oder Historia sacra unter dem Gesichtspunkt des Gallienbezugs, mithin der Heimat-Problematik. Dieser Versuch einer Weltgeschichte, die die verschiedenen Epochen des Alten Testaments, des römischen Kaiserreichs, der Christenverfolgung, etc. bis zur Jetztzeit des Severus nachzeichnet, mündet nämlich in eine „Partikulargeschichte Galliens“. Severus habe auf diese Weise ein „gallienzentriertes Geschichtsbild“ entworfen: ein Bild, aus dem abzulesen ist, dass die „Geographie des Eigenen“ sich in dieser Endzeit des
ens Vita des Heiligen Antonius, und dann normativ für die Folgezeit, eine Heiligenvita ohne tragischem Ende – ohne Märtyrertod – entworfen wird.
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Kaiserreichs nach Westen verlagert hat und beispielsweise – im Falle des Severus – in Gallien zu verorten ist. Aus dieser Perspektive lässt sich ebenfalls Severus’ Einsatz für den „Lokalheiligen“ Martinus von Tours deuten: darin erblickt Meinolf Vielberg so etwas wie das Signum von Severus’ Bindung an die patria naturae bzw. an die germana patria. Das ist insofern kühn gedacht – sowohl seitens von Severus als auch seitens von Herrn Vielberg – als Martin ein aus Pannonien stammender „Fremdling“ war. Mit anderen Worten: Severus macht aus dem pannonischen, d.h. „ungarischen“ Martin einen genuin gallischen Heiligen, d.h. einen Gallier… Fazit: Das imperium romanum wird zu einem Raum, den man sich auf unterschiedliche Art und Weise aneignen kann. Wird es aber zu einer Heimat? Bei Severus lässt sich eine tiefe Bindung zur Geburtsheimat annehmen, die sowohl in einem gallienzentriertem Geschichtsbild als auch im hagiographischen Werk um den Heiligen Martinus von Tour zu erkennen ist. Paulinus hingegen ist ein „global Player“. Er ist ein cives romanus, der wechselweise in Spanien und in Süditalien heimisch zu werden vermag. Als Christ fühlt er sich allerdings ausschließlich der patria coelestis verbunden. Und dieser höheren, wahren Heimat ordnet er jede andere Bindung unter – auch die Bindung zu seiner Wahlheimat Nola, eine Bindung, die in seiner Verehrung für den Lokalheiligen Felix von Nola zum Ausdruck kommt, jedoch offenbar nicht eine vergleichbare Funktionalisierung erfährt wie die Martin-Verehrung bei Severus. Soviel, in aller Kürze, zum äußerst lehrreichen Beitrag von Meinolf Vielberg, der in seiner Entgegnung sicherlich Gelegenheit haben wird, manch eine von mir sträflich vernachlässigte oder übersehene Einzelheit auszuführen. Ich möchte mit einigen Fragen schließen, die ich zu allererst an Herrn Vielberg aber auch an die anwesenden Kollegen richte. Ich beginne mit zwei lexikographischen Detail- bzw. Verständnisfragen: • •
Ist patria juris ein Synonym für patria civitatis? Ist patria loci (im Text von Cicero) ein Synonym für patria naturae bzw. germana patria?
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Daraus ergibt sich für mich die prinzipielle Frage, ob die lateinische Auffassung einer patria naturae auch zwingend verortet bzw. an einen Ort gebunden. Sollte dies der Fall sein, und sollte das Gedenken an einen familiären Ursprungsort und sollte mithin eine „emotionale Qualität“ im Wort patria mitschwingen, stellt sich die Frage, inwiefern man den lateinischen patria-Begriff überhaupt vom modernen Heimat-Begriff differenzieren kann. Eine mögliche Antwort hat Klaus Ries gestern geliefert: Der Unterschied läge in der Konfiguration des Heimat-Verständnisses, wobei das moderne reaktiv und selbstreflexiv ist. Ist das Heimat-Verständnis von Severus reaktiv und selbstreflexiv? Dagegen – also gegen die Annahme, dass der lateinische patria-Begriff bereits den modernen Heimatbegriff impliziere – würde die für mich etwas befremdliche Abwesenheit von konkreten differentiellen Merkmalen in den Beschreibungen der gallischen patria sprechen. Wie wird die gallische Heimat von Paulinus oder von Severus dargestellt? Wird sie überhaupt dargestellt? Oder wird sie nur benannt? Ist der Name („Gallien“) schon Heimat? Die Behauptung, dass sich die „Geographie des Eigenen“ nach Westen verlagere, impliziert für mich die Frage, ob dies einer allgemeinen Entwicklung entspricht. Konstituieren sich in den Jahrzenten des Zerfalls des imperium romanum verschiedene patriae? Ist es das, was Ihnen vorschwebt, lieber Herr Vielberg? Eine Art Atomisierung und Autonomisierung einzelner regionaler patriae? einzelne Heimaten? Hier Gallien, dort Spanien, etc.? Wird übrigens der Pannonier – der Ungar? der Magyar? – Martin unter der Feder von Severus wirklich zum Gallier? Geht Severus so weit, dass er Martins Herkunft verschweigt und ihm eine gallische Heimat – im Sinn von patria naturae – andichtet? Das führt mich zur Frage, die mir am meisten am Herzen liegt: In Ihrer Einleitung sprechen Sie eine Entwicklung an, die Sie u.a. mit einer griffigen Formel umschreiben, nämlich: „Neudefinition von Gruppenzugehörigkeit“. Wenn diese Hypothese stimmt, in welchem Sinne erfolgt diese Neudefinition? Und vor allem: Welcher der Beiden hier skizzierten Haltungen – Severus vs. Paulinus – entspricht dem damaligen „Zeitgeist“, und nimmt spätere Entwicklungen vorweg? Kann man sagen, dass Severus und Paulinus jeweils für etwas „stehen“? Steht Paulinus für ein mittlerweile überholtes Festhalten an die große, aber nicht mehr verwaltbare patria juris des impe-
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rium romanum, während Severus bereits für eine womöglich neu konfigurierte patria naturae steht? Wie stehen beide zueinander, wenn man sie als Träger von zwei verschiedenen, vielleicht entgegengesetzten HeimatBegriffen begreift?
Zwischen „irdischer“ und „ewiger Heimat“ Der Heimatbegriff in systematisch-theologischen Kontexten und als Thema religionspädagogischer Bildungsforschung S YLVIA E. K LEEBERG -H ÖRNLEIN , G REGOR R EIMANN U ND M ICHAEL W ERMKE
In den aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozessen erweist sich der Heimatbegriff als vielgenutzte Metapher, die den vielfältigen Veränderungen der Umwelt des Individuums gegenüber- oder sogar entgegensteht. Merkwürdigerweise besteht dabei keinerlei Konsens darüber, was Heimat eigentlich ist. Auch diese Tagung macht deutlich, dass sich Heimat in unterschiedlichen sozialen, historischen und wissenschaftlichen Kontexten ganz verschieden denken ließ und lässt. Vielmehr sind die aktuellen Verständnisse von Heimat davon bestimmt, dass Heimat, so verschieden der Begriff gebraucht wird, doch positiv konnotiert ist. Der Heimatbegriff ist somit ein weiterhin gängiges Konstrukt, um Modernisierungsprozesse und besonders Migrationsprozesse – in welcher Weise auch immer – zu begleiten und zu verarbeiten. Dabei haben weder die problematische Begriffsgeschichte, noch die semantische Unschärfe, noch die zeitliche Akzeleration und räumliche Expansion der Veränderungsprozesse unter den Bedingungen der Globalisierung dazu geführt, dass das Wort Heimat aus dem deutschen Wortschatz verschwunden ist. Somit erscheint es geboten, dass sich eine Wissenschaft, die sich auch aktuellen Problemen und Begriffen widmet – und als diese versteht sich die
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Religionspädagogik als eine Disziplin der evangelischen Theologie – auch mit dem Heimatbegriff beschäftigt. Dieser Beitrag legt dabei den Fokus auf eine systematisch-historisch Darstellung des Heimatbegriffs in verschiedenen biblischen und kirchengeschichtlichen Kontexten. In diesem Zusammenhang wird besonders ein laufendes Forschungsprojekt vorgestellt, in dem der Lehrstuhl für Religionspädagogik das Verständnis und die Verwendung des Heimatbegriffs in der Thüringer evangelischen Publizistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht. Verstanden wird Heimat an dieser Stelle sowohl als immanenter als auch transzendenter Ort, dem der Mensch sich in herausragender Weise verbunden fühlt. Die unterschiedlichen theologischen Konstruktionen von Heimat machen dabei deutlich, dass eine christliche Heimat an ganz verschiedenen „Orten“ denkbar ist. Heimat besitzt in der zeitgenössischen Diskussion innerhalb der evangelischen Theologie keinen hohen Stellenwert. Der Heimat – verstanden als „konkretem menschlichen Lebensraum“1 – sprach die Theologie nach dem Zweitem Weltkrieg einen eigenständigen religiösen Wert weitgehend ab. In der lutherischen Theologie wurde Heimat als Teil der menschlichen Bewahrungsordnung der göttlichen Schöpfungsordnung subsumiert. Und auch in der reformierten Theologie muss sich jede Orientierung am menschlichen Lebensraum den Geboten Gottes unterordnen. Damit wandte sich die evangelische Theologie gegen das Heimatverständnis der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welches die Heimat eines Individuums als dessen essentielle Wesensbestimmung betont hatte.2 Auch die triviale Verwendung des Begriffs in den Heimatfilmen und romanen der Nachkriegszeit führten zum Desinteresse der Theologie am Heimatbegriff. So wurde auch die „Wiederentdeckung der Heimat“ in anderen Wissenschaftsbereichen seit den 1970er Jahren innerhalb der evangelischen Theologie kaum rezipiert.3 Unabhängig von dieser problematischen Wahrnehmung des Heimatbegriffs ist die theologische Diskussion über einen dezidiert christlichen Heimatbegriff generell schwierig. Denn theologisch lässt sich Heimat stets in (mindestens) zwei Dimensionen denken. So kann Heimat einerseits auch in theologischen Kontexten als geografisch, sozial und personell umgrenzter Raum der Vergangenheits- bzw. Gegen-
1
Kreß, Hartmut: Art. Heimat, In: TRE Bd. 14, S. 778-781, hier S. 780.
2
Vgl. ebd., S. 779 f.
3
Vgl. Daiber, Karl-Fritz: Art. Heimat, In: RGG4 3, Sp. 1593-1595, hier Sp. 1594.
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wartserfahrung verstanden werden. Andererseits wird der Heimatbegriff als Metapher gebraucht, um die christliche Jenseitshoffnung vom Reich Gottes zu umschreiben. Christliches Reden und Denken über Heimat bewegt sich somit stets zwischen „irdischer“ und „ewiger Heimat“ – zwischen Erfahrung und Hoffnung, zwischen Immanenz und Transzendenz. Und verschiedene theologische Entwürfe in der Bibel und in der Theologiegeschichte machen deutlich, dass Heimat sich in der evangelischen Theologie nicht einfach verorten lässt.
B IBLISCHE H EIMATEN Bereits in der Bibel sind verschiedene Konstruktionen von Heimat erkennbar. Dabei kennen weder das Hebräische des Alten noch das Griechische des Neuen Testaments ein direktes Äquivalent des deutschen Lexems Heimat. Allerdings lassen sich in der Bibel verschiedene indirekte Aussagen darüber finden, in welchem Kontext der Mensch konkret beheimatet wird. Innerhalb der biblischen Texte kann Heimat zum einen als konkret erfahrbarer soziokultureller Raum und zum anderen als Metapher für eine transzendente Zukunftshoffnung verstanden werden.4 Die Erzählung von der Landnahme im Alten Testament macht deutlich, wie sehr die Beziehung zwischen Jahwe und dem Volk Israel als räumliche,
4
Martin Luther gebraucht das Wort Heimat in seiner Bibelübersetzung von 1545 (Ausgabe letzter Hand) einmal in Gen 24,7 und verwendet es in diesem Zusammenhang im Sinne eines konkreten Herkunftsortes. Die drei zeitgenössischen und liturgisch maßgeblichen deutschsprachigen Bibelübersetzungen der Einheitsübersetzung von 1980 (römisch-katholisch), der Luther-Bibel von 1984 (evangelisch-lutherisch) und der (neuen) Zürcher Bibel von 2007 (evangelischreformiert) verwenden den Heimatbegriff teilweise sehr unterschiedlich: die Luther-Bibel (5-mal), die Zürcher Bibel (7-mal) relativ selten, die Einheitsübersetzung hingegen vergleichsweise häufig (32-mal). Alle drei verwenden den Heimatbegriff meist in Textpassagen, in denen von der Vertreibung aus bzw. der Rückkehr in einen konkreten Ort oder ein Land gesprochen wird. Doch während die Luther-Bibel Heimat nie als eschatologische Metapher gebraucht, verwenden die anderen beiden Übersetzungen jeweils 2-mal Heimat als Umschreibung für die neutestamentliche Zukunftshoffnung (Phil 3,20 und Hebr 11,14-16).
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soziale und religiöse Beheimatung verstanden wurde. Nach dem Exodus aus Ägypten und der langen Wanderung durch die Wüste, gab Jahwe dem Volk das Land Kanaan als Lehen. Dabei blieb Jahwe selbst Besitzer und Schutzherr des Landes (Lev 25,23), er gesteht den Israeliten aber ein Bleiberecht zu. Außerhalb der Landesgrenzen bewegt man sich „fern vom Angesicht des Herrn“ (1 Sam 26,20). Die Heimat Gottes und seines Volkes wurde dadurch genau lokalisierbar. Der Tempel in Jerusalem war die Wohnung Gottes. Somit lassen sich Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, die Landnahme und die Errichtung des Tempels als Prozess der sozialen, lokalen und religiösen Beheimatung des Volkes Israel verstehen. Doch diese Heimat ist immer auch mit der Erinnerung an die Fremde – an die Zeit in Ägypten – verbunden. In der Erinnerungskultur der Israeliten blieb die Erfahrung der Fremdheit weiterhin präsent und führte u.a. dazu, dass in den alttestamentlichen Gesetzen auch die Liebe zu den Fremden gefordert wird (Lev 19,34).5 Die enge Verbindung zwischen Gott und Land wurde in der Zeit des babylonischen Exils zerstört. Nach dem Verlust der Heimat wurde Gott als universaler Schöpfergott verstanden (Ps 89,12), der alle Völker einlädt, zum Zionsberg zu kommen (Jes 45,14-25). Der Gegensatz zwischen Heimat und Fremde wurde dadurch jedoch nicht aufgelöst. Denn auch der universale Schöpfergott hat in dieser alttestamentlichen Überlieferung einen fassbaren Ort, der jedoch erst wieder in der eschatologischen Zukunft in Anspruch genommen wird.6 In der alttestamentlichen Tradition lässt sich Heimat als die (räumliche) Nähe zu Gott verstehen. Beheimatung wird als religiöser Prozess verstanden, der unter dem Eindruck der historischen und gegenwärtigen Gotteserfahrung stets voranschreitet. Eine „ewige Heimat“ kennt das Alte Testament demnach nicht. Im Gegenzug lässt sich Heimat im Neuen Testament allein eschatologisch konstruieren. Jesus von Nazareth wandte sich in seiner Verkündigung und seinem Handeln von jeder innerweltlichen Heimat ab. Die Gemeinschaft um ihn konstituierte sich als ein Kollektiv von Besitz- und Heimatlosen. Nur wer bereit ist, weltliche Konventionen aufzugeben, kann Teil der
5
Vgl. Biehl, Peter: Heimat in theologischer und religionspädagogischer Perspektive. Plädoyer für ein eschatologisch gebrochenes Heimatverständnis, In: Jahrbuch der Religionspädagogik 14 (1997), S. 29-64, hier S. 43 f.
6
Vgl. ebd., S. 45.
ZWISCHEN „IRDISCHER“ UND „EWIGER HEIMAT“ | 149
Heilsgemeinschaft werden (Mt 10,37f). Die Beheimatung des Menschen findet nach diesem Verständnis erst innerhalb der transzendenten Gemeinschaft mit Gott statt. Das Sterben Jesu am Kreuz wird in der urchristlichen Tradition zum Symbol der neuen Beheimatung der Gläubigen: „So lasset uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr 13,13f). Die alttestamentliche Tradition von der Stadt Jerusalem als zukünftiger Heimat der Heilsgemeinde ist in diesem Text zwar noch zu erkennen. Das irdische Jerusalem ist jedoch ein Symbol für die erwartete himmlische Heimat. Denn die Christen haben ihre Heimat „im Himmel“ (Phil 3,20). Somit lässt sich im Neuen Testament ein Verständnis von Heimat als transzendentem Ort in der eschatologischen Zukunft finden. Dieses Heimatverständnis wendet sich gleichzeitig radikal gegen jeglichen Versuch, den Menschen letztendlich innerweltlich zu beheimaten. Auch im urchristlichen Kontext ist die Heimat des Menschen nur als Beziehung zu Gott denkbar. Doch die Gemeinschaft, die von Jesus Christus gestiftet wurde, ist vollkommen auf ein transzendentes eschatologisches Geschehen bezogen. Die weltliche Ordnung verliert angesichts dieser Botschaft letztlich jede Relevanz. Im Urchristentum war das Motiv einer Heimat außerhalb der Welt in doppelter Weise evident. Einerseits lässt sich das Motiv des Fremdseins des Menschen in der Welt auch in der jüdisch-hellenistischen Philosophie, etwa bei Philo von Alexandrien (10 v. bis 40 n. Chr.), finden.7 Andererseits entstanden die neutestamentlichen Texte in der unmittelbaren Naherwartung der Endzeit. Die kulturellen, sozialen und religiösen Traditionen – und auch die irdische Heimat – besaßen für die ersten Christen keine soteriologische Relevanz. Seither ist jede christliche Theologie mit dem Problem konfrontiert, dass die Heilszeit noch nicht (vollständig) angebrochen ist. Die eschatologische Botschaft des Neuen Testaments muss stets neu zum Menschsein in der Welt in Beziehung gesetzt werden. Diese hermeneutische Verhältnisbestimmung hat dann auch unmittelbaren Einfluss auf die Beziehung des Christen zur immanenten Heimat.
7
Vgl. ebd., S. 46 f.
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K ONZEPTE
EINER CHRISTLICHEN H EIMAT INNERHALB DER EVANGELISCHEN K IRCHEN - UND T HEOLOGIEGESCHICHTE In der evangelischen Kirchen- und Theologiegeschichte wird der Heimatbegriff von verschiedenen Akteuren in unterschiedlicher Weise gebraucht. Einerseits wird Heimat – analog zu seinem ursprünglichen Gebrauch – als Umschreibung für den Herkunftsort, andererseits als Metapher für die soteriologische christliche Hoffnung verwendet. Bei Martin Luther (1483– 1546) findet sich das eschatologische Verständnis einer christlichen Heimat. Wenn er in theologischen Zusammenhängen über „heimat“ oder „heymot“ schrieb, meinte er die christliche Zukunftshoffnung. Mit der ihm eigenen Deutlichkeit wendet er sich gegen eine Beheimatung des Menschen innerhalb der Welt, indem er schreibt: „Gott helfe uns allen [...] aus diesem sündlichen Madensack zu fahren, als aus dem Elend in unser rechte Heimat und Vaterland“.8 Für Luther schafft allein der Glaube an Jesus Christus den Gläubigen eine eschatologische Heimat. Und diese steht im deutlichen Kontrast zur sündigen irdischen Heimat.9 Auch der barocke Liederdichter Paul Gerhardt (1607–1676) verwendet den Heimatbegriff als Metapher für die christliche Hoffnung auf eine jenseitige Gemeinschaft mit Gott. So heißt es in seinem Lied „Ich bin ein Gast auf Erden“ (Evangelisches Gesangbuch, Lied-Nr. 529): „Ich wandre meine Straße, / die zu der Heimat führt, / da mich ohn alle Maße / mein Vater trösten wird. // Mein Heimat ist dort droben, / da aller Engel Schar / den großen Herrscher loben [...]“. Luther und Gerhardt geben damit dem ursprünglich profanen Rechtsbegriff der Heimat eine religiöse Dimension, die sich aus dem Neuen Testament ableiten lässt. Diese Konstruktion einer himmlischen Heimat löst den weltlichen Heimatbegriff nicht auf, sondern konzeptualisiert ihn neu. Aus dem weltlichen Heimatort wird das himmlische Domizil und aus der weltlichen Heimatgemeinde wird die Gemeinschaft aller Gläubigen mit Gott. Diese christliche Deutung von Heimat war und ist besonders in Zeiten populär, wenn die irdische Heimat durch Kriege und andere Katastrophen bedroht oder bereits verloren ist. Der Gebrauch des Heimatbegriffs als trös-
8
Zit.: Bebermeyer, Renate/Bebermeyer, Gustav: Wörterbuch zu Martin Luthers deutschen Schriften, Band 4, Hildesheim/Zürich/New York 1999, S. 441.
9
Vgl. ebd., S. 441 f.
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tende Hoffnung barg jedoch die Gefahr, „Vertröstung oder Illusion zu sein.“10 Ein christlicher Heimatbegriff kann nur dann eine lebensweltliche Relevanz haben, wenn er auch dazu auffordert, in der Welt hoffend gestalterisch tätig zu sein. Derlei Überlegungen einer christlichen Heimat, die auch einen direkten lebensweltlichen Bezug besitzt, finden sich u.a. beim wichtigsten evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts – Friedrich Schleiermacher (1768– 1834). In seinen Reden über die Religion bezeichnet Schleiermacher die Menschheit, welche Teil des Universums und Gegenstand der Religiosität ist, als die „Heimat“ des Individuums. Die Suche nach Religion vergleicht Schleiermacher mit dem Wunsch des Fremden nach einer Heimat. Letztendlich, so Schleiermacher, könne nur die positive, geschichtlich erfahrbare Religion den Menschen wirklich beheimaten. Damit will Schleiermacher dazu einladen, seine Heimat in der positiven Religion des Christentums zu suchen. Beheimatung geschieht im Sinne Schleiermachers im Prozess der geistigen inneren Suche des Individuums.11 Die Überlegung, dass der Mensch aus sich selbst heraus eine christliche Heimat suchen kann, hat im 19. und 20. Jahrhundert zu einer Problemlage geführt, die weiter unten anhand der Thüringer evangelischen Parochialpublizistik aufgezeigt werden soll. Im Grunde geht Schleiermacher von einer christlichen Heimat aus, die keiner eschatologischen Rückversicherung bedarf. Nicht mehr Gott beheimatet nach Schleiermacher den Menschen, sondern der Mensch beheimatet sich selbst im Gott des Christentums. Gegen dieses Konzept einer christlichen Heimat wandte sich Karl Barth (1886–1968), der wichtigste protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts. Die Erfahrungen der beiden Weltkriege hatten ihm deutlich vor Augen geführt, wo die Grenzen einer Theologie liegen, die sich allein an der menschlichen Kultur und Geschichte orientiert. Barth wandte sich jedoch nicht vollständig vom Heimatbegriff ab. Für ihn waren der Mensch und somit auch seine Heimat von Gott angenommen. Allerdings setzte er die weltliche Ordnung stets in Bezug zur göttlichen Ordnung. Nach Barth besitzt alle weltliche Ordnung keinen religiösen Wert. Gott allein ist heilig, nicht die Heimat. Die christliche Botschaft reißt jeden, der sie hört, aus der Enge seines Volkes und seiner Heimat und führt ihn in die Weite des Gottes-Volkes
10 Biehl: Heimat, S. 48. 11 Vgl. Kreß: Heimat, S. 779.
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ein.12 Somit setzt sich der evangelisch-reformierte Theologe für ein dynamisches Verständnis von Heimat ein, dass der irdischen Heimat als Ort der Verkündigung einen Stellenwert beimisst, der sich aber immer nur in Relation zur eschatologischen Beheimatung des Menschen bei Gott zu sehen ist.13
C HRISTLICHE H EIMAT
HEUTE
Die oben dargestellten verschiedenen biblischen und theologischen Deutungen des Heimatbegriffs müssen von der zeitgenössischen evangelischen Theologie bedacht werden, wenn sie ein aktuelles Heimatkonzept formulieren will. Auch ein zeitgenössisches christliches Verständnis von Heimat ist nicht ohne einen eschatologischen Bezug denkbar. Die letztendliche Beheimatung des Menschen ist nicht innerhalb der Welt möglich, sondern liegt außerhalb der menschlichen Erfahrungswelt. Doch die eschatologische Rede von Heimat hat auch Grenzen. Die Theologie sollte sich dem Begriff der Heimat als „verschieden besetztes Symbol für intakte Beziehungen“14 (wieder) annehmen. Nicht selten sind kirchliche und religiöse Orte Gegenstände der Heimaterfahrung. Die Heimatkirche kann auch für mobile Menschen ein überraschend starker Bezugspunkt sein. Somit stellt sich aus Sicht der praktischen Theologie und der evangelischen Religionspädagogik die Frage, inwieweit christliche Kirchengemeinden Orte der Beheimatung sind bzw. – angesichts aktueller (Binnen-)Migrationsprozesse – werden können. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in ihrer dritten Erhebung über die Kirchenmitgliedschaft zwar des Heimatbegriffs bedient15. Allerdings liegt dieser Pub-
12 Vgl. Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik. Band 3. Die Lehre von der Schöpfung Teil 4, Zollikon-Zürich 1951, S. 441-445. 13 Vgl. Biehl: Heimat, S. 47 f. 14 Vgl. ebd., S. 42. 15 Vgl. Engelhardt, Klaus/von Loewenich, Hermann/Steinacker, Peter (Hrsg.): Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997.
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likation keine theologische Reflexion über die ekklesiologische Bedeutung von Heimat zugrunde.
D ER H EIMATBEGRIFF IN DER T HÜRINGER EVANGELISCHEN P UBLIZISTIK VON 1900 BIS 1941 Die Frage nach der Beheimatung durch die christliche Gemeinde stellte sich bereits in anderen historischen Zusammenhängen. Am Zentrum für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB) widmet sich derzeit ein Forschungsprojekt der Frage, wie eine christliche Heimat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Thüringer evangelischen Parochialpublizistik und in der Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“ verstanden und vermittelt wurde. Evangelische Theologen und Pfarrer reagierten auf die als Krise wahrgenommenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Veränderungsprozesse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts teils mit einer gesetzlich verschärften Kirchenzucht und der Forcierung einer religiössittlichen Bildung in der Schule. Auch die Geistlichen in den Landeskirchen ergriffen vielfältige Maßnahmen zur Steigerung der religiösen Sozialisation und Bildung in der Bevölkerung. Sie nutzten dafür beispielsweise Printmedien als Mittel der Massenkommunikation und waren verantwortlich für die rasche Verbreitung religiöser Publikationen. Zu diesen zählten einerseits die evangelischen Gemeindeblätter, die in Thüringen meist unter dem Titel „Heimatglocken“ bis 1941 relativ flächendeckend Verbreitung fanden.16 Andererseits gab die Thüringer evangelische Kirche von 1924 bis 1941 ihre Kirchenzeitschrift unter dem Titel „Glaube und Heimat“ heraus.17 Sowohl die Gemeindeblätter als auch die Kirchenzeitung dokumentieren
16 Vgl. Heller, Thomas/Wermke, Michael (Hrsg.): Thüringer evangelische Parochialpublizistik. Im Spiegel der „Mitteilungen für die Thüringer Heimatglöckner“ (1917–1919) (= Religiöse Bildung im Diskurs, Bd. 1), Leipzig 2013, S. 2227. 17 Die „Glaube und Heimat“ wird seit 1946 wieder herausgegeben und ist heute die gemeinsame Kirchenzeitung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Evangelischen Landeskirche Anhalts.
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bereits durch ihre programmatischen Titel den Versuch, mithilfe des Heimatbegriffs eine kirchliche Identität zu schaffen und auszubilden. Die Periodika stehen in einem engen Zusammenhang zur spezifischen Situation der Thüringer Territorialkirchen und der 1919 gegründeten Thüringer evangelischen Kirche (TheK). Besonders für die TheK war die Frage nach einer kirchlichen Identität von hoher Bedeutung, bildete sich die TheK doch aus sieben vormals eigenständigen Territorialkirchen18, die sich mit ihrer spezifischen Entwicklung und Bekenntnistradition zur neuen Landeskirche zusammenschlossen. Besonders der Kirchenhistoriker Ernst Koch hat die Bedingungen und Entwicklungen, die zur Gründung der TheK führten, untersucht und verwies in diesem Zusammenhang auf den Quellenwert der weit verbreiteten Gemeindeblätter, da diese widerspiegeln, „was die kirchliche Basis [...] im Blick auf die Zukunft der Kirche bewegte.“19 Die evangelischen Gemeindeblätter nehmen innerhalb der evangelischen Presse eine Sonderstellung ein, weil sie stets für einzelne Gemeinden, allenfalls für einige wenige Parochieverbände herausgegeben – im Gegensatz beispielsweise zu den Sonntagsblättern, die für eine Landeskirche oder mehre Landeskirchen herausgegeben wurden. Dieses vom Medienhistoriker Gottfried Mehnert als „Prinzip der Gemeindegemäßheit“20 bezeichnete Charakteristikum der Gemeindeblätter führte dazu, dass sich die Parochialpublizistik zu einem weitverbreiteten und heterogenen Zweig der kirchlichen Presse entwickelte.21 Die Gemeindeblätter in Thüringen setzten sich analog zur gesamten Parochialpublizistik in Deutschland für „die Stärkung einer (in den Quellen oft miteinander eng verwobenen) kirchlichen und
18 Bis 1918 bestanden auf dem Gebiet des 1920 gegründeten Freistaates Thüringen die Landeskirchen des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, der Herzogtümer Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg und Gotha sowie SachsenMeiningen und der Fürstentümer Reuß älterer Linie (ä.L.), Reuß jüngerer Linie (j.L.), Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen. 1920 schloss sich der Freistaat Coburg mit seiner Landeskirche Bayern an; die Landeskirche Reuß ä.L. blieb bis 1934 eigenständig. 19 Koch, Ernst: Die Thüringer evangelische Kirche in ihrer Entstehungszeit (1918– 1920), In: Herbergen der Christenheit 21/22 (1997/98), S. 119-134, hier 119. 20 Mehnert, Gottfried: Evangelische Presse. Geschichte und Erscheinungsbild von der Reformation bis zur Gegenwart, Bielefeld 1983, S. 214. 21 Vgl. ebd., S. 213 f.
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heimatlichen Verbundenheit“22 ein. Somit erweist sich die evangelische Parochialpublizistik als besonders geeignet, um die Entwicklungen, Bedingungen und Strategien zur Bildung kirchlicher Identität näher zu untersuchen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere drei Kontexte zu beachten, welche die Entwicklung der TheK und der evangelischen (Parochial-) Publizistik in Thüringen entscheidend prägten: 1. Zentralisierung. Thüringen bildete kirchen- (bis 1919) und staatspolitisch (bis 1920) keine Einheit. Die kleinteilige Verfasstheit förderte zwar die Identifikation der Bevölkerung mit ihrem jeweiligen Territorium, die kirchliche Zersplitterung wurde aber u.a. dann problematisch, wenn Einwohner durch Umzug in eine andere Landeskirche wechselten. Denn während die Landeskirchen von Sachsen-Weimar-Eisenach, SachsenMeiningen und Sachsen-Coburg und Gotha theologisch liberal ausgerichtet waren, waren die Kirchen der beiden schwarzburgischen und der beiden reußischen Fürstentümer – und etwas gemäßigter die Landeskirche von Sachsen-Altenburg – lutherisch-orthodox geprägt.23 Aufgrund der verschiedenen konfessionellen Traditionen der ehemaligen Landeskirchen verzichtete die TheK in ihrer Verfassung von 1924 auf eine konkrete Bekenntnisformulierung, sondern bezeichnete sich selbst als „Heimat evangelischer Freiheit und Duldsamkeit“24. 2. Industrialisierung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war Thüringen neben Sachsen, dem Rheinland und Westfalen eines der Gebiete im Deutschen Reich, in dem die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war. Daran anknüpfende Modernisierungsphänomene (wie Land-
22 Heller/Wermke: Parochialpublizistik, S. 5. 23 Die innerkonfessionellen Gegensätze gingen so weit, dass die Landeskirche Reuß ä.L. sich aufgrund von Vorbehalten gegenüber den liberaleren Landeskirchen 1919 nicht der TheK anschloss, sondern bis 1934 als kleinste Landeskirche des Deutschen Reiches (mit 22 Pfarrstellen) eigenständig blieb, vgl. KochHallas, Christine: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen in der SBZ und Frühzeit der DDR (1945–1961). Eine Untersuchung über die Kontinuitäten und Diskontinuitäten einer landeskirchlichen Identität (= Arbeiten zur Kirchenund Theologiegeschichte, Bd. 25), Leipzig 2009, S. 31. 24 Zit.: ebd., S. 32.
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flucht/Urbanisierung) traten hier vergleichsweise früh – wenn auch regional unterschiedlich – auf.25 3. Säkularisierung. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg nahmen Kirchenzugehörigkeit oder bei Kirchenmitgliedern bspw. der Gottesdienstbesuch im seit der Reformation evangelisch-lutherisch dominierten Thüringen sukzessive und flächendeckend ab.26 In den 1920er Jahren stieg in den industriellen Zentren Ostthüringens (u.a. Altenburg, Gera, Schmölln) der Anteil von Menschen ohne konfessionelle Zugehörigkeit, auf ein Maß, das einzigartig im Deutschen Reich war. Zwar lassen sich graduelle Unterschiede der kirchlichen Bindungen in Thüringen zwischen agrarisch-geprägten Landund industriell-geprägten Stadtgemeinden erkennen, gleichwohl kann durchaus von einer „fortschreitende[n] Entkirchlichung weiter Teile des Landes“27 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesprochen werden. Besonders die Heimatglocken entstanden im Kontext der Heimat-28 und der Dorfkirchenbewegung29, die die Pflege der regionalen bzw. lokalen Traditionen und Kulturgüter zum Ziel hatten. Dabei griffen die Verfasser der Heimatglocken bewusst das idyllische und romantische Heimatverständnis auf und nutzten es als Anknüpfungspunkt für ihre christliche Verkündigung. Die „irdische Heimat“ erschien in diesem Zusammenhang als ein Vorgriff auf die „ewige Heimat“. Seit 1907 gab der Thüringer Pfarrer Hans von Lüpke (1866–1934) die Zeitschrift „Die Dorfkirche“ heraus und verband darin den Heimatbegriff mit einem praktisch-theologischen Pro-
25 Vgl. Böhm, Susanne: Deutsche Christen in der Thüringer evangelischen Kirche (1927-1945), Leipzig 2008, S. 33 f. 26 Vgl. Heß, Ulrich: Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Volker Wahl (= Regionalgeschichtliche Forschungen im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar), Weimar 1991, S. 538-540; 1910 bekannten sich ca. 90,5 % der Bevölkerung zur evangelisch-lutherischen Konfession. Besonders in den Industriestädten war der Prozentsatz von Teilnehmern am Abendmahl bereits 1913 niedrig: Altenburg 22,4 %, Apolda 8,9 % und Saalfeld 3,8 %. 27 Koch-Hallas: Kirche, S. 32. 28 Vgl. bes. Klueting, Edeltraud: Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991. 29 Vgl. bes. Treiber, Angela: Volkskunde und evangelische Theologie. Die Dorfkirchenbewegung 1907–1945, Köln/Weimar/Wien 2004 sowie Fenner, Eckhard: Art. Dorfkirchenbewegung, In: TRE 9, S. 147-150.
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gramm, bei dem die bäuerliche Dorf- und Kirchengemeinde als „Seele [des] organisch gegliederten Gesamtlebens“30 verstanden wurde. Nur in der Dorfgemeinschaft könne die „irdische Heimat zu einer wirklichen Heimat der Seele durch die Einsenkung der Himmelskräfte des Evangeliums“31 werden. Somit verband dieser theologisch gebrauchte Heimatbegriff immanente und transzendente Dimensionen.32 Inwiefern die Thüringer evangelische Publizistik diesen spezifischen oder aber andere Heimatbegriffe aufgriff, ggf. miteinander verband oder weiterentwickelte, um kirchliche Identität medial zu forcieren, ist als Forschungsdesiderat festzuhalten, das im geplanten Forschungsprojekt bearbeitet werden soll. In jedem Fall hatten die Heimatkonzeptionen in der Thüringer evangelischen Publizistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem restaurativen Charakter. Die ländliche, agrarisch geprägte (Kirch-)Gemeinde wurde besonders in den Heimatglocken als idealtypische christliche Lebensform verklärt. Die Gemeindeblätter sollten helfen dieses Bewusstsein innerhalb der Gemeinden zu festigen. Der Heimatbegriff dieser Publizistik griff dabei die antimoderne Vorstellung einer idyllischen und naturverbundenen Heimat auf und gab ihr eine religiöse Bedeutung. Die „Glaube und Heimat“ griff diesen Heimatbegriff der Gemeindeblätter auf, kontextualisierte ihn jedoch anders. Denn während die Gemeindeblätter Heimat stets auf ihre einzelnen lokalen Kirchengemeinden bezogen, transformierte die Kirchenzeitung die neu gegründete TheK zur Heimat aller evangelischen Christen in Thüringen. Vor diesem Hintergrund versuchten die Herausgeber der „Glaube und Heimat“ mithilfe des Heimatbegriffs eine landeskirchliche Identität neu auszubilden, die es so bis 1919 nie gegeben hatte. Mit dem Rückgriff auf die lutherische Tradition in Thüringen, symbolisiert durch die Wartburg im Titelkopf der Zeitschrift, sollte in der „Glaube und Heimat“ den ehemals eigenständigen Thüringer Territorialkirchen eine gemeinsame theologiegeschichtliche Verbindung vermittelt werden. Dabei wurden die innerkonfessionellen Unterschiede zwischen ehemals liberalen und ehemals lutherisch-orthodoxen Landeskirchen durch die Konstruktion einer verbindenden Vergangenheit überlagert.
30 Lüpke, Hans von: Art. Dorfkirchenbewegung, In: RGG2 1, Sp. 1984-1986, hier Sp. 1985. 31 Vgl. ebd., Sp. 1985 f. 32 Vgl. Treiber: Volkskunde, S. 356 f.
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Im Laufe der 1920er Jahre wurden zahlreiche Gemeindeblätter der „Glaube und Heimat“ als sog. Anschlussblätter untergeordnet. Als Beilagen zur Kirchenzeitung verloren sie ihre verkündigenden und heimatkundlichen Teile und dienten lediglich der Bekanntmachung von Kirchennachrichten innerhalb der Gemeinde. Inwiefern hinter dieser Entwicklung eine spezifische Strategie der TheK steht, mit den „Heimatglocken“ auch deren spezifisches lokales Heimatverständnis dem landeskirchlichen regionalen Heimatbegriff der „Glaube und Heimat“ zu subsumieren, wird noch untersucht werden. Da sich die TheK bereits zu Beginn der 1930er Jahren von einer liberalen hin zu einer deutsch-christlich geprägten Landeskirche wandelte, ist davon auszugehen, dass bereits sehr früh auch der Heimatbegriff in der „Glaube und Heimat“ zunehmend transformierte. Bereits 1931 wurde der deutsch-christliche Kirchenrat Wilhelm Bauer (1889-1969) als Herausgeber eingesetzt und ersetzte damit seine liberaleren Vorgänger.33 Für die Gemeindeblätter wird eine derart enge Verbindung zwischen politischer Transformation und personeller Struktur nicht nachweisbar sein, weil die Pfarrer und Superintendenten, d.h. die Herausgeber und Autoren der Parochialpublizistik, weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ihre Stellung behielten. Jedoch wurden im Laufe der 1930er Jahre auch die bis dahin eigenständigen Gemeindeblätter zunehmend der „Glaube und Heimat“ eingegliedert.34 In die Kirchenzeitung wurden zunehmend auch nationalsozialistische und deutsch-christliche Heimatdeutungen übernommen, indem verstärkt völkische, antijudaistische und antisemitische Beiträge erschienen. Zudem wurde die landeskirchliche Identität weitgehend der Idee von einer deutschen evangelischen Reichskirche untergeordnet. Vor diesem Hintergrund untersucht das Forschungsprojekt, inwieweit innerhalb der Thüringer „Heimatglocken“ und der „Glaube und Heimat“ Heimat theologisch gedeutet und als Medium zur Bildung kirchlicher Identität genutzt wurde. Dabei soll besonders untersucht werden, wie der christliche Heimatbegriff mit seinen zwei Dimensionen unter den wechselnden gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Bedingungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebraucht wurde. In diesem Zusammenhang ist
33 Vgl. Böhm: Christen, S. 59. 34 Vgl. Heller/Wermke: Parochialpublizistik, S. 29 f.
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besonders zu untersuchen, inwieweit sich der Heimatbegriff innerhalb der „Heimatglocken“ veränderte. Zudem ist im Kontext religionspädagogischer Forschung danach zu fragen, wie sich religiöse und heimatkundliche Inhalte in der Thüringer evangelischen Publizistik zu einander verhielten und wie sie vermittelt wurden. Das Forschungsprojekt generiert so erstmals Erkenntnisse über mediale Strategien zur Bildung kirchlicher Identität in der evangelischen Publizistik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wird einen wichtigen Beitrag zur Begriffsgeschichte des Heimatbegriffs leisten. Damit liefert das Projekt neue Einsichten u.a. für die gegenwärtige kirchengeschichtliche und mentalitätshistorische Forschung und bereichert die aktuelle interdisziplinäre Debatte um den Heimatbegriff. Das Forschungsprojekt greift in seiner Forschungsarbeit u.a. auf Quellen zurück, die im Rahmen des Digitalisierungsprojektes „Kirchliches und schulisches Zeitschriftenwesen in Thüringen von 1789 bis 1945“ digital bereitgestellt werden.35 Im Rahmen des Digitalisierungsprojektes, das vom ZRB gemeinsam mit der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB) durchgeführt wird, konnten bislang die Ausgaben der „Glaube und Heimat“ von 1924 bis 1941 und 22 lokale Ausgaben Thüringer Gemeindeblätter (Stand Mai 2016) digitalisiert und über die Internetplattform der ThULB verfügbar gemacht werden.
D IE U NVERFÜGBARKEIT
DER
H EIMAT
An dieser Stelle können noch keine Ergebnisse des Forschungsprojektes dokumentiert werden. Es ist jedoch zu vermuten, dass sich die Verwendung und das Verständnis des Heimatbegriffes in der Thüringer evangelischen Publizistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark wandelten. In erster Linie wurden angesichts der (kirchen-)politischen Veränderungsprozesse auch wechselnde Heimatdeutungen vorgenommen. Die verwandten Heimatkonstruktionen in der Publizistik hatten vermutlich auch praktischtheologische Relevanz, waren insgesamt aber eher auf eine immanente Heimat bezogen. Inwieweit der christliche Glaube an eine ewige Heimat
35 Wermke, Michael/Heller, Thomas: Kirchliches und Schulisches Zeitschriftenwesen,
In:
URL:
http://www.urmel-dl.de/Projekte/KirchlichesundSchulisches
Zeitschriftenwesen.html (aufgerufen am 01.05.2016).
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innerhalb der Gemeindeblätter und der „Glaube und Heimat“ mediale Verwendung fand, muss ebenso untersucht werden. Insgesamt ist theologisch davon auszugehen, dass das christliche Heimatverständnis als Korrektiv des umgangssprachlichen Heimatbegriffs dienen kann und muss. Denn die Beheimatung des Menschen aus sich selbst und seiner Umwelt heraus birgt die Gefahr, dass Heimat einen normativen Charakter erhält. Aus theologischer Perspektive muss jedoch das Ordnungsverständnis von Heimat immer dem eschatologischen Heimatverständnis untergeordnet werden. Gemeinsam mit dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch (1885-1977) ist die evangelische Theologie überzeugt: Heimat ist „keine Kategorie der Tatsächlichkeit, keine ökonomische Kategorie vom Standort, keine politische Kategorie der Nation, erst recht keine politische Kategorie des Nationalismus oder Chauvinismus, sondern frei von Blut und Boden eine Kategorie der Möglichkeit.“36 Anders als bei Bloch kann jedoch nach christlichem Verständnis diese Kategorie erst in der eschatologischen, d.h. nicht vom Menschen geschaffenen Zukunft, erfüllt werden. Doch um die Relevanz dieses außerweltlichen Heimatverständnisses für den gegenwärtigen Heimatdiskurs neu zu prüfen, bedarf es innerhalb und außerhalb der evangelischen Theologie einer fortwährenden Debatte.
36 Koch, Gerd: Art. Heimat, In: Dietschy, Beat/Zeilinger, Doris/Zimmermann, Rainer E. (Hrsg.), Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, Berlin/Boston 2012, S. 168-188, hier S. 187.
Kommentar von Gisela Mettele
Das Verständnis von Heimat in der evangelischen Theologie wird im Beitrag von Michael Wermke auf verschiedenen Ebenen verhandelt.1 Zunächst werden biblische sowie historisch-theologische Konzepte von Heimat skizziert und danach einige systematische Überlegungen zur Neukonzeption eines christlichen Heimatverständnisses aus der Perspektive der evangelischen Theologie entwickelt. Der Entwurf eines Forschungsprojekts aus dem Bereich der religionspädagogischen Bildungsforschung schließt den Text ab. Mein eigener Anknüpfungspunkt an das Thema „Heimat“ im theologischen Kontext liegt in meinen Forschungen zur Herrnhuter Brüdergemeine, einer im 18. und 19. Jahrhundert global agierenden pietistischen Gemeinschaft.2 Die Brüdergemeine verstand sich als eine mobile Pilgergemeinschaft, die in missionarischer Absicht durch ganz Europa und nach Übersee reiste und in verschiedenen Erdteilen Missionsstationen und neue Siedlungen aufbaute, die durch ein enges organisatorischen und kommunikatives Netz miteinander verbunden waren. Weder ihre Herkunft, noch die Region oder der Staat ihres jeweiligen Aufenthaltes bildeten dabei die zentralen Bezugsgrößen der Identität der Mitglieder, vielmehr sahen diese sich als Teil einer weltweiten Gemeinschaft von Nachfolger/innen Christi im heils-
1
Der Kommentar bezieht sich den von Michael Wermke auf der Tagung präsentierten Vortrag, der vom jetzt vorliegenden Beitrag in verschiedenen Punkten ab wich.
2
Mettele, Gisela: Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1760-1857, Göttingen 2009.
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geschichtlich gedachten universalen Raum des wachsenden Reiches Gottes. Nicht an einem geographisch fixierten Ort, sondern im Netzwerk der erweckten Christen überall auf der Welt fühlten sich die Herrnhuter/innen zuhause, ihre endgültige Heimat aber sahen sie in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott. „Heimgehen“ ist bis heute in der Brüdergemeine die übliche Bezeichnung für den Tod eines Mitglieds. Ausgangspunkt des Beitrags von Wermke bildet die Instrumentalisierung Martin Luthers und Johann Sebastian Bachs für eine Wahlwerbung der Eisenacher NPD, quasi als Ikonen eines restriktiven Heimatbegriffs. Im geringen Stellenwert, der dem Begriff der Heimat in der zeitgenössischen evangelischen Theologie zugemessen wird, sieht Wermke ein Hindernis für eine wirkungsvolle Auseinandersetzung mit rassistischen und völkischen Heimatkonzepten, wie sie etwa die NPD vertritt. Seine Überlegungen möchten daher zu einer theologischen Reflexion der ekklesiologischen Bedeutung von Heimat beitragen. Heimat im theologischen Sinn, so Wermke, sei ein Begriff „zwischen Erfahrung und Hoffnung, zwischen Immanenz und Transzendenz“, der sowohl die „irdische Heimat“ als geographisch, sozial und personell bestimmbarer Raum, als auch die „ewige Heimat“ als Metapher für die christliche Hoffnung auf Erlösung im Jenseits umschließt. Auch wenn im griechischen und hebräischen Text des Alten Testaments ein direktes Äquivalent zum Begriff Heimat fehle, seien doch Kontexte der „Beheimatung“ des Menschen zu finden, bei denen stets die Mehrdeutigkeit von konkret erfahrbarem sozio-kulturellem Raum einerseits und transzendenter Zukunftshoffnung grundlegend sei. Wichtig erscheint mir hier, noch konkreter nach den verschiedenen Reichweiten biblischer Heimat zu fragen. Welche Heimatqualitäten werden Haus, Stadt, Region, Vaterland, Familie bzw. Stamm jeweils zugeschrieben? Auch ein genauer Blick auf spezifische Semantiken könnte weiteren Aufschluss über biblische Begriffskulturen von Heimat geben. Ich denke etwa an die Semantik der „Stadt“, mit der in der Lutherbibel häufig sowohl die irdische als auch die himmlische Heimat gefasst wird, oder an die biblischen Begriffe von „Zelt“ und „Hütte“. Die Herrnhuter Brüdergemeine hat im 18. Jahrhundert solche Begriffe in eine spezifisch protestantische Lebensauffassung umgesetzt. „Hütte“ war ein zentraler Begriff der Selbstbeschreibung der Mitglieder und ihrer körperlichen Verfasstheit. Er sollte sowohl auf das Provisorische der irdischen
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Heimat (2Kor 5,1-4) als auch, in Anlehnung an die Stiftshütte des Alten Testamentes, auf den sakralen Kern des menschlichen Lebens verweisen. Die Mehrsprachigkeit und die rege Übersetzungstätigkeit der Brüdergemeine bringen mich zu meiner nächsten Frage, nämlich der nach semantischen Unterschieden von Kontexten menschlicher Beheimatung in verschiedenen Übersetzungen bzw. Übertragungen der Bibel. Gerade im Pietismus wurde ja um die Frage der adäquaten Bibelsetzung aus dem Urtext intensiv gerungen.3 Mich würde interessieren, ob sich im Vergleich verschiedener Übertragungen Variationen bzw. Verschiebungen im Verständnis von Heimat bzw. Beheimatung erkennen lassen. Zu fragen wäre also, ob und wie Heimat- bzw. Beheimatungssemantiken frühneuzeitlicher, neuzeitlicher und aktuell-zeitgenössischer Übersetzungen sich voneinander unterscheiden. Inwieweit spiegeln die verschiedenen Übertragungen ihre jeweiligen Zeithorizonte? Schlagen sich konfessionell unterschiedliche Vorstellungen von Heimat in unterschiedlichen Begriffsübersetzungen nieder? Wie sieht es aus, wenn wir die Bibelübersetzungen verschiedener Länder vergleichen, etwa die Lutherbibel mit der im angloamerikanischen Kontext maßgeblichen King James Bible? Lassen sich semantische Unterschiede hinsichtlich der Fassung des Heimatbegriffs bzw. der menschlichen „Beheimatung“ feststellen? Die im Alten Testament aufgezeigten Kontexte menschlicher Beheimatung schillern zwischen lokaler, regionaler, territorialer und jenseitiger Heimat und verweisen damit auch auf mehrdeutige Identitäten. Dies sollte für die Konzeption eines theologischen Heimatbegriffs deutlich hervorgehoben werden. Die Bibel zeichnet komplexe und auch widersprüchliche Bilder, aber nie heimatliche Idyllen. Dass die biblische Erfahrung in hohem Maß eine Erfahrung von Mobilität und Migration ist, macht sie überaus anschlussfähig für einen modernen nichtrestriktiven Heimatbegriff. Ein Heimatkonzept, das Heimat nicht an Dingen und Orten festmacht, sondern in den Beziehungen zu Menschen und zu Gott sucht, scheint mir nicht zuletzt deshalb ein zeitgemäßes und notwendiges Angebot, da es mit der Mobilität moderner Existenz korrespondiert, der eine an die Permanenz eines Ortes gebundene Heimat immer weniger selbstverständlich ist.
3
Vgl. Köster, Beate: „Mit tiefem Respekt, mit Furcht und Zittern“. Bibelübersetzungen im Pietismus, In: Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 95-113.
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In diesem Sinn sprechen die Kulturwissenschaften heute auch eher von „Heimaten“ als von „Heimat“.4 Sie dynamisieren den Heimatbegriff, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass individuelle wie familiäre Biographien heute häufig an mehrere Orte gebunden sind, oft in der Abfolge des Lebens, zunehmend aber auch als „Ortspolygamie“ eines temporär abwechselnden Wohnens und Lebens an zwei oder mehr Orten.5 Die Soziologie hat die vielfältigen, nicht zuletzt kognitiv-emotionalen Herausforderungen, die solche multiplen Verortungen an persönliche und familiäre Identitäten stellen, in den letzten Jahren intensiv erforscht.6 So böten etwa aktuelle stadtsoziologische Studien, die den Zusammenhang von Multilokalität und Heimat thematisieren7, Anknüpfungspunkte für die Entwicklung eines theologischen Heimatkonzeptes, das die biblische Botschaft von einer mehrschichtigen Beheimatung des Menschen dem Streben nach restriktiver Vereindeutigung entgegenstellen möchte. Für das Neue Testament hebt Wermke die eschatologische Konstruktion von Heimat hervor. Die Heimatlosigkeit des Menschen in der Welt bilde die Grundlage von dessen Botschaft. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der unmittelbaren Naherwartung der frühchristlichen Gemeinde sei Beheimatung ganz in die Transzendenz einer heilsgeschichtlichen Zukunft verlegt. Eine weltliche Heimat verliere dagegen jede Relevanz. Die Radikalität der Nachfolge Jesu zeige sich nicht nur daran, dass sich die Gemeinschaft Jesu als Kollektiv der Besitz- und Heimatlosen konstituiere, sondern auch
4
Vgl. etwa Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/ Schröter, Steffen (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007.
5
Ulrich Beck, Ortspolygamie, In: Ders. (Hrsg.): Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt/M. 1997, S. 127-135.
6
Vgl. Duchêne-Lacroix, Cédric: Archipel oder die Territorialität in der Multilokalität der Lebenswelt, In: Weichhart, Peter/Rumpolt, Peter (Hrsg.): Mobil und doppelt sesshaft. Studien zur residenziellen Multilokalität, o.O. 2014, S. 218239.
7
Vgl. etwa Petzold, Knut: Die europäische Stadt und multilokale Lebensformen: Eine Beziehung mit Zukunft?, In: Frey, O./Koch, F. (Hrsg.): Die Zukunft der Europäischen Stadt, Wiesbaden 2011, S. 153-172; Hilti, Nicole: Multilokales Wohnen. Bewegungen und Verortungen, In: Informationen zur Raumentwicklung 1/2 (2009), S. 77-86.
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in der Bereitschaft, Besitz, Familie, Konventionen und angestammte Heimat hinter sich zu lassen. Die Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine verstanden diese biblische Aufforderung nicht allein als spirituelles Prinzip, sondern setzten sie in ihre Lebenspraxis um. An die Stelle überkommener äußerer Bindungen traten die neue Heimat im Glauben und die Einbindung in eine selbstgewählte Gemeinschaft, in der Herkunft und Geburtsort keine Rolle mehr spielen sollten. Die Beheimatung in Gott verwies dabei allerdings nicht erst auf das Jenseits. Mit Christus, so die für den Pietismus insgesamt zentrale Vorstellung, war an die Stelle der Dichotomie von Gott und Welt eine auch innerweltlich zu verstehende Heilserwartung getreten. Die Vorstellung, dass das Reich Gottes sich innerweltlich entfaltet, hat eine lange Tradition, die bis zur Patristik und zur mittelalterlichen Mystik zurück reicht. Bedenkenswert scheint sie mir auch für die aktuelle Konzeptualisierung eines theologischen Heimatbegriffes. Im historisch-theologischen Teil des Beitrags werden Deutungen bzw. Interpretationen der biblischen Motive in verschiedenen Epochen betrachtet. Luther verwandte, so Wermke, den Begriff „heimat“ (bzw. „Heymot“) eschatologisch kontrastierend zur Welt als „sündlichem Madensack“. Die „rechte Heimat und Vaterland“ sei für Luther bei Gott und im Glauben. Im 17. Jahrhundert führte der Barockdichter Paul Gerhardt diese Vorstellung fort. Seine berühmte Liedzeile „Wir sind nur Gast auf Erden" sei nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Krisenerfahrungen des 17. Jahrhunderts zu verstehen. Wermke verweist auf die Ambivalenz der im Liedtext vermittelten Hoffnung auf die ewige Heimat, die einerseits Vertröstung oder reine Illusion sein konnte, andererseits aber auch Aufforderung zum gestalterischen Tätigsein in der Welt. Um 1800 universalisierte Friedrich Schleiermacher den Gedanken der weltlichen Heimat als Gemeinschaft aller Gläubigen mit Gott. Ihm galt die Menschheit als Heimat des Individuums. Zentral sei die Vorstellung einer geistigen inneren Suche nach der Religion (= nach der Heimat), durch die der Mensch sich gewissermaßen selbst in Gott beheimate. Dass Schleiermacher stark herrnhutisch geprägt war, sei hier am Rande vermerkt. Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und dem Verlust aller Illusionen, sei dieses Konzept der „Selbstbeheimatung“ des Menschen in Gott allerdings von Karl Barth radikal in Frage gestellt worden, denn Barth ging davon aus, dass nur der von Gott angenommene Mensch in der „Heimat“ sei. Gott erscheine bei Barth gewisser-
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maßen als Resort, auf das sich der Mensch beziehen kann, wenn er alles verloren habe. Anschließend an die biblischen und historisch-theologischen Befunde entwickelt Wermke Gedanken für ein aktuelles Konzept von christlicher Heimat aus der Perspektive der evangelischen Theologie. Hierfür hebt er noch einmal die Bedeutung eines eschatologischen Begriffs von Heimat als Korrektivfunktion zu gegebenen gesellschaftlichen Zuständen hervor und erinnert dabei an Ernst Blochs Auffassung, Heimat sei keine Kategorie der Tatsächlichkeit, sondern eine Kategorie der Möglichkeit und der Sehnsucht. Die Frage nach der Bedeutung von Kirchgemeinden als Orte der Beheimatung steht im Mittelpunkt eines Forschungsprojektes, das Wermke zum Abschluss skizziert. Ausgangspunkte bilden dabei die Reaktionen der evangelischen Theologie auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse um 1900. Neben intensivierter religiöser Erziehung in Schule und Gesellschaft wurden, so Wermke, verstärkt Printmedien als religiöse Massenkommunikationsmittel genutzt, um zunehmender Säkularisierung bzw. Entkirchlichung entgegenzutreten. Als Beispiel werden die Ortskirchenblätter "Heimatglocken" vorgestellt, die von 1897/98 bis 1941 monatlich flächendeckend in thüringischen Kirchgemeinden Verbreitung fanden und deren Ziel die Förderung religiöser Bindung bzw. Anbindung an die Kirchgemeinde war. Wermke ordnet diese Gemeindeblätter in den Kontext der Heimatbewegung und der Dorfkirchenbewegung ein, die mit einem idyllisch-romantisierenden Heimatverständnis, bei dem die ländlich-agrarische (Kirch-)Gemeinde als idealtypische (christliche) Lebensform erschien, auf die zeitgenössische Landflucht antworteten. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive schiene mir wichtig, das Verhältnis zwischen der Thematisierung von Heimat in den „Heimatglocken“ und den sozialen und politischen Veränderungen Thüringens im Erscheinungszeitraum genau zu untersuchen. Die mit „Landflucht“ nur unzureichend angedeutete Abwanderung großer Teile der ländlichen bäuerlichen Bevölkerung in die Städte, um dort bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu finden, machte „Heimat“ zunehmend prekär. Wie werden diese Migrationsbewegungen und die daraus resultierenden Veränderungen, etwa in den Familienstrukturen und Geschlechterverhältnissen, in den „Heimatglocken“ thematisiert? Hinweisen möchte ich zum Beispiel darauf, dass bei aller Romantisierung des ländlichen Lebens und dem restaurativen Festhalten an traditionel-
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ler dörflicher Ordnung, die Parochie nicht als ein auf face-to-face Beziehungen beruhendes „intaktes“ Dorf gedacht wird. Die „Heimatglocken“ richteten sich auch an „unsere Gemeinde- und Familienmitglieder, die Gott in die Ferne geführt hat“, an „unsere Söhne beim Militär und in auswärtigem Berufe“, sowie an „unsere fernen Töchter im Dienst oder eigenen Hausstand“. D.h. die Veränderungen der dörflichen Strukturen wurden benannt und damit bis zu einem gewissen Grad auch anerkannt.8 Die heutige Migrationsforschung begreift Migration nicht mehr als eine eingleisige Bewegung von einem Ausgangs- zu einem Zielort, sondern fragt verstärkt nach zirkulären bzw. Pendelbewegungen (auch über weite Strecken) sowie nach Netzwerken, die sich translokal ausbildeten und die Verbindungen zwischen Herkunfts- und Zielorten aufrechterhielten.9 Bislang werden von der Forschung hier vor allem familiäre Netzwerke und finanzielle Transfers in den Blick genommen. Religiöse Publikationen wie die „Heimatglocken“ in Hinblick auf die Verbindungen zu untersuchen, die sie zwischen den (manchmal nur temporär) nicht mehr am Ort lebenden Gemeindemitgliedern und ihren Herkunftsgemeinden herstellten, böte eine weitere Möglichkeit, den komplexen Verhältnissen von place und space, die die heutige Migrationsforschung thematisiert, auf die Spur zu kommen. Es wäre etwa interessant, die jeweiligen Bezugskreise der lokalen Blätter zu rekonstruieren. Wie viele Bezieher/innen lebten nicht mehr am Ort der Kirchgemeinde selbst? Wer wurde zur Gemeinde gezählt? Wieweit spiegelt sich hier ein delokalisiertes Verständnis von Parochie?10
8
Vgl. die Textedition Heller, Thomas/ Wermke, Michael (Hrsg.): Thüringer evangelische Parochialpublizistik. Im Spiegel der „Mitteilungen für die Thüringer Heimatglöckner“ (1917-1919), Leipzig 2013, S. 29; S. 31.
9
Vgl. Bade, Klaus J.: Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004; Hillmann, Felicitas: Migration. Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive, Stuttgart 2015.
10 Die Heimatglocken der Gemeinde Gillersdorf forderten 1922 ausdrücklich dazu auf, dem Pfarramt die Adressen von „Angehörigen, Verwandten, Bekannten in der Ferne“, die in irgendeiner Beziehung zur Gemeinde standen, mitzuteilen, um diesen die „Heimatglocken“ regelmäßig zusenden zu können; vgl. Heller, Thomas/Wermke, Michael (Hrsg.): Thüringer evangelische Parochialpublizistik. Im Spiegel der „Mitteilungen für die Thüringer Heimatglöckner“ (19171919), Leipzig 2013, S. 31.
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Beachtet werden sollte in diesem Zusammenhang auch die auditive Dimension des Heimatbegriffs, an die der Titel der Zeitschrift appelliert. Er evoziert sinnlich-emotionale Qualitäten von Heimat, denen nachzugehen ich wichtig fände.11 Was bedeutet der Klang der „Heimatglocken“ für den in der Zeitschrift entwickelten Heimatbegriff? Glocken rufen zu Kirchgang und Gebet und werden auch von denen gehört, die nicht mehr zur Kirche gehen. Ebenso will der Klang der Glocken jene erreichen, die in der Ferne sind. In diesem Sinn war der Titel nicht zufällig gewählt.12 Der Klang der
11 Vgl. etwa Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010. Zu aktuellen Forschungen zur Geschichte des Auditiven vgl. Morat, Daniel: Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen, In: Schröter, Jens/ Volmar, Axel (Hrsg.): Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013, S. 131-144; Mißfelder, Jan-Friedrich: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, In: Geschichte & Gesellschaft 38 (2012), S. 21-47; Müller, Jürgen: „The Sound of Silence“. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens“, In: Historische Zeitschrift 292 (2011), S. 1-29; Rosenfeld, Sophia: On Being Heard. A Case for Paying Attention to the Historical Ear, In: The American Historical Review 116 (2011), S. 316-334. 12 Die auditiven Dimensionen des Titels „Heimatglocken“ werden angesprochen in: Anonym: Was wir wollen!, In: Heimatglocken. Evangelisches Gemeindeblatt für Utenbach und Kösnitz 1 (1913), S. 1 f.; zit. n. der Textedition Heller, Thomas/ Wermke, Michael (Hrsg.): Thüringer evangelische Parochialpublizistik. Im Spiegel der „Mitteilungen für die Thüringer Heimatglöckner“ (19171919), Leipzig 2013, S. 29. Obwohl aus dem katholischen Kontext stammend, sei hier auch an das um 1858 entstandene Bild „Das Angelusläuten“ von JeanFrançois Millet erinnert. Es zeigt einen Mann und eine Frau, die während der Ernte auf freiem Feld inne halten, um zum Glockengeläut der im fernen Hintergrund angedeuteten Kirche den Angelus zu beten. Das Glockengeläut steht hier auch für die Rhythmisierung des Tages: Es ruft morgens, mittags und abends zum Angelusgebet und damit auch zu Ruhepausen und Rast zwischen der Arbeit. Als Erinnerung an einen solchen (verlorenen) Tagesrhythmus hat Millet sein Bild selbst bezeichnet: „Als ich den Angelus malte, dachte ich daran, wie meine Großmutter uns früher, als wir auf den Feldern arbeiteten und die Glocken läuteten, innehalten hieß, um den Engel des Herrn für die lieben Toten zu
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„Heimatglocken“ sollte nicht zuletzt die Bezieher/innen, die nur noch über das Lesen der Zeitschrift mit ihrer alten Kirchgemeinde verbunden waren, emotional ansprechen und so die Erinnerung wach und die Bindung aufrecht halten. In Hinblick auf die zentrale Frage des Projektes nach der theologischen Deutung christlicher Heimat in der Thüringischen Parochialpublizistik des frühen 20. Jahrhunderts, ist mir insgesamt noch etwas undeutlich geblieben, wie die Ergebnisse des theoretischen Teils methodisch mit dem Forschungsprojekt verbunden werden sollen. Hier wäre eine systematische Analyse der spezifischen Semantiken, Ebenen und biblisch-theologischen Motive von Heimat in den „Heimatglocken“ notwendig, um zu verstehen, wie die komplexen biblischen und historisch-theologischen Vorstellungen von Heimat bzw. Beheimatung in den regionalen bzw. lokalen Gemeindeblättern in einen idyllisch-romantisierenden Heimatbegriff umgedeutet werden konnten. Als historische Quelle erscheinen mir die „Heimatglocken“ ausgesprochen wertvoll, nicht zuletzt weil sie über einen langen Zeitraum und über verschiedene historische Umbrüche und politische Systeme hinweg erschienen. Hier müsste danach gefragt werden, wie sich die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen – vom Kaiserreich über den Ersten Weltkrieg zur Weimarer Republik und schließlich zum Nationalsozialismus – in den „Heimatglocken“ widerspiegeln. So könnte an den Quellen heraus gearbeitet werden, was genau damit gemeint ist, wenn Wermke vom „Scheitern“ des protestantisch-theologischen Heimatbegriffs im Nationalsozialismus spricht. Gerade in Hinblick auf den Ausgangspunkt der Überlegungen – die Entwicklung eines theologischen Heimatbegriffs, der rassistischen und völkischen Instrumentalisierungen entgegen treten kann – halte ich den konkreten historischen Blick, den die Quellen auch auf das Versagen protestantischer Theologie im Nationalsozialismus geben, für überaus notwendig.
beten“;
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Heimat „hören“ und „singen“ Problemgeschichte und Potenziale des Heimatbegriffs in der Musikforschung M ICHAEL C HIZZALI U ND C HRISTIANE W IESENFELDT
Musik und Heimat, Heimat in der Musik, musikalische Heimat, Musik als Heimat – die Vielfalt in der Diskussion um „Heimat“ in der Musikforschung spiegelt einmal mehr die in sich nicht widerspruchsfreie Komplexität, die der Begriff „Heimat“ vor allem seit seiner jüngeren Forschungsgeschichte impliziert, wider. Nach Peter W. Schatt ist „Heimat kein musikalisches Phänomen […]; Heimat kann aber für Musikalisches Anlass, Bezugsfeld, Hintergrund – auch Absicht, Ziel – sein und so durch musikalische Phänomene als Bedeutungsfeld zur Darstellung gelangen.“1 Dieser mittelbare, zumeist symbolisch verschränkte Konnex zwischen dem weiten sowie nicht unwesentlich emotional getragenen Begriffs- und Verständnisspektrum von „Heimat“ und dem musikalischen Ereignis (das seinerseits in hohem Maße subjektiv abstrahiert wird) ist – so will es scheinen – für das gegenwärtige methodologische und interpretative Verständnis von „Heimat“ in der Musikforschung symptomatisch. Aber ist hiermit die pragmatische Anwendbarkeit des Heimatbegriffs im Hinblick auf die Musik tatsächlich erschöpft? Diese Frage erscheint umso dringlicher, als „Heimat“ aktuell in der populären Musik eine zunehmende Bedeutung zu entfalten scheint, die
1
Vgl. Peter W. Schatt: Von Wurzeln und Netzen: Heimat, In: Musik & Bildung. Praxis Musikunterricht 30 (1998), Heft 1, S. 3-7, hier S. 5.
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die Musikforschung bislang kaum thematisiert hat. Der vorliegende Beitrag skizziert zunächst, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, eine Reihe diskursiver Akzentuierungen von „Heimat“ im Zusammenhang mit Musik. In einem zweiten Schritt soll darüber nachgedacht werden, inwieweit „Heimat“ – über den gegenwärtigen Stand der Forschung hinaus – als Theorem für aktuelle musikwissenschaftliche Fragestellungen nutzbar gemacht werden könnte.
1. Z UR P ROBLEMGESCHICHTE
DES
H EIMATBEGRIFFS
Die Begriffsgeschichte von „Heimat“, die sich inhaltlich im Keim mit dem deckt, was wir heute unter „Heimat“ verstehen, beginnt im 18. Jahrhundert. Etymologisch ist der Begriff freilich älter2 und war (noch bis ins 19. Jahrhundert) in juristisch-geographischen Kontexten („Heimat“ als Geburtsund Wohnort und, damit verbunden, der ererbte Besitz) eingebettet, wodurch sich auch die (zunächst) „räumliche“ Konnotation des Heimatbegriffs erklärt.3 Im Zuge der Napoleonischen Kriege und der gescheiterten politischen Hoffnungen fand „Heimat“ vermehrt Eingang in die Literatur, wobei im Wesentlichen zwei (nicht selten ineinandergreifende) Verständnisebenen des Heimatbegriffs etabliert wurden: Einerseits dessen melancholisch-resignative, weltabgewandte Verinnerlichung (unter anderem mit schwärmerischer Begeisterung für dörfliche Idyllen und beschauliche Naturkulissen) und andererseits die nationale, begrifflich mit „Vaterland“ gleichgesetzte Fokussierung.4 Diese beiden zentralen Verständnispole des Heimatbegriffs sollten sich dann im Verlauf des Biedermeier, des Kaiserreichs (und damit einhergehend mit der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung) bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus entscheidend intensivieren, sentimentalisieren und ideologisch verhärten. Musikgeschichtlich beginnt „Heimat“ im Großen und Ganzen ab dem Zeitpunkt virulent zu werden, als zum einen die romantische Dichtung das Volkslied als
2
Vgl. die prägnante Zusammenfassung des Heimatbegriffs bei Höfig, Eckhart: Heimat in der Popmusik. Identität oder Kulisse der deutschsprachigen Popmusikszene vor der Jahrtausendwende, Gelnhausen 2000, S. 18 f.
3
Vgl. ebd., S. 19-24.
4
Vgl. ebd., S. 45-59.
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Ausdruck einer ehemals heilen, unverbildeten Vorzeit verklärt und zum anderen die sehnsuchtsvolle, romantisch-unkonkrete Phänomenologie und Topik der „idealen Heimat“ im Kunstlied höchste musikalische Entsprechung erfährt. Soweit man überhaupt von einer Forschungsgeschichte von „Heimat“ in der Musik sprechen kann, ist zunächst interessant festzustellen, dass sich hierbei die Historische Musikwissenschaft vergleichsweise wenig beteiligt hat. Dies erscheint vor dem Hintergrund des gewaltigen Erbes, welches die Musik des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat, aber etwa auch hinsichtlich der Skizzierung einer Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, deren Vitalität nicht unwesentlich auf kulturemotionalen Befindlichkeiten im Spannungsfeld zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ beruht, paradox. Im überbordenden romantisch-nationalen Diskursivismus fanden mit „Heimat“ assoziierte Forschungsfelder wie z.B. Heimweh-Kontexte im Kunstlied des 19. Jahrhunderts5, kompositorische Heimat-Konstrukte (beispielsweise bei Paul Dessau, Hanns Eisler, Egon Wellesz oder Ernst Krenek6) und selbstverständlich musikbezogene Implikationen im Hinblick auf die Vereinnahmung von Volkskultur durch den Nationalsozialismus7 durchaus einge-
5
Vgl. beispielsweise Hirsc, Marjorie: The Spiral Journey Back Home: Brahms’s „Heimweh“ Lieder, In: The Journal of Musicology 22 (2005), Heft 3, S. 454489.
6
Zu Dessau und Eisler vgl. unter anderem Schoenebeck, Mechthild von: „Heimat“ in der Musik – Heimat in der Musik?, In: „Aus der Heimat hinter den Blitzen rot“. Streiflichter zur Musikkultur in Ostmittel- und Südosteuropa (= Die Deutschen und ihre Nachbarn im Osten, Bd. 8), hrsg. v. Helmut Fiedler, Filderstadt 1999, S. 77-89, hier S. 83-86; zu Wellesz vgl. Heher, Hannes: Musik als Heimat-Ersatz. Die Symphonien des Egon Wellesz, In: Die österreichische Symphonie im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hartmut Krones, Wien 2005, S. 101-118; zu Krenek unter anderem Maurer Zenck, Claudia: Kreneks künstlerische Konstruktion von Heimat, In: Echoes from Austria. Musik als Heimat. Ernst Krenek und das österreichische Volkslied im 20. Jahrhundert (= Ernst Krenek Studien, Bd. 3), hrsg. v. Matthias Schmidt, Schliengen 2007, S. 147-173.
7
Vgl. hierzu beispielsweise neben den Untersuchungen Thomas Nussbaumers zu den wissenschaftlichen Schallaufzeichnungen des NS-Volkskundlers Alfred Quellmalz die aktuelle Studie von Drexel, Kurt: Klingendes Bekenntnis zu Füh-
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hendere Berücksichtigung; der Mangel an grundsätzlichen und umfänglichen musikhistorischen Auseinandersetzungen (unter anderem etwa in den einschlägigen Musiklexika und Enzyklopädien) führte jedoch dazu, dass „Heimat“ (trotz gelegentlicher ethnologisch-kulturwissenschaftlicher, soziologischer und philosophischer Brückenschläge) ein unscharfer, zumeist zwischen „Nation“, „Vaterland“ und räumlicher, sozialer sowie emotionaler „Identität“8 vagierender Begriff blieb. Die Aufgabe einer vermehrt theoretisch-systematisierenden Beschäftigung mit dem Heimatbegriff in der Musik übernahmen Musikethnologie, Popularmusik und Musikpädagogik, freilich ohne sich ihrer historischen Fundamente gänzlich zu entsinnen (hierfür ist etwa die forschungsgeschichtliche Implementierung des Volksliedes ein gutes Beispiel); dass eine der seltenen überblickshaften Abhandlungen zu dieser Thematik von einer Musikpädagogin, Mechthild von Schoenebeck, verfasst wurde, ist somit nicht weiter ungewöhnlich.9 Die Musikethnologie profitierte in dieser Hinsicht von den in den 70er Jahren einsetzenden Bemühungen der Volkskunde (unter anderem durch den führenden Ethnologen der Nachkriegszeit Hermann Bausinger), den durch die nationalsozialistische Blut- und BodenIdeologie belasteten Heimatbegriff aus einer verstärkt interdisziplinären Perspektive neu zu hinterfragen. Eine der abenteuerlichsten und progressivsten diesbezüglichen Diskussionen jener Zeit regte der Ostberliner Musikhistoriker Georg Knepler an, als er für sein Buch Geschichte als Weg
rer und Reich. Musik und Identität im Reichsgau Tirol-Vorarlberg 1938–1945, Innsbruck 2014. 8
Im Hinblick auf „Heimat“ und „Identität“ ist zu bemerken, dass die beiden Begriffe in ihrer Bedeutung ursprünglich klar abgegrenzt waren: „Heimat“ betraf eine räumliche Dimension, während „Identität“ sich auf einer psychologischverinnerlichten Ebene vollzog. Untersuchungen zur Alltagswelt in den 80er Jahren (z.B. von Hermann Bausinger) näherten die Begriffe wieder aneinander an. Was die „Identität in der Musik“ angeht, so ist überaus bezeichnend, dass sich in maßgeblichen Publikationen wie den Sammelbänden Music and German National Identity (herausgegeben 2002 von Christina Applegate und Pamela Potter) oder Musik und kulturelle Identität (herausgegeben 2004 von Detlef Altenburg und Rainer Bayreuther) mit Ausnahme der aus der Popularmusik kommenden Beiträge kein Aufsatz dem Begriff „Heimat“ breiteren Raum zugesteht.
9
Vgl. Schoenebeck: „Heimat“ in der Musik (wie Anm. 6).
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zum Musikverständnis (1977) eine aus Verhaltensbiologen, Psychologen, Linguisten, Akustikern und Musikethnologen bestehende Beraterschaft einband.10 Hierbei wurde unter anderem der verhaltensbiologisch fundierte Terminus der „Heimvalenz“, der im Grunde nichts anderes besagt, als dass Heim und klangliche Umgebung voneinander abhingen (also gewissermaßen „Musik als Heimat“11), für die Musikwissenschaft fruchtbar gemacht: In Bezug auf das wesentliche Verständnis der Musik sei die Bedeutung des „Umweltlichen“, also einer Musik, „die die Menschen ihrer Welt und ihrer Umwelt heimatlich zuwendet“12, mindestens ebenso relevant wie die Auffassung von Musik als autonome Kunst, so der Musikethnologe (und Mitglied des Knepler’schen Beraterkreises) Christian Kaden. Bis heute bilden Heimat-Konzepte einen wichtigen Gegenstand der musikethnologischen Forschung: Dies kristallisiert sich – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – etwa in Kadens Dissertation zur Hirtenmusik in Mittelgebirgslandschaften der DDR (1972, gedruckt 1977)13, in Steven Felds Studie zum Stamm der Kaluli auf Papua-Neuguinea (1982)14 oder auch in der Untersuchung der Nuo-Zeremonien in Anhui (China) von Zhaoqian Wang (2001)15
10 Zu den Dialogpartnern Kneplers zählten namentlich dessen Schüler Christian Kaden, die Musikethnologen Doris und Erich Stockmann, der Verhaltensbiologe Günter Tembrock, der Psychologe und Kognitionswissenschaftler Friedhart Klix, der Linguist Manfred Bierwisch sowie der Akustiker und Mathematiker Reiner Kluge. Vgl. hierzu Kaden, Christian: Musik und Heimat. Ideen, Erinnerungen, Fallbetrachtungen, In: Vom Sinn der Heimat. Bindung, Wandel, Verlust, Gestaltung – Hintergründe für die Bildungsarbeit (= Eberswalder Beiträge zu Bildung und Nachhaltigkeit, Bd. 3), hrsg. v. Norbert Jung u.a., Opladen u.a. 2014, S. 87-104, hier S. 87 ff. 11 Vgl. ebd., S. 102. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Kaden, Christian: Hirtensignale. Musikalische Syntax und kommunikative Praxis, Leipzig 1977. 14 Vgl. Feld, Steven: Sound and Sentiment. Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression, Philadelphia 1982. 15 Vgl. Wang, Zhaoqian: Zusammenfassende Darstellung der Nuo im Kreis Guichi, Anhui, In: Nuo. Tänze der Geistermasken im Erdgottkult in Anhui (China), Bd. 2, hrsg. von Rudolf Maria Brandl, Göttingen 2001, S. 1-168. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der Roman von Bruce Chatwin The
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heraus, in denen die Bedeutung musikalischer Ereignisse für die territorial eingegrenzte Daseinsempfindung – ob bei Arbeitsabläufen, im Totenkult oder im Zuge kosmologischer Vorstellungen – hervorgehoben wurde. Ein im Hinblick auf ein musikethnologisches Heimatverständnis weiteres wichtiges Moment entspross der Untersuchung von Musikkulturen Vertriebener (insbesondere der Nachkriegszeit). Zu den richtungsweisenden Studien in diesem Zusammenhang ist ein 2003 veröffentlichter Beitrag von Annelie von Kürsten zu zählen, nicht zuletzt wegen des Aspekts der „klingenden Heimat“, den von Kürsten ins Spiel bringt16: Auf der Basis der volkskundlichen Studien Johannes Künzigs in den 50er Jahren, in denen dieser dem Verlust kultureller Praktiken von Heimatvertriebenen entgegenzuwirken versuchte, und vor dem Hintergrund der (unter anderem auf Jörn Rüsen zurückgehenden) kulturwissenschaftlichen Kategorie des „Erinnerungsortes“ legt von Kürsten der Musik eine „Ästhetik des Verlusts“ zugrunde und betont deren Funktion als erinnerungskulturelles Medium. In der Anlage von auditiven Gedächtnisspeichern wie Volksliedbüchern und -aufnahmen sowie im Heimatfilm sieht von Kürsten musikalische Erinnerungsorte von „Heimat“, für die nicht wesentlich ist, wie „Heimat“ verstanden wird, sondern wie sie (wie von Kürsten anhand des Topos des Klanges der Heimatglocke darlegt) auditiv wahrgenommen wird. Im musikethnologischen Sinne „moderne Heimat“ impliziert schlussendlich musikkulturelle Vielfalt unter dem Schirm der politischen und sprachlichen Nation: Dies demonstrieren etwa der Aufsatz von Hans Jürgen Wulff zu dem 2012 herausgebrachten Dokumentarfilm Sounds of Heimat – Deutschland singt (Regie: Arne
Songlines (1987), der von den mythischen Aktivitäten der Aborigines handelt. Vgl. ferner jüngere Studien wie z.B. Post, Jennifer C.: „I Take My Dombra and Sing to Remember My Homeland“: Identity, Landscape and Music in Kazakh Communities of Western Mongolia, In: Ethnomusicology Forum 16 (2007), Heft 1, S. 45-69 oder Karlsen, Sidsel: Immigrant students and the „homeland music“: Meanings, negotiations and implications, In: Research Studies in Music Education 35 (2013), Heft 2, S. 161-177. 16 Vgl. Kürsten, Annelie von: Wie klingt Heimat? Musik/Sound und Erinnerung, In: Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung. Referate der Tagung des Johannes-Künzig-Instituts für ostdeutsche Volkskunde 8. bis 10. Juli 2009, hrsg. v. Elisabeth Fendl, Münster 2010, S. 253-277.
H EIMAT „ HÖREN “ UND „ SINGEN “ | 177
Birkenstock und Jan Tengeler)17 sowie aktuelle musikethnographische Forschungen.18 In der Popularmusikforschung etablierte sich eine Diskussion um „Heimat“ insbesondere im Zusammenhang mit dem Schlager, der „volkstümlichen Musik“ sowie dem Heimatfilm, aber – wie Eckhart Höfigs umfängliche Studie beweist19 – auch in einem übergreifenden Bezug auf die deutsche Popmusikszene. Mit Höfig findet erstmals ein vor einem breiten, synoptischen Hintergrund diskutierter Heimatbegriff Eingang in die Musikforschung. Methodisch der hermeneutischen Tradition verpflichtet, erkundet Höfig Texte unter anderem aus dem Schlager, Deutschrock, Punkrock, Hiphop, Rap, Techno, der Oi-Musik, Country Music sowie von deutschen Liedermachern auf Heimat-Konzepte und deren normative sprachliche Vermittlungsmodelle, sogenannte „Heimat-Codes“, die unter Rückgriff auf das Bühler’sche Organon-Modell systematisiert werden. Hierbei konnte Höfig ein farbiges Spektrum an (bisweilen diametral gegensätzlichen) Auffassungen von „Heimat“ in den einzelnen Genres, die von sehnsuchtsvollem Bedürfnis nach Eingebundenheit in eine vertraute Umgebung (Schlager, Liedermacher, Country Music, auch Deutschrock) über ein aggressives Nationalbewusstsein (Oi-Musik) bis hin zu antiräumlichen und antinationalen Vorstellungen des Punk reichen, ausarbeiten.20 So verdienstvoll Höfigs Untersuchung hinsichtlich einer vergleichenden Deutung von „Heimat“ in der Popularmusik ist, so blendet ihr ausschließlich textimmanenter Ansatz
17 Vgl. Wulff, Hans Jürgen: Vom Kanon zur Volxmusik: Arne Birkenstocks und Jan Tengelers Film „Sound of Heimat“ (2012), In: Song und populäres Musiktheater. Symbiosen und Korrespondenzen (= Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des deutschen Volksliedarchivs Freiburg, Bd. 58), hrsg. v. Michael Fischer u.a., Münster 2013, S. 241-248. 18 Vgl. hierzu etwa die Referatsthemen des Symposiums Sounds of Heimat. Musikethnographische Forschungen im deutschsprachigen Raum am 30. September 2015 (im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2015 in Halle), die sich unter anderem mit Straßenmusik in Berlin, Mediascape in urbaner Musikethnologie, Creole-Wettbewerben aus deutsch-französischer Perspektive sowie mit ethnographischen Implikationen bei Musikausstellungen in Deutschland auseinandersetzten. 19 Vgl. Höfig: Heimat in der Popmusik (wie Anm. 2). 20 Vgl. ebd., S. 387-392.
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multiple Hörerrezeptionen ebenso aus wie das mnemokulturelle Potenzial des Klingenden. Genau dies kritisiert Julio Mendívil in seiner grundlegenden Dissertation zum deutschen Schlager (mit dem „schlagenden“ Titel Ein musikalisches Stück Heimat21) und schlägt stattdessen Perspektiven aus der postmodernen und reflexiven Musikethnologie sowie der Cultural Studies als Forschungsansätze vor, die sich durch den im Grenzbereich zwischen musikalischer Volkskunde und Popularmusik angesiedelten Untersuchungsgegenstand anbieten. Auf der Basis ausgedehnter Feldforschungen konnte Mendívil zunächst ein alltagskulturelles Bild von „Heimat“ im Schlager zeichnen, wobei sich heimatliche „Vertrautheit“ als Folge verinnerlichter Delokalisationsprozesse von „gemütlichen“, d.h. biedermeierhaft wohlbefindlichen Wahrnehmungen des Subjekts („Beheimatung“22 im Sinne Beate Mitzscherlichs23) unter anderem durch die Interaktion von sehnsuchtsvoller Idylle, Konservativismus, kleinbürgerlichem nationalen Denken sowie der Verwendung der deutschen Sprache generiert.24 Musikalisch kodiert der Schlager „Heimat“ – hierbei lehnt sich Mendívil an Adam Krims’ musical poetics25 an – durch Topoi, die als Teilbereich der imaginativen audiovisuellen Szenerie des Schlagers dem Hörer ein individuelles Auslesen der Inhalte ermöglichen. Zum Schlager und „Heimat“ sei an dieser Stelle noch auf die Dissertation zu Musiker-Images von Silke Borgstedt hingewiesen, obgleich sich ihre multidisziplinär ausgerichtete Untersuchung (mit Rückgriffen auf Musiksoziologie, Filmanalyse, Sozialpsycholo-
21 Vgl. Mendívil, Julio: Ein musikalisches Stück Heimat: Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager, Bielefeld 2008. 22 Vgl. ebd., S. 242-247. 23 Vgl. Mitzscherlich, Beate: „Heimat ist etwas, was ich mache“. Eine psychologische Unterhaltung zum individuellen Prozess der Beheimatung, Herbolzheim 2000, S. 137. 24 Vgl. hierzu insbesondere Mendívil: Ein musikalisches Stück Heimat wie Anm. 21), S. 233-342. Zum Schlager und seinen Wurzeln in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus vgl. außerdem Larkey, Edward: Postwar German Popular Music: Americanization, the Cold War, and the Post-Nazi Heimat, In: Music and German National Identity, hrsg. v. Celia Applegate und Pamela Potter, Chicago 2002, S. 234-250, hier S. 235-237; S. 249. 25 Vgl. Krims, Adam: Rap music and the poetics of identity (= New perspectives in music history and criticism), Cambridge 2000, S. 55.
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gie, Management- und Public Relations-Forschung, Kommunikations- und Medienwissenschaft) bereits in einem Randbereich der Popularmusikforschung bewegt (so besteht der einzige Bezug zum Schlager darin, dass eine der untersuchten ProtagonistInnen eben eine Schlagersängerin, nämlich Stefanie Hertel, ist).26 Wie bei Höfig entpuppt sich „Heimat“ bei Borgstedt als kodifizierter Parameter, wenngleich in einem völlig anderen Zusammenhang: „Heimat“ fungiert als eine räumliche (mit „Wohnort“ gleichzusetzende) Themen- bzw. Wertekategorie, dienlich bei der Auswertung von Zeitungsartikeln und Pressemitteilungen im Hinblick auf die empirisch eruierte Außenwirkung Hertels.27 In der Musikpädagogik wurde eine Beschäftigung mit „Heimat“ lange vernachlässigt. Dies zum einen deswegen, weil seit den 60er Jahren in der Pädagogik generell Misstrauen gegen eine emotionale Grundlegung der Erziehung gehegt wurde28, zum anderen aber auch, weil – wie Josef Sulz kritisiert – der Mode gehuldigt wurde, „Fremdes“ (im Falle der Musikpädagogik beispielsweise außereuropäische Musik) in den Unterricht zu integrieren, um den Schülern „etwas ganz anderes“ zu bieten.29 Sulz (für den „Heimat“ in musikalischer Hinsicht mit dem Volkslied synonym ist) weist darauf hin, dass gerade der Umgang mit „Heimat“ in der Musikpädagogik eine Vielzahl fruchtbarer Fragestellungen hinsichtlich der Bildung einer individuellen Haltung zum „Eigenen“, vor allem aber auch zum „Fremden“ aufwirft.30 Die Ende der 90er Jahre aufkommende Tendenz zur Rückbesinnung auf „Heimat“ in der Musikpädagogik (mit, ähnlich wie bei der Musikethnologie, freizügigen methodischen und disziplinären Rückgriffen) unter-
26 Vgl. Borgstedt, Silke: Der Musik-Star. Vergleichende Imageanalysen von Alfred Brendel, Stefanie Hertel und Robbie Williams (= Studien zur Popularmusik), Bielefeld 2008, S. 201-236. 27 Vgl. ebd., S. 206-214. 28 Vgl. Hinrichs, Wolfgang: Art. Heimat, Heimatkunde, In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, hrsg. v. Joachim Ritter, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 1038. 29 Vgl. Sulz, Josef: Ist uns das Eigene fremd geworden? Zur Diskussion über Heimat, Identität und deutschsprachiges Lied, in: Der Diskurs des Möglichen. Musik zwischen Kunst, Wissenschaft und Pädagogik, hrsg. v. Peter Maria Krakauer u.a., Salzburg 1999, S. 132-146, hier S. 141 f. 30 Vgl. ebd., S. 142 f.
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streicht zunächst der bereits erwähnte, 1999 erschienene Übersichtsartikel von Mechthild von Schoenebeck.31 Von Schoenebecks Artikel ist insofern von Bedeutung, als er vornehmlich von einer musikhistorischen Warte aus eine – freilich rudimentäre – Systematisierung von „Heimat“ vornimmt: So steht die Volksliedtradition des 19. Jahrhundert bei von Schoenebeck für die „reale Heimat“ (wegen der realen politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, welche die Entstehung und Pflege derartiger Lieder bedingten), das romantische Kunstlied für die „ideale Heimat“ (aufgrund der geschilderten Vorstellungen einer verlorenen, paradiesischen, real niemals erreichbaren Heimat in den vertonten Textgrundlagen), ausgewählte Kompositionen deutscher Exil-Komponisten (von Hanns Eisler und Paul Dessau) für die „verlorene Heimat“ sowie die Welt des Heimatschlagers seit den 50er Jahren für die (nicht unkritisch beurteilte32) „MedienHeimat“. Das nachhaltige Interesse der Musikpädagogik an „Heimat“ zur Jahrtausendwende hin markiert schlussendlich die Artikelserie in der Zeitschrift Musik und Bildung (1998), in denen sechs Autoren Heimatbegriffe und -konzepte musikpädagogisch verwertbar zu machen versuchen. Aufgrund des vielfältigen Anwendungsspektrums, aber auch wegen der individuellen Sichtweisen sei an dieser Stelle kurz darauf eingegangen. Im theoretisierenden „Basis“-Aufsatz skizziert zunächst Peter W. Schatt einerseits aus einer vornehmlich soziologischen Perspektive, andererseits unter Rückgriff auf das utopische Heimatverständnis Ernst Blochs „Heimat“ als mehrdimensionalen Topos und fragt im Anschluss dementsprechend, welche Ebenen von „Heimat„ die Musik erschließen kann und welche Erkenntnisse durch Musik über „Heimat“ gewonnen werden könnten.33 Hierbei benennt Schatt (sich bisweilen durchdringende) Beispiele musikalischer Phänomenologie von „Heimat“ (etwa als bearbeitetes Thema, als Bezugsbereich oder als thematische Grundlage einer verinnerlichten kompositorischen Intention) sowie im Unterricht zu verifizierende Erfahrungsbereiche von „Heimat“ (in musikalischer, biographischer und historischer Hinsicht).34
31 Vgl. von Schoenebeck: „Heimat“ in der Musik (wie Anm. 6). 32 Vgl. ebd., S. 88 f. 33 Vgl. Schatt, Peter W.: Von Wurzeln und Netzen (wie Anm. 1). 34 Vgl. ebd., S. 7.
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Die vier „Praxis“-Beiträge leitet Martina Krause ein35, die auf der Basis eines „doppelt doppelsinnigen Heimatbegriffs“ („Heimat“ kann „das Zuhause gleichsam von außen als oder innen betrachten, und die ‚innere Heimat‘‚ kann sich entweder im patriotischen Sinne darstellen oder als etwas, das es zu finden gilt, will sich der Mensch aus seiner Unmündigkeit befreien“36) ausgewählte Werke von Schubert, Schumann und Brahms aufbereitet: Nach Krause spiegele sich bei Schubert das völlige Fehlen sowohl innerer als auch äußerer Heimat wider, während Schumann ein Divergismus zwischen häuslicher Absicherung und krampfhafter, aussichtsloser „Suche nach geistiger Heimat“ nahegelegt wird; im Gegensatz zu Erstgenannten sei bei Brahms „Heimat“ vor allem als Idylle konnotiert. Nach dem Beitrag von Andreas Jacob, der vier unterschiedliche Beispiele für eine Auseinandersetzung von Volksmusik jenseits des Heimatkitschs (von Biermösl Blosn, Hubert von Goisern, Haindling und Attwenger) vorstellt37, betrachtet Marc Mönig den inhaltlichen und musikalischen Umgang mit „Heimat“ in den Liedern von Chris de Burgh Borderline und Say goodbye to it all.38 Er kommt zum Schluss, dass die Songs Antworten auf zwei Orientierungen von „Heimat“ sind, und zwar diejenige, die sich auf das Äußere, Objektivierbare (unter anderem Landschaften, Bauwerke, Objekte, Handelsvollzüge) bezieht, sowie diejenige, die in dem Leben Halt gebenden, emotionalzwischenmenschlichen Beziehungsgeflecht wurzelt. „Wahre Heimat“ konstituiere sich nach Mönig schlussendlich im „geglückten Ineinander von Außen und Innen, im Zusammenfallen von räumlicher und emotionaler Identität.“39 Arbeitsaufgaben zur kompositorischen Auseinandersetzung mit
35 Vgl. Krause, Martina: Wo ist Heimat? Zu Kompositionen von Schumann, Brahms und Schubert, In: Musik & Bildung. Praxis Musikunterricht 30 (1998), Heft 1, S. 8-15. 36 Vgl. ebd., S. 8. 37 Vgl. Jacob, Andreas: Volksmusik? Vier Beispiele für die Auseinandersetzung mit alpenländischer Musik, in: Musik & Bildung. Praxis Musikunterricht 30 (1998), Heft 1, S. 16-19. 38 Vgl. Mönig, Marc: „no borderline“. Heimat ohne Vaterland?, In: Musik & Bildung. Praxis Musikunterricht 30 (1998), Heft 1, S. 20-27. 39 Vgl. ebd., S. 21.
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dem Flamenco bei Manuel de Falla entwirft Konrad Landreh40; entsprechend seinem pädagogischen Ansatz, dass Musik nicht verstanden, sondern erlebt werden soll, sei auch der Begriff „Heimat“ von Konnotationen emotionaler Natur abhängig, die sich rational nur schwer fassen lassen, wodurch das Hören zugunsten der Analyse an Bedeutung gewinnt. Die praktischen Artikel schließt Peter Ausländer ab, der sich der kreativen Beschäftigung mit „Heimat“ im Bereich des experimentellen Bewegungs- und Musiktheaters anhand des Stückes Heimat, aufgeführt 1996 von der„freitagsgruppe“ Vlotho anlässlich der Eröffnung der Hauptarbeitstagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, widmet.41 Versucht man das bisher Geschilderte zu resümieren, so wird eine durchaus vielfältige musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit historischen, soziologischen, anthropologischen, pädagogischen, kulturellen und ästhetischen Fragestellungen zum Heimatbegriff ersichtlich. Hierbei fungiert „Heimat“ zumeist als literarische und philosophische Bezugsgröße. Die notwendige Frage nach einer Systematisierung des Heimatbegriffs in der Musik stellte sich bis dato indes selten; dies dürfte wohl nicht unwesentlich auf die eingangs angesprochene Sichtweise, dass der Begriff „Heimat“ immer noch vornehmlich als „nicht-musikalisch“ aufgefasst wird, sowie das augenscheinliche Desinteresse der Musikforschung, sich der (zweifellos schwierig zu bewältigenden) multidimensionalen Begrifflichkeit von „Heimat“ zu stellen, zurückzuführen sein. Eine qualitative Aufwertung des Heimatbegriffs als „unmittelbare“, d.h. auf weitere (insbesondere textliche) Ebenen des Verständnistransfers verzichtende Projektion auf die Musik ist in der Musikwissenschaft bislang kaum unternommen worden.
40 Vgl. Landreh, Konrad: El amor brujo. Manuel de Fallas musikalische Heimat, In: Musik & Bildung. Praxis Musikunterricht 30 (1998), Heft 1, S. 28-32. 41 Vgl. Ausländer, Peter: Ins Spiel bringen: „Heimat“ – ein Stück der „freitagsgruppe“ aus Vlotho, In: Musik & Bildung. Praxis Musikunterricht 30 (1998), Heft 1, S. 33-37.
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2. P OTENZIALE
DES
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Nimmt man weniger den musikalischen Einzelfall als die Gesamtheit der bisherigen Zugriffe der Musikforschung auf den Topos „Heimat“ in den Blick, so ist festzuhalten, dass Musikgeschichte als Heimatgeschichte gelesen werden kann, sofern weniger die Ideologie, sondern die Deutungstradition von Heimat fokussiert wird. Dies geschieht nicht nur im Sinne einer grundlegenden Überzeugung, sich – wie Rainer Piepmeier fordert – „gute Begriffe nicht durch ihren Mißbrauch wegnehmen [zu] lassen.“42 Sondern solch ein Vorgehen kann neuere Definitionen des Heimatbegriffs berücksichtigen, nach denen Heimatbezogenheit längst nicht mehr allein nur einen bestimmten Ort oder eine Region meint: „Nicht die Örtlichkeit einer Gemeinde, sondern der ihr zugeschriebene Name löst die Gefühlszusammenhänge aus. Das in Frage kommende Aggregat besteht nicht aus einer Verknüpfung von physischem Objekt mit Gefühlen bestimmter Art, sondern aus einem Terminus, der mit Handlungen und Gefühlen eine komplexe Einheit bildet.“43 Wird der Heimatbegriff als ganzheitliche Kategorie gefasst, in der sich physikalische Orte, menschliche Handlungen, Erinnerungen und Emotionen zu einem Amalgam verbinden, dessen Kommunikations- und Anschlussfähigkeit (auch) medial definiert ist, so hat Musik sogar einen zentralen Anteil an der Konstitution von Heimat. Dies belegt nicht nur der ungebrochene Trend von Schlagermusik zu Heimatthemen, sondern – politisch brisant – der aktuelle Rechtsruck in der populären Musik, die nicht nur im Umfeld der PEGIDA-Bewegung und ihrer Ableger in der Anti-Flüchtlingsdebatte eine bedenklich aggressive Heimatlyrik wiederbelebt, um das „Eigene“ gegen das „Fremde“ in musikideologische Stellung zu bringen. Die musikwissenschaftliche Notwendigkeit, sich mit solchen neuen Strömungen zu befassen und ihre Konstituenten zu verstehen, ist eine Seite der Aktualität des Heimatthemas für das Fach. Eine weitere besteht darin,
42 Piepmeier, Rainer: Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs, In: Heimat, hrsg. v. Will Cremer und Ansgar Klein, Bielefeld 1990, S. 91-108, hier S. 96. 43 Treinen, Heiner: Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Untersuchung zum Heimatproblem, In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17 (1965), S. 73-97, hier S. 78 (Teil 2 des Textes in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17, S. 254-297).
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dass die raumtheoretische Forschung aktuell eine neue definitorische Wendung erfahren hat, die für die Heimatthematik (und mit ihr die Musikforschung) folgewirksam sein könnte: Raumverhältnisse werden nicht mehr nur als physikalische Bezugsgrößen definiert, was aus ihrem Ursprung in der geographischen Theorie resultiert, sondern als Bedeutungsträger.44 Ernst Cassirer gab dem Raumbegriff eine entscheidende Prägung, indem er ihn schon in den 1920er Jahren in der Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) nicht als „einfache anschauliche Gegebenheit“, sondern „Ertrag eines Prozesses der symbolischen Formung“ definierte.45 Aus Raumverhältnissen entstehen daran anschließend im Sinne einer Foucault’schen „Heterotopologie“ Bedeutungsdimensionen, und Räume können diskurstheoretisch somit auch durch „Streuung von Aussagen“ entstehen.46 Zwar ist der Raumbegriff, dem man zeitweilig sogar das Potenzial zuerkannte, einen „spatial turn“47 und somit als Alternativkategorie zu zeitlichen Prozessen eine Rückbesinnung auf räumliche Verhältnisse einzuleiten, bislang methodisch noch unscharf. Geht man indes davon aus, dass räumliche Konstellationen und Verhältnisse ja gerade etwas über die Zeit und ihre jeweilige Verfasstheit aussagen können sollen, so drängen sich die historiographischen Potenziale geradezu auf. Nicht nur zeitliche Prozesse, sondern auch räumliche Relationen „erzählen Geschichte“. Ob der Heimat-
44 Quadflieg, Dirk: „Zum Öffnen zweimal drehen“. Der „spatial turn“ und die Wendung des Raumbegriffs, In: Alpsancar, Gehring Rölli (Hrsg.): Raumprobleme. Philosophische Perspektiven, München 2011, S. 21-38, hier S. 23 ff. 45 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen (Band 1: Die Sprache, 1923; Band 2: Das mythische Denken, 1925; Band 3: Phänomenologie der Erkenntnis, 1929), hier Bd. 3, S. 166 f. 46 Quadflieg: „Zum Öffnen zweimal drehen“ (wie Anm. 44), S. 25. 47 Vgl. als Auswahl-Literatur zum „spatial turn“ die Sammelbände von: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2006, 72012; Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumwissenschaften, Frankfurt/M. 2009, 32012; oder auch die Studie Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2006, 4
2012. Vgl. des Weiteren die Auswahlbibliographie zur Raumtheorie im Sam-
melband von Dünne und Günzel, ab S. 546.
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begriff mit dieser raumtheoretischen Wendung einen Mehrwert für die Musikforschung haben könnte, soll im Folgenden erörtert werden. a) Heimat als qualitativ besetzter Raum Im Gegensatz zu zeitlichen Prozessen, in denen sich temporalisierende und narrative Wissensformen zeigen, können räumliche Relationen den Moment deutlicher fokussieren, weil sie das zu betrachtende historische Ereignis nicht im „Vorbeifahren“ erleben, also auf dem Weg von A nach C als Station B, sondern es in einem längeren Aufenthalt an einem Ort näher betrachten können, ganz gleich, aus welcher Richtung betrachtet wird, wo man vorher war oder wo man hinmöchte. Um bei dem Vergleich zu einer Eisenbahnfahrt zu bleiben, erlebt den omnidirektionalen, qualitativ markierten Raum nur der, der seine Fahrt für längere Zeit unterbricht, um an einem Ort zu verweilen. Georg Simmel notiert: „Für die Erinnerung entfaltet der Ort, weil er das sinnlich Anschaulichere ist, gewöhnlich eine stärkere assoziative Kraft als die Zeit.“48 Karl Schlögel spricht von der Geschichte im Sinne eines Ereignis-Ortes als ein „Schauplatz“.49 Schon Emil Durkheim ging bei seiner These der Entstehung des Raumbegriffs davon aus, dass verschiedene Ebenen und Aspekte des Raums von seinen Mitgliedern mit „sympathetischen Werten“ besetzt werden.50 Daraus resultiert nicht nur eine Orientierung, sondern auch ein mit dem jeweiligen Raum verbundenes Wertesystem. Eduard Spranger spricht 1943 von einem „geistigen Wurzelgefühl“.51 Freilich darf das Konzept einer „regionalen Identität“ kaum allein als Setzung verstanden werden. Der Sozialgeograph Benno Werlen52 etwa betont, dass kulturgeographische Räume selbst nicht handeln oder wirken können, sondern sie durch Handlungen und Wirkungen entstehen: „Mit Lebensräumen kann man per se keine Identität aufweisen.“53 Vielmehr wäre nach orts- oder situationsgebundenen kulturellen Identitäten zu
48 Zit. nach Treinen: Symbolische Ortsbezogenheit (wie Anm. 43), S. 79. 49 Zit. nach Döring/Thielmann: Spatial Turn (wie Anm. 47), S. 20. 50 Treinen: Symbolische Ortsbezogenheit (wie Anm. 43), S. 77. 51 Vgl. Joisten, Karen: Philosophie der Heimat, Heimat der Philosophie, Berlin 2003, S. 20. 52 Werlen, Benno: Gesellschaftliche Räumlichkeit, 2 Bde., Stuttgart 2010, hier Bd. 2, S. 101. 53 Ebd., S. 103; S. 105 f.
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fragen, denn das „Regionale“ sei stets als „sozial-kulturelle Konstruktion“ zu erkennen.54 Vergessen werden darf indes nicht, dass – mit Bordieu – der Habitus, der wiederum durch soziale und räumliche Strukturen vordefiniert wird, das Habitat macht usw.55 Die gegenseitigen Relationen und Abhängigkeiten von Konstruktion und Konstrukt sind nicht von der Hand zu weisen. Musik kann real oder metaphorisch erklingen und damit einen qualitativ besetzten heimatlichen Raum markieren. Entweder schafft sie im Konzerterlebnis oder in der eigenen Ausübung einen konkreten, sinnlich erlebbaren, semantisch bezeichneten Ort im Sinne eines lokalen, realen, momenthaften Klangkokons, oder sie kann metaphorisch wirken, als Erinnerungsort fungieren bzw. diese Erinnerungen stets erneuern, also eine Fixierung oder Stärkung der Heimat- bzw. Ortsverbundenheit erzeugen. Musik bedeutet also Ver-Ortung in zweierlei Hinsicht (konkret / metaphorisch) und in verschiedenen Intensitätsgraden. Nichtsdestotrotz bleibt Musik als Zeitkunst real, es kann also nicht darum gehen „Raum und Zeit gegeneinander auszuspielen, die in jedem kulturellen Element mit einander verflochten sind – eine ebenso triviale wie robuste Wahrheit.“56 Es sollte vielmehr darum gehen, den Raumbegriff zu stärken, um musikalischen, musikästhetischen und musiksoziologischen Phänomenen, die sich nicht allein temporal oder narrativ erfassen lassen, gerecht zu werden. Wird der Heimatbegriff also als qualitativ besetzter Raumbegriff für das Subjekt verstanden, so lassen sich zwei Prämissen für das Ereignen von Musik im heimatlichen Raum formulieren: 1. Heimat ist stets „räumliche Gegebenheit für das Subjekt“.57 Sie definiert den Lebens-Raum oder Ort des Lebens (wo man sein „Heim“ hat). In diesem Raum erlebt der Mensch Klangwelten, denen er rezipierend bzw. passiv begegnet, von Mozarts Musik im Mutterleib bis hin zur Musik der Eltern und frühen Beziehungsnetze usw. Musik ist also ebenfalls eine „räumliche Gegebenheit“ für das Subjekt. Diese erlebte „Basis“ ist identisch mit den konkreten Erinnerungsorten in topographischer oder metapho-
54 Ebd., S. 112. 55 Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen (wie Anm. 47), S. 88 f. 56 Böhme, Hartmut: Kulturwissenschaft, in: Raumwissenschaften (wie Anm. 47), S. 191. 57 Wie Anm. 28.
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rischer Prägung58: sinnlich erlebbare Alltagsdimensionen, die als – hier auditive – Erinnerungsspeicher fungieren. Dabei kann Heimat über den engeren Herkunftsraum hinaus natürlich weiter gefasst und erfahren werden: Heimat als Ganzheit umfasst weitere Lebenskreise, Regionen, ja grenzt theoretisch ans Unendliche. Auch die Erfahrungsräume in der Musik können sich immer weiter ausdehnen, ausgehend von den eigenen, abgrenzend ggf. zu anderen, die dann als fremd erfahren werden, wodurch die räumliche Grenze von Heimat erreicht ist: Omnis determinatio est negatio. 2. Heimat ist stets auch „räumliche Prägung durch das „Subjekt“. Sie fordert die Aktivität des „Sichheimischmachens“ geradezu ein. Das Subjekt muss sich einfinden, sodann wird Musik als „räumliche Prägung“ Teil der Heimatkonstruktion für das Subjekt. Dafür muss nicht zwangsweise Musik selbst erzeugt werden, es genügt, sich rezipierend mit Musik zu befassen und durch diese Handlungen dem heimatlichen Raum eine Prägung zu geben. Nur durch die Teilhabe am gesamtklingenden Heimatbild kann sich der individuelle Erfahrungsgehalt mit dem identitätsgewährenden Lebensraum ineins setzen. Der Mensch wirkt also aktiv am klingenden heimatlichen Bild mit. Heimat hat in dieser aktiven Komponente oft auch eine exkludierende oder expandierende, das Eigene gegenüber dem Fremden höher bewertende Dynamik. Diese erwies sich in ideologischen Phasen der Geschichte bekanntermaßen als problematisch, denn der eigene Lebens- und Erfahrungsraum tritt in Konkurrenzsituationen zu anderen Räumen. Heimat konturiert sich – so hat die Geschichte gezeigt – immer stärker in der Abgrenzung als in der eigenen Definition. Dass in abgrenzenden historischen Phasen der heimaträumlichen Erstarrung zumeist massenmusikalische Gemeinschaftserfahrungen en vogue waren, lässt aufhorchen. Hier konnte das Subjekt in Gemeinschaft räumlich klangprägend wirken. b) Konstitution von Heimat-Räumen durch bzw. mit Musik Nimmt man diesen Prämissen zufolge an, dass die heutige Relevanz des Begriffs Heimat für die Musikgeschichte darin bestehen könnte, ihn abseits aller ideologischen Vereinnahmungen und schwammigen Definitionen raumtheoretisch zu definieren und zu analysieren und damit einen neuen Zugang zu seinem Verständnis zu wählen, so wäre nach dem methodischen Vorgehen zu fragen, nach den Möglichkeiten, die Konstitution von Heimat-
58 Im Sinne Paul Noras, vgl. v.a. Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990.
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Räumen durch bzw. mit Musik zu analysieren. Sigrid Weigel empfahl der Raumtheorie 2002 statt einer deduktiven eine induktive Methode: „Der Raum ist hier nicht mehr Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird selbst vielmehr als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen und Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind.“59 Raum – hier verstanden als Heimat-Raum – wäre demnach als Text zu lesen. Dabei ist unerheblich, ob der Raum selbst oder eine Repräsentation des Raumes „gelesen“ wird. Wird Heimat als durch bestimmte Qualitäten gekennzeichneter topographischer Raum kultursoziologischer Relevanz verstanden, so wäre die Musik – als Teil und Mit-Konstituent von ortsbezogener oder ortsreferenzieller Heimat – ebenfalls raumtheoretisch deutbar und der Musiker und / oder Komponist als Geprägter und zugleich Prägender von Heimat zu verstehen. Die daraus resultierenden Arbeitshypothesen wären, dass 1. durch die Analyse räumlichen Darstellens, Deutens und Handelns musikhistorische Realitäten von Heimat sichtbar werden können, und dass 2. aus der Analyse explizit heimatraumgebundener Musik neue Aspekte erwachsen, die den Raumbegriff terminologisch und methodisch schärfen helfen können. Freilich ist hier erneut darauf zu verweisen, dass diese Argumentationen nicht unkritisch gegenüber ihrer Begrifflichkeit in Gang gesetzt werden dürfen. Es ist – so Werlen – „die Entwicklung eines kritischen Potenzials gegenüber geocodierten Diskursen“ nötig, nicht zuletzt deshalb, weil angesichts des Medienzeitalters und seiner zunehmenden Enträumlichung eine „Einforderung paradoxer Verräumlichung“ geradezu absurd wäre.60 Geht es aber weniger um die Konstruktion von Räumen, denn um die Fragen nach dem Sinn und den Verfahren historischer und aktueller HeimatRaumkonstruktionen (mit / durch Musik), so braucht die methodische Kritik nicht ausgespart zu werden, sondern hat ohnehin – wie in jeder modernen Geschichtsschreibung – Teil des Analyseprozesses zu sein. Wie eingangs erwähnt, sind es abseits der zahlreichen musikhistorischen Phänomene, die heimaträumlich betrachten werden können, vor al-
59 Weigel, Sigrid: Zum topographical turn. Karthographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, In: KulturPoetik, Bd. 2, Heft 2 (2002), S. 151-165, hier S. 160. 60 Werlen: Gesellschaftliche Räumlichkeit (wie Anm. 52), S. 388.
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lem aktuelle Denkfiguren und Themen, die steigende musikalische Verortungs-Bedürfnisse aufzeigen und das Thema Heimat bewusst und nicht selten mit einem herausfordernden Unterton fokussieren. Sie gehen u.a. zurück auf 1. Phänomene der Globalisierung einschließlich transnationaler Kommunikation, 2. auf die Zunahme von Flüchtlingsströmen und Migration, 3. auf Terrorismus mit Kriegen ohne konkrete Fronten und Grenzen und 4. postkoloniale Förderungen unterdrückter oder vergessener Kulturen. In allen diesen Bereichen etabliert sich eine explizit heimaträumlich formulierte Musiksprache verschiedener stilistischer Ausprägung, vom aggressiven deutschen Rechtsrock über rassistischen Gangsta-Rap bis hin zu national-patriotischer Volkslyrik mit Sehnsuchtsmotivik, alle mehr oder weniger deutlich auf räumliche Grenzen von Heimat sowie das Eigene und Fremde zugespitzt, aber keineswegs alle nationalistisch gesinnt. Für die Analyse dieser Musik nach heimaträumlichen Kriterien wäre demnach ein Frageraster zu entwickeln, je nachdem ob 1. die Entstehung einer musikalischen Topographie, 2. ihre Funktionsweisen und Vermittlerqualitäten oder 3. die internen räumlichen Spezifika der Musik, die auf Heimat bezogen sein können, selbst im Fokus stehen sollen. 1. Wie entsteht eine konkret oder metaphorisch verortete, heimatliche musikalische Topographie für den Menschen? Hier spielen zunächst soziale Faktoren eine Rolle, in denen räumliche Gegebenheiten und Prägungen des Subjekts in Interaktion und handlungsgeleiteter Teilhabe stattfinden. Gemeint sind vor allem musikalische Rituale, Diskurse und Institutionen, die soziale Gemeinschaft als heimatlich erfahrbar machen. Erst „in den Zeremonien erkennen sich die Individuen als gleich“, so Jens Korfkamp in seiner Heimat-Studie von 2006.61 In zweiter Linie spielen akustische Faktoren für das Entstehen einer heimatlichen musikalischen Topographie eine Rolle. Musik und Klänge im Sinne eines „Soundscape der Heimat“ wecken Assoziationen und symbolisieren Kontinuität der (ggf. generationenübergreifenden) verorteten Erfahrungen. Wie die sozialen sind auch die akustischen Faktoren ebenso heimaträumlich vorgegeben wie subjektiv prägbar. Als Beispiel kann die bereits erwähnte Studie von Kürstens zur Rolle der Kirchenglocken gelten62: Im in der Kindheit erlebten Kirchgang und seinen
61 Korfkamp, Jens: Die Erfindung der Heimat. Zu Geschichte, Gegenwart und politischen Implikaten einer gesellschaftlichen Konstruktion, Berlin 2006, S. 152. 62 Vgl. Kürsten: Wie klingt Heimat? (wie Anm. 16).
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glockenbegleiteten Ritualen (etwa des Ein- und Ausgangs oder des Abendmahls) sowie des akustischen Signets der jeweiligen Glocke setzt eine musikalische Verortung ein, ein heimaträumliches Empfinden, das auch rückblickend als Erinnerungsort und -speicher fungieren kann. Erst die Kombination aus sozialen und akustischen Faktoren, erst aus dem Zusammenhang der musikbezogenen Handlungen und Hörerfahrungen kann sich eine an den Ort dieses Zusammenhangs gebundene Verräumlichung von Erfahrung realisieren. 2. Wie funktionieren metaphorische Orte, Landschaften und Raumkonzepte von Heimat in der Musik? Wie wird Musik – für den Weggezogenen, auch den Vertriebenen – als heimatbezogen, heimatlich, sozusagen als „musikalischer Geocode“ erkannt? Hierfür sind vor allem ästhetische und emblematische Faktoren verantwortlich. Ästhetische musikalische Faktoren beziehen sich hier auf Gattungen, Topoi und Instrumente, die als dem Heimatraum zugehörig erkannt werden. Das können Musikgattungen sein, die Teil der musikalischen Topographie und somit der konkreten oder metaphorischen Erinnerungsorte sind (hier kommt im Grunde alles an Gattungen infrage, da nicht deren Inhalte, sondern ihre akustischen Strukturen hier im Vordergrund stehen). Und das können ebenso Topoi sein (Texte, Themen, Sprachcodes, Dialekte usw.) oder auch Instrumente, die möglicherweise häufiger als andere im heimaträumlichen Musizieren Verwendung fanden, und – unabhängig von ihrer Verwendung in Gattungen oder Topoi – allein durch ihre Klangsignatur heimaträumliche Bezogenheit oder Nähe evozieren können. Man denke an die norwegische Hardanger-Fiedel, das bayerische Hackbrett oder die arabische Laute, nur um einige Beispiele für regionale instrumentale Signaturen zu benennen, die trotz Globalisierungsdruck nach wie vor mit Kulturregionen assoziiert werden. Schließlich sind emblematische Faktoren – unabhängig von ihrer ästhetischen Einkleidung – wichtig für eine musikalische Geocodierung: Musikalische Zeichen, Zitate und Symbole fungieren, Intensität und Prägekraft vorausgesetzt, als Auslöser von heimaträumlichen Erinnerungsspeichern. Auch tonmalerische Aspekte spielen hier hinein, sofern sie emblematische Funktionen haben und entsprechend kompositorisch codiert sind. 3. Wie konstituiert sich Raum konkret in der Musik und kann ggf. heimatbezogen motiviert oder gemeint sein? Diese Frage ist von den drei genannten sicherlich am schwierigsten zu beantworten, da hier ein breites Spek-trum an Möglichkeiten zu bedenken ist und zugleich die Gefahr der
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Spekulation besteht. Bekannt ist hinlänglich, dass einzelne Werke auf konkrete Räume und ihre Bedingungen klanglich-strukturell abgestimmt sein können, also ihre Struktur der räumlichen Struktur verdanken. Das kann sich in erster Linie auf architektonische Proportionen beziehen, wie das Beispiel von Du Fays berühmter Motette Nuper rosarum flores zur Weihe des Florentiner Domes von 1436 gezeigt hat. Noch Yannis Xenakis – Architekt und Komponist – erprobte in der seriellen Komposition Metastasis (1954) die Parallelität von Musik und Raumarchitektur, indem er die langen Glissandi der 46 Streicher im Notat graphische Flächen im Sinne eines Strahlenfächers ausbilden ließ, die er 1958 in eine Pavillonarchitektur auf der Brüsseler Weltausstellung überführte. Ebenso bekannt, wenn auch von der Musikforschung bislang allenfalls ansatzweise untersucht, sind die auf Stratifikationsmodelle des Papsthofes in der Cappella Sistina rückführbaren Abstimmungen der Musik auf ihren liturgischen Raum in der Frühen Neuzeit63: War der Zelebrant im betreffenden Raum länger von A nach B im Rahmen der liturgischen Handlungen unterwegs, hatte sich die Musik entsprechend anzupassen. Auch aktuelle Klangkunstkonzepte der Moderne sind raumexperimentell interpretiert worden. Neben explizit gegen den Konzertraum gerichteter, raumkritischer Kunst − wie die Komposition „jets“ von Hans-Joachim Hespos von 1996, wo ein Jet in Soundeinspielung in das Konzert „abstürzt“ − sind diese Formate stets auf der Suche nach neuen Räumen für die Musik bzw. lässt die Musik ihre Räume selbst definieren. Musikalischer Evokation von Architektur – proportional, funktional, strukturell, wie in den genannten Beispielen – kann, muss aber natürlich nicht Heimat als Topos bzw. Inspiration zugrunde liegen. Im Falle von Du Fay ist die Proportion des Domes in der Musik selbstverständlich ebenso wenig hörbar, wie sich beim Hören von Xenakis’ Komposition innerlich das Bild der Brüsseler Architektur einstellt. Dies sind nicht auf Vermittlung von heimaträumlichen Assoziationen, sondern allenfalls – wenn überhaupt – auf einen Elitendiskurs über konkrete Raumbezogenheit ausgelegte Werke. Der Raumparameter kann hier allenfalls eine Nuance, nicht aber Wesentliches zum Verständnis der Musik beitragen. Andererseits haben eigens inszenierte Klangräume – wie z. B. der Klangraum der Wagner-Oper in seiner architektonischen Einzigartigkeit in Bayreuth – selbstverständlich
63 Vgl. Bölling, Jörg: Das Papstzeremoniell der Renaissance. Texte – Musik – Performanz (= Tradition – Reform – Innovation, Bd. 12), Frankfurt/M. 2006.
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das Potenzial, klangräumliche, im Sinne einer möglicherweise auch als heimatlich empfundenen Vertrautheit zu schaffen. Wagner in Bayreuth klingt bekanntermaßen anders als Wagner andernorts; der Komponist wusste darum und bestand entsprechend auf klangräumlichen Konstanten, um die Raumerfahrung mit seiner Musik auch noch posthum gleichsam entzeitlichen zu können. Offensichtlich(er) raumbezogen wird es dann, wenn (heimat-) räumliche Dimensionen in der Partitur oder im Klangbild ihre strukturellen Spuren hinterlassen haben, wie etwa der Einsatz von raumbildenden Fernorchestern und -instrumenten oder die „Nachahmung“ von Landschaftsbildern durch Klänge im Impressionismus oder der Programmmusik. Ferninstrumente wie schon die hinter der Bühne postierten Trompeten in Beethovens 3. Leonoren-Ouvertüre oder Georges Bizets Oper Carmen haben ebenso wie die vier Fernorchester in Hector Berlioz’ Requiem die dramaturgische Aufgabe, den homogenen Klangkörper des Orchesters um eine räumliche Dimension zu weiten, um Reminiszenzen, parallele Handlungsstränge, pseudo-liturgisch transzendierende Atmosphären oder räumliche Isolation wirkungsvoll in Szene zu setzen und für den Hörer erfahrbar zu machen. Mahlers Sinfonien verwenden die Ferninstrumente als geradezu geographisches Orientierungsraster in einer imaginären musikalischen Landschaft. So sind die Instrumente nach den Angaben der Partitur „in weiter Entfernung“ (1. Sinfonie), „aus entgegengesetzter Richtung“ (2. Sinfonie), „in der Ferne (Entfernung) aufgestellt“ (3. Sinfonie), „in der Höhe postiert“ (3. Sinfonie), „in Entfernung aufgestellt“ (6. und 7. Sinfonie) oder „isoliert postiert“ (8. Sinfonie), so dass der Eindruck entsteht, der Komponist habe je nach Beschaffenheit eine Landschaft und darin die Postierung der Instrumente vor dem inneren Auge gehabt. Charles Ives nennt seinen 1908 berühmt gewordenen Raumzyklus gar A Cosmic Landscape: In dem Teil The Unanswered Question streiten sich tonal komponierte Streichergruppen, die unsichtbar im Hintergrund agieren, mit atonalen Bläsergruppen auf der Bühne um die „Perennial Question of Existence“. Weniger eine konkrete Landschaft als die existenzielle Frage nach dem Sinn der weltlichen Heimat und ihrer Tonsprachen (die Frage bleibt konsequenterweise unbeantwortet) steht hier im Vordergrund. Der komponierte Heimatraum geht und spricht hier alle an: eine klassische Sichtweise des amerikanischen Transzendentalismus, dem Ives zugehörte.
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Neben solchen architektonischen und strukturellen Bezugnahmen auf heimaträumliche Gegebenheiten kann die Musik Raumerfahrung auch durch gezieltes Suspendieren der zeitlichen Orientierung auslösen. Durch die plötzliche Wegnahme zeitlicher Muster kann der Hörer gezwungen werden, den imaginären Hörraum in den realen Hörraum zu verlassen und sich in der Realität des Konzertsaals wiederzufinden. Die Erfahrungen, die ein Hörer mit einem solchen Werk macht, sind daher stets welche, die den Konzertraum (zwangsweise oder absichtsvoll) einbeziehen. Diese Möglichkeiten einer komponierten „Überwältigungsstrategie“64 des Spielens mit Erwartungen und Konventionen sind früh probiert worden, sei es mit TaktStauchungen bei Mozart, die asymmetrische Themenkonstrukte mit klassischer Hörerwartung kollidieren ließen, sei es das Spiel mit der Finalität, wie es schon bei Haydn auftritt (etwa in op. 33, Nr. 2, „The joke“: Hier folgen immer neue Schlussakkorde, so dass der Hörer verunsichert und aus dem Zeitstrom gerissen werden soll). Selbstverständlich sind diese ironischen Brechungen der Formstrukturen, wie sie zeitgleich auch in Beethovens kammermusikalischem Frühwerk auftreten, nicht durchweg in der Lage, heimaträumliche Assoziationen und Potenziale freizusetzen. Wenn sich aber in einer regionalen Raumzeit, wie etwa im klassischen Wien um 1800, das Motiv der Ironie in der Form als ein „musikalischer Geocode“ etabliert, so kann Musik, die davon explizit Gebrauch macht, durchaus die Absicht verfolgen, diesem Raum anzugehören. Das Spiel mit musikalischen Chiffren zum Zwecke der plastischen Markierung und mit dem zeitweiligen Verlust-Effekt der zeitlichen Orientierung ist bekannt und bislang vor allem in Zusammenhang mit Lehrer-Schüler-Generationen, Hommage-Konzepten oder symbolischen Gesten wie auskomponierten Spruchbändern o.ä. in Verbindung gebracht worden – das berühmteste ist wohl B-A-C-H. Den über Zeitsuspendierung und Markierung erzeugten Hörraum aber als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem realen Raum (hier eben Wien um 1800) zu deuten, wäre für die Analyse der Entstehungs- wie der Rezeptionsgeschichte der Musik indes neu. Solche Aspekte standen bislang kaum zur Debatte.
64 Noeske, Nina: Musikwissenschaft, In: Raumwissenschaften (wie Anm. 47), S. 268.
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c) Heimatraum-Konstruktionen am Beispiel aktueller rechtspopulistischer Musik Die Bandbreite der aktuellen Heimat-Diskurse in rechtspopulistischer deutschsprachiger Musik ist groß und schwerlich auf einen gemeinsamen thematischen und stilistischen Nenner zu bringen: Sie reicht von heimatlyrischer Besinnlichkeit, die harmlos bis naiv codiert ist, hin zu gezielt rassistischem Vokabular auf den sog. „Schulhof-CDs“ der NPD. Genährt wird die auf deutsche Topoi, Grenzen und Mentalitäten ausgerichtete Musik aktuell aus den Flüchtlingsdebatten in Europa, aber auch sonst hat sie in den letzten Jahrzehnten immer neue Gegenüber und Feindbilder entwickelt. Im globalen, interkulturellen Zeitalter herrscht daran kein Mangel.65 Neu an den rechtspopulistischen Strömungen der letzten zehn bis 15 Jahre in der Musik ist ihr zunehmendes Beschwören von klassischen heimatlichen Topoi. Dabei wird das Motiv Heimat als Stellvertreter nationaler Intentionen gebraucht, die man – auch zum Schutze vor einer möglichen verfassungsschutzrechtlichen Indizierung – besser nicht mehr allzu deutlich ausspricht. An die Stelle des Feindbildes wird immer öfter nationale Sehnsuchtslyrik gesetzt, gemeint ist freilich dasselbe: ein Wolf im Schafspelz. Nationalistische Liedermacher wie Frank Rennicke gehören zu den umsatzstarken Prototypen dieser Wende, die Heimatverbundenheit und Fremdenhass synonym verwenden, eingekleidet in harmlos wirkende, volksmusikalische Strukturen mit Wandergitarre. Schon sein 1996 veröffentlichtes Album titelt „Sehnsucht nach der Heimat“, weitere Lieder wie „Sehnsucht nach Deutschland“ oder „Der Väter Land“ perpetuieren stets dieselben Heimattopoi, die durchaus harmlos wirken können und sollen: „Wo ich hör’ den Quellbach flüstern, klingt ein strophisches Gedicht. Und die Tannen von Rominten säuseln in dem Mondeslicht. Seh’ in ihm vertraute Dörflein, Felder, Burgen, Städte ruhn! Wildes Veilchen − blau am Hange, dufte mir so ferne nun …“. Das DVD-Verbot vom Februar 2015 von Rennickes aktueller Produktion „Nun höret mein Lied“ zeigt indes auch die Brisanz der Musik, die aufgrund ihrer rassistischen Prägung als „jugendgefährdend“ eingestuft wurde und ein Verkaufsverbot erhielt. Auch Rennickes Blog macht mehr als deutlich, was ihn politisch motiviert: „Sie kommen – und
65 Vgl. zum Trend der deutschen Popmusik allgemein Schneider, Frank A.: Deutschpop halt’s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung, Mainz 2015.
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weshalb geht noch kein Aufschrei durch das Land?“ heißt es im August 2015 zur Flüchtlingsfrage.66 Während Rennicke (Jahrgang 1963) eher ein erwachsenes Publikum anspricht, hat die Rapperin Dee Ex (*1982) eine weitaus größere Wirkung bei jüngeren Hörern. Das liegt freilich an ihrem afroamerikanischen Musikstil Rap, der seit den 1990er Jahren auch in Europa produziert und wegen seiner Mischung aus progressiver Rhythmik und oft paariger Gesangstechnik (stakkatierender, monotoner Sprechgesang vs. lyrische Melodik) eine breite Hörerschaft anspricht. Wie viele andere Musikrichtungen ist auch Rap frühzeitig von rassistischen Wellen ergriffen worden, der Sprechgesang eignet sich besonders gut zu langatmigen, oft aggressiven Kaskaden aus Klischees und Vorwürfen. Dee Ex, die sich selbst „patriotische Rapperin“ nennt, hat in ihren Texten ebenfalls eine Wende von aggressiven AntiParolen hin zur Heimatbetontheit vollzogen. Ihr 2011 erschienener Song „Skandal 2.0“ spricht eine deutliche Sprache: „Niemand nimmt uns uns’re Heimat, wenn wir aufrecht stehen – als Volk gemeinsam mit freien Völkern in eine Zukunft gehen!!“, der Refrain lautet: „Skandal – ich liebe mein Land – Skandal – und sprech es auch noch aus!! Skandal – ich verteidige mein Land und fordere seine Millionen Peiniger heraus!!“67 Hier ist nirgends von dem Feindbild des Fremden selbst die Rede; erst mit der Überbetonung des Eigenen, der eigenen Heimat, das die Verteidigung dieser Haltung gegenüber Andersdenkenden präventiv einschließt, wird die Bedrohung greifbar. Wie bei Frank Rennicke wird mit der Über-Pointierung des Heimatbegriffs Verlustangst geschürt. Das Paradox, dass Dee Ex afroamerikanische Musik für eben diese Afroamerikaner wiederum ausgrenzende Texte, also globale Musiksprache für anti-globale Propaganda verwendet, ist ein Zeichen dafür, dass auch diese Musik längst als dem Eigenen zugehörig empfunden wird. Das zeigt besonders das Untergenre „NS-Rap“, das seit einigen Jahren eine krasse Wende hin zu nationalistischer Rapmusik markiert und in der Szene selbst höchst umstritten ist. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Broschüre der Berliner Künstlerinitiative
66 URL: www.rennicke.de/category/allgemein (aufgerufen am 23. September 2015). 67 Zuvor wurden schon Songs mit Titel wie „Deutschland, mein Heimatland“, „Deutschland, kein Wintermärchen“ oder auch „Deutsch ist nicht gleich Nazi“ von Dee Ex publiziert.
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TickTickBoom zum Thema „Deutschrap den Deutschen? Deutscher Nationalismus im Rap – ein Zwischenstand“ vom Januar 2015.68 Wie Dee Ex bekennt sich auch der gleichaltrige Berliner Rapper Fler zu seinem Patriotismus; darüber hinaus versteht er sich pikanterweise als deutsche Minderheit im deutschen Rap. Besonders kontrovers diskutiert wurde sein Song „Stabiler Deutscher“ (2014): „Die neue Deutsche Welle, endlich bin ich wieder da / Es gibt ne Menge was hier falsch läuft in diesem Staat / Stabiler Deutscher, breite Statur / Junge, Stress ohne Grund liegt in meiner Natur“. Songs wie „Deutscha Bad Boy“ (2008), „Ich bin Deutscha“ (2008) und „Das alles ist Deutschland“ (mit Bushido, 2010) schlagen in dieselbe Kerbe einer durchweg patriotischen, hier vor allem auf Berlin gemünzten Musik, die das Fremde nicht thematisiert, sondern durch die ÜberPointierung der eigenen Situation als Negativbild hindurchscheinen lässt. Selbstverständlich spielen in diesen Songs sozialkritische Faktoren des Ghetto-Lebens eine mindestens ebenso große wenn nicht die größere Rolle, und Fler distanziert sich in Interviews zudem deutlich von rechtsnationalistischem Gedankengut. Seine Tendenz, Identität mit Nationalität gleichzusetzen, ist indes unverkennbar. Nicht zuletzt deshalb versucht die NPD auch nach wie vor, den Künstler für ihre Zwecke zu vereinnahmen.69 Gleiches gilt für die patriotisch bis nationalistisch gestimmten Rockmusik-Gruppen, die partiell unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen und deren Texte ebenfalls einen Trend zur heimaträumlichen Thematik zeigen. Hier gibt es einerseits – und das schon lange – expandierende heimaträumliche Ambitionen, wie sie sich in den Ostpreußen-Beschwörungen der Band Sleipnir (seit 1998) zeigen, die in den Songs „Heimat“ (2002, neu aufgelegt 2008) oder „Heimatland“ (2014) ganz klar die deutschen Grenzen vor 1945 als Heimatraum meinen.70 Während aggressive, rassistische Alben
68 URL: www.ticktickboomcrew.de/wp-content/uploads/2015/01/ttb_brosch_full_ web.pdf (aufgerufen am 23. September 2015). Für den Hinweis danke ich Thorsten Hindrichs aus Mainz herzlich. 69 Solchen Vereinnahmungsversuchen von NPD und AfD gegenüber offener zeigt sich der deutsche Rapper Dissziplin. Insbesondere sein Album „Volksmusik“ (2012) kolportiert einen neuen Volksbegriff im Sinne eines exklusiven Heimatbegriffes. 70 Refrain von „Heimat“: „Gebt mir mein Heimatland zurück, das wäre für mich das schönste Glück. Durch Ostpreußens Wälder noch einmal wandern gehen,
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von Sleipnir sofort verboten wurden, rufen heimatbezogene Alben den Verfassungsschutz nicht auf den Plan. Insbesondere das neue Album „Heimkehr“ von 2014 (mit dem erwähnten Song „Heimatland“) betritt neues stilistisches Terrain: Akustikballaden treten an die Stelle peitschender Rockmusik. Auf der Vertriebsseite heißt es dazu: „Sleipnir-Heimkehr: Das neue Akustikalbum vom Sänger & Gründer von Sleipnir. 12 rein akustische Balladen untermalt mit Geigen, Gitarren, Flöten, Mandolinen. Thematisch geht es mal sehr aktuell zur Sache, aber auch besinnlich Heimatbezogen uvm.“71 Aber auch im klassischen Hardrockgewand, etwa im Song „Schwarz – Rot – Gold“ auf dem ebenfalls 2014 veröffentlichten Album desselben Namens, wird die Angst vor dem Heimatverlust in der Schlusszeile des Refrains besungen: „[…] und ihr werdets noch erleben, das schwarz-rot-gold bald nicht mehr weht.“ Verlustangst der Heimat − ohne den Grund explizit zu machen − prägt auch die Songtexte der Südtiroler Band Frei.Wild, die durch den Rückzug der Echo-Nominierung von 2013 in den Medien in die Diskussion gerieten und sich seitdem gegen den Vorwurf des Rechtsextremismus zur Wehr setzen. Ob die Band ihm angehört oder nicht, spielt hier weniger eine Rolle72 denn die klare Akzentuierung von Heimattopoi in hier noch zugespitzter Manier. Der Song „Südtirol“ vom Album „Hart am Wind“ (2009) beginnt mit der Zeile „Ja unser Heimatland, es ist so wunderschön […]“, der Refrain lautet: „Südtirol, sind stolze Söhne von dir. Unser Heimatland, wir ge-
die Kurische Nehrung noch einmal sehen“. Ähnlich argumentieren viele Rechtsrock-Bands, auch so auch Sturmwehr (Titel „Heimatland“, 2010: „Es war einst so prächtig und stolz unser deutsches Land, mein Vaterland.“) Zu nennen wären ebenso Division Germania, Macht & Ehre, die Schweizer Band Indiziert, die niederländische Gruppe Brigade M, die schwedische Neonazi-Band Nothung und Defiance aus Frankreich, um nur einige Beispiele anzuführen. 71 URL: www.wolfszeit.net/alles-von-sleipnir-101-deutsch/tontraeger/sleipnir---he imkehr.php (aufgerufen am 23. September 2015). 72 Vgl. dazu den einschlägigen Artikel von Thorsten Hindrichs, wo neben den Texten auch die Inszenierungen im Video und die Interviews usw. thematisiert werden: Heimattreue Patrioten und das „Land der Vollidioten“. Frei.Wild und die ‘neue‚ Deutschrockszene, In: Typisch deutsch? (Eigen-)Sichten auf populäre Musik in diesem unserem Land, hrsg. v. Dietrich Helms und Thomas Phleps, Bielefeld 2014 (= Beiträge zur Popularmusikforschung, Bd. 41), S. 153-183.
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ben dich nie mehr her.“ Diese Motivik zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte, eine Suchabfrage auf der Band-Webseite zum Stichwort „Heimat“ ist durchaus ertragreich, so auch für den aussagekräftigen Song „Wahre Werte“ (2010): „Wann hört ihr auf, eure Heimat zu hassen − Wenn ihr euch ihrer schämt, dann könnt ihr sie doch verlassen!“ Die Sorge vor einer Überfremdung ist hier deutlich lesbar: „Heimat heißt Volk, Tradition und Sprache / Für uns Minderheiten eine Herzenssache / Das, was ich meine und jetzt werft ruhig Steine / Wir sind von keinem Menschen die Feinde / Doch wir sind verpflichtet, dies zu bewahren / Unser Tirol gibts seit 1200 Jahren“.73 Und auch auf den aktuellen Alben sind die Beispiele zahlreich; der Song „Es braucht nicht viel, um glücklich zu sein“ (2015) beschwört in den ersten beiden Strophen erneut dieses Heimatgefühl eindringlich und mit Rekurs auf literarisch bekannte Topoi: „Wir ziehen durch unsere Straßen / Durch altbekannte Gassen / Gehen hier den altvertrauten Weg / Auf diesem Grund und Boden / Da wurden wir geboren / Das ist das Land, auf dem wir stehen / Hier leben all unser Freunde / Hier leben unsere Familien / Hier sind wir Mensch, hier kommen wir her / Es ist nicht nur ein Wort, nein / Auch darf es nicht nur ein Ort sein / Heimat ist, wo das Herz am höchsten schlägt.“74 Man darf daher getrost als Marketingstrategie hin zur Öffnung auch internationaler Märkte deuten, dass sich die Band im August 2015 auf ihrer Facebook-Seite überraschend deutlich von nationalistischen Tendenzen (die auf Gesellschaft, Politik und Kultur Südtirols seit 1918 bis heute mit scheinbar unüberwundener Hartnäckigkeit einwirken) distanzierte. Erst als die Fans vorwiegend aus AfD-Kreisen diesen überraschenden Schritt scharf attackierten, versuchte sich die Gruppe, vor allem der Sänger Philipp Burger75, mit einer paradoxen Argumentation den Fans erneut anzunähern. Gelöst ist der Konflikt damit nicht (obwohl 2016 zumindest der entbehrte Echo-Preis folgte). Wird Heimat derart konsequent als identitätsbildend und exkludierend gepredigt wie von Frei.Wild, ist ein Rückzug aus diesem Raum in die Internationalität bzw. ein Einbezug des Fremden in diesen
73 URL:
http://songs.frei-wild.net/song/wahre-werte/Heimat
(aufgerufen
am
23. September 2015). 74 URL: http://songs.frei-wild.net/song/es-braucht-nicht-viel-um-gluecklich-zu-se in-song (aufgerufen am 23. September 2015). 75 URL: www.facebook.com/burgerphilipp (aufgerufen am 23. September 2015). Auch diesen Hinweis danke ich herzlich Thorsten Hindrichs.
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Raum nachträglich nicht mehr möglich. Heimat-Proklamationen entfalten als Narrativ eine sehr starke identitätsbildende Bindung einer Fangemeinschaft an die jeweilige Musik, gleichzeitig schließen sie die Musiker in der Regel vom internationalen Diskurs ebenso rigoros aus, wie die Texte alles Andersartige ausschließen. Diese exkludierende Eigendynamik der Heimatakzentuierung in rechtspopulistischer, populärer Musik mag manchen Akteuren erst vergleichsweise spät gedämmert haben. Sie verbleiben mit ihrer Musik gewollt oder ungewollt im selbstgewählten engen Rezeptionsraum. Bei der Betrachtung dieser ganz unterschiedlichen popularmusikalischen Zugänge zum Thema Heimat wird als gemeinsamer roter Faden neben der Wahl der Thematik mit allen zugehörigen Inszenierungs-Klischees, Bildern und Motiven (bezogen auf Berlin bei Fler, Westfalen bei Sleipnir, Südtirol bei Frei.Wild oder „Großdeutschland“ bei Sleipnir) deutlich, dass sich Heimat mehr oder weniger auffällig als Synonym für Fremdenfeindlichkeit erkennen lässt. Indem das Fremde nicht mehr explizit erwähnt und stattdessen das Eigene überbetont wird, erhält der Heimatbegriff insbesondere in diesen rechtspopulistischen Musikstilen eine ideologische Schärfe, die mindestens nachdenklich stimmen darf. Wollte man diese Musik nach heimaträumlichen Kriterien analysieren, also nach 1. der Entstehung ihrer spezifischen musikalischen Topographie, 2. ihren Funktionsweisen und Vermittlerqualitäten und 3. ihren internen räumlichen Spezifika der Musik, die auf Heimat bezogen sein können, fragen, so bieten sich hier zahlreiche Möglichkeiten. Seien es die sozialen oder akustischen Faktoren einer musikalischen „Heimatsprache“ (Vertrautheit mit sozialen Erfahrungen in den Texten, Identifikation mit Klängen, Musikstilen usw.), seien es die ästhetischen oder emblematischen Faktoren (Sprachcodes, Instrumente, szeneeigene Markenzeichen usw.) oder seien es die expliziten Bezugnahmen der Musik selbst auf heimaträumliche Aspekte vor allem − wie gesehen − im Text, aber auch in der bewussten Anleihe musikalischer Chiffren. Als Beispiel mag hier der Hinweis auf Flers Sample-Methode genügen: Der Song „Das Alles ist Deutschland“ (2010) sampled mit dem Refrain „Das Alles ist Deutschland, das alles sind wir usw.“ exakt den Refrain des Liedes „Deutschland“ von den Prinzen (2001). Hier findet eine Umwidmung des ehemals ironisch mit deutschen Tugenden und Klischees spielenden Textes statt, die auf Wiedererkennungswert des Verwendeten setzt, dieses aber rechtspopulistisch wendet.
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Es bleibt abzuwarten, welche Intensitätsgrade der Heimat-Rekurse in den kommenden Jahren in rechtspopulistischer Musik noch erreicht werden. Ihnen Harmlosigkeit zu attestieren, hieße indes − und dies nicht nur angesichts der lehrreichen Geschichte − ihr ideologisches Potenzial zu unterschätzen. An diesem Punkt hätte eine Auseinandersetzung der Musikwissenschaft mit dem aktuellen Heimatbegriff anzusetzen.
Topographien des Imaginären Thesen zum Konzept der Heimat in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts A NJA O ESTERHELT
‚Heimat‘ erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance als Konzept der Populärkultur, als globalisierungskritischer Begriff und als Gegenstand der Gesellschaftswissenschaften. Selten war dabei die Geschichte der Diskursivierung von ‚Heimat‘ über die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte hinaus Thema wissenschaftlicher Untersuchungen. Die für das Verständnis der gegenwärtigen Konzeptualisierungen von ‚Heimat‘ entscheidende Vorgeschichte ist noch nicht vollständig geschrieben. Mein Beitrag lotet aus, wie eine solche Geschichte der ‚Heimat‘ für den deutschsprachigen Raum aussehen könnte.1 Er geht von der These aus, dass die semantische Dichte des Begriffs ‚Heimat‘, die seine heutigen Verwendungen auszeichnet, um 1800 entsteht und im ‚langen 19. Jahrhundert‘ ihre entscheidende Prägung erfährt. An der Konzeptualisierung von ‚Heimat‘ haben die unterschiedlichsten disziplinären und alltagssprachlichen Diskurse Anteil. Literatur steht in ei-
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Der Beitrag formuliert, wie es das Format dieses Bandes vorsieht, Thesen. Ausführliche Belege und die umfassende Würdigung der Forschungsliteratur, auf der meine Überlegungen basieren, werden demnächst in meiner Habilitationsschrift Topographien des Imaginären. ‚Heimat‘ in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts nachzulesen sein.
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nem engen Wechselverhältnis mit diesen im Lauf des 19. Jahrhunderts an ‚Heimat‘ arbeitenden Wissensfeldern. Literatur überformt deren Konzepte von ‚Heimat‘ poetisch, popularisiert sie, transformiert sie oder kritisiert sie. Und Literatur generiert selbst eine komplexe Semantik von ‚Heimat‘. Diese spezifisch literarische und doch nur in ihren Wechselbezügen verständliche Semantisierung von ‚Heimat‘ ist historisch zu rekonstruieren. Literatur kann dabei um 1800 als ein Leitdiskurs für die Genese eines neuen Verständnisses von ‚Heimat‘ gelten. Die Dynamik solcher diskursiven Veränderungen bliebe indes unverständlich, wenn sie nicht auf die Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts bezogen werden würde. Nationalstaatsbildung, Migrationsbewegungen und die Erfahrung der Diaspora prägen die Semantik und die Funktionalisierung des Begriffs wesentlich. Sie sind Teil jener gesellschaftlichen Transformationen, innerhalb derer sich ‚Heimat‘ als modernisierungskritisches Konzept ausprägt. Gleichzeitig wird es von einer Reihe unterschiedlicher Disziplinen in Anspruch genommen, die mit diesen Modernisierungsprozessen nur indirekt vermittelt sind, an der Modellierung von ‚Heimat‘ aber gleichwohl Anteil haben. Die Konzepte von ‚Heimat‘ etwa der Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, Pädagogik oder Volkskunde müssen deswegen transdisziplinär und in ihrem Wechselverhältnis zu den literarischen Konzeptualisierungen von ‚Heimat‘ beschrieben werden. Die Rückgewinnung dieser historischen Dimension des ‚Heimat‘-Diskurses erlaubt es nicht zuletzt, die aktuellen Debatten als Teil eines Ringens um Erscheinungsformen der sogenannten ‚Moderne‘ zwischen Mobilität und Migration, zwischen Aus- und Rückbildung der Nationalstaaten und zwischen Flucht, Exil und Neuverortung wahrzunehmen, das um 1800 begonnen hat. ‚Heimat‘ erlebt in Deutschland seit der politischen Wende 1989 ein Comeback. Zwar werden schon seit den 1950er Jahren von Jahrzehnt zu Jahrzehnt Renaissancen von ‚Heimat‘ ausgerufen, doch die Rückeroberung des Begriffs seit den 90er Jahren und insbesondere seit der Jahrtausendwende ist von bisher beispielloser Intensität. Dabei kommt dem Konzept ‚Heimat‘ seine seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erprobte Funktion zu, Antworten auf Modernisierungsprozesse, Erfahrungen der Dezentrierung und unsichere Identitäten bereitzustellen. Der mitunter trotzig-affirmative Gestus, der neuerdings bei der Verwendung des Wortes ‚Heimat‘ auffällt, will sich offenkundig von historischem Ballast und den Zumutungen eines
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kritischen Bewusstseins verabschieden. Die gegenwärtige Generation konzeptualisiert ‚Heimat‘ vorwiegend als Pop – verwiesen sei etwa auf die Arbeiten des deutschen Pop-Art-Künstlers Stefan Strumbel, dessen Kuckucksuhren mit der Aufschrift „What the fuck is heimat?“ bis ins MoMA/New York verkauft werden. Zusammen mit der Beobachtung, dass die hohe Veröffentlichungsfrequenz zum Thema ‚Heimat‘ als Phänomen der Zeitgenossenschaft in einem eklatanten Missverhältnis zu seiner geringen historischen Aufarbeitung steht, bieten diese jüngsten Entwicklungen den Anlass, die Konzeptualisierung von ‚Heimat‘ historisch zu rekonstruieren. Die Kernzeit dieses Prozesses, als dessen Teil noch der aktuelle Heimatdiskurs deutbar ist, liegt im sogenannten ‚langen 19. Jahrhundert‘. Soll die Ausbildung einer spezifisch ‚modernen‘ Semantik von ‚Heimat‘ beschrieben werden, müssen zunächst verschiedene Vorannahmen erläutert werden: Eine intensive Sichtung der Literatur des 18. Jahrhunderts legt nahe, dass ‚Heimat‘ erst um 1800 zum emphatischen Konzept wird. Natürlich wird schon vorher der Ort der Geburt oder des Lebensvollzugs als ‚Heimat‘ bezeichnet und ein entsprechendes Zugehörigkeitsempfinden wird man als anthropologische Größe gelten lassen können. Aber erst um 1800 eröffnet sich mit dem Begriff der ‚Heimat‘ ein semantisches Feld, das die spezifische Wirkkraft entfaltet, die der Begriff bis heute hat. Die älteren religiösen, rechtlichen und medizinischen2 Prägungen des Begriffs verlieren ihre bis dahin weitgehend autonome Bedeutung und gehen ein Wechselverhältnis mit den zeitgenössischen geschichtsphilosophischen Positionen, den erstarkenden Ideen von Volk und Nation, der ‚Entdeckung‘ der Kindheit und anderen sentimentalisch grundierten Konzepten ein. Ihnen ist gemeinsam, dass sie auf Vorstellungen eines (verlorenen und wiederzugewinnenden) ‚Ursprungs‘ rekurrieren, die weit über den Ort der individuellen Herkunft hinausgehen. Das religiöse Versprechen einer himmlischen Heimat wird nun im Weltlichen gesucht, freilich immer im Wissen um den utopischen Charakter des Ersehnten. So meint ‚Heimat‘ weder bei Herder noch bei den Romantikern einen konkreten Ort, und schon gar keinen spezifisch deutschen. Die später topisch werdende Verbindung von ‚Heimat‘ mit ‚Natur‘ oder ‚Landschaft‘ und damit einer räumlichen Situierung ist für die Romantik noch nicht zentral. Der emphatischen Neukonzeptualisierung von
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Vgl. Bunke, Simon: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg i. Br. 2009.
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‚Heimat‘ mit ihren Bildern von Fernweh, Abschied, Wanderschaft, Heimweh und Heimkehr liegt stattdessen ein zunächst relativ abstraktes Ursprungsmodell zugrunde, in das unterschiedlichste Ideen eingetragen werden können: ein göttlicher Ursprung, die Musik, der Mythos, das Goldene Zeitalter, die Kindheit, die Philosophie und auch die Poesie selbst.3 Innerhalb des weiteren Prozesses der Konzeptualisierung von ‚Heimat‘ zeichnet sich eine wichtige Zäsur kurz vor der Jahrhundertmitte ab. Denn dem idealistisch-romantisch geprägten Konzept von ‚Heimat‘ steht seit den 1840er Jahren eine Lebensrealität entgegen, die von Massenmigration, Landflucht und Städtewachstum geprägt ist. Dies führt zu einem Prozess der schrittweisen semantischen Neubesetzung des Konzepts. Es mehren sich die Anzeichen für ein zunehmendes Verlangen nach ‚Heimat‘ als ‚Realie‘, das eine Positivierung und Popularisierung des Konzepts, zugleich aber auch die Kritik an ihm einleitet. Eine Vielzahl von kulturellen Institutionen arbeitet im 19. Jahrhundert daran, die imaginäre ‚Heimat‘ dingfest zu machen – sie zu archivieren, zu musealisieren, zu erforschen, aber auch zu vermarkten und erlebbar zu machen. Erstmals schreibt man systematisch Lokalgeschichte und eröffnet Heimatmuseen.4 Es werden Heimatvereine, Heimatzeitschriften und Heimatverlage gegründet, die sich mit der Pflege und Vermarktung von ‚Heimat‘ beschäftigen und diese in bisher ungekanntem Ausmaß popularisieren. Die ‚Heimatkunde‘ wird in den Schulen eingeführt. Vom Gesangsverein über die ‚Heimatkunst‘5 bis zur sog. ‚Heimatschutzbewegung‘ soll ‚Heimat‘ nicht nur bewahrt, sondern auch neu belebt und erfahrbar gemacht werden. Diese Bestrebungen proklamieren den drohenden oder schon stattgehabten Verlust von ‚Heimat‘ – die von der Romantik formulierte Bedingung ihrer Abwesenheit verliert ihre Gültigkeit, ‚Heimat‘ wird jetzt als ‚Realie‘ behandelt. Gleichwohl zehrt der ‚Heimat‘Diskurs weiter vom durch Idealismus und Romantik eröffneten semantischen Feld des Begriffs.
3
Vgl. Schwarz, Sandra: Kunstheimat. Zur Begründung einer neuen Mythologie in der klassisch-romantischen Zeit, Paderborn 2007.
4
Vgl. Roth, Martin: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution, Berlin 1990.
5
Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975.
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Die hier aufzufindenden literarischen Konzeptualisierungen von ‚Heimat‘ müssen in ihrem Wechselverhältnis zu verschiedenen anderen diskursiven Feldern beschrieben werden, wenn sie historisch verstanden werden sollen. Zu diesem Zweck wird auf drei Ebenen operiert. Auf einer ersten Ebene ist der Themenkomplex ‚Heimat‘ in Bezug auf die gesellschaftlichen Prozesse zu betrachten, die zur Herausbildung der ‚Moderne‘ ab 1800 führen. Innerhalb dieser Prozesse wird ‚Heimat‘ als Sehnsuchtstopographie etabliert. Sie gilt als verlorenes Gegenteil der ‚Moderne‘. Denn insofern ‚Heimat‘, oft mit dem Weiblichen, Leiblichen, Vegetativen, der Natur, dem Boden oder der Landschaft verknüpftes ‚Ganzheitliches‘, Ungebrochenes, Unbewusstes assoziert wird,6 verschärft sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Spannungsverhältnis zur ausdifferenzierten und reflexiven ‚Moderne‘. Zu diesen gesellschaftlichen Prozessen gehören wesentlich die Migrationsbewegungen des Jahrhunderts: Denn ‚Heimat‘ als idealistischromantisch präfiguriertes Herkunfts- und Zugehörigkeitsversprechen findet im 19. Jahrhundert seine realweltliche Entsprechung in Erfahrungen des politischen Exils, der wirtschaftsbedingten Auswanderung nach Übersee und der massenhaften Binnenmigration. Gerade die Abwesenheit von ‚Heimat‘ wird zur Bedingung ihrer Erfolgsgeschichte. Denn erstens schafft erst die Abwesenheit von etwas ein Bedürfnis und zweitens ermöglicht nur diese Absenz die imaginäre Ausgestaltung, die eines realweltlichen Korrektivs entbehren kann. Andererseits gründen viele Auswanderer in der ‚Neuen Welt‘ auch ihre ‚Neuen Heimaten‘ und dem ehemaligen Landbewohner kann die Stadt zur ‚Neuen Heimat‘ werden. Konstitutiv für die Konzeptualisierung von ‚Heimat‘ ist ihre enge Verknüpfung mit dem Nationaldiskurs.7 Der gesellschaftliche Prozess, der auf die Nationalstaatsbildung zuläuft, generiert im partikularistischen deutschsprachigen Gebiet wesentlich den Heimatdiskurs, indem er die einzelnen ‚Heimaten‘ der Deutschen als Wurzelboden einer nach Vereinigung strebenden Nation interpretiert. Nation und ‚Heimat‘ können im 19. Jahrhundert aber nicht nur als dialektisch aufeinander verweisende, sondern auch als antago-
6
Vgl. Blickle, Peter: Heimat. A Critical Theory of the German idea of homeland, Rochester, N.Y. 2002.
7
Vgl. Confino, Alon: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871–1918, Chapel Hill, London 1997.
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nistische Prinzipien gedeutet werden. ‚Heimat‘ kann deswegen als Komplement oder als Gegenbegriff des mächtigen Nationaldiskurses des 19. Jahrhunderts fungieren. ‚Heimat‘ ist wie ‚Nation‘ ein Modell kollektiver Identitätsbildung, aber ihr ‚Anderes‘ ist nicht wie dort externalisierbar (als andere Nation), sondern wird als innerhalb des Eigenen wandernder Heimatloser konzeptualisiert. Die aus dieser Unauflösbarkeit von Fremdem und Eigenem hervorgehende Bedrohung manifestiert sich in einer Amalgamierung von Kulturkritik und Antisemitismus, die den als heimatlos stigmatisierten Juden zugleich für die Verlusterfahrung der Moderne verantwortlich macht. Dieser unter dem Stichwort der Diaspora zu verhandelnde gesellschaftliche Prozess verleiht auch hier ‚Heimat‘ den Status des verlorenen Gegenteils der ‚Moderne‘. Neben der Einordnung des ‚Heimat‘-Diskurses in die zentralen gesellschaftlichen Prozesse des 19. Jahrhunderts müssen auf einer zweiten Ebene disziplinäre Felder einbezogen werden, die ‚Heimat‘ diskursivieren und hierin in einem Wechselverhältnis zu literarischen Konzeptualisierungen von ‚Heimat‘ stehen. Zu diesen gehören Theologie, Jurisprudenz, Volkskunde, Pädagogik und Germanistik. Das Wissensfeld der Religion ist insofern zentral für die Thematik, als ‚Heimat‘ seine semantische Dichte zwischen 1800 und 1900 ganz wesentlich über eine Säkularisierung religiöser Konzepte von ‚Heimat‘ (bzw. der Sakralisierung profaner Bereiche mithilfe von ‚Heimat‘) gewinnt.8 Literatur arbeitet wesentlich daran mit, dass das religiöse Versprechen einer himmlischen Heimat nun im Weltlichen gesucht wird – immer im Wissen um den utopischen Charakter des Ersehnten. Nicht nur die christliche Religion, auch der griechische Mythos und zeitgenössische philosophische Konzepte werden von der Literatur im Hinblick auf eine transzendente ‚Heimat‘ neu interpretiert. Das Wissensfeld des Rechts verbindet sich genau wie das der Religion schon lange vor 1800 mit ‚Heimat‘ und trägt ab 1800 zur semantischen Verdichtung des Konzepts bei. Das Heimatrecht, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Gültigkeit hat, freilich während des Jahrhundertverlaufs zunehmend als unbrauchbar diskutiert wird, hängt vor allem mit dem Ar-
8
Zur Zeit um 1900 vgl. Heller, Thomas/Wermke, Michael (Hrsg.): Thüringer evangelische Parochialpublizistik. Im Spiegel der „Mitteilungen für die Thüringer Heimatglöckner“ (1917–1919), Leipzig 2013.
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menversorgungssystem zusammen. Anspruch auf Unterstützung hat der Bedürftige vereinfacht gesagt nur an seinem Geburtsort – im Migrationszeitalter des 19. Jahrhunderts offensichtlich ein Anachronismus.9 Das ‚Heimatrecht‘ und die sozialen Verwerfungen in seinem Gefolge werden von der Literatur vielfältig aufgegriffen und einem sentimentalischen „Heimat“-Verständnis in Reibung gebracht. Eine neue Konstellation zwischen disziplinärem Begriffsverständnis und Literatur ergibt sich ab Mitte des 19. Jahrhundert durch das Entstehen einer neuen Leitwissenschaft, die ‚Heimat‘ zu einem ihrer Schlüsselbegriffe macht: die Volkskunde.10 Andere Disziplinen stehen unter ihrem Einfluss. So etwa die Pädagogik, die den schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführten didaktischen Terminus der ‚Heimatkunde‘ entscheidend transformiert11. Diese Disziplinen haben wesentlich Teil an einer Positivierung und Empirisierung des Verständnisses von ‚Heimat‘ und zugleich an deren Ideologisierung; literarische Texte stehen in einem engen Wechselverhältnis mit diesen Diskursverschiebungen. Auf einer dritten Ebene muss es um das zeitgenössische alltagssprachliche Verständnis von ‚Heimat‘ gehen. Rekonstruierbar ist dieses mithilfe von Briefen, die deshalb eine hervorragende Quelle darstellen, weil erstens die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierende Schulpflicht und die damit einhergehende Alphabetisierung es erstmals möglich machten, dass auch Menschen jenseits des Bildungsmilieus ihre Erfahrungen niederschrieben. Zweitens wird ‚Heimat‘ immer dann zum Thema, wenn ihr Ver-
9
Vgl. Wendelin, Harald: Schub und Heimatrecht, In: Heindl, Waltraud/Saurer, Edith (Hrsg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750-1867, Wien 2000, S. 173-343 und Meier, Thomas Dominik/Wolfensberger, Rolf: „Eine Heimat und doch keine“. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.19. Jahrhundert), Zürich 1998.
10 Vgl. Kaschuba, Wolfgang: Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1988. 11 Vgl. Mitzlaff, Hartmut: Heimatkunde und Sachunterricht. Historische und systematische Studien zur Entwicklung des Sachunterrichts. Zugleich eine kritische Entwicklungsgeschichte des Heimatideals im deutschen Sprachraum, 3 Bände, Dortmund 1985.
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lust erfahren wird – eben die Situation also, in der sich viele Briefschreiber befinden. Die wichtigste Referenz innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Thema ‚Heimat‘ bildet Andreas Schumanns Habilitationsschrift Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914.12 Schumann bietet, jenseits der zahlreicheren Einzelstudien zu bestimmten Autoren,13 die einzige umfassende These zur Stellung der Literatur innerhalb des Heimatdiskurses des 19. Jahrhunderts an. Schumann legt überzeugend dar, dass Literatur wesentlich zum gesamt-gesellschaftlichen Heimatdiskurs beiträgt. Auf der Grundlage von Almanachliteratur von rund 450 heute fast vollständig unbekannten Autoren aus dem gesamten deutschen Sprachgebiet kann nachgewiesen werden, dass das in der Regionalliteratur des 19. Jahrhunderts ausgebildete Repertoire an angeblich spezifischer regionaler Eigenartigkeit sich stets wiederkehrender, ja geradezu austauschbarer Formeln bedient. Schumann interpretiert den literarisch generierten, universal nach demselben Muster verfahrenden Regionalismus als kulturpolitische Konstruktion, die einem deutschen Nationalbewusstsein vorarbeite. Die Ergebnisse von Schumanns Arbeit können den empirisch gut fundierten und in den abgeleiteten Thesen plausiblen Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen bilden. Dies betrifft zunächst das Quellenkorpus: Wählt Schumann, ausgerichtet an seiner Frage nach regionalen und nationalen Identitätsbildungsprozessen, solche Literatur, die für regionale Almanache geschrieben wurde, so bleibt nach den literarischen Konzeptualisierungen von ‚Heimat‘ zu fragen, die sich nicht selbst in einen explizit regionalen Kontext stellen. Wenn ‚Heimat‘ nicht von vornherein auf Vorstellungen des Regionalen und Ländlichen begrenzt wird,14 weitet sich der Blick dafür, dass sie auch im 19. Jahrhundert schon mit der Stadt, selbst der Großstadt
12 Schumann, Andreas: Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914, Köln/Weimar 2002. 13 Hier herausragend: Mettenleiter, Peter: Destruktion der Heimatdichtung. Typologische Untersuchungen zu Gotthelf, Auerbach, Ganghofer, Tübingen 1974. 14 Vgl. Mecklenburg, Norbert: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein 1982.
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verbunden werden kann, vor allem aber dafür, dass sie Vorstellungen transportiert, die jenseits des Lokalisierbaren liegen.15 Schumann entnimmt sein Quellenmaterial der Gebrauchsliteratur und zeigt, in welchem Umfang sie einen Heimatdiskurs mit generieren hilft, der mit dem Entwurf regionaler Identität nationale Zugehörigkeit festigen will. Darüber hinausgehend muss nun gefragt werden, ob dieser Befund auch gilt, wenn andere Formen und Gattungen sowohl der ‚hohen‘ als auch der ‚trivialen‘ Literatur mit einbezogen werden. Denn eine Trennung von ‚Hoch‘- und ‚Trivialliteratur‘ für das 19. Jahrhundert aus literaturhistorischer Sicht vermieden werden, weil sie sich die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts üblich gewordene Scheidung in Hohes und Triviales zueigen machen würde. Außerdem wird das Spektrum der möglichen Funktionen von Literatur breiter, wenn Phänomene der Alltagskultur mit solchen der Hochkultur in Zusammenhang gebracht werden. Die spezifisch ästhetische Verfasstheit literarischer Texte bringt es mit sich, dass sie beispielsweise einen bestehenden Heimatdiskurs affirmieren und zugleich unterlaufen können, dass sie ‚Heimat‘ klischieren und zugleich Gegendiskurse etablieren können. Die durch Literatur generierten ‚Heimat‘-Bilder erschöpfen sich nicht in ihrer – zweifelsohne zentralen – Funktion, das Konzept des Nationalstaates etablieren zu helfen. Um die literarischen Sinnbildungen um ‚Heimat‘ im historischen und kulturgeschichtlichen Kontext verorten zu können, müssen schließlich auch nicht-literarische Quellen aus anderen disziplinären, aber auch aus alltagssprachlichen Zusammenhängen herangezogen werden. Auch hier ergibt sich, dass der zentrale Nationalstaatsdiskurs des 19. Jahrhunderts von vielen anderen flankiert und teilweise unterlaufen wird. So basiert etwa die in der Pädagogik etablierte ‚Heimatkunde‘ bis zur Mitte des Jahrhunderts teilweise auf einem geradezu transnationalen Anliegen, genauso wie die religiösen Konzepte der ‚himmlischen Heimat‘ die Nationalidee transzendieren können. Insgesamt ist es methodisch sinnvoll, keine definitorischen Vorentscheidungen zu fällen, wofür ‚Heimat‘ steht oder für welche Zwecke sie funktionalisiert wird. So wäre es eine Perspektivverengung, nur das Dörfliche oder Landschaftliche als ‚Heimat‘ zu fassen und dann möglicherweise
15 Vgl. auch Kramer, Andreas: Regionalismus und Moderne. Studien zur deutschen Literatur 1900-1933, Berlin 2006.
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eine Einschränkung auf die Textgattungen Dorfgeschichte und Heimatliteratur vorzunehmen. Bei einem offenen Sichtungsverfahren geraten Texte in den Fokus, in denen man mit zu engen definitorischen Vorentscheidungen ‚Heimat‘ sicherlich nicht vermutet hätte. Insbesondere die rechtshistorische Dimension von ‚Heimat‘ in literarischen Texten ist sicherlich aus diesem Grund bis heute ein Forschungsdesiderat. Auch wenn damit bewusst die Frage offen gelassen wird, was ‚Heimat‘ ist, muss ‚Heimat‘ nicht als ‚Erfindung‘ oder ‚Konstrukt‘ verstanden werden.16 Die Wirksamkeit des Konzepts beruht gerade darauf, dass es einerseits immer auf etwas konkret und individuell Erfahrbares, materiell, räumlich und biographisch Bestimmbares rekurriert, ohne sich andererseits gänzlich hierin zu erschöpfen. ‚Heimat‘ ist immer zugleich Erfahrungsraum und Imaginationsraum. Und sie ist immer zugleich ein Gegenstand der individuellen Anschauung und universalisierbare Abstraktionsleistung. Das semantische Feld, das sich zwischen diesen beiden Polen aufspannt, beruht wesentlich auf Unschärfe. Ihre semiotische Wirksamkeit erreicht ‚Heimat‘ also durch Unbestimmtheit, ihr Spiel mit dem Nicht-Anwesenden, räumlich oder zeitlich Fern-Liegenden: ‚Heimat‘ wird zum Ort des Mythos, der Vergangenheit, sie wird Sehnsuchtsmodell und Narrativ des Trostes, sie wird in die Kindheit, ins Goldene Zeitalter, in die Kunst verlegt, sie ist rückwärtsgewandte Utopie und ‚Gemütswert‘, sie soll die nationale Einheit stiften, sie soll den Himmel auf Erden holen und etwas spezifisch Deutsches sein. Welchen Gewinn verspricht nun die historische Perspektive auf diese divergierenden Semantiken von ‚Heimat‘? Wer heute den Begriff verwendet, muss sich der historischen Hypothek bewusst sein, die auf ihm liegt. Schon viele Jahrzehnte vor der NS-Zeit wird ‚Heimat‘ als ‚Nährboden‘ des Nationalen interpretiert und die Erziehung zur ‚Heimatliebe‘ gebraucht als ideologisches Instrument zum Zweck der Opferbereitschaft für die nationale Sache, ja zu den Zwecken der bedingungslosen Gefolgstreue, der Militarisierung, des Kolonialismus. ‚Heimatliebe‘ wird schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts als spezifisch deutscher ‚Gemütswert‘ interpretiert, der anderen Völkern fremd sei. Die Volkskunde etwa arbeitet wesentlich mit an der ‚wissenschaftlichen‘ Fundierung dieser Behauptung; als ‚Quelle‘ für solche Thesen zieht sie übrigens gern die ‚schöne‘ Literatur heran. Die Ge-
16 Vgl. Korfkamp, Jens: Die Erfindung der Heimat. Zu Geschichte, Gegenwart und politischen Implikationen einer gesellschaftlichen Konstruktion, Berlin 2006.
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schichtsvergessenheit, mit welcher der Begriff der ‚Heimat‘ heute wieder auch wissenschaftlich in Anspruch genommen wird, muss vor diesem Hintergrund irritieren. Es ist meiner Meinung nach nicht nur ein anthropologisches Bedürfnis nach Herkunft und Zugehörigkeit, dem unter den Bedingungen der Globalisierung erneut Rechnung getragen wird, sondern eine spezifische, u.a. gerade auf seiner Unbestimmtheit basierende, Faszinationskraft des Begriffs, der auch den Wissenschaftsdiskurs wieder auf dieses Konzept zurückführt. Worin diese Faszinationskraft besteht und welche imaginären Topographien ‚Heimat‘ eröffnet, das kann der Blick aufs ‚lange 19. Jahrhundert‘ mit klären helfen.
Kommentar von Andreas Schumann
I MAGINÄR , REAL , KONSTRUIERT . W IE KANN EIN H EIMATBEGRIFF LITERARHISTORISCH BESCHRIEBEN WERDEN ? Ja, es handelt sich bei ‚Heimat‘ um einen emphatischen soziokulturellen Begriff – und was könnte ein besserer Träger von Emphase sein als eine mediale Repräsentation? Das ist in der Konstitutionsphase von Heimatvorstellungen seit etwa 1800 vorrangig die Literatur, im zwanzigsten Jahrhundert ergänzt durch den Film. Musikalische Repräsentationen wie in der Programmmusik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die komplexen Metaphorisierungen in den bildenden Künsten scheinen nachrangiger Natur zu sein, da zunächst durch eine literarische Einübung des Begriffs ‚Heimat“ geprägt. Ja, wir wissen trotz einiger Vorarbeiten zu wenig über dieses Konzept ‚Heimat‘, obwohl es immer noch beinahe alltäglich präsent ist, obwohl es seine ideologische Anfälligkeit mehr als einmal in der Geschichte beweisen musste – womit seine „unbefangene“ Reaktivierung im 21. Jahrhundert zumindest problematisch erscheint. Ja, der Erfolg von ‚Heimat‘ als sozialer und kultureller Kitt zwingt uns, enge Fachgrenzen zu überwinden und nach interdisziplinären Vernetzungen zu suchen, um das Phänomen nicht nur in seiner Entstehung, sondern auch in seiner Wirkungsmächtigkeit beobachten und beschreiben zu können. Dabei scheint es mehr als sinnvoll, die abgrenzende, bewahrendkonservative Semantik des Begriffs in Kontrast zu setzen mit den sich während des 19. Jahrhunderts entwickelnden Fortschritts- und Modernisierungstendenzen. Denn in der Tat ist ‚Heimat‘ zunächst einmal resistent gegen die Moderne, die sich ihrerseits völlig losgelöst von den traditionell
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markierten Vorstellungen der Heimatlichkeit entwickelt. Oder etwa doch nicht? Auffallend ist zunächst einmal der Befund, dass sich die mentale Präsenz von ‚Heimat‘ seit etwa den 1830er Jahren (also nach der konstituierenden, „experimentellen“ Phase des Begriffs) bis hinein ins 20. Jahrhundert als statisch begreifen lässt, obschon sich das „Trägermaterial“ Literatur im gleichen Zeitraum ebenso modernisiert und vervielfältigt wie die handelnden Subjekte in Geschichte, Gesellschaft, Ökonomie. Es ist bislang nicht hinreichend geklärt, wie sich eine allmählich entwickelnde Dichtung einem von ihr selbst geschaffenen Begriff, der sich der Modernisierung entzieht, anpasst, ihn womöglich aktualisiert oder gegen ihre eigenen Entwürfe sogar festschreibt. Das hier präsentierte Forschungsprojekt zeigt in mehrfacher Hinsicht mögliche Wege zur Auflösung dieses Dilemmas. Dem Befund, dass “ein zunehmendes Verlangen nach ‚Heimat‘ als ‚Realie‘ […] eine Positivierung und Popularisierung des Konzepts […] einleitet“1, ist unbedingt zuzustimmen. In der Tat ließe sich diese Tendenz zum Erreichen einer „real erfahrbaren“ Ebene von ‚Heimat‘ durch die Berücksichtigung anderer, außerliterarischer Diskurse klarer fassen, wie Oesterhelt vorschlägt, etwa mittels der Integration von „Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, Pädagogik oder Volkskunde“2. Der Begriff gewinnt dadurch zwar an Tiefenschärfe, was seine Präsenz im sozialen Denken und Handeln betrifft, allerdings gerät damit die eigenständige Qualität literarischer Beiträge zunehmend aus dem Blickwinkel. Das ist hingegen kein Mangel, im Gegenteil, damit gewinnen wir einen noch genaueren Blick auf den konstruktivistischen Charakter des ‚Heimatbegriffs‘. Je mehr Aspekte berücksichtigt werden, um die Wirkung eines Ideologems zu beschreiben, desto differenzierter kann sein Überleben betrachtet, seine Funktionsweise beschrieben werden. Allerdings führt die Ausweitung der Aspekte in ein Dilemma hinsichtlich der literarischen Quellen – und damit zu literarhistorischen Grundproblemen. Was war zuerst da? Die Vorstellung ‚Heimat‘ oder seine literarischen Ausformungen? Romane, Erzählungen, Gedichte, Dramen oder der Wunsch nach der Inszenierung eines Gemeinschaft stiftenden Begriffs? Nach der Sichtung der popularisierenden literarischen Quellen in Form von
1
Vgl. den Beitrag von Anja Oesterhelt, S. 204.
2
Vgl. den Beitrag von Anja Oesterhelt, S. 202.
K OMMENTAR | 215
Anthologien oder Literaturgeschichten scheint eher der Diskurs die literarischen Texte vereinnahmt zu haben. Deshalb ist es notwendig, den Blick umzukehren: Welches Potential bietet Literatur, um gegebenenfalls einen Diskurs auch zu generieren? Immerhin besteht eine Wechselwirkung zwischen mentalen Dispositionen und ästhetischen Präsentationen… Um diese Fragen zu beantworten, ist es wohl notwendig, einen weiteren Horizont zu umgreifen und die Quellenauswahl breiter anzulegen. Natürlich würde eine Konzentration auf die Textsorten der Dorfgeschichte oder einer „Heimatliteratur“ (wie etwa bei Ganghofer, Löns oder Frenssen; damit verlassen wir aber allmählich das 19. Jahrhundert) nur das bestätigen, was bisherige Forschung an Ergebnissen beitragen konnte. Die populären Textsammlungen sowie eine regionale Literaturgeschichtsschreibung habe ich bereits in einigen Publikationen ausgewertet, hier ist nichts Neues mehr zu erwarten. Der Vorschlag Oesterhelts geht nun dahin, „nach den literarischen Konzeptualisierungen von ‚Heimat‘ zu fragen, die sich nicht selbst in einen explizit regionalen Kontext stellen“.3 Dabei ist es ihr wichtig, die Unterscheidung von ‚Hoch‘- und ‚Trivialliteratur‘ zu vermeiden (da sie diese Differenzierung als Produkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts begreift) und unbeschadet von Textsorten, Präsenz auf dem zeitgenössischen literarischen Markt und politisch-diskursiver Zuordnung eine Quellenbreite vom Ende des 18. Jahrhunderts (Jung-Stilling) bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Clara Viebig) zu untersuchen. Was auf den ersten Blick recht eklektizistisch anmuten mag, erweist sich jedoch insofern als vielversprechend, da gerade die aufgeführten Autorinnen und Autoren in ihren Werken besonders offensichtlich die auseinanderdriftenden (?) Diskurse philosophischer, juristischer, ökonomischer oder theologischer Ausprägung zu verbinden suchen. Mehr noch, die Auswahl von (zumindest zeitweise) kanonisierten Schreibenden vermag die Rolle „etablierten“ Schrifttums im Vergleich mit den populären oder als populär intendierten Werken genauer zu beleuchten. Dies erscheint gerade vor dem Hintergrund einer Diskussion um literarische Kanones (so wandelbar diese auch sein mögen!) als wesentlicher Aspekt, da mit der möglichen Festschreibung bestimmter Werke immer auch die Tendenz zur Fixierung der damit verbundenen Mentalitäten und Diskurse einhergeht. So rückt eine ganz präzise zu bestimmende Bipolarität in den Mittelpunkt des Interesses: In wie fern trägt eine diskursive
3
Vgl. den Beitrag von Anja Oesterhelt, S. 208.
216 | ANDREAS SCHUMANN
Ausrichtung – in unserem Falle „Heimatlichkeit“ – zur Vorauswahl für eine Aufnahme in den literarischen Kanon bei? Können vielleicht sogar Veränderungen im Verständnis von ‚Heimat‘ im Zusammenhang mit den entsprechenden, in den Texten angebotenen Semantisierungen Gründe für den Verbleib im Kanon liefern oder für ein Ausscheiden einzelner Werke aus ihm bereitstellen? Für eine definitorische Klärung des Begriffs ‚Heimat‘ wäre zwar nur am Rande etwas gewonnen, für die Explikation der sozialen und mentalen Wirkungen dieses Vorstellungsbereiches hingegen sehr viel. Eventuell – und das wäre in der Tat zu hoffen – würden wir das oben beschriebene Henne-Ei-Dilemma genauer verstehen lernen und für eine literarische Historiographie nutzen können. Wie hingegen die Einzeldiskurse in ihren spezifischen Gesetzmäßigkeiten in die literarische Praxis deskriptiv überführt werden können, ist eine der spannendsten methodischen Herausforderungen, auf deren Ergebnisse wir uns freuen können. Einzig diskutabel erscheint mir in den Ausführungen Oesterhelts, dass „‚Heimat‘ nicht als ‚Erfindung‘ oder ‚Konstrukt‘ verstanden werden“4 muss, da „ ‚Heimat‘ […] immer zugleich Erfahrungsraum und Imaginationsraum“5 sei. Den „Erfahrungsraum“ klar zu bestimmen, ist wohl kaum ohne weiteres möglich, da zu befürchten steht, dass eine ‚Erfahrung‘ von ‚Heimat‘ nur das nachvollzieht, was in der ‚Imagination‘ von ‚Heimat‘ bereits hypostasiert wurde. Selbst wenn Oesterhelt mit dem Rahmen von Migrationsbewegungen und Briefen als zugehörigen Quellen während des 19. Jahrhunderts eine plausible Möglichkeit benennt, dieses Problem in den Griff zu bekommen, so wage ich doch die Vermutung, dass die entsprechenden Briefe mit ihren Betonungen von Heimatlichkeit oder Heimweh aus einem historischen Moment stammen, der der Konstitutionsphase der Vorstellung von ‚Heimat‘ nachgeschaltet ist. Dann wäre die Abbildung eines ‚Erfahrungsraums Heimat‘ wiederum als Ausfluss des Begriffes, als Produkt eines bestehenden Diskurses zu verstehen. Allerdings stehen wir damit wieder am Anfang der Diskussion – und zwar einer nicht enden wollenden. Es ist eine Art Nominalismusstreit, der sich hier auftut; bekanntermaßen ist ein solcher nicht letztgültig zu entscheiden, Auffassung steht gegen Auffassung. Gerade deshalb bleibt eine
4
Vgl. den Beitrag von Anja Oesterhelt, S. 210.
5
Vgl. den Beitrag von Anja Oesterhelt, S. 210.
K OMMENTAR | 217
Vorstellung wie ‚Heimat‘ wohl noch auf längere Sicht produktiv für wissenschaftliche Kontroversen und gerade deshalb sind möglichst viele Sichtweisen und die Dispute darüber fruchtbringend und notwendig.
Konzeptionen von Heimat und Heimatlosigkeit in der deutschsprachigen Exilliteratur nach 1933 G REGOR S TREIM
Wenn man davon ausgeht, dass die Rede von der Heimat immer der Erfahrung eines Verlusts oder Mangels entspringt und auf etwas Abwesendes verweist, dann müsste sie im Exil in besonders häufig anzutreffen sein. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass Heimat bzw. Heimatferne einer der wichtigsten Topoi der Exilliteratur von der Antike bis zur Gegenwart ist. Man könnte sogar sagen: Die Referenz auf die ferne Heimat konstituiert das Exil in der Literatur. In der (umstrittenen) antik-römischen Herleitung von exil aus ex und solum (Boden) wird dieser Bezug auch etymologisch hergestellt.1 In der Exillyrik ist die Klage über den Heimatverlust und das Heimweh jedenfalls allgegenwärtig. „Boden der Heimat [natale solum, G.S.] zieht durch unerklärliche Süße uns alle / an und läßt es nicht zu, daß man nicht seiner gedenkt“, heißt es in Ovids Briefen aus der Verbannung (in der Übersetzung von Wilhelm Willige).2 „Ich sehne mich nach dem blauen Rauch, / Der aufsteigt aus deutschen Schornsteinen“, schreibt Heine
1
Vgl. Doblhofer, Ernst: Exil – Eine Grundbefindlichkeit des Individuums seit der Antike, In: Haarmann, Hermann (Hrsg.): Innen-Leben. Ansichten aus dem Exil. Ein Berliner Symposium, Berlin 1995, 13-40, hier S. 19.
2
Ovidius Naso, Publius: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistula ex Ponto. Übertragen von Wilhelm Willige, München 1990, S. 35 f.
220 | GREGOR STREIM
in Deutschland, ein Wintermärchen, eine aus der antiken Exildichtung bekannte Metonymie für die Heimstätte (Rauch) zitierend.3 Und mit dem Vers „Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm“, bekräftigt Brecht in den Svendborger Gedichten 1938 seine Entschlossenheit, nach Deutschland zurückzukehren.4 Die häufig vorkommende Konnotation von Heimat mit Leben und Heimatferne mit Tod findet sich etwa bei Max Herrmann-Neiße: „Das Gastland kann die Heimat nie ersetzen, / hat mich sein Frieden freundlich auch bedacht. / Gefangen fühlʼ ich mich in fremden Netzen / und um das Lebenselement gebracht.“5 Das Exil – diese These soll im Folgenden skizzenhaft ausgeführt werden – begründet aber nicht nur eine besondere Intensität und Häufigkeit, sondern auch eine besondere Art und Weise der Rede von der Heimat. Heimat wird im Exil tendenziell anders konstruiert und reflektiert als im ‚Heimatland‘ selbst, was bereits daran deutlich wird, dass man Exilliteratur gewöhnlich nicht als Heimatliteratur bezeichnet. Man könnte dies einfach mit dem besonderen, räumlich verrückten Standort der Reflexion erklären. Zwar verweist die Rede von der Heimat immer auf etwas Imaginäres, auf etwas zeitlich und räumlich Abwesendes, im Exil wird dies jedoch besonders bewusst. Während die konservative und völkische Heimatliteratur auf die moderne Erfahrung der Identitätsbedrohung dadurch reagiert, dass sie die imaginäre Heimat – kompensatorische Vorstellungen sozialer Bindung und geschichtlicher Herkunft – an einen natürlichen oder politischen Raum – Dorf, Landschaft, Region oder Vaterland/Nation – zu knüpfen versucht,6 kann Heimat von Exilanten auch als etwas prinzipiell NichtOrtsgebundenes reflektiert werden: als psychische Befindlichkeit, als personale oder kulturelle Identität, als religiöse, geistige oder politische Zugehörigkeit. So etwa, wenn die deutsche Sprache und Kultur von Heine im
3
Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München 1971, S. 634.
4
Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. v. Werner Hecht u.a., Bd. 12, Berlin u.a. 1988, S. 81.
5
Herrmann-Neiße, Max: Gesammelte Werke, hrsg. v. Klaus Völker, Bd. 4, Frankfurt/M. 1981, S. 500.
6
Vgl. Schuhmann, Andreas: Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914, Köln u.a. 2002, bes. Kap. 2. Vgl. dazu a. den Beitrag von Anja Oesterhelt in diesem Band.
K ONZEPTIONEN VON H EIMAT UND H EIMATLOSIGKEIT | 221
Pariser Exil als ‚geistige Heimat‘ und das Leben in der fremdsprachigen Umgebung entsprechend als „geistige[s] Exil“ verstanden werden.7 Die Exilsituation ermöglicht damit zugleich eine Metareflexion über Heimat, insofern hier implizit oder explizit die verschiedenen Möglichkeiten der Konstruktion von Heimat zur Debatte stehen. Dies ist jedoch nicht allein mit der räumlichen Trennung des Ortes der Rede vom Herkunftsland zu erklären. Die kritisch-reflexive Distanz resultiert auch und vor allem aus den besonderen, politischen Gründen für diese Trennung, nämlich der Ausweisung, Verbannung bzw. Vertreibung. (Das lateinische exilium bedeutet die Verbannung oder den Verbannungsort.8) Aufgrund des Umstands, dass der Exilant durch Mächte innerhalb seines Heimatlands aus diesem vertrieben worden und ihm das Recht auf das Leben am Herkunftsort genommen worden ist, wird Heimat zugleich zum Gegenstand einer politischen (und kulturpolitischen) Auseinandersetzung. Das Exil vermittelt die Erfahrung, dass Heimatzugehörigkeit kontingent, nämlich von juristischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen sowie von Zuschreibungen, Selbst- oder Fremdidentifikationen abhängig ist. Besonders eklatant wird dies, wenn die Exilierung – wie im Fall der aus Nazi-Deutschland Vertriebenen – mit einer offiziellen Aberkennung der Heimatzugehörigkeit einhergeht bzw. mit der Durchsetzung eines propagandistischen Konzepts von Heimat, das die Exilanten als von vornherein heimatlos – nämlich ‚jüdisch‘, ‚internationalistisch‘ oder ‚kosmopolitisch‘ – definiert. In diesem Fall kann es im Exil zur Entwicklung alternativer, konkurrierender Konzepte von Heimat kommen. So begründete beispielsweise der deutsch-jüdische Lyriker Karl Wolfskehl seine Nicht-Rückkehr nach Deutschland 1946 in einem Brief damit, dass er, „der Jude“ und „der deutsche Dichter, den die Heimat verstieß“, sich jetzt „mit größerem Recht wie früher“ als „Bürger der Welt“ verstehe.9 Und er verwehrte sich dabei gegen Vorwürfe anderer Exilanten, in der Ferne die Liebe zur Heimat vergessen zu haben und in diesem Sinne ‚abtrünnig‘ geworden zu sein:
7
Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 4, S. 124.
8
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart 1958, 12. Halbband, S. 1683.
9
Wolfskehl, Karl: Absage an die Heimat, In: Winkler, Michael (Hrsg.): Deutsche Literatur im Exil 1933 bis 1945. Texte und Dokumente, Stuttgart 1977, S. 424427, hier S. 424 f.
222 | GREGOR STREIM
„Diese Heimat [das nationalsozialistische Deutschland, G.S.] hat [...] den deutschen Dichter verbannt, zum Landfremden, ja zum Urfeind gemacht, sein Wirken schändlich zerbrochen, sein Wort verschüttet. [...] Wer wurde richtig und unausweichlich abtrünnig? Waren es nicht jene [...], die unbedenklich oder vom Taumel erfaßt zu dem übergingen, nein, überrannten, der, Widersacher des Geistes, [...] mit billigster, trivialster Verführung alles sich zutrieb, was geschwächt war, haltlos, ohne Ge10
sicht!“
Wolfskehls Bemerkung weist auf ein Spezifikum der Exilerfahrung zur Zeit des Nationalsozialismus hin, nämlich die politische Funktionalisierung und Ideologisierung des Heimatbegriffs, bei der Heimat als völkische und nationale Zugehörigkeit und Gefolgschaft definiert wurde. Schließlich kommt in der Exilsituation noch ein weiterer Faktor hinzu, der den Blick auf bzw. die Konzeptualisierung von Heimat entscheidend verändert, und dies ist die Erfahrung der kulturellen Alterität. Indem der Exilant zwischen die Kultur seiner Herkunft und die seines Exillandes gestellt ist, wird die Frage nach der Heimatzugehörigkeit von ihm notwendigerweise auch als eine der sprachlich-kulturellen Zugehörigkeit reflektiert, ja wird Heimat selbst als etwas verstanden, das zuerst und vor allem im Medium der Sprache und insbesondere in der Literatur existiert. Darauf lassen sich dann unterschiedliche Strategien und Praktiken der Heimatbewahrung, des Heimatwechsels – der Akkulturation im Exilland – oder auch der bewusst gewählten Heimatlosigkeit begründen, wodurch Heimatzugehörigkeit (oder Nicht-Zugehörigkeit) auch zu einem Akt sprachlich-kultureller Identifikation (oder Nicht-Identifikation) wird. Das gilt gerade für Schriftsteller, denen das Konzept der Sprachheimat besonders vertraut ist und deren prägendste Exilerfahrung oftmals die der Diskrepanz von Literatur- und Umgangssprache war. Diese wenigen, skizzenhaften Bemerkungen deuten bereits an, dass Heimat/Heimatlosigkeit nicht nur ein zentraler Topos und eine wichtige Denkfigur in der nach 1933 entstandenen deutschsprachigen Exilliteratur ist, sondern auch in der Exilliteraturforschung vielfach thematisiert wurde. Insbesondere im Rahmen der jüngeren Forschungsarbeiten zu Fragen des Kulturtransfers, der Akkulturation und Transkulturalität sowie zur deutschjüdischen Literatur sind auch die Problematisierung und die Neubestim-
10 Ebd., S. 424.
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mung von Heimat im Exil immer wieder behandelt worden.11 Es kann und soll an dieser Stelle daher kein Überblick über die zahllosen Textbelege in der Exilliteratur gegeben werden. Vielmehr soll die oben angedeutete reflexive Wendung der Rede von der Heimat im Folgenden an wenigen, exemplarisch ausgewählten Beispielen dargestellt werden. Dabei werden vier Diskurse unterschieden, in denen Heimat/Heimatlosigkeit auf je spezifische Weise konzipiert wird. Diese Diskurse sind in der nach 1933 entstandenen Exilliteratur besonders stark ausgeprägt und überlagern sich oftmals.
1. K ULTURPATRIOTISCHER D ISKURS (H EIMAT S PRACHE UND K ULTUR )
ALS
Die Identifikation von Sprache und Literatur mit Heimat – und die damit verbundene Konzeption des Exils als Sprachexil – ist ein tradierter Topos der Exilliteratur; er findet sich bei Ovid und Heine ebenso wie bei den von den Nationalsozialisten vertriebenen Autoren.12 Als Beispiel für die zahllosen, oft lyrischen Beschwörungen der Sprachheimat und des Sprachexils in dieser Zeit mag ein Gedicht von Jacob Haringer dienen, wo es heißt: „Nichts besaß ich auf Erden, nichts gab die Welt mir, / Als dich, o deutsche Sprache, du meine Mutter und meine Heimat“.13 Sprachverlust wird immer wieder als Identitätsverlust reflektiert und mit Tod konnotiert.14 Zumeist verbindet sich die Klage über die Sprachnot dabei mit dem Appell zur Bewahrung der Muttersprache und der deutschen Kultur in der fremdsprachi-
11 Vgl. dazu den kurzen Überblick in Streim, Gregor: Deutschsprachige Literatur 1933-1945. Eine Einführung, Berlin 2015, S. 194. 12 Vgl. Wegner, Matthias Wegner: Exil und Literatur. Deutsche Schriftsteller im Ausland 1933-1945, Frankfurt/M. 1967, S. 146; Streim: Deutschsprachige Literatur 1933-1945, S. 195-199. 13 Haringer, Jacob: Deutsch, In: Schlösser, Manfred (Hrsg.): An die Wand geschrieben. Lyrik der Freiheit 1933-1945, 2., verbesserte Aufl., Darmstadt 1961, S. 72. 14 Vgl. Sagmo, Ivar: „Der Schmerz ist das Auge des Geistes“. Deutschsprachige Exilschriftsteller zum Thema Heimat- und Sprachverlust nach 1933, In: Detering, Heinrich/Krämer, Herbert (Hrsg.): Kulturelle Identitäten in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a. 1988, S. 35-43, hier S. 36.
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gen Umgebung, um der Heimat auf diese Weise verbunden zu bleiben. Im Kontext der organisierten ‚literarischen Emigration‘ – also der linksbürgerlichen und sozialistischen Exilanten, die sich Mitte der dreißiger Jahre im publizistischen Kampf gegen Hitler zusammenschlossen – erhielt das Festhalten an der deutschen Sprache und Kultur jedoch eine zusätzliche, kämpferisch-politische Bedeutung. So wie in Ernst Tollers in New York auf dem ‚Deutschen Tag‘ gehaltenen Rede Unser Kampf um Deutschland (1937), wo es heißt: „Wir lieben Deutschland und wir hassen Hitler! [...] Hitler ist nicht Deutschland. [...] In Wirklichkeit kann kein Diktator einen Schriftsteller seines Landes berauben. Die Sprache ist ein lebendiger Teil der Heimat, Erde, die ihn nährt, Erde in der er wächst. [...] Der Künstler ist verantwortlich für die Werte der Kultur. [...] Solange wir emigrierten deutschen Dichter unseren Ideen treu bleiben und nicht aufhören zu 15
kämpfen, dienen wir jenem Deutschland, an das wir glauben.“
Tollers Äußerung entspricht ganz dem kulturpatriotischen Diskurs der literarischen Emigranten, die den Kampf gegen Hitler als Kampf zwischen ‚Geist und Macht‘ bzw. ,Kultur und Barbarei‘ konzipierten und sich selbst als die Repräsentanten des besseren bzw. ‚anderen Deutschland‘ verstanden. Damit versuchte man zum einen die reale Machtlosigkeit zu kompensieren und setzte zum anderen dem kulturellen Repräsentationsanspruch der Nationalsozialisten einen eigenen entgegen.16 Es sind die Exilanten, die die Kulturnation und die eigentliche deutsche Kultur repräsentieren, die von ihnen weitgehend mit dem Neuhumanismus der Weimarer Klassik gleichgesetzt wird. „Goethe und Beethoven, Schiller und Hölderlin, Bach und Büchner, Lessing und Marx“, umreißt Toller diesen Horizont.17 Das Festhalten an der humanistischen Kulturtradition begründet im Selbstverständnis der literarischen Emigration die eigene Heimatverbundenheit, während
15 Toller, Ernst: Unser Kampf um Deutschland, In: Ders.: Gesammelte Werke, hrsg. v. John M. Spalek u. Wolfgang Frühwald, Bd. 1, München 1995, S. 198209, hier S. 208 f. 16 Vgl. Koebner, Thomas: Das „andere Deutschland“. Zur Nationalcharakteristik im Exil, In: Briegel, Manfred/Frühwald, Wolfgang (Hrsg.): Die Erfahrung der Fremde, Weinheim u.a. 1988, S. 217-238; bes. S. 223. 17 Toller: Unser Kampf um Deutschland, S. 209.
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die Nationalsozialisten als heimatlos bzw. als politische und kulturelle Besatzer erscheinen. Daraus leitet sich dann der Appell ab, diese Heimat wieder zu befreien bzw. überhaupt erst herzustellen.18 Die kulturelle Konzeption von Heimat wird im Exil jedoch nicht durchgehend mit der Idee einer exklusiven Nationalkultur verknüpft; sie verbindet sich gelegentlich auch mit einer kosmopolitischen Tendenz. Beispielhaft lässt sich diese Ambivalenz bei Thomas Mann beobachten. Für Thomas Mann war eine Existenz als deutscher Schriftsteller außerhalb des deutschen Kommunikationsraums während der ersten Jahre der Naziherrschaft noch nicht denkbar. Dies war ein Grund dafür, dass er so lange zögerte, sich zur Emigration zu bekennen. Noch 1934 meinte er in seinem Vortrag Literatur und Hitler, die exilierten deutschen Schriftsteller seien „in großer Gefahr, den Kontakt mit ihrem Heimatland zu verlieren“, da ihnen „das Gefühl für deutsches Leben“ verloren gehen würde und eine „expatriierte Literatur“ auf Dauer keinen Bestand haben würde.19 Erst nachdem er sich 1936 explizit zur Emigration bekannt hatte und daraufhin aus Deutschland ausgebürgert worden war, begann er ein neues auktoriales Selbstverständnis zu entwickeln, in dem die kulturelle Identität nicht mehr an die Zugehörigkeit zur Kommunikationsgemeinschaft gebunden war. Und in diesem Zusammenhang reflektiert er auch den Begriff Heimat: „Was ist Heimatlosigkeit? In den Arbeiten, die ich mit mir führe, ist meine Heimat. Vertieft in sie, erfahre ich alle Traulichkeit des Zuhauseseins. Sie sind Sprache, deutsche Sprache und Gedankenform, persönlich entwickeltes Überlieferungsgut 20
meines Landes und Volkes. Wo ich bin, ist Deutschland.“
18 Vgl. Jakobi, Carsten: Das ‚Andere Deutschland‘ – alternativer Patriotismus in der deutschen Exilliteratur und Nationaldiskurs des 18. Jahrhunderts, In: Ders. (Hrsg.): Exterritorialität. Landlosigkeit in der deutschsprachigen Literatur, München 2006, S. 155-178, hier S. 156. 19 Mann, Thomas: Literatur und Hitler, In: Ders.: Die Forderung des Tages. Abhandlungen und kleine Aufsätze über Literatur und Kunst (= Gesammelte Werke in Einzelbänden), Frankfurt/M. 1986, S. 298-303, hier S. 300. 20 Mann, Thomas: Essays, nach den Erstdrucken textkritisch durchgesehen, kommentiert und hrsg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski, Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, S. 440.
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Anknüpfend an Heines Vorstellung des portablen Vaterlands formuliert Mann hier paradigmatisch den Gedanken, dass die Heimat des Schriftstellers, ja die Heimat überhaupt die Sprache bzw. die literarisch-kulturelle Überlieferung ist, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist. Pointiert findet sie sich auch in einem Interview Manns mit der New York Times zu Beginn seines USA-Besuchs im Februar 1938: „Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me.“21 Diese Annahme bildete die Grundlage, auf der Mann sich im amerikanischen Exil einerseits als der Repräsentant der deutschen Kultur stilisieren und andererseits die neue Rolle des Kosmopoliten und Weltbürgers annehmen konnte, der jeden beliebigen Wohnort wählen kann, ohne dabei seine Verbindung mit der deutschen Kultur zu verlieren. Der politische Charakter dieser Neudefinition von Heimat wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Emigration in der nationalsozialistischen Propaganda als Symptom mangelnder Heimatverbundenheit dargestellt und den Exilanten vorgeworfen wurde, keine innere Bindung zur (in der NS-Propaganda mit ‚Raum‘ und ‚Volk‘ konnotierten) Heimat zu haben. Diese Spannung ist auch noch in der Debatte um eine Rückkehr Thomas Manns nach 1945 spürbar, als die selbsternannten Vertreter der sogenannten ‚inneren Emigration‘, Walter von Molo und Frank Thiess, insinuierten, Manns Bleiben in den USA nach Kriegsende zeuge von einem unnatürlichen Verhältnis zur Heimat, und damit den nazistischen Vorwurf des Kosmopolitismus erneuerten.22 Mann selbst rechtfertigte sein Bleiben dagegen in einer amerikanischen Zeitung, indem er noch einmal auf die Differenz von geistig-kultureller Heimat und Wohnsitz
21 Ebd., S. 446. 22 Die Beiträge der Debatte sind dokumentiert in: Arnold, Heinz-Ludwig (Hrsg.): Deutsche Literatur im Exil 1933-1945, Bd. 1: Dokumente, Frankfurt/M. 1974. In Frank Thiess’ polemischen Artikel Die innere Emigration heißt es: „Wir erwarten keine Belohnung dafür, daß wir unsere kranke Mutter Deutschland nicht verließen. Es war für uns natürlich, daß wir bei ihr blieben. Und es würde uns sehr unnatürlich erscheinen, wenn die Söhne [...] wie ein Thomas Mann, heute nicht den Weg zu ihr fänden [...]. Ich denke mir nichts schlimmer für sie, als wenn die Rückkehr zu spät erfolgt und sie dann vielleicht nicht mehr die Sprache der Mutter verstehen würden.“ (Ebd., S. 249)
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(home) hinwies: „My home is here. After all, I am an old man and my greatest force for good is my writing.“23 Diese für Mann charakteristische Differenzierung von Heimat als Wohnort und geistig-kultureller Herkunft lässt sich auch in seiner 1949 in Frankfurt am Main und in Weimar gehaltenen Ansprache im Goethejahr finden. Darin spricht er zunächst von den USA als seiner „neuen Heimat“, dann aber von seiner auch dort stets gewahrten „Treue zur deutschen Sprache, dieser wahren und unverlierbaren Heimat, die ich mir mit ins Exil genommen und aus der kein Machthaber mich vertreiben konnte.“24 Auffällig ist dabei, dass Thomas Mann das Bekenntnis zur deutschen Kultur als Heimat nicht mehr mit der Orientierung am Konzept der Nationalkultur verknüpf. Während des Exils hatte sich auch sein auktoriales Selbstverständnis zunehmend vom Nationalen ins Kosmopolitische verschoben. Er verstand sich nun als deutschsprachiger Autor der Weltliteratur. Dies kommt auch in einem Brief an Emil Preetorius aus dem Jahr 1945 zum Ausdruck, in dem er bemerkt, das Exil sei nicht mehr wie in früheren Zeiten, ein auf „Heimkehr“ ausgerichteter „Warte-Zustand“, sondern es spiele „schon auf die Auflösung der Nationen an und auf die Vereinheitlichung der Welt“.25
2. K OMMUNISTISCHER D ISKURS (H EIMAT ALS K LASSENBINDUNG UND / ODER POLITISCHE U TOPIE ) Die von vielen bürgerlichen, aber auch sozialistischen Exilanten propagierte Konzeption der sprachlich-kulturellen Heimat musste aus marxistischer Sicht idealistisch anmuten. Tatsächlich lässt sich bei manchen kommunistischen Exilautoren ein anderer Umgang mit ‚Heimat‘ und ‚Heimatlosigkeit‘ beobachten, der auf der marxistischen Annahme basiert, dass Identität pri-
23 Zit. n. Abel, Angelika: Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration, München 2003, S. 198. 24 Mann, Thomas: Ansprache im Goethejahr, In: Ders.: Essays IV. 1945-1950 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 19.1), Frankfurt/M. 2009, S. 670-688, hier S. 670, S. 672. 25 Aus dem Briefwechsel Thomas Mann – Emil Preetorius, eingeführt und erläutert v. Hans Wysling, In: Blätter der Thomas Mann-Gesellschaft 4 (1963), S. 3-24, hier S. 11.
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mär durch die Arbeit und die soziale Gemeinschaft definiert ist. Die im Exil vielfach artikulierte Erfahrung der Heimatlosigkeit wird von hier aus als spezifisch bürgerliches Problem, nämlich als politisch-soziale Standpunktlosigkeit aufgefasst und abgewertet. Umgekehrt wird der Heimatbegriff ideologisiert und zum politischen Kampfbegriff, indem Heimat mit der Bindung an das ‚werktätige Volk‘ bzw. mit der Bindung an die kommunistische Partei gleichgesetzt wird, die nach dem Verständnis dieser Autoren allein die Interessen des Proletariats vertritt.26 Zu welchen Konflikten diese Koppelung von Heimat und Parteitreue für viele linke Exilanten in der Zeit der Trotzkisten-Prozesse und des Hitler-Stalin-Pakts führte, lässt sich an der Geschichte der sogenannten Renegaten ablesen, also der kommunistischen Exilanten, die sich in den dreißiger Jahren von der Kommunistischen Partei abwandten und im Moment des Bruchs mit der Partei quasi zum zweiten Mal heimatlos wurden bzw. in ein ‚Exil im Exil‘ gingen, wie Hans Sahl es einmal bezeichnet hat.27 Allerdings ist der Heimatbegriff in der kommunistischen Exilliteratur und -publizistik nicht ausschließlich politisch und sozial bestimmt. Kennzeichnend für die meisten kommunistischen Autoren scheint vielmehr die Tendenz zu sein, die Bindung an das Proletariat und die Partei mit der Bindung an das Heimatland, also an den Ort der Herkunft zu verknüpfen. So finden sich in der Exillyrik dieses politisch-literarischen Spektrums häufig romantisch geprägte Bilder heimatlicher Landschaften und Orte. Historisch-politisch ist dies damit zu erklären, dass kommunistische Autoren das Exil stets als vorübergehenden Zustand konzipierten und es als ihre Aufgabe ansahen, den Gedanken der Heimkehr – und damit das politische Ziel der Besiegung des Hitler-Faschismus – wachzuhalten. Darüber hinaus wird mit dieser Beschwörung der Heimatverbundenheit auch die Verbundenheit mit dem Widerstand innerhalb
26 Darauf gründete auch die spätere Ideologisierung des Heimatbegriffs in der DDR. Vgl. dazu Israel, Jürgen: „Wir schätzen sie, weil sie dem Volke gehört“. Zum Heimatbegriff in der DDR, In: Liptay, Fabienne/ Marschall, Susanne/Solbach, Andreas (Hrsg.): Heimat. Suchbild und Suchbewegung, Remscheid 2005, S. 131-143. 27 Das Exil im Exil ist der Titel des 1990 publizierten zweiten Bandes von Sahls Autobiografie, in der er seinen Bruch mit der Kommunistischen Partei im Pariser Exil wie überhaupt die Zeit des Exils als geistige Emanzipation von politischen Ideologien konzipiert.
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Deutschlands demonstriert, die ein wichtiges Element der antifaschistischen Propaganda war. „Ihr meine Freunde, die ich nie verlor, / Die mein geblieben! / [...] Ihr habt, als aus der Heimat ich verbannt, / Mich nie verlassen,“ heißt es noch rückblickend in Johannes R. Bechers An meine Freunde.28 Die Ambivalenz von psychosozialer und örtlicher Heimat lässt sich etwa in Anna Seghers Exilroman Transit (1944) beobachten, der kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Marseille spielt. Einerseits tritt die kommunistische Forderung nach Aufrechterhaltung der Heimatbindung im Exil hier deutlich zu Tage, und zwar vor allem in der Kritik an den bürgerlichen Exilanten, deren ganzes Bestreben darauf zielt, ein Visum zur Weiterreise in ein Exilland zu erhalten und Europa möglichst schnell zu verlassen. Diese ‚Transitäre‘ sind örtlich und ideologisch heimatlos und – so will es die Symbolik der Romanhandlung – damit zugleich dem Tod verfallen. Das positive Gegenbild dazu liefert der Kommunist Heinz, der mit dem Widerstand in Deutschland verbunden ist und eine Flucht aus Europa daher ablehnt. Andererseits wird Heimat im Roman weniger mit der Bindung an den Ort der Herkunft konnotiert als mit der Eingliederung in die soziale Gemeinschaft bzw. der Bindung an das einfache Volk. In dieser Weise überwindet der namenlose Held des Romans am Ende seine physische und psychisch-soziale Heimatlosigkeit – den Zustand des Transitären –, indem er eine Art Vaterrolle für den Sohn der einheimischen proletarischen Familie Binnet übernimmt und sich entschließt, in Frankreich zu bleiben und in dieser Gemeinschaft zu leben. Heimat und Heimatlosigkeit werden von Seghers dabei auf eine – gerade vor dem Hintergrund des Hitler-Stalin-Pakts äußerst problematische Weise – mit dem in der kommunistischen Rhetorik jener Zeit so wichtigen Gegensatz von Treue und Verrat verknüpft. Gleichzeitig gewinnt die Vorstellung von Heimat im Roman eine fast religiöse Dimension. Wie zentral Begriff und Thema der Heimat für kommunistische Autoren waren, lässt sich beispielhaft an Johannes R. Bechers Gedicht Heimkehr aufzeigen, eines von zahlreichen Exil-Gedichten des Autors, welche die Heimkehr nach Deutschland nach dem Ende der NS-Herrschaft thematisieren. ‚Heimkehr‘ hat hier zum einen die Bedeutung von Rückkehr, zum anderen aber auch eine utopische Dimension, insofern die Rückkehr mit der Hoffnung auf den Anbruch einer neuen Zeit einhergeht. Darauf zielen
28 Becher, Johannes R.: Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin/Weimar 1967, S. 12.
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gleich die ersten Verse: „Ich trete mit der neuen Zeit Beginn / Vor dich, mein Volk, in deinem Namen hin“.29 Darauf folgt zunächst ein Rückblick auf die Vergangenheit und eine Art Selbstbesinnung: „Ich halte über meine Zeit Gericht. Wobei mein „Schuldig!“ auch mich schuldig spricht, Daß ich zu spät hab, Deutschland, dich erkannt, Zu spät hab ich mich ganz dir zugewandt. Zu spät hat sich mir deine, meine Art Im Guten wie im Bösen offenbart. Was ich als gut erkannt – zu schwach begehrt, Zu schlecht bekämpft das, was verdammenswert.“
Becher spielt damit auf seine vorkommunistische Vergangenheit an, die als Heimatferne gewertet wird. Heimkehr steht demgegenüber für die Übernahme der politischen Verantwortung für das Land. Dies implizit aber auch, dass die Heimkehr eigentlich schon vor dem Exil – mit der Hinwendung zur kommunistischen Partei – einsetzte und das Exil von Heimatverbundenheit geprägt war: „Dir aufgetan hab ich mein Werk getan. In deinem Namen fing jedes Tagwerk an. Dir, Deutschland, galt mein einziges Bemühn, Vom Morgendämmern bis zum Abendglühn, [...] Sah fern die Berge, wie noch nie so klar, Ihr deutschen Berge wart mein Hochaltar.
29 Ebd., S. 325-328. Alle folgenden Zitate nach dieser Quelle.
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Und heimatlich klang es und mütterlich Und feierlich – nannt ich beim Namen dich!“
Indem der Exilant im Exil seine politische Verantwortung für Deutschland wachhält, erweist er seine andauernde Heimatverbundenheit, geht gerade er der Heimat nicht verloren – im Unterschied zu denjenigen, die Deutschlands Schande herbeiführten oder doch nicht verhinderten: „So blieb ich ein Jahrzwölft, trotz Spott und Hohn, / Der deutschen Heimat unverlorner Sohn...“ Bemerkenswert an Bechers Gedicht ist schließlich eine eigenartige metaphorische Verbindung des Heimkehr-Motivs mit der christlichen Ikonografie von Kreuzigung und Auferstehung: „Wenn ich auch noch so schwer darniederlag, / Warst, Deutschland, du mein Auferstehungstag.“ Die Heimkehr erscheint in dieser Perspektive als Lohn für das Leiden, das der Exilant um Deutschlands willen auf sich genommen hat, und erhält dadurch zugleich den Charakter religiöser Verheißung. Sie markiert den Beginn der neuen Zeit: „Die Stunde kam, ich wurde reich beschert, / Ein Sommertag, und ich bin heimgekehrt.“ Charakteristisch für die Texte vieler kommunistischer Autoren ist, dass Heimat als etwas erst Herzustellendes erscheint und damit immer eine latent utopische Dimension hat. Sie wird mit dem Marx’schen ‚Reich der Freiheit‘ konnotiert, der Idee einer kommunistischen Gemeinschaft und eines nicht-entfremdeten Lebens. Dass diese utopische Dimension von Heimat auch in Konflikt mit oder in Gegensatz zur Vorstellung der ideologischen Heimat in der kommunistischen Partei geraten kann, zeigt ein Blick in Ernst Blochs – im amerikanischen Exil geschriebenes – philosophisches Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, das mit dem emphatischen Ausruf ‚Heimat‘ endet. Der Kommunismus wird von Bloch darin verstanden als die „wirkliche Genesis“, die nicht der Anfang, sondern der Endpunkt der Erschaffung der Welt, also erst noch zu verwirklichen ist. Heimat wird hier vollends zur Utopie. Sie entsteht erst durch eine radikale Umbildung der Gesellschaft, die allerdings eher als Möglichkeit denn als konkrete historische Erwartung erscheint: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sie erfaßt und das Seine ohne Entäuße-
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rung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
30
Darin, dass Bloch die Realisierung der kommunistischen Gemeinschaft als Akt der Grenzüberschreitung, als plötzliche Aufhebung der Entfremdung – und nicht als Ergebnis eines historischen Prozesses – konzipiert,31 unterscheidet sich seine Rede deutlich von den Bemühungen parteitreuer kommunistischer Autoren wie Johannes R. Becher, die imaginäre Heimat doch wieder ideologisch und räumlich zu verorten. Blochs utopische Konzeption von Heimat als eines nicht vorhandenen, aber jederzeit möglichen anderen Seins entspricht in ihren Grundzügen vielmehr dem jüdisch-messianischen Denken, das im Exil insbesondere für deutsch-jüdische Autoren eine besondere Attraktivität entfaltete.
3. J ÜDISCH - RELIGIÖSER D ISKURS (H EIMAT MESSIANISCHE E RWARTUNG )
ALS
Ein demonstratives Beharren auf der Heimatverbundenheit (oft einhergehend mit dem Widerstand gegenüber einer Akkulturation im Exilland) kennzeichnet, wie gezeigt, insbesondere die Publizistik politischer Emigranten, die damit einen mit dem der Nationalsozialisten konkurrierenden kulturellen Repräsentationsanspruch erhoben und das Ziel der Rückkehr bekräftigten. Ganz anders stellt sich die Situation für diejenigen dar, die aus rassenpolitischen Gründen verfolgt und als ‚Juden‘ aus Deutschland ausgegrenzt worden waren und deren Familien und Freunde im NS-Staat ermordet wurden. Für sie brach mit der nazistischen Verfolgung aufs Neue die Diskussion der ‚Judenfrage‘ auf, also die Debatte darüber, ob eine Assimilation möglich oder überhaupt wünschenswert war. Vielen erschien es nun wieder fraglich, ja unmöglich, dass Deutschland für Juden in dem Sinne
30 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1982, S. 1628. 31 Zum Bloch’schen Utopiekonzept vgl. Voßkamp, Wilhelm: „Grundrisse einer besseren Welt“. Messianismus und Geschichte der Utopie bei Ernst Bloch, In: Moses, Stéphane/Schöne, Albrecht (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion, Frankfurt/M. 1986, S. 316-329, bes. S. 317 f.
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Heimat sein könne wie für nicht-jüdische Deutsche. Insofern überrascht es nicht, dass in den Texten deutsch-jüdischer Exilautoren die Reflexion der Heimatlosigkeit und nicht der Gedanke an eine Rückkehr in das Herkunftsland im Zentrum steht. Dies klingt auch in dem bereits zitierten Brief von Karl Wolfskehl an, in dem er bekennt, Heimat sei ihm einst „alles“ gewesen sei; seit die „Heimat zusammengebrochen“ sei bzw. ihn verstoßen habe, identifiziere er sich aber mit dem Schicksal Hiobs: „Vom Tag ab, als das Schiff vom Hafen Europas abstieß, hab ichs gewußt, gelebt, ausgesprochen, ausgeschluchzt, ausgesungen, das Zeichen, unter dem mein Leben die letzte Phase dieses Erdenganges seitdem steht. Dieses Zeichen ist mehr als ein Bild, es ist der ewig Fug des Judenschicksals. Und ich [...], fühl ich, der Mitwalter des deutschen Geistes, ich mich dazu bestimmt, das lebendige, ja das schaffende Schicksal dieses Symbols darzustellen. Seit jenem Augenblick steht alles was ich bin, was ich füge, unter dem ewigen Namen Hiob, seitdem bin ich, leb ich, erfahr ich Hiob. [...] Also hab ich, wie der Schaffende muß, den Abfall der Heimat überwunden [...].“
32
Wolfskehl reagiert auf den Abfall der Heimat – darauf, dass ihn das „Anrecht auf Heimat, auf Verwurzelung“ genommen wurde –, indem er sich in engerer Weise als zuvor mit dem jüdischen Schicksal identifiziert und nun als ‚exterritorialer‘ Dichter definiert.33 Unter den aus der jüdischen Erfahrung der Verfolgung und Vertreibung hervorgegangenen Reflexionen der Heimatlosigkeit lassen sich in der Exilliteratur zwei Varianten unterscheiden: zum einen eine religiöse Konzeption von Heimat und Heimatlosigkeit im Rückgriff auf die jüdische Tradition, wie sie in Wolfskehls Brief angedeutet und beispielhaft bei Else LaskerSchüler zu beobachten ist; und zum anderen eine psychologische und philosophische Problematisierung, wie sie sich bei Jean Améry und anderen findet, worauf später noch eingegangen werden wird. Die Besonderheit des jüdischen Diskurses resultiert daraus, dass die Erfahrung der Ausgrenzung und Vertreibung ab 1933 bei vielen deutschen
32 Wolfskehl, Karl: Absage an die Heimat, In: Winkler, Michael (Hrsg.): Deutsche Literatur im Exil 1933 bis 1945. Texte und Dokumente, Stuttgart 1977, S. 424427, hier S. 426. 33 Ebd.
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Juden mit einer Hinwendung zur jüdischen Tradition und Religion einherging, wodurch auch die Begriffe Heimat und Exil eine religiöse Semantik erhielten bzw. tradierte religiöse Bedeutungen aktualisiert wurden.34 Denn tatsächlich sind beide Begriffe in der Tradition des Judentums fest verankert, insofern die jüdische Erfahrung schon immer als eine Erfahrung der Vertreibung bzw. des Exils konzeptualisiert wurde und Juden in der Selbstund Fremdwahrnehmung mit Heimatlosigkeit assoziiert wurden. In jüdischreligiöser Perspektive bezeichnet das Exil jedoch nicht nur die historische Erfahrung des Volkes ohne Land, sondern hat immer auch eine religiösmetaphysische Semantik: So wird das irdische Dasein als Diaspora, Heimat dagegen als göttliche Heimat aufgefasst. Daher ist der Begriff Heimat im religiösen Diskurs stets mit einer messianischen Erlösungserwartung aufgeladen, wie sie auch bei Ernst Bloch anklingt. Heimatsuche und Heimatlosigkeit waren von Beginn an zentrale Themen der sich am Ende des 18. Jahrhunderts herausbildenden – mit Namen wie Moses Mendelssohn und Heinrich Heine verbundenen – deutschjüdischen Literatur, die den Emanzipationsprozess der Juden kritischreflektierend begleitete; mit dem Sieg des Nationalsozialismus, im Moment des Scheiterns der Assimilation gewann die tradierte religiöse Semantik für deutsch-jüdische Autoren jedoch eine neue Bedeutung. Im Rückgriff auf biblische Motive – wie den Auszug aus Ägypten oder die Babylonische Gefangenschaft – wurde das Exil in der deutsch-jüdischen Exilliteratur auch als spezifisch jüdische Erfahrung gedeutet. Beispielhaft lässt sich dies an Else Lasker-Schülers Prosatext Das Hebräerland (1937) beobachten, in dem die Autorin die Eindrücke ihrer aus dem Schweizer Exil heraus unternommenen Palästina-Reise verarbeitet, zugleich aber auch die in der jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte tradierte religiös-metaphysische Bedeutung von Exil aufruft. Exil bedeutet in ihrem Text auch die irdische Existenz selbst, fern der Heimat, welche bei Gott ist. Das Hebräerland ist daher weniger ein Reisebericht als eine autobiografische, religiöse und poetologische Reflexion über Heimat und Heimatlosigkeit, Ursprung und Erlösung. So überblendet die Autorin die Ein-
34 Vgl. dazu Kuhlmann, Anne: Das Exil als Heimat. Über jüdische Schreibweisen und Metaphern, In: Krohn, Claus-Dieter, u.a. (Hrsg.): Sprache – Identität – Kultur. Frauen im Exil (= Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 17), München 1999, S. 198-213, hier S. 201.
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drücke ihrer Palästina-Reise immer wieder mit Erinnerungen an die eigene Kindheit in Elberfeld und mit biblischen Bildern. Heimat wird auf diese Weise sowohl mit der imaginierten Kindheit als auch mit dem göttlichen Ursprung und damit der messianischen Vorstellung des Gelobten Landes konnotiert, für die der Name Jerusalem steht: „Jerusalem ist überall zwischen uns Menschen im Leben und im Tod. Jerusalem reicht uns die Hand, geleitet uns zu beiden Wegen. Jerusalem heißt unser Engel in jedem Lande, in jedem Erdteil – sehnen wir ihn nur herbei.“35 Jerusalem meint in Lasker-Schülers Text allerdings nicht nur die den Juden von Gott verheißene Heimat, es steht auch für die Heimat der Menschen überhaupt. Der Rückgriff auf die Bibel dient bei ihr auch dazu, die Idee des gemeinsamen Ursprunges von Judentum und Christentum zu verteidigen.36 Vor diesem religiösen Hintergrund wird die visionäre Überhöhung der aktuellen Reiseeindrücke aus Palästina verständlich. So wie die Autorin in den Kindheitsepisoden das Bild eines verlorenen Paradieses aufruft, so überblendet sie die Eindrücke des gegenwärtigen Palästina mit der Verheißung des Gelobten Landes, mit der Prophetie des himmlischen Jerusalem. Heimat lässt sich somit nicht verorten; sie existiert nur im Modus der Suche bzw. Erwartung:37 „Ich kann wohl aus Erfahrung sagen: Mir saß seit Heimathaus noch keine [Wohnung, G.S.] wirklich passend! [...] Nie ruhte mein Leib und meine Seele, seitdem ich ohne Elternhaus ein Mietsgast im fremden Steinbau. Darum habe ich es schließlich vorgezogen, in die Freiheit zu ziehen, [...]. Doch nicht jeder Mensch behauptet sich ohne Mantel. Das hat die Dichterin voraus.“
38
35 Lasker-Schüler, Else: Das Hebräerland (= Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 5), Frankfurt/M. 2002, S. 5; S. 81. 36 „Im Heiligen Lande, im Lande der Auferstehung, zu leben und zu sterben, pilgern fromme Männer und Frauen, Juden und Christen und die noch den Zeiten der Apostel treugebliebenen Judenchristen ins Hebräerland. Sie werden niemals ihre Wurzeln verleugnen, im Judentum entsprossen. Palästina – eine Einzige, Einzige Auferstehung!“ (Ebd., S. 95.) 37 Vgl. Kuhlmann: Das Exil als Heimat, S. 202. 38 Lasker-Schüler: Das Hebräerland, S. 5, S. 75 f.
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Die Heimatlosigkeit wird von Lasker-Schüler hier aber nicht nur mit einer religiösen Bedeutung versehen, nach der die wahre Heimat des Menschen bei Gott, im himmlischen Jerusalem zu finden ist. Sie wird darüber hinaus auch als die besondere Situation des Künstlers herausgestellt: Nicht jeder Mensch kann ohne Wohnung leben; die Dichterin aber vermag es! So ist das Hebräerland nicht zuletzt eine Reflexion über das Schreiben und über dichterische Produktivität. Das Nicht-Sesshaft-Werden, das Leben zwischen den Orten und Zeiten – zwischen Europa und Palästina auf der einen, zwischen Erinnerung und Offenbarung auf der anderen Seite – wird als genuin dichterische Situation begriffen. Heimatlosigkeit wird hier wie bei anderen, ihren Standort als ‚exterritorial‘ bestimmenden Autoren auch zu einer Figur poetologischer Selbstreflexion.
4. P SYCHOLOGISCH - PHILOSOPHISCHER D ISKURS (H EIMATLOSIGKEIT ALS K RISE UND B EFREIUNG ) Die Tendenz zur Universalisierung des jüdischen Exils lässt sich auch bei anderen deutsch-jüdischen Intellektuellen beobachten, die die Erfahrung der Vertreibung in philosophischer und psychologischer Perspektive reflektieren und dabei ebenfalls zu einer Aufwertung der Heimatlosigkeit gelangen. Ein Beispiel dafür bietet Hannah Arendts 1943 in den USA publizierter Aufsatz Wir Flüchtlinge (We Refugees). An die Adresse der Flüchtlinge gerichtet insistiert sie darin zunächst auf der Krisenhaftigkeit des Exils: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. [...] Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzen-trationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“
39
39 Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge, In: Ders.: Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. v. Marie Luise Knott, aus dem Amerikanischen v. Eike Geisel, Berlin 1986, S. 721, hier S. 7 f.
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Daran schließt sich eine Kritik an denjenigen jüdischen Exilanten an, die glaubten, die verlorene Heimat im anderen Land einfach durch eine „neue Heimat“ ersetzen zu können.40 Dies sei nur zu dem Preis der Verdrängung bzw. des Vergessens der Vergangenheit, der Konzentrationslager und der Toten, möglich. Arendt verbindet die Analyse der Exilerfahrung so mit einer provokanten Kritik an den jüdischen Assimilationsbestrebungen bzw. an dem unkritischen Glauben an eine Assimilation, der in ihren Augen durch die Erfahrung in Deutschland als Illusion entlarvt worden ist.41 Die Konsequenz der geschichtlichen Erfahrung könne nur der grundsätzliche Verzicht auf territoriale und politische Verortungen sein, was für sie gleichbedeutend ist mit der Anerkennung des eigenen Judentums, d.h. der Identität als Flüchtling. Diese Heimatlosigkeit wird von Arendt allerdings mit keinerlei religiöser Bedeutung aufgeladen, sondern ist ein politischutopisches Konstrukt.42 In ihrer Konzeption steht der Jude für den rechtlosen Menschen und in diesem Sinne für den Menschen an sich. Mit dem Bekenntnis zur jüdischen Existenz würde der Jude im Exil zum ‚bewussten Paria‘ und damit zum Repräsentanten des Menschlichen: „Wenn wir damit anfingen, die Wahrheit zu sagen, nämlich daß wir nichts als Juden sind, dann würden wir uns dem Schicksal des bloßen Menschseins aussetzen; wir wären dann, von keinem spezifischen Gesetz und keiner politischen Konvention geschützt, nichts weiter als menschliche Wesen.“43 Ähnlich wie Hannah Arendt analysiert auch Jean Améry das Exil in seinen in den sechziger Jahre entstandenen autobiografischen Essays Jenseits von Schuld und Sühne (1966) –insbesondere in dem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? – als traumatische Erfahrung von Heimat-, Sprach- und Identitätsverlust.44 Das Exil habe einen gelehrt, dass „in der
40 Ebd., S. 8. 41 Vgl. Barnouw, Dagmar: Der Jude als Paria. Hannah Arendt über die Unmündigkeit des Exils, In: Koebner, Thomas, u.a. (Hrsg.). Das jüdische Exil und andere Themen (= Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 4), München 1986, S. 43-61, bes. S. 46 f. 42 Vgl. Kuhlmann: Das Exil als Heimat, S. 204. 43 Arendt: Wir Flüchtlinge, S. 19. 44 Dabei muss man beachten, dass es sich um eine rückblickende Reflexion handelt, in der Améry das Exil deutlich kritischer beurteilt als noch in den dreißiger Jahren, als er die Positionen der politischen Emigration vorübergehend teilte.
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Etymologie des Wortes Elend, in dessen früher Bedeutung die Verbannung steckt, noch immer die getreueste Definition liegt“.45 Während die politischen Exilanten auf eine Rückkehr in ihre Heimat hätten hoffen können, hätten sich die jüdischen dauerhaft ausgestoßen gefühlt. Das Exil bedeutete für sie einen Heimatverlust, der auch durch eine physische Rückkehr nach Deutschland nicht mehr aufzuheben gewesen wäre: „weil niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlorenen Zeit ist“.46 Im Unterschied zu den prominenten Vertretern der literarischen Emigration, die Deutschland ihrer Gesinnung wegen verließen, es aber selbstverständlich weiterhin als ihre Heimat betrachteten, seien die anonymen jüdischen Emigranten auch kulturell heimatlos geworden. Sie hätten sich nicht an der „Illusion, sie seien die Stimme des ‚wahren Deutschland‘“, festhalten können: „Kein Spiel mit dem imaginären wahren Deutschland, das man mit sich genommen hatte, kein formales Ritual einer im Exil für bessere Tage aufbewahrten deutschen Kultur. [...] Sie verstanden besser, daß man sie heimatlos gemacht hatte, und sie konnten, da sie doch über keinerlei mobilen Heimatersatz verfügten, genauer erken47
nen, wie dringend der Mensch eine Heimat braucht.“
Améry akzentuiert zwar das Leid des Exils, die psychische, soziale und kulturelle Nichtzugehörigkeit und Unsicherheit,48 auch er wertet diesen Zustand aber in gewisser Weise auf, nämlich als Befreiung von Illusionen und als Gewinn von Erkenntnis. Der Exilant erscheint in dieser Sicht als Experte für Heimatlosigkeit, als jemand, der ein besonderes Bewusstsein für die die labilen Strukturen menschlicher Identität entwickelt hat. Arendts und Amérys Essays sind nur zwei Beispiele für einen bis in die Gegenwart wirkungsmächtigen intellektuellen Diskurs, in dem die Situation des Exils als exemplarischer Fall menschlicher Unbehaustheit reflektiert
45 Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne (= Sämtliche Werke, Bd. 2), Stuttgart 2002, S. 87. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 93 48 Vgl. dazu a. Doll, Jürgen: „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“ Verfolgung, Heimat und Exil bei Jean Améry, In: Ders. (Hrsg.): Exils, migrations, créations, Vol. 3, Paris 2008, S. 181-191, hier S. 182 f.
K ONZEPTIONEN VON H EIMAT UND H EIMATLOSIGKEIT | 239
wird. Dabei können zum einen die psychischen, traumatischen Auswirkungen hervorgehoben werden. So wie von Hilde Spiel in ihrem Vortrag Psychologie des Exils (1975), in dem sie den Heimatverlust rückblickend als tiefe psychische Verstörung, als „Angst“ und „durch nichts zu mildernden Hoffnungslosigkeit“, als „Gemütskrankheit“ und „Psychose“ charakterisiert, in ihm zugleich aber auch „eine Modellsituation der Gegenwart“ erkennt.49 Zum anderen kann Heimatlosigkeit als conditio des modernen Intellektuellen begriffen werden, wodurch der Exilant zu einer Schlüsselfigur der Moderne wird. So wie in Theodor W. Adornos größtenteils noch im Exil entstandenen Minima Moralia (1951), die den Untertitel Reflexionen aus dem beschädigten Leben tragen. Wenn Adorno schreibt, „jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen“, dann bezieht sich das nicht nur auf die Situation der Emigranten nach 1933, sondern auch auf die Situation des Intellektuellen in der modernen, durch umfassende Entfremdung gekennzeichneten Welt, welcher nur noch mit kritischer Distanz begegnet werden kann.50 Diese Universalisierung des (jüdischen) Exils, die sich auch bei poststrukturalistischen Philosophen wie Emmanuel Levinás oder Jacques Derrida findet, kann man als wichtigen Impuls für eine grundlegende Kritik nationalistischer und metaphysischer Heimatkonstruktionen ansehen;51 man kann sie aber auch problematisieren, insofern die besondere Erfahrung der Vertreibung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus hier aus ihrem historischen Kontext gelöst und zur Projektionsfläche für eine allgemeine Erfahrung der Moderne und für das politische und ästhetische Konzept der ‚Exterritorialität‘ gemacht wird.52 Exil wird, wie der Literaturwissenschaftler Edward Said ausführt, zur Metapher für eine intellektuelle Haltung; es
49 Spiel, Hilde: Psychologie des Exils, In: Neue Rundschau 86 (1975), S. 428-439, hier S. 436 f.; S. 425. 50 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1951, S. 32. 51 Vgl. Rohlf, Sabine: Exil als Praxis – Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen, München 2002, S. 12 f. 52 Vgl. Liska, Vivian: Exil und Exemplarität. Jüdische Wurzellosigkeit als Denkfigur, In: Bischoff, Doerte/Komfort-Hein, Susanne (Hrsg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven, Berlin/Boston 2013, S. 239-255, hier S. 244.
240 | GREGOR STREIM
steht für „restlessness, movement, constantly being unsettled, and unsettling others“.53 Was bei Adorno anklingt und von Said weiter ausgeführt wird, ist die Erweiterung des Exildiskurses zu einem Diskurs über die Dichtung und den Dichter, der mit einer philosophischen und künstlerischen Aufwertung der Heimatlosigkeit einhergeht. Diese Aufwertung klingt auch in Hans Sahls Aufsatz Gast in fremden Kulturen aus dem Jahr 1964 an, in dem der Autor zu begründen versucht, warum er nach 1945 nicht dauerhaft nach Deutschland zurückkehrte: „Ich bin ein exterritorialer Mensch geworden, ich habe einen Pakt mit der Fremde geschlossen. Ich kann nicht mehr ohne sie leben, ohne dieses Gefühl, nicht ganz zu Hause zu sein, ein Gast in fremden Kulturen, ein Reisender zwischen Abfahrtzeiten. [...] – ich brauche die Distanz zu dem Land, in dem meine Muttersprache gesprochen wird, um Distanz zu mir selbst zu finden.“
54
Sahl artikuliert hier das Selbstverständnis eines exterritorialen Autors, der ‚zwischen den Kulturen‘ steht, das vor allem von Exilautoren der zweiten Generation und insbesondere von jüdischen Intellektuellen im Exil ausgeprägt wurde (und auch bei Lasker-Schüler anklingt). Die sprachliche, mentale und räumliche Position ‚zwischen den Kulturen‘ wird dabei zur Bedingung der schriftstellerischen Existenz erklärt. Theoretisch ausformuliert wurde diese Konzeption unter anderen von George Steiner in seinem Aufsatz Exterritorial (1971). Gegen die romantische Idee von dem in der Muttersprache verwurzelten Dichters wird von Steiner das Konzept des sprachlich ‚unbehausten‘, heimatlosen Dichters gestellt, für das der exilierte Autor einsteht, der aus seiner Sprache vertrieben wurde. Die Erschütterung der Identität durch die Konfrontation mit einer anderen Umgangssprache, durch Sprachwechsel oder Zweisprachigkeit erscheinen in dieser Perspektive nicht als Einschränkung, sondern als neue Möglichkeit, insofern der Autor
53 Said, Edward: Intellectual Exile: Expatriates and marginals, In: Bayoumi, Moustafa/Rubin, Andrew (Hrsg.): The Edward Said Reader, London 2001, S. 368-381, hier S. 373. 54 Sahl, Hans: Gast in fremden Kulturen, In: Ders.: Der Mann, der sich selbst besuchte. Die Erzählungen und Glossen, hrsg. v. Nils Kern/Klaus Siblewski, München 2012, S. 324-327, hier S. 324 f.
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nun zwischen Stilen und Traditionen zu wählen vermag und so eine neue geistige und künstlerischen Freiheit erlangt – eine These, die üblicherweise mit Verweisen auf Beckett, Pound oder Nabokow zu untermauern versucht wird. So wird die Heimatlosigkeit bzw. Exterritorialität des Exilanten bei Steiner zum Merkmal des modernen Autors schlechthin: „In einer quasi barbarischen Zivilisation, die so viele heimatlos gemacht [...] hat, müssen die, die Kunst hervorbringen, wohl selbst unbehauste Dichter und Wanderer quer durch die Sprachen sein.“55 Eine ähnlich emphatische Aufwertung der Heimatlosigkeit im Zeichen der Postmoderne findet sich bei Vilém Flusser, der Heimat in direkten Gegensatz zur Freiheit stellt und „Wurzellosigkeit“ mit „schöpferischer Sinngebung“ konnotiert.56 Diese ‚Philosophie der Heimatlosigkeit‘ jedoch reicht weit über den hier gesteckten historischen Rahmen hinaus und verlangte eine eigene Darstellung.
55 Steiner, George: Exterritorial, In: Ders.: Exterritorial. Schriften zur Literatur und Sprachrevolution, Frankfurt/M. 1974, S. 17-27, hier S. 27. 56 Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin/Wien 2000, S. 109. Vgl. a. Flusser, Vilém: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, In: Ders.: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Bensheim/Düsseldorf 1992, S. 247-264.
Kommentar von Karsten Gäbler
Die mit dem Begriff des Exils fast schon verschleiernd bezeichnete Gewaltausübung berührt eine Problematik, die sich trotz vielfältiger räumlicher Bezüge nur unzureichend mit geographischen Begriffen einfangen lässt. „Exil“ kann als Kürzel für einen Ort stehen, meint zugleich aber einen psycho-sozialen Zustand. „Exilierung“ bezeichnet den Prozess einer räumlichen Ausweisung, verweist im selben Maße jedoch auf die subjektive Erfahrung der Entfremdung. Und „Heimatlosigkeit“ ist oberflächlich betrachtet der Mangel eines privilegierten Lebensraums, kann aber auch als ein bestimmter Habitus beschrieben werden. Sowohl der Begriff des Exils als auch dessen Komplementärkonzept der Heimat eröffnen also einen Assoziationsraum, in dem sich Geographisches und Nichtgeographisches vermengen. Worauf Gregor Streim in seinem Text aufmerksam macht, ist der Umstand, dass die Kategorie der Heimat im literarischen Exildiskurs in einer Form verfügbar wird, die auf den ersten Blick überhaupt keine Bezüge zur räumlichen Dimension mehr zu haben scheint. An die durch das Exil sichtbar gemachte Leerstelle treten statt örtlicher Bezüge kulturelle Identitäten, religiöse und politische Zugehörigkeiten oder fluide Existenzweisen. Diese nicht auf räumlicher Verortung gründende Auffassung von Heimat rekonstruiert Streim am Beispiel von vier Exildiskursen. Die Rekonstruktionsarbeit Streims befreit Heimat und Exil vom RaumBias und öffnet den Blick für die feinen Unterschiede im Heimatdiskurs. Gleichwohl können aus der Analyse – so lautete mein Plädoyer – noch weiter reichende Schlüsse gezogen werden als der Text sie anbietet. Was im Exildiskurs nämlich sichtbar wird ist nicht nur, wie prägnant herausgearbeitet wird, eine Dichotomie von räumlichen und nicht-räumlichen Heimat-
244 | KARSTEN GÄBLER
konzepten, sondern auch die Unterscheidung eines „racinistischen“1, d.h. eines auf Wurzelbeziehungen abhebenden Modells, von einem Modell, das Kontinuität und Stabilität gerade durch Entwurzelung sucht. Diese zwei Unterscheidungen, so das in der hier gebotenen Kürze zu entfaltende Argument, sind zwar nicht unabhängig voneinander, gleichwohl sind sie nicht deckungsgleich. Darüber hinaus, so möchte ich argumentieren, bleibt die räumliche Vorstellung von Heimat und Exil auch in den sich davon zu emanzipieren suchenden Diskursen ein nicht vollständig abzuschüttelndes Deutungsmuster. Um das Problem der Inkongruenz von Raumdenken und „Racinismus“ sowie die Relikte raumbezogenen Denkens im Exilzusammenhang zu verdeutlichen, will ich im Folgenden die von Streim identifizierten Diskurse aus der Perspektive eines Sozialgeographen kommentieren. Der kulturalistische Diskurs wird mit dem Verweis auf Thomas Mann gewissermaßen als Prototyp des Metadiskurses über Heimat und Exil dargestellt. Er ist ferner ein Diskurs, der im Reden über Literatur bzw. Literaten Heimat zum Gegenstand macht, weniger im Modus des Literarischen selbst. (Ob oder inwiefern dieser Umstand für das Ergebnis von Bedeutung ist, das wäre Anlass einer eigenen Untersuchung). Heimat wird hier im ideengeschichtlichen Anschluss an Wilhelm von Humboldt – „Die wahre Heimath ist eigentlich die Sprache.“2 – als Kultur neu codiert. Bemerkenswert am kulturalistischen Diskurs ist in geographischer Hinsicht, dass Orts- oder Raumbezüge in diesem Modell zwar nicht an erster Stelle bei der Erklärung von Heimatphänomenen stehen, allerdings auch nicht vollständig suspendiert werden können. Der kulturalistische Diskurs setzt die Vorstellung einer verortbaren kulturellen Gemeinschaft beispielsweise nicht außer Kraft – „Where I am, there is Germany“, wird Thomas Mann immer wieder zitiert3 –, aber er knüpft die Teilhabe daran nicht mehr an körperliche Kopräsenz und ein Vor-Ort-Sein. Streim spricht konsequenterweise dann auch von einem „deutschen Kommunikationsraum“, dem
1
Vgl. Sloterdijk, Peter: Der gesprengte Behälter, In: SPIEGEL Spezial 6/1999, S. 24-29, hier S. 24.
2
Humboldt, Wilhelm von: Briefe an eine Freundin. Erster Theil, Leipzig 41850, hier S. 315.
3
Mann, Thomas zit. in o.A.: Mann finds U.S. Sole Peace Hope, In: New York Times v. 22. Februar 1938.
K OMMENTAR | 245
sich Mann bis kurz vor der Ausreise in die Vereinigten Staaten verpflichtet fühlt. Was jenseits der räumlichen Bezüge im kulturalistischen Diskurs aufscheint, ist darüber hinaus eine klassische Vorstellung von Heimat, die man mit dem Literaturwissenschaftler Rainer Guldin das „botanische Paradigma“ nennen könnte4. „Botanisch“ deshalb, weil es dabei – ganz wie bei den Pflanzen und ihren Wurzeln – um eine existenzielle Beziehung von Individuen zu ihrer Umwelt geht. Wenn mit Thomas Mann Sprache und Literatur zur lebensnotwendigen Umwelt (oder eben Heimat) werden, dann ist damit nicht nur gemeint, dass Kultur in einem allgemeinen Sinne existenziellen Charakter hat, sondern es ist damit auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, nämlich der eigenen Kultur impliziert. Es ist wichtig zu betonen, dass dieser Aspekt des Heimatdenkens nicht notwendigerweise räumlich ausgelegt werden muss – es wird damit zunächst nur ein existenzieller Nexus von Pflanze und Wurzel bzw. Subjekt und Kultur behauptet. Auch der kommunistische Diskurs operiert mit prima facie ganz ähnlichen Argumentationsmustern. Die Stelle der nicht-örtlichen Heimat nimmt hier – „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ – die transnationale Arbeiterklasse bzw. die Kommunistische Partei als existenzielle Bezugsgröße ein. Dass sich, wie Streim am Beispiel der kommunistischen Exilautorinnen und -autoren ausführt, auch ein solches Modell nicht ganz von räumlichen Bezügen lösen kann und immer wieder auf den Nationalstaat als geographische Bezugsgröße verweist, macht auf eine grundsätzliche Ambivalenz der kommunistischen Bewegung aufmerksam. Als klassenspezifischer Identifikationsanker sind die Kommunistischen Parteien nämlich einerseits auf die Transnationalität der Arbeiterbewegung angewiesen. Andererseits jedoch sind sie – „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ – nationalstaatlich organisiert und beziehen ihre politische Handlungsfähigkeit aus der Containerraumlogik territorial verfasster Nationen. Auf diesen Umstand machen im Übrigen bereits Marx und Engels im Kommunistischen Manifest aufmerksam: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fer-
4
Guldin, Rainer: Politische Landschaften, Bielefeld 2014, hier S. 219; Guldin bezieht die Figur von Walter, François: Les figures paysagères de la nation. Territoire et paysage en Europe (XVIe-XXe siècle), Paris 2004, hier S. 304ff.
246 | KARSTEN GÄBLER
tig werden.“5. Nichtsdestoweniger wird von den Zeitgenossen Marx’ und Engels’ eine potenzielle Bedrohung der jungen Nationalstaaten durch ein zentrifugal wirkendes Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft reflektiert. Dies zeigt etwa die Anklage des deutschen Journalisten Wilhelm Heinrich Riehl, der der Arbeiterklasse eine „Vaterlandslosigkeit“ attestiert und sie – durch und durch pejorativ – als ein Volk charakterisiert, „welches sich nicht auf der Landkarte unterbringen lässt und doch existiert, dessen Nationalität darin besteht, keine zu haben […]“ (Riehl 1851, 274). Die hier implizierte Gefahr, die von der Arbeiterklasse ausgeht, speist sich also primär aus den Widerständen einer eindeutigen Verortung, oder anders gesagt, aus ihrer Nicht-Geographizität. Die für das Heimatdenken wohl aufschlussreichsten Überlegungen entfaltet Gregor Streim am Beispiel des jüdisch-religiösen Diskurses, dessen Übergänge zum psychologisch-philosophischen fließend sind. Diese beiden Spielarten eines alternativen Heimatdiskurses sind daher von besonderem Interesse, als sie nicht nur – wie etwa im kulturalistischen Diskurs – den Übergang räumlicher zu psycho-sozialer Heimat beinhalten, sondern auch den Übergang von „botanischen“ oder „racinistischen“ Heimatkonzepten zu fluiden oder dynamischen. Von besonderem Interesse sind diese Übergänge einerseits, weil hier das Verhältnis von räumlich gedachter und nicht-räumlich gedachter Heimat geradezu umgekehrt wird. Formuliert Thomas Mann beispielsweise seine Idee der Kultur als Heimat nach dem Vorbild der örtlichen Heimat (Kultur ist wie ein Vaterland), wird mit der religiös-metaphysischen Auffassung eine ursprüngliche Heimatbeziehung zu Gott beschrieben, in deren Licht die räumlichen Heimaten der irdischen Welt bestenfalls mimetischen Charakter haben. Nicht mehr die weltliche Raumerfahrung steht hier Pate für das Heimatdenken (wie in den allermeisten Kontexten, in denen von Heimat die Rede ist), sondern die Gotteserfahrung. Territorialität bzw. die räumlichen Beheimatungspraktiken der irdischen Welt erscheinen dann nur als ein nachgelagertes und temporäres Substitut. Zum zweiten wird mit der Aufwertung der Heimatlosigkeit als künstlerische und intellektuelle Freiheit im philosophisch-psychologischen Diskurs ein Gegenmodell zum (raumbezogenen wie nicht-raumbezogenen) „Raci-
5
Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, In: MEW, Bd. 4, Berlin 1959 [1848], S. 459-493, hier S. 473.
K OMMENTAR | 247
nismus“ entworfen und es wird – mit Vilém Flusser gesprochen – zugleich die „geheimnisvolle Verwurzelung zu einer obskurantischen Verstrickung, die es jetzt wie einen gordischen Knoten zu zerhauen gilt“6. Der von Streim am Beispiel Hans Sahls, Jean Amérys oder George Steiners rekonstruierte Diskurs sucht Heimat also paradoxerweise gerade in der Heimatlosigkeit – das Leben mit gekappten Wurzeln wird so zur wahren Verwirklichung der Humanität. Mit den zuvor entwickelten Unterscheidungskategorien lässt sich dieses Modell nun nicht mehr nur als nicht-örtliches, sondern auch und insbesondere als nicht-botanisches Heimatdenken charakterisieren. Wie folgenreich ein solches Modell der auf Dauer gestellten Migration für das Heimatdenken ist, lässt sich erahnen, wenn man sich die Implikationen seines Gegenentwurfes vor Augen hält. Wo sich nämlich „Racinismus“ und Raumdenken vermählen, wird aus der Heimatbeziehung eine Vertikalbeziehung zum Boden, wird aus Raum schnell homogener „Kulturraum“, wird aus dem Umstand, Heimat zu haben, sogleich eine normativ besetzte „Heimatfähigkeit“. Paradigmatisch finden wir solche Argumentationsmuster in den Biologismen der nationalsozialistischen Zeit. So etwa postuliert der Pflanzensoziologe Heinz Ellenberg in einem 1941 veröffentlichten Aufsatz einen Zusammenhang von „Entwicklungsgrad“ und „Standortbindung“: „Auf primitiver Stufe sind die Ansprüche des Menschen unbestimmt und leicht zu befriedigen; ein Feuerloch, ein Lager, ein Dach kann er in den verschiedensten Landschaften in ähnlicher Weise anlegen. Er ist einer Pflanze von wenig spezialisiertem Bau zu vergleichen, welche viele verschiedene Standorte einnehmen kann und diese mit ebenso primitiven Pflanzenarten nach dem Zufall teilt. Je höher aber diese Pflanze organisiert ist, je enger ihre Lebensansprüche begrenzt sind, desto fester ist sie an einen bestimmten Standort gebunden […].“
7
Der Schritt von der Wurzelmetapher zum Bild vom „Unkraut“, das überall zu wachsen vermag, ist mit der unheilvollen Verbindung des botanischen
6
Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994, hier S. 18.
7
Ellenberg, Heinz: Deutsche Bauernhaus-Landschaften als Ausdruck von Natur, Wirtschaft und Volkstum, In: Geographische Zeitschrift 47/2 (1941), S. 72-87, hier S. 84.
248 | KARSTEN GÄBLER
und des raumbezogenen Modells nur noch ein kleiner: Die „Primitiven“, das sind die Heimatlosen.8 Mit dem Vorrang der Vertikalbeziehung werden Containerräume dann – und hier gewinnt der Exildiskurs eine beunruhigende Aktualität – nicht nur symbolisch geschlossen. Mit diesen kursorisch bleibenden Hinweisen will ich meinen Kommentar abschließen. Es dürfte mit Gregor Streims Beitrag deutlich geworden sein, dass wir dem Exildiskurs ein Bewusstsein dafür verdanken, dass Heimat trotz aller räumlichen Einschreibungen nicht per se auf Ortsbezüge hinauslaufen muss. Was darüber hinaus zumindest in Konturen sichtbar geworden sein mag, sind die Begründungsmuster der gewaltförmigen Exilierung – diese verweisen nämlich weder ausschließlich auf die räumliche Formatierung von Heimat noch auf ein existenzielles Verwurzelungsbedürfnis von Menschen9, sondern auf die Zusammenkunft beider im geographischen Biologismus. Einen solchen jedoch nicht gleich in jeder Form raumbezogener Heimatvorstellung zu vermuten und eine Sensibilität für die argumentativen Feinheiten des Heimatdiskurses zu entwickeln, das könnte Aufgabe einer Sozialgeographie der Heimat sein.
8
Vgl. Guldin: Politische Landschaften, S. 21.
9
Vgl. Weil, Simone: Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber, München (1956), hier S. 71.
Autorinnen und Autoren
Chizzali, Michael, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar. Costadura, Edoardo, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Literaturwissenschaft (Französische und Italienische Literatur) am Institut für Romanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gäbler, Karsten, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialgeographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Haedrich, Martina, Prof. Dr., Professorin i.R. für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena. Hellwig, Frank H., Prof. Dr., Direktor und Professor des Instituts für Spezielle Botanik mit Herbarium Haussknecht und Botanischem Garten der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Kleeberg-Hörnlein, Sylvia E., Dr., Kultur- und Bildungshistorikerin und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Mettele, Gisela, Prof. Dr., Inhaberin des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
250 | AUTORINNEN UND AUTOREN
Oesterhelt, Anja, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Pauly, Walter, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie sowie Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Reimann, Gregor, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Ries, Klaus, apl. Prof. Dr., Professor der Neueren Geschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Schmoll, Friedemann, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Volkskunde (Empirische Kulturwissenschaft) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Schumann, Andreas, Prof. Dr., Professor am Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache der LudwigMaximilians-Universität München. Seifert, Manfred, Prof. Dr., Professor für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Streim, Gregor, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Wermke, Michael, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB). Wiesenfeldt, Christiane, Prof. Dr., Professorin für Musikwissenschaft und Lehrstuhlinhaberin für Historische Musikwissenschaft, insbesondere der Musik des 19. Jahrhunderts am Institut für Musikwissenschaft WeimarJena der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar.
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