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German Pages 365 [362] Year 2020
Das Dorf
Gerhard Henkel
Das Dorf Landleben in Deutschland – gestern und heute
4. Auflage
Inhalt Vorwort
9
Das alte Dorf
13
Vom Leben in der »guten alten Zeit«
14
Die Vorgeschichte des modernen Dorfes vom Mittelalter bis 1800
Auf dem Sprung in die Moderne
30
Das Dorf um 1800
Das moderne Dorf
Müller, Schneider, Schuster, Schmied
35
81
Von der Blütezeit des traditionellen Dorfhandwerks
Wirtschaft und Versorgung Einführung
Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt
37
86
Handwerk und Gewerbe auf dem Land
38
von 1950 bis heute
Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind?
Die neue Lebensader vieler Dörfer
39
Der ökonomische Wandel des Landes
Tourismus als Alternative zu wirtschaftlicher Verarmung
Wasser, Energie, Verkehr, Datenübertragung
von 1800 bis heute
Vom »kleinen« Bauern zum »großen« Landwirt
97
Der hohe Standard an technischer Infrastruktur
43
Turnhalle und Tennisplatz statt Postamt und Polizei
Von der Selbstversorgung zum marktorientierten
102
Verluste und Gewinne der öffentlichen Grundversorgung
Unternehmen
Von schlechtem Wetter und guten Böden
Der Kampf um den letzten Dorfladen
49
Die natürlichen Voraussetzungen der Landwirtschaft
Vollernter, Melkroboter und GPS
»Einer für alle – alle für einen!«
Die Fortschritte der Landtechnik
111
Dörfliche Genossenschaften
Der Trend zum Pendlerdorf
59
Neue Aufgaben einer multifunktionalen Landwirtschaft
Ein Forsthaus steht im Wald, ein Sägewerk im Dorf Zum Wandel der Forst- und Holzwirtschaft
Die Überwindung des »hölzernen Zeitalters«
106
Probleme der privaten Grundversorgung
53
Vom Nahrungsmittel- zum Energieproduzenten
71
Von der Übernutzung des Waldes zur nachhaltigen Forstwirtschaft
Der Wald ist für alle da!?
90
75
Die heutigen gesellschaftlichen Aufgaben des Waldes
115
Traditionelle und moderne ökonomische Dorftypen 65
Bevölkerung – Soziales – Kultur Einführung
Die Kraftquellen des Dorfes
123
167
Traditionelle und neue Vereine
124
Von Schützenfesten, Rock- und Deelenkonzerten Der fast ständige Aderlass des Dorfes
Feste und Kulturveranstaltungen auf dem Land
125
Waidmannsheil und Halali!
Ausmaß und Ursachen der Landflucht
Das Dorf als Zufluchtsort
177
Die Jagd als traditionsreicher Teil des Landlebens
130
Ist das Landleben »in«?
Zuwanderungen von Städtern, Gastarbeitern
184
Die anhaltende Beliebtheit dörflicher Lebensstile
und Aussiedlern
Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung?
Ein fruchtbarer Austausch
134
Die Bevölkerungsentwicklung auf dem Land
189
Die Entwicklung der Stadt-Land-Beziehungen
Dorfbewohner als Globetrotter
von 1800 bis heute
Alt- und Neudörfler, Ober- und Unterschicht
194
Das Dorf im Austausch mit der Welt
138
Zur sozialen Gliederung der ländlichen Bevölkerung
Macht das Landleben glücklich?
143
Die Kerneigenschaften »Ortsbezogenheit« und »Zufriedenheit«
Dörfliches Sozialleben – Idylle ganz ohne Tücken?
148
EXKUR S
Die Entwicklung von Dorfgemeinschaft und
Wie die Kunst das Landleben darstellt
Nachbarschaftshilfe
Das Dorf in Literatur, Malerei und Film
Kein Dorf ohne Kirche!?
153
Einst Dorfmittelpunkt, heute zunehmender Bedeutungsverlust
Immer mehr Dörfer ohne Schule!
160
Die Entwicklung der staatlichen Bildung auf dem Land
198
172
Gestalt der Kulturlandschaft Einführung
Vom Erfahrungsschatz Freilichtmuseum
206
Die Präsentation historischer Wohn- und Wirtschaftsformen
208
Der Beginn der Dorfauflösung? Vom Reiz der Dorflage
260
263
Zunehmender Leerstand von Gebäuden in den Dorfkernen
209
Die Einbettung der Dörfer in die Landschaft
Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt
213
Dorfpolitik
Zur Größe und Definition ländlicher Siedlungen
Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf
Einführung
218
268
270
Über die Vielfalt der deutschen Dorfformen
Menschen, Vieh und Ernte unter einem Dach
225
Die traditionellen Bauernhaus- und Gehöftformen
So kam die Farbe ins Dorf
Deutschland – ein Flickenteppich!
276
Die drei ländlichen Raumtypen
234
Der lange Weg zur bäuerlichen Landwirtschaft
Von der Vielfalt der Flurformen
Bodenreform und Kollektivierung
285
Agrarpolitik in Ostdeutschland von 1945 bis 1990
245
Modernisieren und »Wachsen oder Weichen«
Die neuen Wohnsiedlungen am Dorfrand
»Ein Kahlschlag geht durchs Land«
281
Agrarpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert
239
Der dörfliche Garten
Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss?
289
Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland
248
Zum Wandel der traditionellen Dorf- und Flurformen Die ländliche Kulturlandschaft
Wie staatliche Raumordnung die ländliche Entwicklung
Abstufungen des Ländlichen
Die herkömmlichen regionalen Baumaterialien
Ausbruch aus dem alten Kern
271
steuert
230
Von Nutzen und »paradiesisch«
»Wir geben keine Region auf!«
252
von 1945 bis heute
Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert Aufgaben und Entwicklung der Flurbereinigung
294
Von der Dorf- und Landesverschönerung
Ein knappes Fazit
298
339
Die Entwicklung vom späten 18. bis zum frühen
Mehr Licht als Schatten
20. Jahrhundert
Die erste Modernisierungswelle der Dörfer
303
Ein Blick nach vorn
Dorfsanierung von 1950 bis 1980
Eine Trendwende in der Dorfmodernisierung
308
345
Argumente dafür, dass das Dorf nicht sterben darf
Ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung von 1980 bis heute
Vom Blumenschmuck zur Lebensqualität
312
Anhang
Der Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«
Vom Schultheiß zum Bürgermeister
347
316
Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung
Literaturverzeichnis
auf dem Land
Sachregister
355
Ortsregister
359
Freiwillig, verpflichtend oder übertragen
321
Aufgaben und Spielräume der ländlichen Kommunal-
Anmerkungen
politik
Bildnachweis
Der Kampf um dörfliche Selbstbestimmung
327
Kommunale Gebietsreformen und die Autonomie des Dorfes
Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung
333
Zwei Szenarien zur Entwicklung des ländlichen Raumes
340
Das deutsche Dorf heute und ein Blick nach vorn
Impressum
361 364
365
348
Vorwort
zur 4. Auflage
Nach acht Jahren kann dieses Buch über das deutsche Dorf
menfassende Auflistung von Argumenten, die die große
bereits in die 4. Auflage gehen. Die gute Resonanz erfreut
Bedeutung von Dorf und Land für Staat und Gesellschaft
natürlich Autor und Verlag. Mehr als 300 Buchbesprechun-
deutlich machen. Mit neuen aussagekräftigen Fotos und
gen sind bisher erschienen, weit überwiegend mit einer po-
Graphiken wurden die Texte unterstützt und bereichert.
sitiven und zum Teil begeisterten Bewertung. Einige Re-
Bei der Aktualisierung der Daten hat mich Dr. Astrid Herr-
zensionen haben das Prädikat Standardwerk zum deut-
mann tatkräftig unterstützt, dafür sage ich ihr herzlichen
schen Dorf vergeben. Der Autor hat seit dem Erscheinen im
Dank! Vereinzelt mussten wir wie bei jeder neuen Auflage
Herbst 2011 mehr als tausend Zuschriften und Anrufe er-
feststellen, dass aussagekräftige Statistiken sich nicht im-
halten, mit vielfachen Danksagungen und Vortragseinla-
mer zeitlich fortsetzen lassen, da andere Bewertungskrite-
dungen, aber auch wertvollen Vorschlägen für inhaltliche
rien eingeführt oder Spezialforschungen nicht weiterge-
Ergänzungen sowie Hinweisen auf regionale und lokale
führt wurden.
Besonderheiten. Hunderte von Lesern beklagen die von ih-
Am bewährten formalen Aufbau des Buches mit seinen
nen beobachteten Missstände wie die Verluste ihrer Schule,
60 kurzen Kapiteln, die alle für sich separat lesbar sind,
der eigenen Gemeinde und Kirche, des letzten Gasthofs
wurde festgehalten. Vor allem wurden auch die vielfach ge-
und Ladens. Sie machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer
lobten knappen Zusammenfassungen zu Beginn der Kapi-
Dörfer und Kleinstädte und berichten häufig auch von Re-
tel belassen. Ein Kommentar: Man kann das Buch zunächst
spektlosigkeit und fehlender Unterstützung der Entschei-
auch im Schnelldurchgang mit diesen Summaries lesen.
der in den urbanen Zentralen von Staat und Gesellschaft
Ein anderer: Die kurzen Einführungen sind wie Kurzkri-
gegenüber dem Land. Die vielen Stimmen aus den Dörfern
mis, die sich dann beim ruhigen Weiterlesen langsam auf-
haben meinen Erfahrungsschatz bereichert und nicht zu-
lösen.
letzt auch ihren Niederschlag in diesem Buch gefunden.
Herzlich danken möchte ich auch dem Theiss/WBG -
In die 4. Auflage sind mehrere inhaltliche und formal-
Verlag, der nicht nur die dargestellten Text- und Bilderwei-
gestalterische Erweiterungen und Verbesserungen einge-
terungen mit einem notwendigen neuen Umbruch ermög-
gangen. Inhaltlich wurden neue Textpassagen eingefügt
licht hat, sondern auch zum stattlichen Hardcover mit
zu Themen wie Agrarpolitik und Dorfwettbewerb, Dorf-
Schutzumschlag der 1. und 2. Auflage zurückgekehrt ist.
kultur und Heimatbewusstsein, neue Studien zu Gebiets-
Auch die beigefügte Deutschland-Karte mit den eingetra-
reformen und wachsenden Demokratieverlusten. Die Auf-
genen Orten und Landschaften der zahlreichen Text- und
lösung von Dorfpfarreien durch deutsche Bischöfe und die
Bildbeispiele wurde erneuert und wie bereits in der 1. und
damit ausgelösten Proteste der Gläubigen, die Regionale
2. Auflage getrennt in Nord- und Süddeutschland in den
Baukultur sowie moderne Dorfromane werden ebenso the-
Vorsatz des Buches aufgenommen. Der vom Leser sehr ge-
matisiert wie die zunehmende Liebe der Bevölkerung zum
schätzte Inhaltsreichtum hat nun wieder eine optimale
Landleben. Um die Kraft und Vielfalt der dörflichen Akti-
Entsprechung in der schönen Buchform gefunden.
vitäten aufzuzeigen, wurden zahlreiche konkrete Beispiele
Gerhard Henkel
neu eingefügt. Am Ende des Buches findet sich eine zusam-
Fürstenberg/Westfalen im März 2020
Das Dorf
9
Vorwort
zur 1. Auflage
Das Dorf wird geliebt – von Alt und Jung, von Städtern und
er in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende darstellt, die
Landbewohnern. Was fasziniert die Menschen am Dorf? Ist
allgemein als Übergang von der klassischen Agrargesell-
es die Naturnähe und das Leben mit den Jahreszeiten? Ist es
schaft zur modernen Industriegesellschaft bezeichnet wird.
die Schönheit der in Jahrhunderten gewachsenen Kultur-
Bei der historischen Betrachtung steht der von mir und vie-
landschaft? Die Überschaubarkeit, die Ruhe und das schein-
len Lesern noch erlebte Wandel des Dorfes von 1950 bis
bar einfache Leben? Ist es die Dichte der sozialen Beziehun-
heute im Mittelpunkt. Insgesamt soll die Vielfalt des Land-
gen oder das Festhalten an Traditionen und alten Werten?
lebens dargestellt werden: seine Wirtschaft und Bevölke-
Offenbar ist das Dorf für viele ein Gegenprogramm zur
10
rung, seine kulturellen, sozialen und ökologischen Werte –
immer schneller ablaufenden Modernisierung, Virtualisie-
und nicht zuletzt geht es um die politische Behandlung des
rung und Globalisierung in Wirtschaft, Wissenschaft und
Dorfes durch die große und kleine Politik. Als Einleitung
Kultur. Ein Lebensraum, der verstanden wird und der Si-
zu verstehen ist die stark geraffte Übersicht über das Dorf
cherheit gibt. Ein Traditionsspeicher für Kultur, Religion,
vom Frühen Mittelalter bis zur Zeitenwende um 1800, so-
Werte und »normales Leben«. Ein Rückzugsraum, der die
zusagen der »geschichtliche Vorlauf« des modernen Dorfes.
gewachsenen Strukturen wie Familie, Nachbarschaft, so-
Wer über das Dorf schreibt, versucht die Quadratur des
ziales Engagement und Gartenkultur bewahrt und an die
Kreises. Es gibt über 35 000 deutsche Dörfer: Keines ist
nächste Generation weitergibt.
dem anderen gleich. Erheblich sind die Unterschiede nach
Ist das Dorf also ein Garten Eden, das Paradies vor dem
Größe, topographischer und regionaler Lage, historischer
Sündenfall? Keineswegs! Das Dorf hatte und hat seine Stär-
Entwicklung, Wirtschaftsschwerpunkten, Urbanisierungs-
ken und seine Schwächen. Manches, was gut war, ist heute
grad oder aktuellen Dynamiken und Sorgen. Dennoch ha-
nicht mehr da. Manche Nachteile aus früheren Zeiten sind
ben die unterschiedlichen Dorf-Individuen viele Gemein-
verschwunden. Viele Neuerungen haben Fortschritte ge-
samkeiten. Diese typischen Eigenschaften des Dorfes stehen
bracht, manche jedoch gleichzeitig auch Nebenwirkungen.
hier im Vordergrund. Damit jedoch nicht nur das typische,
Dieses Buch will das Dorf nicht verklären, sondern zeigen,
sondern auch das individuelle Dorf zur Geltung kommt,
wie vielfältig das Landleben und die ländliche Kulturland-
sind mehrere Hundert konkrete Dorfbeispiele aus allen
schaft war und ist.
Teilen des Landes angeführt und beschrieben. In über hun-
Für viele Menschen – gerade in den großen Städten – ist
dert Originalzitaten kommen darüber hinaus Bauern, Bür-
das Dorf zunehmend ein unbekanntes Wesen. Im öffentli-
germeister, Vereinsvorsitzende, Minister, Schriftsteller,
chen Bewusstsein spielt der ländliche Raum generell eine
Dorfplaner, Wissenschaftler und zahlreiche Dorfbewohner
geringere Rolle, als ihm eigentlich zusteht. Politik, Wirt-
zu Wort. So entsteht ein Gesamtbild aus typischen und in-
schaft, Kultur und Medien haben ihre Zentralen in den
dividuellen Merkmalen des deutschen Dorfes.
großen Städten und dominieren die Meinungsbildung von
Angesichts seiner inhaltlichen Breite kann dieses Buch
dort aus. Somit ist die Perspektive auf das Dorf in der Regel
nicht alle Themen erschöpfend behandeln, es muss sich
eine Fernsicht, die politische, wissenschaftliche und medi-
stets auf wichtige Merkmale und Prozesse beschränken. So
ale Behandlung des Landes oft eine Fremdsteuerung.
war es während des Schreibens immer wieder schmerzhaft,
Dieses Buch beschreibt und erklärt das heutige Dorf. Um
Sätze wegzulassen, die noch genauer erklären oder andere
die Gegenwart besser zu verstehen, werden darüber hinaus
Facetten aufzeigen. Daher wird es Leser geben, denen die
in knapper Form die gravierenden Veränderungen seit etwa
Texte zu wenig ausführlich sind (tatsächlich könnte über
1800 skizziert. Der Zeitpunkt um 1800 wurde gewählt, weil
jedes der 60 Kapitel ein dickes Buch geschrieben werden).
Vorwort
Andere hingegen werden sich über die knappen Ausfüh-
der »subjektiven« des Dorfbewohners mischt. Bei wichtigen
rungen freuen, die verkürzen und das Wesentliche darzu-
Fragen der ökonomischen, politischen und gesellschaft-
stellen versuchen. Mein großes Anliegen ist es, dem Leser
lichen Dorfentwicklung habe ich mich deshalb nicht ge-
das Dorf auch optisch gut zu präsentieren. Über 300 aus-
scheut, Stellung zu beziehen.
sagekräftige Fotos, Grafiken und Karten veranschaulichen
Abschließend möchte ich allen danken, die zum Gelin-
den jeweiligen Text. Das Buch kann somit auch über diese
gen dieses Buches beigetragen haben. Dem Theiss Verlag
Abbildungen »gelesen« werden. Die hier versuchte Annä-
und seinen Mitarbeitern für die Annahme meines Konzep-
herung an das Dorf wird in 60 überschaubare »Kurzge-
tes und die gute Betreuung und Gestaltung. Meiner gan-
schichten« gefasst.
zen Familie für ihr Interesse und die ständige Unterstüt-
Mit dem Motiv, ein für jedermann verständliches und
zung während der dreijährigen Arbeit am Manuskript.
doch wissenschaftlich fundiertes Dorfbuch zu schrei-
Danken möchte ich auch allen Fachleuten und Engagier-
ben, verbindet sich ein zweites Anliegen dieses Buches. Es
ten des ländlichen Raumes, deren Kenntnisse und Erfah-
möchte die große und unterschätzte Bedeutung der Wirt-
rungen mir durch zahllose Briefe und Gespräche zugute-
schafts- und Lebensform Dorf für den Staat und die Gesell-
kamen. Nicht zuletzt danke ich den zahllosen Dorfbewoh-
schaft herausstellen und um Respekt und Anerkennung da-
nern aus allen Teilen Deutschlands, die mir begegnet sind,
für werben. Nicht nur die Stadt, auch das Dorf ist ein Er-
für unzählige Informationen und Antworten auf meine
folgsmodell der europäischen Kulturgeschichte.
Fragen. Viele dieser Gespräche haben ihren unmittelbaren
Grundlage dieses Buches ist die jahrzehntelange Be-
Niederschlag in diesem Buch gefunden.
schäftigung mit dem ländlichen Raum in Mitteleuropa
Ich hoffe, mit diesem Buch möglichst viele Leser zu er-
und einigen Nachbarländern. Forschungs- und Informati-
reichen und auch zu erfreuen. Naturgemäß sind in einem
onsreisen haben mich in alle Regionen Deutschlands und
thematisch so weit gefassten Buch wie diesem Unzuläng-
sicherlich mehrere Tausend Dörfer geführt. Eine Haupt-
lichkeiten kaum zu vermeiden. Wenn dem aufmerksamen
quelle meiner Kenntnisse ist jedoch mein eigenes Leben auf
Leser Mängel auffallen sollten, bin ich ihm für eine Mittei-
dem Land, das mir von Geburt an bis heute täglich neue Er-
lung sehr dankbar.
fahrungen bringt. So liegt es auf der Hand, dass sich in die-
Gerhard Henkel,
sem Buch die »objektive« Sichtweise der Wissenschaft mit
Fürstenberg/Westfalen im Sommer 2011
Das Dorf
11
Das alte Dorf
Der Kupferstich von Johann Friedrich Henning präsentiert das Dorf Rixdorf bei Berlin um 1800. Dorf und Landleben erscheinen hier als eine Idylle. Das Bild des schönen alten Dorfes prägt bis heute unsere Vorstellungen.
Vom Leben in der »guten alten Zeit« Die Vorgeschichte des modernen Dorfes vom Mittelalter bis 1800
Die Entwicklung des deutschen Dorfes vom Frühen
Jäger, Sammler und Fischer meist nur von kurzer Dauer.
Mittelalter bis zum Beginn des Industriezeitalters im
Dies änderte sich aber an der Wende zur Jüngeren Steinzeit
frühen 19. Jahrhundert ist äußerst vielschichtig und
vor etwa 7000 Jahren: Die Menschen rodeten Wald und bau-
von starken regionalen und lokalen Unterschieden
ten Getreide an. Als Ackerbauern und Viehzüchter wurden
geprägt. Dennoch lassen sich einige »rote Fäden«,
sie nun sesshaft und legten dauerhafte Siedlungen an. Da-
epochale Brüche und langfristige Veränderungen
mit schlug in gewisser Weise eine zweite Geburtsstunde des
ausmachen. Diese werden hier in knapper Form darge-
Dorfes – in der Wissenschaft spricht man von der »Neoli-
stellt: Wie verlief die Siedlungsgeschichte mit ihren
thischen (d. h. jungsteinzeitlichen) Revolution«. Vor etwa
unterschiedlichen Landnahme-, Ausbau- und Wüstungs-
2000 Jahren, während der Römischen Kaiserzeit, gab es
phasen? Wie die Entwicklung von Landwirtschaft und
im heutigen Deutschland bereits mehrere Tausend kleine
dörflichem Handwerk? Hierbei wechselten ökonomi-
und mittelgroße Dörfer. Deren Bevölkerung hatte sich vor-
sche Konjunktur- und Krisenphasen einander ab. Gene-
wiegend in den fruchtbaren Börden- und Tallandschaften
rell war das Leben für die Masse der Dorfbewohner
angesiedelt und betrieb neben Ackerbau und Viehhaltung
von der Sorge um das tägliche Brot geprägt, die
auch bereits Handwerk und Handel.
soziale Schichtung blieb über Jahrhunderte fest. Von
Im Folgenden wird die knappe Darstellung der Dorfent-
der »guten alten Zeit« kann in weiten Phasen der Dorf-
wicklung von 500 bis 1800 n. Chr. in fünf Epochen geglie-
geschichte also nicht die Rede sein. Die Befreiung der
dert. Diese ergeben sich durch den fast regelmäßigen Wech-
Bauern aus der mehrfachen Abhängigkeit von der
sel von verschiedenartigen Ausbau- und Rückgangsphasen.
Grundherrschaft konnte trotz mancher Aufstände und
Inhaltlich geht es dabei vor allem jeweils um die Entwick-
Bauernkriege letztlich erst im 19. Jahrhundert erreicht
lung der Grundherrschaft, der Dorfgemeinde, der Gestalt
werden.
der Dörfer und nicht zuletzt der ökonomischen und sozialen Verhältnisse.
Natürlich beginnt die Geschichte des Dorfes nicht erst im Mittelalter – sie reicht bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte vor etwa 500 000 Jahren zurück. Zwar waren in der Älteren und Mittleren Steinzeit die Siedlungsplätze der
14
Das alte Dorf
Siedlungsbefestigungen spielten im Mittelalter eine wichtige Rolle. Vellberg im Hohenloher Land ist heute noch so ummauert, dass es abgeschlossen werden kann wie im 15. Jahrhundert.
500–1100 Frühmittelalterliche Landnahme und Entfaltung der Grundherrschaft
Westdeutschlands als auch nördlich der Mittelgebirge statt. Während sich im südlichen und westlichen Deutschland vor allem die Franken und Alemannen niederließen, wurden die norddeutschen Regionen vornehmlich von Sachsen
Das Frühe Mittelalter begann nach dem Zusammenbruch
und Friesen in Besitz genommen.1 Die Siedlungsgründun-
des Römischen Reiches im späten 5. Jahrhundert mit einer
gen dieser frühen Zeit lassen sich bis heute vielfach an ih-
politischen, ökonomischen und wohl auch klimatischen
ren Ortsnamenendungen ablesen und damit auch datieren.
Krisenphase. Es war eine Zeit der Völkerwanderungen: Grö-
So werden die süddeutschen »-ingen«-Orte der alemanni-
ßere Bevölkerungsgruppen wanderten aus Mitteleuropa ab,
schen Landnahmezeit und die norddeutschen »-hausen«-
zahlreiche ländliche Siedlungen wurden aufgegeben und
Orte der sächsischen Landnahmezeit zugeordnet. Bei der
ehemalige Ackerflächen wieder vom Wald eingenommen.
Siedlungsgröße des Frühmittelalters um 750 können wir
Doch die Phase der Siedlungsleere und Wiederbewal-
überwiegend von locker bebauten Weilern ausgehen.
dung dauerte nicht allzu lange. Bereits ab dem 7. Jahrhun-
In der Karolingerzeit des 8. und 9. Jahrhunderts wurden
dert kam es nach und nach zu einer Wiederbesiedlung, die
vor allem die bestehenden Siedlungen ausgebaut: Durch ei-
man als »frühmittelalterliche Landnahme« bezeichnet. Der
nen Anstieg der Bevölkerung kam es zu einer allmählichen
Neuanfang fand sowohl im »römischen« Teil Süd- und
Verdichtung bzw. »Verdorfung« der ursprünglich aufgelo-
Nicht nur Burgen und Kirchen, sondern auch Bauernhöfe und Dörfer waren im Mittelalter befestigt. Man wählte hierzu Steinmauern, Erdwälle, Holzpalisaden oder Wassergräben. Hier die Modellzeichnung eines Dorfes um 1000 n. Chr.
Das alte Dorf
15
lungen massive Steinbauten, die kleinen Festungen glichen und häufig durch ihre Lage auf einer Anhöhe besonders exponiert waren. In Notzeiten hatten die Kirchen zugleich Wehr- und Schutzaufgaben zu erfüllen. Nach Beendigung des karolingischen Siedlungsausbaus im 11. Jahrhundert dürften bereits drei Viertel aller mittelalterlichen Siedlungen in Deutschland bestanden haben. Ein Hauptkennzeichen des ökonomischen und sozialen Lebens auf dem Land im Mittelalter war die mehrfache Abhängigkeit der Bewohner von der Grundherrschaft. Basis hierfür war das Eigentumsrecht des Grundherren am Boden, den er in eigenen Gütern selbst bewirtschaftete oder an Bauern zu Lehen gab, d. h. zur Nutzung verlieh. Oberster Grundherr war der König, dem das Obereigentum an alKlöster waren Pioniere bei der Verbreitung der Glaubens-, Buch- und Agrarkultur auf dem Lande seit dem Frühen Mittelalter, hier das Kloster Eberbach im Rheingau.
lem Land zustand. Vom König gelangte das Land bereits im Frühmittelalter als Lehen in die Hände des Adels und der Kirche. Von der »Hohen Leihe« der Herzöge, Grafen, Bischöfe und Reichsäbte ging das Land nach und nach an die »Untere Leihe« der Ritter, Dienstmannen und Äbte. So bildete sich allmählich eine Lehenskette von oben nach unten heraus2 – für die Bauern blieb in der Regel nur das Nutzungsrecht am Boden. Zur Grundherrschaft über den Boden kam häufig die sog. »Leibherrschaft« hinzu. Die Bauern waren damit auch persönlich unfrei oder »hörig« bis hin zur »Leibeigenschaft«, hier gab es allerdings viele Abstufungen und große regionale Unterschiede. Zur weitesten Form der Leibeigenschaft gehörte es, dass der Bauer die Grundherrschaft nicht ohne die Erlaubnis des Grundherren verlassen durfte. Neben der Boden- und Leibherrschaft gab es in der Regel als Drittes die Gerichtsherrschaft. Der Grundherr hatte den Richter zu bestellen und zu unterhal-
Mit der Christianisierung im Frühen Mittelalter bekamen die meisten Dörfer eine Kirche. Meist waren es prächtige Bauten aus Stein, wie hier in Einhausen in Thüringen.
ten, wobei dieser häufig zugleich als Amtmann oder Schreiber der Grundherrschaft tätig war (woraus sich durchaus Interessenkonflikte ergeben konnten). Aufgrund ihrer Ab-
16
ckert bebauten Kleinsiedlungen. Die wichtigste Aufgabe
hängigkeit vom Lehen oder Lehnsgut bezeichnet man diese
der karolingischen Politik lag somit weniger in Siedlungs-
Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch als Feudalis-
neugründungen als vielmehr in der »inneren Organisation«
mus (abgeleitet vom lateinischen Wort feudum = Lehnsgut),
und Eingliederung der bestehenden Siedlungslandschaft
sie dominierte das Landleben über 1000 Jahre vom Frühen
in das Frankenreich. Das bedeutete vor allem den Bau von
Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Über Deutschland ver-
Kirchen und die Einrichtung von Pfarreien. Wichtige Pi-
teilt, entwickelten sich mindestens neun unterschiedliche
onierarbeit leisteten hierbei die Bischofssitze und Klöster,
Typen von Grundherrschaften.3
die nun in allen Regionen errichtet wurden. Die Dorfkir-
Die allmähliche Entfaltung des feudalen Agrarsystems
chen bekamen sofort einen hohen Stellenwert: Sie waren
im Frühen Mittelalter hatte verschiedene Gründe. Basis war
meist als einzige Gebäude der frühmittelalterlichen Sied-
die Einführung des fränkischen Rechts mit der Unterschei-
Das alte Dorf
Der auf einem Podium am Pult sitzende Grundherr empfängt eine Gruppe von abhängigen Bauern, um seine Ankündigungen mitzuteilen. Die Bauern haben ihr Arbeitsgerät dabei und heben als Zeichen der Ehrenbezeugung die rechte Hand (15. Jh.).
dung zwischen Obereigentum und Nutzungsrecht am Bo-
Simon Bening malte um 1540 dieses Monatsbild Juli: Es zeigt Bauern bei der Heuernte vor einem ansehnlichen Gehöft in einer harmonischen Landschaft.
Tatsächlich war das komplexe Dienst-Lehen-Verhältnis
den durch den Aufbau der Lehenskette. Durch die begin-
zwischen Grundherren und Bauern eine wechselseitige Be-
nende Intensivierung der Landwirtschaft kam es zu ei-
ziehung des Gebens und Nehmens. Die Bauern leisteten für
ner allmählichen Trennung der wichtigsten Aufgaben
ihr Nutzungsrecht am Boden Dienste und Abgaben, wäh-
der Landbewohner, die ursprünglich zugleich Bauern und
rend der Grundherr seinen hörigen Bauern zu »Schutz
Krieger waren. Auf der einen Seite entstand nun die berit-
und Schirm« verpflichtet war, z. B. in Kriegs- und Notzei-
tene Berufskriegerschicht, die bald zum Adel aufrückte,
ten. So heißt es im Schwabenspiegel, dem wichtigsten süd-
und auf der anderen Seite der Ackermann, der sich jetzt
deutschen Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts: »Wir sullen den
ganz seiner Hofstelle widmen konnte. Ein weiterer Grund
herrn darumbe dienen, daz sie uns beschirmen. Beschir-
für die Bildung der unterschiedlichen Stände waren die po-
men si uns nit, so sind wir inen nicht dienstes schuldig nach
litischen Wirren des Frühen Mittelalters – die weltlichen
rechte.«5 Allerdings sollte man das Verhältnis zwischen
und geistlichen Grundherren hatten die wichtigsten mili-
Grundherren und Bauern nicht idealisieren – es war ein
tärischen und politischen Aufgaben an sich gezogen, sodass
Machtverhältnis und keine freiwillige Arbeitsteilung. »Die
viele Bauern sich ihrer Autorität fügten und freiwillig ih-
zahlreichen Konflikte, die immer wieder zwischen Grund-
ren Schutz suchten.4
herren und Bauern über Abgaben und Dienste ausbrechen,
Das alte Dorf
17
Mit Rittern besetzte Burgen entstanden während des gesamten Mittelalters zu Tausenden auf dem Lande. Sie waren strategische Festungen von Adel und Landesherren zur Ausbreitung ihrer Macht. Hier die imposante Burg Eltz an der Mosel.
und vor allem die blutigen Bauernaufstände des Hoch- und
und herrschaftlichem Zwang. Allgegenwärtiger noch als
Spätmittelalters sind unleugbare Beweise gegen eine allzu
der Krieg waren den mittelalterlichen Bauern die Natur-
harmonische Bewertung des grundherrlich-bäuerlichen
gewalten, denen sie im Sommer und Winter, in Hitze und
Verhältnisses.«
Kälte, in Regen- und Trockenperioden ausgesetzt waren«.7
6
Doch was bestimmte nun den Alltag der Landbewohner im Frühen Mittelalter? Er war geprägt von der ständigen Sorge um das tägliche Brot. Mangel, Hunger und Elend waren an der Tagesordnung. Harte Arbeit vom Morgengrauen bis nach Sonnenuntergang bestimmte das Leben der Bauern und Bäuerinnen auf dem Feld, in Haus und Hof. Wer-
1100–1350 Hochmittelalterlicher Aufschwung – Blütezeit von Stadtgründungen und Landesausbau durch Binnenund Ostkolonisation
ner Rösener, einer der besten Kenner des mittelalterlichen Landlebens, zieht eine sehr nüchterne Bilanz, die in keiner
18
Das Hochmittelalter war eine relativ lange Phase des wirt-
Weise manchen Vorstellungen von der »guten alten Zeit«
schaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs, der das
entspricht: »Die Angst war eine Grunderfahrung des bäuer-
Land in mehrfacher Hinsicht stark verändert hat. Dies gilt
lichen Daseins; sie wirkte in die Alltagswelt hinein und
für Deutschland und weite Teile Europas. Wesentliche Ur-
prägte sie mit all ihren bedrohlichen Seiten. Das bäuer-
sachen der hochmittelalterlichen Blütezeit waren zahlrei-
liche Leben stand im Zeichen von Unsicherheit und Krank-
che Fortschritte in der Agrarwirtschaft und – wohl auch
heit, von Naturgewalten und Unglücksfällen, von Krieg
demzufolge – ein kräftiger Bevölkerungsanstieg.
Das alte Dorf
Mio. Einwohner Große Pest 1349
geschätzte Zahlen gesicherte Zahlen
75
Anfänge der Städtebildung
Ab 1000 und 1500 ändern sich die Abstände der Jahreszahlen.
Völkerwanderung
50
Pest
koloniale Wanderung
15 10 5
Jüngere Eisenzeit 2
3
200 v. Chr.
0
Römische Kaiserzeit 3,5
3,5
200 400 n. Chr.
600
3,25
3,5
Massenmigration
neue Anbaupflanzen
43
Kartoffeln, Mais
1100 –1350
1500 –1650
seit 1950
Hochmittelalterlicher Landesausbau: Binnen- und Ostkolonisation, Hochzeit der Städtegründungen
Frühneuzeitlicher Landesausbau: Bauernaufstände und 30jähriger Krieg
Dienstleistungsgesellschaft
9 3
82
70
Industrielles Städtewachstum
Dreifelderwirtschaft
20
79
Hochzeit und Stillstand der Städtebildung
Wanderung nach Osten
25
Rückzug der Pest
4
6
12 9
6,5
11
27 18 13
15 seit 1800
Agrarreformen, Industriezeitalter, Morderne
800 1000 1100 1200 1300 1400 1500
1550
1600
1650
1700
1750
1800
1850
1900
500 – 1100
1350 – 1500
1650 – 1800
Frühmittelalterliche Landnahme
Spätmittelalterliche Agrarkrise und Wüstungen
Wiederaufbau, Landesausbau und Endphase des feudalen Zeitalters
1950
2000
Phasen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung in Deutschland von 400 v. Chr. bis heute
Die Fortschritte in der Agrarwirtschaft zeigen sich in der
für diese Zeit um 50–100 % höhere Ernteerträge angenom-
Agrartechnik und Agrarverfassung sowie bei den Boden-
men. Man konnte es sich nun erlauben, statt überwiegend
nutzungs- und Betriebsformen. Eine grundlegende Verbes-
Getreide auch Obst, Gemüse und Wein anzubauen. Damit
serung der Bodenbearbeitung brachte u. a. der schollenwen-
verbesserte die Landwirtschaft ihre allmählich entstehende
dende Beetpflug, mit dem man nun tiefer pflügen konnte
Marktorientierung, außerdem wurde die Ernährung der
und der den Hakenpflug ersetzte. Das Mahlen von Getreide
Bevölkerung vielfältiger und gesünder.
wurde zunehmend durch die Errichtung von Wassermüh-
Der kräftige Bevölkerungsaufschwung des Hochmittel-
len erleichtert. Hinsichtlich der Bodennutzung wurden die
alters lässt sich an Zahlen festmachen. Im ersten Jahrtau-
älteren extensiven Bewirtschaftungsformen wie Zweifel-
send war die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland
derwirtschaft oder Feldgraswirtschaft im 12. und 13. Jahr-
zwischen 3,0 und 3,5 Mio. Einwohnern nahezu stagniert.
hundert durch die Dreifelderwirtschaft abgelöst: Mit der
In den folgenden 300 Jahren bis 1300 stieg die Einwoh-
Abfolge Wintergetreide – Sommergetreide – Brache konnte
nerzahl dann rapide von 3,5 auf 9,0 Mio. an (s. Abb. oben).9
nun der Bracheanteil auf ein Drittel der Ackerfläche zu-
Dieser Bevölkerungsanstieg führte zu mehreren kräftigen
rückgedrängt werden. Ein weiterer betriebswirtschaftli-
Impulsen in der Wirtschafts- und Siedlungsentwicklung:
cher Fortschritt bestand darin, dass die vielfach noch im Ei-
Verdichtung der Dörfer und Entwicklung der Dorfgemein-
genbetrieb bewirtschafteten sog. »Fronhöfe« (Herrenhöfe)
schaft, Städtegründungen, Aufschwung von Handel und
der Grundherren im Hochmittelalter weitgehend aufgelöst
Verkehr, Binnenkolonisation, Deutsche Ostsiedlung. Diese
und zu Bauernstellen umgebildet wurden. Die vielschich-
sollen im Folgenden näher erläutert werden.
tigen Fortschritte in der Agrarwirtschaft führten zu einer
Im deutschen Altsiedelland westlich der Elbe führte der
Intensivierung der Produktion und damit zu einer Steige-
Wirtschafts- und Bevölkerungsaufschwung des Hochmit-
rung der Erträge.8 Gegenüber dem Frühmittelalter werden
telalters zunächst zu einer Verdichtung der bestehenden
Das alte Dorf
19
Siedlungen. Aus locker bebauten Weilern wurden zuneh-
Ostsiedlung, sondern auch zu einer Blütezeit von Stadt-
mend Haufendörfer; in der Wissenschaft spricht man auch
gründungen. Die wachsende Produktivität der Landwirt-
von »Verdorfung«. Daneben kam es im Altsiedelland zu ei-
schaft machte es möglich, dass eine zunehmende Zahl von
ner nahezu flächendeckenden Binnenkolonisation durch
Menschen nicht mehr in der agrarischen Produktion tä-
umfangreiche Waldrodungen und Neugründungen von
tig sein musste. »Auch wenn ca. 65 % des Bevölkerungszu-
Siedlungen. Für die Landwirtschaft erschlossen wurden
wachses auf dem Land blieben, so waren die aufstrebenden
nun sogar die Hochlagen der Mittelgebirge und darüber hi-
Städte die Gewinner dieser Zeit. Sie nahmen gut ein Vier-
naus viele Sumpf- und Moorlandschaften des Tieflandes.
tel des Bevölkerungswachstums auf, sodass der Anteil der
Die Entwässerung und Besiedlung von Mooren begann im
Stadtbevölkerung von etwa 1050 bis 1400 von unter 2 % auf
12. Jahrhundert in Nordwestdeutschland durch Holländer.
12 % stieg.«11 Mit der Entfaltung der Städte entwickelte sich
Die neuen Siedlungen wurden planmäßig angelegt und
allmählich eine Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land
hatten meist linienhafte Grundrisse. Entlang einer Straße,
heraus, wobei das Land die Stadt mit Nahrungsmitteln ver-
eines Kanals oder Deiches waren die Höfe einseitig oder
sorgte und im Gegenzug gewerbliche Waren erhielt.
beidseitig in regelmäßigen Abständen aufgereiht – mit je-
In Deutschland gab es um 1150 insgesamt 40 Städte,
weils anschließenden Hofparzellen. Je nach Geländesitua-
um 1400 war die Zahl bereits auf 3000 Städte angewach-
tion entstanden so Straßen-, Anger-, Wald-, Marsch- und
sen! Nie gab es nachher eine solche Boomphase von Städ-
Moorhufendörfer, die vielfach bis heute erhalten sind.
tegründungen in Deutschland und Europa. Die meist gut
Parallel zur hochmittelalterlichen Binnenkolonisation
20
befestigten Städte boten Sicherheit und neue Bürgerrechte
im deutschen Altsiedelland kam es auch östlich der Elbe
nach dem Motto »Stadtluft macht frei«. Gemeint war damit
vom 12. bis zum 14. Jahrhundert zu umfangreichen Sied-
vor allem die Freiheit von den Abhängigkeiten gegenüber
lungstätigkeiten. Man fasst sie heute unter dem Begriff der
der Grundherrschaft, dazu kam die Chance auf nicht ag-
deutschen Ostsiedlung zusammen. Deutsche Territorial-
rare Verdienstmöglichkeiten. Allerdings waren die meisten
herren und slawische Fürsten sowie einheimischer Adel
Stadtgründungen dieser Zeit nicht mit allen »städtischen«
und Klerus riefen deutsche, holländische und flämische
Funktionen wie Verwaltung, Kultur, Gewerbe und Han-
Bauern ins Land, um Gewinne aus ihren Ländereien zu zie-
del ausgestattet, sondern hatten ihre wirtschaftliche Basis
hen und ihre Herrschaft auszubauen. Nach Schätzungen
eindeutig in der Landwirtschaft. Die Mehrzahl gerade der
folgten diesem Ruf im Hochmittelalter zwischen 200 000
hoch- und spätmittelalterlichen Stadt- und Burggründun-
und 600 000 Kolonisten und wanderten von West nach Ost.
gen war von größeren und kleineren Fürsten aus politisch-
Die angeworbenen Bauern erhielten als Anreiz für ihre
strategischen Motiven zur Abgrenzung von Herrschafts-
harte Siedlungsarbeit ökonomische und soziale Privilegien:
und Territorialinteressen errichtet worden. Obwohl in der
Sie waren rechtlich freier als im Altsiedelland und hatten
Regel mit Mauern und Toren oder Wassergräben und Wäl-
weniger Feudalabgaben und Dienste für den Grundherren
len befestigt, blieben die meisten dieser spät gegründeten
zu leisten.
Kleinstädte bis in die Gegenwart von ihrer wirtschaftlichen
10
Am Ende der hochmittelalterlichen Rodungsperiode hat-
Ausrichtung her ländliche Siedlungen. Selbst mittelgroße
te das kultivierte Land in Deutschland und in vielen Län-
Städte wie Warburg oder Ochsenfurt bezeichnete man
dern Europas einen Umfang angenommen, der später nicht
bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als »Landstädte« oder
wieder erreicht wurde. Aus manchen gerodeten Flächen
»Ackerbürgerstädte«. Die große Masse der kleineren Städte,
der Mittelgebirge und der Alpen zog sich die Landwirt-
deren Einwohnerzahlen bis heute oftmals unter 2000 ge-
schaft später wieder zurück, weil die Erträge wechselhaft
blieben sind, werden in der Wissenschaft häufig als »Titu-
und niedrig blieben. Experten sprechen hierbei von »Gren-
lar-« oder »Zwergstädte« bezeichnet. Im Sprachgebrauch
zertragsböden«, die seitdem überwiegend wieder der Wald-
der Bewohner ist für sie meist die schlichte Selbstbezeich-
wirtschaft überlassen werden.
nung »Dorf« geblieben.
Das starke Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters
Und wie stellte sich genau die wirtschaftliche und politi-
führte nicht nur zur Binnenkolonisation und deutschen
sche Lage der Landbewohner dar? Manche Historiker spre-
Das alte Dorf
Das Hohe und Späte Mittelalter waren Blütezeiten von Städtegründungen. Wichtig waren die Stadtmauern und die Stadtrechte. Der Ruf »Stadtluft macht frei« lockte viele Landbewohner in die neuen Städte. Hier das Beispiel der Kleinstadt Büdingen in der Wetterau mit seinen mittelalterlichen Befestigungsanlagen.
chen für das Hochmittelalter von einer »Blütezeit des deut-
in der Feldflur und die Dorfbefestigung durch Zäune (Et-
schen Bauerntums«. Andere wiederum stellen dies jedoch
ter) und Tore.
infrage.12 Tatsächlich dürfte es durch die stark verbesserte
Die soziale Schichtung auf dem Land war vom Frühen
Agrarwirtschaft zu einem relativ höheren Wohlstand ge-
Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert von einer Dreiteilung ge-
kommen sein. Von großer Bedeutung für das Dorf war es,
prägt. Zur zahlenmäßig geringen Ober- bzw. Herrenschi-
dass sich im Hochmittelalter nach und nach eine selbstver-
cht gehörten Adel und Klerus. Die breite Mittelschicht
waltende Dorfgemeinschaft mit eigenem Dorfrat und ei-
wurde durch die landnutzenden Bauern ausgefüllt, wo-
nem Bürgermeister entfalten konnte. Diese trat zunehmend
bei je nach Betriebsgröße zwischen oberen, mittleren und
selbstbewusst der adligen oder klösterlichen Grundherren-
unteren bäuerlichen Schichten unterschieden wird. Rela-
schicht gegenüber. Troßbach und Zimmermann bezeich-
tiv stark ausgebildet war bereits seit dem Frühen Mittelalter
nen diese Selbstorganisation der Dörfer als Gemeinden als
die meist landlose Unterschicht, die in der Regel als Land-
»epochalen« Fortschritt. Geregelt wurden u. a. Allmende-
arbeiter auf den Höfen tätig war. Der soziale Status, der auf
angelegenheiten (Allmende = gemeinschaftliches Eigen-
Herkunft und Besitz basierte, blieb über Jahrhunderte fest-
13
tum innerhalb einer Gemarkung), der Ablauf der Ackerbe-
gelegt. Eine soziale Mobilität zwischen den Schichten war
stellung, Termine der Aussaat und der Ernte, die Aufsicht
kaum möglich.
Das alte Dorf
21
1350–1500 Spätmittelalterliche Agrarkrise und Wüstungen
rungsverluste über dem Durchschnitt, da viele Dorfbewoh-
Die hochmittelalterliche Blütezeit des Landlebens nahm in
Nachfrage nach Getreide und anderen Agrarprodukten
der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein jähes Ende. Meh-
und damit zu einem Rückgang der Agrarpreise und -ein-
rere negative Ereignisse führten auf dem Land in Deutsch-
kommen. Der ökonomische Niedergang entfaltete sich
ner in die neu gegründeten Städte abwanderten. Der Bevölkerungsrückgang führte zu einer geringeren
land und europaweit zu einer Depressionsphase, die all-
ebenfalls zu einer Krise des Adels und des Feudalsystems:
gemein als »Agrarkrise« bezeichnet wird. Die wesentliche
Durch die Vermehrung gehobener Dienststellen (z. B. an
Konsequenz dieser Krise war die massenhafte Aufgabe von
den Fürstenhöfen) kam es zu einem starken Anwachsen
Dörfern und landwirtschaftlicher Nutzfläche.
der Adelsschicht und damit auch zu einer Aufsplitterung
Die spätmittelalterliche Agrarkrise hatte verschiedene
und Schwächung der Grundherrschaften.14 Die Folge war,
Ursachen – eine der wichtigsten war ein starker Bevölke-
dass viele Grundherren verarmten und ihre wirtschaftli-
rungsrückgang. Nach dem kräftigen Anstieg im Hoch-
che Basis verloren. Ein Teil des (niederen) Adels versuchte,
mittelalter ging die Bevölkerung nun um mindestens ein
sein Einkommen durch Raubzüge und Fehden zu verbes-
Drittel zurück. Hierfür verantwortlich waren Hungersnöte
sern: Es war die Zeit der Raubritter, die in allen Regionen
und Pestepidemien, die Deutschland wie Europa in mehre-
Deutschlands hordenweise die weitgehend ungeschützten
ren Wellen heimsuchten. Auf dem Land lagen die Bevölke-
Landsiedlungen und Klöster überfielen, mordeten, plünderten und in Brand setzten. Des Weiteren erhöhten die adligen Grundherren den Druck auf die Bauern, indem sie erhöhte Abgaben und vermehrte Dienstleistungen verlangten. Manche Bauern schlossen sich den Verlockungen der Raubritterzüge an (wie es im »Meier Helmbrecht« von Wernher dem Gärtner aus den späten 13. Jahrhundert eindrucksvoll beschrieben wird), viele andere entzogen sich dem steigenden Lehnsdruck durch Abwanderung in die Städte. Die ökonomische und soziale Lage der Bauern verschlechterte sich dramatisch – vor allem in dieser Zeitphase waren sie »das verachtetste Glied der Gesellschaft«.15 Äußerer und bleibender Ausdruck der spätmittelalterlichen Agrarkrise war schließlich das Massenphänomen der Wüstungen. Dieser Begriff für verlassene und aufgegebene Siedlungen findet sich bereits in den zeitgenössischen Quellen. Dort ist ebenfalls Genaues über den Zustand der damaligen Kulturlandschaft zu erfahren. Es wird berichtet von wüsten Gehöften, leer stehenden Siedlungen oder Siedlungsteilen, zerstörten und verlassenen Burgen, Kirchen und Klöstern. Auf ehemaligen Äckern wuchsen Gebüsch, Strauchwerk und schließlich Waldbäume; Gleiches galt für die aufgegebenen Ortsstellen. In der Beschreibung einer schon jahrzehntelang aufgegebenen Ortswüstung aus dem Jahr 1451 heißt es: »Locus iste K. jam desolatus est plenus arbustum habitaculum ursorum« – Nun ist auch jener Ort K. verödet, voll von Gebüsch und eine Lagerstätte für Bären.16 Die Wüstungsvorgänge trafen nicht nur die un-
Ein Dorf wird durch Raubritter geplündert und verwüstet. Die Federzeichnung um 1475–1490 vermittelt uns einen »Normalvorgang« des Spätmittelalters.
22
Das alte Dorf
delten Siedlungsplätzen. So startete das Dorf Fürstenberg auf der Paderborner Hochfläche im Jahr 1449 auf der Basis von sechs Wüstungsgemarkungen mit einer Gesamtfläche von 59 km2 und wurde schon bald zu einem Großdorf mit weit über 1000 Einwohnern. Generell ist die nach der Wüstungsperiode bis etwa 1500 gebildete neue Siedlungslandschaft bis heute weitgehend konstant erhalten geblieben. Eine weitere Folge der Wüstungsvorgänge und der Vergrößerung der Gemarkungen war eine Zunahme der Waldflächen. Viele Grenzertragsböden, die man noch im Hochmittelalter für die Landwirtschaft gerodet hatte, wurden nun wieder der extensiveren Waldwirtschaft überlassen. Die heutige Feld-Wald-Verteilung bildete sich weitgehend bereits im 15. und 16. Jahrhundert heraus. In Ostdeutschland begann im Spätmittelalter die Bildung von landwirtschaftlichen Großbetrieben: Bäuerliche Siedlerstellen wurden mehr und mehr von den Grundherren eingezogen oder nicht wieder besetzt und zu adligen Gutsbetrieben ausgebaut. Dieses Dreiständebild von 1492 zeigt die drei Stände des Mittelalters mit ihren vorrangigen Aufgaben: die Geistlichkeit (links: Gebet), Fürsten und Ritter (rechts: Schutzgewährung), Bauern (vorn: Arbeit).
1500–1650 Frühneuzeitlicher Landesausbau, Bauernaufstände und Dreißigjähriger Krieg
geschützten Agrarsiedlungen, sondern auch manche (oft gerade erst neu gegründete) Städte. Wissenschaftler schät-
Nach dem starken Bevölkerungs- und Siedlungsrück-
zen die Gesamtzahl der spätmittelalterlichen Wüstungen
gang des Spätmittelalters folgte in der Frühen Neuzeit er-
in Deutschland auf 40 000. Damit wäre knapp ein Viertel
neut eine Aufbruchphase, die aber immer wieder von Bau-
der insgesamt 170 000 Siedlungen des Hochmittelalters auf-
ernaufständen und Kriegen unterbrochen wurde. Man
gegeben worden. In manchen Regionen wie im Bereich der
spricht von Landesausbau, weil in verschiedenen Berei-
Schwäbischen Alb oder der Paderborner Hochfläche betru-
chen Erweiterungen und Verbesserungen für die Agrar-
gen die Siedlungsverluste sogar 75 %! Nur in wenigen Regi-
wirtschaft vorgenommen wurden. Zunächst ging es vie-
onen Deutschlands sind bisher keine Wüstungen bekannt.
lerorts darum, die wüstgefallenen Flächen (besonders der
Die meisten der aufgegebenen Orte haben sich im Flurna-
besseren Böden) zu rekultivieren. Darüber hinaus wurden
mengut niedergeschlagen, z. B. lebt das untergegangene
Sumpf- und Moorgebiete trockengelegt sowie Küstenland
Dorf Aspe im Flurnamen »Aspergrund« weiter.17 Von ver-
und Flussauen eingedeicht und für die Landwirtschaft ge-
lassenen Kirchdörfern sind vielfach Ruinen oder Grund-
wonnen. Im 16. Jahrhundert begann eine zweite Welle der
mauerreste bis heute erhalten geblieben.
Erschließung und Siedlungstätigkeit östlich der Oder. Der
Die spätmittelalterliche Wüstungsperiode hat die deut-
Landesausbau wurde getragen von einem starken Bevölke-
sche Kulturlandschaft in gravierender Weise verändert.
rungsanstieg. Die Einwohnerzahl in Deutschland verdop-
Die Aufgabe eines Viertels aller Siedlungen führte zu ei-
pelte sich nach dem Tiefstand um 1400 mit 6,5 Mio. Ein-
nem Konzentrationsprozess: Sie war die Basis für die Bil-
wohnern bis zum frühen 17. Jahrhundert auf 13 Mio. Ein-
dung von großen Dörfern mit großen Gemarkungen auf
wohner. Eine Intensivierung der Agrarwirtschaft wurde
den verbliebenen und in der Frühen Neuzeit wiederbesie-
u. a. auch durch den zunehmenden Verzicht auf die Dreifel-
Das alte Dorf
23
Dieses Bild Albrecht Dürers von 1494 zeigt eine Dorflandschaft in der Region Nürnberg. Im Vordergrund ist die Drahtziehermühle Großweidenmühle zu sehen. Sie kann als frühindustrieller Betrieb bezeichnet werden.
derwirtschaft zugunsten einer Fruchtwechselwirtschaft er-
linie hierfür stellte die Elbe dar.19 Westlich der Elbe – im
reicht, wobei das Brachejahr ganz wegfiel. Die Marktori-
deutschen Altsiedelland – blieb das Lehnssystem zwischen
entierung der Landwirtschaft nahm bereits im 16. Jahrhun-
Grundherrschaft und Bauern weitgehend erhalten. Östlich
18
dert deutlich zu, da die nun wieder wachsenden Städte mit
der Elbe hingegen wurden die Bauern nach und nach von
Nahrungsmitteln versorgt werden mussten. Dies kam nicht
den Grundherren aus ihren alten Nutzungsrechten heraus-
nur den Bauern zugute, sondern hatte in den Dörfern auch
gedrängt. So entstanden die in Eigenwirtschaft betriebe-
eine Zunahme des verarbeitenden Gewerbes (wie Müller
nen Rittergüter, während die ehemaligen Bauern zu Land-
oder Metzger) und des Handels zur Folge. Die Fortschritte
arbeitern wurden. Der mit dem Begriff »Bauernlegen« um-
in der Agrarwirtschaft wurden ab dem späten 16. Jahrhun-
schriebene Prozess begann im 16. Jahrhundert und endete
dert von einer zunehmenden Fachliteratur festgehalten und
erst im späten 18. Jahrhundert.
verbreitet.
24
Die innere Dorfentwicklung der Frühen Neuzeit ist ge-
In der Frühen Neuzeit kam es im Nordosten Deutsch-
kennzeichnet durch ein starkes Anwachsen der unterbäuer-
lands zu einer verstärkten Gutsbildung. Eine grobe Trenn-
lichen Schichten.20 Dazu gehörten einmal die sog. »Klein-
Das alte Dorf
stellenbesitzer«, deren Land meist am Dorfrand lag und
sem Anwachsen der dörflichen Unterschichten? In Realtei-
die nach heutigem Sprachgebrauch eine Nebenerwerbs-
lungsgebieten wurden die Betriebsgrößen durch die fort-
landwirtschaft betrieben. Danach kamen die Hausbesitzer
gesetzten Teilungen des Besitzes immer kleiner, sodass sie
ohne Land und zuletzt die Landbewohner ohne Haus- und
nicht mehr zur Ernährung eines Hausstandes ausreichten.
Landbesitz. Letztere Gruppe wohnte meist bei den Bauern
So war man zum Nebenerwerb gezwungen. In Anerben-
zur Miete. Hierzu ein Beispiel: Im Kirchspiel Belm bei Os-
gebieten mit geschlossener Hofübergabe blieben den nicht
nabrück besaßen im Jahr 1601 neben 173 groß- und klein-
erbenden Kindern meist nur geringe Einkommensmög-
bäuerlichen Betrieben 79 Haushaltungen weder Haus noch
lichkeiten. Sie verdingten sich meist als Tagelöhner in der
Land, das sind 32 % aller Haushalte!21 Wie kam es zu die-
Landwirtschaft oder im Transportgewerbe. Andere wich-
Eine der ältesten Dorfzeichnungen besitzen wir von Heudorf bei Konstanz aus dem Jahre 1576. Gut zu erkennen sind neben Kirche, Friedhof, Mühle, Backhaus und Bauernhäusern auch der das Dorf abschließende Dorfzaun.
Das alte Dorf
25
haus, Dorfplatz mit Linde und der Dorfzaun (Etter) mit Tor. Ab etwa 1500 kamen zunehmend Rathäuser hinzu – sie verkörperten den wirtschaftlichen Aufschwung und das wachsende Selbstbewusstsein der gemeindlichen Selbstverwaltung. Ein Dorf in Rheinhessen dürfte um 1550 etwa so ausgesehen haben: »Den Mittelpunkt bildete der Dorfplatz, über den die Durchgangsstraßen führten. Auf der einen Seite wurde er durch die Friedhofsmauer abgeschlossen. Inmitten dieses Friedhofes, der leicht erhöht lag, befand sich die Kirche. In unmittelbarer Nähe der Mauer, von allen Seiten zugänglich, stand das Rathaus mit einer besonders dekorativen Front zum Platz hin. Am Dorfbrunnen schöpfte man seinen Wasserbedarf und schliff seine Schneidewerkzeuge. Die alte Dorflinde beherrscht die Mitte des Platzes, unter ihr fanden vor der Erbauung des Rathauses die Gemeindeversammlungen und Gerichtssitzungen statt, und hier traf man sich zum geselligen Beisammensein. Um den Dorfplatz gruppierten sich ferner das Dorfwirtshaus, in dem Reisende übernachten konnten, die Dorfschmiede und das Gemeindebackhaus, etwas abseits war der Löschweiher angelegt. Am Ortsrand, am Bach, lag die Mühle und das Badhaus und außerhalb das Siechenhaus. Als Gegensatz stand am anderen Ortsende ein vornehmes Anwesen des Ortsherren.«23 Bauernaufstände und Unruhen gegen die adligen und kirchlichen Grundherren hatte es seit dem Frühmittelalter immer wieder gegeben. Im Spätmittelalter nahmen sie jedoch stark zu, auch in der Radikalität ihrer Forderungen. Zum Höhepunkt des bäuerlichen Widerstands gegen die Feudalherren wurde der Deutsche Bauernkrieg von Immer wieder kämpften Bauern um ihre Rechte gegen ihre Grundherren, hier eine Bauernkriegsszene von 1524: Bauern aus den Dörfern Rappertsweil, Weissenau, Obereschbach und Untereschbach rotten sich zu einem Heer zusammen.
1524/25. Angeregt durch die Schweizer Eidgenossenschaft und die deutsche Reformation mit dem zündenden Wort von der »Freiheit der Christenmenschen« begannen die Aufstände 1524 am Südostrand des Schwarzwaldes.24 Der
tige Arbeitsmöglichkeiten bestanden im Dorfhandwerk,
Aufruhr wurde zu einem Flächenbrand und verbreitete
das sich nun mehr und mehr auf dem Land entwickelte und
sich schnell in ganz Südwestdeutschland und von dort nach
schließlich zur zweiten ökonomischen Basis des Dorfes ent-
Franken, Thüringen, Tirol und ins Salzburger Land. Auch
faltete.
Adlige und Städter schlugen sich auf die Seite des bäuer-
Ab der Frühen Neuzeit haben wir auch genauere Vorstel-
lichen Widerstands. Die bekanntesten unter ihnen waren
lungen vom Aussehen des Dorfes, was wir u. a. zahlreichen
Götz von Berlichingen aus der Region Neckartal-Oden-
Diese enthalten
wald und Florian Geyer aus Franken. Insgesamt 300 000
sowohl konkrete als auch stilisierte Dorfansichten. Wich-
Bauern schlossen sich den regional gegliederten Heeren
überlieferten Zeichnungen verdanken.
26
22
tige, in den Bildern wiederkehrende Dorfbereiche sind Kir-
an. Die Forderungen der Bauern zielten vor allem auf eine
che mit Kirchhof, Wirtshaus, Backhaus, Schmiede, Bade-
Wiederherstellung des »guten alten Rechts« auf freie Wald-
Das alte Dorf
nutzung, Jagd und Fischfang, das ihnen nach und nach von
noch extremer – so soll die Bevölkerungszahl im Herzog-
den Grundherren entzogen worden war. 1525 wurde ein
tum Württemberg von 1618 bis 1648 von etwa 400 000 auf
Forderungskatalog von »Zwölf Artikeln« aufgestellt, der
nur noch 50 000 Einwohner abgesunken sein.26 Zahlrei-
zum Manifest des Bauernkrieges wurde. Darin heißt es u. a.:
che Städte und Dörfer waren durch den Krieg völlig zer-
Aufhebung der Leibeigenschaft und Mäßigung der Fron-
stört und menschenleer, die Felder verödet. Die Viehbe-
dienste. Der Widerstand der Bauernheere wurde in mehre-
stände auf dem Land waren durch den Krieg bis auf unter
ren großen Schlachten gebrochen und die Zahl der Opfer
10 % des Vorkriegsniveaus abgesunken. Der Dreißigjährige
wird auf 100 000 Personen geschätzt. Letztlich verloren die
Krieg hinterließ somit ein verwüstetes Land und eine völlig
aufbegehrenden Bauern. Gründe hierfür waren, dass die
heruntergekommene Wirtschaft. Er schob, gerade im Ver-
Bauernheere zu isoliert voneinander auftraten, außerdem
gleich zu England und Frankreich, die längst notwendige
blieb der breite gesellschaftliche Rückhalt für die Anliegen
wirtschaftliche und politische Modernisierung Deutsch-
der Bauern aus. Selbst Martin Luther distanzierte sich mit
lands und gerade auch des ländlichen Raumes um mehr als
seiner Schrift »Wider die mörderischen und räuberischen
ein Jahrhundert hinaus.
Rotten der Bauern« von der Bewegung. Im Ergebnis wurden durch den Ausgang des Bauernkrieges die Rechte der Feudalherrschaft gestärkt. Allerdings sind einige Historiker der Auffassung, dass die Aufstände in Westdeutschland die Durchsetzung einer intensiveren Leibeigenschaft wie in
1650–1800 Wiederaufbau, Landesausbau und Endphase des feudalen Zeitalters
Ostdeutschland verhindert haben. Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 unterbrach
Viel Zeit und Kraft brauchte das Land, um sich von den Ver-
die Epoche des frühneuzeitlichen Landesausbaus und führ-
lusten und Wunden des Dreißigjährigen Krieges zu erho-
te weite Teile Deutschlands erneut in eine schwere Krise,
len. Fast ein Jahrhundert dauerte allein die Phase des Wie-
die mit der spätmittelalterlichen Wüstungsphase zu verglei-
deraufbaus. Entvölkerte Gebiete mussten wiederbesiedelt,
chen ist. Nur wenige Regionen wie Schleswig-Holstein,
Häuser und ganze Dörfer wiederaufgebaut, ehemalige Fel-
größere Gebiete Niedersachsens und das Rheinland west-
der mühsam rekultiviert werden. Nur nach und nach konn-
lich der Linie Neuss – Köln – Trier wurden von den marodie-
ten die Viehbestände wieder aufgefüllt werden. Erst um
renden Kriegstruppen verschont. Die meisten Landstriche
das Jahr 1740 war die Zahl der Bauernhöfe wieder auf dem
hingegen sind von den Heereszügen mehrfach heimge-
Stand von 1618, dies gilt auch für die Einwohnerzahlen in
sucht worden. Die Gesamtzahl der damals durch Deutsch-
Deutschland.27 Bemerkenswert ist, dass der Dreißigjährige
land ziehenden Soldaten wird auf eine Million geschätzt,
Krieg – im Unterschied zur spätmittelalterlichen Agrar-
das waren 6–10 % der Bevölkerung. Städte und Dörfer wur-
krise – kaum dauerhafte Ortswüstungen hinterlassen hat.
den immer wieder Opfer von räuberischen Gewalttaten
Ab 1740 kann von einer neuen Phase des Landesausbaus
und Zerstörungen. Vor allem die Landbevölkerung in den
und einer Intensivierung der landwirtschaftlichen Produk-
wenig geschützten Dörfern und kleineren Städten waren
tion gesprochen werden. Damit setzte sich die Entwicklung
sämtlichen Soldatengruppen nahezu wehrlos ausgeliefert.
des 16. Jahrhunderts fort, die durch den Dreißigjährigen
Mittelbare Kriegsfolgen waren Hungersnöte durch Ern-
Krieg und die folgende Wiederaufbauphase unterbrochen
teausfälle und Plünderungen sowie Pestepidemien wie im
worden war. Im großen Stil wurden nun durch Adel und
Späten Mittelalter. Der lange Krieg bedeutete einen er-
Landesherren neue Flächen für den Landbau erschlossen
heblichen Rückschritt für das ganze Land. An erster Stelle
und besiedelt. Man spricht hier von »Peuplierungspolitik«
standen millionenfache Bevölkerungsverluste: Zu Beginn
(Ansiedlungspolitik), manchmal wurden dazu auch Glau-
des Krieges zählte das Deutsche Reich 16 Mio. Einwohner,
bensflüchtlinge aus dem Ausland wie die französischen
am Ende des Krieges nur noch 10 Mio. Es dauerte danach
Hugenotten angeworben. Allein in Preußen wurden etwa
ungefähr ein Jahrhundert, bis die Bevölkerungsverluste
250 000 ha Sumpf-, Moor- und Aueland kultiviert. Am
wieder ausgeglichen waren. Regional waren die Verluste
bekanntesten ist die Urbarmachung und Besiedlung des
25
Das alte Dorf
27
Oderbruchs mit 60 000 ha. In Norddeutschland und Bay-
das 18. Jahrhundert als die Endphase des feudalen Zeitalters,
ern wurden insgesamt 20 000–25 000 ha neu für die Land-
denn es mehrten sich die Anzeichen einer Beseitigung der
wirtschaft gewonnen. Die Landesherren förderten jedoch
mehrfachen Abhängigkeit der Bauern von weltlichen und
nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Entstehung
geistlichen Grundherren. Die Impulse zu grundlegenden
eines frühindustriellen Gewerbes. In vielen ländlichen Re-
Agrarreformen kamen nun von verschiedenen Seiten: Von
gionen – vor allem Mittel- und Süddeutschlands – entwi-
den Bauern, die ihre Dienste und Abgaben immer wider-
ckelten sich erste Schwerpunkte z. B. der Glas-, Eisen- und
williger verrichteten. Von den Grundherren, die erkannten,
Textilproduktion.29
dass ihre Einnahmen wegen der bestehenden Agrarverfas-
28
Neben der Ausdehnung der Flächen kam es zu einer In-
sung immer niedriger wurden. Vom Staat, der an einem ge-
tensivierung der landwirtschaftlichen Produktion. Die Bo-
sunden Bauernstand und höheren Staatseinnahmen interes-
denbearbeitung erhielt Impulse durch die Einführung
siert war.32 Rückenwind kam auch von der sich nun etablie-
neuer Früchte wie Kartoffeln, Klee oder Flachs für die Tex-
renden Agrarwissenschaft. So beschreibt Heinrich Gottlob
tilherstellung. Auch in der Viehhaltung gab es Verbesse-
von Justi in seiner Schrift »Von den Hindernissen einer blü-
rungen durch neue Rassen oder durch die Verpachtung von
henden Landwirtschaft« bereits 1760 die wichtigsten Miss-
»Kuhhaltereien« auf den preußischen Domänen (Staatsgü-
stände: enge Dorflage, zu schmale Ackerstreifen, Weide-
tern) an Holländer. Ein wichtiger Fortschritt für die Dörfer
rechte auf Brach- und Stoppelfeldern im Rahmen der Drei-
war es auch, dass sowohl der Obstanbau als auch der Garten-
felderwirtschaft, Frondienste, Besitzverhältnisse der Bauern.
bau von den Landesherren gefördert wurde, wobei hier vor
»Wenn nun ein Bauer nicht des vollkommenen Eigenthums
allem die Dorfschullehrer eingesetzt wurden. Dem Wirt-
versichert ist, wenn er befürchten muss, dass man ihm
schaftsaufschwung entsprach die Bevölkerungsentwick-
oder seinen Kindern dereinst das Guth unter allerley Vor-
lung: Vom Tiefpunkt im Jahr 1648 mit 10 Mio. Einwohnern
wänden nehmen möchte; so fehlet ihm der rechte Bewegs-
stieg die Bevölkerung in Deutschland bis 1800 auf 23 Mio.
grund, allen möglichen Fleiß auf die vollkommene Cul-
Einwohner an.
tur und Verbesserung seiner Grundstücke zu verwenden.«33
Die Bevölkerungszunahme auf dem Land führte im We-
Erste konkrete Maßnahmen zur Beseitigung dieser Miss-
sentlichen zu einer starken Zunahme der unterbäuerlichen
stände wurden bereits im 18. Jahrhundert unternommen:
Schichten. Die Anzahl der landlosen Haushalte machte
In Preußen wurde z. B. das sog. »Bauernlegen«, das Heraus-
nicht selten zwei Drittel aller Dorfhaushalte aus, wie z. B.
drängen der Bauern aus ihren Nutzungsrechten am Land,
in Belm bei Osnabrück.30 Ein anderes Beispiel ist das Dorf
verboten. Bemühungen zur Einführung der persönlichen
Großgressingen bei Bamberg, das zur Grundherrschaft des
Freiheit waren in ganz Deutschland zu beobachten. In frü-
Klosters Ebrach gehörte. Hier standen 1689 den zwölf Bau-
hen Flurbereinigungsverfahren konnten die Gemengelage
ernstellen mit durchschnittlich 7 ha Land 26 sog. »Söllen-
der schmalen Parzellen und der Flurzwang beseitigt wer-
häuser« gegenüber. Deren Bewohner besaßen kein Land
den. Auch im auf dem Land vernachlässigten Bildungs-
und waren auf den klösterlichen Eigenbetrieben beschäf-
bereich tat sich einiges: So wurde nach und nach die all-
tigt. Die soziale Zweiteilung des Dorfes von 1689 lässt sich
gemeine Schulpflicht eingeführt, was den Dörfern sehr
am Ortsbild bis heute ablesen. Generell profitierten auch
zugutekam – zuerst in Preußen im Jahr 1763 (auf den
die unterbäuerlichen Schichten vom wirtschaftlichen Auf-
staatseigenen Gütern bereits 1717), dann in Bayern 1770 und
schwung: Viele konnten sich neben der üblichen Tagelöh-
in Österreich 1774.34 Impulsgeber der neuen Bildungspoli-
nertätigkeit in der Landwirtschaft als Handwerker oder im
tik waren nicht zuletzt die Ideen der Aufklärung, die sich
Transport- und Handelsgewerbe neue Zuverdienste sichern.
im 18. Jahrhundert immer mehr durchsetzten.
31
28
Für Landesfürsten, Adel und Klöster war das 18. Jahrhun-
Trotz mancher Fortschritte ist festzuhalten, dass das feu-
dert ein (letzter) Höhepunkt ihrer Machtentfaltung. Dies
dale Agrarsystem in wirtschaftlicher und gesellschaft-
äußerte sich z. B. in der Errichtung prächtiger Schlösser,
licher Hinsicht um 1800 im Wesentlichen noch bestand.
Guts- und Parkanlagen sowie in der Ausübung einer heute
Aber zahlreiche Änderungen waren bereits in Gang gesetzt,
übertrieben anmutenden Jagdkultur. Doch gleichzeitig gilt
sodass im 19. Jahrhundert in nur wenigen Jahrzehnten eine
Das alte Dorf
völlige Umgestaltung der Agrarwirtschaft und damit des
ist der Landmann die armseligste unter den Kreaturen: die
Landlebens erreicht werden konnte.
Bauern sind Sklaven und ihre Knechte sind von dem Vieh,
35
Das Alltagsleben in den Dörfern verlief gegen Ende des
das sie hüten, kaum noch zu unterscheiden. Man kommt
18. Jahrhunderts – aus heutiger Sicht – immer noch sehr be-
auf Dörfer, wo die Kinder halb nackend laufen und die
scheiden und beschwerlich. So war die Säuglings- und Kin-
Durchreisenden um ein Almosen anschreien. Die Eltern
dersterblichkeit sehr hoch und die überlebenden Kinder
haben kaum noch einige Lumpen auf dem Leib, ihre Blöße
wurden schon früh in den Arbeitsprozess, z. B. beim Vieh-
zu decken. Ein paar magere Kühe müssen ihnen das Feld
hüten oder Garnspinnen, eingegliedert. Es gibt viele dras-
bauen und auch Milch geben. Ihre Scheunen sind leer, und
tische zeitgenössische Berichte über die dörfliche Armut.
ihre Hütten drohen alle Augenblicke über einen Haufen zu
Hier eine Beschreibung von Johann Michael von Loen, ei-
fallen. Sie selbst sehen verkahmt (kümmerlich) und elend
nem Großonkel Goethes, aus dem Jahr 1771: »Heute zu Tage
aus.«36
Das 18. Jh. war der Höhepunkt der Machtentfaltung von Adel und Landesfürsten, der sich in vielen Schlossbauten niederschlug. Hier das Jagdschloss Clemenswerth im Emsland, 1737–1747 für den Kölner Fürstbischof Clemens August von Wittelsbach errichtet.
Das alte Dorf
29
Auf dem Sprung in die Moderne Das Dorf um 1800
Auf den ersten Blick waren die Dörfer vor 200 Jahren
zum alten Dorf. Wir haben die Armut der großen Mehrheit
einfacher strukturiert als heute. Fast allen Dorfbewoh-
der Dorfbewohner vor Augen, die Missernten und Hun-
nern gemeinsam war die landwirtschaftliche Tätigkeit.
gersnöte, die häufigen Brände und Krankheiten, die beson-
Die benötigten landwirtschaftlichen Geräte wurden von
ders viele Säuglinge und Kinder sterben ließen. Das Dorf-
dörflichen Handwerkern wie Schmied und Stellmacher
leben erscheint uns dann als ein fast täglicher Kampf ums
hergestellt. Das Dorf war nicht nur autark, sondern
Überleben, ohne Chancen eines wirtschaftlichen oder so-
regelte auch das wirtschaftliche und soziale Leben
zialen Aufstiegs.
durch eigene Dorfordnungen. Allerdings waren die
Die holzschnittartigen »gefühlten« Bilder vom alten
Bauern und Landarbeiter nicht frei im heutigen Sinne:
Dorf haben natürlich ihre Wahrheitskerne. Sie speisen sich
Sie waren durch vielfache und komplizierte Besitz- und
aus Darstellungen der damaligen Literatur und Malerei so-
Rechtsverhältnisse an ihre Grundherren, Gutsherren,
wie aus Chroniken, Reiseberichten und mündlichen Über-
Gerichtsherren, Landesherren und an die Geistlichkeit
lieferungen. Sie sind zugleich aber auch der Sichtweise
gebunden.
des heutigen Menschen geschuldet mit seinen Vorstellungen von Armut, Sterblichkeit und Freiheit. Über die »ge-
Geht es um das Thema »Dorf«, haben wir alle meist auch
fühlte Wirklichkeit« eines Bauern, seiner Frau, seiner Kin-
Bilder des »alten Dorfes« im Kopf. Diese sind oft mit der
der, Knechte und Mägde um 1800 wissen wir relativ wenig.
Einschätzung einer »guten alten Zeit« verknüpft – es sind
Vielleicht lebten damals viele Dorfbewohner in dem (zu-
Vorstellungen einer romantischen Grundstimmung: Die
friedenen) Bewusstsein, dass es ihnen besser ging als noch
Dörfer liegen idyllisch inmitten der Natur mit Bach, Fel-
ihren Eltern und Großeltern.
dern und Wäldern. Die Bauern arbeiten munter und fast frohgelaunt im Stall oder bei der Ernte. Aufwendige und
gional unterschiedliches Bild des Dorfes vor 200 Jahren. Es
große Hochzeiten, Beerdigungen, Kirchweih- und Schüt-
war eine Umbruchzeit – die Ideen der Französischen Revo-
zenfeste belegen eine enge Dorfgemeinschaft, die Kirche bildet den optischen sowie kulturell-sozialen und sinnstiftenden Mittelpunkt für alle Dorfbewohner. Es gibt aber auch andere, deutlich negativere Bilder und Bewertungen
30
Die Dorfforschung zeichnet ein facettenreiches und re-
Das alte Dorf
Abbildung oben: Auf früheren Gemälden wird das alte Dorf häufig geschönt dargestellt. Städtische Maler ergötzten sich am Landleben. Das Bild des Dorfes Tempelhof um 1800 stammt von Johann Friedrich Hennig.
lution gingen durch Europa und drangen auch in das poli-
arbeitenden und wohnenden Knechte und Mägde. Aufstie-
tisch kleingekammerte Deutschland hinein. Die Befreiung
ge aus der Unterschicht waren kaum möglich. Durch das
der Landbevölkerung aus den diversen Zwängen der Feu-
festgefügte Dienst-Lehen-Verhältnis zwischen Bauern und
dalzeit durch Agrar- und Bildungsreformen deutete sich
Grundherren gab es aber auch für die Mittelschicht nur ge-
in manchen Regionen bereits an. Aus sozialer Sicht war
ringe Möglichkeiten des sozialen und wirtschaftlichen Auf-
das Dorf um 1800 noch eine recht festgefügte Klassenge-
stiegs. Die Starrheit der sozialen und ökonomischen Schich-
sellschaft in Form einer Pyramide: An der (kleinen) Spitze
tung hat sicherlich vielerorts zu ungerechter Machtaus-
standen unangefochten Klerus und Adel, die beide auch als
übung und Ausbeutung durch die ländliche Oberschicht
Grundherren – als Verpächter des Landes und häufig auch
geführt. In den historischen Quellen gibt es zahllose Be-
mit eigenen Gütern – in Erscheinung traten. Darunter kam
lege für die Unzufriedenheit und Wut der Dorfbewohner
die Schicht der großen, landbesitzenden Bauern. Danach
über Beschneidungen alter Rechte sowie die hohen Belas-
die der kleineren Bauern und der Handwerker, die meist
tungen durch Abgaben und Dienste gegenüber der Grund-
zur Existenzsicherung auch eine kleine Landwirtschaft be-
herrschaft und Geistlichkeit. Es saßen jedoch fast alle Dorf-
trieben. Man würde hier heute von oberer und unterer Mit-
bewohner im gleichen Boot, das sie auch nicht verlassen
telschicht sprechen. Zur zahlenmäßgig umfangreichen
konnten. Dies hat mit Sicherheit auch die Einsicht in das
Unterschicht gehörten damals die landlosen Landarbeiter
Aufeinander-angewiesen-Sein und den Zusammenhalt in-
und Tagelöhner, die in einem eigenen Haushalt lebten, so-
nerhalb der Familien und innerhalb der Dorfgemeinschaft
wie die unmittelbar auf den größeren Höfen und Gütern
weiter gefördert.
Das Ölgemälde »Rückkehr von der Kirchweih« von Ferdinand Georg Waldmüller um 1860 zeigt uns eine Sonntagsszene des Dorfes. Festlich gekleidete Erwachsene und Kinder werden in ausgelassener Stimmung präsentiert.
Das alte Dorf
31
In allen Jahreszeiten gab es im Dorf spezielle Arbeiten zu erledigen. Eine der bäuerlichen Arbeiten im Herbst und Winter war es, Mist aufs Feld zu fahren und dort zu verteilen. Auch Frauen und Kinder mußten mit anpacken.
32
Im Mittelpunkt der dörflichen Wirtschaft stand ein-
gaben. Auch das Dorfhandwerk wurde um 1800 meist in
deutig die Land- und Forstwirtschaft. Alle mittleren und
Kombination mit einer kleinen Landwirtschaft betrieben,
größeren Höfe betrieben in der Regel den ganzen Umfang
um die eigene Nahrungsversorgung zu sichern. Die typisch
an Ackerbau und Viehzucht bis hin zur Kleinviehhaltung.
dörflichen Handwerkszweige wie Schmiede, Stellmacher,
Natürlich gab es regionale Unterschiede. Die heute übliche
Maurer und Zimmerer versorgten vor allem die landwirt-
Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion war
schaftlichen Betriebe und dienten im Wesentlichen der
um 1800 noch weitgehend unbekannt. Das wichtigste Ziel
Versorgung des eigenen Ortes. Das Dorf vor 200 Jahren war
der Hofhaltung stellte die Selbstversorgung der meist gro-
somit wirtschaftlich weitgehend selbstständig.
ßen Familie und des Gesindes mit Nahrung und Kleidung
Das Wirtschaftsleben auf dem Land war in der Regel
dar. Durch die starke Abgabenlast an Grundherren und
ganz auf das eigene Dorf bezogen. Praktisch alle arbei-
Kirche (Letztere bekam den sog. »Zehnten«) sowie durch die
tenden Dorfbewohner hatten ihren Arbeitsplatz im eige-
ebenfalls zu leistenden Hand- und Spanndienste für den
nen Dorf. Das Verbleiben im Dorf ermöglichte eine hohe
Hof des Grundherren waren die wirtschaftlichen Spiel-
lokale Arbeitsmobilität: So konnten viele Dorfbewoh-
räume der Bauern äußerst gering. Aus vielen Gerichtspro-
ner mehrere Tätigkeiten nebeneinander ausüben, z. B. als
tokollen wissen wir, dass säumige Bauern immer wieder um
Handwerker, Kleinbauer und Waldarbeiter (im Winter).
Aufschub und Erlass ihrer Abgaben baten und als Begrün-
Auch die älteren Kinder mussten bereits bei den vielfälti-
dung Hunger und Krankheit in ihren großen Familien an-
gen Arbeiten in Haus, Hof, Garten und Flur mitanpacken
Das alte Dorf
und wurden damit früh in das Erwerbsleben einbezogen.
Die dörfliche Infrastruktur befand sich um 1800 aus
Das heute dorftypische berufliche Auspendeln war damals
heutiger Sicht erst in den Anfängen. Die größte Sorgfalt
nur in Ausnahmefällen bzw. bei regionalen Besonderhei-
diente einer regelmäßigen Wasserversorgung, an Flüssen
ten üblich, wie etwa bei der Hollandgängerei in Nordwest-
oder Bächen liegende Dörfer hatten hier ihre Vorteile. An-
deutschland (hierbei handelte es sich um saisonale Wande-
dernorts waren Brunnenbauten oder kleine Wasserleitun-
rungen in die Niederlande zur Heuernte und zum Torfste-
gen von den lokalen Quellen zu den sog. »Kümpen« inner-
chen). Von Wohlstand im heutigen Sinne kann um 1800
halb des Dorfes errichtet worden. Von dort musste man sich
noch keine Rede sein. Eher prägten Armut und Angst vor
das Wasser mühsam in die Häuser holen. Hygiene und me-
Hungersnöten, Krankheiten und Bränden das dörfliche Le-
dizinische Versorgung hatten im Vergleich zu heute einen
ben. Die ständige Sorge und Vorsorge um die Nahrungssi-
niedrigen Stand. Entsprechend hoch war die Sterblichkeits-
cherung bis zur nächsten Ernte stand im Mittelpunkt. Ar-
quote vor allem bei den Kleinkindern und entsprechend
mut und Not führten zu häufigen Auswüchsen – so gehör-
niedrig die generelle Lebenserwartung der Menschen, die
ten Bettelei und Diebstahl zur Normalität des Dorfes. Vor
weniger als die Hälfte der heutigen betrug. Der Energiever-
allem der Holzdiebstahl bzw. »Holzfrevel« in den grund-
sorgung dienten Wasser- und Windmühlen, zum Kochen
herrschaftlichen Wäldern war immer wieder Gegenstand
und Heizen wurden das Holz bzw. die Holzkohle der loka-
von Gerichtsprozessen.
len Wälder oder der getrocknete Torf aus den Moorgebieten
Größere Landgemeinden bauten ab dem 15. Jh. Rathäuser, die oft mehrere öffentliche Aufgaben wie Waage, Richterstube oder Markthalle erfüllten. Prächtige Bauten wie in Schwalenberg zeigen die Kraft und den Stolz der lokalen Selbstverwaltung.
Das alte Dorf
33
Die politische Selbstverwaltung ländlicher Gemeinden war um 1800 bereits in beachtlichen Ausmaßen entwickelt, aber von Region zu Region, ja von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich ausgeprägt. Sie bestand im Wesentlichen in der lokalen Wirtschaftsführung sowie in allgemeinen Ordnungs- und Schutzaufgaben. So ging es vor allem um die noch sehr komplizierte Nutzung der Flur: Da es zu dieser Zeit kaum Feldwege gab, musste das Betreten der »eigenen« Felder geregelt werden, es bestand der sog. »Flurzwang«. Außerdem wurde der Gemeinbesitz der Allmende gemeinschaftlich genutzt. Dazu kamen gemeinsame Aufgaben wie Wegebau, Unterhaltung von Wegen und Wasserläufen sowie Feuer- und Hochwasserschutz. Feuerwehr und Schützenvereine hatten als älteste und wichtigste Dorfvereine bereits Bestand. Die gemeinsamen öffentlichen Aufgaben waren in speziellen innerdörflichen »Ordnungen« festgehalten. So gab es z. B. für das jährliche Schützenfest konkrete Verhaltensempfehlungen, Verbote und Sanktionen. Rechtlich gehörten zur dörflichen Gemeinde allerdings Der Dorfweiher hatte früher wichtige Aufgaben zu erfüllen. Er war vor allem Viehtränke und Feuerwehrteich, hier eine Aufnahme von Kniprode aus dem Jahre 1904.
nur die Grundbesitzer, was sich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts änderte. Wenn wir uns Darstellungen des Dorfes um 1800 in der
34
genutzt. Auch hinsichtlich seiner Wasser- und Energiever-
Kunst anschauen, müssen wir auf der Hut sein: Sie ent-
sorgung war das alte Dorf weitestgehend auf seine lokalen
sprechen nicht unbedingt der Wirklichkeit, sondern wur-
Ressourcen angewiesen, die allerdings auch intensivst ge-
den von Städtern für ein städtisches Publikum geschrieben
nutzt wurden.
oder gemalt. Die gebildeten Kreise in den Städten interes-
Die dörfliche Schule war um 1800 ebenfalls eine Ange-
sierten sich zunehmend für das Land. In den Kunstwerken
legenheit der Dorfgemeinde, allerdings stand sie unter der
wird uns auf der einen Seite das »glückliche Dorf« vorge-
Aufsicht der Kirche. Als Lehrer waren der Küster oder an-
stellt (von Joseph Christoph Leo 1804), das »einfache Land-
dere Gehilfen des Pfarrers oder des Bürgermeisters tätig.
leben« gepriesen, das noch keine Zivilisationsschäden auf-
Eine höhere Schulbildung gab es in den Dörfern nicht –
weist. Auf der anderen Seite wird uns die Begrenztheit und
diese blieb weitgehend der Oberschicht vorbehalten, die
Grobheit der Landbevölkerung vermittelt, der es an Erzie-
ihre Kinder entweder mit Privatunterricht versorgte oder
hung und Bildung mangelt. Die Romantiker erfreuten sich
in städtische Lateinschulen schickte. Erst mit den Reformen
an der Urwüchsigkeit der ländlichen Landschaft, die dem
des frühen 19. Jahrhunderts gab es den flächendeckenden
Menschen Freiheit und Erfüllung bietet. Sozialkritische
Impuls zur staatlich geförderten und beaufsichtigten Dorf-
Darstellungen hingegen, die die schwierige Lage der Bau-
schule. Die meisten Dörfer ab etwa 300 Einwohnern hatten
ern als »Lastträger des Staates« beschreiben, nahmen zu.
eine eigene Kirche oder Kapelle und ihren eigenen Pfarrer.
Der Sprung des Dorfes in die moderne Zeit stand um
Allerdings gibt es zahlreiche zeitgenössische Berichte der
1800 noch bevor. Die Antriebskräfte der bald beginnenden
Bischöfe über die mangelhafte Einhaltung der Kirchen-
revolutionären Veränderungen auf dem Land, allen voran
pflichten und speziell der Zehn Gebote in den ländlichen
die Industrialisierung und die Agrarreformen, deuteten
Pfarreien.
sich erst vereinzelt an.
Das alte Dorf
Wirtschaft und Versorgung
Das moderne Dorf
Das heutige Dorf hat vielfach noch einen historischen Kern, daneben aber auch zahlreiche Neubauten der letzten Jahrzehnte. Das Landschaftsbild der dörflichen Gemarkungen bleibt durch agrarwirtschaftlich genutzte Feld- und Waldflächen geprägt. Hier ein Blick auf den Winzerort Mayschoß an der Ahr inmitten seiner Weinberge.
Einführung Das wirtschaftliche Handeln zur Nahrungsbeschaffung
in die Moderne geschafft und produzieren heute, z. B. in
und Nahrungsvorsorge ist ein Urmotiv des Landmenschen.
Maschinenbau und Elektroindustrie, für den Weltmarkt.
Das Säen, Hegen und Ernten, das Leben mit der Natur und
Trotz mancherlei Wandlungen und Krisen sind Land- und
den Jahreszeiten sind trotz aller technischen Fortschritte
Forstwirtschaft sowie Handwerk und mittelständisches Ge-
ein Merkmal des Landlebens geblieben. Die Landwirt-
werbe bis heute die ökonomische Basis des ländlichen Rau-
schaft, die heute für Milliarden Menschen Nahrungsmit-
mes. In manchen Regionen ist der moderne Tourismus
tel produziert, steht daher auch zu Beginn dieses Buches im
während der letzten 200 Jahre als wichtiger Wirtschafts-
Mittelpunkt. Ihre elementaren und vielschichtigen Wand-
faktor hinzugekommen.
lungsprozesse von etwa 1800 bis heute bieten den wichtigs-
Im Rückblick auf die letzten 60 Jahre hat das Dorf ei-
ten Schlüssel zum Verständnis des ländlichen Raumes in
nen Großteil seiner Arbeitsplätze verloren. Angesichts
der heutigen Zeit.
der Schrumpfungsprozesse in der Agrarwirtschaft und im
Aber auch die Wald- und Forstwirtschaft hat für das Land traditionell und bis heute eine große Bedeutung – als
mehr ehemals »städtischen« Berufen zugewandt. Sie sind
Nahrungsspeicher für Menschen und Tiere, als Energie-
heute als Arbeiter, Angestellte oder Beamte in Industriebe-
und Rohstofflieferant zum Kochen, Heizen, Bauen und
trieben oder diversen Dienstleistungsberufen tätig, die sie
für die chemische Industrie. In der Gegenwart haben Land-
meist in den benachbarten Klein-, Mittel- und Großstädten
und Forstwirtschaft weitere gesellschaftliche Aufgaben für
ausüben. Der moderne Dorfbewohner ist zum Pendler und
den Gesamtstaat übernommen (sog. »Wohlfahrts- und Um-
Globetrotter geworden.
weltfunktionen«), die weit über die primäre Nahrungsmit-
Das Wohlergehen in den Dörfern hängt jedoch nicht al-
tel- und Holzproduktion hinausgegen: beispielsweise in
lein von der Erwerbstätigkeit der Bewohner ab, sondern
den Bereichen Kultur- und Naturlandschaftspflege, Ener-
auch von seiner Infrastruktur: seiner Versorgung mit
gieversorgung sowie Freizeit und Erholung.
Wasser, Energie, Verkehrswegen, Datennetzen, Postämtern,
Die dritte Säule der ländlichen Wirtschaft ist – mit eben-
Schulen, Krankenhäusern, Sportplätzen, Turnhallen und
falls langer Geschichte – das Handwerk, das wesentlich zur
nicht zuletzt mit Läden und Gasthöfen. Auch im Bereich
wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Dorfes beigetragen
der Infrastruktur haben sich auf dem Land dramatische
hat. Auch das Dorfhandwerk hat sich stark gewandelt: Den
Veränderungen vollzogen – zum Positiven wie zum Negati-
Dorfschmied und den Dorfschneider gibt es praktisch nicht
ven. Es werden jeweils auch die neuesten Entwicklungen in
mehr. Andere ländliche Gewerbezweige haben den Sprung
den Dörfern angesprochen.
Abbildung Seite 36/37: Ein Traktor zieht eine Ringelwalze über ein Feld bei Rockhausen nahe Erfurt. Nach dem langen Winter können die Bauern jetzt mit der Frühjahrsbestellung beginnen.
38
Dorfhandwerk haben sich die Dorfbewohner mehr und
Das moderne Dorf
Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind? Der ökonomische Wandel des Landes von 1800 bis heute
Deutschland hat sich in den letzten 200 Jahren von
der Anteil der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirt-
einer Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesell-
schaft nur noch bei 35 %, um schließlich bis heute auf unter
schaft verändert. Dies bedeutet vor allem, dass die
3 % abzusinken. Auf Kosten der Land- und Forstwirtschaft
Land- und Forstwirtschaft ihre führende Wirtschafts-
vergrößerte sich zunächst der Anteil von Gewerbe und In-
rolle im Staat eingebüßt haben. Dieser Rückgang trifft
dustrie. Verstärkt seit dem 20. Jahrhundert entwickelte sich
natürlich in besonderer Weise das Land als den klassi-
dann auch der Anteil der Dienstleistungen, der heute bei
schen Agrarraum. Doch ist der ländliche Raum nun
etwa 60 % liegt und wohl noch weiter steigen wird. Die
das ökonomische Armenhaus der Nation geworden im
beiden anwachsenden Wirtschaftssektoren etablierten sich
Vergleich zu den Großstädten und Verdichtungsregi-
zunächst überwiegend in den Städten und Verdichtungsge-
onen? Keineswegs! Beim genauen Hinschauen zeigt er
bieten. Hier konzentrierten sich Arbeitsplätze, Kapital, Ver-
sich heute als ein stabiler und vielseitiger Wirtschafts-
waltungen, Sozial- und Bildungseinrichtungen, sodass die
raum innerhalb des Gesamtstaates.
gesamtwirtschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahre überwiegend zulasten des ländlichen Raumes verlief.
Noch um 1800 war Deutschland eine lupenreine Agrarge-
Die Agrarwirtschaft ist heute selbst im ländlichen
sellschaft. Etwa 80 % der Erwerbspersonen arbeiteten in
Raum generell nur noch die dritte Kraft gegenüber dem se-
der Land- und Forstwirtschaft, lediglich jeweils 10 % im
kundären und tertiären Wirtschaftssektor. Sie dominiert
sekundären (Gewerbe) und im tertiären Wirtschaftssek-
lediglich noch in den kleineren Dörfern bis etwa 500 Ein-
tor (Dienstleistungen). Der ländliche Raum hatte eine do-
wohnern – bereits in den mittelgroßen Dörfern ab etwa 800
minierende wirtschaftliche Stellung innerhalb des Staa-
Einwohnern ist die Agrarwirtschaft bezüglich der lokalen
tes inne. Hier wohnte und arbeitete die große Mehrheit
Arbeitsplätze in der Regel in der Minderheit. Gewerbe, In-
der Menschen, hier wurden die meisten Güter produziert.
dustrie und Dienstleistungen sind auch in ländliche Regio-
Auch durch die Nutzung seiner großen Energiepotenziale
nen und Dörfer stark eingezogen bzw. haben sich dort aus
wie Wald bzw. Holz und Wasser lag das Land weit vorn.
den Anfängen im Handwerk und Handel entwickelt.
Mit der um 1820/1830 beginnenden Industrialisierung und der gleichzeitig einsetzenden Verstädterung verschoben sich allmählich die Gewichte. Bereits im Jahr 1900 lag
Abbildung oben: Die Wirtschaftsstruktur des Landes ist in den letzten 200 Jahren vielfältiger geworden. In vielen Dörfern, wie in Bestwig (NRW ), finden sich heute Industrie- und Dienstleistungsbetriebe.
Wirtschaft und Versorgung
39
Zwar ist heute längst nicht mehr die ganze Breite der
maschinenhersteller etabliert, die zu den Weltmarktfüh-
Handwerks- und Gewerbezweige – wie noch vor 50 Jah-
rern im Segment Kartoffelpflanz- und Kartoffelerntema-
ren – in den mittelgroßen Dörfern vertreten. So sind z. B.
schinen gehören. Ein Marktführer der deutschen Solar-
Schmied, Schneider oder Schuhmacher praktisch aus den
thermie-Industrie residiert im Rittergut »Zur Abgunst« im
Dörfern verschwunden. Gleichwohl konnten sich zahlrei-
nordhessischen Trendelburg.
che Handwerksbetriebe in den Dörfern halten und durch
Auch der Anteil und die Breite der Dienstleistungsbe-
exzellente Arbeiten einen überdörflichen und häufig so-
rufe wächst auf dem Land ständig: Architektur- und Ver-
gar überregionalen Markt aufbauen, der nicht selten bis in
sicherungsbüros, Steuerberater, Physiotherapie, Logopädie,
die benachbarten Großstädte und Ballungszentren hinein-
Büros für Soft- und Hardwareentwicklung, Consultingfir-
reicht. Zu nennen sind hier u. a. das Sanitär-, Heizungsbau-,
men aller Art, Altenpflegeeinrichtungen oder Taxi- und
Elektro-, Kraftfahrzeug-, Tischler- und Bauhandwerk.
Busunternehmen finden sich inzwischen wie selbstver-
Manchmal gelingt es hoch spezialisierten Handwerkszwei-
ständlich in den Dörfern und sitzen nicht selten in um-
gen auf dem Land, ihre Standorte bundesweit bekannt zu
genutzten älteren Bauernhäusern. Selbst überregional be-
machen. So gilt die südbadische Kleinstadt Waldkirch im-
kannte und ausstrahlende Hochschulstandorte, Berufs-
mer noch als Metropole des deutschen Orgelbaus und die
und Fortbildungsakademien sind in Dörfer, Klein- und
sächsische Kleinstadt Glashütte als Zentrum der deutschen
Mittelstädten angesiedelt, wie die Beispiele Hohenheim,
Uhrenindustrie. Traditionelle Schwerpunkte des Landhan-
Weihenstephan, Witzenhausen, Tharandt, Eberswalde oder
dels waren früher der Landmaschinen- und Baustoffhan-
Schloss Reichartshausen in Oestrich-Winkel zeigen. Nicht
37
del. Sie sind zwar nicht mehr in jedem größeren Dorf ver-
zuletzt ist der moderne Tourismus zu einer neuen Lebens-
treten, finden sich jedoch in ländlichen Regionen in ausrei-
ader für viele ländliche Regionen geworden. Dies gilt für
chender Dichte.
nahezu alle Küsten und Inseln der Nord- und Ostsee, für
Neben dem Handwerk hat sich in vielen ländlichen
die Mittel- und Hochgebirge, das Alpenvorland, die zahl-
Regionen Deutschlands eine starke mittelständische In-
reichen Binnenseegebiete, die Weinbauregionen, die regio-
dustrie entwickelt. So sind heute Schwerpunkte des deut-
nalen Freilichtmuseen sowie für die Rad- und Wanderstre-
schen Maschinenbaus und der Elektroindustrie in ländli-
cken kreuz und quer durch Deutschland.
chen Gebieten z. B. Baden-Württembergs, Westfalens und
Generell verlief die ökonomische Entwicklung des
Niedersachsens anzutreffen. Beispielsweise haben sich in
ländlichen Raumes in Deutschland nicht überall gleich.
der Kleinstadt Damme nördlich von Osnabrück zwei Land-
Manche Regionen haben sich bis heute kaum von ihrer traditionellen land- und forstwirtschaftlichen Basis entfernt.
% der Erwerbspersonen
Industriegesellschaft
Agrargesellschaft
100
100
Dienstleistungen
80
60
80
60
Industrie
40
40
20
Land- und Forstwirtschaft
20
0
0
1800
Durch fehlende außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze
Dienstleistungsgesellschaft
1820
1840
Anlaufperiode
1860
1880
1900
wirtschaftlicher Aufschwung
1920
1940
Entwicklung zum Reifestadium
1960
1980
2000 2017
Zeitalter des Massenkonsums
kam es hier vielfach zu Abwanderungen und Infrastrukturverlusten. Oft bildete sich eine negative Wirkungskette, die dann zu anhaltenden Strukturschwächen führte. Man spricht auch vom »regionalen Teufelskreis«, wobei mit jedem Umlauf eine Verschlechterung der Situation eintritt. Andere Regionen sind inzwischen bestens ausgestattet mit Gewerbe- und Industriebetrieben, wieder andere profitieren vom Bäder-, Erholungs- und Freizeittourismus. So stehen heute zahlreiche ökonomisch kraftvolle und strukturschwache, schrumpfende Regionen im ländlichen Raum nebeneinander. Vor allem für Letztere hat die Dorfpolitik
Erwerbsstruktur in Deutschland von 1800 bis heute
Sorge zu tragen.
Quelle: Deutsches Statistisches Bundesamt 2019 (destatis) https://www.destatis.de/DE /ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/lrerw013.html
ist der ländliche Raum auch heute noch eine beachtliche
40
Das moderne Dorf
Trotz Verstädterung und ökonomischer »Schrumpfung«
Die Landwirtschaft und das ihr vor- und nachgelagerte Gewerbe sind nach wie vor ein wichtiger Wirtschaftsbereich auf dem Lande, hier ein Blick auf den Betrieb eines Landmaschinenhändlers.
Größe im Staatsganzen. Nach den Kriterien der Raumord-
sen und Bottrop ermittelt, während die meisten Land-
nung umfasst der ländliche Raum immer noch etwa 90,5 %
kreise unter dem Landesdurchschnitt (von 20 km/Tag) lie-
der Gesamtfläche und etwa 56,4 % der Bevölkerung des
gen.39
Staates. Diesem Anteil der Bevölkerung dürfte auch etwa
Die Gewichtsverschiebungen von der Agrar- zur Indus-
der tatsächliche Umfang der Arbeitsplätze im ländlichen
trie- und Dienstleistungsgesellschaft haben nicht gene-
Raum entsprechen. Nimmt man jedoch alle Landkreise
rell dazu geführt, dass man den ländlichen Raum heute
zusammen, sind hier nach Angaben des Deutschen Land-
als deren Verlierer oder als ökonomischen Zwerg bezeich-
kreistages 58,6 % aller deutschen Arbeitsplätze angesie-
nen könnte. In vielen Regionen Deutschlands verfügt der
delt, werden hier 56,6 % der deutschen Wirtschaftsleistung
ländliche Raum über eine ausgewogene und robuste Wirt-
(Bruttowertschöpfung) erbracht.38 Die Großstädte und Ver-
schaftsstruktur, was auf die hier vorherrschenden flexi-
dichtungsgebiete besitzen allerdings gegenüber dem länd-
bel agierenden mittelständischen Betriebe zurückgeführt
lichen Raum ein höheres Angebot an hoch qualifizier-
wird. Zahlreiche Weltmarktführer residieren heute in Dör-
ten Dienstleistungsplätzen in Wirtschaft, Forschung, Bil-
fern und Kleinstädten. Auch die Arbeitslosenquote ist auf
dung, Medizin und Verwaltung. Dies führt dazu, dass starke
dem Land überwiegend deutlich niedriger als in den Groß-
Pendelwanderungen zwischen ländlichen Regionen und
städten. Ein Plus des ländlichen Raumes sind, so bemerkte
großstädtischen Ballungsregionen stattfinden, wobei die-
etwa der Leiter eines ländlichen Arbeitsamtes, seine zuver-
se durchaus in beide Richtungen gehen. Pendelbewegun-
lässigen, motivierten und nicht zuletzt auch bodenstän-
gen sind keineswegs auf ländliche Regionen beschränkt: So
digen Arbeitskräfte. Zu den positiven »weichen« Wirt-
wurden in Nordrhein-Westfalen die größten durchschnitt-
schaftsfaktoren des Landes gehören aber auch ein deutlich
lichen Pendelentfernungen (von 22,8 bis 24,2 km/Tag) bei
niedrigerer Krankenstand, eine niedrigere Kriminalität so-
den Bewohnern der Großstädte des Metropolraumes Rhein/
wie höhere Aufklärungsquoten bei Verbrechen. Ein Kenn-
Ruhr wie Hamm, Mönchengladbach, Dortmund, Oberhau-
zeichen der Wirtschaftsstruktur ländlicher Gemeinden ist
Wirtschaft und Versorgung
41
der höhere Anteil der Selbstständigen sowie der Familien-
tung« intensiv untersucht. Ihre Hauptfrage richtete sich auf
betriebe. Außerdem sind hier die Kleinbetriebe häufiger
den »gesellschaftlichen Reichtum« der Dörfer. Hier ihre Bi-
vertreten als im großstädtischen Raum. Dagegen sind die
lanz: »Den Menschen auf dem Land, zumindest in der War-
Anteile der Angestellten und Beamten im Dienstleistungs-
burger Börde, geht es besser als Menschen anderer Einkom-
bereich im ländlichen Raum geringer.
mensklassen in der Stadt. Man ist besser situiert. Hier hat je-
In den Dörfern und Kleinstädten des ländlichen Raumes
der sein Haus. Es ist entweder ererbt, oder genauso oft wird
herrscht heute ein relativ hoher ökonomischer Standard
neu gebaut, wenn sich eine Familie gründet. Grundstücke
bzw. Wohlstand, der allerdings nicht unbedingt aus allen
sind billig, häufig wird auf eigenem Familiengrund gebaut.
Statistiken (wie z. B. Kaufkraft und Einkommen) ablesbar
Das Ergebnis ist, dass man räumlich sehr großzügig wohnt.
ist. Wir haben auf dem Land beispielsweise eine sehr hohe
Jedes Haus hat seinen Garten, aus dem viel für den Haushalt
Eigenheimquote, die mit über 80 % mehr als doppelt so
geholt werden kann.«41
hoch wie in den Großstädten ist. Außerdem tragen infor-
Ein großes Plus des Landes ist die weit überdurchschnitt-
melles Wirtschaften und soziales Kapital zum Wohlstand
liche Zufriedenheit seiner Bewohner mit ihrem Wohn-
auf dem Land bei. Die Menschen helfen sich gegenseitig –
umfeld: Sie liegt zwischen 80 und 90 % und ist damit etwa
generell mehr als in der Stadt – mit Gütern und Dienstleis-
doppelt so hoch wie in den Großstädten. Eine Theorie aus
tungen. Dies gilt traditionell für Bau- und Gartenarbeiten,
den Wirtschaftswissenschaften besagt, dass Wirtschaftsbe-
für den Austausch von Gartenprodukten oder die Betreu-
triebe sich am günstigsten dort ansiedeln, wo Menschen
ung von Kindern und älteren Menschen. Drei Soziologin-
sich wohlfühlen und ein Umfeld vorfinden, das ihnen
nen der Universität Bielefeld haben zwei Jahre lang zwei
erlaubt, produktiv zu sein. Die zufriedenen Einwohner sind
Dörfer der Warburger Börde durch »teilnehmende Beobach-
also ein weicher Wirtschaftsfaktor des ländlichen Raumes.
40
In vielen Dörfern ist der Tourismus heute zu einem wirtschaftlichen Standbein geworden, vor allem an den Küsten und Binnenseen, am Alpenrand und in den Mittelgebirgen: hier der Dorfkern von Saalhausen im westfälischen Sauerland mit seinen gepflegten, für die Region typischen schiefergedeckten Fachwerkhäusern. Das im Lennetal gelegene Saalhausen hat sich als Bundesgolddorf und Kneippkurort mit dem 2015 am Dorfrand neu angelegten Kurpark »TalVITAL « qualifiziert.
42
Das moderne Dorf
Vom »kleinen« Bauern zum »großen« Landwirt Von der Selbstversorgung zum marktorientierten Unternehmen
Wer die Entwicklung der Landwirtschaft von 1800
Um 1800 diente die bäuerliche Landwirtschaft noch
bis heute betrachtet, erkennt deren extremen Wandel.
weitgehend der Selbstversorgung der (Groß-)Familie mit
Wie sah ein »normaler« Bauernhof vor 200 Jahren aus,
Nahrung, Kleidung, Baumaterialien usw. Die Betriebe wa-
was waren seine Ziele? Wie präsentiert sich dagegen
ren weitgehend wirtschaftlich unabhängig. Lediglich an
ein erfolgreicher landwirtschaftlicher Betrieb von
die Grundherrschaft und die Kirche waren festgelegte
heute? Im gesamten 19. Jahrhundert war Bauer der
Abgaben (meist in Form von Naturalien) und Hand- und
mit Abstand häufigste Beruf. Seitdem haben sich
Spanndienste (z. B. mit dem eigenen Pferdegespann auf dem
die Zahlen der Erwerbspersonen und Betriebe in der
Gutshof des Grundherren) zu leisten. Neben der Selbstver-
Landwirtschaft dezimiert. Ein Blick nach vorn zeigt:
sorgung stand im Mittelpunkt der landwirtschaftlichen
Die Vergrößerung und Spezialisierung der Betriebe
Produktion die sog. »Hofidee«: Die Erhaltung des Hofes und
sowie die Steigerung der Produktion werden weiter-
seine Weitergabe an die nächste Generation galt als obers-
gehen. Von manchem werden diese Veränderungen
tes Wirtschaftsziel. »Die Sach zamhaltn«, wie es in Bayern
als schmerzhafte Verluste beurteilt.
heißt. Persönliche Wünsche und Bedürfnisse waren den Belangen des Betriebes untergeordnet. Aus der steten Verant-
Die Landwirtschaft hat in den zurückliegenden 200 Jahren
wortung gegenüber der Famlie hatte sich eine konservative
äußerst vielschichtige politische, technische, wirtschaftli-
Grundhaltung herausgebildet. Der Hof war Heimat und
che und soziale Veränderungen erfahren. Wenn man diese
Lebensgrundlage der Bauernfamilie, eventuelle Gewinne
kennt, versteht man den ländlichen Raum der Gegenwart
wurden zum größten Teil in den Betrieb zurückinvestiert.
und Zukunft besser. Die Landwirtschaft hat zwar im Ge-
Das fürsorgliche Haushalten mit dem eigenen Hof hatte
samtstaat wie auf dem Land selbst ihre ehemals führende
natürlich auch etwas mit den vergleichsweise sehr gerin-
ökonomische Position eingebüßt (was mit der Formulie-
gen Betriebsgrößen zu tun. Um 1800 lag die durchschnitt-
rung »Ablösung der Agrar- durch die Industriegesell-
liche Größe landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland
schaft« ausgedrückt wird). Sie ist jedoch immer noch der
bei etwa 3 ha, das entspricht der Fläche von etwa vier Sport-
spezifisch ländliche Wirtschaftszweig. Eine angemessene Beschreibung der Landwirtschaft und ihres Wandels ist daher ein wichtiges Thema zu Beginn dieses Buches.
Abbildung oben: Ein Bild der Landwirtschaft vor 200 Jahren erweckt heute nostalgische Gefühle.
Wirtschaft und Versorgung
43
samt 77 Privatanwesen lebten 33 % (als Bauern, Kleinbauern, Tagelöhner) allein von der Landwirtschaft, 18 % hingegen Ostpreußen
SchleswigHolstein
samt verfügten nur zehn Betriebe über mehr als 8 ha Land
Mecklenburg
Pommern
und konnten als Vollbauern bezeichnet werden. Zusammen mit der Gutsherrschaft, der Pfarrei und der Gemeinde be-
Hannover Kurmark
Westfalen
saßen diese zehn »Großen« etwa zwei Drittel der gesamten Gemarkungsfläche. Mehr als die Hälfte der Kunreuther
SachsenAnhalt KurHessen
Rheinland
von der Kombination Landwirtschaft/Handwerk. Insge-
Sachsen
Anwesen verfügte damals über weniger als 1 ha Land.42 Schlesien
Noch im Jahr 1882 besaßen im Deutschen Reich von den
Thüringen
über 5 Mio. landwirtschaftlichen Betrieben 58 % weniger
HessenNassau
als 2 ha, lediglich 0,5 % der Betriebe waren Großbetriebe über 100 ha. 1914 erreichte die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe mit 11 Mio. in Deutschland ihren Höchst-
Bayern Württemberg
Großbauern Mittelbauern Kleinbauern
Baden
Gutswirtschaft 25–40 % jeweils 40–60 % dominant über 60 %
Verbreitung der landwirtschaftlichen Betriebsgrößen in Deutschland um 1870
stand. Danach gingen die Zahlen ständig zurück, vor allem die der Klein- und Mittelbetriebe. Seit etwa 1955 verstärkten sich diese Schrumpfungsprozesse noch. Heute existieren in Deutschland noch etwa 300 000 landwirtschaftliche Betriebe, die durchschnittlich etwa 56 ha bewirtschaften.43 Bei den durchschnittlichen Betriebsgrößen gibt es in
plätzen. Entsprechend bescheiden war die Viehhaltung.
Deutschland allerdings große regionale Unterschiede, die
Längst nicht alle Klein- oder Kleinstbauern konnten sich
im Wesentlichen durch historische Erbsitten, unterschied-
eine Kuh leisten, sondern mussten sich auf Schafe und Zie-
liche Gutsbildungsprozesse sowie durch die Agrarpolitik
gen, ein bis zwei Schweine und ein paar Hühner beschrän-
in der DDR geprägt wurden. So dominieren – stark gene-
ken. Ein konkreter Blick in das fränkische Dorf Kunreuth
ralisiert – im deutschen Südwesten immer noch die Klein-
mit etwa 450 Einwohnern im Jahr 1848 zeigt: Von insge-
und Mittelbetriebe, im deutschen Norden und Nordosten die Großbetriebe. Gerade in den neuen Bundesländern herrschen heute die Großbetriebe mit über 500 ha vor. Ein Beispiel ist der Betrieb Schulte-Ebbert in Lelkendorf in Mecklenburg-Vorpommern, der 1992 von seinem Standort am Dortmunder Stadtrand (wo er keine Erweiterungsmöglichkeiten hatte) übergesiedelt war und heute etwa 1000 ha bewirtschaftet. In gewisser Weise setzt Schulte-Ebbert mit seinem jetzigen Großbetrieb die Tradition des früheren adligen Gutshofes (bis 1945) und des dann ab 1952 folgenden LPG -Betriebes (LPG = landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) fort. Die großen Flächen ermöglichen den Einsatz großer und moderner Maschinen, womit zugleich Arbeitskräfte eingespart werden. Damit können höhere Renditen als auf kleineren Feldern erwirtschaftet werden. Der junge Betriebsinhaber Klaus Schulte-Ebbert formuliert deshalb eine positive Einschätzung seines Großbetriebes, den er mit sechs festen Mitarbeitern bewirtschaftet (in der frühe-
Der Blick in ein hessisches Dorf um 1935 zeigt die Enge und Kleinteiligkeit der landwirtschaftlichen Betriebe. Das Wirtschaften und soziale Leben fand früher mehr als heute auf der Dorfstraße statt.
44
Das moderne Dorf
ren LPG waren es noch 60 Mitarbeiter): »Wir sind ein Ge-
und Erwerbspersonen sogar noch weiter zurückgehen. Die
mischtbetrieb. Wir haben Schweinemast, dann Mutterkuh-
Bauerngeneration, die vor etwa 50 Jahren auf quasi natür-
haltung und Ackerbau. Rein landwirtschaftlich ist das hier
liche Weise in die Landwirtschaft hineingewachsen ist, tritt
bestimmt keine Provinz, sondern das ist von den Betriebs-
allmählich ab und hat oft in der eigenen Familie keinen
strukturen her das Beste, was es in Deutschland oder auch
Nachfolger mehr. Es ist daher anzunehmen, dass es gerade
weltweit schon gibt. Das ist hier schon optimal.«
in den nächsten zehn bis 20 Jahren zu verstärkten Betriebs-
44
Wie man an diesem Beispiel schon sieht, ist auch die Zahl
aufgaben kommen wird. Deren Flächen werden dann zu
der Erwerbspersonen in der Landwirtschaft drastisch zu-
weiteren Vergrößerungen der bestehenden Betriebe führen.
rückgegangen. 1914 waren im damaligen Deutschen Reich
Typisch für die deutsche Landwirtschaft ist seit Jahrhun-
rund 11 Mio. Personen in der Landwirtschaft tätig, wo-
derten der bäuerliche Familienbetrieb. Der Hof ist hier das
mit gleichzeitig auch der Höchststand erreicht war (um
Zentrum des wirtschaftlichen Handelns und zugleich der
1800 waren es etwa 7 Mio.). Im Jahr 1950 gab es in der Land-
Familie, die meist aus mehreren Generationen besteht. Alle
und Forstwirtschaft der BRD und DDR zusammen immer-
Familienmitglieder helfen in irgendeiner Weise am Hof
hin noch 7,1 Mio. Erwerbspersonen, heute sind es noch
mit, auch wenn sie in Berufen außerhalb des Hofes tätig
ca. 616 000. Der Anteil der land- und forstwirtschaftlichen
sind. Mit dem zunehmenden Wachstum und der Arbeits-
Erwerbstätigkeit an der Gesamterwerbstätigkeit lag in
überlastung der Betriebe, durch die Einstellung hoffrem-
Deutschland um 1800 bei 80 % und beträgt heute nur noch
der Mitarbeiter, aber auch durch nicht landwirtschaftliche
1,6 %! Vom gegenwärtigen Trend und von den Prognosen
Berufe der Ehefrauen und Kinder geht das früher gemein-
her werden die Zahlen der landwirtschaftlichen Betriebe
schaftliche »Für den Hof denken, handeln und fühlen« vor
Viele landwirtschaftliche Betriebe sind aus der engen Dorflage in die Feldflur gezogen. Hier haben sie Platz und liegen inmitten ihrer Felder, wie dieses moderne Gehöft bei Vahlbruch im Weserbergland.
Wirtschaft und Versorgung
45
allem in den nachwachsenden Generationen allmählich
ter Sirup bereitet, 1350 Kilogramm geschälte und 5000 un-
zurück. Gleichwohl ist der bäuerliche Familienbetrieb mit
geschälte Äpfel und 28 000 Kilogramm Bohnen getrock-
seinem Hofdenken über Generationen hinweg immer noch
net. 494 Frauen-, Männer- und 200 Kinderkleider genäht,
ein tragendes Leitbild der deutschen Landwirtschaft, das
224 Paar Socken gestrickt, 132 Herrenhemden angefertigt,
auch von der Agrarpolitik und von Agrarverbänden wie
43 680 Stunden geputzt, abgestaubt und gewaschen, fünf
dem Deutschen Bauernverband unterstützt wird.
Kinder großgezogen, die Buchhaltung besorgt und sich
Im bäuerlichen Familienbetrieb spielte die Mitarbeit der Frau eine tragende Rolle. Die Bäuerin war nicht nur für das
theoretisch und praktisch in die verschiedenen Fächer der Landwirtschaft eingearbeitet und weitergebildet.«45
Großziehen der Kinder und die Pflege der Alten zuständig.
Der fortschreitende Rückgang landwirtschaftlicher Be-
Sie versorgte nicht nur den meist großen Haushalt – mit
triebe hat nicht nur das Gesicht der Dörfer verändert, son-
der dazugehörigen Gartenarbeit – mit Einmachen, Ko-
dern auch das gesamte wirtschaftliche und soziale Le-
chen, Backen, Nähen und Stopfen. In der Regel war sie auch
ben auf dem Land. Viele sehen darin einen Fortschritt, war
für das Vieh im Stall mit zuständig, z. B. für das Füttern,
doch das frühere Arbeitsleben der Bauern und Landarbei-
Melken und »Buttern«. Und wie selbstverständlich war sie
ter hart und entbehrungsreich. Nicht wenige sprechen aber
auch bei bestimmten Feldarbeiten wie dem Heuwenden,
auch von schmerzhaften Verlusten – für die betroffenen
Ährenbinden und Kartoffelsammeln dabei. Sehr bemer-
Familien, das Dorf und die ganze Gesellschaft. Am größ-
kenswert und anschaulich ist die Auflistung der schwei-
ten sind die Verlusterfahrungen für die bäuerlichen Fa-
zerischen Bäuerin Augusta Gillabert-Randin (1869–1940)
milien selbst, die mit ihrem Betrieb auch die über Gene-
über ihre im Verlauf von 30 Jahren erbrachten Leistun-
rationen gepflegte und weitergegebene Hofidee aufgeben
gen: »23 400 Brote und 7890 Wähen gebacken, 2800 Hüh-
müssen. Die Verluste für das Dorf bestehen darin, dass die
ner aufgezogen und für 15 000 Franken Eier verkauft, 180
ehemals ökonomisch, sozial und kulturell dorftragende
Schweine gemästet und 131 000 Mahlzeiten mit Schweine-
Schicht binnen weniger Jahrzehnte ihre Position verliert,
fleisch bereitet, insgesamt 56 990 Essen gekocht und ser-
und außerdem die großen alten Hofgebäude in den Dorf-
viert (nicht einberechnet 90 Einladungen, 30 Familien-
kernen nicht immer neu genutzt werden können und leer
feste, 4 Hochzeits- und 9 Taufmahlzeiten), 9600 Stunden
stehen oder verfallen. Auch für die ganze Gesellschaft ist es
auf dem Markt gestanden und für 78 000 Franken Produkte
ein Verlust, wenn sich immer mehr Menschen von der äl-
verkauft, 5950 Kilogramm Früchte zu Konfitüre einge-
testen, natürlichsten, nachhaltigsten und vielleicht schöns-
kocht und 2400 Konserven, 1000 Liter Wein und 2000 Li-
ten Wirtschaftsform entfernen (müssen) – so resümierte unlängst Berthold Kohler über das anhaltende Höfesterben: »Mit jedem aufgegebenen Bauernhof, der meist über
Alte Bundesländer Betriebe gesamt
1 646 800 1 206 300
629 700
428 500
BRD 344 434
374 514
Generationen bewirtschaftet wurde, geht eine Geschichte
Neue Bundesländer 30 080
29 900
4751
713 300
454 600
Lohn des Fleißes und der Erfüllung verloren. Bauern sind
Kleinbetriebe < 10 ha
47%
41%
32%
32%
33%
bodenständige Leute. Auch den Gesellschaften und Volks-
38% 65%
54%
63% 77% 19% 30%
18%
29%
als weniger zu haben.«46 Mit dem Bauernsterben geht auch
100%
ein Stück deutscher und europäischer Kultur verloren.
30% 33%
Die landwirtschaftliche Produktion ist heute in 47%
32%
37%
38%
2007
2007
44%
27%
40%
20% 3%
5%
1949
1967
1990
2000
2007
2000
1989
8%
6%
den Verkauf der Produkte zum Ziel. Hierzulande dienen
1949
1939
nur noch höchstens 5 % der landwirtschaftlichen Erzeu-
Wegen neuer Klassifizierungen der Betriebsgrößen nach 2007 ist diese Grafik leider nicht zu aktualisieren.
Das moderne Dorf
Deutschland, wie in den meisten Industrieländern, auf den Markt ausgerichtet. Das heißt, sie hat den gewinnbringen-
29%
20%
Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland von 1939 bis heute
46
wirtschaften des 21. Jahrhunderts müsste, wie die jüngste Vergangenheit zeigt, daran gelegen sein, davon eher mehr
Mittlere Betriebe 10 –30 ha
Größere Betriebe > 30 ha
der Mühsal, der Entbehrung und der Sorge, aber auch vom
gung der Selbstversorgung der Betriebe. In den Entwick-
lungsländern liegt der Anteil der Selbstversorgung dage-
sen Kauf durch den Lohn bei BMW , Daimler oder BASF
gen häufig noch bei 80–90 % (die Experten sprechen hier
bezahlt wird. In Baden-Württemberg erfolgt mehr als die
von Subsistenzwirtschaft). Der deutsche bzw. europäische
Hälfte der Weinproduktion durch Nebenerwerbsbetriebe.
Landwirt gehört einer arbeitsteiligen Gesellschaft an und
Gerade auch sie dienen der Pflege der überlieferten Kul-
steht in stetem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage.
turlandschaft sowie der Erhaltung sozialer und kultureller
Während heute Schweinefleisch gefragt ist, können es
Traditionen auf dem Land. Typisch für die deutsche Land-
morgen Milchprodukte oder Energiepflanzen sein. Zwi-
wirtschaft ist insgesamt die Vielfalt seine Betriebe: »Da gibt
schen Erzeugung und Verbrauch hat sich eine immer grö-
es die vielen Nebenerwerbsbetriebe, kleine Höfe, die Teil-
ßere Trennung vollzogen: Transport, Verarbeitung, Verpa-
zeitlandwirte am Wochenende bewirtschaften, während sie
ckung und Handel haben an Bedeutung gegenüber dem
unter der Woche einem anderen Beruf nachgehen. Da gibt
Produzenten gewonnen. Die Ausweitung der Marktwirt-
es die großen Schweinezüchter, die in gewaltigen Hallen
schaft über die Staatsgrenzen hinaus hat zu weltweiten Ver-
auf industrielle Art und Weise Fleisch für den Weltmarkt
flechtungen der deutschen Landwirtschaft geführt. So ver-
produzieren. Es gibt Milchbauern im Hochgebirge, riesige
kaufen große Landwirte z. B. ihr Getreide über langfristige
Ackerbaubetriebe in Mecklenburg-Vorpommern, Bio-Bau-
Kontrakte mit der Nahrungsmittelindustrie oder online an
ern mit Hofladen und Gästezimmern, Spargelkönige und
der Warenbörse bis nach Übersee. Exportiert werden vor al-
Biogasanlagenbesitzer.«47
lem aber verarbeitete Güter wie Käse, Joghurt, Wurst, Bier
Insgesamt hat sich die Produktivität der Landwirtschaft
und Wein, importiert werden vor allem Futtermittel wie
seit Beginn des 20. Jahrhunderts vervielfacht – dies geschah
Soja und Mais oder Südfrüchte wie Bananen und Orangen.
durch diverse technische und biologische Fortschritte,
Insgesamt gehört Deutschland heute zu den führenden Na-
durch Spezialisierung und Rationalisierung. Sowohl in der
tionen im Weltagrarhandel – neben den USA, den Nieder-
Bodennutzung als auch in der Viehhaltung kam es zu einer
landen und Frankreich – sowohl im Import als auch im Ex-
drastischen Verkürzung des früheren Arbeitszeitaufwands:
port von Waren. Interessant ist ein Blick auf die sehr unterschiedliche Erwerbsstruktur der landwirtschaftlichen Betriebe: Haupterwerbsbetriebe werden hauptberuflich geführt, das überwiegende Familieneinkommen entstammt aus der Landwirtschaft. Nebenerwerbsbetriebe hingegen sind im Nebenberuf bewirtschaftete Betriebe, wobei der Betriebsleiter einem außerbetrieblichen Hauptberuf nachgeht. Mehr als die Hälfte des Familieneinkommens wird durch diesen anderen Hauptberuf bestritten. In Deutschland werden derzeit (2018) etwa 48 % der 266 690 landwirtschaftlichen Betriebe im Haupterwerb geführt, welche im Durchschnitt 66 ha bewirtschaften. Dass heute noch 52 % der Betriebe im Nebenerwerb geführt werden (sie bewirtschaften durchschnittlich 23 ha), kommt auch manchen Experten wie ein kleines Wunder vor.46a Immer wieder wurde die Nebenerwerbslandwirtschaft, die 1965 in Deutschland noch bei 33 % aller Betriebe lag, als eine Übergangserscheinung dargestellt. Offenbar bietet die Nebenerwerbslandwirtschaft, die vor allem in Süddeutschland verbreitet ist, ökonomische, soziale und psychologische Vorteile. Immer gern erzählt wird die Geschichte vom neuen Traktor, desDie Mitarbeit der Frau in der Landwirtschaft war früher selbstverständlich, zum Beispiel war das Melken der Kühe überwiegend Frauensache.
Wirtschaft und Versorgung
47
So sank z. B. der jährliche Arbeitszeitaufwand je Hektar Ge-
takuläre Proteste in allen Teilen Deutschlands, aber auch in
treidebau in Deutschland von 1950 bis heute von 150 auf
benachbarten Ländern wie Frankreich, die per Fernsehen
6 Stunden, der je zehn Mastschweine von 80 auf acht Stun-
durch die Welt gingen. Milchbauern verschütteten ihre
den. Insgesamt hat sich der pro Arbeitskraft in der Land-
kostenintensiv produzierte und wertvolle Milch in Gülle-
wirtschaft erwirtschaftete Produktionswert in Deutschland
fässern auf Grünland. Solche Aktionen zeigen die Abhän-
von 1900 bis heute teilweise verzwanzigfacht. Damit liegen
gigkeit und häufig die Ohnmacht der Bauern gegenüber
die Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft relativ
dem Markt und hier besonders den großen Handelsket-
höher als in der Industrie. Die Hektarerträge bei Getreide,
ten. Die oft kurzfristigen Preisschwankungen erschweren
Kartoffeln und Zuckerrüben haben sich in Deutschland
ein langfristiges Planen der Landwirte und beschleunigen
von 1900 bis heute durchschnittlich verdreifacht (Situa-
das Ausscheiden der kleinen und mittleren Betriebe. Aller-
tionsbericht des Bauernverbandes 2018/2019). Ein Landwirt
dings erzielen die Bauern derzeit mehr als die Hälfte ihres
ernährt heute durchschnittlich 140 Menschen, 1950 waren
Einkommens durch Subventionen der EU, die Direktzah-
es noch zehn Menschen.
lungen je Hektar Anbaufläche werden ab 2021 voraussicht-
Trotz ständiger Fortschritte in der Produktion beklagt die Landwirtschaft immer wieder den z. T. drastischen Rück-
lich an strengere Umwelt- und Sozialauflagen geknüpft werden.
gang der Erträge für ihre Erzeugnisse. Der Sommer 2009
Insgesamt hat sich die deutsche Landwirtschaft in den
brachte eine überdurchschnittlich reiche Getreideernte.
zurückliegenden Jahrzehnten positiv entwickelt. Die Land-
Dennoch ging im Herbst 2009 das einhellige Fazit der Bau-
und Forstwirtschaft ist mit den vor- und nachgelagerten
ern und ihrer Fachverbände »Gute Ernte – schlechte Preise«
Wirtschaftsbereichen – wie Landmaschinenherstellung und
durch die Medien. Der Präsident des Deutschen Bauernver-
Nahrungsmittelhandel – ein wichtiger Teil der deutschen
bandes, Gerd Sonnleitner, formulierte stellvertretend für
Volkswirtschaft. Im gesamten Agrarbusiness sind 4,7 Mio.
viele: »Die Getreidepreise aus der Ernte decken nicht die
Frauen und Männer beschäftigt. Damit ist jeder neunte Er-
Produktionskosten« und sprach von historischen Tiefstän-
werbstätige in Deutschland im Agrarbusiness tätig. Die-
den bei den Erlösen.47a Einen drastischen Preisverfall gab es
ses erwirtschaftet 8 % des Produktionswertes unserer Wirt-
im gleichen Jahr auch bei der Milch. Die Folge waren spek-
schaft.48
Kühe auf der Weide: dieses vertraute Bild ist vielerorts durch die Schrumpfung oder Spezialisierung der landwirtschaftlichen Betriebe immer seltener anzutreffen.
48
Das moderne Dorf
Von schlechtem Wetter und guten Böden Die natürlichen Voraussetzungen der Landwirtschaft
Kaum ein Wirtschaftszweig ist so stark von den Wech-
grenzt nutzbar. Und es macht schon einen Unterschied, ob
selfällen der Natur abhängig wie die Landwirtschaft.
ein Bauer in Börden- und Gäulandschaften auf den bes-
Was kann der Landwirt anbauen auf sandigen, stein-
ten Böden Deutschlands wirtschaftet oder auf den kar-
reichen, feuchten oder extrem trockenen Böden, was
gen, steinreichen Böden der Mittelgebirge. Gegen längere
an steilen Hängen? Wie reagiert er auf ungünstiges
Dürre- oder Nässeperioden ist auch der beste Landwirt oft
Klima und Wetter? Wann ist der ideale Zeitpunkt zum
machtlos. Immer wieder hat die Landwirtschaft daher ver-
Säen oder Ernten, wenn eine Schlechtwetterperiode
sucht, ihre Abhängigkeit von Boden und Klima bzw. vom
angesagt ist? Welche Möglichkeiten hat die Landwirt-
Wetter durch technischen Fortschritt zu verringern. Aller-
schaft heute, die vielfältigen Abhängigkeiten ihrer
dings stellt sich gerade in der hoch entwickelten Landwirt-
Produktion von natürlichen Widrigkeiten zu verringern?
schaft häufiger auch die Frage nach den Grenzen der Belastbarkeit der natürlichen Ressourcen. Der Mensch merkt, dass
Die Landwirtschaft ist generell von zahlreichen natürli-
er durch seine Wirtschaftsweise nicht selten z. B. die Böden
chen sowie sozialen, ökonomischen und politischen Be-
schädigt. Die zunehmenden Bemühungen um eine ökolo-
dingungen abhängig. Damit haben sich mehrere Wissen-
gische bzw. nachhaltige, d. h. vor allem bodenschonende,
schaftsdisziplinen schon seit über 200 Jahren ausführlich
Landbewirtschaftung sind daher zu einem neuen Arbeits-
beschäftigt und einige Regalmeter Lehrbücher verfasst.
schwerpunkt für Politik, Wissenschaft und Praxis geworden.
Viele Wissenschaftler fanden Interesse an der grundsätzli-
Zu den natürlichen Grundlagen der Landwirtschaft ge-
chen Frage, ob die Landnutzung mehr durch Naturfakto-
hören vor allem das Klima, der Boden und das Relief. Das
ren oder durch die politische, kulturelle und technische In-
großräumige Klima ist zunächst der wichtigste, weil kaum
wertsetzung des Menschen geprägt wird. Allgemein kann
veränderbare Naturfaktor der Agrarproduktion. Deutsch-
man heute feststellen, dass der Einfluss der Natur- gegen-
land liegt in den gemäßigten Breiten, d. h. extreme Hitze-
über den Kulturfaktoren in den modernen Industrielän-
oder Kälteperioden sind hier eher selten. Der konkrete jah-
dern wie Deutschland – vor allem durch den technischen
reszeitliche Rhythmus des Wettergeschehens, den man
Fortschritt – ständig abgenommen hat. Aber auch heute setzt die Natur der Landwirtschaft noch Grenzen. Ein steiler Gebirgs- oder Talhang bleibt nur be-
Abbildung oben: Die Magdeburger Börde bietet mit ihren fruchtbaren Böden beste Voraussetzungen für hochwertigen Ackerbau.
Wirtschaft und Versorgung
49
Witterung nennt, ist jedoch von großer Unbeständigkeit geprägt. Niederschläge, Wärme- und Kältephasen wechseln nicht nur von Region zu Region, sondern sind auch
Rostock
von Jahr zu Jahr erheblichen Schwankungen ausgesetzt. Sowohl Trocken- als auch Nässeperioden führen nicht selten
Schwerin
Hamburg
zu erheblichen Missernten gerade bei Sonderkulturen wie
Bremen
Wein- oder Obstbau, aber auch im Getreidebau. Die permanente Wetterbeobachtung gehört deshalb zu den wich-
Berlin Hannover
tigsten Voraussetzungen einer erfolgreichen Landnutzung.
Magdeburg
Trotzdem bleibt jedem Landwirt, Wein- und Obstbauern
Cottbus
das witterungsbedingte Risiko.
Dortmund
gung, Höhenunterschiede, geschützte oder offene Gelände-
Leipzig
Kassel
Neben Klima und Witterung prägt das Relief (HangneiKöln
Dresden
Chemnitz
Erfurt
lage, Lage zu Sonne und Wind) die Landnutzung. Grundsätzlich sind große, ebene Flächen am besten für die Land-
Frankfurt a. M.
nutzung geeignet. Sie finden sich in Deutschland einmal in den weiten, zusammenhängenden Ebenen oder Fastebe-
Nürnberg
Saarbrücken
nen des Norddeutschen Tieflands. Aber auch im reliefreicheren Süddeutschland sind größere regionale Ebenheiten
Stuttgart
in Beckenlandschaften oder auf Hochebenen anzutreffen.
München
Selbst auf den relativ ebenen Hochflächen der Schwäbi-
Freiburg i. Br.
schen und Fränkischen Alb ist in 700 m Höhe noch ackerbauliche Nutzung anzutreffen. Mit wachsender Hangneigung werden zunächst die Möglichkeiten des Ackerbaus eingeschränkt, der in der Regel bis etwa 18 % Neigung betrieben wird. Einen etwas größeren Spielraum bis etwa 30 % Hangneigung besitzt hingegen die Grünlandnutzung. Steillagen ab 30 % sind dem Waldbau sowie in warmen Regionen – bei guter Sonnenexposition – dem Weinbau vor-
Bodenklimazahl 0 30 40 50 60 100
Häufigkeit auf Kreisebene 0 47 160 179 78
50
100 km
81
Standortgüte der landwirtschaftlichen Produktion in Deutschland nach Bodenklimazahlen
behalten. Für die Agrarnutzung ungünstige Reliefverhältnisse finden sich vor allem in den deutschen Mittel- und
tierung aller Kulturböden. Die Bodengüte wurde mit Zah-
Hochgebirgen.
len von 1 bis 100 angegeben, wobei man sich an dem frucht-
Die Böden sind die unmittelbarste Produktionsgrund-
barsten Schwarzerdeboden der Magdeburger Börde orien-
lage der Landwirtschaft und stellen zugleich Standort und
tierte, der die Bodenzahl 100 bekam. Durch zusätzliche
Nährstoffträger der Vegetation dar. Für die Bodenquali-
Berücksichtigung der Faktoren Klima, Relief und Wasser-
tät entscheidend sind der Humusgehalt, der Mineralgehalt
verhältnisse erhielt man schließlich eine Bodenklima-
sowie die gute Durchlüftung und Durchwässerung. Um
zahl, die ebenfalls für jede landwirtschaftliche Nutzfläche
verschiedene Böden miteinander vergleichen zu können,
in Deutschland vorliegt und deren konkrete durchschnitt-
drückt man die eigentlich sehr komplexe Bodenfruchtbar-
liche Bodenfruchtbarkeit anzeigt. Ein paar Beispiele: Die
keit in Zahlen aus. Das erste brauchbare Klassifizierungs-
Lössböden der Börden haben im Durchschnitt die Boden-
system schuf der berühmte Agrarwissenschaftler Albrecht
klimazahl 60–90, Kalkverwitterungsböden etwa 30–60,
Auf dessen Basis ent-
Sandböden 10–40. Böden mit geringeren Bodenklimazah-
stand in Deutschland seit der Reichsbodenschätzung von
len als 30 werden als Grenzertragsböden bezeichnet. Dies
1935 flächendeckend eine amtliche Schätzung bzw. Boni-
soll ausdrücken, dass eine rationelle Bewirtschaftung die-
Daniel Thaer bereits im Jahr 1813.
50
Das moderne Dorf
49
ser Böden unter den gegenwärtigen Verhältnissen kaum für
werden von der Land- und Forstwirtschaft bewirtschaftet.
sinnvoll gehalten wird.
Rund 30 % sind Wald, 52,5 % Landwirtschaftsfläche. Inner-
Die Naturfaktoren Klima, Relief und Boden zeigen ihre
halb der Landwirtschaft dominiert das Ackerland eindeu-
unmittelbarste Wirkung in der Vegetation. Die ursprüngli-
tig mit 70,5 % vor dem Dauergrünland mit 28,3 %. Dem Gar-
chen natürlichen Pflanzengesellschaften (wie Wälder oder
ten-, Obst- und Weinbau bleiben 1,1 % der landwirtschaft-
Grassteppen) sind auf der Erde durch die intensiven Land-
lich genutzten Fläche, die allerdings sehr intensiv und
nutzungen weitgehend beseitigt und in Kultur- bzw. Wirt-
produktiv bearbeitet wird. Durch den gewachsenen Be-
schaftslandschaften umgewandelt worden. Dennoch prägt
darf an Getreide für Futtermittel und Ernährungsindustrie
die jeweilige Naturausstattung immer noch in hohem
(Schwerpunkt Schweinemast und Bierherstellung) haben
Maße die Bodennutzung. So lassen sich die wichtigsten Bo-
die Ackerflächen in Deutschland zulasten des Grünlandes
dennutzungsarten in Deutschland (Ackerbau, Grünland-
zugenommen. Ebenfalls angewachsen sind die Anbauflä-
wirtschaft, Waldbau sowie Sonderkulturen) in ihrer regi-
chen für Gartenbau (Gemüse, Beeren, Blumen) und Son-
onalen Verbreitung »natürlich« erklären. Generell gilt: je
derkulturen (Wein, Obst, Hopfen, Gewürzpflanzen).
hochwertiger die Böden wie z. B. in den Börden, umso mehr
Zahlreiche
technische
und
wissenschaftliche
Fort-
dominiert der Ackerbau, während die Grünlandnutzung
schritte haben bewirkt, dass die Landwirtschaft in den zu-
im feuchten Tiefland und in Bergregionen vorherrscht.
rückliegenden 150 Jahren ihre Abhängigkeit von Klima,
Ein Blick auf die Flächennutzungen zeigt, wie sehr das
Wetter, Boden und Relief verringern konnte: Durch
»Industrieland« Deutschland noch immer durch seine Ag-
Pflanzenzüchtung wurden Sorten entwickelt, die kürzere
rarfunktionen geprägt wird. Etwa 83 % der Staatsfläche
Wachstumszeiten benötigen und damit auch in unseren
Der Weinbau wird in Deutschland traditionell vor allem in Steillagen an Flusstälern betrieben. Für die beschwerliche Arbeit in den Weinbergen wird heute zunehmend moderne Technik genutzt, wie hier in Kobern-Gondorf an der Mosel.
Wirtschaft und Versorgung
51
Klimaregionen zur Reife kommen. Durch immer besseren
und nicht zuletzt das richtige »Bauchgefühl«. Dennoch las-
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln gegen Pflanzenkrank-
sen sich starke wetterbedingte Ertragsschwankungen bis
heiten und -schädlinge konnten die ackerbaulichen Erträge
hin zu Ertragsausfällen nicht ausschließen.
deutlich gesteigert und stabilisiert werden. Der Einsatz von
Manchmal beschäftigen sich Politiker und Wissenschaft-
Mineraldünger verbesserte das Wachstum der Pflanzen er-
ler mit der grundsätzlichen Frage der agraren Tragfähig-
heblich und machte auch »schlechte« Böden ackertauglich.
keit von Räumen, d. h. wie viele Menschen die Landwirt-
Moderne Sä- und Erntemaschinen beschleunigen die Land-
schaft in einer bestimmten Region ernähren kann. Die
nutzung, sodass der Bauer nicht mehr auf so lange Zeit-
Tragfähigkeit eines Raumes ist von einer Vielzahl natür-
fenster guten Wetters angewiesen ist wie früher. Dennoch
licher, ökonomischer, sozialer und politischer Faktoren ab-
bleibt eine starke Abhängigkeit von extremen Wetterlagen
hängig. Generell ist sie in den zurückliegenden 200 Jah-
und Wetterumschwüngen bestehen. Soll man mit der Ge-
ren durch Düng ung, Mechanisierung, Züchtungen, Ener-
treideernte beginnen, auch wenn das Korn noch nicht ganz
gieeinsatz u. a. stark angestiegen. Eine Landschaft wie die
reif und trocken ist, aber eine längere Schlechtwetterperi-
Altmark oder die Wetterau kann heute eine viel größere
ode angesagt ist? Hier hilft dem Landwirt die jahrzehnte-
Menge an landwirtschaftlichen Produkten erzeugen als je-
lange Erfahrung mit dem Wetter und dem lokalen Boden
mals zuvor.
In den Mittelgebirgen, wie hier im Schwarzwald, betreibt die Landwirtschaft vor allem Grünlandnutzung und Viehhaltung. Schlechtere Böden, ungünstiges Klima und starke Hangneigung erschweren eine ackerbauliche Bewirtschaftung.
52
Das moderne Dorf
Vollernter, Melkroboter und GPS Die Fortschritte der Landtechnik
»Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt«. Als
gute kamen. Die Entwicklung begann in England und den
wir dieses Volkslied vor etwa 60 Jahren in der Schule
USA , ab etwa 1850 entfaltete sich die moderne Landtech-
lernten und sangen, entsprach der Text noch der Wirk-
nik auch in Deutschland und nahm hier bald eine impo-
lichkeit: Landwirtschaft wurde mit Pferdestärken (PS !)
nierende Entwicklung.50 Dies gilt sowohl für den Indust-
und Menschenkraft ausgeübt. Auch das Melken
riezweig Landtechnik als auch für deren Nutzung durch
der Kühe war Handsache. Ebenso das Buttermachen –
die Landwirtschaft. Die deutsche Landmaschinenindust-
mithilfe von Zentrifuge und Butterfass. Wie ein Wun-
rie gehört heute neben jener in den USA zu den Branchen-
derwerk kam uns damals die große Dreschmaschine
führern in der Welt. Dies gilt z. B. für Mähdrescher, Trakto-
vor, die in den Wintermonaten in die Höfe gezogen
ren, Feldhäcksler sowie Kartoffel- und Zuckerrüben-Voll-
wurde, um das Korn aus den zuvor sorgsam gelagerten
erntemaschinen. Dass moderne Landmaschinen und viele
Korngarben herauszudreschen. Die Erntearbeiten
andere agrartechnische Geräte hierzulande hergestellt wer-
mussten also bis Dezember und Januar fortgesetzt
den, kommt nicht nur der hiesigen Landwirtschaft, son-
werden! Dies sind Blicke in eine versunkene Welt.
dern auch dem Wirtschaftsstandort ländlicher Raum zu-
Heute ist »Precision Agriculture« angesagt, in der
gute. Landmaschinenbau und Landmaschinenhandel sind
Sensortechnik, GPS und Internet alle Betriebsabläufe
meist in ländlichen Regionen angesiedelt und bieten hier
unterstützen, steuern und kontrollieren.
nicht zuletzt auch eine große Anzahl von z. T. hoch qualifizierten Arbeitsplätzen.
Wenn ein Bauer von 1800 auf einen landwirtschaftlichen
Bei den Fortschritten in der Landtechnik unterschei-
Betrieb von heute käme, wäre er wahrscheinlich lange
den wir zwischen den mechanisch-technischen Erfindun-
sprachlos und würde an ein modernes Teufelswerk glau-
gen und den organisch-technischen Innovationen. Die
ben. Selbst ein Bauer von 1950 würde sich heute wie in ei-
mechanisch-technischen Erneuerungen zielen vor allem
nem technischen Wunderland vorkommen. Tatsächlich
auf eine Einsparung und Unterstützung der menschlichen
hat nichts die Landwirtschaft in den letzten 200 Jahren so
Arbeitskraft durch Maschinen und Fahrzeuge ab. Mit Be-
stark verändert wie die moderne Landtechnik. Den Impuls gab die einsetzende Industrialisierung mit ihren vielfältigen Maschinen, die sehr bald auch der Landwirtschaft zu-
Abbildung oben: Moderne Mähdrescher haben die Getreideernte gegenüber früher extrem erleichtert und beschleunigt.
Wirtschaft und Versorgung
53
ginn des 20. Jahrhunderts setzte in Deutschland die Motori-
Anschließend wurde das Korn auf Kornböden oder in Korn-
sierung und Elektrifizierung der landwirtschaftlichen Pro-
scheunen gelagert, an das Vieh verfüttert oder verkauft.
duktion ein. 1907 begann die Anwendung des Motorpflugs,
Der selbstfahrende Mähdrescher erlaubt heute den zeit-
und zwischen den beiden Weltkriegen erfolgte die weitge-
lich optimalen, schnellen, körperlich leichten Ernteeinsatz
hende Elektrifizierung des flachen Landes. Seit den 1920er
und vermindert damit auch die witterungsbedingten Ern-
Jahren wurde schließlich der Traktor zur wichtigsten tech-
teausfälle. Die modernen Mähdrescher sind mit leistungs-
nischen Einrichtung der Landwirtschaft.
starken Bordcomputern sowie hochsensibler Sensortech-
Die schnell fortschreitende Mechanisierung und Moto-
nik und GPS -Ortung (die wie Navigationsgeräte in Autos
risierung hat besonders die sog. »Getreidekette« revolutio-
funktionieren) ausgestattet.51 Mit ihrer Hilfe erfährt der
niert. Allein für die Ernte war früher vom Schnitt (Sichel,
Landwirt auf ein paar Zentimeter genau nicht nur den prä-
Sense, Mähmaschine, Binder) bis zum Dreschen monate-
zisen Ernteertrag und dessen diverse Qualitäten auf jedem
lange Arbeit nötig. Das Getreide wurde im Sommer ge-
Teilstück des Feldes, sondern auch exakte Angaben über die
mäht, auf dem Feld in »Garben« gebunden und in »Richten«
jeweiligen Pflanzen- und Bodeneigenschaften. Aus diesen
oder »Hocken« zum Trocknen aufgestellt, dann abgefahren
Daten wird dann die Dosierung der folgenden Bodendün-
und in Scheunen oder »auf dem Balken« gelagert. Das ei-
gung und Pflanzenbehandlung festgelegt. Der Dünger-
gentliche Dreschen (das Herausschlagen der Körner aus den
streuer ist mit dem entsprechend eingefügten Chip in der
Ähren) erfolgte bis in die 1960er Jahre durch große Dresch-
Lage, vollautomatisch die bedarfsgerechten Düngermengen
kästen oder Dreschmaschinen meist in den Wintermonaten.
auf den einzelnen Teilstücken des Feldes zu verteilen. Bei
Historische Dreschmaschinen aus den 1930er oder 50er Jahren stehen heute im Museum: Hier wird ein alter Dreschkasten in Funktion vorgeführt in Klein-Oschersleben (Bördekreis).
54
Das moderne Dorf
Auch die Kartoffelernte erfolgt heute weitgehend mit Vollerntemaschinen, nur die Steine müssen noch per Hand aussortiert werden. Auch in diesem Teilbereich gehört die deutsche Landmaschinenindustrie zu den Weltmarktführern.
der nächsten Ernte teilt der Bordcomputer dem Landwirt
läufe. Das frühere Melken mit der Hand ist inzwischen
mit, inwieweit die durchgeführten Maßnahmen der Bo-
durch den Melkroboter ersetzt worden. Auf den Betriebs-
den- und Pflanzenbehandlung erfolgreich waren. Für die
computern, die heute zum Standard zumindest der Haupt-
hier beschriebene und heute übliche moderne Landtech-
erwerbsbetriebe gehören, sind alle wichtigen Daten der
nik hat sich international und auch in Deutschland der Be-
Pflanzen- und Tierproduktion gespeichert und jederzeit
griff »Precision Agriculture« durchgesetzt, den man wohl
für Entscheidungen abrufbar. Dem Städter, der lange nicht
am besten mit »Präzisionslandwirtschaft« übersetzen kann.
mehr auf einem Bauernhof war, wird manches wie in ei-
Auch die Ernteabläufe anderer Feldfrüchte, wie z. B. von
nem technischen Labor erscheinen. »Wer heute einen mo-
Kartoffeln und Zuckerrüben, sind inzwischen in ähnlicher
dernen Kuhstall betritt, der sieht den Landwirt am Bild-
Weise mechanisiert und werden durch Vollerntemaschinen
schirm, wie er für Mina, Tina und Lina die Futtermengen
mit Sensortechnik durchgeführt. Die Abläufe des Säens
dosiert, die Milchmengen erfasst, die Medikamente no-
und Pflanzens sind heute ebenfalls weitgehend automati-
tiert.«52 Die Neuerungen auf den Höfen betreffen nicht al-
siert.
lein die Landtechnik im engeren Sinne. Auch die Hof- und
Die meisten Hofarbeiten wurden inzwischen ebenfalls
Wohngebäude selbst sind in den letzten Jahrzehnten meist
durch Maschinen ersetzt. So werden die modernen Fütte-
mehrfach modernisiert, vergrößert und in ihrer betriebs-
rungs-, Melk- oder Entmistungsanlagen heute weitestge-
und hauswirtschaftlichen Ausstattung rationalisiert wor-
hend elektronisch gesteuert und haben automatische Ab-
den.
Wirtschaft und Versorgung
55
Die organisch-technischen Fortschritte in der Land-
land, für eine höherwertige ackerbauliche Nutzung gewon-
wirtschaft werden auch als »bodensparende Innovationen«
nen werden. Neben der Bodendüngung ist der chemische
bezeichnet. Sie zielen auf Verbesserungen und Steigerun-
Pflanzenschutz seit Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil
gen der agraren Produktion durch biologische Wirkungen
der Pflanzenproduktion. Im Einzelnen wird dabei sowohl
ab. Ein Schwerpunkt liegt hierbei in der Züchtung hoch-
gegen Pflanzenkrankheiten (durch Fungizide) und Schäd-
wertiger und leistungsfähiger Kulturpflanzen und Nutz-
lingsbefall (durch Insektizide) als auch gegen konkurrie-
tiere. So konnten dem Getreideanbau durch Züchtung win-
rende Unkräuter (durch Herbizide) vorgegangen. Das an
terharter und kurzlebiger Sorten neue Klimaregionen –
strenge gesetzliche Auflagen geknüpfte Spritzen, Sprü-
vor allem in den nördlichen Breiten – erschlossen werden.
hen und Nebeln der jeweiligen Pflanzenschutzmittel kann
In der Schweinezüchtung wurden fettarme und langge-
heute durch die moderne Sensor- und GPS -Technik immer
streckte Arten (»Kotelettschwein«) entwickelt, die moder-
gezielter und damit pflanzen- und bodenschonender ein-
nen Verbraucherwünschen entsprechen. Generell sind in
gesetzt werden. Ohne Zweifel hat der chemische Pflanzen-
der Tierhaltung auch durch hochwertige Futtermittel die
schutz erheblich zu einer Ertragskonstanz und -steigerung
Mastzeiten verringert worden, was zu höherer Produktivi-
im Pflanzenbau beigetragen. Dies gilt sowohl für den Ge-
tät führte.
treidebau als auch für Sonderkulturen wie den Obst-, Wein-
Die höchsten Ertragszuwächse im Ackerbau gehen heute
und Hopfenbau.
auf das Konto des Mineraldüngers, dessen Einsatz in der
Auch die tierische Erzeugung ist seit dem 19. Jahrhun-
Landwirtschaft entscheidend vom deutschen Chemiepro-
dert erheblich intensiviert worden, wozu vor allem die ver-
fessor Justus von Liebig um 1850 angeregt wurde. Da die
änderten Essgewohnheiten in den Industrieländern und
Kulturpflanzen dem Boden ständig wichtige Nährstoffe
die Entwicklung eines riesigen Agrarmarktes beigetragen
wie Stickstoff, Phosphor, Kali und Kalk entziehen, müssen
haben. Durch Innovationen in der Züchtung und Fütte-
diese ersetzt werden. Mit dem Mineraldünger können diese
rung wurde erreicht, dass sich die Leistungen der Tiere, z. B.
nun dem Boden laufend neu zugeführt werden – der ge-
Milchleistungen, Legeleistungen, Wachstum der Schweine
zielte Düngemitteleinsatz gehört heute zu den wichtigsten
pro Jahr, nicht selten in wenigen Jahrzehnten verdop-
Produktionsfaktoren des Pflanzenbaus. Mithilfe des Mine-
pelt haben. Starke Veränderungen haben sich auch bezüg-
raldüngers konnten nun auch große Flächen mit schlech-
lich der Viehhaltung ergeben: So verlor das Pferd, frü-
teren Böden, z. B. die leichten Sandböden in Norddeutsch-
her wichtigster Helfer des Bauern, durch die Mechanisierung der Feldarbeit seine Funktion als Zugtier; durch den Reitsport hat der Pferdebestand in jüngerer Zeit jedoch wieder zugenommen. Der Schwerpunkt der tierischen Veredlungswirtschaft liegt heute in der Schweine- und Rindermast sowie in der Milchproduktion. Allein 75 % der Verkaufserlöse aus tierischen Erzeugnissen entfallen auf den Verkauf von Milch und Schweinefleisch. Generell haben tierische Erzeugnisse einen höheren Verkaufswert als pflanzliche. Ein besonderes Kennzeichen der modernen Viehwirtschaft ist die Spezialisierung der Betriebe. Wie in der übrigen Wirtschaft können auch in der modernen Landwirtschaft Spezialbetriebe besser und kostengünstiger produzieren als »Allrounder«. Viele Betriebe sahen
Moderne Feldhäcksler erleichtern und beschleunigen heute die Grünfutterernte.
56
Das moderne Dorf
Der Blick in einen modernen Melkstand zeigt, wie stark die Landtechnik auch die Viehhaltung verändert hat: die Kühe werden mit einer Absaugautomatik gemolken, wobei die Milch sofort kontrolliert und in einen Kühltank geleitet wird.
und sehen sich daher gezwungen, ihren Viehbestand auf
muß man Elektroniker sein, muß man Kaufmann sein,
Schweinemast, Ferkelerzeugung, Sauenhaltung, Milch-
muß man alles sein.« So formulierte es knapp und treffend
wirtschaft, Jungviehaufzucht, Rindermast, Hähnchenmast,
ein saarländischer Bauer.53
Legehennen usw. zu konzentrieren. Die hoch technisierte
Aus der Spezialisierung der Betriebe ergibt sich häufig
Landwirtschaft verlangt den hoch qualifizierten Landwirt,
zwangsläufig auch eine Vergrößerung hin zu einer Mas-
der ohne ständige Vernetzung mit dem Markt, den Berufs-
sentierhaltung. Nachbarländer wie Dänemark und die
verbänden, den Fachmedien und ohne regelmäßige Fortbil-
Niederlande spielten hier eine Vorreiterrolle. Aber auch in
dung nicht bestehen kann. Wer mit einem modernen Bau-
den norddeutschen Bundesländern gibt es bereits einzelne
ern spricht, in die einschlägige Fachpresse wie »Top Agrar«
Schweinemäster mit 5000 Plätzen und Milcherzeuger mit
oder »Landwirtschaftliches Wochenblatt« (in Westfalen)
200 Kühen. Diese Zahlen werden im süddeutschen Raum
schaut oder auf Agrar(technik)messen geht, sieht, was
vielfach mit Skepsis betrachtet, hält man hier doch am Leit-
Landwirt-Sein heute bedeutet: »Wenn man heute Landwirt
bild einer kleiner dimensionierten »bäuerlichen« Land-
ist, muß man Tierarzt sein, da muß man Mechaniker sein,
wirtschaft fest.
Wirtschaft und Versorgung
57
Der Weg zu immer größeren Betrieben, die bereits in der
Namen wie Roter Milan, Rebhuhn, Weißstorch, Kiebitz,
Schweine- und Geflügelhaltung bestehen, scheint vorge-
Feldlerche, Goldammer, Bluthänfling, Uferschnepfe und
zeichnet und ist auch für die übrigen Zweige der Viehwirt-
Sumpfohreule.«55a
schaft zu erwarten. Dennoch werden immer wieder Vor-
Die Agrartechnik wird sich weiterentwickeln. Jedoch ist
behalte und Proteste vorgetragen und diskutiert – selbst in
nicht alles wünschenswert, was technisch machbar ist. Mit
Bundesländern wie Niedersachsen, in denen Massentier-
den grundlegende Fragen zur Nachhaltigkeit in der Land-
haltung schon länger üblich ist. So erschien vor ein paar
wirtschaft, was Tieren, Pflanzen, Böden und dem Klima
Jahren der Ort Wietze in der Lüneburger Heide durch den
und letztlich auch den Menschen heute und in Zukunft
geplanten Bau einer Großschlachterei für Hähnchen in
guttut, werden Wissenschaft, Politik und Landwirte weiter
den Medien. Bis zu 100 000 Tiere sollen hier täglich ge-
ringen und sich in Zukunft vermehrt befassen müssen.
schlachtet werden, den Nachschub dafür 400 noch zu er-
Insgesamt haben die Fortschritte der modernen Land-
richtende Mastställe liefern. Von 1000 neuen Arbeitsplät-
technik zu einer gewaltigen Steigerung und Verbesserung
zen ist die Rede. Die Grünen und die Arbeitsgemeinschaft
der landwirtschaftlichen Produktion geführt. So konnten
bäuerliche Landwirtschaft (ABL ) in Niedersachsen warnen
die Hektarerträge im Pflanzenbau in wenigen Jahrzehn-
jedoch vor dem Trend zur gewerblichen Massentierhaltung,
ten auf ein Vielfaches gesteigert werden: Beispielsweise
in denen keine artgerechte Tierhaltung möglich sei. Regio-
vermehrten sich die durchschnittlichen Ernteerträge in
nal- und Kommunalpolitiker, der Landesbauernverband
Deutschland seit dem 19. Jahrhundert bei Getreide etwa um
und das Landwirtschaftsministerium sehen hingegen eine
das Siebenfache, bei Kartoffeln und Zuckerrüben um mehr
Chance für die strukturschwache Region und begrüßen
als das Dreifache. Die noch im 19. Jahrhundert in Deutsch-
es, dass die Hähnchen aus Wietze und nicht aus dem be-
land und Europa verbreitete Landarmut und wiederholte
nachbarten Ausland kommen.54 Die Dioxinfunde, die An-
Hungersnöte durch schlechte Ernten sind heute so gut wie
fang Januar 2011 im Tierfutter, in Eiern, im Hühner- und
vergessen. Die landtechnischen Verbesserungen haben zu-
im Schweinefleisch entdeckt wurden, haben die Diskussi-
dem eine grundlegende Erleichterung der früher sehr zeit-
onen um das Für und Wider einer industrialisierten Land-
aufwendigen und körperlich schweren Arbeit bewirkt und
wirtschaft erneut angefacht. Sie zeigen auch, wie anfällig
damit für die Landbevölkerung große wirtschaftliche und
die lange und kaum noch überschaubare Produktionskette
soziale Vorteile erbracht. Dass der immer intensivere Ein-
55
der Landwirtschaft für tier- und menschenschädliche Ma-
satz der Landtechnik nicht nur große Chancen bietet, son-
nipulationen ist.
dern auch an Grenzen stößt und Probleme und Gefahren birgt, zeigen die zunehmenden Bemühungen um eine al-
Neben der Massentierhaltung steht die Landwirtschaft
58
ternative bzw. nachhaltige Landwirtschaft.
durch die moderne Landtechnik und neue Anbauweisen
In jüngerer Zeit stoßen manche Produktionsweisen, zum
vor weiteren großen Herausforderungen. Soll der Anbau
Beispiel in der Tierhaltung oder durch Mais-Monokulturen,
gentechnisch veränderter Pflanzen liberalisiert werden?
zunehmend auf Kritik. Hitzige Debatten um Themen wie
Geraten auf dem Markt der Pflanzen- und Saatgutzüchter
Tierwohl, Einsatz von Glyphosat in der Landbewirtschaf-
die Bauern und kleineren Unternehmen in allzu große Ab-
tung oder Deklarierung von Lebensmitteln bewegen nicht
hängigkeit von den Agrarchemie- und Saatgutkonzernen
nur Experten und Politiker sondern auch eine breite Öffent-
wie BASF , Bayer, Monsanto oder KWS ? Ein weiterer An-
lichkeit. Die Landwirtschaft reagiert häufig ungehalten
lass zum Nachdenken und Handeln ist der Rückgang der
und verweist auf ihre jahrhundertelangen Erfahrungen
Vögel in der Agrarlandschaft. Die Ursachen liegen u. a. in
mit behutsamer und nachhaltiger Wirtschaft. Die Bauern
der Entwässerung von Feuchtgebieten, dem Rückgang von
und ihre Berufsverbände sollten diese Vorbehalte und An-
Dauergrünland und der Zunahme des Mais- und Raps-
regungen jedoch ernst nehmen und durch konkrete Verbes-
anbaus. »Auf der Liste der Vogelarten, die einst jedermann
serungen und Informationen der Verbraucher und Umwelt-
auf dem Lande bekannt waren, heute jedoch in vielen Ge-
schützer dafür sorgen, dass ihre vielfältigen und wichtigen
genden auf der Roten Liste stehen, finden sich so geläufige
Leistungen für die Gesellschaft auch anerkannt werden.
Das moderne Dorf
Vom Nahrungsmittel- zum Energieproduzenten Neue Aufgaben einer multifunktionalen Landwirtschaft
Neben der Ernährungssicherung nimmt die Landwirt-
Bereichen Freizeit und Tourismus oder der Direktvermark-
schaft heute zusätzlich eine Reihe ökonomischer und
tung ihrer Produkte geöffnet. Durch neue Umwelt- und
gesellschaftlicher Aufgaben wahr. Landwirte treten
Kulturziele der Gesellschaft hat die Landwirtschaft zu-
immer häufiger als Energieproduzenten auf oder bauen
nehmend auch Aufgaben zu erfüllen, die nicht am Markt
Industriepflanzen an. Oder sie gewinnen mit dem
durch den Verkauf von Produkten honoriert werden. Sie
Tourismus oder der Hof-Direkt-Vermarktung ein zweites
erhält und pflegt beispielsweise verschiedenartige Kultur-
wirtschaftliches Standbein. Andere setzen auf den
und Naturlandschaften. Die Landwirtschaft (wie auch die
ökologischen Landbau oder eine »artgerechte« Tier-
Forstwirtschaft) erbringt damit öffentliche Güter und »Ge-
haltung. Nicht zuletzt betreibt die Landwirtschaft –
meinwohlleistungen«, die nicht nur der Vitalität des länd-
auch unterstützt durch staatliche Förderungen –
lichen Raumes, sondern der gesamten Gesellschaft dienen.
zunehmend Kulturlandschaftspflege und Naturschutz.
Seit dem Aufkommen von »Umwelt«-Themen in den frühen 1970er Jahren begannen auch verstärkte Bemühun-
Der modernen Landwirtschaft wachsen aus unterschiedli-
gen um eine ökologische bzw. alternative Landwirtschaft.
chen ökonomischen und gesellschaftlichen Gründen neue
Nun wurden die »Grenzen des Wachstums« und die Tücken
Aufgaben zu. Auch hat die durch den technischen Fort-
des Fortschritts diskutiert, die nicht nur Vorteile für Land-
schritt ausgelöste Überschussproduktion in fast allen Spar-
wirte und Verbraucher, sondern auch eine Reihe von Ge-
ten den Druck auf die Landwirtschaft erhöht, alternative
fahren und Nachteilen mit sich bringen, die heute zuneh-
Erwerbsmöglichkeiten zu finden. Die zunehmende Ver-
mend beachtet werden. Die übermäßige Verwendung von
knappung von fossilen Rohstoffen hat dazu beigetragen,
chemischen Pflanzenschutzmitteln hatte vielerorts zu einer
dass viele Landwirte heute bereits mit großem Erfolg Ener-
Verarmung der Pflanzen- und Tierwelt und zu einer Belas-
gie produzieren und Industriepflanzen anbauen. Durch
tung des Grund- und Oberflächenwassers geführt. Durch
Nachfrage der Verbraucher, wachsendes Umweltbewusstsein und Impulse der Agrarpolitik wachsen die Anteile der ökologischen bzw. umweltfreundlichen Landwirtschaft – sowohl im Pflanzenbau als auch in der Tierhaltung. Zahlreiche Bauern haben sich im Neben- oder Zuerwerb den
Abbildung oben: Neben einem Bio-Maisfeld ist ein Ackerrandstreifen für Feldblumen freigehalten worden, um hier einen neuen Lebensraum für Insekten zu schaffen. Die Agrarpolitik unterstützt heute zunehmend den Natur- und Umweltschutz.
Wirtschaft und Versorgung
59
staatliche Maßnahmen der Flurneuordnung war die frü-
von Energie sowie die Nutzung und Erschließung betriebs-
her meist kleinparzellierte Agrarlandschaft in vielfacher
eigener und lokaler Energieressourcen gehören dazu. Der
Hinsicht »bereinigt« worden: Topographische Unebenhei-
Agrarbetrieb wird als ökologisch-ökonomische Einheit ge-
ten, Feldgehölze, natürliche Bachläufe und Sümpfe waren
sehen, er verzichtet auf betriebsfremde Mittel (z. B. Futter-
beseitigt und manche Biotope zerstört worden. Es wurde
mittel oder Dünger) und Höchsterträge und strebt eine ge-
deutlich, dass großflächige Monokulturen den Bodenhaus-
sunde Nahrungskette Boden – Pflanze – Tier – Mensch an.
halt belasten und die Bodenerosion begünstigen können.
Zum Konzept einer ganzheitlichen alternativen Landwirt-
Da chemische Eingriffe auch in der (Massen-)Tierhaltung
schaft gehören auch die dörfliche bzw. dezentrale Weiter-
einen breiten Raum einnahmen, gelangten Chemikalien in
verarbeitung und Vermarktung der landwirtschaftlichen
die Futter- und Nahrungsmittel: Es konnte zu gesundheit-
Produkte, z. B. durch Biomärkte sowie regionale Zucker-
lichen Gefährdungen und Belastungen für Tiere und Men-
fabriken, Schlachthöfe, Molkereien und Käsereien. Damit
schen kommen. Als ein zusätzliches Problem wurde der
wird eine Lösung von den Zwängen und Mechanismen der
hohe Energieverbrauch in der modernen Landwirtschaft
Nahrungsmittel- und Vermarktungsindustrie angestrebt.
erkannt.
Ausgehend von diesen Grundsätzen stellte Dirk Althaus
Zu den Grundsätzen des ökologischen Landbaus gehö-
1984 das Konzept einer ganzheitlichen »Dorfökologie« für
ren die naturnahe Bodenbewirtschaftung, die artgerechte
den Natur-, Wirtschafts- und Lebensraum Dorf und seine
Tierhaltung, der weitgehende Verzicht auf Industriedünger
Gemarkung vor: Durch die intensive Nutzung all seiner
und chemische Pflanzenschutzmittel und die Nutzung des
lokalen Potenziale (z. B. für die Nahrungsmittel- und Ener-
innerbetrieblichen Stoffkreislaufs. Auch die Einsparung
gieproduktion und deren Vermarktung, vorhandene Rohstoffe und wertvolle Kulturlandschaft) würde das Dorf weitgehend ökonomisch selbstständig und unabhängig von Fremdmitteln und externen Kosten sein. Die Idee hat sicherlich für viele Anregungen gesorgt. Hier stellt sich allerdings die generelle Frage, ob das Dorf eher durch eine Beschränkung auf seine Gemarkung oder durch die Nutzung globaler Netzwerke profitieren kann. Als Nachteile des ökologischen Landbaus werden in der Regel genannt: steigender Arbeitsaufwand, sinkende Erträge (also geringere Arbeitsproduktivität) und damit notwendig höhere Erzeuger- und Marktpreise. Es wird argumentiert, dass die konventionelle Landwirtschaft der alternativen in ökonomischer Hinsicht noch überlegen sei. Allerdings gibt es eine zunehmende Anzahl von Betrieben, die sich mit ihren ökologisch erzeugten Produkten erfolgreich am Markt behaupten, weil auch die Nachfrage nach Bioprodukten steigt. Biobauern produzieren heute in allen Sparten der Landwirtschaft: im Ackerbau und in der Viehhaltung, im Wein-, Obst- und Gemüseanbau. Und es gibt immer neue Angebotsnischen: »Schon 20 Landwirte bauen Bio-Holunder in der Rhön an«, titelte kürzlich die Fuldaer Zeitung.57 Die Holunderbauern bewirtschaften damit bereits eine Fläche von 90 ha und beliefern vor allem den Limohersteller Bionade. Zahlenmäßig spielt der ökologische Landbau in Deutsch-
Immer mehr Landwirte vermarkten ihre Produkte selbst in eigenen Hofläden oder auf Märkten in der Stadt. Zusätzlich gibt es auch Bringdienste mit Obst- und Gemüsekisten.
60
Das moderne Dorf
Noch vor 100 Jahren nutzten alle Dörfer ihre lokalen Energien. Das Bioenergiedorf Jühnde gehört zu den Pionieren, wieder auf die eigenen Ressourcen zu setzen: Mit Biogas- und Solaranlagen versorgt das Dorf sich selbst mit Wärme und Strom.
land wie auch in anderen Industrieländern erst eine relativ
Längst unterstützt auch die Agrarpolitik die Ziele ei-
geringe, wenngleich wachsende Rolle. In Deutschland gibt
ner umweltschonenden, tiergerechten und nachhaltigen
es heute (2017) 29 395 ökologisch bewirtschaftete Betriebe.
Landwirtschaft. Wobei sie es bewusst vermeidet, die kon-
Das sind gut 11 % aller Betriebe, die rund 8,2 % der landwirt-
ventionelle und die ökologische Landwirtschaft gegenein-
schaftlichen Fläche bewirtschaften. Es gibt jedoch große
ander auszuspielen. Inzwischen sind sowohl im Pflanzenbau
regionale Unterschiede: Rund 67 % der ökologisch bewirt-
als auch in der Tierhaltung generell die Auflagen und Kon-
schafteten Fläche konzentrieren sich auf die Bundeslän-
trollen für eine umwelt- und klimafreundliche Landwirt-
der Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und
schaft verschärft worden. Zusätzlich werden in Deutsch-
Der durchschnittliche Betriebsge-
land besonders umweltfreundliche und nachhaltige Pro-
winn der Biobauern kann inzwischen mit den vergleich-
duktionsverfahren durch zahlreiche Umweltprogramme
baren, konventionell bewirtschafteten Höfen mithalten.
des Bundes und der Länder gefördert: beispielsweise exten-
Wichtiger als die zahlenmäßige und ökonomische Bedeu-
sive Produktionsweisen im Landbau, wobei weitgehend auf
Baden-Württemberg.
57a
tung sind gegenwärtig die Denkanstöße, die von der ökolo-
chemischen Pflanzenschutz und Mineraldünger verzichtet
gischen Landwirtschaft ausgehen.
wird. Oder auch die Umwandlung von Ackerflächen in ex-
Wirtschaft und Versorgung
61
in Deutschland, gefolgt von der Windkraft und der Wasserkraft.58a Die Biomasseenergie wird heute bereits von zahlreichen Dörfern in Deutschland, Österreich oder Dänemark für eine autarke Strom- und Wärmeversorgung genutzt. Zu den Pionieren in Deutschland gehört das niedersächsische Dorf Jühnde bei Göttingen: Jühnde zählt etwa 780 Einwohner und war deutschlandweit das erste Dorf, das seinen Strom- und Wärmebedarf komplett durch nachwachsende Rohstoffe abgedeckt hat. Die erforderliche Biomasse stammt von den lokalen Äckern (vor allem Mais und Triticale, eine Kreuzung aus Roggen und Weizen) und Stallungen (vor allem Gülle), im Mittelpunkt steht eine Biogasanlage mit Blockheizkraftwerk. Der erzeugte Strom wird in das öffentliche Stromnetz eingespeist, während die bei der Verbrennung des Gases entstehende Abwärme mithilfe eiDas Land bietet auch Raum, alternative Lebensformen zu erproben. Das Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt bemüht sich um einen nachhaltigen Lebensstil.
ner 4 km langen Leitung für die Wärme- und Warmwasserversorgung von bisher 142 Haushalten genutzt wird – das sind 75 % aller Haushalte des Ortes. Die Wärmeversorgung
tensiv zu nutzendes Grünland. Außerdem werden Maß-
in den Wintermonaten wird zusätzlich durch ein Holz-
nahmen des Biotop- und Naturschutzes gefördert, z. B. für
hackschnitzelheizwerk unterstützt. Träger der Bioenergie-
Feucht- und Trockenbiotope, oder Maßnahmen zum Erhalt
anlage in Jühnde ist eine 2004 gegründete dörfliche Genos-
bedrohter Nutztierrassen. Die Ziele und Maßnahmen einer
senschaft, in der nicht nur alle Landwirte und Wärmekun-
nachhaltigen Landwirtschaft werden heute auch in den ein-
den Mitglieder sind, sondern auch die Gemeinde und die
schlägigen Agrarfakultäten der Universitäten behandelt:
Kirche.
Die neu gegründete Hochschule Rhein-Waal im niederrheinischen Kleve startete zum Wintersemester 2010/2011
cherweise wieder eine größere »geopolitische Bedeutung«.
mit einem Bachelorstudiengang »Sustainable Agriculture«,
Hiervon ist jedenfalls Christian Schwägerl überzeugt:
der somit die »nachhaltige Landwirtschaft« zu seinem Kern-
»Mit dem Ruf nach Bioenergie wird es möglich, dem Land
thema macht. Einen fakultäts- und länderübergreifenden
seine Bedeutung zurückzugeben und seine Bewohner da-
Masterstudiengang »Sustainable International Agricul-
von zu befreien, auf subventionierte Einkommen angewie-
ture« bieten die Universitäten Göttingen und Kassel an.
sen zu sein. Wenn die zu Energiewirten verwandelten Bau-
Ein wichtiges wirtschaftliches Standbein besteht für die
ern für Mobilität, Heizwärme und Chemiegrundstoffe der
moderne Landwirtschaft im Anbau von nachwachsen-
Gesellschaft mitverantwortlich sind, wird nicht mehr nur
den Rohstoffen. Dieser erstreckt sich heute bereits auf
von den städtischen Wissenschaftszentren, sondern auch
knapp 2,35 Mio. ha, das sind 20 % der deutschen Ackerflä-
von Bauernhöfen, Kleinkraftwerken und Bioraffinerien
che. Der größte Anteil entfällt hierbei auf Energiepflan-
auf dem Lande eine Nachfrage nach Arbeitern und quali-
zen (wie Holz als Festbrennstoff oder Pflanzen für Biogas)
fizierten Fachkräften wie Bioingenieuren, Betriebswirten
58
62
Die Pflanzenenergie gibt dem ländlichen Raum mögli-
mit ca. 1,7 Mio. ha. Auf etwa 0,3 Mio. ha werden Industrie-
und Anlagentechnikern ausgehen. Es besteht die Aussicht
pflanzen angebaut. Dazu gehören z. B. Ölpflanzen wie Raps
auf eine wirtschaftliche Wiederbelebung des Landes.«59 Aus
zur Schmierstoffproduktion oder Faserpflanzen wie Flachs
dem Betrieb von Erneuerbare-Energien-Anlagen wurden
für die Herstellung von Dämmstoffen. Die Energiepflanzen
2017 insgesamt 16,2 Mrd. Euro an Umsätzen erzielt.59a Die
leisten gegenwärtig mit knapp zwei Dritteln den größten
Erlöse und wirtschaftlichen Impulse kamen überwiegend
Beitrag zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Energien
dem Land zugute.
Das moderne Dorf
Schüler aus der vierten Klasse aus Lehnin im Kreis Potsdam-Mittelmark lernen einen Bauernhof kennen.
Neben der Produktion von Nahrungsmitteln und nach-
baut. Andere haben Bauernhauscafés in ihren Hofgebäuden
wachsenden Rohstoffen erfüllt die Landwirtschaft eine
eingerichtet, die mit dem Charme alter Bauernhäuser und
Reihe von sehr unterschiedlichen, marktorientierten wie
-gärten und Angeboten wie selbstgebackenen Torten punk-
gesellschaftlich gewünschten Dienstleistungen. Eine zu-
ten und nicht selten zu regionalen Attraktivitäten gewor-
sätzliche Einnahmequelle bietet sich für viele landwirt-
den sind. Immer häufiger anzutreffen, aber in Deutschland
schaftliche Betriebe in den Bereichen Freizeit und Touris-
im Vergleich etwa zu Österreich durchaus noch ausbaufä-
mus. Schon seit Jahrzehnten erfolgreich ist die Urlaubs-
hig, sind Hofläden. Hier werden hofeigene Produkte wie
form »Ferien auf dem Bauernhof«, die in Deutschland von
Wurstwaren, Obst, Gemüse, Honig oder Eingemachtes vom
rund 10 000 landwirtschaftlichen Betrieben angeboten
Erzeuger direkt an den Markt gebracht. Der Verbraucher
wird. Etwa 4,5 Millionen Menschen machen jedes Jahr in
hat eine ideale Möglichkeit, mit dem Erzeuger unmittel-
Deutschland Urlaub auf dem Bauernhof und geben dafür
bar in Kontakt zu treten und Näheres über die Entstehung
knapp 900 Millionen Euro aus. Sie wird vor allem von Fa-
der Lebensmittel zu erfahren. Manchmal werden von die-
milien mit Kindern gern genutzt, weil hier unmittelbare
sen Hofläden aus auch regionale Märkte beschickt oder pri-
Kontakte zu den Bauernfamilien, den Tieren und den an-
vate Verbraucher durch Bringdienste regelmäßig versorgt.
fallenden Hof- und Feldarbeiten möglich sind. Viele Bau-
Etwa 40, meist »kleinere« Dörfer in Deutschland bezeich-
ernhöfe, vor allem im stadtnahen Bereich, haben sich dem
nen sich heute bereits als Ökodörfer – hierzu gibt es aller-
Reitsport geöffnet und damit ein zweites Standbein aufge-
dings keine allgemein verbindliche Definition. Beispiele
60
Wirtschaft und Versorgung
63
Projekt der UN -Dekade »Bildung für Nachhaltige Entwicklung«. Neben den vom Markt bezahlten Produkten und Dienstleistungen erbringt die Landwirtschaft vermehrt auch von der Gesellschaft gewünschte Leistungen, die der Verbraucher nicht unmittelbar honoriert. Meist geht es um traditionelle und wertvolle Kulturlandschaften oder naturnahe Landschaften wie z. B. die Lüneburger Heide, die als Weidegrünland genutzten Täler oder Hochplateaus der Mittelund Hochgebirge sowie des Alpenvorlandes. Diese Gebiete sind oft besonders feucht oder trocken und haben nicht selten schwierige Hanglagen. Aus ökonomischen Gründen würde sich die Landwirtschaft heute aus diesen Flächen zurückziehen und diese der Verbuschung und Verwaldung überlassen, was zu einer »Verdunkelung« bisher offener Landschaften führen würde. Damit würden nicht nur alte und »schöne« Kulturlandschaften verschwinden, auch der Tourismus würde seine »wertvollste Ware« und Basis Die Landwirtschaft pflegt auch Kulturlandschaften durch Schafhaltung, hier die Lüneburger Heide.
verlieren. Der Staat hat nun aus Gründen des Denkmal- und Naturschutzes sowie des Freizeit- und Erholungswertes ein großes Interesse daran, die überlieferten Kulturlandschaf-
sind Brodowin in Brandenburg und Sieben Linden in Sach-
64
ten zu erhalten und zu pflegen. Also unterstützt er die tra-
sen-Anhalt. Das noch im Aufbau befindliche Ökodorf Sie-
ditionelle Landbewirtschaftung in diesen gefährdeten Re-
ben Linden hat derzeit 150 Einwohner und will in den
gionen durch öffentliche Fördermittel. Die im Jahr 2006
nächsten Jahren auf 300 Einwohner wachsen. Die als Ge-
von der Bundesregierung herausgegebenen neuen »Leitbil-
nossenschaft organisierte Dorfgemeinschaft möchte vor
der und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in
Ort die hohen Ziele einer ökologischen, kulturellen, sozi-
Deutschland« erklären die Erhaltung und Gestaltung der
alen und ökonomischen Nachhaltigkeit verwirklichen. Das
Ressource »Kulturlandschaft« zu einem der Hauptziele der
Ökodorf Sieben Linden ist seit 2006 offiziell anerkanntes
Raumordnungspolitik für den ländlichen Raum.
Das moderne Dorf
Ein Forsthaus steht im Wald, ein Sägewerk im Dorf Zum Wandel der Forst- und Holzwirtschaft
Neben den Feldern und Weiden gehört der Wald zu
Knapp ein Drittel der Gesamtfläche Deutschlands – näm-
den Urelementen des ländlichen Lebens- und Wirt-
lich 32 % bzw. 11,4 Mio. ha – ist heute bewaldet.60a Um 1800
schaftsraumes. Schon in früheren Jahrhunderten hat
lag die Bewaldung noch bei 24 %, seitdem hat die Waldfläche
der Wald in vielfältiger Weise die Menschen ernährt.
stetig leicht zugenommen – auch in den letzten Jahrzehn-
Waldarbeiter und Förster waren wichtige dörfliche
ten noch, trotz einer ständigen Ausweitung der Siedlungs-
Berufe, Forsthäuser und Sägewerke prägten die Dorf-
und Industrieflächen. Hier schlagen vor allem die Auffors-
bilder. Trotz starken Wandels ist der Wald auch heute
tungen von Grenzertragsböden in den Mittelgebirgen zu
noch eine wichtige »Sparkasse« des ländlichen
Buche. Generell beschränkt sich der Waldbestand überwie-
Raumes. Und was manche nicht wissen: Die Forst-
gend auf die für die Landwirtschaft ungünstigen Flächen,
und Holzwirtschaft beschäftigt in Deutschland mehr
besonders auf die steinigen und reliefreichen Standorte
Menschen als die Automobilindustrie.
der Berg- und Hügelländer und des Mittel- und Hochgebirges sowie auf die leichten Sandböden des Norddeutschen
Die Forst- und Holzwirtschaft war und ist – wie die Land-
Tieflands. So ist der Bewaldungsanteil in Deutschland re-
wirtschaft – ein ganz typischer Wirtschaftszweig des länd-
gional sehr unterschiedlich: Er bewegt sich zwischen 61 %
lichen Raumes. Bereits in früheren Jahrhunderten trug der
im Landkreis Regen im Bayerischen Wald und 3 % im Land-
Wald wesentlich zu Einkommen und Wohlstand des Dorfes
kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein.
und vieler ländlicher Regionen bei. In den deutschen Mit-
Hinsichtlich der Verbreitung der Baumarten dominiert
telgebirgen gab es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hin-
in Deutschland heute das Nadelholz (54,2 %) gegenüber
ein zahlreiche »Waldarbeiterdörfer«, in denen die Mehrzahl
dem Laubholz (43,4 %), 2 % sind Lücken oder Blößen.61 Bis
der örtlichen Erwerbspersonen als Förster oder Waldarbei-
zum Ende des 18. Jahrhunderts herrschte eine völlig andere
ter ihren Arbeitsplatz hatte. Auch heute ist die Forst- und
Situation: Deutschland war, mit Ausnahme der höheren Ge-
Holzwirtschaft besonders in den waldreichen Regionen der
birgslagen, ein reines Laubwaldgebiet. Die danach folgen-
Mittelgebirge immer noch ein wichtiger, manchmal sogar
den starken Umschichtungen der Waldbestände sind vor
der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Sie sorgt dort nicht nur für stabile Erträge und Einkommen, sondern stellt oft auch die Mehrheit der dörflichen Arbeitsplätze.
Abbildung oben: Durch Aussiedlung aus der beengten Dorflage entstand dieses moderne Sägewerk Rötenbach im Südschwarzwald.
Wirtschaft und Versorgung
65
allem dem Siegeszug der schnell wachsenden Fichten (heute
4 % dem Bund. 19 % der gesamten Waldfläche sind Körper-
26 %) und Kiefern (23 %) zuzuschreiben. Allerdings ist in
schaftswald, d. h. im Besitz von Städten und Gemeinden,
den letzten 20 Jahren der Laubholzanteil wieder allmäh-
von Zweckverbänden und anderen Körperschaften öffent-
lich, aber kontinuierlich angestiegen (Buche heute 16 %, Ei-
lichen Rechts. Der weitaus größte Teil des Körperschafts-
che 10 %). Der gesamte Holzvorrat in den Wäldern beträgt
waldes gehört dabei den Städten und Gemeinden, weshalb
etwa 3,7 Mrd. m . Damit sind die Holzvorräte in Deutsch-
er meist auch als Kommunalwald bezeichnet wird. Ein sehr
3
land höher als in den klassischen Waldländern Schweden
kleiner Teil der deutschen Waldfläche ist derzeit noch im
und Finnland. Der jährliche Holzeinschlag, d. h. die Holz-
Besitz der Treuhand. Dieser war im Zuge der Bodenreform
entnahme, liegt im Durchschnitt der letzten fünf Jahre bei
1945 bis 1949 im Gebiet der ehemaligen DDR enteignet und
ca. 76 Mio. m , während der jährliche natürliche Holzzu-
in Volkseigentum überführt worden und wird nun nach
wachs (durch das Wachstum der Bäume) auf über 122 Mio.
und nach privatisiert.
3
m3 geschätzt wird. Der Holzzuwachs ist somit derzeit deutlich höher als der Holzeinschlag.
Wie in der Landwirtschaft ist auch in der Forstwirtschaft die Anzahl der Betriebe in den letzten Jahrzehnten konti-
62
Wem gehört eigentlich der Wald in Deutschland? Etwa
nuierlich zurückgegangen. Immerhin bestehen heute noch
48 % der Waldfläche sind Privatwald. 33 % bestehen aus
etwa 180 000 forstwirtschaftliche Betriebe, inklusive der
Staatswald, wovon 29 % den Bundesländern gehören und
Nebenerwerbsbetriebe.63 Ein Merkmal der Bewirtschaftung des Waldes in Deutschland ist die häufige betriebliche Verknüpfung von Land- und Forstwirtschaft. Etwa 81 % aller
Lücken und Blößen 2,4 %
Betriebe mit Wald haben zugleich Landwirtschaft. Reine Forstbetriebe, die somit nur 19 % aller Betriebe mit Wald ausmachen, bewirtschaften allerdings insgesamt 88 % der Waldfläche. Die durchschnittlichen Waldflächen je Betrieb betragen bei den Gemischtbetrieben 9 ha, bei den reinen
Nadelholz 54,2 %
Forstbetrieben hingegen 296 ha.63a Einer großen Zahl von »Waldbauern« mit kleinen Waldflächen steht somit eine Waldfläche 30,2 %
Laubholz 43,4 %
sonst. Fläche 17,6 %
Ackerland 71,0 %
geringe Zahl von reinen Forstbetrieben mit großen Besitzungen gegenüber. Dass so viele land- und forstwirtschaftliche Gemischtbetriebe ihre oft kleinen Waldflächen nicht
Landwirtschaftsfläche 52,2 %
aufgeben, hat vorsorgende ökonomische Gründe: Man betrachtet den Wald als Produktionsreserve für besondere Investitionen (z. B. einen Traktor für die Landwirtschaft), für
Gebäude und Freiflächen 39,5 %
Erbgänge oder unvorhergesehene Krisen, was traditionell als »Sparkasse« für Notzeiten bezeichnet wurde. Da viele
Erholung 3,9 % Industrie 6,6 %
Verkehr 28,8 %
Dauergrünland 27,8 %
Weinbau 0,5 % Gartenbau 0,6 %
der rund 2 Mio. Waldeigentümer in Deutschland nur ein sehr kleines Waldstück besitzen, verzichten sie auf eine eigene Bewirtschaftung und bilden forstwirtschaftliche Zu-
Wasser 13,8 % Sonstige 7,4 %
Flächennutzung in Deutschland durch Land- und Forstwirtschaft sowie Bebauung und Verkehr 2012/201363c Statistisches Jahrbuch 2014 des Bundesministeriums f. Ernährung u. Landwirtschaft http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -3070100-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -3070200-2012.pdf http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -3070400-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -7010300-2012.pdf
66
Das moderne Dorf
sammenschlüsse. Die Zahl der Arbeitskräfte in der Forstwirtschaft ist seit 1955 durch Rationalisierung und Mechanisierung ständig zurückgegangen. Durch die seit etwa zehn Jahren eingesetzten Vollerntemaschinen, auch Harvester genannt, hat der Schrumpfungsprozess noch einmal einen deutlichen Schub bekommen. Diese modernen Maschinen sind mit ihren bis zu 15 m langen Greifarmen in der Lage, vom Baum-
Neben dem Feld ist der Wald der elementare Lebens- und Wirtschaftsraum des Dorfes.
Wirtschaft und Versorgung
67
ren kleinen Gruppen zusammengefasst. Manchmal gehörte sogar eine einklassige Volksschule zu diesen kleinen Waldsiedlungen. Neben den Forst- und Waldarbeiterhäusern gehörten die Sägewerke zum normalen Dorfbild. Hier wurde das in den Wäldern geschlagene Holz geschält und zu Brettern und Balken gesägt – nicht selten erfolgte die Weiterverarbeitung des zugeschnittenen Rohholzes direkt in eigenen Zimmereien. Die Sägewerke lagen meist an der dem Wald zugewandten Dorfseite und waren leicht erkennbar an den langen Sägehallen sowie den in Reihen zum Trocknen aufgeschichteten Bretterstapeln. Der rasante Rationalisierungs- und Konzentrationsprozess in der Forst- und Holzwirtschaft seit etwa 1960 hat nicht nur die Zahl der Betriebe und der Beschäftigten in Ehemalige Forsthäuser stehen noch an vielen Dorf- und Waldrändern. Sie werden heute meist als reine Wohngebäude genutzt, wie die Oberförsterei Wilflingen in Oberschwaben lange Jahre durch Ernst Jünger.
diesen dorftypischen Branchen drastisch schrumpfen lassen. Auch anhand des Dorfbildes lässt sich dieser Wandel ablesen: So sind die meisten der früheren Sägewerke inzwischen aus den Dörfern verschwunden. Nur wenige ha-
68
fällen, Entasten, Entrinden bis zum Auf-Länge-Schneiden
ben sich halten und vergrößern können oder sind zu Zim-
und Wegtransport der Stämme praktisch die gesamte Pro-
mereibetrieben geworden. Auch in den Forst- und Waldar-
duktionskette der klassischen Waldarbeit in kürzester Zeit
beiterhäusern wohnen heute in der Regel keine Förster oder
auszuführen. Sie enthalten Bordcomputer und GPS -Tech-
Waldarbeiter mehr, da die unmittelbare Nähe der Wohnung
nik – wie die modernen Mähdrescher –, die alle wichti-
zum Wald durch die Motorisierung der Waldarbeiter nicht
gen Produktionsdaten und zusätzlich die genaue Position
mehr notwendig ist. Die weit abgelegenen Forst- und Wald-
der einzelnen Lagerplätze erfassen und überwachen. Viele
arbeiterhäuser werden heute häufig nur noch als Wochen-
Forstbetriebe verzichten heute mehr und mehr auf fest-
endhäuser oder Freizeitwohnsitze genutzt.
angestellte Waldarbeiter. Sie lassen die anfallenden Arbei-
Das von der Forstwirtschaft bereitgestellte Holz wird von
ten zunehmend von forstlichen Dienstleistungsbetrieben
der sog. »nachgelagerten« Holzwirtschaft verarbeitet und
durchführen, die die ganze Palette der modernen Forst-
verbraucht. Durch ihre Abhängigkeit von der Rohstoff basis
technik anbieten.
Wald besitzt die Holzwirtschaft nach wie vor eine quasi na-
Um 1950 war das klassische (und oft gemalte) Bild, das
türliche Standortlage im ländlichen Raum. Vor allem in
viele bis heute im Kopf haben, noch Wirklichkeit: In den
den waldreichen Mittelgebirgsregionen hat sich die Holz-
waldreichen Regionen wimmelte es geradezu von Forst-
wirtschaft als traditionelles ländliches Gewerbe bis heute
häusern, die den zahlreichen Forstbeamten als Wohn- und
behaupten können. Das wichtigste Bindeglied zwischen der
Betriebsgebäude dienten. Sie lagen an den Dorf- und Wald-
Forst- und der Holzwirtschaft ist die Sägeindustrie. Ihre
rändern, aber auch weiter abgelegen innerhalb der Wälder
Betriebe bilden die erste Bearbeitungsstufe des im Wald ge-
auf Waldlichtungen oder in Wiesentälern. Die Forsthäu-
ernteten Rundholzes, das im Wesentlichen zu Schnittholz
ser waren meist leicht erkennbar an ihrer gediegenen Ar-
verarbeitet wird.
chitektur, an Fensterläden und Brettverschalungen der Gie-
Ein Beispiel ist das Holzwerk Rötenbach im waldreichen
bel, am obligatorischen Hirschgeweih über dem Eingang.
Südschwarzwald. Das ursprünglich am Dorfrand gelegene
Sie waren meist umgeben von Holzschuppen und kleine-
Sägewerk war 1981 durch einen Großbrand zerstört und da-
ren Nebengebäuden. Die zahlreichen Waldarbeiterhäuser
raufhin auf eine Waldinsel »ausgesiedelt« worden (S. 65).
lagen, oft in Sichtweite zu den Forsthäusern, meist in locke-
Dass dies eine gute Entscheidung war, bestätigt heute Be-
Das moderne Dorf
Immer weniger Waldarbeiter werden heute in den Wäldern gebraucht. Moderne Vollernter erledigen mit ihren langen Greifarmen das Fällen, Entasten, Auf-Länge-Schneiden und den Wegtransport der Stämme in kürzester Zeit.
triebsleiter Roth: »Hier konnten wir uns platzmäßig aus-
industrie und das holzverarbeitende Handwerk vorgenom-
breiten und vergrößern und haben nun betriebswirtschaft-
men. Der Holzhandel sorgt schließlich für den Güteraus-
lich und standortmäßig eine optimale Lage. Wir verarbeiten
tausch von Holz und Holzprodukten zwischen holzreichen
überwiegend Holz aus der unmittelbaren Nachbarschaft.
und holzarmen Regionen sowie zwischen den verschiede-
Unser Standort lässt Möglichkeiten der Erweiterung zu,
nen Stufen der Verarbeitung und des Verbrauchs.
die wir am alten Standort im Dorf nie gehabt hätten.« Das
Der Selbstversorgungsgrad mit Holz und Holzpro-
Holzwerk produziert heute Schnitthölzer aller Art aus den
dukten liegt in Deutschland heute bei über 100 %. Es wer-
gängigen, heimischen Nadelholzarten. Es beschäftigt der-
den zwar relativ viel Rohholz und Holzhalbwaren impor-
zeit etwa 35 Mitarbeiter und hat einen durchschnittlichen
tiert. Durch den hohen Standard der Veredlungswirtschaft,
Jahresdurchsatz von rund 100 000 Festmetern Holz.
z. B. in der Papier- und Möbelindustrie, gehört Deutsch-
Die wichtigsten Zweige der Holzwirtschaft sind die Holz-
land gleichwohl zu den bedeutendsten Holzexporteuren
bearbeitung, die Holzverarbeitung und der Holzhandel.
der Welt. Sowohl mengenmäßig als auch wertmäßig kann
Die Holzbearbeitung erfolgt vor allem durch Sperrholz-,
die deutsche Forst- und Holzindustrie einen Ausfuhrüber-
Furnier- und Spanplattenwerke, die weitere Holzverarbei-
schuss bilanzieren.
tung wird dann u. a. durch die Papierindustrie, die Möbel-
In jüngerer Zeit hat die Verwertungskette Forst und
Wirtschaft und Versorgung
69
In Baruth in Brandenburg steht das größte Kiefern-Sägewerk Europas, das vor allem Massivholz für die Bauindustrie und die Heimwerkermärkte, aber auch Dachstühle produziert.
Holz ein wachsendes Absatz- und damit auch Arbeitsfeld
Umsatz von etwa 180 Mrd. Euro.64 Damit hat die deutsche
entwickelt. Holzabfälle aller Art, die bei der Holzgewin-
Forst- und Holzwirtschaft mehr Beschäftigte als die Auto-
nung und Holzverarbeitung anfallen, werden als erneuer-
mobilindustrie und erzielt einen höheren Umsatz als die
bare Energien genutzt: als Holzschnitzel, Holzrinde, Holz-
Elektroindustrie oder der Maschinen- und Anlagenbau. Die
pellets oder Holzbriketts. In Deutschland entfallen derzeit
Forst- und Holzwirtschaft ist also ein unterschätzter Riese.
rund die Hälfte der Holzverwendung jeweils auf die stoff-
»Ein arbeitsmarktpolitischer Gigant, aber in der Wahr-
liche und die energetische Nutzung.
nehmung der Bevölkerung und Politik ein Zwerg«, so be-
Die Wertschöpfungskette (modern: Cluster) Forst und
schreibt Prof. Andreas Schulte, Professor für Waldökono-
Holz trägt mit 55 Euro pro Jahr erheblich zur Wertschöp-
mie, Forst- und Holzwirtschaft an der Universität Münster,
fung der deutschen Volkswirtschaft bei. Dies wird man-
diesen Wirtschaftszweig in Deutschland.65 Für den länd-
chen erstaunen, weil doch in den Medien und in der Wahr-
lichen Raum ist der »Wert« der Forst- und Holzwirtschaft
nehmung der Bevölkerung meist andere Branchen domi-
noch höher zu veranschlagen als für den Gesamtstaat, weil
nieren. Die deutsche Forst- und Holzwirtschaft zählt heute
dieser unterschätzte Wirtschaftsriese weitestgehend hier
etwa 1,1 Mio. Beschäftigte. Sie ist hierzulande überwie-
und häufig gerade in strukturschwachen ländlichen Regi-
gend mittelständig bzw. kleingewerblich strukturiert. In-
onen angesiedelt ist.
gesamt erzielt der Cluster Forst und Holz einen jährlichen
70
Das moderne Dorf
Die Überwindung des »hölzernen Zeitalters« Von der Übernutzung des Waldes zur nachhaltigen Forstwirtschaft
Die vorindustrielle und Vorkohlezeit wird auch das
war der Schiffbau – für die holländische, englische oder
»hölzerne Zeitalter« genannt – Holz wurde damals für
spanische Flotte wurden erhebliche Teile der deutschen
alles gebraucht. Auch die Landwirtschaft nutzte den
Mittelgebirge abgeholzt. Man spricht vom »hölzernen Zeit-
Wald, vor allem in der Viehhaltung. Durch Übernutzung
alter«, das schließlich vom Kohlezeitalter abgelöst wurde.66
waren aber schließlich um 1800 viele Wälder in einem
Auch die Landwirtschaft war noch stark auf die Nut-
jämmerlichen Zustand, worüber zahlreiche zeitgenössi-
zung des Waldes angewiesen: Im Vordergrund stand die
sche Beobachter berichten. Seit etwa 200 Jahren gilt
Schweinemast, aber auch Kühe, Schafe und Ziegen wur-
in Deutschland das Leitbild der nachhaltigen Forstwirt-
den von den Bauern zur Fütterung in den Wald geführt.
schaft. Es hat im Wesentlichen zum heutigen Zustand
Man spricht hier von »Waldhude«. Als Futter dienten vor
und Wert der Wälder hierzulande geführt. Eine Erfolgs-
allem Eicheln, Bucheckern, Nüsse, Kastanien, aber auch
geschichte, um die uns manche benachbarte Länder
Blätter, Wurzeln und Pilze. Die bäuerliche Waldnutzung
wie England oder Irland beneiden.
entsprach meist alten und genau festgelegten Rechten, die streng überwacht und nicht selten Anlass zu Streitigkeiten
Die Waldnutzung in Deutschland hat in den letzten 200
wurden. Die Einkünfte aus der bäuerlichen Viehweide wa-
Jahren gewaltige Veränderungen erfahren, die durchaus de-
ren für die Waldeigentümer manchmal höher als die Holz-
nen in der Landwirtschaft vergleichbar sind. Generell war
einnahmen. Neben der Viehhude diente der Wald den Bau-
die ökonomische Nutzung der Wälder um 1800 vielschich-
ern zur Plaggenentnahme (in Heiden und Wäldern abge-
tiger, komplizierter und z. T. auch problematischer als heu-
stochene Oberbodenstücke) für die Düngung der Felder, als
te. Die Nachfrage nach Holz und anderen Waldprodukten
Holz-, Laubfutter- und Streulieferant (für den Stall) und
war riesengroß. Holz war noch der alleinige Energieträger,
vielfach auch als periodisches Ackerland. So wurde im Rah-
ca. 80 % des Holzeinschlags wurden verheizt oder verkohlt,
men einer Feld-Wald-Wechselwirtschaft auf abgeholzten
das Stein- und Braunkohlezeitalter begann erst um 1830
Flächen für ein bis zwei Jahre Getreide angebaut. Die Gren-
bis 1850. Darüber hinaus war Holz ein unverzichtbarer Bau-
zen zwischen Wald(-wirtschaft) und Feld(-wirtschaft) wa-
und Werkstoff. Aus Holz war fast alles: Gebäude und Hausrat, landwirtschaftliche Geräte und Werkzeuge, Zäune sowie Transportmittel aller Art. Ein gewaltiger »Holzfresser«
Abbildung oben: Durch nachhaltige Forstwirtschaft entstand in Deutschland seit etwa 200 Jahren der heute dominierende Hochwald.
Wirtschaft und Versorgung
71
ren vielfach fließend. Die heute meist optisch sichtbaren
von Holzkohle weit verbreitet. Sehr viel Holz benötigten
und scharfen Grenzen zwischen Feld und Wald stellten da-
vor allem die Glashütten und Aschenbrennereien, die sich
mals eher eine Ausnahme dar.
als »holzfressendes Gewerbe« in den waldreichen deutschen
Die enge Verquickung von Wald- und Landwirtschaft
Mittelgebirgen in großer Dichte angesiedelt hatten. Ähnli-
hatte u. a. zwei wesentliche Nachteile. Intensive Plaggen-
ches gilt für die Eisenhütten. Auch die zahlreichen, an den
und Holzentnahme, Viehweide und Streuharken führten
Solequellen zur Gewinnung von Salz errichteten Salinen
zu Zerstörungen der Vegetationsdecke und der Waldböden
brauchten viel Holz. So soll die Lüneburger Heide ihre Ent-
selbst, sodass eine Wiederaufforstung ehemaliger Waldflä-
stehung dem »Holzhunger« der Lüneburger Saline verdan-
chen später oft kaum möglich war. Die bäuerliche Wald-
ken, in der im 17. Jahrhundert jährlich 150 000 m3 Holz ver-
mitnutzung stand also der modernen Forstwirtschaft im
feuert wurden.68
Wege, wie der Jahresbericht der Landeskulturgesellschaft
Der Zustand des Waldes war zu Beginn des 19. Jahrhun-
in Arnsberg von 1856 nüchtern feststellt: »Die Wald-Wirt-
derts in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern Euro-
schaft macht zwar in den sichtbar mehrenden Nadelholz-
pas, von Übernutzung und Verfall geprägt. Die Bestände
Culturen erhebliche Fortschritte, kann aber ihre Erbfeinde:
zeigten viele Blößen und schlechte Stammformen der
den Plaggenhieb, das Streu- und Laubsammeln und die
Bäume. Ein Teufelskreis von Waldzerstörung und gleich-
Hude nur nach und nach aus dem Felde schlagen.«67
zeitigem Holzmangel wird in zeitgenössischen Quellen
Neben der Landwirtschaft war auch das vorindustrielle
festgestellt. So beschreibt ein Gutachten von 1708 an den
Gewerbe bis etwa 1850 in starkem Maße an den Energieträ-
preußischen König die Wälder im Sauerland als »dergestalt
ger Holz bzw. Holzkohle und damit an die Waldnutzung
verhauen, dass überall Mangel an Bauholze und Brand-
geknüpft, weshalb für entsprechende Gründungen häu-
holze vorhanden« ist. Gut hundert Jahre später berich-
fig Waldstandorte (in den Mittelgebirgen) gewählt wur-
tet ein französischer Minister von einer Inspektionsreise
den. Bis etwa 1850 war die Waldköhlerei zur Herstellung
durch das Bergische Land 1810: »Der Boden ist trocken und
Bis ins frühe 20. Jahrhundert nutzte auch die Landwirtschaft den Wald in vielfältiger Weise. Im Vordergrund stand die Schweinemast, hier ein Beispiel der Waldhude aus Braunshausen im Sauerland um 1920.
72
Das moderne Dorf
unfruchtbar; hier und da sind die Berge mit Ginster und
sondern die langfristige Bestandssicherung. Keine Genera-
Buschwerk bewachsen, die auf einstmals abgeholzte Wäl-
tion darf sich auf Kosten der folgenden aus dem Wald be-
der verweisen, wo die Vegetation aber zu schwach ist, um
reichern. Das Prinzip der nachhaltigen Forstwirtschaft war
die ihr von den Landesbewohnern zugefügte Schmach wie-
zunächst rein ökonomisch gedacht, sowohl für den einzel-
der zu heilen.«
Der abgewirtschaftete Wald war offenbar
nen Betrieb als auch für die Volkswirtschaft. Heute versteht
dermaßen geschädigt, dass er sich aus eigener Kraft nicht
man es mehr und mehr auch im ökologischen Sinne. In
erholen konnte. Denn durch Bevölkerungswachstum und
Deutschland ist die Nachhaltigkeit der Forstwirtschaft im
die beginnende Industrialisierung war der Holzverbrauch
Bundeswaldgesetz von 1975 sowie in den Landeswaldgeset-
noch einmal sprunghaft angestiegen. Als Betriebsart do-
zen verankert. Inzwischen ist das Prinzip der Nachhaltig-
minierte seinerzeit der sog. »Niederwald« mit kurzen Um-
keit von der Forstwirtschaft auf fast alle Politik- und Wirt-
69
triebszeiten, sodass sich kaum starkes, ausgewachsenes
schaftsbereiche übertragen worden. So unterscheidet man
Nutzholz (wie im sog. »Hochwald«) entwickeln konnte. Ein
heute zwischen ökologischer, ökonomischer und sozialer
Beispiel: In Niedersachsen betrug der Holzvorrat in leben-
Nachhaltigkeit und spricht von nachhaltiger Landwirt-
den Bäumen um das Jahr 1800 nur 20 Mio. m , heute sind
schaft, Medizin, Architektur usw.
3
es 60 Mio. m . 3
Ein grundlegender Baustein für den Wiederaufbau der
Die Umgestaltung der herabgewirtschafteten Wälder,
Wälder im Sinne der modernen Forstwirtschaft waren die
mit der man in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert be-
Agrarreformen des 19. Jahrhunderts mit der Auflösung der
gann, hatte mehrere ökonomische und politische Antriebs-
grundherrschaftlichen Lehensverhältnisse und damit auch
kräfte. Die permanente Holznot, die in den Quellen immer
der komplexen Besitzstrukturen. Die zahlreichen Wald-
wieder genannt wird, wurde zum vorrangigen Gründungs-
rechte der Bauern, z. B. Holz-, Weide- und Sammelrechte,
motiv einer modernen Forstwirtschaft. Diese wollte und
wurden durch Grundabtretung oder Geldzahlungen »be-
musste sich zunächst aber von der Bürde der Landwirtschaft befreien, die Waldwirtschaft galt doch als »Filiale der Landwirtschaft«.70 Der Kampf um den Wald war aber auch ein politischer Konflikt: Die vielfachen älteren Nutzungsrechte am Wald standen der neuen Forstpolitik im Wege. Aber zuletzt konnte sich das neue ökonomische Leitbild einer nachhaltigen Forstwirtschaft immer stärker durchsetzen.
Wirtschaft, Dorfbevölkerung
Ackerbau, Viehhaltung
Viehhaltung
Nahrung Laub, Gras
Das Prinzip einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung ist erstmals im Jahr 1713 vom sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz formuliert worden. Es ent-
Viehhaltung
Streunutzung, Plaggenhieb
bis heute gültig ist: »Unter Nachhaltigkeit ist das Streben verstehen.« Die wesentlichen Zielsetzungen der nachhalti-
Nahrung, Kleidung
Wald Baugewerbe für Haus-, Industrie- und Eisenbahnbau
nach Dauer, Stetigkeit und Gleichmaß der Holzerträge zu 71
Beeren, Pilze Jagd: Wildbret, Felle
der nun enstehenden modernen Forstwirtschaft und ForstGeorg Ludwig Hartig, dessen zeitlose Definition von 1795
Bau-, Brennholz
Waldweide
wickelte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Leitbild wissenschaft in Deutschland. Einer ihrer Mitbegründer war
Haus und Hof
Bergbau
Bauholz
Lohrinde Gerbereien
Grubenholz
Holzkohle
Pottaschensiederei
gen Forstwirtschaft bestehen also darin, dem Zuwachs und
Brennholz Eisenindustrie, Schmelzhütten, Hammerwerke
der Nutzung des Holzaufkommens stets die Waage zu halten (»nur so viel Holz schlagen wie nachwächst«). Zugleich sollen die natürlichen Standortbedingungen gefördert so-
Industrielles Gewerbe
Glashütten, Garnbleichen, Seifensiedereien
(Kalk-)Brennereien, Brauereien, Salinen, Ziegeleien
wie die Flächengröße des Waldes gesichert werden. Nicht das kurzfristige Betriebsergebnis steht im Vordergrund,
Traditionelle Nutzungen des Waldes vom 17. bis 19. Jahrhundert in Deutschland
Wirtschaft und Versorgung
73
Ein schönes Kalenderblatt für den Monat Januar aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigt, wie und wann Waldnutzung und Waldarbeit vor 200 Jahren ausgeübt wurden. Holz war sehr kostbar, und wie man sieht, nutzte man auch die Zweige.
reinigt« und durch klare Eigentumsregelungen ersetzt. Die
Hochwald wurden sicherlich dadurch erleichtert, dass mit
Folge war, dass sich die Zahl der Waldbesitzer stark redu-
dem beginnenden Kohlezeitalter die Wälder als Energie-
zierte und dass kleinere Waldstücke zu größeren Flächen
träger entlastet wurden.
arrondiert wurden. Außerdem wurde die sog. »Feld-Wald-
74
Den Wandel vom multifunktionalen Wald vor 200 Jah-
Wirtschaft«, die wechselnde Nutzung einer Fläche als Wald
ren zum heutigen Forstwald beschreibt Gerhard Mitscher-
oder Feld, mehr und mehr zurückgedrängt und schließlich
lich sehr anschaulich, wobei offensichtlich auch ein Stück
ganz beseitigt.
Wehmut oder Nostalgie mitschwingt: »Im Walde, in dem
In forstwirtschaftlicher Hinsicht begann seit etwa 1800
es Jahrhunderte hindurch vom Hundegebell und Hörner-
der Umbau der bis dahin vorherrschenden, überwiegend
klang der höfischen Jagden, von dem Geschrei der Viehhir-
kurz- bis mittelfristig genutzten Mittel- und Niederwälder
ten, dem Blöken, Wiehern, Muhen, Meckern und Grunzen
in sog. »Hochwälder«. Diese sind auf längere Produktions-
des Viehs, dem Axthieb der Felgen- und Bohlenhauer und
zeiträume (ca. 80–200 Jahre) ausgerichtet und verfolgen als
dem Pochen der Eisenhämmer geschallt hatte, wo allent-
Wirtschaftsziel die Erzeugung von starkem, ausgewachse-
halben die Kohlenmeiler, die Teer- und Aschengruben ge-
nem Nutzholz. Der Hochwald macht in Deutschland heute
raucht, die Schmelzöfen gequalmt hatten, wurde es nach
ca. 98 % der Bestände aus. In der ökonomischen Bilanz
und nach still. Er war nun nicht mehr Lebensraum, wie bis-
konnten Ertragsleistung und Produktionskraft des Wal-
her, sondern wurde Stätte einer planmäßigen, systemati-
des durch den Umbau zum Hochwald wesentlich gesteigert
schen Holzproduktion, die nur noch möglichst wertvolles
werden. Die Übergänge vom Nieder- und Mittelwald zum
Holz liefern sollte.«72
Das moderne Dorf
Der Wald ist für alle da!? Die heutigen gesellschaftlichen Aufgaben des Waldes
Der Wald ist der Deutschen liebstes Kind. Er präsen-
onen« und »Lebensraumfunktionen«. Lassen sich all diese
tiert sich heute als eine Art eierlegende Wollmilchsau.
unterschiedlichen Ziele ohne Konflikte erreichen? Die mo-
So zahlreich und unterschiedlich sind die Leistungen,
derne multifunktionale Forstwirtschaft soll es richten. Sie
die er für die Gesellschaft zu erbringen hat und die
soll eine dreifache Nachhaltigkeit anstreben und verwirk-
sich nicht alle leicht miteinander vereinbaren lassen.
lichen: die ökonomische Nachhaltigkeit für die Holzpro-
Er soll Holz und Biomasse produzieren. Er soll Arbeits-
duktion, die ökologische Nachhaltigkeit für Natur und
plätze sichern und die Wirtschaft des ländlichen
Klima, die soziale Nachhaltigkeit für Freizeit, Entspan-
Raumes stabilisieren. Er soll Boden, Wasser, Luft und
nung und Bildung der Menschen.
Klima schützen und die Vielfalt der Pflanzen- und Tier-
Die Schutzfunktionen des Waldes im Bereich Natur –
welt erhalten. Außerdem soll er der Erholung und dem
Umwelt zeigen sich an erster Stelle in seinen positiven Wir-
Tourismus dienen. Eine moderne multifunktionale
kungen auf Wasser, Luft, Klima und Boden. Zunächst ein-
Forstwirtschaft steht bereit, all dies zu gewährleisten.
mal gilt der Wald als Wasserfilter, der einen Teil der Schad-
Wird ihre Arbeit auch honoriert?
stoffe aufnimmt und damit der Reinhaltung von Grundund Oberflächenwasser dient. Außerdem ist der Wald ein
Der Wald ist eine unerschöpfliche Quelle für Wohlstand
vorzüglicher Wasserspeicher, der Niederschlagsschwan-
und Wohlergehen. Er kann sehr viel, aber auch die Ansprü-
kungen ausgleichen und damit die Stetigkeit der Wasser-
che an ihn sind sehr hoch. Er hat in erster Linie seine Nutz-
abgabe verbessern kann. Dem Klima dienen Wälder vor al-
funktion zu erfüllen, d. h. vor allem Holz zu produzieren,
lem durch die Aufnahme von CO2 aus der Atmosphäre und
das als Bau- und Werkstoff sowie als Brennstoff seine öko-
durch die Bindung von Kohlenstoff. So sind in 1 m3 Holz
nomische Verwertung findet. Darüber hinaus haben Staat
etwa 250 kg Kohlenstoff gebunden, der während des Baum-
und Bevölkerung eine Reihe von hohen Erwartungen und
wachstums als CO2 aus der Atmosphäre entfernt wurde.73
Forderungen an den Wald. Man spricht von »gesellschaft-
Wälder sind also permanente Kohlenstoffsenken und die-
lichen Aufgaben«, die der Wald bzw. die Waldeigentümer
nen daher dem Weltklima mit seiner hohen CO2-Belastung
und die Forstwirtschaft zu erbringen haben. Er soll die Natur und das Klima schützen und zugleich der Erholung und dem Tourismus dienen. Andere nennen es »Schutzfunkti-
Abbildung oben: Ein Waldweg wie im Bilderbuch: hier können Wanderer, Radfahrer oder Reiter sich bewegen und entspannen.
Wirtschaft und Versorgung
75
durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Auf lokaler
und Lebenstempo der Menschen immer wichtiger gewor-
Ebene bietet der Wald zunächst einmal Windschutz, er be-
den. Für die Bevölkerung, die überwiegend in naturfernen
wahrt Siedlungen, Erholungsanlagen und landwirtschaft-
Räumen lebt und arbeitet, bietet der Wald einen Ausgleich
liche Nutzflächen vor nachteiligen Windeinwirkungen
mit guter Luft, natürlichen Reizen und Ruhe. Das Wandern,
und vor Kaltluftschäden. Außerdem fördern Wälder den
Joggen und Radfahren im Wald zählt heute zu den belieb-
Luftaustausch und verbessern durch ihre Produktion von
testen Freizeitbeschäftigungen. Auch die Tourismusbran-
Sauerstoff das Kleinklima benachbarter Wohngebiete. Im
che weiß und profitiert davon, dass der Wald und speziell
Vergleich zu anderen Nutzungen bewirkt der Wald einen
die Waldränder zu den beliebtesten Landschaftselementen
optimalen Bodenschutz. Er bewahrt seinen Standort vor
zählen. Waldreiche Regionen wie Harz, Thüringer Wald
Wassererosion, Bodenabtrag und Austrocknung und sorgt
oder Schwarzwald gehören zu den bevorzugten Erholungs-
durch die ständige Humusbildung für eine Kultivierung
gebieten, die ganzjährig Menschen zu Freizeit- und Sport-
von ursprünglich waldfreien Rohböden. Speziell im Hoch-
aktivitäten anziehen. Zu den traditionellen Freizeitnutzun-
gebirge bieten Wälder einen natürlichen Schutz gegen La-
gen des Waldes kann nicht zuletzt auch die Jagd gerechnet
winen, Steinschlag und Erdrutsche.
werden.
Als zweite und nicht minder wichtige Natur-Schutz-
Der Wald bietet den Menschen nicht nur viele Möglich-
funktion bietet der Wald unendlich vielfältige Lebens-
keiten der Entspannung, sondern auch eine Fülle von Na-
räume für Pflanzen und Tiere. In der immer dichter besie-
turinformationen, die für Bildungszwecke genutzt wer-
delten und vom Menschen umgestalteten Landschaft gehört
den können. Unter dem Stichwort »Waldpädagogik« sind
der Wald zu den wenigen noch natürlichen bzw. natur-
in den letzten Jahrzehnten zahllose Angebote einer unmit-
nahen Biotopen. Besonders seltene oder gefährdete Pflan-
telbaren Natur- und Umwelterziehung entwickelt worden.
zen- und Tiergesellschaften werden deshalb unter Schutz
So gibt es Waldkindergärten und Waldschulen, Lern-, Lehr-
gestellt, Schutzgebiete werden ausgewiesen. Man unter-
und Erlebnispfade im Wald, Waldquiz-Veranstaltungen
scheidet in Deutschland sechs verschiedene Schutzgebiets-
und Waldjugendspiele sowie immer mehr geführte Wald-
kategorien, wobei Landschaftsschutzgebiete den extensivs-
begehungen durch Förster und spezielle Waldpädagogen
ten und Nationalparke den intensivsten Schutz beinhalten.
für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die Waldpäda-
41 % der Wälder in Deutschland gehören heute bereits zu ex-
gogik zielt darauf ab, den Wald nicht nur in seinen kom-
tensiven (niederrangigen) Schutzgebieten wie Landschafts-
plexen ökologischen und klimatischen Zusammenhängen
schutzgebieten und Naturparken, 26 % zu intensiven (hoch-
und seiner wirtschaftlichen Nutzung zu erklären, sondern
rangigen) Schutzgebieten wie Naturschutzgebieten und
auch mit allen Sinnen zu erfassen und z. B. den natürlichen
Nationalparken. Nationalparke umfassen gegenwärtig 1 %
Geräuschen und Klängen der Bäume, des Windes, der Vögel
der deutschen Waldfläche, sie weisen u. a. hinsichtlich der
und Wildtiere zu lauschen.
Baumartenzusammensetzung die größte Naturnähe auf.74
76
Der Wald ist tief in der Kultur unseres Landes verwur-
Im human-sozialen Bereich dient der Wald vor allem
zelt. Die Wörter »Wald« und »Baum« sind in manchen ge-
der Erholung. Das wunderbare Goethe-Wort »Ich ging im
läufigen Redensarten enthalten, z. B. »vor lauter Bäumen den
Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein
Wald nicht sehen« oder »auf dem Holzweg sein«. In zahl-
Sinn« ist wie ein Motto der Waldsehnsucht der Deutschen,
reichen Orts-, Flur- und Familiennamen sind alte Wald-,
die in ihrer Freizeit wohl kaum einen Ort so häufig aufsu-
Holz- und Baumbezeichnungen überliefert, Beispiele hier-
chen wie den Wald. 55 Mio. Waldbesucher im Jahr hat das
für sind Waldsachsen, Holzhausen/Holthausen und Köhler.
zuständige Bundesministerium geschätzt. Die Erholungs-
Auch im Brauchtum spielen Bäume eine wichtige Rolle wie
wirkungen des Waldes zielen zum einen auf die Erhaltung
der Weihnachtsbaum oder der Maibaum. Wald und Bäume
oder Wiederherstellung der physischen Gesundheit und
besitzen für die Menschen offenbar besonders starke ge-
zum anderen auf das psychische oder ästhetische Wohl-
fühls- und fantasieanregende Eigenschaften, sie sind in ge-
empfinden des Menschen. Beides ist parallel zur Urbanisie-
wisser Weise Teil der Volksseele. Dies zeigt auch ein Blick
rung der Bevölkerung, zum wachsenden Leistungsdruck
in die Kunst- und Kulturgeschichte Deutschlands und Eu-
Das moderne Dorf
Seit einigen Jahrzehnten betreibt die Waldpädagogik durch zahllose Angebote im Wald eine unmittelbare Natur- und Umwelterziehung, die sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet: hier ein Waldlehrpfad am Edersee in Nordhessen.
ropas – in unseren religiösen Traditionen haben Wald und
kann der Mensch die rohen Kräfte der Natur erfahren, aber
Bäume eine starke symbolische oder mystische Bedeutung:
auch Orientierung und innere Erfüllung und zu sich selbst
als Sitz von Gottheiten, Heiliger Hain oder Baum der Er-
finden. Hier können ihn »die Fratzen der Gesellschaft […]
kenntnis.
nicht bekriegen«, wie es Mörike in seinem schönen Gedicht
In zahllosen Volksliedern und Märchen, in der Dicht-
»Am Walde« vor 150 Jahren beschrieb (s. S. 199). Oder in
kunst, in der Malerei und Musik ist der Wald das beherr-
Eichendorffs »Abschied«, wo der berühmten Zeile »O schö-
schende Thema. Als Kinder haben wir alle in »Hänsel und
ner, grüner Wald« ein »Andächt’ger Aufenthalt« zur Seite
Gretel« den gefährlich tiefen Wald kennengelernt, als Ju-
gestellt wird, oder gegenüber der »geschäft’gen Welt […] da
gendliche das Lied »Waldeslust« gesungen oder die Wald-
draußen« der Wald als schützendes »grünes Zelt« erscheint.
bilder von Caspar David Friedrich interpretiert. In zahlrei-
Der Wald spielt nicht nur in der Kunst und Volkskultur
chen Opern (z. B. »Der Freischütz«), Symphonien und So-
eine große Rolle, sondern auch in den Gefühlen der Land-
naten spielt der Wald eine tragende Rolle: Er ist ein Ort des
bewohner. Und er prägt nicht zuletzt die Vorstellungen der
Geheimnisvollen, des Gefährlich-Bedrohlichen, aber auch
Städter vom Landleben.
der sinnlichen Freuden, der Geborgenheit, des Schutzes
Die vielfältigen Interessen und Nutzungswünsche der
und der Ruhe vor dem geschäftigen Treiben der Welt. Hier
Gesellschaft an den Wald können durchaus zu Nutzungs-
Wirtschaft und Versorgung
77
Das berühmte Gemälde von Caspar David Friedrich »Der Abend« entstand um 1820, Vorbild waren wohl die großen Wälder der Region Mecklenburg/Insel Rügen. Die hier vermittelte friedliche wie geheimnisvolle Waldstimmung prägt bis heute unsere Gefühle zum Wald.
konflikten führen. So stehen die Interessen der Waldeigen-
spiel ist der Bayerische Wald, seit 40 Jahren Nationalpark.
tümer an der Ertrag bringenden Holzproduktion in Kon-
Hier wird die Natur weitgehend sich selbst überlassen und
kurrenz zu den Interessen hinsichtlich Naturschutz sowie
z. B. der Borkenkäfer nicht bekämpft. Für die einen entsteht
Erholung und Freizeit der Bürger. Einen Kompromiss zwi-
dadurch ein hässliches Landschaftsbild mit toten Stangen-
schen den Belangen der Forstwirtschaft, des Naturschut-
wäldern, was andere als schöne, ursprüngliche Natur emp-
zes und der Erholungssuchenden versuchen die Naturparke
finden. Seit vier Jahrzehnten stehen sich zwei Waldkultu-
und Landschaftsschutzgebiete, die häufig große Waldge-
ren gegenüber, die alle den Wald lieben. Was die Ökologen
biete umfassen. Ihr Ziel ist es, die Schönheit und Eigenart
und Touristiker erfreut, erzürnt die Bewohner. Heinrich
ursprünglicher Landschaften vor Schädigung und Eingrif-
Geier von der Schutzbewegung Bayerischer Wald: »Es ist
fen zu bewahren und zugleich für die erholungssuchenden
eine Katastrophe. Kein Wunder, dass die Touristen wegblei-
Menschen zu erschließen. Die forstwirtschaftliche Nut-
ben. Wer will schon durch tote Wälder wandern.« Rainer
zung bleibt erlaubt. Zu den typischen Infrastruktureinrich-
Bomeisl, der oberste Touristiker der Region, vertritt hin-
tungen von Naturparken gehören Parkplätze, Wanderwege,
gegen die Seite der Ökologie und des Naturerlebens: »Die
Spielplätze, Waldlehrpfade und Schutzhütten.
meisten finden es interessant. Es gibt keinen anderen Ort in
Schon eher Nutzungskonflikte entstehen in Nationalparken mit ihren intensiveren Schutzvorschriften. Ein Bei-
78
Das moderne Dorf
Deutschland, wo Wildnis so erlebbar ist.«75 Ein wachsendes Aufgabenfeld der modernen Forstwirt-
schaft sind die modernen Waldschäden. Durch jahrzehnte-
daher zunehmend in Richtung eines ökologischen Wald-
lange Beobachtungen hat man gute Kenntnisse von »natür-
baus. Dessen oberstes Ziel ist in Deutschland die Erhaltung
lichen« Waldschäden, die durch Klima- und Wettereinflüsse,
bzw. Wiederbegründung naturnaher und standortgerech-
durch Pflanzen und Tiere ausgelöst werden. Gefürchtet
ter Laubmischwälder. Nicht weniger wichtig ist die Wie-
sind hier vor allem die schweren Orkane, wie zuletzt Kyrill
derbelebung der Strauch- und Nebenbaumarten wie Weide,
im Januar 2007, die immer wieder große Massen an Sturm-
Erle, Vogelbeere, Himbeere und Brombeere, die als Lebens-
holz verursachen. Seit Beginn der 1980er Jahre rücken zu-
räume der Insekten eine große Rolle spielen. Weiter von
nehmend die anthropogenen, d. h. vom Menschen verur-
Bedeutung ist die sog. »Naturverjüngung« der Bestände
sachten, Waldschäden ins Rampenlicht der Öffentlichkeit.
(durch Selbstsaat) und die möglichst häufige Verzahnung
Bezeichnungen wie »Waldsterben« deuten an, dass es sich
verschiedener Altersstufen. Spezielle Biotope wie Tümpel,
hier um eine ernsthafte Bedrohung des Ökosystems Wald
Quellen, Bachläufe, Felsen, magere Hänge und andere sog.
handelt. Es bestehen heute kaum noch Meinungsverschie-
»Grenzertragsflächen« (ökonomisch unrentable Standorte)
denheiten darüber, dass die Gesamtheit der Luftverschmut-
werden mehr und mehr sich selbst überlassen und als »Na-
zung hier die Hauptverantwortung trägt.
turwaldzellen« aus der intensiven forstlichen Nutzung ge-
Neben den Schädigungen des Waldes von außen liegt die
nommen. Zu den Aufgaben der Walderhaltung und natur-
zweitwichtigste Ursache der Waldschäden im fehlerhaften
nahen Waldpflege gehört auch eine angemessene Reduzie-
Waldbau selbst. Als Schadensgründe gelten hier u. a. Mono-
rung des Wildbestands durch die Jagd.
kultur, Nadelholzdominanz und Kahlschlagwirtschaft. Die
Die vielfältigen Aufgaben des Waldes werden durch eine
Überlegungen und Maßnahmen zur »Waldheilung« gehen
aktive Forstpolitik gesichert. Traditioneller Schwerpunkt
Durch National- und Naturparke betreibt der Staat die Interessen des Natur- und Umweltschutzes. Dazu gehören auch ausreichende Parkplätze, Wanderwege und Beschilderungen für Waldliebhaber und Erholungsuchende, hier ein Wegweiser im Nationalpark Bayerischer Wald.
Wirtschaft und Versorgung
79
der Forstpolitik war bis vor etwa 40 Jahren die Unterstüt-
von der Gesellschaft gefordert und von der Forstwirtschaft
zung der Bewirtschaftung des Waldes. Dem Ziel einer ren-
erfüllt werden, auch hinreichend honoriert? Die Antwort
tablen und leistungsfähigen Forstwirtschaft dienten forst-
der Fachwissenschaftler und Fachbehörden lautet »Nein«.76
politische Maßnahmen wie Aufforstungen von Ödland
Die Einrichtung von Naturschutzgebieten und Naturwald-
und Grenzertragsböden, Waldflurbereinigungen, Bauten
zellen, die Öffnung des Waldes für Wander-, Rad-, Trimm-
von Forstwirtschaftswegen und Förderungen von klein-
dich- und Reitwege oder Kletterparcours, die vielfältigen
betrieblichen Zusammenschlüssen. Seit den 1970er Jahren
waldpädagogischen Maßnahmen verursachen Personal-
treten die Wohlfahrtsfunktionen des Waldes immer stärker
und Sachkosten, die von der Forstwirtschaft meist ohne Ge-
in den Vordergrund und wurden schließlich auch zum Be-
genleistung erbracht werden. Waldeigentümer, Forstwirt-
standteil der Forstpolitik. Die Schutz- und Erholungsaufga-
schaft und nicht zuletzt der ländliche Raum können jedoch
ben des Waldes werden nun als gleichberechtigt neben die
erwarten, dass ihre »gesellschaftlichen Leistungen« für den
traditionellen wirtschaftlichen Nutzfunktionen gestellt.
Wald auch angemessen bezahlt werden.
Man spricht heute vom Leitbild einer multifunktionalen
Für die konzentrierte Bearbeitung der vielfältigen The-
Forstwirtschaft bzw. Mehrzweck-Forstwirtschaft. Das mo-
men aus den Bereichen Wald und Holz ist vom Bundes-
derne Forstrecht hat in Deutschland die gesellschaftlichen
ministerium für Ernährung und Landwirtschaft zum
Aufgaben des Waldes bereits in der Forstgesetzgebung ver-
1. 1. 2019 das Kompetenz- und Informationszentrum Wald
ankert. So wurde z. B. das grundsätzliche Betretungsrecht
und Holz (KIWUH ) eingerichtet und bei der Fachagentur
des Waldes zum Zwecke der Erholung im Bundeswaldge-
Nachwachsende Rohstoffe (FNR ) in Gülzow in Mecklen-
setz von 1975 festgelegt. Die vorrangigen Ziele des Waldes,
burg-Vorpommern eingerichtet worden. (Wald und Holz
die Holzerzeugung auf der einen sowie die Erholungs- und
in Deutschland. Jan. 2019) Die Plazierung dieser neuen Be-
Schutzfunktionen auf der anderen Seite, gelten heute nach
hörde unterstreicht das doppelte Anliegen des Bundesmi-
dem Forstrecht prinzipiell als gleichwertig.
nisterium, Landthemen auch auf dem Land zu bearbeiten
An dieser Stelle steht jedoch eine wichtige Frage im Raum: Werden die vielfältigen Aufgaben der Wälder, die
und zugleich durch Dezentralisierung von Dienststellen dem Land auch Wirtschaftskraft zu geben.
Vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft wurde 2019 das neue Kompetenz- und Informationszentrum Wald und Holz (KIWUH ) im Dorf Gülzow bei Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern errichtet.
80
Das moderne Dorf
Müller, Schneider, Schuster, Schmied Von der Blütezeit des traditionellen Dorfhandwerks
Im »alten« Dorf lebten nicht nur Bauern, Land- und
Holz und Wasserkraft) und Bodenschätzen begründet war:
Waldarbeiter, sondern auch schon eine beachtliche
Bergbau, Metall- und Holzindustrie, Glas- und Tuchindus-
Anzahl und Vielfalt an Handwerkern und Händlern.
trie hatten ihre Standorte vor allem in ländlichen Regio-
Quasi zur Grundausstattung gehörten der Schneider,
nen, vornehmlich in den Mittelgebirgen wie Schwarzwald,
Schuster, Schmied, Müller, Krämer und Wirt. Zunächst
Harz, Sauerland und Erzgebirge.78
war das dörfliche Gewerbe nicht durch Reichtum
Bis vor 200 Jahren war das Handwerk nach den gelten-
geprägt, daher betrieben viele Handwerker eine zu-
den Gewerbeordnungen zunächst einmal eine Domäne der
sätzliche kleine Landwirtschaft zur Selbstversorgung.
Städte. Vor allem die städtischen Zünfte waren bestrebt, die
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine Blüte-
handwerkliche Produktion auf dem Land zu begrenzen
zeit des Dorfhandwerks, die gut 100 Jahre andauerte.
oder zumindest den Absatz von dörflichen Handwerksprodukten in der Stadt zu verhindern. Mit dem sog. »Städte-
Gerade das »alte« Dorf wird meistens mit der Land- und
zwang« versuchten auch viele Landesfürsten, das Handwerk
Forstwirtschaft identifiziert. Dieses Bild ist aber nicht voll-
zur Niederlassung in den Städten zu zwingen. Zunftwe-
ständig – denn auch die nicht agrare Wirtschaft hat im Dorf
sen und Städtezwang konnten jedoch die Entwicklung des
eine lange Tradition. Dörfliches Handwerk gab es bereits
Handwerks auf dem Land nicht aufhalten. Bereits zugelas-
im Mittelalter. Die immer wieder zitierte frühere Autar-
sen waren hier jene Handwerkszweige, die für den tägli-
kie des Dorfes, d. h. seine wirtschaftliche Unabhängigkeit,
chen Bedarf des Dorfes arbeiteten und häufig als klassische
gründete nicht zuletzt auf handwerklichen und gewerbli-
Dorfhandwerke bezeichnet werden: Schmied, Radmacher,
chen Tätigkeiten und Berufen. Einen regelrechten Boom
Zimmermann, Maurer, Tischler, Müller, Bäcker, Schneider,
von Handwerksgründungen können wir im 18. Jahrhun-
Leineweber und Schuhmacher. Neben den Handwerkern
dert feststellen: Im württembergischen Nehren vervier-
gab es auch schon einzelne Händler in den Dörfern, so z. B.
fachte sich die Zahl der Handwerker zwischen 1714 und
den Kaufmann und den Wirt. So schreibt ein Kenner des
1799 von 25 auf 103, während die Einwohnerzahl zwischen
Westerwaldes im Jahr 1783: »Auf ihren Dörfern nisten sich
1730 und 1800 lediglich von 751 auf 1056 anstieg. Auch das 77
frühindustrielle Gewerbe siedelte sich meist im ländlichen Raum an, was in dessen Reichtum an Energie (besonders
Abbildung oben: In der Dorfschmiede gab es Vieles zu arbeiten, auch das Pferdebeschlagen gehörte dazu: hier eine Szene um 1900.
Wirtschaft und Versorgung
81
Danzig
Lübeck Bremen
Hamburg Stettin
Berlin
Osnabrück Te ut
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Münster
Minden Brandenburg
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Obe rGoslar
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Eisenach
Suhl
Frankfurt/M.
Neunkirchen Dillingen Sulzbach Saarbrücken
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Gebiete des Textilgewerbes
er
-
Gebiete der Eisenproduktion und -verarbeitung
Wien
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vorwiegend landwirtschaftliche Nutzung
Kaufbeuren
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Malapane
Ober-
Pilsen
München
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Breslau
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150
200
250 km
Steiermark
Die vorindustriellen Gewerberegionen waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts überwiegend in den rohstoff- und energiereichen Mittelgebirgen Mittel- und Süddeutschlands angesiedelt. Dies gilt besonders für die Eisen- und Glasproduktion.
82
Krämer ein«, die den Bewohnern »Zucker, Gewürze, Taback
um 1800 bereits eine erhebliche Bedeutung, die jener des
und Halstücher, Sacktücher, Stoffe, Schnallen und derglei-
Stadthandwerks kaum nachstand. Trotz ihrer großen Prä-
chen verkaufen«.79
senz in den Dörfern war die wirtschaftliche Lage des Land-
Die Durchdringung des ländlichen Raumes mit Hand-
handwerks zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs gut.
werkern und Händlern verlief keineswegs gleichmäßig. So
Die meisten Handwerker waren gezwungen, ihre Existenz
konnte sich das Handwerk in den wohlhabenden Bauern-
durch eine gleichzeitig betriebene Klein- bzw. Kleinstland-
dörfern der Börden eher entwickeln als in kleinbäuerlichen
wirtschaft oder durch zeitweilige Arbeiten als Tagelöhner
Mittelgebirgsdörfern. Außerdem hat offenbar das vorherr-
abzusichern. Somit war die Masse des ländlichen Hand-
schende Erbrecht der Realteilung Handwerksgründungen
werks durch ständige Armut geprägt. Gleichwohl stieg die
begünstigt, wie eine hohe Handwerkerdichte in südwest-
Anzahl und die Vielfalt der Handwerks- und Handelsbe-
deutschen Dörfern zeigt. Generell hatte das Landhandwerk
triebe in den Dörfern.
Das moderne Dorf
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte in Deutsch-
komplizierten Dienst-Lehen-Verhältnis mit seinem Grund-
land ein stetiges Vordringen liberaler Grundsätze, die sich
herren befreite Bauer wurde nun unternehmerisch freier
schließlich auch in Reformen und Gesetzen niederschlu-
und motiviert, seine landwirtschaftliche Produktion zu
gen. Das ländliche Handwerk konnte davon ganz wesent-
steigern. Er konzentrierte sich auf die Erzeugung von Nah-
lich profitieren. Als erster deutscher Staat führte Preußen
rungsmitteln und überließ alle übrigen Arbeiten mehr und
im Jahr 1810 die Gewerbefreiheit ein und hob damit den
mehr dem Handwerker. Die aufblühende Landwirtschaft
Städtezwang auf. Jeder Gewerbetreibende erhielt damit das
brauchte außerdem neue Geräte und vor allem größere und
Recht der Betriebsgründung und Niederlassung im ganzen
solidere Hof- und Wirtschaftsgebäude, wovon besonders
Land. Das dörfliche Handwerk konnte sich nun ohne städ-
das ländliche Bauhandwerk profitierte.
tische Vorbehalte entwickeln. Weitere Impulse brachten die
Einen wichtigen gesellschaftlichen und politischen Fort-
Agrarreformen des frühen 19. Jahrhunderts. Der aus dem
schritt erfuhren die Dorfhandwerker mit der Einführung
Mühlen waren die Energiezentren des alten Dorfes, meist durch Wasser oder Wind angetrieben. Hier wurden vielerlei Nahrungs- und Gebrauchsgüter wie Mehl, Öl, Papier oder Bretter hergestellt, im Bild die Grander Mühle bei Mölln.
Wirtschaft und Versorgung
83
wirtschaft. Insgesamt sind damals also etwa zwei Drittel aller dörflichen Haushalte im Handwerk oder Handel tätig! Auch die Breite der in diesem relativ kleinen Dorf bereits vertretenen nicht agraren Berufe ist beachtlich: An der Spitze standen die Leineweber (6), Schneider (5) und Krämer bzw. Spezereihändler (5), gefolgt von Schuhmachern (4), Viehhändlern (4), Metzgern (3), Bäckern (2), Büttnern (2) und Maurern (2). Jeweils einmal vertreten war ein Bierbrauer/Gastwirt, Wagner, Müller, Schmied, Zimmermann, Wundarzt, Seiler, Fuhrmann, Schreiner, Sattler, Seifensieder, Bader und eine Stickerin.80 Mit der Industrialisierung, die sich in Deutschland seit etwa 1850 rasant durchsetzte, veränderte sich auch das ländliche Handwerk. Durch Technik, Mechanisierung und Motorisierung entstanden ständig neue Möglichkeiten der Das »Schlachten« gehörte bis in die 1970er Jahre zu den Selbstverständlichkeiten des Dorfes. Hier posiert um 1930 der Dorfschlachter mit der Bauernfamilie stolz vor dem geschlachteten Schwein.
Serien- und Massenproduktion, sodass sich die traditionell vom Handwerk geleistete Güterherstellung mehr und mehr in die Industriebetriebe verlagerte. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes förderte den Markt und den Austausch von
der politischen Gemeinde. In der früheren Dorfmarkge-
Massengütern. Die Existenz des (dörflichen) Handwerks
meinde waren nur die Bauern vollberechtigte Dorfmarkge-
schien durch die Fabrik bedroht – vom unausweichlichen
nossen. In der neuen Dorfgemeinde erhielten alle Dorfbe-
Niedergang des traditionellen Handwerks war die Rede.
wohner – und nicht zuletzt auch die meist landlosen oder
Die »Reaktionen« des Handwerks auf Industrialisie-
landarmen Handwerker – die gleichen Rechte. Der Dorf-
rung und Massenproduktion waren sehr unterschiedlich.
handwerker wurde somit zum gleichberechtigten und so-
Einige Zweige wurden von der Konkurrenz der Fabriken
zial geachteten Dorfbürger. Dies kam bald darin zum Aus-
beiseite gedrängt, andere wiederum konnten sich die mo-
druck, dass er im Gemeinderat neben dem Bauern eine füh-
derne Technik und Mechanisierung zunutze machen. Zu
rende Rolle spielte.
den schrumpfenden Handwerkszweigen auf dem Land
Die Reformen seit Beginn des 19. Jahrhunderts brachten
gehörte recht bald der Leineweber, da die industrielle Ferti-
dem Dorfhandwerk einen großen Aufschwung. So kam
gung zuerst den Textilsektor erfasste. Vom Niedergang be-
es zu einer Gründungswelle von Handwerksbetrieben. Zu-
troffen waren ebenfalls das Schmiede-, Wagner-, Stellma-
nehmende Bedeutung gewannen die Bauhandwerker wie
cher- und Sattlerhandwerk sowie durch beginnende Kon-
Maurer, Zimmerleute und Tischler, aber auch die der Land-
zentrationen das dörfliche Müller- und Molkereigewerbe.
wirtschaft unmittelbar zugewandten Schlosser. Dazu ka-
Zu den stagnierenden Handwerkszweigen auf dem Land
men Bäcker und Metzger, die einen allmählichen Rück-
zählten hingegen die Schneider, Schuster, Schlosser und
gang der traditionellen Selbstversorgung der Bauern und
Klempner. Das Schwergewicht ihrer Arbeiten verlagerte
Handwerker mit Nahrungsmitteln anzeigen.
sich allerdings mehr und mehr von der Neuproduktion auf
Einen schönen Beleg für die große Dichte und Breite an Handwerks- und Handelsbetrieben bietet uns das fränki-
84
Reparaturen, Änderungen, Wartung und Installation von Industrieprodukten.
sche Dorf Kunreuth mit seinen etwa 450 Einwohnern im
Wachsende ländliche Handwerkszweige waren das Bau-
Jahr 1848: Von den insgesamt 77 privaten Anwesen sind
gewerbe und das Nahrungsmittelhandwerk – vor allem
nur 33 % reine Landwirtschaftsbetriebe, 43 % dagegen reine
Bäcker und Metzger. Des Weiteren brachte die Technisie-
Handwerks- oder Handelsbetriebe, 24 % betreiben neben
rung und Motorisierung der Landwirtschaft einen neuen
dem Handwerk oder Handel zusätzlich eine kleine Land-
Handwerkszweig hervor: den Landmaschinenmechani-
Das moderne Dorf
Das erzgebirgische Seiffen zeigt sich hier in vorweihnachtlicher Stimmung. Das weit über die Region hinaus bekannte Holzschnitzdorf mit seinen zahlreichen Drechsler-Werkstätten gilt als die Wiege der Nussknacker, Räuchermänner und Lichtpyramiden und zieht besonders im Winter zahlreiche Besucher aus dem In- und Ausland an. Die sehr detaillierte wie beliebte Schnitzkunst hatte sich nach dem Ende des Erzbergbaus entwickelt.
ker, der sich durch Spezialisierung aus dem Schmiedehand-
Deutschlands, so in Bayern und Baden-Württemberg, wird
werk entwickelt hatte. Aber auch ehemals typische Stadt-
sogar von einer Blütezeit des dörflichen Handwerks ge-
handwerke wie Uhrmacher, Friseure, Optiker und Installa-
sprochen. Dies gilt auch für das Aufbaujahrzehnt nach
teure fanden nun ihren Eingang ins Dorf. Das Einkommen
dem Zweiten Weltkrieg, die 1950er Jahre, die als bislang
der Landhandwerker war um 1900 bis in die 1930er Jahre
letzte »Hochphase« des traditionellen Dorfhandwerks gel-
hinein überwiegend zufriedenstellend. In vielen Teilen
ten können.
Wirtschaft und Versorgung
85
Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt Handwerk und Gewerbe auf dem Land von 1950 bis heute
Noch 1950 war es für jedes mittelgroße Dorf eine
Gewerbezweige waren im Ort mindestens einmal vertreten.
Selbstverständlichkeit, einen Schneider, einen Schuh-
So gab es im Dorf u. a. sieben Schneider, sieben Schuhma-
macher, einen Schreiner, einen Schmied, einen Bäcker,
cher, sechs Schreinereien, vier Schmieden, zwei Bauge-
einen Metzger und ein Baugeschäft zu haben.
schäfte, zwei Klempner, zwei Bäckereien, einen Landma-
Sie alle arbeiteten ausschließlich für das eigene Dorf.
schinenbetrieb, eine Raiffeisengenossenschaft, einen Zim-
Das ist Geschichte – viele Handwerksbetriebe sind
mereibetrieb, einen Malerbetrieb, einen Fotografen, einen
ganz verschwunden, andere haben sich behauptet und
Sattler, einen Uhrmacher, einen Friseur und einen Hut-
modernisiert. Sie haben nur noch selten dörfliche,
macher. Dazu kamen sechs Gasthöfe (drei davon mit Hotel-
sondern überwiegend regionale Kundenkreise.
betrieb), vier Lebensmittelläden, zwei Textilgeschäfte, ein
Dafür sind ganz neue Branchen ins Dorf eingezogen:
Buch- und Papiergeschäft, eine Apotheke, eine Drogerie,
Spezialfirmen für regenerative Energien oder für Soft-
eine Tankstelle, zwei Banken, eine Landwirtschaftsschule,
und Hardwareentwicklung residieren heute nicht selten
eine Realschule, eine katholische und eine evangelische
in ehemaligen Bauernhöfen.
Volksschule, ein Kindergarten, eine Post, ein Polizeiposten und ein Krankenhaus.
Die frühen 1950er Jahre: ein Blick in mein westfälisches
Das knapp skizzierte Dorf der 1950er Jahre war vor al-
Heimatdorf Fürstenberg, das damals etwa 2000 Einwohner
lem durch sein breites Angebot an handwerklichen und
hatte. Das Dorf war voller Arbeitsplätze, praktisch alle hier
gewerblichen Betrieben wirtschaftlich unabhängig. Es
lebenden Erwerbstätigen arbeiteten im Ort. Es gab so gut
konnte sich weitgehend mit Gütern und Dienstleistun-
wie keine Auspendler. Deutlich führender Wirtschafts-
gen selbst versorgen und war somit autark wie die meisten
zweig war seinerzeit, wie in den meisten deutschen Dörfern,
Dörfer ab etwa 500 Einwohnern in Deutschland. Ein kur-
die Land- und Forstwirtschaft. Aber immerhin existierte
zer Blick in die Gegenwart meines Heimatdorfes lässt die
damals in jedem dritten Haus ein Handwerks- oder Gewer-
dramatischen Verluste der zurückliegenden Jahrzehnte er-
bebetrieb. Die meisten von ihnen hatten zusätzlich noch eine kleine Landwirtschaft zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln. Gut ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitete in einem der lokalen Handwerksbetriebe. Alle wichtigen
86
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Auch der Dorfschuhmacher oder Schuster war ein Allrounder. In seiner Werkstatt war er zugleich Hersteller und Reparateur von Schuhen, Taschen und Gürteln.
kennen. So sind heute gerade die traditionellen Dorfhandwerke wie Schneider, Schuster, Schmied und Sattler längst ganz aus dem Dorf verschwunden. Die Zahl der übrigen Gewerbezweige und -betriebe hat sich drastisch reduziert. Vergleichbare Beobachtungen kann man in den meisten Dörfern in Deutschland machen. Was ist passiert seit der letzten »Blütezeit« des Dorfhandwerks in den frühen 1950er Jahren bis heute? In den Jahrzehnten ab etwa 1955 erfolgte in Deutschland der zweite und endgültige Industrialisierungsschub, der durch die beiden Weltkriege eine Verzögerung erfahren hatte. Technisierung und Motorisierung erfassten bald auch das Land und zwangen das dörfliche Handwerk zu einem radikalen Strukturenwandel. Es kam einerseits zu gravierenden Schrumpfungsprozessen, andererseits aber auch zu expandierenden und neuen Handwerks- und Gewerbezweigen auf dem Land. Weitgehend verschwunden aus den Dörfern sind neben
Aus dem traditionellen Dorfhandwerk haben sich manchmal moderne Folgebetriebe entwickelt, so wurden aus Schmieden Kfz-Werkstätten mit Tankstellen, wie hier im Landkreis Vechta.
dem klassischen Dorfhandwerk auch randliche Berufssparten wie Bierbrauer, Seiler, Korbflechter oder Haus-
Treppen, Kleinmöbeln oder auch Wintergärten konzent-
schlachter. Stark rückläufig ist – durch den Einzug der
riert. Verstärkt in die Dörfer eingezogen sind gewerbliche
Großmärkte auf das Land – auch das Bäcker- und Metzger-
Angebote im Gesundheits-, Wellness- und Freizeitbereich:
handwerk. Ebenfalls abnehmend sind die Zahlen der Be-
Physiotherapeutische und logopädische Praxen, Altenpfle-
triebe und Beschäftigten im Bauhandwerk, nachdem die
geeinrichtungen, Sonnenstudios, Schönheitsfarmen und
Baubooms der 50er, 70er und 90er Jahre vorbei sind. Die
Fitnesscenter gehören in den größeren Dörfern und Klein-
Abgänge der genannten handwerklichen Betriebe und Be-
städten des ländlichen Raumes heute bereits zum Standard.
schäftigten sind, bei vorsichtiger Schätzung, bei 60–80 %
Einen nicht zu unterschätzenden Impuls hat der länd-
anzusetzen. Derartige Verluste sind nicht auf Deutschland beschränkt, sondern auch in unseren Nachbarländern zu beobachten. Zu den auch auf dem Land expandierenden Gewerbezweigen gehören die durch die moderne Technik geprägten »industriellen Folgehandwerke«: das Elektrohandwerk, die Radio-, Fernseh- und Computertechnik, die Sanitärund Heizungstechnik, das Kraftfahrzeughandwerk. Häufig sind derartige Handwerkszweige aus Betrieben des traditionellen Handwerks hervorgegangen. Inzwischen sind sie mit modernsten Maschinen ausgestattet und nicht selten auf bestimmte Produkte oder Dienstleistungen spezialisiert. So wurden alte Schmieden häufig zu modernen Kfz-Werkstätten mit Tankstellen umfunktioniert, andere spezialisierten sich auf Kunstschmiedearbeiten oder die Restaurierung von Oldtimern. Traditionelle Schreinerbetriebe haben sich dagegen auf die Herstellung von Fenstern, Türen, Das Elektro- und Sanitärhandwerk ist auf dem Land gut vertreten. Häufig werden ehemalige Bauernhöfe genutzt, wie dieses Beispiel in Grafenberg bei Metzingen zeigt.
Wirtschaft und Versorgung
87
In vielen deutschen Dörfern gibt es den einen mittelständischen Betrieb, in dem ein Großteil der lokalen Bevölkerung beschäftigt ist. Wie hier im oberfränkischen Treppendorf, wo Europas größter Musikhändler angesiedelt ist.
88
liche Raum seit den 1960er Jahren durch Industriansied-
Eine neuere Entwicklung hingegen ist die Ansiedlung
lungen erfahren, die häufig mit staatlichen Programmen
von kleinen Dienstleistungsfirmen in den Dörfern nach
gefördert worden sind. Außerdem haben großräumige
dem Motto »Kühe raus – Computer rein«. Die oft nur klei-
Verkehrsprojekte, wie neue Autobahnen oder Regional-
nen Büros sind medien- und kommunikationstechnisch
flughäfen, der wirtschaftlichen Entwicklung vieler länd-
bestens ausgestattet und in ihrem räumlichen Aktionsra-
licher Regionen genutzt. Diese Förder- und Infrastruktur-
dius überregional, manchmal sogar europa- und weltweit
programme entsprechen einem Grundanliegen der Raum-
ausgerichtet. Die »Neuen Dienstleister« sind z. B. in den Be-
ordnungspolitik, gleichwertige Lebensbedingungen in
reichen Handel (Agrartechnik, Energieprodukte, Compu-
allen Teilgebieten des Staates zu schaffen. Insgesamt haben
tertechnik, Kosmetik/Körperpflege, Metallverarbeitung
die staatlichen Investitionen dazu beigetragen, auch abge-
u. a.) oder fachspezifische Dienstleistungen und Beratungen
legene ländliche Regionen zu stabilisieren und Abwande-
(Bildung/Forschung, Versicherungen, Ingenieursdienst-
rungsverluste der Bevölkerung zu begrenzen.
leistungen, Redaktionstätigkeit, Jobvermittlung u. a.) tätig.
Das moderne Dorf
Dass manchmal auch große und überregional bedeu-
len Massenproduktion gefunden und eine wirtschaftlich
tende Gewerbebetriebe in Dörfern residieren, ist keine Sel-
gestärkte Position eingenommen. Unter den Wirtschafts-
tenheit. So berichtete die FAZ am 20. 3. 2010 unter der Über-
sektoren im ländlichen Raum besitzt die gewerbliche
schrift »Klangvoll und bodenständig«81 von Europas größ-
Wirtschaft heute bereits eine führende Position – gegen-
tem Musikhändler, der sein Geschäft im oberfränkischen
über der Land- und Forstwirtschaft! Zur Stabilisierung von
150-Seelen-Dorf Treppendorf 20 km westlich von Bam-
Handwerk und Handel hat sicherlich auch deren Selbst-
berg betreibt. 55 000 Artikel (Musikinstrumente, Musik-
verwaltung beigetragen. So ist das deutsche Handwerk seit
und Bühnentechnik) werden hier vorgehalten. Allein 6000
1897 durch die Handwerkskammern organisiert, die u. a.
Gitarren und Bässe sind am Lager, von denen 1400 in ei-
die Lehrlings- und Meisterausbildung durchführen und
ner der Spezialabteilungen präsentiert werden. Das Dorf-
darüber hinaus zahlreiche Bildungsprogramme anbie-
geschäft begann 1954 mit der Ausstattung einer dörflichen
ten. Dies trägt dazu bei, dass das (ländliche) Handwerk in
Blaskapelle und beschäftigt heute 600 Mitarbeiter. Der Fir-
Deutschland einen weltweit beachteten hohen Standard be-
mengründer war ein leidenschaftlicher Trompeter, die fünf
sitzt.
Kinder, die heute in der Firma arbeiten, haben alle ein Blas-
Insgesamt haben viele ländliche Regionen in Deutsch-
instrument gelernt. Man kann die FAZ -Überschrift fort-
land in jüngerer Zeit eine über dem Bundes- und Landes-
setzen: Klangvoll, bodenständig und erfolgreich – und gut
durchschnitt liegende Entwicklung genommen. Schwer-
für das Land!
punkte des deutschen Maschinenbaus oder der Elektro-
Im Rückblick der vergangenen 50 Jahre sind die Verän-
industrie befinden sich z. B. in ländlichen Regionen
derungen des dörflichen Gewerbes gewaltig. Einige tradi-
Baden-Württembergs, Westfalens oder Niedersachsens. So
tionelle Zweige wurden von der Industrieproduktion zu-
sitzen in zahlreichen Dörfern des abgelegenen Sauerlan-
rückgedrängt und z. T. ganz beseitigt. Andere konnten sich
des oder Emslandes hoch spezialisierte Firmen, die sich mit
durch Nutzung des technischen Fortschritts, durch Motoren
ihren Hightechprodukten auf dem Weltmarkt behaupten
und Maschinen völlig neue Aufgaben und Schwerpunkte
(»Hidden Champions«). Der ländliche Raum verfügt viel-
erschließen. Grundsätzlich hat sich das ländliche Gewerbe
fach über eine robustere Wirtschaftstruktur als manche
von seiner früheren Verquickung mit landwirtschaftli-
Verdichtungsgebiete, was vor allem auf die hier vorherr-
cher Tätigkeit gelöst und als eigenständiger Berufsstand
schenden flexibel agierenden mittelständischen Betriebe
emanzipiert. Sein Kundenkreis ist über das eigene Dorf hi-
sowie seine zuverlässigen und bodenständigen Mitarbeiter
nausgewachsen. Es hat seine Nische neben der industriel-
zurückgeführt wird.
Wirtschaft und Versorgung
89
Die neue Lebensader vieler Dörfer Tourismus als Alternative zu wirtschaftlicher Verarmung
Die Schönheit und Natürlichkeit des ländlichen
immer größere Landstriche und stieß auch in die Mittel-
Raumes hat immer schon die Menschen angezogen.
gebirge wie Harz oder Schwarzwald vor. Nach dem Zwei-
Zu den ersten Touristen in Deutschland gehörten eng-
ten Weltkrieg entwickelte sich der Tourismus nahezu flä-
lische Adlige und Künstler, die bereits im 18. Jahr-
chendeckend im ländlichen Raum. Es gibt heute kaum eine
hundert das romantische Mittelrheintal entdeckten.
ländliche Region in Deutschland, die sich nicht als loh-
Heute präsentieren sich fast alle ländlichen Regionen
nenswertes Fremdenverkehrsgebiet darstellt und um Gäste
als touristische Ziele. Doch schöne Dörfer und Land-
wirbt.
schaften allein sind nicht genug – sie müssen auch
Viele Bürgermeister und Regionalpolitiker befassen sich
zugänglich gemacht werden und besondere Attraktio-
regelmäßig mit der Frage, wie sie ihre Gemeinde oder Re-
nen bieten: durch Hotels, Rad- und Wanderwege,
gion touristisch entwickeln können. Im Vordergrund steht
Uferpromenaden, Seebrücken, Kurparke, Bäder, Eislauf-
dabei zunächst der Blick auf das natürliche und kultur-
hallen oder Skilifte. Nur so können Dörfer und Klein-
räumliche Erholungspotenzial einer Landschaft. Hier
städte vom Tourismus heute profitieren.
kann der ländliche Raum mit seinen typischen Standortvorteilen besonders punkten. Für eine hohe natürliche Er-
Die Entwicklung der modernen Gesellschaft zu immer
holungseignung sorgen vor allem Gewässer- und Wald-
mehr Freizeit, Erholung und Reisen kommt in erster Linie
ränder. Außerdem steigern die Vielfalt und der Kontrast
dem ländlichen Raum zugute. In manchen ländlichen Re-
der Landnutzung (z. B. Grünland, Ackerland, Moor, Heide)
gionen ist der Tourismus heute bereits der führende Wirt-
und der Topographie (z. B. Tal- und Bergzüge) den Erho-
schaftszweig. Er gilt als neue Lebensader, nachdem Land-
lungswert einer Landschaft. Nicht zuletzt zählt ein gesun-
und Forstwirtschaft, Fischerei oder Bergbau vielerorts ihre
des Klima. Das höchste natürliche Erholungspotenzial ha-
frühere Bedeutung verloren haben. Die Entwicklung be-
ben in Deutschland neben den Küstenlandschaften und
gann punkthaft im 18. Jahrhundert in Badeorten mit Heil-
dem Hochgebirge vor allem die seereichen Landschaften,
quellen wie Driburg oder Kissingen, im Mittelrheintal, auf
Mittelgebirge, Flusstäler und besonders auch die Weinbau-
Bauernhöfen am Alpenrand sowie in Fischerdörfern an der Küste und auf den Inseln der Nord- und Ostsee. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste der Fremdenverkehr
90
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Der moderne Tourismus begann im späten 18. Jahrhundert, hier das Badehaus Goor von 1811 in Lauterbach auf Rügen.
regionen. Relativ gering hingegen ist die natürliche Erho-
nen ganzjährigen Kurverkehr eingerichtet. Heilbäder und
lungseignung z. B. bei den monoton genutzten Ackerbau-
Kurorte sind heute in allen ländlichen Regionen Deutsch-
landschaften der Börden. Neben dem natürlichen hat auch
lands – z. T. in erstaunlicher Dichte – anzutreffen. Die Ent-
das kulturräumliche Erholungspotenzial für die Entwick-
wicklung des Kur- und Badetourismus begann vielerorts
lung des Tourismus eine hohe Bedeutung. Hierzu gehören
bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so z. B. in
vor allem schöne Orts-, Flur- und Waldbilder, aber auch
Pyrmont, Meinberg, Driburg, Lauchstädt, Hofgeismar oder
einzelne Bau- und Naturdenkmäler wie Burgen, Schlösser,
Kissingen. In diesen neuen »Sommerfrischen« kamen vor-
Mühlen, Ruinen, Parkanlagen und Quellteiche sowie nicht
nehmlich der Adel und das gehobene Bürgertum zusam-
zuletzt Brauchtum und historische Feste.
men, um sich in gleichgesinnten Kreisen und in unge-
Um das vorhandene natürliche und kulturräumliche Po-
zwungenem Rahmen austauschen zu können. Sie brachten
tenzial einer Landschaft für den Tourismus zu nutzen, sind eine Reihe von öffentlichen und privaten Einrichtungen und Leistungen erforderlich. An erster Stelle steht hier das Übernachtungs- und Gastronomiegewerbe: Hotels, Pensionen, Gaststätten, Restaurants, Cafés. Dazu kommt die Verkehrserschließung in Form von Zufahrten, Parkplätzen, Wanderwegen usw. Besonders wichtig sind nicht zuletzt die spezifischen Angebote eines Ortes oder einer Region – z. B. für Sport und Spiel: Frei- und Hallenbad, Tennis- und Golfplätze, Reithalle, Eissporthalle und Skilifte; für Unterhaltung und Kultur: Bücherei, Museum, Vorträge, organisierte Führungen und Wanderungen; für medizinische und gesundheitsfördernde Behandlungen: Kurmittelhaus, Trinkhalle, Wellness- und Kneippanlagen. Die immer weitere Erschließung natürlicher Landschaften kann zu einer Beeinträchtigung des Erholungswertes einer Landschaft führen und damit dem Tourismus selbst schaden. Darauf hat bereits 1975 Jost Krippendorf mit seinem Buch »Die Landschaftsfresser« aufmerksam gemacht. Heute gilt daher die Zielvorgabe des sanften bzw. nachhaltigen Tourismus. Dieser wendet sich gegen allzu rigide Erschließungs- und Baumaßnahmen und versucht, die Erhaltung der Natur mit den Ansprüchen der Bewohner und der Gäste in Einklang zu bringen. Die große Masse der deutschen Freizeit- und Erholungsorte liegt im ländlichen Raum, d. h. in Dörfern und Kleinstädten. Nach den jeweils in einem Ort vorherrschenden natürlichen und »entwickelten« Angeboten unterscheidet man Kurorte, Seebäder, Sommererholungsorte und Wintersportorte. Die Kurorte basieren in der Regel auf Heil- oder Thermalquellen. Sie haben sich mit ihren hoch qualifizierten Angeboten wie Spezialkliniken, Sanatorien, Kurheimen, Wandelhallen, Bade- und Kurmittelhäusern meist auf eiAn nahezu allen deutschen Flüssen, wie hier im Altmühltal, finden sich heute Radwanderwege. Sie sind gut ausgebaut, beschildert und sehr beliebt bei Jung und Alt.
Wirtschaft und Versorgung
91
Die touristisch geprägten Küsten- und Inseldörfer haben ihr Flair häufig durch die historische Bäderarchitektur, die vorwiegend im 19. und frühen 20. Jahrhundert enstanden ist. Hier ein Blick in die Strandpromenade von Binz auf Rügen.
92
Das moderne Dorf
Nach den Küsten und Inseln gehören die Mittel- und Hochgebirge zu den beliebtesten Tourismusgebieten, vor allem im Winter. Hier ein Blick vom Berggasthof Seeweg bei Oberstdorf auf das Skigebiet Söllereck in den Deutsche Alpen.
eine Prise Urbanität auf das Land, von der die aufgesuchten
sucht nach urwüchsigen Landschaften und fernen Zeiten
Dörfer und Kleinstädte mittel- und langfristig profitieren
(z. B. die »Loreley«), das bis heute für viele Reisen Gültig-
konnten. In manchen dieser frühen Kur- und Badeorte ha-
keit hat.82
ben sich bezaubernde architektonische Ensembles mit his-
Seebäder sind in Deutschland an den Küsten sowie auf
torischen Brunnen-, Bade- und Logierhäusern sowie Wan-
den Inseln der Nord- und Ostsee fast linienhaft anzutreffen.
delhallen und Theaterbauten bis heute erhalten.
Ihre Entwicklung begann 1793 in Heiligendamm an der
Wichtige Impulsgeber für das moderne Reisen in
Ostseeküste, breitete sich aber schnell auf nahezu alle Küs-
Deutschland waren im 18. Jahrhundert auch englische Ad-
ten und Inseln der Nord- und Ostsee aus (Norderney 1797,
lige und Künstler, die auf ihrer Grand Tour (Bildungs- und
Travemünde 1799, Lauterbach auf Rügen 1816). Ehemalige
Erlebnisreise) zu den Alpen und nach Italien das Mittel-
Fischer- und Bauerndörfer wie Nebel auf Amrum, Nie-
rheintal zwischen Godesberg und Rüdesheim bereisten und
blum auf Föhr oder Keitum auf Sylt gehören heute zu den
begeistert davon berichteten: Der Fluss in seinem felsigen
beliebtesten Touristenzielen und zugleich begehrtesten Im-
Tal, romantische Orte und burgenbewehrte Höhen, Wein-
mobilienstandorten in Deutschland. Die Saison der deut-
berge an steilen Hängen. Dichter und Maler schufen aus
schen Seebäder waren zunächst weitgehend auf die Som-
diesen Bildern die »Rheinromantik«, ein Motiv der Sehn-
mermonate beschränkt, was die Auslastung der Gästebetten
Wirtschaft und Versorgung
93
Ostseeküste zwischen Ahrenshoop und Prerow im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Maßvoller Tourismus und strenger Naturschutz sind hier nebeneinander möglich.
94
und touristischen Angebote erheblich reduzierte. Gleich-
zen, lesen, speisen oder einfach nur auf das Meer schauen
wohl haben auch die Seebäder ihre Ausstattung ständig ver-
und die Zeit genießen.
bessert und erweitert und damit auch die Saisonzeiten aus-
Die Sommererholungsorte haben ihre Standortquali-
gedehnt. So wurden Uferpromenaden errichtet, ausgebaut
täten schlicht in der »schönen Kulturlandschaft« und »ge-
oder modernisiert, Rad- und Wanderwege sowie Camping-
sunden Luft«. Sie sind flächenhaft im ländlichen Raum ver-
plätze angelegt, Bahnstrecken reaktiviert oder erneuert, die
breitet. Bevorzugte Gebiete sind allerdings die meist dünn
alten Seebrücken auf den Inseln Rügen und Usedom re-
besiedelten Mittel- und Hochgebirge, größere Wald- und
noviert oder wiederhergestellt. Eine besondere Attraktion
Heidelandschaften sowie Binnenseen wie der Bodensee oder
der Küsten- und Inselorte ist die sog. »Bäderarchitektur« im
die ausgedehnte Mecklenburgische Seenplatte. Wie bei den
verspielten Historismus oder Jugendstil mit ihren Loggien,
Seebädern ist die Saison meist relativ kurz und auf die wär-
Balkonen und Veranden sowie Erkern, Türmchen und Säu-
mere Jahreszeit konzentriert. Eine seit Jahrzehnten beste-
len. In den typischen Wintergartenvorbauten, die zunächst
hende Angebotsnische sind die »Ferien auf dem Bauern-
aus Holz und später aus Eisen mit feinsten Schmuckele-
hof«, die besonders bei Familien mit Kindern beliebt sind.
menten errichtet wurden, konnten und können die Ferien-
Touristische Magnete auf dem Land sind auch die zahlrei-
gäste bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit geschützt sit-
chen regionalen Freilichtmuseen sowie die modernen Er-
Das moderne Dorf
Das Dorf Oberhof im Thüringer Wald ist ein traditionsreicher Wintersportort im Deutschen Mittelgebirge. Seit 2009 ist hier Deutschlands größte Skisporthalle für Spitzensportler und Hobbyskifahrer in Betrieb und ermöglicht ein ganzjähriges Skilaufen.
lebnisparks wie z. B. der Erlebnispark »Schloss Thurn« in
der verbinden. So werden heute alle größeren und mittle-
Heroldsbach/Franken. Auch die Sommererholungsorte ha-
ren Flüsse in Deutschland nahezu komplett von der Quelle
ben in den letzten Jahrzehnten vielerlei Anstrengungen
bis zur Mündung mit Rad- und Wanderwegen begleitet.
zur Steigerung ihrer Attraktivität unternommen. Ein
Auch Gebirgszüge wie der Thüringer Wald, das Rothaarge-
Trend ist die Koordinierung und Vermarktung der loka-
birge oder die Alpen sind von überregionalen Kamm- oder
len und kommunalen Sehenswürdigkeiten und Angebote
Gebirgsrandwegen für den Fernwanderer erschlossen wor-
durch überkommunale Tourismusverbände, die dann ihre
den. Nicht zuletzt bleiben die zahllosen Fahrgastschiffe auf
regionalen »Marken« wie »Sächsische Schweiz«, »Wein-
Rhein, Main, Donau, Mosel, Weser und Elbe zu nennen, die
franken« oder »Pfälzer Wald« gebündelt bewerben können.
in den Sommermonaten immer wieder gern zu Ausflugs-
In ähnlicher Weise sorgen »Themenwege« wie »Straße der
fahrten genutzt werden. Ein neuer Trend sind Flusskreuz-
Romanik«, »Deutsche Mühlenstraße« oder »Deutsche Bur-
fahrten, die vor allem bei ihren Wegen durch die Mittelge-
genstraße« für eine touristische Durchdringung des Landes.
birge an die Erlebnisse, Gesänge und Bilder der reisenden
Ebenfalls profitieren die Sommererholungsorte von den in-
Romantiker um 1800 anknüpfen.
zwischen dichten Netzen von Fahrrad- und Wanderwegen,
Die Wintersportorte sind in der Regel an Höhenlagen
die die ländlichen Regionen durchziehen und miteinan-
ab 800 m gebunden. Sie finden sich deshalb neben den Al-
Wirtschaft und Versorgung
95
pen nur in den höheren Mittelgebirgen wie Schwarzwald,
sportler, ob Langläufer, Kombinierer oder Biathleten, ist
Thüringer Wald, Erzgebirge, Rothaargebirge, Bayerischer
die neue Skihalle ein enormer Standortvorteil. Oft sind sie
Wald und Harz. Die meisten Wintersportorte haben neben
auf der Suche nach Schnee Tausende von Kilometern un-
ihrer Hauptsaison auch im Sommer »geöffnet«. Gerade im
terwegs. Außerdem lassen sich hier die Trainingseinheiten
Wintersport zeigt sich die große Bedeutung neu geschaffe-
optimal kontrollieren: 32 Kameras leuchten jeden Winkel
ner Angebote. Zahlreiche ländliche Orte in den Mittelge-
aus, die technische Detailarbeit auf Skiern lässt sich sofort
birgen und Alpen wie Oberhof, Willingen oder Oberstdorf
per Videoanalyse überwachen. Am großen Monitor an der
haben sich mit ihren Wintersportangeboten zu Zentren für
Wand im Konferenzraum kann jeder Schritt in der Halle
Sport und Tourismus entwickelt, was vor Jahrzehnten noch
genau verfolgt werden. Die Tourismusmanager von Ober-
kaum jemand für möglich gehalten hätte. Moderne Anla-
hof setzen aber nicht nur auf die Spitzensportler, sondern
gen für Skispringen, Eislauf, Biathlon, Rennschlitten- oder
auch auf Hobbylangläufer und Besucher. Die DKB Ski-
Bobsport, Abfahrts- oder Langlauf (oft beleuchtet bis spät
halle in Oberhof wird heute etwa zu gleichen Teilen von
in den Abend) gehören vielfach bereits zum Standard. Dazu
Leistungs- und Freizeitsportlern genutzt. Bisher ist man
kommen Rodel- und Wanderstrecken, die maschinelle Be-
mit deren Nachfrage sehr zufrieden.83
schneiung und nicht zuletzt die diversen Liftanlagen.
96
Im Ganzen hat der moderne Tourismus zur ökonomi-
Ein Beispiel ist das gut 1500 Einwohner zählende Dorf
schen, baulichen und sozialen Stabilisierung des ländlichen
Oberhof im Thüringer Wald: Hier wurde im Juli 2009 ne-
Raumes beigetragen. Viele ehemalige Bauern-, Waldarbei-
ben einer bereits bestehenden Sprungschanze, einer Renn-
ter-, Fischer- und Bergbaudörfer, die mit der Schrumpfung
schlitten- und Bobbahn, einer Biathlonanlage und beleuch-
ihrer früheren Hauptwirtschaftszweige in eine Existenz-
teten Skipisten eine neue, 400 m lange und 14,4 Mio. Euro
krise geraten waren, haben durch den Tourismus ihre ver-
teure Skisporthalle eröffnet (die erste in Mitteleuropa,
loren gegangenen Erwerbsmöglichkeiten ersetzen können.
nach Vorbildern in Schweden und Finnland). Mehr als
In manchen ländlichen Regionen – so im Harz, im Alpen-
50 Spitzen- oder Freizeitsportler können hier gleichzei-
raum oder auf den Nord- und Ostseeinseln – ist der Touris-
tig 365 Tage im Jahr auf 30 cm Schnee bei minus vier Grad
mus heute häufig die einzige Alternative zur wirtschaftli-
und 70–90 % Luftfeuchtigkeit Ski laufen. Für die Winter-
chen Verarmung und Entsiedlung.
Das moderne Dorf
Wasser, Energie, Verkehr, Datenübertragung Der hohe Standard an technischer Infrastruktur
Woher bekommen die Dorfbewohner heute ihr Trink-
Als Grundausstattung im engeren Sinne gilt die tech-
wasser? Wie war das vor 80 oder 200 Jahren? Womit
nische Infrastruktur. Sie umfasst die Wasser- und Abwas-
bestritt das Dorf seine Energieversorgung um 1900
serversorgung, die Energieversorgung sowie die Verkehrs-
oder 1800, wie ist es heute? Wie ist der ländliche
wege. Die technische Grundversorgung von Siedlungen
Raum in das moderne Verkehrsnetz der Straßen, Auto-
und Gewerbe hat in Deutschland einen relativ hohen Stand.
bahnen, Bahnstrecken und Flughäfen eingebunden?
Dies gilt grundsätzlich auch für den ländlichen Raum. Die
Und wie weit ist die heutige Informationstechnologie
meisten Einrichtungen der elementaren Grundversorgung
aufs Land vorgedrungen, bringt sie ihm eher Vorteile
befinden sich im Eigentum oder in der Kontrolle der öf-
oder Nachteile? Ein Dorfbewohner von 1800 würde
fentlichen Hand. Im Unterschied zur Privatwirtschaft ha-
sich bei einem Besuch in einem modernen Dorf wohl
ben Staat und Kommunen ein Interesse daran, auch unöko-
wie auf einem anderen Stern vorkommen! Doch es gibt
nomische, aber für das Gemeinwohl notwendige Einrich-
nicht nur Fortschritte.
tungen vorzuhalten, z. B. die Telefon- und Bahnversorgung des ländlichen Raumes.
Dank Land- und Forstwirtschaft sowie Handwerk war das
In Bezug auf die Wasserversorgung zeigten sich unsere
Dorf um 1800 weitgehend durch eine ökonomische Selbst-
Vorfahren besonders vorsorgend und erfinderisch. Da man
versorgung geprägt. Aber auch in Bezug auf seine Infra-
nahezu täglich auf das Wasser angewiesen war, bauten sie
struktur, die für das Funktionieren von Wohnen und Ar-
ihre ersten Siedlungen möglichst in der unmittelbaren
beiten notwendig ist – versorgte das Dorf sich in der Re-
Nähe von Flüssen, Bächen oder Quellen. War dies nicht
gel selbst durch Nutzung lokaler Kräfte und Ressourcen.
möglich, grub man Brunnenschächte in die Tiefe, um so
Ob Wasser- oder Energieversorgung, Feuerschutz oder Po-
das Grundwasser anzuzapfen. Oder man zweigte von Flüs-
lizeiwesen, die wichtigsten Einrichtungen der Grundver-
sen und Bächen Kanäle oder Wassergräben ab, um ganze
sorgung wurden lokal vorgehalten und geregelt. Wenn
Dörfer oder einzelne Bauten wie Mühlen mit stetig fließen-
man sich dies vor Augen führt, erkennt man den Kontrast zur Gegenwart. Bis auf die Feuerwehr wird das Dorf heute überwiegend von externen Institutionen versorgt und ist damit meist von großen Konzernen abhängig.
Abbildung oben: Mit erneuerbaren Energien gewinnt das Land seine frühere Rolle als Energieproduzent zurück, hier der Solarenergiepark Finowtower in Schorfheide-Finow (Brandenburg).
Wirtschaft und Versorgung
97
in den Großstädten, da sie weitmaschiger angelegt und z. B. auch die Aussiedlerhöfe angeschlossen sind. Bis zu Beginn der Industrialisierung um 1850 war der ländliche Raum auch Energieselbstversorger. Darüber hinaus war er der dominante Energiespeicher und -produzent für das ganze Land. Neben der Wind- und Wasserkraft wurde vor allem das nachwachsende Holz der Wälder als Energieträger genutzt. Zahlreiche frühindustrielle Gewerbe wie Erzverarbeitung und Glasherstellung waren deshalb in den wald- und gewässerreichen ländlichen Regionen angesiedelt worden. Die generelle Stagnation des ländlichen Raumes gegenüber den Städten und neuen Industrieregionen ab etwa 1850 wurde im Wesentlichen durch den Wechsel der Energieträger – von Wasserkraft und Holz zu den fossilen Brennstoffen Kohle und Öl – ausgelöst. Damit wurden die traditionellen, spezifisch ländlichen Energieträger immer unwichtiger und schließlich Früher nahm jedes Dorf sein eigenes Wasser aus den Quellen, Bächen oder Brunnen der Gemarkung. Heute werden Dörfer meist durch regionale Wasserverbände versorgt, wie hier durch die neue Talsperre in Leibis-Lichte in Thüringen.
kaum noch genutzt. Die frühindustriellen Energietechnologien, z. B. in der Wasserkraft-, Windkraft- und Holznutzung, wurden nicht weiterentwickelt und schließlich aufgegeben. Ab dem frühen 20. Jahrhundert koppelte man
98
dem Wasser zu versorgen. Auch baute man Wasserleitungen
schließlich den ländlichen Raum nach und nach mit weit-
von ständig fließenden Quellen bis zu den sog. »Kümpen« in
verzweigten Überlandleitungen an zentrale Kraftwerke
den Orten, wo sich die Dorfbewohner ihre Wasseranteile ab-
(auf Kohle-, Atom-, Erdöl- und Erdgasbasis) an. Die Versor-
holen durften. Wasserleitungen bis in die einzelnen Haus-
gung mit Strom ist heute für alle ländlichen Siedlungen,
halte, wie es für uns alle heute selbstverständlich ist, gab es
auch die kleinen und abgelegenen, sichergestellt. Auch die
flächendeckend auf dem Land bis ins frühe 20. Jahrhundert
Wärmeversorgung des ländlichen Raumes erfolgt inzwi-
nur in Einzelfällen. Heute sind nahezu 100 % der Bevölke-
schen überwiegend durch »importierte« fossile Brennstoffe
rung in Deutschland an die öffentliche Wasserversorgung
wie Erdgas, Erdöl und Kohle. Zwar ist das Erdgasnetz unter-
angeschlossen. Kaum niedriger liegen die Zahlen bei der
schiedlich weit in die Fläche vorgedrungen, aber es hat in
Abwasserversorgung. Allerdings beziehen die meisten Dör-
vielen Regionen bereits die meisten größeren und mittle-
fer ihr Wasser heute nicht mehr aus den lokalen Quellen
ren Dörfer erreicht.
wie noch vor Jahrzehnten. Üblich ist, dass regionale oder
Seit etwa 25 Jahren erfolgt ein allgemeines Umdenken
überregionale Wasserwerke die Versorgung übernommen
zugunsten umweltfreundlicher und dezentraler Energie-
haben, wobei diese wiederum ihr Wasser aus dem ländli-
quellen. Die dem Land eigenen Energiepotenziale wie
chen Raum beziehen. Generell kann das Land als der große
Wind- und Solarkraft, Biomasse und Wasserkraft erle-
Wasserspeicher und Wasserversorger des Staates bezeichnet
ben seitdem einen kräftigen Aufschwung. In allen Regio-
werden. So versorgt z. B. der Harz den Raum Bremen, die
nen Deutschlands sind große und kleinere Windparks ent-
sauerländischen Talsperren das Ruhrgebiet und der Boden-
standen. Einige Dörfer wie Jühnde in Südniedersachsen
see den Raum Stuttgart mit Trinkwasser. Der Wasserreich-
sind inzwischen in der Lage, ihren Strom- und Wärmebe-
tum des ländlichen Raumes macht die Wasser- und Abwas-
darf durch ein Blockheizkraftwerk auf Biomassebasis vor
serversorgung in den Dörfern selbst aber nicht grundsätz-
Ort selbst herzustellen. Andere setzen auf Solarenergie wie
lich billiger. Die Ver- und Entsorgungsnetze sind auf dem
die nordhessische Landgemeinde Alheim, die damit 73 %
Land vergleichsweise (pro Kopf der Bevölkerung) teurer als
ihres Energiebedarfs für ihre 5280 Einwohner in zehn Dör-
Das moderne Dorf
Die Windenergie ist seit den 1990er Jahren stark ausgebaut worden. Die Anlagen werden immer höher und ergiebiger, hier ein Blick auf den Windenergiepark Küstrow bei Barth (Mecklenburg-Vorpommern).
fern selbst produziert. Mit zunehmender Nutzung der loka-
Auch der ländliche Raum war durch das enge Strecken-
len und regionalen »Ökoenergie« kann der ländliche Raum
netz gut erschlossen. In Tausenden von Dörfern wurde der
einen wesentlichen Teil seiner früheren Rolle als Energie-
Bahnhof neben Kirche, Schule und Gasthof eine wich-
produzent zurückgewinnen und damit auch unabhängiger
tige Adresse. Entlang der Strecken entstanden in den neuen
von externen Kosten und Steuerungen werden.
»Bahndörfern« zahlreiche bahnzugehörige Arbeitsplätze
Die Verkehrserschließung des ländlichen Raumes er-
der Zugführer, Schaffner, Techniker, Bahnhofsvorsteher
folgt in erster Linie durch ein Netz von Straßen verschie-
und Schrankenwärter, die vielerorts bereits im 19. Jahr-
dener Ordnungen: Autobahnen, Bundes-, Landes-, Kreis-
hundert die bis dato agrar geprägte Berufsskala »urbaner«
und Gemeindestraßen. Die Dichte und der Ausbauzustand
machten. Ab 1835 erbrachten einige wenige Generationen
des Straßennetzes müssen in Deutschland als gut bezeich-
für den Bahnverkehr eine gewaltige Infrastrukturleistung,
net werden – und dies gilt generell auch für das Land. Der
von der wir bis heute profitieren können. Massive Berg-
Nachholbedarf, der nach der Wiedervereinigung in den öst-
durchbrüche, großartige Talbrücken, Tunnel- oder Bahn-
lichen Ländern offenbar wurde, konnte inzwischen weit-
hofsbauten zeugen von Ingenieurs- und Architektenküns-
gehend abgebaut werden.
ten, die vielfach Bestand haben und zu bewundern sind.
Die Verkehrserschließung durch Eisenbahnstrecken war
Ein Beispiel ist die von 1846 bis 1851 errichtete Göltzsch-
in Deutschland bis vor Jahrzehnten ebenfalls sehr dicht.
talbrücke zwischen Reichenbach und Netzschkau im nörd-
Wirtschaft und Versorgung
99
lichen Vogtland. Sie hat eine Länge von 574 m und eine
den »Rückzug aus der Fläche« angetreten. Durch zahlreiche
maximale Höhe von 78 m und gilt als größte Ziegelbrü-
Stilllegungen von Linien und Bahnhöfen ist die Verkehrs-
cke der Welt. Das auch optisch imposante Bauwerk erfüllt
infrastruktur vieler ländlicher Orte und Regionen ver-
bis heute seinen Zweck. Sie ist zweigleisig gebaut und wird,
schlechtert worden. Leer stehende Bahnhofsgebäude sind-
wie vor 160 Jahren, in beide Richtungen gleichzeitig befah-
das äußere Zeichen dieser Verluste.
ren. Im Gegensatz zu den Straßen ist die Flächenerschlie-
Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) des länd-
ßung des ländlichen Raumes durch die Eisenbahn in den
lichen Raumes wird heute überwiegend durch Omnibus-
zurückliegenden Jahrzehnten jedoch ausgedünnt worden.
linien verschiedener regionaler Verkehrsverbände geleis-
Die Deutsche Bahn hat zugunsten überregionaler Strecken
tet. Doch steht der Omnibusverkehr auf dem Land häufig in der Diskussion: Er wird belastet durch Probleme wie hoher Kostenaufwand, geringe Nachfrage und Ausdünnung der Strecken und Fahrpläne. In manchen ländlichen Regionen bieten sog. »Bürgerbusse« eine Alternative – sie können gezielt bedarfsorientiert »abgerufen« werden. Träger sind Kommunen oder gemeinnützige Vereine, durch den Einsatz ehrenamtlicher Kräfte können die Kosten erheblich reduziert werden. Die Hauptrolle im Verkehrsablauf des Landes spielt allerdings der Individualverkehr. Die meisten erwachsenen Dorfbewohner sind schon wegen des täglichen beruflichen Pendelns auf das eigene Auto angewiesen. Manche größeren Haushalte haben nicht selten zwei oder drei Fahrzeuge – diesbezüglich hat die ländliche Bevölkerung den hohen Motorisierungsgrad der Gesamtbevölkerung erreicht. Die private Motorisierung ist für sie unentbehrlich geworden. Um Kosten einzusparen, wird auch auf dem Land das Auto-Teilen (Carsharing) immer beliebter. Zu den kleineren Carsharing-Gemeinden gehören die Dörfer Göhrde in Niedersachsen und Tonndorf in Thüringen. Ohne Zweifel profitiert der ländliche Raum heute auch von der relativen Flughafendichte in Deutschland. Vor allem durch die Einrichtung zahlreicher »Regionalflughäfen« sind viele ländliche Regionen inzwischen gut an die große Welt angebunden. Auch das Netz an schiffbaren Gewässern ist in Deutschland relativ eng. Zusätzlich zu den meist schiffbaren großen Flüssen wie Rhein, Main, Donau, Oder, Elbe, Weser, Ems und Mosel ist im 19. und 20. Jahrhundert ein dichtes Kanalnetz aufgebaut worden. Hiervon profitiert nicht nur der heutige Güterverkehr, sondern in zunehmendem Maße auch der moderne Tourismus. Zunehmend von großer Bedeutung für den ländlichen Raum ist seine Erschließung mit den Netzen der modernen Informationstechnologie. Am Anfang stand die flä-
Autobahnen erschließen fast alle ländlichen Regionen und verknüpfen diese mit den Großstädten. Doch manche Landkreise wünschen sich noch eine »nähere« Autobahn.
100
Das moderne Dorf
Die Göltzschtalbrücke bei Netzschkau in Sachsen, ein Ziegelbau von 1851 und einer der größten in Deutschland, liegt an der Bahnstrecke Leipzig–Nürnberg. Die Bahnerschließung des ländlichen Raumes war eine große Infrastrukturleistung des Staates im 19. Jahrhundert.
chenhafte Ausbreitung des Telefonnetzes auf dem Land,
zum Arbeitsplatz überflüssig machen. Grundsätzlich kön-
die vor etwa 100 Jahren begann. Heute befinden sich die
nen so auch in abgelegenen strukturschwachen Regionen
schnellen DSL -Breitband-Internetanschlüsse im Blick-
hochwertige Arbeitsplätze gehalten oder angesiedelt wer-
punkt, die in Kürze jedem Dorf zur Verfügung stehen sol-
den. Die meisten Experten sind der Meinung, dass mithilfe
len. Auch Telearbeit ist im Kommen – die Arbeit am Bild-
der modernen Telekommunikationsnetze und Informa-
schirm, die über das »Netz« Distanzen überwindet. Sie kann
tionsmedien zunehmend wesentliche Standortnachteile des
von zu Hause aus geleistet werden und lange Anfahrtswege
ländlichen Raumes behoben werden können.
Wirtschaft und Versorgung
101
Turnhalle und Tennisplatz statt Postamt und Polizei Verluste und Gewinne der öffentlichen Grundversorgung
Wer schützt das Dorf vor Feuer oder vor Dieben?
Der flächenhafte Aufbau der Post im ganzen Land ge-
Wie war es früher, wie ist es heute? Wie war, wie ist
hört zu den großen Infrastruktur- und Kulturleistungen
die Versorgung mit Poststellen oder Krankenhäusern?
des Staates im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Nahezu je-
Was tun Staat und Gemeinden gegenwärtig noch für
des Dorf, manchmal sogar der größere Weiler, hatte seine
die »öffentliche Grundversorgung« auf dem Land?
eigene Poststelle. In größeren Dörfern entstanden oft mar-
Manches ist schlechter geworden oder verschwunden.
kante Postgebäude im Stil der Gründerzeit oder des Jugend-
Viele Wege sind nun länger geworden, z. B. zu Kliniken
stils. Der gesamte ländliche Raum hat der dichten postali-
oder Amtsgerichten. Doch es sind auch gewaltige
schen Versorgung wesentliche wirtschaftliche und kultu-
Fortschritte in den Dörfern festzustellen: so die mo-
relle Impulse zu verdanken. Der Blick in die Gegenwart und
dernen Feuerwehren oder die vielfältigen Sport- und
Zukunft ist weniger rosig. Die Deutsche Post baut seit etwa
Freizeiteinrichtungen.
40 Jahren ihr sorgsam aufgebautes staatliches Versorgungsnetz ab und zieht sich mehr und mehr aus der sog. »Flä-
Das Dorf lebt nicht nur von der Wasser- und Energiever-
che« zurück. Die große Masse der deutschen Dörfer hat in-
sorgung und den Verkehrsanbindungen, also der zuvor be-
zwischen keine eigene Poststelle mehr. Eine Angebotsvari-
schriebenen technischen Infrastruktur. Seine Lebensquali-
ante sind die »Postagenturen«, die nach Auflösung der alten
tät hängt wesentlich ab von weiteren wichtigen Einrich-
Poststellen in den größeren Dörfern eingerichtet wurden.
tungen der »öffentlichen« und »privaten« Grundversor-
Hierbei handelt es sich um kleine Dienstleistungsboxen der
gung. Die öffentliche Infrastruktur wird in der Regel vom
Post, die in Läden, Tankstellen oder Gasthöfen von deren
Staat vorgehalten und geregelt, während die private Grund-
Inhabern im Nebenerwerb betrieben werden. Der Rück-
versorgung – wie Gasthöfe und Läden – kommerziell be-
zugstrend der Post hat sich in den letzten Jahren dadurch
trieben wird. Zu den traditionellen Angeboten der öffent-
verschärft, dass zahlreichen kleineren und mittelgroßen
lichen Grundversorgung in den Dörfern gehören: Post,
Dörfern selbst die Einrichtung einer Postagentur verwei-
Polizei, Feuerwehr, Gemeindeverwaltung, Schule, Kinder-
gert wird. Der Trend von eigenen Postämtern der staatli-
garten,
Volkshochschule,
Kirche,
Krankenversorgung,
Sparkassen und Genossenschaftsbanken sowie diverse Sport- und Freizeiteinrichtungen und Kulturangebote.
102
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Kein Dorf ohne Feuerwehr! Selbst kleine Dörfer wie Bärweiler können auf die Aktiven der Freiwilligen Feuerwehr bauen.
chen Post zu Postagenturen ist auch in Nachbarländern wie in Skandinavien oder England zu beobachten. Die österreichische Post plant gerade die Schließung von 400 Poststellen im Land, nun denkt die dortige Kirche darüber nach, diese Postdienste in ihren Pfarrämtern zu übernehmen.84 Polizei und Schützenvereine erfüllten elementare Schutzaufgaben für das Dorf und sind dort seit dem Mittelalter tätig. Sie wurden zunächst von der Dorfgemeinschaft selbst bzw. der jeweiligen Grundherrschaft getragen und organisiert. Das Dorf schützte sich vor Dieben, Verbrechern und Bettlern durch Zäune (die sog. »Etter«), Hecken und Dorftore. Zusätzlich gab es dorfeigene Kräfte wie bewaffnete Nachtwachen und Schützenvereine, die meist mit den Gerichten der unteren Gerichtsbarkeit zusammenarbeiteten. Um den Schutz des Dorfes sicherzustellen, gab es strenge Regeln, die oft in Dorfordnungen gefasst waren: Zum Beispiel musste jeder Schütze sein Gewehr stets in gepflegtem Zustand halten und eine bestimmte Menge Pulver und Blei vorrätig – und natürlich trocken – haben. Die Polizei wurde dann mit dem Aufkommen des modernen Staates im frühen 19. Jahrhundert als staatliche Behörde eingerichtet und löste somit die alten Selbsthilfeeinrichtungen des Dorfes ab. Jede deutsche Gemeinde, d. h. im Prinzip auch jedes Dorf, bekam seinen eigenen Gendarmen bzw. Polizeiposten. Diese Präsenz blieb bis in die 1970er Jahre bestehen. Im Rahmen einer Konzentration der Polizeibehörden wurden die dörflichen Polizeiposten dann abgeschafft und
Ein Dorfpolizist – um 1930 – ist gerade im Einsatz gegen einen Gaukler, dessen Äffchen getanzt hat.
durch mobile Einsatzkräfte der Kreispolizei abgelöst. Das Gerichtswesen auf dem Land war bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts an die Grundherrschaft geknüpft (daher
Infrastrukturentwicklung in mittelgroßen Dörfern von 1950 bis heute
auch der Name »Patrimonialgericht«): Der meist adlige
Verluste
Gewinne
Grundherr hatte einen Richter zu bestellen und zu unter-
• Volksschule, Hauptschule, z. T. auch Grundschule • Gemeindeverwaltung, Bürgermeisteramt • Post • Polizeiposten • Bahnanschluss, Bahnstation • Krankenhaus, Hebamme, Arzt • Handwerksbetriebe, vor allem Schuhmacher, Schneider, Schmied, Stellmacher, Bäcker, Sägewerk • Gasthöfe • Dorfläden, vor allem für Lebensmittel, aber z. T. auch für Haushaltswaren, Textilien, Schuhe • Bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft • Geldinstitute
• Wasserver- und Abwasserentsorgung
halten und auch für entsprechende Räume wie Richterstube und Verliese zu sorgen. Im 19. Jahrhundert wurden die ländlichen Patrimonialgerichte in staatliche Amtsgerichte überführt. Diese bestanden zumeist bis in die 1970er Jahre und wurden erst dann durch die damals um sich greifenden »zentralörtlichen Reformen« aus den großen Dörfern und Kleinstädten in die Mittel- und Großstädte verlagert. Wer sich ein gut erhaltenes ländliches Patrimonialgericht mit Richterstube und Kerkerzellen anschauen möchte, kann z. B. das restaurierte und als Museum eingerichtete Alte Gericht von 1736 im westfälischen Fürstenberg besuchen. Die Feuerwehr ist die traditionsreichste und bis heute
• Energieversorgung • Sport- und Freizeiteinrichtungen, z. B. Sport- und Spielplätze, Sporthalle, Tennisplätze, Sportheime • Kultureinrichtungen, z. B. Dorfgemeinschaftshaus, Kulturhaus, Begegnungsstätte, Pfarrheim, Heimatstube, Bücherei, Feste und Brauchtumspflege • Handwerksbetriebe, vor allem Holzverarbeitung, Bau-, Kfz- und Elektrohandwerk • Private Dienstleistungen, z. B. Versicherungen, Steuerberatung, Architektur, Unternehmensberatung, Soft- und Hardwareentwicklung, Bus- und Taxiunternehmen, Kosmetikstudio, Fußpflege
Wirtschaft und Versorgung
103
aktive und unverzichtbare Schutz- und Hilfseinrichtung
nachgerückt sind. Das jetzige Feuerwehrhaus entstand
des Dorfes. Ihre Aufgabenschwerpunkte haben sich aller-
1982/83 und wurde überwiegend in Eigenleistung erstellt.
dings verändert und sind vielfältiger geworden. Die Brand-
Seit 1992 gibt es in Bärweiler einen Förderverein der Frei-
bekämpfung spielte in den früheren Jahrhunderten die
willigen Feuerwehr, der die Arbeit der ehrenamtlichen Ak-
Hauptrolle, als die meisten Dorfgebäude noch aus den leicht
tiven unterstützt. Dieser Förderverein hat heute 133 Mit-
brennbaren Materialien Holz, Stroh und Lehm bestanden.
glieder – das sind 50 % der Einwohnerschaft des Dorfes! Die
Heute stehen andere Aufgaben im Vordergrund: Verkehrs-
Einsätze der Feuerwehr erfolgen schwerpunktmäßig bei
unfälle, Überschwemmungen, Brände und Unfälle in Ge-
Sturmschäden und Überflutungen, bei Bränden und Un-
werbebetrieben, Rettungseinsätze aller Art, Beseitigung
fällen sowie zur Verkehrsregelung bei Großveranstaltun-
von Umweltschäden, Brandvorsorge. Die Feuerwehren auf
gen. An die letzten großen Brände im Dorf kann man sich
dem Land sind nach wie vor ehrenamtlich organisiert und
gut erinnern, obwohl sie schon einige Jahre zurückliegen.
tätig – daher die übliche Bezeichnung »Freiwillige Feuer-
Sie sind Teil der Dorfgeschichte. Über die Rolle der Frei-
wehr«. Die öffentliche Hand unterstützt diese gemeinnüt-
willigen Feuerwehr sagt Bürgermeister Hans Gehm: »Die
zige Arbeit mit der Bereitstellung von Feuerwehrhäusern
Feuerwehr trägt wesentlich zur Lebensqualität in unse-
sowie modernsten Fahrzeugen und Geräten. Jedes noch so
rem Dorf bei. Sie bietet Schutz und gibt Sicherheit durch
kleine Dorf in Deutschland hat in der Regel »seine« Freiwil-
ihre gute Ausrüstung und ihren hohen Ausbildungsstand,
lige Feuerwehr. Die Mitgliedschaft ist für die meisten im-
der in regelmäßigen Übungen erprobt wird. So war es uns
mer noch eine Ehrensache.
wichtig, im Jahr 2009 ein wasserführendes Einsatzfahrzeug
Die 252 Einwohner zählende Dorfgemeinde Bärweiler in
zu beschaffen, was eigentlich für kleine Gemeinden unse-
Rheinland-Pfalz ist stolz auf ihre Freiwillige Feuerwehr.
rer Größenordnung nicht vorgesehen ist. Nur durch einen
Diese besteht derzeit aus 14 Aktiven, darunter sind drei
erheblichen Zuschuss unseres Feuerwehr-Fördervereins
junge Frauen, die vor zwei Jahren aus der Jugendfeuerwehr
war diese Anschaffung für uns möglich.«85 Die Einrichtung einer modernen Krankenversorgung und -pflege begann auf dem Land erst im 19. Jahrhundert. In Kleinstädten und größeren Dörfern wurden um 1850 die ersten Krankenhäuser errichtet, Träger waren meist kirchliche Frauenorden. Die meisten dieser ländlichen Krankenhäuser sind in den 1960er und 1970er Jahren geschlossen worden zugunsten wachsender und modernisierter Kliniken in den Mittel- und Oberzentren. Viele ehemalige Krankenhausbauten auf dem Land haben eine sinnvolle Nachfolgenutzung als Altenpflegeheime gefunden. Ein Fortschritt der letzten Jahrzehnte ist der Aufbau eines flächendeckenden, dezentralen Krankentransportwesens. Dies hat wesentlich zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten beigetragen. Praktische Ärzte bzw. Allgemeinärzte sind heute in der Regel in größeren Dörfern ab 1500 bis 2000 Einwohnern vertreten. Gleiches gilt inzwischen auch für Zahnärzte und Apotheken. Die früher sehr dominante Position des »Landarztes« oder »Doktors« innerhalb des Dorfes ist durch die Mobilität der Bevölkerung und die Möglichkeiten der freien Arztwahl stark gemindert worden. Der seit vielen Jahren in Deutschland bestehende und wachsende Ärztemangel macht sich inzwi-
Die Post ist auf dem Land nur noch in größeren Dörfern präsent: wie hier als Postagentur in einem Laden.
104
Das moderne Dorf
schen auch auf dem Land bemerkbar. Vor allem in dünn besiedelten Gebieten der östlichen und nördlichen Bundesländer stehen viele Hausarztpraxen leer. Seit etwa 10 Jahren versuchen diverse Bundes- und Länderministerien die »Landarztquote« zu verbessern und Anreize für Medizinstudenten zu schaffen, später als Landarst zu arbeiten. Wer verspricht, nach dem Examen aufs Land zu gehen, soll schneller einen Studienplatz bekommen. In Sachsen können Medizinstudenten bereits jetzt eine monatliche Unterstützung bekommen, wenn sie sich verpflichten, später als Hausarzt in unterversorgten Landgemeinden zu arbeiten. Mit einem neuen »Versorgungsgesetz« will die Bundesregierung ab 2012 Anreize setzen, um Ärzte aufs Land zu locken.86 Zu den bedeutenden öffentlich-rechtlichen Dienstleistern auf dem Land zählen heute die Sparkassen und Genossenschaftsbanken (Raiffeisenbanken, Spar- und Darlehnskassen, Volksbanken). Ihre Tradition reicht bis ins
Das Gerichtswesen war früher an den Grundherrn geknüpft und daher in vielen großen Dörfern und Kleinstädten »verortet«. Das Patrimonialgericht von 1736 in Fürstenberg/Westfalen bietet als Museum mit Richterstube und Zellentrakt einen guten Blick in die alte Zeit.
19. Jahrhundert zurück. Die Sparkassen sind dem Gemeinwohl verpflichtete kommunale Einrichtungen. Die Genossenschaftsbanken waren ursprünglich Selbsthilfeorganisationen, die aus dem landwirtschaftlichen und gewerblichen Genossenschaftswesen hervorgegangen sind. Sie haben sich zu allgemein zugänglichen »Volks«banken entwickelt. Generell konnten die Sparkassen und Genossenschaftsbanken ihr Standortnetz in Dörfern seit 1950 ausweiten. In jüngster Zeit sind allerdings Sparkassen- und Volksbankschließungen in vielen Dörfern zu beobachten. Die Wandlungen von einer Arbeits- zur Freizeitgesellschaft zeigen im ländlichen Raum Wirkung. So gibt es immer mehr Einrichtungen und Aktivitäten für Sport und Freizeit. Zur kommunalen Ausstattung zählen heute ein bis zwei Sportplätze, die in der Regel in Dörfern ab 500 Einwohnern anzutreffen sind. Gleiches gilt für öffentliche
Volksbanken und Sparkassen zeigen (noch) in den Dörfern Präsenz, hier in einem ehemaligen Bauernhaus in Bendingbostel bei Kirchlinteln im Landkreis Verden (Aller).
Spielplätze, die z. T. mit aufwendigen Schaukel- und Klettergerüsten sowie Turn- und Trimmgeräten ausgestattet
Die meisten Sportangebote auf dem Land werden von
sind. Sporthallen haben eine geringere Verbreitung (meist
den Vereinen mit ehrenamtlicher Arbeit vorgehalten und
in Dörfern ab etwa 1000 Einwohnern) und sind oft an eine
betrieben. Die öffentliche Hand unterstützt diese Vereins-
lokale Schule gekoppelt. Frei- und Hallenbäder sind in der
arbeit oft durch Sachzuwendungen, z. B. im Sportplatz- und
Regel in den Grundzentren angesiedelt. Des Weiteren sind
Hallenbau. Bezüglich seiner Sport- und Freizeiteinrichtun-
in den zurückliegenden 40 Jahren spezielle Sportanlagen
gen und -angebote hat der ländliche Raum in den zurück-
wie Tennis- und Golfplätze, Tennis- und Squashhallen,
liegenden Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung er-
Reit- und Schießsportanlagen boomartig aufs Land vorge-
fahren (was vielen Städtern nicht bewusst ist). Dies ist so-
rückt. So dürften heute z. B. in den meisten Dörfern ab etwa
wohl den Anstrengungen der Kommunen als auch der
1500 Einwohnern Tennisplätze bestehen.
vielfältigen Dorfvereine zu verdanken.
Wirtschaft und Versorgung
105
Der Kampf um den letzten Dorfladen Probleme der privaten Grundversorgung
Wer an Dörfer denkt, hat als erstes den gemütlichen
1000 Einwohnern, die bereits häufig ohne die eigene Schule
Dorfgasthof vor Augen, möglichst noch in der baye-
oder den eigenen Pfarrer auskommen müssen, die bange
rischen Ausführung mit Biergarten. Doch diese Idylle
Frage: Wann wird der nächste oder gar letzte Gasthof oder
ist in Gefahr, sie ist aus manchen deutschen Dörfern
Dorfladen schließen?
bereits ganz verschwunden. Wie der kleine Tante-
Einzelhandelsgeschäfte mit Lebensmitteln waren ein
Emma-Laden, der alles hatte und bei dem man auch
traditioneller und wesentlicher Bestandteil der dörflichen
noch gut beraten wurde. Aber zahlreiche Dörfer
Grundversorgung, oft kombiniert mit einer Bäckerei so-
kämpfen inzwischen erfolgreich um ihren letzten Dorf-
wie einem bedarfsgerechten Sortiment an Haushaltswaren
gasthof oder Dorfladen, wie die Beispiele Ollarzried
(Teller, Töpfe, Besteck u. ä.). Neben Kirche, Schule, Bürger-
in Bayern und Barmen in Nordrhein-Westfalen zeigen.
meister und Gasthof galt das »Geschäft« geradezu als klassische Institution des Dorfes. Hier konnte man in fußläufi-
Gasthof und Laden sind eigentlich für das Dorf so selbst-
ger Entfernung einkaufen, notfalls auch nach Ladenschluss.
verständlich wie das »Amen in der Kirche«. Sie sind wich-
Man konnte »anschreiben« lassen, Waren vorbestellen, zu-
tige Pfeiler der privaten Grundversorgung, die wesentlich
rücklegen oder auch bringen lassen. Der kleine Dorfladen
auch zum Wohlbefinden eines Dorfes beitragen. Damit
war und ist aber mehr als nur eine Versorgungseinrichtung:
wird deutlich, dass zur Lebensqualität des Dorfes nicht al-
Er ist zugleich sozialer Treffpunkt und Umschlagplatz für
lein die öffentliche Hand, sondern auch die »private« Wirt-
lokale Nachrichten, der wesentlich zur dörflichen Lebens-
schaft beiträgt. Dazu gehören z. B. Geschäfte aller Art, gas-
qualität beiträgt. Gerade für wenig mobile Gruppen wie
tronomische Betriebe, Arztpraxen, Versicherungsbüros,
Frauen mit kleinen Kindern oder ältere Menschen bot und
Architekten und Rechtsanwälte. Sie spielen für das Alltags-
bietet der Laden ein quasi natürliches Forum für Kontakte,
leben der Dorfbevölkerung eine wichtige Rolle. Die An-
Gespräche und Verabredungen.
gebote solcher Einrichtungen folgen jedoch auch auf dem
Die Anzahl der dörflichen Lebensmittelläden hat sich in
Land den Gesetzen des Marktes und werden von der öffent-
den zurückliegenden Jahrzehnten mehr als halbiert. Den
lichen Hand nur indirekt beeinflusst. Daher sind sie heute besonders vom »Aussterben« bedroht. Beispielsweise stellt sich heute für viele mittelgroße Dörfer von etwa 500 bis
106
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Abmontierte Ladenschilder stehen symbolträchtig für den Verlust der Dorfläden wie hier in Walle, Landkreis Celle.
Läden droht meist die Schließung, wenn die Besitzer aus
mindest in den größeren Dörfern eine beachtliche Palette
Altersgründen aufhören und die nachfolgende Generation
an sonstigen Einzelhandelsgeschäften. Zu nennen sind
nicht weitermachen will. Doch die Ursachen der Laden-
hier vor allem Textil-, Haushaltswaren-, Elektro-, Schreib-
schließungen sind vielfältig. Die Marktmacht der Super-
waren- und Schuhgeschäfte. Obwohl in diesen Branchen
märkte am Rande der Städte hat die Existenzchancen der
ebenfalls starke Schrumpfungsprozesse abgelaufen sind,
kleinen Dorfgeschäfte vermindert. Aber auch das Kaufver-
gibt es auch Betriebe, die expandieren. Gerade der gute Ser-
halten der Dorfbewohner wie Wochenendeinkäufe, steigen-
vice vieler ländlicher Handwerksbetriebe hat dazu geführt,
des Preisbewusstsein und nachlassende Kundentreue haben
dass in manchen Dörfern Geschäfte im Elektro-, Sanitär-,
zur Vernachlässigung des lokalen Ladens geführt. Die noch
Landmaschinen-, Garten- oder Haushaltswarenbereich an-
bestehenden Lebensmittelgeschäfte in den Dörfern haben
zutreffen sind, deren Kundenkreise weit über den lokalen
häufig ihre Verkaufsflächen erweitert und das Sortiment
Rahmen hinausgehen und häufig in benachbarte Städte hi-
vergrößert. Oft sind bereits auch die überregionalen Ket-
neinreichen.
ten in den größeren Dörfern angesiedelt. In manchen länd-
Gasthöfe, Wirtshäuser, Kneipen, Schenken, Dorfkrüge
lichen Regionen, wie im hessischen Vogelsbergkreis, wer-
o. ä. spielen im dörflichen Gemeinschaftsleben von alters
den die »ladenlosen« Dörfer von mobilen Dorfläden mit
her eine wichtige Rolle. Oft verfügen die Gaststätten zusätz-
frischen Lebensmitteln versorgt. Die Kaufleute fahren re-
lich über einen Veranstaltungssaal, der von den Vereinen
gelmäßig zu ihren dörflichen Kunden und versorgen diese
oder auch für Familienfeiern genutzt wird. Der Dorfgast-
in ähnlicherWeise wie die früheren Tante-Emma-Läden.
hof ist traditionell ein Treffpunkt für jung und alt, für alle
Neben dem üblichen Lebensmittelladen existierte zu-
Sozialschichten und Berufsstände des Dorfes. Hier werden
In größeren Dörfern gab es in den 50er Jahren neben den Lebensmittelläden noch diverse Spezialgeschäfte für Haushaltswaren, Schreibwaren oder Schuhe. Hier ein Textilgeschäft im schwäbischen Dorf Hildrizhausen um 1950.
Wirtschaft und Versorgung
107
spitzung meist dann, wenn z. B. der letzte Dorfladen oder Gasthof vor der Schließung steht. Der drohende Totalverlust hat in vielen Dörfern Deutschlands zu bemerkenswerten, konkreten Reaktionen geführt. Mit Aufrufen wie »Rettet den letzten Laden!« oder »Wir erhalten den letzten Gasthof!« kam es vielerorts zu erfolgreichen Rettungsaktivitäten. So wurde in zahlreichen Dörfern der letzte Dorfladen von einem privaten Trägerverein, einer Bürgergenossenschaft oder Dorfstiftung übernommen und weitergeführt. Aufgegebene Wirtshäuser sind in die Trägerschaft von Dorfvereinen oder sogar von Kommunen übergegangen und als dörfliche Treffpunkte wiederbelebt worden. Manche Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg haben einschlägige Förderprogramme zur baulichen Sanierung, Modernisierung und Erweiterung der gefährdeten einzigen oder letzten Gasthöfe in Dörfern aufgelegt. Ein Dorf ohne Tante-Emma-Laden war noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar. Hier gab es vor allem Lebensmittel, aber auch Schreibwaren, Kochtöpfe, Nähzeug und im Winter Schlitten. Und kostenlos den freundlichen Kaufmann!
Als besonders nachhaltig und erfolgreich hat sich das seit 1999 in Schleswig-Holstein bestehende Konzept »MarktTreff« erwiesen, das Nahversorgung, öffentliche Dienstleistungen und Bürgertreffpunkt zusammenbringt und damit
Hochzeiten, Geburtstage, Jubiläen und Beerdigungen ge-
die dörfliche Mitte wiederbeleben will. Die Landesregie-
feiert, der sonntägliche Frühschoppen oder die abendliche
rung fördert diese Dienstleistungszentren in kleinen Ge-
Skatrunde abgehalten. Ursprünglich war der Wirtshausbe-
meinden zwischen 700 und 1900 Einwohnern mit fehlen-
such auf dem Land der männlichen Bevölkerung vorbehal-
der oder gefährdeter Grundversorgung. Die MarktTreffs
ten. Doch im Zuge der allgemeinen Liberalisierung der Rol-
bestehen in der Regel im Kern aus einem Lebensmittelge-
lenzuordnungen werden die Dorfgasthäuser inzwischen
schäft, das privat betrieben wird. Dazu kommen öffentliche
gleichberechtigt von Frauen geschätzt und besucht. Gerade in kleinen Dörfern ist die Gaststätte oft der ein-
und private Dienstleistungen wie Gemeindebüro, Postagentur, Bankservice, Versicherungen oder Gesundheitsdienste.
zige gesellschaftliche Mittelpunkt. Dies ist vielfach erst durch die Verlusterfahrung deutlich geworden, nachdem zahllose alte Dorfgasthäuser, die früher in der Regel im Nebenerwerb betrieben worden waren, aufgegeben wurden. Es zeigte sich, dass in Dörfern ohne Gaststätte das Vereinsleben und das kommunalpolitische Engagement erlahmte. Gründe für die Gasthofschließungen auf dem Land waren und sind Arbeitsüberlastungen der Betreiber, steigende Personalkosten und anstehender hoher Renovierungsaufwand. Nur vereinzelt gelang es dörflichen Gasthöfen (vor allem in Tourismusgebieten), sich durch attraktive gastronomische Erweiterungen wie Restaurantbetrieb, Festsäle, Hotelbetrieb oder Kegelbahnen eine breitere ökonomische Basis zu schaffen. Generell halten die Verluste an privater Infrastruktur in den Dörfern weiter an. Sie erfahren ihre dramatische ZuIm »Markttreff« Witzwort werden Laden, öffentliche Dienstleistungen und Bürgertreffpunkt kombiniert und so die dörfliche Mitte neu belebt.
108
Das moderne Dorf
Eine Aktiengesellschaft brachte neues Leben in das Dorfwirtshaus in Feldwies am Chiemsee.
Die dritte Säule sind Treffpunkte für Kurse, Klönabende
IN besteht in Baden-Württemberg seit 1999, ausgehend von
oder Fortbildungen, die ehrenamtlich getragen werden.
der Gemeinde Sternenfels. Auch hierbei handelt es sich um
Bisher existieren MarktTreffs bereits in 25 Gemeinden, und
ein dörfliches Dienstleistungszentrum, das öffentliche, ge-
es sollen noch weitere hinzukommen. Nicht nur die Bür-
werbliche und ehrenamtliche Dienste unter einem Dach
ger sind zufrieden, auch die betreffenden Bürgermeister
bündelt, wobei die Kommune die Trägerschaft übernimmt.
sind voll des Lobes und stolz auf ihre MarktTreffs. So der
Eine private Initiative, die ohne staatlich-kommunale
Bürgermeister Jörg Smolla der Gemeinde Koberg: »Die Ge-
Hilfe auskommt, ist das DORV-Zentrum im 1400 Einwoh-
meinde hat einen regelrechten Sprung nach vorn gemacht.
ner zählenden Dorf Barmen, das zur Stadt Jülich in Nord-
Einkaufen im Ort und sich dabei treffen ist wieder selbst-
rhein-Westfalen gehört. Das »Zentrum für Dienstleistung
verständlich. Dazu kommen ein Mittagstisch, der besonders
und Ortsnahe Rundum Versorgung« wurde im Jahr 2004
von Schülern und ›Kochfaulen‹ genutzt wird, und ein ab-
nach dreijähriger Vorbereitung eröffnet. Es wird geführt
wechslungsreiches Kultur- und Veranstaltungsangebot mit
von einem privaten Trägerverein, seine Finanzierung er-
Livemusik, Kunstausstellungen, Theater- und Spieleaben-
folgte durch Bürgeraktien für je 250 Euro und Privatkre-
den für alle Generationen. Gerade sind wir beim landes-
dite. Im Mittelpunkt steht ein Dorfladen, der sein Ange-
weiten Wettbewerb ›Unser Dorf hat Zukunft‹ die Nummer
bot passgenau an den Bedürfnissen der Bevölkerung aus-
zwei geworden.«
87�
Eine vergleichbare Initiative mit dem Namen KOMM-
richtet und bewusst auch regionale Anbieter einbindet. Des Weiteren werden im Barmener DORV -Zentrum öf-
Wirtschaft und Versorgung
109
Vereine die Bürgerinnen und Bürger zu einer Diskussion über die weitere Zukunft des dörflichen Gemeinschaftslebens ein. Ergebnis: Gründung des Vereins »Ollarzried aktiv e. V.«, ein Dachverein für das Gemeinschafts- und Vereinsleben im Dorf. Bereits am Gründungstag traten 160 Ollarzrieder bei. Heute umfasst er 190 Mitglieder, jeder Haushalt ist mit mindestens einer Person vertreten. Bei der Gründung war es das wichtigste Anliegen, ein Gasthaus mit Räumen für die Vereine zu schaffen. Das zentral im Ort stehende ehemalige Bank- und Lagerhaus der örtlichen Waldgenossenschaft war ungenutzt und bot sich förmlich für das gewünschte neue Gast- und Vereinshaus an. Auf der Basis eines langfristigen Mietvertrags zwischen Waldgenossenschaft und »Ollarzried aktiv e. V.« konnte es losgehen. Alle packten an – über 4000 freiwillige und ehrenamtliche Arbeitstunden wurden geleistet. Auch ein großer Teil der Finanzierung konnte durch private Geld- und Sachspenden aufgebracht werden. Von der staatlichen DorferneuerungsIm Dorfladen von Pinnow bei Angermünde in der Uckermark nimmt man sich die Zeit für einen Plausch, was vor allem die älteren Dorfbewohner sehr schätzen.
förderung und der Gemeinde Ottobeuren kamen insgesamt Zuschüsse in Höhe von 80 000 Euro. Bereits nach einer Umbauzeit von sechs Monaten feierten die Ollarzrieder die Einweihung ihres selbst umgebauten Dorfzentrums. Das neue
fentliche, soziale und private Dienstleistungen angeboten
»Gasthaus zum Hoigata« wird von einem Pächter betrieben,
wie z. B. Kfz-Zulassung, Sparkassenservice, AWO -Beratung
der gemeinschaftliche Saal steht Vereinen, Jugendlichen
und ein DORV -Arzt. Die Initiatoren des Barmener Dorfla-
und Einzelpersonen zur Verfügung. Seit mehr als fünf Jah-
dens, Heinz Frey und Jürgen Spelthann, sind derzeit in vie-
ren hat sich das Gasthaus als Mittelpunkt des Dorflebens
len Regionen Deutschlands unterwegs, um ihre Konzepte
bewährt, die Initiative von 2002 hat den Zusammenhalt
und Strategien in Dörfern vorzustellen, die ihren verlore-
und das Selbstbewusstsein des Dorfes gesteigert. Der Dach-
nen Laden wiederhaben möchten.
verein »Ollarzried aktiv e. V.« hat inzwischen weitere Pro-
Ein positives Beispiel für die Erhaltung des letzten Gasthauses ist das Dorf Ollarzried im schwäbischen Bayern.
88
jekte durchgeführt wie die Neugestaltung des Dorfangers und die Renovierung der alten Dorfschule.
2002 war der absolute Tiefpunkt für den 340 Einwohner
Im nordwestfälischen Dorf Brochterbeck ging 2009 die
zählenden Ort: Das Dorfgasthaus mit Saal brannte nieder –
Traditionsgaststätte »Franz« in die Insolvenz und stand län-
der Eigentümer wollte die Gaststätte nicht wieder aufbauen.
gere Zeit leer. Auch hier konnten sich engagierte Dorfbe-
Bereits in den Jahren zuvor – etwa ab 1960 – waren viele an-
wohner nicht mit dem Verlust abfinden und gründeten die
dere dörfliche Einrichtungen, Geschäfte und Betriebe ver-
Genossenschaft »Historische Gaststätte Franz«. Unterstüt-
loren gegangen. Und nun das Zentrum für das aktive Ol-
zung fanden sie dabei auch vom Rheinisch-Westfälischen
larzrieder Gemeinschafts- und Vereinsleben! Der drohende
Genossenschaftsverband. Innerhalb weniger Wochen kauf-
Verlust führte zu einer außergewöhnlichen Initiative. Im
ten 350 Bürger aus Brochterbeck 883 Anteile, wodurch
Oktober 2002 luden die Vorsitzenden der 14 Ollarzrieder
mehr als 200 000 Euro zusammenkamen. Die anfallenden Sanierungskosten sanken durch viele freiwillige Helfer, so dass schon Rücklagen für zukünftige Reparaturen gebildet werden konnten. Im Mai 2013 konnte der historische Gasthof wieder eröffnet werden.
110
Das moderne Dorf
»Einer für alle – alle für einen!« Dörfliche Genossenschaften
Genossenschaften gehörten zu jedem mittelgroßen
schaften, denen man durch seinen Besitz oder Wohnort an-
Dorf wie die Kirche oder Schule. Hier kauften die
gehörte. So wurde insbesondere das allen Dorfbewohnern
Bauern Futter-, Düngemittel und Saatgut oder lieferten
zustehende Weideland (Allmende, Brachen und Wald) ge-
ihre Getreideernte ab. Im Angebot gab es aber auch
meinschaftlich und nach festen Regeln genutzt, die Ge-
Hühnerfutter und Grassamen oder Kleingeräte und
meinschaftsherden von dorfeigenen Hirten betreut. Ähnli-
Gummistiefel für den Land- und Gartenbau. Inzwischen
ches galt für die in Parzellen aufgeteilte Feldflur: Deren Be-
sind die meisten dieser klassischen Bezugs- und
wirtschaftung war ebenfalls fest geregelt (es gab noch keine
Absatzgenossenschaften aus den Dörfern verschwun-
Feldwege), was in Begriffen wie »Flurzwang« oder »Feld-
den, andere wie die Volksbanken haben Bestand.
aufseher« zum Ausdruck kommt. Weitere Zwangsgenos-
Und neue Genossenschaften mit höchst unterschied-
senschaften waren Wald- und Jagdgenossenschaften. Letz-
lichen dörflichen Zielen werden gegründet!
tere haben bis heute Bestand und regeln die Bedingungen der Jagd zwischen den Grundeigentümern und Jagdpäch-
Genossenschaften sind typisch ländliche Einrichtungen
tern auf der gesamten Flurfläche. Die meisten Zwangsge-
der wirtschaftlichen Selbsthilfe. Sie reichen weit in die
nossenschaften haben allerdings mit den Agrarreformen
Dorfgeschichte zurück. Vom alt- und mittelhochdeutschen
des 19. Jahrhunderts, mit der Überführung der Gemein-
Wortsinn her heißt Genosse: »der seinen Besitz mit ande-
rechte in Privatrechte, ihre Basis verloren.
ren gemeinsam hat« und der einen »Nutzen davon« hat, was
Das moderne, auf Freiwilligkeit basierende Genossen-
noch in unserem Wort »genießen« steckt.89 Genossenschaf-
schaftswesen entwickelte sich ab der Mitte des 19. Jahrhun-
ten sind also Zusammenschlüsse mehrerer Personen zu ei-
derts – wir unterscheiden Waren-, Kredit- und Betriebs-
nem gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb, wobei für den
genossenschaften. Sie hatten die Wirtschaftsförderung der
Einzelnen Vorteile entstehen. Jeder Genosse bringt in die
Einzelmitglieder zum Ziel und arbeiteten in lokaler Selbst-
Gemeinschaft etwas ein: in der Regel Land, Geld oder seine
verantwortung und nach dem Kostendeckungsprinzip. Ge-
Arbeitskraft. Man unterscheidet Zwangsgenossenschaften
nerell sollten die Genossenschaften den Bauern, die durch
und freiwillige Zusammenschlüsse. Die älteren, bis ins Mittelalter reichenden ländlichen Genossenschaften waren überwiegend Zwangsgenossen-
Abbildung oben: Im genossenschaftlichen Dorfladen von Harthausen in Bayern sind die Verkäuferinnen trotz sechs Euro Stundenlohn freundlich.
Wirtschaft und Versorgung
111
die Agrarreformen juristisch und ökonomisch frei gewor-
Molkereigenossenschaften, 2909 Bezugs- und Absatzgenos-
den waren, dabei helfen, ihren Start in die Markt- und Ka-
senschaften, 1123 Elektrizitätsgenossenschaften, 287 Vieh-
pitalwirtschaft zu bestehen. Als Begründer der bäuerlichen
verwertungsgenossenschaften, 206 Winzergenossenschaf-
Genossenschaftsbewegung gilt Friedrich Wilhelm Raiff-
ten, 152 Eierverkaufsgenossenschaften und 2732 sonstige
eisen (1818–1888). Sein Grundsatz entsprach der christli-
Genossenschaften.91 1930 existierten im Deutschen Reich
chen Nächstenliebe und lautete »Einer für alle – alle für ei-
etwa 40 000 ländliche Genossenschaften. Das heißt, zu-
nen« , was nicht nur ökonomische Vorteile, sondern auch
mindest jedes mittelgroße deutsche Dorf hatte eine eigene
Gemeinsinn hervorbrachte. Die Genossenschaften waren
Spar- und Darlehenskasse und eine Warengenossenschaft,
nach Raiffeisen ein Mittel zur Steigerung des Wohlstandes
die man meist nur »die Genossenschaft« nannte.
90
und der geistig-sittlichen Kultur der Landbevölkerung. Als
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr das Genossen-
Pionier neben Raiffeisen ist Hermann Schulze-Delitzsch
schaftswesen in Deutschland zunächst eine höchst unter-
(1808–1883) zu nennen, der als Begründer des handwerk-
schiedliche Entwicklung. In der DDR wurden die bestehen-
lich-gewerblichen Genossenschaftswesens gilt. Dies war
den Genossenschaften auf freiwilliger Basis bald aufgelöst,
wichtig, weil sich das Landgewerbe ebenso wie die Land-
die Bauern ab 1952 in die unfreiwilligen landwirtschaft-
wirtschaft im späten 19. Jahrhundert kräftig entwickelte
lichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) genötigt. In
und zum Aufschwung des Dorfes beitrug.
Westdeutschland erlebten die Kredit- und Warengenossen-
Die Genossenschaftsgründungen in der zweiten Hälfte
schaften zunächst einen Aufschwung. Die Spar- und Dar-
des 19. Jahrhunderts hatten sehr unterschiedliche Schwer-
lehenskassen blühten in der Wirtschaftswunder-Phase der
punkte. Vor allem in der Anfangsphase hatten die Genossen-
1950er und 1960er Jahre auf und entwickelten sich zu mo-
schaften die Aufgabe, Bauern und Handwerker mit güns-
dernen Banken. Auch die ländlichen Bezugs- und Absatz-
tigen Krediten zu versorgen und vor Ausbeutung durch
genossenschaften entwickelten sich positiv und errichteten
Zinswucherei zu schützen. Die Warengenossenschaften
bald neue und größere Gebäude sowie erweiterten nach
dienten einerseits dem Bezug von Betriebsmitteln wie Saat-
und nach ihre Aufgabenfelder. Neben dem Bezug von
gut, Dünger, Pflanzenschutzmittel und Maschinen, ande-
Betriebsmitteln und dem Absatz landwirtschaftlicher Pro-
rerseits dem Absatz landwirtschaftlicher Produkte wie Ge-
dukte hatte »die Bäuerliche«, wie die lokale Genossen-
treide, Raps oder auch Vieh. Dazu kamen Betriebsgenos-
schaft im Volksmund oft hieß, vielerorts auch Brennstoffe
senschaften wie Molkerei- oder Winzergenossenschaften.
wie Kohlen, Heizöl und Diesel im Angebot. Später kamen
Die Ideen und Pioniergründungen von Raiffeisen und
Baustoffe hinzu und seit einigen Jahren deutlich zuneh-
Schulze-Delitzsch haben wesentlich zur
mend ein immer breiterer Garten- und
wirtschaftlichen Entwicklung der Land-
Hobbymarkt.
wirtschaft und des ländlichen Hand-
Seit den 1970er Jahren schrumpft das
werks beigetragen. Sie fanden schnell in
ländliche Genossenschaftswesen jedoch
ganz Deutschland Verbreitung und dar-
zunehmend. Vor allem die dörflichen
über hinaus in der ganzen Welt Nachah-
Warengenossenschaften mussten nun
mung. Im Rückblick gehören die Genos-
auch nach modernen Leistungs- und
senschaftsgründungen des 19. Jahrhun-
Kostenkriterien bewirtschaftet werden.
derts zu den bedeutenden Innovationen
Die meisten ließen sich aus ökonomi-
der modernen Dorfgeschichte.
schen Gründen nicht halten und wur-
Im Jahr 1917 bestanden in Deutsch-
den aufgegeben bzw. »zentralisiert«; der
land 28 967 ländliche Genossenschaften
Rückzug aus der Fläche vollzog sich aus
mit etwa 2 Mio. Mitgliedern. Deren Viel-
ähnlichen Kriterien wie bei Post, Bahn,
falt lässt sich an ihren Untergruppen
Kommunen und Polizei. An den ver-
erkennen: 97 Zentralgenossenschaften,
bliebenen oder konzentrierten Standor-
17 866 Spar- und Darlehenskassen, 3595
ten präsentieren die ländlichen WarenDer Landbewohner wird zum Sparen angehalten: Werbeschild des Deutschen Raiffeisenverbandes aus den 1930er Jahren.
112
Das moderne Dorf
genossenschaften heute ein breites und hochwertiges Angebot nicht nur für die Landwirte, sondern für die gesamte Landbevölkerung. Wie in ihrer Gründungsphase vor über 100 Jahren sind sie immer noch als freiwilliger Zusammenschluss von Genossen organisiert. Sie tragen heute in ganz Deutschland den Namen »Raiffeisenmärkte« und zeigen sich damit ihrem Gründer und seinen Idealen verpflichtet. Auch die Spar- und Darlehenskassen haben bis in die Gegenwart Bestand. Viele firmieren heute als Volksbanken, sie sind aber immer ein Zusammenschluss von »Genossen«, die aber längst nicht mehr allein aus dem Bauern- und Handwerkerstand kommen. Die Innovationen von Raiffeisen und Schulte-Delitzsch vor 150 Jahren hatten somit für den ländlichen Raum eine nachhaltige Wirkung. Sie sind – trotz aller Konzentrationsprozesse – bis heute wirksam und erfolgreich. Neben den konkret betriebswirtschaftlich orientierten Genossenschaften gibt es eine Reihe von Agrarorganisatio-
Moderne Raiffeisenmärkte wie hier in Kreuzau im Kreis Düren bieten heute ein breites Angebot für Landwirtschaft und Gartenbau.
nen, die vor allem wirtschaftspolitische Ziele verfolgen und meist auch überregional wirken. Als Dachorganisation für
Dorfläden, die zunehmend von lokalen Genossenschaf-
viele bereits bestehende lokale und regionale Vereinigun-
ten getragen werden. Diese arbeiten nach dem Kostende-
gen wurde 1885 die Deutsche Landwirtschafts-Gesell-
ckungsprinzip und müssen keinen Gewinn machen. Der
schaft (DLG) gegründet, wobei man sich an einem eng-
Verlust des letzten Ladens im Ort hat viele Bürger und Poli-
lischen Vorbild orientierte. Neben der DLG gibt es drei
tiker auf dem Land wachgerüttelt: Ist kein Laden mehr im
weitere Spitzenverbände der deutschen Agrar- und Ernäh-
Dorf, ist kein Leben mehr im Dorf. Allein in Bayern gab
rungswirtschaft. Um Überschneidungen zu vermeiden, hat
es in den letzten fünf Jahren über 200 Neugründungen
man deren Aufgabenschwerpunkte festgelegt: Der Deut-
von Dorfläden im Besitz einer Bürgergenossenschaft.92 Bei-
sche Bauernverband ist die wirtschaftspolitische Vertre-
spiele hierfür sind Gelting, Harthausen, Hurlach oder Si-
tung der Landwirtschaft, während sich die Landwirt-
monshofen. Alle Dörfer hätten ohne die genossenschaft-
schaftskammern um die Ausbildung und Beratung der
lichen Gründungen keinen Laden mehr. In Harthausen, ei-
Landwirte kümmern und die Raiffeisengenossenschaften
nem Ort östlich von München mit 870 Einwohnern, gab es
um die gegenseitige Wirtschaftshilfe; die DLG hingegen
zuletzt nur noch einen Kaugummi- und einen Zigaretten-
ist für den technischen Fortschritt in der Landwirtschaft
automaten. Die letzte Metzgerei hatte vor vier Jahren ge-
zuständig. Spitzenverbände der deutschen Waldwirtschaft
schlossen, als der Metzger in den Ruhestand ging. Dann
sind die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzer-
wurde der neue Dorfladen mit 80 m2 Verkaufsfläche im al-
verbände (AGDW) und der Deutsche Forstwirtschaftsrat
ten Feuerwehrhaus untergebracht. Rund 200 Dorfbewoh-
(DFWR). Ihre großen Auftritte in der Öffentlichkeit haben
ner traten der Ladengenossenschaft bei und erwarben einen
die agrarpolitischen Spitzenverbände regelmäßig auf pub-
Anteil von je 200 Euro. Das Startkapital von 40 000 Euro
likumswirksamen Messen wie der »Grünen Woche« in Ber-
reichte für Regale, Kühltheken, Geräte und Lebensmit-
lin oder der »Agritechnika« in Hannover.
tel. »Trotzdem gäbe es ohne die ehrenamtliche Mithilfe der
Dass das Genossenschaftswesen auf dem Land nicht nur
Bürger kein Dorfgeschäft. Harthauser Handwerker bauten
eine lange Tradition hat, sondern auch bis heute lebendig
die Regale, Maurer mauerten, Maler malten, der SeilSepp
ist, zeigen zahlreiche Neugründungen zu verschiedenen
leiht dem Laden seinen Anhänger zum Transport der Ge-
Zwecken in jüngerer Zeit. Ein Schwerpunkt hierbei sind
tränkekisten. Die Angestellten der Dorfläden bekommen
Wirtschaft und Versorgung
113
umgerechnet rund 6 Euro in der Stunde, ein allgemeiner Mindestlohn wäre das Aus für die neuen Tante-Emma-Läden.«93 Trotzdem sind die Verkäuferinnen zufrieden. Sie arbeiten im eigenen Dorf, bieten viele regionale Produkte an, deren Erzeuger sie kennen, und schätzen die lokalen Kontakte. So die Verkäuferin und Geschäftsführerin des Dorfladens Gelting, Andrea Pichler: »Für einen Discounter würde ich nicht arbeiten, weil ich gern auch mit den Kunden sprechen mag.«94 Der bayerische Staat unterstützt die dörflichen Anstrengungen um den eigenen Laden mit Seminaren zum Thema »Tante Emma ist wieder da« in seinen »Schulen der Dorferneuerung« – durchaus ein Vorbild für andere Bundesländer. Neben Dorfläden werden Genossenschaften auch für andere dorfeigene Zwecke gegründet. In Bollschweil im Schwarzwald wurde beispielsweise im leer stehenden Dorfschreiberhaus ein genossenschaftlich organisiertes Dorfgasthaus eröffnet. Zur Rettung ihres Gasthauses mit Biergarten gründeten die Dorfbewohner in Feldwies im Chiemgau eine Aktiengesellschaft, die »Dorfwirtshaus AG «; der Gasthof wurde inzwischen in renommierte Restaurantführer aufgenommen. Im nur 170 Einwohner zählenden Dorf Dalwigksthal im nordhessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg war der letzte Treffpunkt des Dorfes in großer Gefahr. Daher besannen sich die Dalwigksthaler auf ihre eigenen Kräfte und gründeten 2012 die neue »Bürgergenossenschaft Schule Dalwigksthal«. Gut ein Jahr nach dieser Gründung ging das vom Dorf selbst sanierte und getragene Dorfgemeinschaftshaus in der ehemaligen Dorfschule als Dorftreff und Kneipe in Betrieb. Manchmal sind die neuen ländlichen Genossenschaften mit ihren jeweiligen Kommunen zu Partnerschaften verknüpft. Im niedersächsischen Dorf Luthe wurde im Jahr 2005 die Genossenschaft »Naturerlebnisbad Luthe« gegründet, nachdem die Stadt Wunstorf das Bad aus Kostengründen geschlossen hatte. Ziel war die Errichtung eines naturnahen Freibades mit Schwimmbecken ohne Chlor. Das Naturbad wird nun ehrenamtlich geführt, die Gemeinde leistet einen jährlichen Kostenzuschuss. Nach dem Verlust ihres letzten Tante-Emma-Ladens gründeten die Dorfbewohner von Harthausen in Bayern eine Ladengenossenschaft, packten selbst an und bauten ein altes Feuerwehrhaus zum neuen Dorfladen um.
114
Das moderne Dorf
Der Trend zum Pendlerdorf Traditionelle und moderne ökonomische Dorftypen
Dorf ist nicht gleich Dorf. Die ökonomischen Schwer-
den landwirtschaftlich geprägten Siedlungen können wir
punkte der ländlichen Siedlungen waren schon früher
nach den Besitzverhältnissen drei Dorftypen unterschei-
sehr unterschiedlich: So gab es Bauern-, Guts-,
den: Bauerndörfer, Gutsdörfer sowie kombinierte Bauern-/
Kloster-, Handwerker-, Händler-, Weinbau-, Fischer-,
Gutsdörfer.
Waldarbeiter-, Bergbau-, Eisenbahn- oder Industrie-
In Bauerndörfern dominiert das bäuerliche Eigentum
arbeiterdörfer. Heute sind die ökonomischen Dorftypen
bzw. Nutzungsrecht. Neben der Landwirtschaft entwickelte
weniger eindeutig erkennbar, Mischtypen herrschen vor.
sich lediglich das dörfliche Handwerk, meist mit einem
Außerdem sind durch die starken Verluste an Arbeits-
kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im Nebenerwerb.
plätzen Pendlerdörfer entstanden. Aber die frühere
Durch verschiedene historische Vorgaben wie dem Erbrecht
ökonomische Basis bleibt im Dorfbild meist erhalten
oder Verträge mit der Grundherrschaft kam es früher viel-
und erkennbar. Eine neue Hoffnung für das Land ist
fach zu einer »Sortierung« der Bauerndörfer nach der vor-
die moderne Telearbeit.
herrschenden Betriebsgröße. So unterscheiden wir zwischen Klein-, Mittel- und Großbauerndörfern. Kleinbau-
Mit welchen Arbeitsplätzen haben die Dorfbewohner frü-
erndörfer finden sich z. B. häufig im deutschen Südwesten,
her ihren Lebensunterhalt verdient? Wir haben die Viel-
Großbauerndörfer in der Magdeburger Börde und Mittel-
falt der land- und forstwirtschaftlichen sowie gewerbli-
bauerndörfer in Hessen sowie Thüringen. Die Gebäudesub-
chen Berufe in den Dörfern kennengelernt. Welcher Kon-
stanz in Bauerndörfern und -weilern ist relativ einheitlich
trast besteht z. B. zwischen Gutsdörfern und Bauerndör-
und zeigt lediglich Größenabstufungen zwischen den Be-
fern! Die Wissenschaft hat deshalb ökonomische Dorf-
trieben. Das überlieferte Ortsbild weist außer einer Kirche
typen formuliert, um Dörfer nach ihren jeweiligen wirt-
oder Kapelle keinen weiteren Mittelpunkt auf. Derartige
schaftlichen Schwerpunkten zu unterscheiden: z. B. Win-
Bauerndörfer bilden in Deutschland traditionell die große
zerdorf, Waldarbeiterdorf oder Fischerdorf. Generell
Mehrheit der ländlichen Siedlungen. Es ist interessant, dass
trennen wir zunächst zwischen agraren und nicht agraren
auch für moderne Dorfdefinitionen immer noch das bäu-
ländlichen Siedlungen. Für die Entstehung und Entwicklung der meisten Dörfer war die Landwirtschaft die wirtschaftliche Basis. Unter
Abbildung oben: Durch verlorene Arbeitsplätze in Landwirtschaft und Handwerk sind die meisten Dörfer zu Auspendlerdörfern geworden.
Wirtschaft und Versorgung
115
erliche Siedlungsbild herangezogen wird, obwohl ja die
Residenzorte erhielten im 18./19. Jahrhundert um die Guts-
Landwirtschaft inzwischen aus den meisten Dorfgebäuden
höfe und Schlösser herum häufig aufwendige Parkanlagen
verschwunden ist.
nach französischen oder englischen Vorbildern.
In reinen Gutsdörfern hingegen fehlt das bäuerliche
Begründer und Träger der Gutssiedlungen waren in der
Element, da die landwirtschaftlichen Flächen von einem
Regel der lokale und regionale Adel sowie kirchliche Män-
einzigen Großbetrieb aus bewirtschaftet werden. Die klas-
ner- und Frauenorden. Häufig wetteiferten Adel und Klös-
sische Gutssiedlung, die besonders im östlichen und nörd-
ter um die lokale und regionale Grundherrschaft, sodass
lichen Deutschland verbreitet war, besteht aus dem zentral
wir in Deutschland eine hohe Dichte adliger und klöster-
gelegenen Herrenhaus als dem Wohnsitz des Gutsherren
licher Gutssiedlungen vorfinden. Sowohl die Kloster- als
oder Verwalters und aus den benachbarten Wirtschafts-
auch die Adelssiedlungen waren in gewisser Weise kleine
gebäuden, die in der Regel einen Hof umschließen. Dazu
urbane Zentren, wo sich Reichtum und Wissen miteinan-
kommen die Landarbeiterhäuser, die sich meist in ei-
der verbanden. Sie sorgten oft für ökonomische, kulturelle
ner kleinen Straßenzeile unmittelbar an die Wirtschafts-
und soziale Innovationen in ihrem ländlichen Umfeld. Be-
gebäude anschließen. Wenn der adlige Grundeigentümer
sonders die meist reich ausgestatteten Klöster sind dafür be-
selbst im Ort lebte, sprechen wir von einer Residenzsied-
kannt, dass sie diverse land- und forstwirtschaftliche Son-
lung, die neben einem Schloss und dem Gutshof auch noch
derkulturen, das Handwerk und die Künste pflegten und
Gebäude für Hofbeamte und Handwerker enthielt. Adlige
durch ihre weit verzweigten überregionalen Kontakte auch
Das Gutsdorf ist im Norden Deutschlands weit verbreitet. Gut erhalten ist das Beispiel Tellow bei Teterow: Das alte Gutshaus – mit anschließendem Park – liegt rechts am Ende einer Wegeachse, die von den Wirtschaftsgebäuden flankiert wird.
116
Das moderne Dorf
Winzer- oder Weinbauerndörfer finden sich vor allem in Süddeutschland. Sie bieten durch reizvolle Ortsbilder, die Weinschänken und Winzerfeste eine hohe Anziehungskraft für Touristen, aber auch Ostdeutschland bietet Weinbaugebiete, wie Freyburg (Unstrut) im Burgenlandkreis hier zeigt.
zu ökonomischen und kulturellen Fortschritten des länd-
oder Mittelpunktsiedlungen, in denen sich z. B. Schulen,
lichen Raumes beitrugen.
Krankenhäuser, Amtsgerichte und Molkereien konzent-
Sehr häufig sind adlige oder klösterliche Gutssiedlungen
rierten. Eine Sonderform einer agraren Gutssiedlung wa-
mit einem Bauerndorf unmittelbar verknüpft, wir sprechen
ren für knapp 40 Jahre in der DDR die LPG -Dörfer. Diese
dann von kombinierten Bauern-/Gutsdörfern. Durch diese
landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften waren
Mischung war in solchen Dörfern die ökonomische und so-
ab 1952 durch eine Kollektivierung der Privatbetriebe ge-
ziale Differenzierung breit ausgebildet und z. B. der Hand-
bildet worden.
werkerstand gut entwickelt. Solche Bauern-/Gutsdörfer
Auch die meisten Kleinstädte des ländlichen Raumes,
übten häufig zentrale Funktionen für die (meist kleine-
die überwiegend in der Blütezeit der Städtegründungen
ren) Nachbardörfer aus. Sie entwickelten sich oft zu Markt-
im Hohen und Späten Mittelalter begründet wurden, wa-
Wirtschaft und Versorgung
117
Die meisten Fischerdörfer an den Küsten und auf den Inseln haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und haben sich dem Tourismus zugewandt. Im ostfriesischen Greetsiel wird aber bis heute Krabbenfischerei betrieben.
ren bis vor wenigen Jahrzehnten ebenfalls eindeutig Ag-
Weinbauerndorf. Winzerorte sind meist eng bebaut und
rarsiedlungen mit vorherrschenden land- und forstwirt-
haben eine Tal-, Hang- oder Spornlage in unmittelbarer
schaftlichen Funktionen. Man spricht deshalb bei diesen
Nähe zu den Rebflächen. Durch ihre reizvollen Ortsbilder,
Klein- und Mittelstädten bis weit in das 20. Jahrhundert hi-
die lokale Weinverarbeitung und -vermarktung, die Wein-
nein von Ackerbürgerstädten. Viele dieser Ackerbürger-
schänken und Winzerfeste bieten die Weinbaudörfer heute
städte haben sich in der Gegenwart zu Grund- und Mittel-
eine hohe Anziehungskraft für Touristen.
zentren des ländlichen Raumes mit entsprechenden zent-
Als forstwirtschaftliche Siedlungen im engeren Sinne
ralörtlichen Dienstleistungen (wie Schulen, Verwaltungen,
sind die Waldarbeiterdörfer zu nennen, die besonders in
Geschäften) entwickelt. Zahlreiche andere jedoch sind bis
den waldreichen Mittelgebirgen anzutreffen sind. Sie wa-
heute aus ihren agraren Strukturen kaum herausgewach-
ren bis in die 1960er Jahre hinein nicht selten mit eigener
sen, manche sind in ihrer Einwohnerentwicklung von 1850
Kirche, Schule und Post ausgestattet. Nach den Schrump-
bis heute sogar geschrumpft.
fungsprozessen in der Forstwirtschaft wurden die meist
Eine spezielle Form der Agrarsiedlung, die sich hauptsächlich in Süddeutschland befindet, ist das Winzer- oder
118
Das moderne Dorf
abgelegenen Waldarbeitersiedlungen oft zu Urlaubs- und Freizeitorten mit Ferienwohnungen entwickelt.
Reine Bauerndörfer gibt es heute kaum noch. Vor allem in größeren Dörfern verliert sich das bäuerliche Element. Das Beispiel Haidenkofen bei Regensburg/Landau an der Isar erscheint als ein Bauerndorf mit großen Höfen und guter Landwirtschaft.
Neben den durch die Land- und Forstwirtschaft geprägten
etwa 1850 mischten sich in vielen ländlichen Regionen die
Dörfern gibt es eine Reihe nicht agrarer ländlicher Siedlun-
alten bäuerlichen mit den neuen industriellen Erwerbstä-
gen. Hierzu gehören die Fischersiedlungen an den Küsten
tigkeiten: So entstanden z. B. im deutschen Südwesten oder
und auf den Inseln der Nord- und Ostsee, die zahlreichen
im Ruhrgebiet zahlreiche Arbeiterbauerndörfer.
Bergbau- und Glashüttensiedlungen der Mittelgebirge,
Zahlreiche deutsche Dörfer haben in ihrer historischen
die Handwerker- und Händlerdörfer und nicht zuletzt
Entwicklung gleich mehrere ökonomische Dorftypen
die zahlreichen ländlichen Kur- und Badeorte des 18. bis
»durchlaufen«. Ein Beispiel hierfür ist Trinwillershagen in
20. Jahrhunderts. Mit dem Beginn der Industrialisierung ab
Mecklenburg-Vorpommern: Das ursprüngliche Bauerndorf
Wirtschaft und Versorgung
119
Ein solches Bild sieht man auf dem Land immer seltener: die Grünfutterernte in traditioneller Form mit Handarbeit.
120
mit 13 Hofstellen wurde vor gut 200 Jahren (im Rahmen
aber eine oder mehrere neue hinzugewonnen. So konnten
des sog. »Bauernlegens«) in ein Gutsdorf mit einer Tagelöh-
sich zahlreiche Fischerdörfer an den Küsten (z. B. Greetsiel
nersiedlung umgewandelt. Im Zuge der »Bodenreform« von
an der Nordsee) sowie Bergbau- oder Glashüttensiedlungen
1945 bis 1949 und der ab 1952 folgenden Zwangskollektivie-
der Mittelgebirge zu attraktiven Tourismusorten oder welt-
rung landwirtschaftlicher Betriebe wurde Trinwillersha-
bekannten Manufakturdörfern (wie z. B. Glashütte oder
gen für knapp vier Jahrzehnte zum LPG -Dorf und sogar
Seiffen in Sachsen) entwickeln. Aus ehemaligen Bauern-
zum sozialistischen Vorzeigedorf. Nach der Wiedervereini-
dörfern werden neuerdings Energiedörfer (Beispiel Bio-
gung 1990 entwickelte sich Trinwillershagen wieder zu ei-
energiedorf Jühnde).96 Der schnelle wirtschaftliche Wandel
nem (Groß-)Bauerndorf und sucht jetzt neue ökonomische
vieler Dörfer gerade in den letzten Jahrzehnten hat dazu ge-
Standbeine durch Gewerbeansiedlungen und den Touris-
führt, dass immer seltener eindeutige ökonomische Dorf-
mus.
typen erkennbar sind. Überall sind nun Mischtypen anzu-
95
In vielen Dörfern hat der traditionelle ökonomische
treffen. In den meisten Dörfern dominieren heute Gewerbe
Schwerpunkt bis heute Bestand. So gibt es natürlich noch
und Dienstleistungen – man kann diese Großgruppe mit
zahlreiche Bauerndörfer und auch Gutsdörfer. Die große
der Beschreibung »Gewerbe- und Dienstleistungsdorf« zu-
Mehrheit der deutschen Dörfer hat jedoch ihre ursprüng-
sammenfassen. Trotz mannigfacher Änderungen bleibt die
lich dominante wirtschaftliche Basis verloren, in der Regel
frühere ökonomische Basis im Dorfbild meist erhalten und
Das moderne Dorf
erkennbar. So prägen besonders Gutshöfe und Bauernhäuser bis heute das Aussehen der meisten deutschen Dörfer.
Das berufliche Auspendeln gehört seit etwa 50 Jahren zu einem wesentlichen Merkmal des modernen Dorfes. Des-
Das Dorf war vor 200 und auch noch vor 60 Jahren öko-
sen ökonomische Basis liegt somit heute zu einem großen
nomisch relativ klar strukturiert, alle erwachsenen Dorf-
Teil außerhalb des eigenen Ortes. Dies macht es für die Ge-
bewohner arbeiteten im eigenen Ort. Dieser Totalbezug der
genwart schwer, klare ökonomische Dorftypen festzustel-
Erwerbstätigkeit auf Betriebe des eigenen Dorfes existiert
len. Die frühere Einheit von Wohnen und Arbeiten ist im
heute längst nicht mehr. Die Dörfer haben einen Großteil
modernen Dorf nicht mehr gegeben, auch definiert es sich
ihrer lokalen Arbeitsplätze verloren. Durch den drasti-
nicht mehr allein durch die lokalen Arbeitsplätze. Durch
schen Rückgang dörflicher Arbeitsplätze sind viele Dorf-
die hohe Auspendlerquote ist das Dorf für viele Bewoh-
bewohner zum Auspendler geworden, meist in die be-
ner zum Pendlerdorf und damit zum Wohndorf geworden.
nachbarten Klein- und Mittelstädte, manchmal aber auch
Manche sprechen auch abwertend vom Schlafdorf.
in andere Dörfer. Motorisierung und Verkehrsausbau ha-
Eine moderne Variante bzw. Alternative des Auspendelns
ben zunehmend weite Pendlerwege zum Arbeitsplatz er-
stellt die Telearbeit dar, die überwiegend zu Hause vom
möglicht unter Beibehaltung des dörflichen Wohnsitzes. In
PC aus gemacht werden kann. Diese »Arbeit über Distanz«
den meisten Dörfern Deutschlands beträgt die Auspendler-
nimmt in den Dörfern zu und bietet generelle Chancen für
quote heute mehr als 50 % (der Erwerbstätigen des Wohnor-
hochwertige Arbeitsplätze in ländlichen Regionen. Nicht
tes). In kleineren Orten (mit nur wenigen lokalen Arbeits-
nur Land- und Forstwirte vermarkten heute ihre Produkte
plätzen) ist der Anteil der Auspendler häufig auf mehr als
online an den nationalen und internationalen Warenbör-
zwei Drittel der Erwerbstätigen angestiegen. Die Auswei-
sen. Auch zahlreiche nicht agrare Berufe können nun, dank
tung des Pendlerverkehrs zu einer Massenerscheinung hat
der schnellen Netzverbindungen mit den großstädtischen
wesentlich dazu beigetragen, dass ein großer Teil der Bevöl-
Zentralen, auf dem Land ausgeübt werden. Viele Ingeni-
kerung in den Dörfern geblieben ist. Der Abwanderungs-
eure, Wirtschaftsberater, Kaufleute, Wissenschaftler und
prozess aus dem ländlichen Raum wurde dadurch gene-
Künstler wohnen und arbeiten dort bereits (oft im Wechsel
rell abgeschwächt. Aus sozialer und kultureller Sicht sind
mit einem Büro in der Stadt). Sie haben sich z. B. in ehema-
Pendler oft Träger dörflicher Innovationen: Sie übertra-
ligen Bauernhöfen, Gasthäusern oder Schulgebäuden nie-
gen städtische Verhaltensweisen und Normen in den länd-
dergelassen.
lichen Wohnort.
Wirtschaft und Versorgung
121
Bevölkerung – Soziales – Kultur
Einführung Die Landbevölkerung ist einem Mosaik aus vielen farbigen
chen Lebensader des Dorfes geworden sind. Besonders die
Steinen vergleichbar – sie ist äußerst bunt und kleinteilig
größeren Vereine wie Sport- oder Musikvereine betreiben
zusammengesetzt. Dies gilt nicht nur für die heutige mo-
nahezu tägliche Trainingsangebote und in der Regel auch
derne Zeit. Auch die Bevölkerung des »alten« Dorfes war
eine intensive Jugendarbeit. Die traditionellen Kulturträ-
keineswegs homogen. Neben einer dünnen Oberschicht
ger des Dorfes Kirche und Schule haben auf dem Land im-
des Landadels und der Geistlichkeit gab es die Mittelschicht
mer noch ein großes Gewicht, das aber allmählich zurück-
der »großen« Bauern, einiger vermögender Handwerker,
geht. Durch Schließungen oder Zusammenlegungen gehö-
Händler und Beamten, darunter aber eine breite Unter-
ren vielerorts die lokale Schule oder der »eigene« Dorfpastor
schicht der Klein- und Kleinstbauern, kleinen Handwerker,
der Vergangenheit an.
Landlosen, Tagelöhner, Knechte, Mägde, Bedürftigen und Behinderten. Wiederholt wurde die Landbevölkerung »aufgefrischt«
mehr und mehr angeglichen. Dennoch gibt es immer noch typisch ländliche Lebensstile. Diese sind natur-, tradi-
durch Zuwanderungen, vor allem in und nach Kriegen
tions- und handlungsorientiert. Landbewohner sind es ge-
und anderen Notzeiten. Aber es gab immer wieder auch –
wohnt, konkret anzupacken. In ihrer Freizeit tummeln sie
aus unterschiedlichen Motiven – Abwanderungen vom
sich bei Arbeiten am eigenen Haus, im Garten, beim Holz-
Land in die Städte, wobei häufig gerade die Tatkräftigs-
machen im Wald, bei der Nachbarschaftshilfe oder bei ge-
ten und Mutigsten die ländlichen Gebiete verließen. Heute
meinschaftlichen Arbeiten und Feiern in Vereinen und
sind es vor allem die gut ausgebildeten 18- bis 27-Jährigen,
Kirchengemeinden. Man spricht daher auch von dörflicher
die aus den Dörfern in die Städte ziehen. Man spricht hier-
»Aktivkultur«. Ein großes Plus des Landlebens ist die Zu-
bei von »Bildungsabwanderung«.
friedenheit der Landbewohner mit ihrem Wohnum-
Das soziale Leben in den Dörfern ist durch enge Kon-
feld. Sie ist doppelt so hoch wie die der Großstadtbewoh-
takte und Netzwerke geprägt. Verwandtschaften, Nach-
ner. Selbst unter jungen Leuten steht das Landleben in der
barschaften, Mitgliedschaften in Vereinen und Kirchen-
Beliebtheitsskala weit vor dem Stadtleben. Allerdings ist
gemeinden sowie diverse Freundeskreise werden gepflegt.
der Dorfbewohner heute nicht nur bodenständig, er ist zu-
Groß ist darüber hinaus die Bereitschaft, sich mit dem ei-
gleich mobil und weltoffen. Im Urlaub, aber auch zur Aus-
genen Dorf zu identifizieren, sich ehrenamtlich für die
bildung und im Beruf ist er häufig im Ausland unterwegs.
Dorfgemeinschaft einzusetzen. Dies kommt vor allem den
Der moderne Dorfbewohner ist zum Globetrotter gewor-
meist zahlreichen Vereinen zugute, die zu einer wesentli-
den.
Abbildung Seite 122/123: Kinder eines Trachtenvereins tanzen in der sogenannten »Miesbacher Tracht« bei einem Dorffest, am 3. Mai 2009 im oberbayerischen Baierbrunn.
124
Die Lebensverhältnisse von Stadt und Land haben sich
Das moderne Dorf
Der fast ständige Aderlass des Dorfes Ausmaß und Ursachen der Landflucht
Es gab Zeiten, da war das Dorf ein fast geschlossener
durch gewaltige Abwanderungsverluste. Dies gilt für
Kosmos, den man nicht verließ. Landbewohner hatten
Deutschland wie für ganz Europa. Die massenhaften Land-
kaum hoffnungsvolle Ziele und Motive, um abzuwan-
abwanderungen haben weltweit zur Verstädterung bei-
dern. Seit etwa 200 Jahren ist dies anders: Die neuen,
getragen. Bei der Landflucht unterscheiden wir zwischen
wachsenden Industriestädte brauchten Menschen
Auswanderungen ins Ausland und Binnenwanderungen,
vom Land, und Amerika lockte mit vielen Chancen.
die innerhalb der Staatsgrenzen stattfinden.
Die permanente Landflucht wurde zu einem Phänomen, das bis heute anhält und sich in Zukunft vielleicht
Die Auswanderungen aus Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten haben besonders im 19. Jahrhun-
noch verstärken wird. Für das Dorf bringt dieser Trend
dert zum Aufbau der Bevölkerungen in Übersee, vor allem
jedoch Nachteile. Leerstände von Gebäuden sind in
in Nord- und Südamerika, beigetragen. Allein im Zeitraum
nahezu allen Dörfern zu beobachten. Sind dies die
von 1816 bis 1914 sind etwa 5,5 Mio. Deutsche ausgewandert,
Vorzeichen für eine Phase moderner Dorfwüstungen?
davon zwischen 80 und 90 % in die USA , wo ihr Anteil an den gesamten Einwanderern ca. 30 % beträgt.97 Deutschland
Die große Frage ist: Hat der ländliche Raum in den zurück-
gehörte im 19. Jahrhundert zu den großen europäischen
liegenden 200 Jahren an Bevölkerung gewonnen oder ver-
Emigrantenstaaten. Die Masse der deutschen Auswanderer
loren? Er hat sowohl kräftig gewonnen als auch verloren!
entstammte dem ländlichen Raum. Gründe der Auswande-
Diese zunächst paradox erscheinende Antwort hängt mit
rungen waren vor allem Armut, Hungersnöte und die ge-
den höchst unterschiedlichen Bilanzen der Ab- und Zu-
ringen wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegschancen der
wanderungen sowie der Geburten und Sterbefälle zusam-
Landbevölkerung vor den agraren und politischen Refor-
men. In späteren Kapiteln werden die Zuwanderungen von
men des späten 19. Jahrhunderts.
der Stadt aufs Land und die »natürliche« Bevölkerungsent-
Zahlenmäßig noch bedeutender als die Auswanderun-
wicklung dargestellt. Zunächst wollen wir aber einen Blick
gen waren jedoch die Binnenwanderungen aus ländlichen
auf die einschneidendste Art der Bevölkerungsentwicklung
Räumen in die neu entstehenden Industrie- und Ballungs-
werfen: die Abwanderungen vom Land in die Stadt. Die Bevölkerungsentwicklung des ländlichen Raumes vom frühen 19. Jahrhundert bis heute ist wesentlich geprägt
Abbildung oben: Die Abwanderung vom Land hinterlässt in den Dörfern Lücken, die immer mehr ins Auge fallen und an die Substanz gehen.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
125
gebiete. In Deutschland haben zwischen 1860 und 1925 ins-
Am meisten betroffen sind heute abgelegene Regionen in
16 Stunden am Tag. Einer von ihnen war Friedrich Wienke
Vergleichbar mit der saisonalen Abwanderung ist die mo-
gesamt 22 bis 24 Mio. Menschen ihre ländlichen Heimat-
Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, aber auch
aus Brakelsiek in Lippe (1863–1930). Ab seinem 14. Lebens-
derne Pendelwanderung, die im täglichen, wöchentlichen
98
Um
in Nordhessen, der Eifel oder der Oberpfalz. Typische Ab-
jahr ging er wie sein Vater »auf Ziegelei« in die Fremde und
oder mehrwöchigen Rhythmus erfolgt. Nicht selten sind
1900 stammte in Deutschland ein Großteil der industriel-
wanderungsgebiete sind die wenig industrialisierten sowie
verdiente im Winter zu Hause als Schneider sein Geld. Wi-
Saison- und Pendelwanderungen Vorstufen zu vollständi-
len Arbeiterschaft in den Städten aus dem Bevölkerungs-
natur- und verkehrsgeographisch benachteiligten Agrar-
enke schrieb zahlreiche Gedichte über die Wanderziegler
gen Abwanderungen vom Land in die Stadt.
überschuss des ländlichen Raumes – und gleichzeitig
räume abseits der Ballungsgebiete.
und ist bis heute als »Zieglerdichter« bekannt. Hier ein Ge-
orte im Zuge von Binnenwanderungen aufgegeben.
Die Ursachen der Land-Stadt-Wanderungen in den zurückliegenden 200 Jahren sind vielfältig und wechselnd.
dicht von ihm aus dem Jahr 1908:
wuchs die ländliche Bevölkerung weiter. Die beiden Welt-
Neben den kompletten Aus- und Abwanderungen waren
kriege und Nachkriegszeiten haben die Abwanderungen
auch die Saisonwanderungen mit jahreszeitlichem Rhyth-
aus ländlichen Regionen zwar unterbrochen. Seit den spä-
mus weit verbreitet. Ein Beispiel sind die sog. »Ziegler«
Was taten die Männer im lippischen Land?
Zum einen setzte der andauernde Strukturwandel der ag-
ten 1950er Jahren hat der ländliche Raum aber wieder ge-
(Ziegelarbeiter), die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zum
Sie gingen auf Ziegelei.
raren Wirtschaft auf dem Land ständig Arbeitskräfte frei.
nerelle Abwanderungsverluste zu verzeichnen. Dann wur-
Aufbau der nun kräftig wachsenden Städte massenhaft ge-
Sie zogen als Ziegler hinaus in die Welt
Zum anderen boten die schnell wachsenden Städte und In-
den die Abwanderungskurven in den 1970er Jahren wie-
braucht wurden. Sie verließen (von Agenturen angewor-
Und scheuten nicht Mühe und Plag,
dustriereviere alternative Arbeitsplätze. Ein ständiger Mo-
der flacher und bestehen auf diesem Niveau bis heute. Nach
ben) im Frühjahr ihre Familien, um in Ziegeleien in Lü-
Erwarben sich Gunst, verdienten schön Geld.
tor der Landflucht war zudem das Lohngefälle zwischen
der Wiedervereinigung hat der ländliche Raum besonders
beck, Hildesheim oder Berlin ihr Geld zu verdienen. Dort
in den neuen Ländern einen Abwanderungsboom erfahren.
blieben sie bis zum Beginn des Winters und arbeiteten bis zu
Im Vordergrund stehen meist ökonomische Gesichtspunkte.
So geht’s bis zum heutigen Tag.
99
Stadt und Land. In den städtischen Berufen konnte einfach deutlich mehr Geld verdient werden als in der Land- und
Die Industrialisierung führte ab 1850 zur Abwanderung von Millionen Arbeitskräften vom Land in die Stadt. Einer der Anziehungspunkte in Deutschland war das Ruhrgebiet, hier das Gelände der Firma Krupp in Essen um 1912.
126
Das moderne Dorf
Bevölkerung – Soziales – Kultur
127
Auch Saisonabwanderungen waren verbreitet. So zogen Ziegelarbeiter von April bis November aus westfälischen Dörfern nach Berlin oder Lübeck, um dort in Ziegeleien für den Aufbau der Städte zu arbeiten.
128
Forstwirtschaft oder im dörflichen Handwerk. Neben den
sind nun einmal früher wie heute weitgehend den größe-
ökonomischen gibt es auch sozial-psychologische Motive
ren Städten vorbehalten.
der Landflucht. Gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Die Wanderungsverluste hatten bzw. haben für den
war die Befreiung aus den engen sozialen, rechtlichen und
ländlichen Raum generell verschiedenartige negative Fol-
ökonomischen Bindungen an das Dorf, an die Grundherr-
gen. Zu den bedeutendsten Nachteilen gehört, dass vor al-
schaft, an den »Stand«, in den man geboren wurde, die oft
lem die jüngere, gut ausgebildete Bevölkerung – schwer-
wichtigste Schubkraft der Abwanderung in die Städte. Au-
punktmäßig die Gruppe der 18- bis 27-Jährigen – aus länd-
ßerdem lockten und locken die Städte mit vielfältigen An-
lichen Gemeinden wegzieht. Man spricht hier auch von
geboten und Reizen: Höhere und höchste Dienstleistungen
»Bildungsabwanderung«. Der Wegzug dieser Jugendlichen
im Bildungs- und Kulturbereich, in der Verwaltung, in der
schmerzt die Politiker des ländlichen Raumes besonders,
ärztlichen Betreuung sowie im Freizeitbereich und nicht
weil hier ein wertvolles Humankapital fortzieht, das auf
zuletzt die besseren Einkaufsmöglichkeiten waren und
dem Land hohe Erziehungs- und Ausbildungskosten ver-
Das moderne Dorf
ursacht hat, wovon dann aber andere, meist städtische Regionen profitieren können. Nicht selten kommt es auch zu einer Störung des Gleichgewichts zwischen den Geschlechtern. So zeigt sich derzeit in manchen Gebieten Ostdeutschlands, dass mehr junge Frauen als junge Männer den ländlichen Raum verlassen und in Großstädte abwandern. Im Durchschnitt sind die Angehörigen der Ober- und Unterschichten zahlreicher unter den Abwanderern vertreten als die Angehörigen der offenbar bodenständigeren Mittelschichten. In der soziologischen Forschung werden die Landflüchter manchmal als die besonders tüchtigen und ideenreichen Dorfbewohner dargestellt, die in den Dörfern Zurückbleibenden erscheinen dagegen als negative Auslese. Doch es gibt dazu auch eine gegensätzliche These: Nur die erfolglosen, ungesicherten Existenzen, die über keine traditionellen Besitztümer und Beziehungen verfügen, der »Flugsand« also, würden das Land verlassen. Neben den leicht erkennbaren Nachteilen für das Dorf wie Überalterung und Frauenmangel sind in ländlichen Abwanderungsgebieten auch die schwieriger greifbaren Folgen für die ländliche Arbeits- und Lebensweise zu beobachten. Besonderheiten der Landbewirtschaftung, der lokalen Energieversorgung, der Sprache, des Brauchtums und der Bauweise werden vernachlässigt und schließlich aufgegeben. Zu den augenfälligsten Folgeerscheinungen der
Heute wandert hauptsächlich die Altersgruppe der 18- bis 27-Jährigen vom Lande ab, obwohl das Herz noch am Dorf hängt. Man spricht auch von Bildungsabwanderung aus dem Dorf.
Entvölkerung ländlicher Räume gehört der Verlust der überlieferten Kulturlandschaft, d. h. vor allem der traditionellen Bau- und Flurformen. In den meisten deutschen Dör-
Die Abwanderungen aus ländlichen Regionen werden
fern können wir heute leer stehende Gebäude in den Orts-
sich in Deutschland, wie darüber hinaus in Europa und
kernen beobachten. Häufig sind es die alten Bauernhäuser,
weltweit, vor allem aus wirtschaftlichen Motiven weiter
aber auch frühere Schulen, Schmieden, Gasthöfe und Dorf-
fortsetzen. Großstädte und Verdichtungsräume bieten nun
läden. Die ehemals lebendige Mitte mit ihren das Ortsbild
einmal in der Regel den besser dotierten, differenzierteren
prägenden Bauten ist vielfach von Verödung bedroht. Da-
und qualifizierteren Arbeitsmarkt.
rüber hinaus sind heute in nahezu allen Regionen Euro-
Allzu starke Abwanderungen vom Land in die Stadt wer-
pas sog. »Orts- und Flurwüstungen«, d. h. gänzlich auf-
den von der staatlichen Raumordnung als großes Problem
gegebene Siedlungen und Wirtschaftsflächen des 19. und
betrachtet. So sind bereits seit den 1960er Jahren in vielen
20. Jahrhunderts, anzutreffen. Ein Vergleich mit anderen
Staaten Europas zahlreiche Gesetze und Programme mit
europäischen Staaten wie Frankreich, Spanien, Italien oder
dem Ziel erarbeitet worden, die Entsiedlung ländlicher Ge-
Schweden macht allerdings deutlich, dass in den meisten
biete zu beenden, zu hemmen oder wenigstens zu ordnen.
Ländern größere Probleme in entsiedelten Regionen auf-
Auch in Deutschland stemmen sich Raumordnung und di-
treten als in Deutschland. Hierzulande sind bislang nur we-
verse Fachpolitiken sowie die ländliche Kommunalpolitik
nige, sehr kleine Orte von totalen Wüstungserscheinungen
gegen die durch Abwanderungen verursachten Infrastruk-
betroffen.
turverluste und Leerstände in den Dörfern.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
129
Das Dorf als Zufluchtsort Zuwanderungen von Städtern, Gastarbeitern und Aussiedlern
Zuzüge ins Dorf hat es zu allen Zeiten gegeben, aller-
schen aus den bereits zerstörten oder von Bomben bedroh-
dings erfolgten sie aus sehr unterschiedlichen Mo-
ten Großstädten und Industriegebieten in ländliche Regio-
tiven. Massenhafte Zuwanderungen aufs Land gab es
nen. In den letzten Monaten des Krieges und in den ersten
nach politischen und wirtschaftlichen Krisen: Zum
Nachkriegsjahren kamen etwa 12,5 Mio. deutsche Vertrie-
Beispiel im und nach dem Zweiten Weltkrieg oder nach
bene bzw. Flüchtlinge in die vier Besatzungszonen: die
dem Fall des Eisernen Vorhangs in Deutschland und
große Mehrheit von ihnen in ländliche Gemeinden. So leb-
Europa. Aber auch heute ziehen gar nicht so selten
ten 1946 in Bayern drei Viertel aller Flüchtlinge auf dem
Stadtbewohner aufs Land, um hier bewusst ein an-
Land. Hier waren sowohl der verfügbare Wohnraum als
deres Leben zu führen. Das Dorf profitiert meist von
auch die Ernährungslage günstiger als in den zerstörten
diesen Zuzügen. Die vollkommene Integration in die
Städten. Jede einzelne Dorfstatistik in Deutschland kann
Dorfgemeinschaft kann jedoch Generationen dauern.
diesen markanten Bevölkerungssprung von 1939 bis 1950 nachweisen! Allerdings blieben die neuen Dorfbewohner
Im Vergleich zu den globalen Massenbewegungen der
nicht alle auf Dauer. Für einen Großteil dieser zugewan-
Landflucht ab dem frühen 19. Jahrhundert ist die gegenläu-
derten Bevölkerung war der ländliche Raum nur ein vorü-
fige Zuwanderung aufs Land weltweit von erheblich gerin-
bergehender Aufenthalt. Gerade die folgenden 1950er und
gerer Bedeutung. Größere Wanderungsströme in den länd-
1960er Jahre waren wieder von erheblichen Abwanderun-
lichen Raum wurden in der Regel durch wirtschaftliche
gen vom Dorf in die Städte und Industriegebiete geprägt.
und politische Krisen der modernen Industriegesellschaf-
Die ab den 1960er Jahren nach Deutschland zugewander-
ten ausgelöst. So zogen während der Weltwirtschaftskrise
ten Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Portugal, der Türkei
von 1929 bis 1934 in den USA etwa 10 Mio. Städter wieder
und dem Balkan ließen sich vor allem in der Nähe der in-
Der ländliche Raum hält offenbar bestän-
dustriellen Arbeitsplätze in den Großstädten und Ballungs-
auf das Land.
100
dige Qualitäten vor, die in Notzeiten geschätzt und genutzt werden. In Deutschland hatten die Dörfer in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ihren größten Zuwanderungsboom. Während des Krieges zogen mehrere Millionen Men-
130
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Massenhafte Zuwanderungen aufs Land erfolgen meist in Krisenzeiten wie am Ende und nach dem 2. Weltkrieg. Hier ein Flüchtlingstreck aus den deutschen Ostgebieten in einer zerstörten Ortschaft in Ostpreußen im Frühjahr 1945.
gebieten nieder. Doch vereinzelt zogen sie auch aufs Dorf,
Konfliktpotenzial waren seinerzeit Liebschaften zwischen
wobei sie meist die Altbauten in den Dorfkernen übernah-
einheimischen und zugezogenen Jugendlichen. Peinlichst
men, die durch den Wegzug von Dorfbewohnern freige-
achtete man darauf, dass es nicht zu ehelichen Verbindun-
worden waren und oft sogar leer standen.
gen kam. Die Integration der Heimatvertriebenen und
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begann in Deutsch-
Flüchtlinge in die Dörfer wurde schließlich durch mehrere
land ein neuer Strom von Zuwanderungen aus den neuen
Ereignisse beschleunigt: den Hausbau (der die Wohnungs-
in die alten Bundesländer. Parallel dazu kamen Hundert-
not beseitigte und zu Selbstbewusstsein führte), die »Misch-
tausende deutschstämmige Aussiedler aus Russland, Rumä-
ehen« mit Einheimischen, die Mitarbeit in den dörflichen
nien und anderen osteuropäischen Staaten nach Deutsch-
Vereinen und nicht zuletzt die sprachliche Anpassung der
land. Ein Großteil dieses anhaltenden, aber geringer wer-
zweiten Generation an die lokal übliche Mundart oder
denden Zustroms hat sich auf Dauer im ländlichen Raum
Hochsprache.
niedergelassen. In vielen dörflichen Neubaugebieten kann
Generell und langfristig haben die Zuwanderer dem
man inzwischen beobachten, dass die Aussiedler sesshaft
Dorf gutgetan. Sie haben nicht nur seine Bevölkerungs-
geworden sind. So haben manche Dörfer vor allem in West-
entwicklung und die Infrastrukturauslastung stabilisiert –
deutschland ihre Bevölkerungszahl in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten um 10, 20 oder sogar 30 % erhöht. Seit etwa 2010 ist Deutschland das Ziel einer zuletzt (2015) stark ansteigenden internationalen Flüchtlingswelle – vor allem vom Balkan, aus vorderasiatischen und nordafrikanischen Ländern –, die längst auch den ländlichen Raum erreicht hat. Die Integration der Zuwanderer in die Dorfgemeinschaft verläuft heute wie früher nicht ganz reibungslos. Besonders im Gefolge der großen Zuwanderungsschübe nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Mauerfall 1989 gab es vielerlei Irritationen, Ängste, Grobheiten und Blockaden auf beiden Seiten, die erst allmählich abgebaut werden konnten. Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1945 bis 1950 mussten sich viele Zuwanderer als ungebetene Gäste fühlen. Durch den raschen Zuzug waren die meisten Dörfer übervoll, es herrschte große Wohnungsnot, Armut und für viele Flüchtlinge wie Einheimische eine psychologische Schocksituation. Unfreiwillige Wohn- und Hausgemeinschaften waren an der Tagesordnung. Oft mussten sich von einem Tag auf den anderen fremde Familien Küche und Herd, Waschraum und Abort teilen. Die Heimatvertriebenen, die aus ihren ökonomischen und sozialen Bezügen gerissen und entwurzelt waren, wurden in der neuen Heimat vielfach diffamiert und in ihrer Ehre gekränkt: Sie wurden als »Habenichtse«, als »unerwünschte Eindringlinge« oder »lästige Ausländer« bezeichnet und mit Sprüchen wie »Geht doch wieder nach Polen!« traktiert.101 Starre Konfessionsbarrieren und sprachliche Fremdheiten erschwerten das Zusammenwachsen der Bevölkerung. Ein besonderes Die Dörfer im Umfeld der Großstädte haben in den letzten Jahrzehnten starke Zuwanderungen mit entsprechenden Neubaugebieten aufgenommen – hier Schönfließ im nördlichen Speckgürtel von Berlin.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
131
Die Neubausiedlung Neubösekendorf am Ortsrand von Angerstein in Niedersachsen entstand mit 35 Häusern für 70 Familien, die 1961 und 1963 aus dem thüringischen Grenzdorf Bösekendorf im Eichsfeld über die Grenze nach Westen geflüchtet waren (Foto von 1965).
sie haben dem Dorf und damit dem Landleben vielfältige
siefen mit 80 Einwohnern gezogen ist: »Die Familie glaubt,
kulturelle, soziale und wirtschaftliche Impulse gegeben.
in der Abgeschiedenheit von Locksiefen weniger einsam zu
Manch einer der neuen Dorfbewohner, der aus Ostpreußen
sein als in Bonn. ›In der Stadt ist man als Kleinfamilie ziem-
in ein bayerisches oder westfälisches Dorf kam, übernahm
lich isoliert‹, sagt Jan (der junge Familienvater). Nun wer-
gleich das Orgelspiel in der Dorfkirche, ein anderer wurde
den Eltern und Kinder bald die obere Etage des Fachwerk-
Trainer und Schiedsrichter im Sportverein. Die Kinder und
hauses beziehen. Oma Susanne wird unten wohnen. Das ei-
Enkel der Vertriebenengeneration gestalten heute längst in
gene Leben bestimmen, sich ausprobieren, Platz haben, das
Führungspositionen die Dorf- und Vereinspolitik mit oder
ist für Maggie und Jan wichtig. Ihre Kinder, so glauben sie,
leiten dörfliche Handwerks- und Gewerbebetriebe.
sind hier besser aufgehoben als in der Stadt. Sie träumen
Etwa seit der Mitte der 1970er Jahre ist im ländlichen
132
davon, sich selbst zu versorgen, unabhängig zu sein.«102
Raum – zunächst vor allem in Westdeutschland, nun aber
Seit etwa zehn Jahren gibt es einen Trend, dass vor allem
auch in Ostdeutschland – ein neuer leichter Trend von Zu-
Künstler und Intellektuelle aufs Land ziehen. Die FAZ reibt
wanderungen aus städtischen Regionen zu beobachten,
sich verwundert die Augen: »Was ist nur los im Kulturbe-
während die Abwanderungen geringer werden. In diesen
trieb? Deutsche Charakterdarsteller wie Corinna Harfouch,
»freiwilligen« Zuwanderungen aufs Land spiegelt sich ei-
Matthias Schweighöfer und Nadeshda Brennicke ziehen
ne populäre Zeitströmung, die geprägt ist von einer gewis-
samt Familie auf verlassene Höfe in der Mark Brandenburg
sen Großstadtmüdigkeit der Bevölkerung und einer neuen
und geben Interviews über ihr neues Leben. Der Fernseh-
Wertschätzung der Natur und des »überschaubaren« Dor-
mann Dieter Moor betreibt mit seiner Frau einen Biobau-
fes. Gerade junge Familien mit kleinen Kindern entschei-
ernhof und lädt regelmäßig Elke Heidenreich, Berlins Bil-
den sich oft für das Landleben, obwohl der städtische Ar-
dungssenator Jürgen Zöllner und Ulla Kock am Brink zum
beitsplatz zum täglichen Pendeln zwingt. Annette Zinkant
Anpacken ein.«103 Nicht selten beschreiben die neuen Groß-
berichtet von einer Familie mit zwei kleinen Kindern und
stadtflüchter ihre Landsehnsucht in Büchern wie z. B. Die-
einer Oma, die von Bonn in den abgelegenen Weiler Lock-
ter Moor in »Geschichten aus der arschlochfreien Zone«
Das moderne Dorf
oder die Publizistin Hilal Sezgin104 in »Landleben. Von ei-
den Zeitraum der letzten 3–5 Jahre den Zuzug junger Fa-
ner, die raus zog«.
milien mit kleinen Kindern, die selbst kleine Dörfer auf-
Bei den Zuwanderern im ländlichen Raum handelt es
suchen und teilweise sogar aus den alten Bundesländern
sich häufig auch um Rückwanderer, die nach der Hauptar-
stammen (Gespräch am 30. 3. 2019). Offenbar spielen hier
beitsphase in der Stadt in den ländlichen Heimatort als Al-
die zuletzt stark ansteigenden Miet- und Immobilienpreise
tersruhesitz zurückkehren. Es gibt aber auch ökonomisch
in den Ballungsgebieten sowie die noch guten Chancen auf
orientierte Stadt-Land-Wanderungen. Durch die Entwick-
dem Land, ein preiswertes Eigenheim mit größerem Gar-
lung der modernen Kommunikationsmedien ist es zuneh-
ten zu erwerben, eine treibende Rolle.
mend für kleine Unternehmen, besonders aus dem Dienst-
Ein Problem mit zu viel Zuwanderung hat der ländliche
leistungsbereich, möglich und interessant, ihre Firmensitze
Raum im Umfeld der Großstädte und Ballungsgebiete.
aufs Land zu verlagern, wo schöne Gebäude und Grundstü-
Seit dem 19. Jahrhundert ist der ursprünglich ländlich ge-
cke preiswert zur Verfügung stehen.
prägte Raum in der Umgebung der neu entstehenden Groß-
Seit etwa fünf Jahren ist in vielen Landregionen Deutsch-
und Industriestädte einem starken und immer noch wach-
lands offenbar ein leichter Trend der Zuwanderung, insbe-
senden Wanderungsdruck ausgesetzt. Kleine Dörfer, z. B.
sondere durch junge Familien, zu beobachten. Dies betrifft
im Ruhrgebiet, um Berlin, Köln, Stuttgart oder München
nicht nur die bekannten »Speckgürtel« um die beliebten
herum, entwickelten sich in wenigen Jahrzehnten zu Mit-
Großstädte wie München, Stuttgart, Frankfurt oder Berlin.
tel- und Großstädten. Zahllose ländliche Siedlungen wur-
Auch in eher abgelegenen Regionen wie dem Kreis Greifs-
den von der rapiden Großstadtentwicklung förmlich auf-
wald-Vorpommern konstatiert Landrat Michael Sack für
gesaugt und überformt, sodass selbst die alten dörflichen Kerne heute kaum noch erkennbar sind. Auf den Gemarkungsflächen der ehemaligen Dörfer wurden immer neue Siedlungsgebiete ausgewiesen, die man dann »Trabanten-«, »Satelliten-« oder »Neue Städte« nannte. Außerdem entstanden hier neue Autobahnen, Krankenhäuser, Sportanlagen und Mülldeponien sowie die immer weiter in das Umland verlagerten Industrie- und Gewerbegebiete. Der ehemals ländliche Raum im Umfeld der Großstädte und Ballungsgebiete ist zu einem städtisch-ländlichen Mischraum geworden. Er besitzt weder die Vorteile des Dorfes noch die der Großstadt. Die sich zwischen Stadt und Land ausbreitenden Siedlungen besitzen häufig keine eigene Identität. Raum- und Stadtplaner sprechen von »Grauzonen« der Stadtentwicklung, die heute eher kritisch beurteilt werden. Man sieht überwiegend Verluste: auf der einen Seite die sich auflösende Stadt, auf der anderen die verstädterte Dorflandschaft. Der Stadtplaner Thomas Sieverts hat für diese städtisch-ländliche Mischzone den Begriff »Zwischenstadt« vorgeschlagen und damit lebhafte Diskussionen ausgelöst.105 Von der Raumordnung wird das stark überformte, ehemals ländliche Umland der Großstädte und Ballungsgebiete heute überwiegend dem verstädterten Raum zugeordnet. Die hier lebenden Menschen verstehen sich jedoch vielfach bis heute als Dorfbewohner und pflegen z. B. ihr »dörfliches« Brauchtum.106
Die Zuwanderungsstele in Veringenstadt erinnert an die großen Zuwanderungsphasen: im Mittelalter, im 30-jährigen Krieg und nach 1945.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
133
Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung? Die Bevölkerungsentwicklung auf dem Land von 1800 bis heute
Ist die natürliche oder »biologische« Bevölkerungs-
rungen ab, sie bleiben aber bis heute ein Merkmal der länd-
entwicklung nach Geburten und Sterbefällen auf dem
lichen Bevölkerungsentwicklung.
Land positiv oder negativ? Wie ist das Verhältnis der Zu- und Abwanderungen? Hat der ländliche Raum
Doch die Wanderungsbilanz bestimmt nur einen Teil der Bevölkerungsentwicklung auf dem Land. Auch auf die
in den letzten 150 Jahren generell an Bevölkerung
natürliche oder »biologische« Bevölkerungsentwicklung
gewonnen oder verloren? Wie wird die aktuelle
kommt es an. Diese ergibt sich aus der Differenz von Ge-
Schrumpfung der Bevölkerung das Land treffen?
burten und Sterbefällen in einem Jahr. Überwiegen die Ge-
Manche Besonderheiten bezüglich Altersaufbau,
burten, sprechen wir von Geburtenüberschuss oder natürli-
Geschlechterverteilung, Haushaltsgröße und Familien-
chem Bevölkerungswachstum. Dominieren die Sterbefälle,
stand prägen die Landbevölkerung im Vergleich zur
sprechen wir von Geburtendefizit oder natürlichem Bevöl-
Großstadtbevölkerung.
kerungsrückgang. Die gravierenden Veränderungen der natürlichen Be-
Die Bevölkerungsentwicklung des ländlichen Raumes
völkerungsentwicklung in Europa von 1800 bis heute wer-
oder eines einzelnen Dorfes setzt sich aus zwei verschiede-
den mit dem »Modell des demographischen Übergangs« be-
nen »Bewegungen« zusammen: Aus den Abwanderungen
schrieben (s. Abb. S. 135). Die Phase der Agrargesellschaft,
und Zuwanderungen innerhalb eines Zeitraums, meist ei-
die in Deutschland bis ins frühe 19. Jahrhundert dauerte,
nes Jahres, ergibt sich die Wanderungsbilanz, die positiv
war geprägt durch hohe Geburten- und Sterberaten und
oder negativ sein kann. Man spricht von Wanderungsge-
eine nahezu gleichbleibende Bevölkerungsentwicklung.
winnen oder -verlusten. Die Bilanz der Zu- und Abwande-
Danach hatten wir im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine
rungen ist für den ländlichen Raum generell – ebenso wie
lange (frühindustrielle) Phase mit starkem natürlichem
für die meisten Dörfer – extrem negativ. Allein in Deutsch-
Bevölkerungswachstum. Die Geburtenrate war und blieb
land dürfte das Land seit dem frühen 19. Jahrhundert etwa
hoch, die Sterberate sank rapide durch den medizinischen,
50 Mio. Menschen durch Wanderungen verloren haben. Die Hauptverlustphasen waren die Jahrzehnte von etwa 1850 bis zum Ersten Weltkrieg sowie die 1950er bis 1970er Jahre. Danach schwächten sich die Verluste durch Wande-
134
Das moderne Dorf
In Dörfern wie Reuden/Anhalt sind die Einwohnerzahlen seit 150 Jahren gleich geblieben. Sie haben oft eine homogene bauliche und soziale Struktur.
hygienischen,
wirtschaftlichen
und
politisch-sozialen
zahl von 3,4 pro Familie ermittelt, während zeitgleich die
Fortschritt. Erst im 20. Jahrhundert ging in Industriestaa-
deutsche Gesellschaft einen Wert von 1,3 aufwies.107 Insge-
ten wie Deutschland auch die Geburtenhäufigkeit zurück,
samt ist die relativ hohe Geburtenquote eine große Haben-
die Bevölkerung wuchs immer langsamer. In den zurück-
Seite des ländlichen Raumes. Sie trägt (noch) dazu bei, die
liegenden hundert Jahren ging die durchschnittliche Ge-
natürlichen Bevölkerungsverluste des Gesamtstaates abzu-
burtenzahl in Deutschland von rund 5,0 auf 1,59 (2016) je
schwächen.
. Seit 1972 überwiegen in Deutschland die
Aus den Bilanzen der Zu- und Abwanderungen sowie der
Sterbefälle die Geburten, man spricht von der postindustri-
Geburten und Sterbefälle ergeben sich in der Summe die
ellen Phase der Bevölkerungsentwicklung. Der Gesamtstaat
Gesamtveränderungen der Bevölkerungsentwicklung,
weist seitdem einen allmählich zunehmenden, natürlichen
die positiv oder negativ sein können. Weltweit ist die Be-
Bevölkerungsrückgang auf.
völkerung des ländlichen Raumes in den letzten 200 Jah-
Frau zurück
106a
Innerhalb des Staates zeigt die biologische Bevölke-
ren leicht angewachsen. Dies gilt auch für Deutschland. Die
rungsentwicklung allerdings erhebliche Unterschiede. Das
Geburtenüberschüsse waren also generell bisher in der Ge-
für die modernen Industriestaaten typische Absinken der
samtbilanz höher als die permanenten Wanderungsver-
Geburtenquote setzte in Deutschland in den Großstädten
luste. Das heißt, die meisten Dörfer weisen zwar erhebli-
bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, auf
che Wanderungsverluste, aber ebenso deutliche Geburten-
dem Land erst 50 bis 80 Jahre später, also ab der Mitte des
überschüsse auf, sodass sie in der Gesamtbilanz seit Beginn
20. Jahrhunderts. Bis heute ist die Geburtenquote in länd-
des 19. Jahrhunderts oder seit 1950 gewachsen sind. Ein typi-
lichen Gebieten höher als in den Großstädten. Fast alle
sches Beispiel: Das Dorf Hausen hatte im Jahr 1950 640 Ein-
Großstädte haben schon seit Jahrzehnten durch niedrige
wohner. Durch Wanderungen hat es in den letzten 60 Jah-
und sinkende Geburtenquoten einen natürlichen Bevölke-
ren insgesamt 410 Menschen verloren, aber 520 durch den
rungsrückgang, während die meisten ländlichen Regionen
Geburten-Sterbefall-Überschuss gewonnen. In seiner Ge-
immer noch Geburtenüberschüsse aufwiesen. Erst in jün-
samtbilanz ist das Dorf bis heute auf 750 Einwohner ange-
gerer Zeit verläuft auch auf dem Land die biologische Be-
wachsen. Wir können also zwei wesentliche Konstanten der
völkerungsentwicklung vielerorts negativ. Dennoch gibt es
ländlichen Bevölkerungsentwicklung seit etwa 200 Jah-
noch zahlreiche Dörfer und ländliche Regionen mit Gebur-
ren feststellen: Die Verluste durch Wanderungen sowie die
tenüberschüssen. Die höchste Geburtenquote in Deutschland hat derzeit der Landkreis Cloppenburg mit 2,01 Kindern je Frau (2016). Die Frage nach den Ursachen der relativ hohen Geburtenrate dort wie generell auf dem Land ist
Geburten und Todesfälle (pro 1000 EW/Jahr)
40 Geburtenrate
komplex und daher nicht einfach zu beantworten. Meist werden die traditionell größeren Familien (die als Vorbild dienen) und die engen Sozialkontakte genannt, die das
30
Aufziehen der Kinder erleichtern. Aber auch Werte wie Bodenständigkeit, naturnahes Leben, Traditionsdenken, Heimatbewusstsein und Solidarität zwischen den Generatio-
20
nen werden angeführt. Außerdem dürfte auch der relative Wohlstand auf dem Land, der vor allem in der hohen Eigentumsquote (Haus- und Grundbesitz) besteht, eine Rolle spielen. Dazu kommt in vielen ländlichen Regionen eine vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit. Die höchste Kinderzahl je Familie ist in Bauernfamilien anzutreffen. In einer Umfrage unter 154 landwirtschaftlichen Familien 2009 im Regierungsbezirk Stuttgart wurde eine Kinder-
Sterberate
Gesamtbevölkerung
Zeit
10 Phase 1 Agrarischer Bevölkerungsprozess
Phase 2 Frühindustrieller Bevölkerungsprozess
Phase 3 Bevölkerungsprozess des Industriezeitalters
Phase 4 Bevölkerungsprozess der fortgeschrittenen Industrieländer
Modell des demographischer Übergangs von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft
Bevölkerung – Soziales – Kultur
135
4000
4000
Anzahl der Einwohner
3500
3500
3000
3000
Typ A (Bad Wünnenberg)
bis heute durch Konstanz geprägt, nur unterbrochen durch den Flüchtlingsstrom nach 1945. Neben der Land- und Forstwirtschaft gibt es im Ort kaum Arbeitsplätze. Verallgemeinernd kann man feststellen, dass im Rück-
2500
2500
blick der letzten 200 Jahre vor allem die kleinen Dörfer
2000
2000
mit bis zu 500 Einwohnern – und mehr noch die Weiler
1500
1500
1000
1000
Typ B (Scharmede)
Typ C (Asseln) 500
500 0
0
1818
1850
1900
1950
2000
Bevölkerungsentwicklung ausgewählter Dörfer des Kreises Paderborn von 1818 bis 2020 Einwohnerzahlen – Asseln: 441 per 31. 12. 2019, Stadtverwaltung Lichtenau am 1. 2. 2020 – Bad Wünnenberg: 3788 per 1. 1. 2020, Stadtverwaltung Bad Wünnenberg am 1. 2. 2020 – Scharmede: 2612 per 1. 1. 2020, Stadtverwaltung Salzkotten am 1. 2. 2020
mit bis zu 200 Einwohnern – von Stagnation oder leichten Schrumpfungsprozessen betroffen sind. Dagegen haben die größeren Dörfer ab 500 oder 1000 Einwohnern überwiegend ein leichtes bis kräftiges Bevölkerungswachstum erfahren. Gegenwärtig dürfte nur noch ein kleiner Teil der deutschen Dörfer wachsen, der größte Teil befindet sich in einer Stagnationsphase, während ein erheblicher Teil schrumpft. Durch Einwohnerverluste leiden vor allem die abgelegenen Regionen in Ostdeutschland, aber auch in der Oberpfalz, in Nordhessen oder der Eifel. Für die Zukunft verweisen Bevölkerungsprognosen auf erhebliche räumliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland: Während im alten Bundesgebiet ländliche Regionen teil-
Zuwächse durch die natürliche Bevölkerungsentwick-
weise noch wachsen oder stagnieren, könnte die Entwick-
lung.
lung des ländlichen Raumes in den neuen Ländern von wei-
Im Detail zeigen sich allerdings innerhalb Deutschlands
136
teren Bevölkerungsverlusten geprägt sein.
erhebliche Unterschiede zwischen wachsenden, stagnie-
Der Anteil der Landbevölkerung an der Gesamtbevöl-
renden und rückläufigen Dörfern und ländlichen Regio-
kerung ist seit etwa 200 Jahren ständig gesunken. Dies ist
nen. Die meisten Dörfer in Deutschland haben ihren Bevöl-
eine global einheitliche Tendenz, die auch für Deutsch-
kerungsstand seit dem 19. Jahrhundert gehalten oder leicht
land gilt. Die Bevölkerung der Städte wächst also – durch
steigern können – trotz der hohen Abwanderungsraten und
die ständigen Wanderungsgewinne – schneller als die des
mancher Schwankungen. Aber selbst innerhalb ländlicher
ländlichen Raumes. Um 1800 lebten in Deutschland etwa
Regionen können die Entwicklungslinien der einzelnen
90 % der Bevölkerung im ländlichen Raum, heute sind es
Dörfer aus zahllosen Gründen sehr unterschiedlich verlau-
noch etwa 50 %. In Großstädten über 100 000 Einwohnern
fen. Schauen wir uns drei Beispiele mit ganz verschiedenen
lebten 1871 nur 4,8 % aller Einwohner Deutschlands, heute
Entwicklungen an, obwohl sie innerhalb eines Kreises lie-
sind es bereits 30,9 %.
gen (s. Abb. S. 136): Der Typ A (Bad Wünnenberg, Entfer-
Die schrumpfende Bevölkerung ist seit etwa 20 Jah-
nung zum Oberzentrum Paderborn 25 km) zeigt bis 1955
ren ein großes politisches Thema in Deutschland. Dies gilt
die fast typische Entwicklungskurve von abseits der Städte
auch für das Land. Gebäudeleerstände und Infrastruktur-
liegenden Agrarsiedlungen; seit 1960 erfolgt ein deutlicher
verluste (z. B. Schulschließungen) in Dörfern und Klein-
Bevölkerungsanstieg durch Tourismus und die gute Lage
städten sind überall zu beobachten oder stehen bevor. Un-
zum Autobahnkreuz A44/A33. Typ B (Scharmede, Entfer-
ter dem etwas irreführenden Stichwort »demographischer
nung zu Paderborn 8 km) kann schon in der zweiten Hälfte
Wandel« (den gibt es praktisch immer) werden die verschie-
des 19. Jahrhunderts durch die Lage an einer Eisenbahnlinie
denen Szenarien der Schrumpfung diskutiert, ein weiteres
mit Bahnhof eine stete Aufwärtsentwicklung aufweisen;
»Ausbluten« des ländlichen Raumes wollen Bundes-, Lan-
seit den 1950er Jahren entwickelt sich das Dorf zum Wohn-
des- und Kommunalpolitik verhindern. In vielen ländli-
vorort von Paderborn. Typ C (Asseln, Entfernung zu Pader-
chen Gemeinden und Kreisen finden angesichts des beste-
born 18 km) ist seit dem Bevölkerungshöchststand von 1850
henden oder bevorstehenden Bevölkerungsrückgangs »Zu-
Das moderne Dorf
kunftskonferenzen« statt. Manche Kommunen schreiten
vom Land zur Stadt. Landhaushalte sind größer als Stadt-
zu spektakulären Aktionen. So hat die schrumpfende Ge-
haushalte. Die durchschnittliche Haushaltsgröße lag in
meinde Hiddenhausen im nördlichen Westfalen 2007 das
Deutschland 2015 in kleineren ländlichen Gemeinden (bis
Förderprogramm »Jung kauft alt« aufgelegt (vgl. ausführ-
20 000 Einwohnern) bei 2,25 Personen, in Großstädten (über
licher im Kapitel »Leerstand« S. 263 ff.). Damit wurden bis-
500 000 Einwohner) dagegen bei 1,79 Personen.
her schon 150 junge Familien angelockt, alte Häuser in den
sonenhaushalte finden sich auf dem Lande deutlich weni-
110 a
Einper-
Dorfkernen zu übernehmen, anstatt auf der grünen Wiese
ger als in den Großstädten, sie machen in den kleineren
ein Eigenheim zu bauen. Seitdem gibt es mehr Zu- als Weg-
Gemeinden 34 % aus, in den Großstädten etwa 53 % aller
züge in Hiddenhausen.108 Der Bürgermeister von Poseritz
Haushalte. Mehrpersonenhaushalte (mit drei und mehr Per-
auf Rügen, Michael Burmeister, fördert jeden Nachwuchs
sonen) umfassen in den kleineren Gemeinden rund 30 %, in
in seiner Gemeinde mit einem »Babygeld« von 500 Euro aus
den Großstädten nur noch 18,5 % aller Haushalte.
der eigenen Tasche. Sein Motiv: »Wer sich in dieser schwie-
Auch im Familienstand spiegeln sich die sozialen und
rigen Zeit für ein Kind entscheidet, dem soll die Kommune
wirtschaftlichen Wertvorstellungen der Bevölkerung. Die
auch mal die Wertschätzung ausdrücken.« Der Bürgermeis-
ländliche Bevölkerung hat neben der höheren Kinderzahl
ter möchte vor allem erreichen, dass die Kindertagesstätte
auch eine geringere Scheidungshäufigkeit, die Berufsgrup-
im Ort bleibt. Derzeit sind dort knapp 20 Kinder, und so
pe mit der geringsten Scheidungshäufigkeit ist die Land-
viel sollten es möglichst auch in Zukunft sein.109
wirtsfamilie. Zur Stabilisierung ländlicher bzw. landwirt-
Wichtige Aussagen zur Landbevölkerung geben uns die
schaftlicher Ehen tragen u. a. gemeinsame Besitz- und Er-
demographischen Merkmale Altersaufbau, Geschlechter-
werbsinteressen, die engen sozialen Netzwerke der Ver-
verhältnis, Haushaltsstruktur und Familienstand:
wandt- und Nachbarschaften, der noch vorhandene Einfluss
Im Altersaufbau der Bevölkerung sind weltweit Un-
der Kirchen sowie ein konservatives Wertebewusstsein bei.
terschiede zwischen Stadt und Land festzustellen. Ein wesentliches Merkmal sind die höheren Geburtenquoten auf dem Land, obwohl auch sie stärker zurückgehen. Die Altersgruppen bis zu 15 Jahren sind auf dem Land überdurchschnittlich stark, die ab 25 Jahren deutlich schwächer als in den Großstädten vertreten.110 Hier schlagen die Land-StadtWanderungen der jungen Generation zu Buche. Diese »demographische Schere« im Altersaufbau von Stadt- und Landbevölkerungen – zwischen den jungen und mittleren Jahrgängen – führt bisweilen zum Nachdenken über die Verteilung der sozialpolitischen »Kosten« auf Stadt und Land. Das Land als demographischer Produzent, die Stadt als dessen Nutznießer. Dies wäre die verkürzte Kosten-Nutzen-Formel, über deren Ausgleich Wissenschaftler und Politiker bisweilen nachdenken. Im Verhältnis der Geschlechter gibt es ebenfalls Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerungen. In deutschen Städten ist der Frauenüberschuss permanent höher als in den Landgemeinden. Der Hauptgrund für dieses Ungleichgewicht sind die größeren Abwanderungsverluste von jungen Frauen, die auf dem Land geringere Alternativen an Arbeitsplätzen vorfinden als Männer. Auch die Haushaltsstruktur offenbart Unterschiede Die große Mehrheit der deutschen Dörfer ist seit 1850 gewachsen. Nicht wenige haben ihre Einwohnerzahlen vervielfacht, das Dorf Scharmede sogar verachtfacht!
Bevölkerung – Soziales – Kultur
137
Alt- und Neudörfler, Ober- und Unterschicht Zur sozialen Gliederung der ländlichen Bevölkerung
Welche sozialen Gruppen und Schichten finden sich
Mittelbauern, Großbauern und Gutsbesitzer. Im Kern ste-
im Dorf? Wer ist ein typischer Dorfbewohner und wie
hen die bäuerlichen Familienwirtschaften, die ihren Be-
ist er sozial »eingeordnet« – sei es im Jahr 1800 oder
trieb allein oder doch überwiegend mit Familienarbeits-
heute? Der Großbauer oder der Handwerksgeselle,
kräften bewirtschaften. Die landverbundene Bevölkerung
der Pastor oder die Kindergärtnerin, der Gastwirt oder
besteht aus Neben- und Zuerwerbslandwirten sowie Land-
die Hausfrau, die eine Großfamilie versorgt, der Lehrer
arbeitern. Wir finden hier alle Schattierungen vom soli-
oder der Knecht bzw. Landarbeiter, der Rentner oder
den mittelbäuerlichen Zuerwerbsbetrieb bis zum kleins-
die Schülerin, der adlige Gutsherr, dessen Vorfahren
ten Nebenerwerbslandwirt und schließlich zum landlo-
das Dorf vor 600 Jahren begründeten, oder der gerade
sen Landarbeiter, der in der Land- oder Forstwirtschaft tätig
zugezogene Finanzbeamte, der ein schmuckes Ein-
ist. Häufig hat die landverbundene Bevölkerung ihren zu-
familienhaus am Dorfrand bewohnt?
sätzlichen Arbeitsplatz außerhalb des dörflichen Wohnortes. Zur Gruppe der landbewohnenden Bevölkerung gehö-
Die Eingangsfragen zur sozialen Gliederung der Landbe-
ren alle Personen, die kein Land (oder lediglich bis 0,5 ha)
völkerung sind nicht leicht zu beantworten. Das Dorf war
besitzen und bewirtschaften und auch beruflich nicht in
und ist ein überaus komplexes Gebilde, vielfältig gegliedert
der Land- und Forstwirtschaft tätig sind. Auch dieser Be-
und geschichtet. Gute Einblicke in die innere Gliederung
wohnerkreis ist sozial und wirtschaftlich sehr vielfältig. Zu
des Dorfes ergeben sich durch drei Fragen: nach dem Ver-
ihm zählen sowohl die Eigenheimbesitzer, die ihren klei-
hältnis der Wohnbevölkerung zur Landwirtschaft, nach der
nen Bodenbesitz z. T. sehr intensiv gartenbaulich nutzen, als
Wohndauer im Dorf sowie nach der sozialen Schichtung.
auch Personen wie Rentner oder Mieter, die keine unmit-
Die traditionelle Methode zur Gliederung der ländlichen Bevölkerung orientiert sich an ihrem Verhältnis zur
telbare Beziehung zum Boden besitzen und sich vielleicht auch geistig nicht als Landbewohner fühlen.
Landwirtschaft. Sie unterscheidet drei Gruppen: die land-
Für das Jahr 1850 dürfen wir auf dem Land deutsch-
wirtschaftliche, die landverbundene und die landbewoh-
landweit einen Anteil der landwirtschaftlichen und land-
nende Bevölkerung. Die landwirtschaftliche Bevölkerung betreibt Landwirtschaft hauptberuflich und selbstständig. Zu dieser Gruppe gehören die Vollerwerbsbetriebe der
138
Das moderne Dorf
Abbildung oben: In den modernen Neubausiedlungen am Dorfrand finden sich alt eingesessene und zugezogene Familien.
verbundenen Bevölkerung von etwa 90 % annehmen, le-
von Albert Ilien über das katholische schwäbische Acker-
diglich 10 % der Landbewohner gehörten damals also zur
bauerndorf Hausen aus den späten 1970er Jahren anschaut.
nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung. Im Jahr 1960 er-
Damals entschieden noch die traditionellen Kriterien wie
gab sich für die Landbevölkerung in Deutschland bereits
Ortsansässigkeit, Konfession und Familienstand über die
ein völlig anderes Bild: 12 % landwirtschaftliche Bevölke-
sozialen Rangplätze im Dorf. An der Spitze der sozialen
rung, 20 % landverbundene Bevölkerung und 68 % landbe-
Rangordnung standen neben den zugezogenen dörflichen
wohnende Bevölkerung. Mehr als zwei Drittel der Landbe-
Autoritätspersonen wie Lehrer oder Pfarrer die älteren ein-
völkerung hatte somit bereits vor 50 Jahren mit der Land-
heimischen katholischen Ehepaare. Es folgten die jüngeren
wirtschaft nichts mehr zu tun. Seitdem hat der Anteil der
einheimischen katholischen Ehepaare und dann die zuge-
landbewohnenden Bevölkerung noch einmal kräftig zu-
zogenen katholischen Ehepaare. Erst danach kamen jün-
genommen und liegt heute bei gut 90 %. In den zurücklie-
gere Ehepaare mit zugezogenem evangelischem Partner
genden 160 Jahren hat sich damit das Verhältnis von land-
und schließlich zugezogene evangelische Ehepaare und äl-
bewirtschaftender zu landbewohnender Bevölkerung auf
tere Ledige des Ortes. Noch ohne Rangplatz waren die frisch
dem Land genau umgekehrt.
zugezogenen Akademiker und Gastarbeiter.
Die soziale Gliederung der Bevölkerung nach der Wohn-
In nahezu allen Gesellschaften sind soziale Schichtun-
dauer im Dorf zielt auf die Unterschiede zwischen den Ein-
gen, d. h. ein »Übereinander« sozialer Gruppierungen, zu
heimischen und den Zugezogenen ab. In der Soziologie
beobachten. Dies gilt auch für das Dorf. Im Rückblick auf
spricht man auch von »Altdörflern« und »Neudörflern«,
die letzten zwei Jahrhunderte lassen sich die gravierenden
wobei selten definiert wird, wo genau die Übergänge zwi-
Unterschiede zwischen den Sozialschichtungen der frü-
schen diesen Gruppen liegen. Altdörfler sind ortsansäs-
heren Agrar- und der heutigen Industrie- und Dienstleis-
sig seit Geburt, meist Bauern oder Handwerker und ha-
tungsgesellschaft gegenüberstellen. Die ländliche Sozial-
ben häufig (noch) ihren Arbeitsplatz im Dorf. Sie bilden
ordnung der Agrargesellschaft hatte im Wesentlichen bis
die konservative Lokalmacht und sind vielfach in der Kom-
zu den Agrarreformen im mittleren und späten 19. Jahr-
munal- und Vereinspolitik aktiv. Neudörfler hingegen
hundert Bestand. Sie unterschied allgemein drei Schich-
sind Zugezogene, nicht selten Akademiker, die sehr unter-
ten: die Oberschicht der Herren, die Mittelschicht der
schiedlich sozial integriert sind. Einige schaffen dies rela-
Bauern und die Unterschicht der Dienenden. Es herrschte
tiv schnell durch Teilnahme am Vereins- oder Kirchenle-
eine Ständegesellschaft mit klarer Hierarchie. Die ökono-
ben, andere über die Freundeskreise der Kinder. Ein Rest hat
mische und soziale Herkunft bestimmte die Zuordnung in
nur wenig sichtbare dörfliche Kontakte. Mit der Länge der
den jeweiligen Stand, Aufstiege in höhere Schichten waren
Ansässigkeit nehmen erfahrungsgemäß die ländlichen und
kaum möglich.
ortstypischen Verhaltensweisen zu. Die alteingesessenen Dorfbewohner, d. h. sowohl die Ortsgebürtigen als auch Alteingesessene Bevölkerung: Handwerker und/oder Industriearbeiter und ihr Umfeld (ab etwa Mitte des 19. Jh.)
die Zugezogenen aus anderen ländlichen Regionen, weisen übereinstimmende traditionelle Verhaltensmerkmale z. B. bei der Eheschließung, Familienstruktur, Kinderzahl und religiösen Bindung oder im Freizeitverhalten auf. Dagegen zeigen die aus Städten Zugezogenen oft ein stärkeres Maß an urbaner Lebensart. Vom Zahlen- und Kräfteverhältnis dieser beiden Gruppen hängt es ab, ob die Bevölkerung eines Dorfes eher ländlich oder eher städtisch geprägt ist. Die früher strengen sozialen Abgrenzungen zwischen Alt- und Neudörflern haben in den letzten Jahrzehnten zu-
Bäuerliche Bevölkerung und ihr Umfeld
Nach 1944/45 Zugezogene: Heimatvertriebene und Flüchtlinge; heute weitgehend mit den Alteingesessenen integriert Nach 1970 zugezogene Bevölkerung, seit etwa 1985 Aus- und Übersiedler, Migranten; z. T. stark, z. T. wenig um Integration zu den Alteingesessenen bemüht
nehmend an Gewicht verloren. So ist man heute geneigt zu schmunzeln, wenn man sich die klassische Dorfstudie
Modell einer historisch gewachsenen Dorfgemeinschaft
Bevölkerung – Soziales – Kultur
139
Die soziale Schichtung der Dorfbevölkerung in Ober-, Mittel- und Unterschichten war früher stärker ausgeprägt als heute. Zur dörflichen Mittel- und Oberschicht gehörte wohl diese historische Jagdgesellschaft von 1913.
Zur ländlichen Oberschicht bzw. Herrenschicht gehör-
140
Lebensunterhalt aber hauptsächlich durch Tagelöhnertä-
ten vor allem der Adel und der Klerus. Sie ließen ihr Land
tigkeit bestritten. Zur Unterschicht zählten außerdem die
weitgehend durch andere bewirtschaften. Als Grundherren
besitzlosen Hausgenossen, die bei Bauern oder Häuslern
besaßen sie dreifache Rechte gegenüber den Bauern: das
zur Miete wohnten, und das sog. »Gesinde« der Knechte
Obereigentum am Boden, in der Regel die »Leibherrschaft«
und Mägde, die stets im Haushalt der Bauern lebten und
über die Personen sowie die Gerichtsherrschaft zur Bewah-
arbeiteten. Zur ländlichen Unterschicht gehörte auch die
rung der bestehenden Rechtsordnung.
gar nicht so kleine Gruppe der Landstreicher, Armen und
Die ländliche Mittelschicht wurde hauptsächlich durch
Bettler. Die meist in größter Abhängigkeit lebende länd-
den Stand der – hörigen, aber landbesitzenden und -nut-
liche Unterschicht suchte den wirtschaftlichen und sozia-
zenden – Bauern ausgefüllt. Je nach Größenordnung der
len Aufstieg häufig durch nicht landwirtschaftliche Tätig-
Betriebe wird zwischen oberen, mittleren und unteren
keiten im Handwerk und Handel. Zahlenmäßig waren die
bäuerlichen Schichten unterschieden.
ländlichen Unterschichten den bäuerlichen Mittelschich-
Unterhalb der bäuerlichen Schicht entwickelte sich be-
ten überlegen. Noch im Jahr 1907 gab es in Deutschland
reits seit dem Mittelalter – durch Realteilung und Bevöl-
7,3 Mio. Landarbeiter, das waren immerhin 74 % aller land-
kerungswachstum – die ländliche Unterschicht. Ihre An-
wirtschaftlichen Erwerbspersonen.
gehörigen waren einmal die Häusler, Kötter oder Brinksit-
Insgesamt zeigte die Sozialschichtung der ländlichen
zer (verschiedene regionale Bezeichnungen für dörfliche
Bevölkerung das Bild einer Pyramide mit einem erhebli-
Hausbesitzer ohne eigenes Ackerland), die ein kleines Haus
chen Ungleichgewicht zwischen der Oberschicht und der
und etwas Gartenland zur Bewirtschaftung besaßen, ihren
Mittel- und Unterschicht: Einer schmalen Spitze der Ober-
Das moderne Dorf
schicht (ca. 10 %) stand als breiter Sockel die Mittel- und
rung, war zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
Unterschicht (ca. 90 %) gegenüber. Ein Vergleich der länd-
derts überwiegend sehr schwierig. Die meisten bäuerlichen
lichen mit der städtischen Gesellschaft im frühen 19. Jahr-
Höfe standen unter der ständigen Belastung der drücken-
hundert macht deutlich, dass im städtischen Bereich die
den Abgaben sowie Hand- und Spanndienste oder deren
Mittelschicht der Bürger gegenüber der Oberschicht erheb-
Ablösung. Nach starken Ernteschwankungen bei Kartof-
lich stärker ausgeprägt war als auf dem Land.
feln, Getreide oder Kohl kam es besonders in den 1840er
Unterschiede in der Sozialschichtung der Bevölkerung
Jahren mehrfach zu Hungerkrisen. Diese waren nicht zu-
gab es zwischen Gutsdörfern und Bauerndörfern. In den
letzt Auslöser von Bauernrevolten gegen die Grundherr-
Gutsdörfern fehlte zwischen den Gutsherren und den
schaften und verstärkten die Abwanderungswellen. Das
Landarbeitern die Mittelschicht. In Bauerndörfern herrsch-
Phänomen der Landarmut war im 19. Jahrhundert, das in
ten grundlegende Unterschiede nach dem jeweils vorherr-
der Kunst und Literatur vielfach auch verklärt dargestellt
schenden Erbrecht zwischen den Anerben- und den Real-
wird, noch weit verbreitet.
teilungsgebieten. In Anerbendörfern, wo landwirtschaft-
Die starren traditionellen Sozialschichtungen der Ag-
licher Besitz ungeteilt vererbt wurde, spricht man vom
rargesellschaft, die auf Besitz und Herkunft basierten, ha-
»organischen« Schichtenaufbau, sofern klein- und mittel-
ben sich bis heute weitgehend aufgelöst. Die Entwicklung
bäuerliche Betriebe dominierten. In Dörfern mit Realtei-
begann langsam um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Indus-
lung war die Sozialschichtung durch die ständigen Besitz-
trialisierung, Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit und all-
teilungen eher nivelliert, außerdem gab es hier durch häu-
gemeine politische Liberalisierung und Demokratisie-
fige Besitzveränderungen eine höhere soziale Mobilität.
111
rung waren die wichtigsten Antriebskräfte. Aus der gro-
Die soziale und wirtschaftliche Lage der Mittel- und
ßen Masse abhängiger Bauern entwickelte sich ein freier
Unterschichten, d. h. der großen Masse der Landbevölke-
und selbstbewusster Berufsstand. Aber auch die klein- und
Das Gemälde »Das kärgliche Mahl« von Jozef Israels aus dem Jahre 1876 zeigt uns einen Ausschnitt aus dem Leben einer Bauernfamilie. Die Atmosphäre des Bildes will offenbar die Armut und Dumpfheit des Landlebens vermitteln.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
141
dann in wenigen Jahrzehnten vor allem durch die wirtschaftlichen Schrumpfungsprozesse in der Landwirtschaft, wobei die Bauern ihre dominierende Rolle in der Mittelschicht des Dorfes allmählich verloren. Die alten Eliten in Landwirtschaft und Handwerk, die traditionell in der Kommunalpolitik und im Kirchenvorstand eine führende Rolle spielten, brachen vielfach weg. Auch die frühere Oberschicht hat auf dem Land stark an Gewicht eingebüßt. Gerade die ehemaligen Unterschichten haben durch ihre Mobilität das Schichtengefüge der Landbevölkerung verändert. Sie konnten über die Ausbildung zum Facharbeiter und Angestellten oder als Beamte in die Mittelschicht aufsteigen. Im Vergleich zur Agrargesellschaft hat sich also gerade die Mittelschicht stark verändert und ist erheblich angewachsen. Sie prägt nun, z. B. in Form der sehr hohen Eigenheimquote sowie der ausgeprägten Nachbarschaftsund Verwandtschaftshilfe, das Sozialgefüge des Dorfes. Heute dienen auch auf dem Land vor allem die Merkmale Einkommen, Beruf, Bildung und Freizeitverhalten als Maßstäbe der Schichtenzuordnung. Als wichtigste Träger sozialer Veränderungen erweisen sich seit den 1960er Jahren die Auspendler, die städtische Verhaltensnormen in den ländlichen Wohnort übertragen. Allerdings bestehen erhebliche Unterschiede zwischen stadtnahen und abgelegeneren Dörfern. Während in ersteren eher die neuen Schichtungskriterien dominieren, sind es in letzteren vielfach noch die überlieferten Merkmale. In den meisten ländlichen Siedlungen existieren heute sogar zwei Schichtungsprinzipien nebeneinander: das am Grundbesitz orientierte Schichtengefüge, in dem den Zugezogenen vielfach (zunächst) gar kein Status zugebilligt wird, sowie das am
In den Dorfkernen – wie hier in Zainingen auf der Schwäbischen Alb – wohnten traditionell die alteingesessenen Familien in ihren großen Bauern-, Handwerker- und Geschäftshäusern. Inzwischen ist die Sozialstruktur auch hier durch Zuzug gemischter geworden.
Beruf, Einkommen und Freizeitverhalten ausgerichtete
unterbäuerliche Schicht erhielt starken Auftrieb. Manche
ges hat sich heute auf dem Land eine breite, beruflich und
Kleinstbauern oder Tagelöhner konnten sich als Dorfhand-
sozial stark differenzierte Mittelstandsgesellschaft heraus-
werker oder Händler selbstständig machen.
gebildet. Ober- und Unterschichten spielen gegenwärtig in
Schichtengefüge der Moderne, das gerade auch die neuen Dorfbewohner sofort respektiert und einordnet. Anstelle des früher starren dreistufigen Schichtengefü-
Dennoch hatte die traditionelle Dorfhierarchie vielerorts noch bis in die 1950er Jahre Bestand. Sie zerbröckelte
142
Das moderne Dorf
den Dörfern – im Gegensatz zu früher – generell eine eher untergeordnete Rolle.
Macht das Landleben glücklich? Die Kerneigenschaften »Ortsbezogenheit« und »Zufriedenheit«
Dorfbewohner »hängen« an ihrem Ort – auch wenn sie
einstecken mussten. Ich habe es in den 1950er Jahren noch
zum Arbeiten oder Einkaufen regelmäßig in die Stadt
selbst erfahren. In anderen Regionen mussten junge Män-
fahren. Außerdem sind sie in der Regel hochgradig mit
ner, die in einem fremden Dorf mit einem Mädchen an-
ihrem ländlich-lokalen Lebensumfeld zufrieden. Wie
bändeln wollten, an die dortigen Altersgenossen ein sog.
ist das zu erklären? Ortsbezogenheit und Zufriedenheit
»Jagdgeld« entrichten, quasi als Gebühr für das Eindringen
sind emotionale Kraftquellen für viele Dorfbewohner.
in ein fremdes Hoheitsgebiet. Diese Zeiten sind heute wei-
Und darüber hinaus ein weicher Wirtschaftsfaktor,
testgehend Geschichte. Der kritisch beobachtende Blick auf
weswegen sich Unternehmen gern im ländlichen Raum
das Nachbardorf ist jedoch geblieben. »Duelle« von Nach-
ansiedeln.
bardörfern spielen heute allenfalls noch beim Zusammentreffen der Fußball-, Handball- oder Tischtennismann-
Kein soziales System kann existieren ohne räumlichen Be-
schaften in der Kreisliga eine Rolle. Die Hochschätzung
zug. Dies gilt in besonderem Maße für die bodenabhängi-
und Bewahrung des lokalen Territoriums wird manchmal
gen und bodennahen ländlichen Gesellschaften. Die Bezie-
als »Kirchturmspolitik« negativ bewertet. Doch man sollte
hung der Bevölkerung zu ihrem Wohnumfeld oder Wohn-
diesen Begriff auch positiv sehen. Die lokale Identifika-
ort bezeichnet man als »Ortsbezogenheit« oder »lokale
tion ist wahrscheinlich eine der wesentlichen Kraftquellen
Identifikation«. Dies bedeutet vertraut zu sein, sich hei-
für die vielfältigen Engagements der Dorfbewohner in der
misch zu fühlen, Bescheid zu wissen, sich sicher zu fühlen,
Kommunalpolitik sowie in den traditionellen Dorfverei-
zufrieden zu sein. Die Identifikation mit einem Dorf zeigt
nen oder neuen Bürgervereinen.
also an, dass der Bewohner ein inneres Verhältnis dazu hat, dass es »sein« Ort ist.
Die emotionale Ortsbezogenheit, man nennt es auch Heimatgefühl, entwickelt sich aus den persönlichen und
Die Ortsbezogenheit hat sowohl abgrenzende als auch
gemeinsamen Erlebnissen im eigenen Dorf. Hier spie-
positiv emotionale Aspekte. Die Abgrenzung und Riva-
len Erinnerungen an Orte und Begebenheiten eine große
lität gegenüber Nachbardörfern (analog dem Revier im
Rolle: an Elternhaus, Schule, Kirche, Friedhof, Spielplätze,
Tierleben) hat auf dem Land eine lange Tradition. Sie war in manchen ländlichen Gebieten so stark, dass junge Burschen, die sich in ein benachbartes Dorf wagten, Prügel
Abbildung oben: Beim Dorfjubiläum 800 Jahre Gesseln zeigen vier Kinder mit Freude und Stolz ihr Herz für den Heimatort.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
143
In Veringenstadt wurden mehrfach bedeutende Ereignisse aus der Ortsgeschichte in Historienspielen öffentlich dargestellt: hier das Spiel »Malkunst um 1500«, das die Erinnerung an die berühmte lokale Malerfamilie Strüb lebendig hält.
144
Tanzsaal, an Feste und Freundschaften oder auch Unfälle
zur Ortsbezogenheit durchgeführt. Auf die Frage nach ih-
und Krankheiten. Man erinnert sich an die Zeiten als Mess-
rem Wohnort nach Wunsch bezeichneten jeweils zwischen
diener, den ersten Auftritt im Jugendorchester des Musik-
85 und 90 % der Befragten das Dorf als den bevorzugten
vereins, an die Kreismeisterschaft im Fußball oder das erste
Wohnorttyp, der Rest favorisierte die Kleinstadt.112 In ei-
Schützenfest. Man kennt wichtige Ereignisse aus der Dorf-
ner kürzlichen 1Live-Umfrage unter jungen Leuten wurde
geschichte: Dorfbrände oder Überschwemmungen, den
die Frage gestellt: »Was findet Ihr besser: Leben in der Stadt
Bau der Dorfkirche, des Bahnhofs oder des Wasserturms.
oder Leben auf dem Dorf?« Gut zwei Drittel der antworten-
Man weiß, welche Dorfvereine im Moment besonders aktiv
den jungen Leute bevorzugten das Leben auf dem Land!
oder erfolgreich sind, und ist stolz darauf. Die starke emo-
Was sind die Gründe für eine derart starke emotionale
tionale Bindung an das Dorf fördert die Bereitschaft vie-
Ortsbezogenheit? Bei unseren Umfragen in Elsoff wurde
ler Dorfbewohner, jetzt oder später etwas für den eigenen
jeweils die Frage gestellt, welche ortstypischen Merkmale
Ort zu tun.
oder Umstände bei einem eventuellen Wegzug aus Elsoff
Doch kann man den Grad der lokalen Identifikation
wohl am meisten vermisst würden. Eindeutig an erster
messen? So wurden in dem etwas abgelegenen Dorf Elsoff
Stelle stand die lokale Landschaft. Diese Einschätzung
(Kreis Siegen in Nordrhein-Westfalen, etwa 850 Einwoh-
überrascht, da man diese Hochschätzung eher bei städti-
ner) in den letzten 30 Jahren mehrfach Untersuchungen
schen Besuchern erwartet hätte. Den Dorfbewohnern ist
Das moderne Dorf
also der Wert ihrer landschaftlichen Umgebung durchaus
Die lokale Identität wird in vielen Dörfern gepflegt.
bewusst. Auf den nächsten Rangstufen folgten jeweils die
Zahlreiche Vereine und Aktivgruppen befassen sich mit der
sozial-kommunikativen »Werte« wie Nachbarn, Verwandte
Geschichte, Kultur und Natur ihres Ortes. Sie dokumentie-
und Vereine, deren Vorteile man ebenso einzuschätzen
ren historische Begebenheiten, erklären den geologischen
weiß. Die starke Ortsbezogenheit der Dorfbewohner wurde
Untergrund oder die frühere und heutige Bedeutung des
zusammenfassend bestätigt mit der Frage, wie man sich
Dorfbaches. Wie kaum ein Zweiter hat Erwin Zillenbiller
selbst bezeichnen würde. 81 % bezeichneten sich als »Elsof-
die Geschichte und Natur seines Heimatortes Veringen-
fer« (obwohl man ja längst in einer Großgemeinde aufge-
stadt für die Dorfbevölkerung konkret aufgearbeitet und
gangen ist). 71 % fühlten sich zusätzlich als »Wittgenstei-
dokumentiert.113 Sein Hauptanliegen ist die Wertschätzung
ner«, obwohl der alte Kreis Wittgenstein bereits 1975 dem
der Bewohner für ihr Dorf: »Je anschaulicher wir die Be-
Kreis Siegen zugeschlagen wurde. Man identifiziert sich
wohner in die Tiefen ihrer Herkunft, der Entstehung ihrer
also mit dem Heimatdorf, auch wenn dieses durch Gebiets-
Kulturlandschaft als Lebensraum und ihres Dorfes als Sozi-
reformen kommunalpolitisch »abgeschafft« wurde, und
alraum blicken lassen, umso mehr gedeiht Mitverantwor-
der nahen, altgewohnten Region, auch wenn diese durch
tung für Wertschätzung, Erhalt und Pflege des Heimator-
ihre Mittelgebirgs- und Verkehrslage vielfach benachteiligt
tes. Unverwechselbare Orte der Erinnerung, der Begegnung,
ist. Alle Maßnahmen, die zur Störung dieser Identifikation
des Verweilens sowie heimelige Atmosphäre im Raumge-
beitragen können, werden von der Bevölkerung mit größ-
füge von Plätzen und Straßen sind Marksteine der Identi-
ter Skepsis betrachtet. So wird die Eingemeindung Elsoffs
tätsfindung.«114
im Zuge der kommunalen Gebietsreform 1975 bis heute weitgehend abgelehnt.
In enger Beziehung zur Ortsbezogenheit steht die Zufriedenheit der Bewohner mit ihrem Wohnort bzw. Wohn-
In Ströbeck in Sachsen-Anhalt kann man auf eine jahrhundertelange Schachgeschichte zurückblicken. Das »Schachdorf Ströbeck« pflegt diese Tradition, wie hier durch lebende Schachensembles auf dem gepflasterten Schachfeld in der Dorfmitte.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
145
»Wo leben die Menschen glücklicher: auf dem Land oder in der Stadt?« besteht in der Gesamtbevölkerung eine recht große Einigkeit: Von den Großstadtbewohnern votierten 23 % für das Land und 13 für das Land, bei den Klein- und Mittelstadtbewohnern gaben 38 % dem Land ihren Vorzug und nur 6 % der Stadt, von den Landbewohnern entschieden sich 54 % für das Land und nur 3 % für die Stadt. 114a Das Leben auf dem Land steht an der Spitze der Wohnwünsche der Bundesbürger. Auf die Frage, wo sie – unabhängig von ihrer finanziellen Situation oder anderen Rahmenbedingungen – am liebsten wohnen würden, sagen 45 % der Bürger, dass sie eine ländliche Gemeinde wählen würden. Jeder Dritte (33 %) würde sich für eine Klein- oder Mittelstadt entscheiden, und nur jeder Fünfte (21 %) für eine Großstadt. Besonders attraktiv ist das Wohnen auf dem Lande für Personen ab 30 Jahren.114b Auch in Holland ergaben Umfragen ein ähnliches Bild: Die Mehrheit der niederländischen Großstadtbewohner möchte, wenn möglich, in einem Dorf wohnen. Dagegen sind drei Viertel der Befragten auf dem Land sehr zufrieden und wollen nicht weg aus ihren Dörfern.115 Die Gründe für die Zufriedenheit der Landbewohner sind nicht leicht zu ermitteln und zu benennen. (Obwohl schon zahllose Philosophen und Poeten seit der Antike immer wieder darüber nachgedacht und geschrieben haben.) Vielleicht ist es schlicht das überschaubare, »einfache«, ruhige, naturnahe, sozial engere Leben in einer immer komNach der Olympiade in Vancouver 2010 wird Olympiasiegerin Magdalena Neuner in ihrem Heimatdorf Wallgau in Oberbayern empfangen.
plizierteren, anonymeren und schnelleren Welt. Das lokale Verortetsein im Kleinen, das Halt gibt. Das Dorf bietet offenbar die Chance einer archaischen menschlichen Lebens-
umfeld. Seit Jahrzehnten wird in repräsentativen Umfra-
146
form.
gen immer wieder bestätigt: In der Gunst der Menschen hat
Eine interessante Facette der Zufriedenheit ist kürzlich
das Land seit vielen Jahren und sogar zunehmend ein gu-
in einer Studie der Universität Münster herausgearbeitet
tes Image. Auch die konkrete Zufriedenheit der Bewohner
worden: die Sicherheit im Wohnumfeld, die von der Be-
mit ihrer räumlichen Umgebung ist auf dem Land deutlich
völkerung als ein wichtiger Vorteil des Landlebens ange-
größer als in der Stadt. Auf die Frage des Allensbacher Insti-
sehen wird. Laut Polizeistatistik haben wir auf dem Land
tutes »Wo haben die Menschen Ihrer Ansicht nach ganz all-
eine geringere Kriminalitätsdichte und eine höhere Auf-
gemein mehr vom Leben: auf dem Land oder in der Stadt?«
klärungsquote bei Verbrechen. Außerdem weiß man heute,
entschieden sich im Jahre 1956 noch 59 % für die Stadt und
dass die zufriedenen Einwohner ein weicher Wirtschafts-
nur 19 % für das Land. Als die Frage 1977 wiederholt wurde,
faktor des ländlichen Raumes sind.
hatten sich die Antworten deutlich verändert. Nun spra-
Die emotionale Ortsbezogenheit und die Zufriedenheit
chen sich bereits 43 % für das Land aus und 39 % für die
der Landbevölkerung besitzen also eine überwiegend posi-
Stadt, 2014 waren es 40 % für das Land und nur noch 21 %
tive Qualität. Dies wird manche erstaunen, zumal der länd-
für die Stadt. Bei der Beantwortung einer weiteren Frage
liche Raum nicht selten mit Schlagworten wie »sterben-
Das moderne Dorf
der Raum« oder »Armenhaus der Nation« tituliert wird. Es
Heimat ist auch ein politischer Begriff. Beim Streit um
zeigt sich auch hier die häufig zu beobachtende Diskrepanz
die Heimat geht es um die Bewertung unterschiedlicher
zwischen der Binnensicht des Dorfes durch die eigene Be-
Lebensformen. Die Deutungshoheit darüber haben in der
völkerung und der Außensicht des Dorfes durch dorfferne
heutigen Moderne die urbanen Eliten in Staat und Gesell-
Wissenschaftler, Politiker, Planer und Redakteure. Erst in
schaft, die sog. »Globalisierungsgewinner«, übernommen.
jüngerer Zeit scheint in Politik und Gesellschaft das Inter-
Der »Kosmopolit mit hochbeweglicher Identität« bzw. die
esse und der Respekt gegenüber den Kräften des Dorfes zu-
»neue hyperkulturelle Boheme« (Iris Radisch, Leitfaden
zunehmen, die aus der emotionalen Ortsbezogenheit und
zum Heimatgefühl, Westfalenblatt v. 3. 5. 2018) betrach-
Zufriedenheit der Bewohner erwachsen.
tet die offenkundig beharrliche lokale und regionale Hei-
Ein schönes Beispiel für den Wert von Ortsbezogenheit
matliebe vor allem der Landbewohner mit Argwohn. Diese
und Zufriedenheit mit dem Landleben gab vor ein paar Jah-
wird gern als spießig, naiv und rückständig bezeichnet und
ren die zweifache Goldmedaillengewinnerin Magdalena
zu einer »politischen Krankheit« erklärt (FAZ v. 10. 11. 2018,
Neuner nach ihrer Rückkehr von den Olympischen Spielen
S. 1). Mit Begriffen wie »Heimattümelei« und »Kirchturm-
in Vancouver/Kanada im Aktuellen Sportstudio des ZDF am
denken« wird die ländliche Lebensform der lokalen Selbst-
6. 3. 2010. Auf Fragen des Moderators, woher sie ihre Ruhe
verantwortung, der Natur- und Menschennähe, des vor-
und ihre Kraft hole, antwortete sie: »Aus meinem Dorf
und fürsorgenden Denken und Handelns diskreditiert und
Wallgau.« Das ist ein 1400 Einwohner zählendes bayerisches
zum Auslaufmodell abgestempelt. Dabei gibt Heimatliebe
Gebirgsdorf, wo sie ihre Familie und Freunde hat, wo sie
den Menschen Halt und ist die Basis für bürgerschaftliches
»dahoam« ist. Offenherzig und selbstbewusst formulierte
Engagement und demokratisches Mitwirken – was Staat
die durch ihren Sport schon weit gereiste und weltge-
und Gesellschaft doch sehr zugutekommt.
wandte junge Frau ihre abschließende Begründung: »Ich bin nun mal ein totales Landei.«
Die auf dem Land noch stark ausgeprägte lokale Identifikation und die daraus folgende Mitmach-, Anpack- und
Die enge Ortsbezogenheit und hohe Zufriedenheit der
Selbstverantwortungskultur, die auf Heimatliebe basieren,
Landbewohner wird oft mit dem Begriff Heimat um-
wurden und werden durch Beschneidung von Befugnis-
schrieben, der jedoch immer wieder – auch im Wandel der
sen und fehlendem Respekt durch Bund und Länder immer
Zeiten – sehr unterschiedlich gebraucht und bewertet wird.
mehr geschwächt und beseitigt. Die Folgen dieser fortge-
Das Wort Heimat drückt ein Gefühl der Verbundenheit mit
setzten Entmündigung des Landes sind eine wachsende Po-
einem Ort, einer Region oder Landschaft aus, das oft mit
litik-, Staats- und Demokratieverdrossenheit in der ländli-
der Zeit der Kindheit und Jugend verknüpft ist. Auf dem
chen Bevölkerung und Kommunalpolitik. Mit »Heimatmi-
Land ist die Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld gegen-
nisterien« versuchen Bund und Länder derzeit, den Dörfern,
wärtig deutlich größer als in der Großstadt, auch die »Hei-
Kleinstädten und Landgemeinden staatliche Zuwendung
matliebe« scheint in Landregionen besonders intensiv zu
»von oben« zu signalisieren. Skepsis ist jedoch angebracht,
sein. Beides hängt wahrscheinlich mit den Vorzügen des
ob damit tatsächlich eine Kehrtwende in der Behandlung
Landes wie Naturnähe und Freiräumen (in Feld, Wald und
des Landes beginnt oder der systemische Bevormundungs-
Garten) und überschaubaren engen sozialen Netzen zusam-
und Entdemokratisierungsprozess von oben nach unten
men.
doch wie bisher weiterläuft (vgl. dazu das Kapitel Dorfpolitik ab S. 268).
Bevölkerung – Soziales – Kultur
147
Dörfliches Sozialleben – Idylle ganz ohne Tücken? Die Entwicklung von Dorfgemeinschaft und Nachbarschaftshilfe
Der Begriff »Dorfgemeinschaft« wird oft gebraucht –
gewiesen, man muss sich arrangieren. Die Familien ken-
selbst für moderne Dorfdefinitionen wird er genutzt.
nen sich – oft seit Generationen. Ein altes Sprichwort auf
Aber schon das Wort ist eigentlich eine Utopie. Kann
dem Land besagt: »Einen guten Nachbarn zu haben, ist
ein ganzes Dorf aus höchst unterschiedlichen Indivi-
mehr wert als zehn Morgen Land.« Die oft zitierte Nachbar-
duen und Interessengruppen wirklich eine echte Soli-
schaftshilfe war und ist sehr vielfältig, sie hat sowohl ma-
dargemeinschaft bilden? Städter bewundern immer
terielle als auch sozial-kommunikative Facetten: Hilfen in
wieder dörfliche Feste, wo alle miteinander feiern, je-
Not- und Katastrophenfällen (z. B. nach Bränden oder Un-
der mit jedem spricht und Gemeinschaftsgefühle sicht-
fällen), bei jahreszeitlich bedingter Arbeitshäufung (z. B.
bar werden. Oder sie staunen über die Kraft einer Dorf-
der Ernte), bei bestimmten arbeitskräfteintensiven Unter-
gemeinschaft, die den letzten Gasthof im Dorf rettet.
nehmungen (z. B. Dacheindeckung), in gegenseitiger Ar-
Aber die »Idylle« war und ist nicht ganz ohne Tücken.
beitsteilung (z. B. Schlosser hilft Bauer und umgekehrt), bei der Betreuung und Pflege von Kindern und Alten. Dazu
Wenn man vom Dorf spricht, kommt die Rede sicherlich
kommen die gemeinsame Anteilnahme an den vielfälti-
bald auf die dichten sozialen Kontakte und Netzwerke der
gen Familienereignissen (z. B. Geburt, Hochzeit, Tod) sowie
Dorfbewohner. Tatsächlich gelten Dorfgemeinschaft und
dörflichen Begebenheiten (z. B. Kommunal- und Vereins-
Nachbarschaftshilfe als Schlüsselbegriffe zum Verständ-
politik, Klatsch), Austausch von Geräten oder Werkzeugen
nis des Dorfes. Auch die Wissenschaft sieht hierin ein We-
(z. B. Leitern oder Sägen), Überwachung und Kontrolle der
sensmerkmal des Landlebens. Allerdings sollte man das
Haus- und Hofanlage (z. B. vor Dieben), gemeinsames Ge-
Bild einer stets »idealen« Dorfgemeinschaft mit Vorbehal-
stalten der arbeitsfreien Zeit mit Spielen, Erzählen, Feiern
ten betrachten. Außerdem haben Nachbarschaft und Dorf-
usw.
gemeinschaft einen starken Wandel erfahren. Was verbirgt
Im früheren Dorf bestanden genau festgelegte Nach-
sich nun ganz konkret hinter diesen sehr komplexen, aber
barschaftsrechte und -pflichten wie Grußpflicht oder Bei-
für das Dorf so wichtigen sozialen Begriffen?
standspflicht. In der Gegenwart wächst jedoch auch auf dem
Die Kontakte der Nachbarschaft ergeben sich aus der gemeinsamen Wohnlage. Häufig stehen die Gebäude eng aneinander. Man sieht sich ständig, man ist aufeinander an-
148
Das moderne Dorf
Abbildung oben: An Hochzeiten nahm das ganze Dorf teil: hier ein Hochzeitszug auf dem Weg zur Kirche in den 1950er Jahren.
Land die Freizügigkeit und Bereitschaft, die Nachbarschaft nach individuellen Vorstellungen zu gestalten. Da viele der früheren nachbarlichen Hilfen an Bedeutung verloren haben (z. B. Hilfen bei der Ernte), rücken die Nachbarschaften heute in die Nähe frei gewählter Bekanntenkreise. Wissenschaftler bezeichnen den Wandel der dörflichen Nachbarschaft als Übergang von der geschlossenen zur offenen Nachbarschaft. Noch vor 50 Jahren gab es in den Dörfern neben der (begrenzten) Nachbarschaft und der (gesamten) Dorfgemeinschaft im Wesentlichen zwei weitere soziale »Netzwerke«: die meist sehr großen Verwandtschaften und die besonders angesehenen dörflichen Honoratioren – in der Regel
Auch Beerdigungen fanden meist unter großer Beteiligung des Dorfes statt, wie hier in Grimmelfingen auf der Schwäbischen Alb um 1950.
die größten Bauern und die Dorfakademiker wie Geistliche, Lehrer, Ärzte und die höheren Forst- und Gutsbeam-
eines harmonischen, friedlich in sich ruhenden Sozialsys-
ten. Heute sind die sozialen Gruppierungen in den Dörfern
tems aus gleichrangigen Partnern, einer ländlichen Idylle.
offener und vielfältiger geworden. So bestehen zahlreiche
Heute ist die Forschung sich darin sicher, dass es die oft be-
Bekannten- und Freundeskreise, »Kegelclubs« oder Cliquen
schworene und besungene ideale Dorfgemeinschaft nie ge-
nebeneinander, die durchschnittlich zehn bis 30 Personen
geben hat. Dass der dörfliche Alltag vielmehr von ständi-
umfassen und sich regelmäßig zu Geburtstagen oder Aus-
gen Interessengegensätzen der Besitzenden und Besitzlo-
flügen treffen oder auch bei Dorffesten zusammensitzen.
sen, der Mächtigen und Machtlosen bestimmt war. Einige
Die Bedeutung der großen Verwandtschaften und der Ho-
Soziologen benutzen den Begriff einer »Terrorgemein-
noratioren-Zirkel hat dagegen in den letzten Jahrzehnten
schaft«, das mag übertrieben sein. Machtkämpfe, Ränke-
allmählich abgenommen.
spiele, kleine Gemeinheiten und grobe Ungerechtigkeiten
Die Dorfgemeinschaft ist ein sehr komplexer Begriff (interessanterweise gibt es den parallelen Begriff »Stadtge-
gehörten aber ebenso zum ländlichen Alltag wie Nachbarschaftshilfe und Dorfsolidarität.
meinschaft« nicht). Der Duden übersetzt ihn schlicht als die Gesamtheit der Bewohner eines Dorfes. Doch Dorfgemeinschaft ist mehr: Sie umfasst die Gesamtheit der sozialen Einstellungen und Verhaltensweisen der Dorfbewohner, zugleich steckt in dem Begriff auch die Vorstellung einer Solidargemeinschaft, eines »Wir-Gefühls«. Die frühere Dorfgemeinschaft war zunächst dadurch geprägt, dass die Bevölkerung geistig, ökonomisch und sozial auf die lokale Siedlung bezogen war. Ein weiteres Kennzeichen war, dass es kaum ein privates Leben gab, alles spielte sich öffentlich ab; man konnte sich nicht verstecken und man kannte sich. Mit festen Normen und Sitten waren enge soziale Vorgaben und Kontrollen verbunden. Ein starkes Wir-Bewusstsein trug sowohl zur Abschirmung nach außen als auch zur inneren Integration bei. Von der Landsoziologie sind Inhalt und Bewertung der Dorfgemeinschaft jahrzehntelang sehr gegensätzlich diskutiert worden. Weit verbreitet war zunächst die Vorstellung einer »idealen Gemeinschaft«, Die Aktivitäten der Dorfgemeinschaft sind vielfältig: hier läuft gerade eine Dorfputzaktion in Wrexen in Nordhessen.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
149
schaft. Eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft waren ständige soziale Kontrollen. Jede Handlung, Äußerung und Gefühlsregung war der unmittelbaren Beobachtung der Mitmenschen ausgesetzt. Abweichungen zu den lokal geltenden Verhaltensmustern wurden sofort registriert und in soziale Sanktionen umgesetzt, um die »Abweichler« zu normgerechtem Handeln zu »erziehen«. »Das macht man nicht« oder »Das gehört sich nicht« sind bis heute typische dörfliche Redewendungen. Die frühere Dorfgemeinschaft hat sich mit den Wandlungsprozessen von der Agrar- zur Industriegesellschaft wesentlich verändert. Aus der engen und geschlossenen Interessen- und Solidargemeinschaft hat sich ein weitgehend Die Jugendlichen erlernen das Ehrenamt meist in den Vereinen, hier helfen sie beim Bau eines Jugendtreffs in Aiging (Bayern).
offener und liberaler Sozialverbund entwickelt. Man ist aufgeschlossener gegenüber Neuerungen, man ist offener gegenüber Neubürgern, Abweichlern oder benachbarten
150
Die frühere Dorfgemeinschaft hatte somit zumindest
Dörfern, man übernimmt städtische Gewohnheiten. Den-
zwei Gesichter: Durch das enge wirtschaftliche und soziale
noch wird auch heute die Existenz und spezifische Eigen-
Aufeinander-angewiesen-Sein entstand auf der einen Seite
art der Dorfgemeinschaft nicht bestritten. Dies entspricht
ein ausgeprägtes lokales Wir-Bewusstsein sowie auf der an-
sowohl den Vorstellungen der Dorfexperten als auch dem
deren Seite Misstrauen, Spannungen und persönliche Kon-
Selbstverständnis der ländlichen Bevölkerung. In wieder-
flikte. Die Allgegenwart des »Dorfes« führte zu einem stets
holten Umfragen betonen Landbewohner immer wieder
vorsichtigen und angepassten Verhalten. Eventuelle Risi-
den hohen Wert der Dorfgemeinschaft, in der sie sich sub-
ken und Blößen, z. B. diejenige des schlechten Rufes, wur-
jektiv wohlfühlen.116
den möglichst gemieden. Zu den besonderen sprachlichen
Die Dorfgemeinschaft ist jedoch mehr als nur ein Wohl-
Vorsichtsmaßnahmen gehörten u. a. die oft benutzten For-
gefühl. Sie zeigt sich durch den überdurchschnittlich ho-
meln, »nichts gesehen zu haben«, »nichts gehört zu haben«,
hen ehrenamtlichen Einsatz der Dorfbewohner, der vor
»nichts gesagt zu haben« oder »nichts damit zu tun zu ha-
allem dem reichen Vereinsleben zugutekommt. Sie kann
ben«. In den letzten Jahrzehnten ist der soziale Druck des
sich darüber hinaus aber auch in außergewöhnlichen Ak-
festgefügten Lebens, des immer Gleichen allmählich aus
tivitäten äußern, wenn besondere Anlässe dies erfordern.
den Dörfern gewichen. Sie sind im wahrsten Sinne des
Hier ein paar gar nicht so seltene Beispiele: Die Dorfge-
Wortes freier, offener und lebendiger geworden.
meinschaft übernimmt und revitalisiert den letzten Gast-
Die Dorfgemeinschaft erfuhr ihren wesentlichen Zusam-
hof oder Laden des Dorfes oder sogar das von der Kommune
menhalt durch die Grundherrschaft, die gemeindliche
aufgegebene Freibad. »Das müssen wir dem Dorf zuliebe
Selbstverwaltung sowie kommunale und religiöse Ein-
tun!« ist ein Satz, den man häufiger hört und der auch posi-
richtungen wie Schule, Feuerwehr und Kirche. Deren Re-
tiv anpackend gemeint ist. Die Kraft der Dorfgemeinschaft
präsentanten – Grundherr oder dessen Verwalter, Bürger-
ist in jedem Dorf vorhanden, auch wenn sie bisweilen zu
meister, Pastor, Lehrer und Brandmeister – waren wichtige
schlummern scheint. Die Schwächung des dörflichen Zu-
Identifikationsfiguren des Dorfes. Daneben wirkten die oft
sammenhalts bzw. »Dorfgefühls« nimmt erkennbar dann
zahlreichen Vereine gemeinschaftsfördernd und trugen
zu, wenn Dörfer durch zu raschen Zuzug zu schnell wach-
zum Ausgleich persönlicher Spannungen bei. Gesellige
sen. Das spüren besonders die ländlichen Wachstumsorte
Veranstaltungen wie Schützenfest, Kirchweihfest und Ern-
im Umfeld der Großstädte und Verdichtungsräume.
tedankfest, aber auch Begräbnisse und Hochzeiten dien-
Die enge Dorfgemeinschaft prägt naturgemäß die Ent-
ten ebenfalls der Einbindung des Einzelnen in die Gemein-
wicklung der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen.
Das moderne Dorf
Es gibt kein Dorf ohne Traditionspflege, hier feiert Premslin in Brandenburg das Erntedankfest mit einem Festumzug.
Das oft zitierte afrikanische Sprichwort »Ein ganzes Dorf
Postbeamte oder Ingenieure hervorgegangen, die aber dem
wird gebraucht, um ein Kind zu erziehen« ist auch als ein
Wohnort Dorf treu geblieben sind. Sie gehören heute oft
Kompliment an die Dorfgemeinschaft als breite Bildungs-
zu den Trägern der Dorfgemeinschaft. Auch die nach dem
einrichtung zu verstehen. In ähnlicher Weise äußerte sich
Zweiten Weltkrieg zugezogenen Heimatvertriebenen und
der Philosoph und Universitätsprofessor Peter Wust, aufge-
Flüchtlinge sind inzwischen – ebenfalls durch die folgen-
wachsen im saarländischen Dorf Rissenthal bei Losheim:
den Generationen – weitestgehend in die Dorfgemeinschaft
»Das Dorf war meine erste Universität, und zwar eine solche,
integriert und gehören zu deren Stützen. Die seit etwa
die bis jetzt durch keine bessere ersetzt werden konnte.«
20 Jahren in vielen Dörfern, vor allem in Westdeutschland,
117
Für Klaus Brill ist das Dorf heute jedoch bedauerlicher-
stark angewachsene Gruppe der Aus- und Übersiedler ist
weise dabei, »diese urtümliche Erziehungskraft zu verlie-
bislang jedoch eher schwach in das Dorfleben einbezogen.
ren, weil seine Vielfalt, sein Gemeinschaftsgeist und seine
Sie besitzt in der Dorfgemeinschaft in der Regel noch kein
Familienstrukturen verblassen«.
größeres Gewicht.
Den Kern der Dorfgemeinschaft bildeten in der Regel
Eine wesentliche Beeinträchtigung der Dorfgemein-
die Familien der Alteingesessenen (vgl. Grafik S. 139). Das
schaft kam durch die zurückliegenden kommunalen Ge-
waren zunächst die Gruppen der Bauern und Handwerker.
bietsreformen mit ihren Eingemeindungen für die große
Aus deren Familien sind in den letzten Jahrzehnten häufig
Mehrheit der deutschen Dörfer. Sie verloren mit ihrer po-
durch den ökonomischen Wandel in der zweiten oder drit-
litischen Selbstständigkeit ihren Bürgermeister und Ge-
ten Generation moderne Dienstleistungsberufe wie Lehrer,
meinderat, zugleich ihren amtlichen Dorfnamen und in
Bevölkerung – Soziales – Kultur
151
Die Dorfgemeinschaft der 800-Einwohner-Gemeinde Bitzen in der Verbandsgemeinde Hamm/Sieg am Rande des Westerwalds in Rheinland-Pfalz betreibt seit Jahren eine außergewöhnliche »Verwurzelungs-Initiative«. Auf einer Gemeindewiese werden für jedes neugeborene Kind jeweils im November Obstbäume gepflanzt, die den Namen des Kindes erhalten. In einer Nutzungsurkunde wird jedem Kind ein lebenslanges Ernterecht zugesichert. Für Bürgermeister Armin Weigel und den lokalen Gemeinderat ist diese Obstwiese am Dorfrand eine schöne und sinnvolle Investition in die Zukunft seines Dorfes.
der Folge auch ihren statistischen und postalischen Bestand.
den sei. Seit wenigen Jahren ist in Deutschlands Dörfern ein
Sozusagen als Ausgleich sind in jüngerer Zeit zahlreiche
Gründungsboom von neuen »Bürgervereinen« zu beobach-
und zunehmende Aktivitäten in Vereinen und Bürgerini-
ten, die integrativ zwischen oder über den traditionellen
tiativen sowie in der Brauchtums- und Traditionspflege zu
Dorfvereinen angesiedelt sind und gesamtdörfliche Inter-
beobachten, die auf ein Wiedererstarken der dorfeigenen
essen vertreten (vgl. S. 171). Sie geben der – häufig »unsicht-
Kräfte hinweisen. In seiner Beschreibung der friesischen
baren« – Dorfgemeinschaft möglicherweise in Zukunft ein
Dörfer berichtet der niederländische Autor Geert Mak118 da-
neues Gesicht und Gewicht.
von, dass in den 1990er Jahren ein neuer Dorfstolz entstan-
152
Das moderne Dorf
Kein Dorf ohne Kirche!? Einst Dorfmittelpunkt, heute zunehmender Bedeutungsverlust
Die Kirchen sind seit der Christianisierung im Frühen
der »gute Hirte« = Pastor). Der Kirchhof war vielerorts ur-
Mittelalter das geistliche und kulturelle Zentrum
sprünglich auch Gerichtsort und kommunaler Versamm-
des Dorfes. Hier wurde man getauft, hier »lernte«
lungsplatz. In den Pfarrämtern wurde jahrhundertelang
man die Zehn Gebote und alles über Sitte und Moral,
die Bevölkerungsstatistik der Gemeinde geführt. Die Kir-
hier heiratete man, hier fand das letzte Requiem statt.
chengemeinde besaß früher und stärker als die politische
In der Kirche wurde der Rhythmus der jahreszeitlichen
Gemeinde eine Integrationskraft für die Dorfbewohner.
Feste vorgegeben. Der Pfarrer war die erste Autorität
Die Kirche war bei fröhlichen wie traurigen Anlässen der
des Dorfes. Doch heute sieht vieles nach Götter-
Mittelpunkt der Ortsbezogenheit. Ohne eigenes Kirchenge-
dämmerung aus. Gähnende Leere in den sonntäg-
bäude war ein Dorf daher im Selbstverständnis der Bewoh-
lichen Gottesdiensten, die vor 50 bis 60 Jahren selbst
ner kein vollständiges, ernst zu nehmendes Dorf. Insgesamt
an den Werktagen noch brechend voll waren. Die
spielt die Kirche somit eine der Hauptrollen in der Zivili-
meisten Dörfer haben keinen eigenen Pfarrer mehr.
sationsgeschichte des Dorfes.
Erste Kirchenschließungen auf dem Land haben bereits stattgefunden.
Die ländlichen Pfarrgemeinden können meist auf eine lange Geschichte zurückblicken, die nicht selten bis in die Anfänge der Christianisierung im Frühen Mittelalter
Ein Dorf ohne Kirche kann man sich kaum vorstellen.
reicht. In Dorfgebieten hat jeder größere Ort ab etwa 300
Diese enge Verknüpfung ist weit verbreitet und auch be-
Einwohnern in der Regel mit seiner Kirche auch eine ei-
gründet. Seit Menschengedenken prägt die Kirche nicht
gene Pfarrei. Kleinere Dörfer und Weiler besitzen häu-
nur das Dorfbild, sondern auch das Dorfleben. Jedes Dorf
fig den Status einer nicht selbstständigen Filiale. Sie haben
war in der Regel von Beginn an auch eine religiöse Gemein-
aber oft auch eine kleine Kirche oder Kapelle, man spricht
schaft. Generell sind ja ländliche Gesellschaften dadurch
daher von »Kapellengemeinde«. In den norddeutschen Ein-
gekennzeichnet, dass die Religion in hohem Maße das poli-
zelhof- bzw. Streusiedlungsregionen bildeten sich die sog.
tische, wirtschaftliche und kulturelle Denken und Handeln
»Kirchspiele«: Hier sind einem zentralen Kirchenstandort
der Menschen bestimmt.
119
Viele Religionen sind in länd-
licher Umgebung entstanden und benutzen bis heute Bilder aus der Landwirtschaft (z. B. das »Lamm Gottes« oder
Prozessionen in die Feldflur sind ein Höhepunkt des katholischen Kirchenjahres: hier die Fronleichnamsprozession in Berg bei Jachenau.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
153
Wenn man sich einem Dorf nähert, erscheint zuerst fast immer der Kirchturm. Er bietet den Menschen Orientierung und Identifikation und ziert das Dorfbild, mit Zwiebelturm oder hoher Spitze wie hier in Fischen im Allgäu.
im sog. »Kirchdorf« mehrere Einzelhofgruppen oder Wei-
tum der Ausgestaltung und der Kunstschätze. Man fragt
ler (in Nordwestdeutschland oft »Bauerschaften«, in den
sich dann bisweilen, woher diese Dörfer in früheren (wirt-
Alpen »Talschaften« genannt) zugeordnet.
schaftlich »schlechteren«) Zeiten die Kraft genommen ha-
Kirchen und Kapellen sind oft die ältesten Gebäude und
154
ben, diese großen und schönen Gotteshäuser zu bauen.
manchmal die einzigen Kulturdenkmäler in den Dörfern.
In früheren Phasen der Geschichte hatten die Kirchen
Häufig sind es stattliche Bauten mit einer kunstvollen Aus-
häufig auch Wehrfunktionen zu erfüllen. Dies gilt beson-
stattung durch Malereien, Glasfenster, Altäre, Säulen, Stein-
ders für die sog. »Kirchenburgen«, mit hohen Mauern und
und Holzplastiken im Inneren. Manchmal kommt man in
Türmen befestigte Fluchtburgen zum Schutz der Dorfbe-
eine fremde Dorfkirche und wird überrascht vom Reich-
wohner in Notzeiten. Neben der zentralen Kirche und häu-
Das moderne Dorf
fig auch einem Schulgebäude beherbergten die Kirchenburgen die sog. »Gaden«. Jede Bauernfamilie bekam seine eigene Gade, ein kleines Gebäude, in dem sie bei einer Belagerung mit dem Vieh und Erntevorräten längere Zeit ausharren und überleben konnte. Die Pfarrer und Lehrer wohnten ständig in der Kirchenburg. Die meisten Gaden schmiegten sich an die innere Wehrmauer und gaben der Anlage das Bild eines kleinen Dorfes. In Deutschland finden sich derartige Kirchenburgen mit Gadenanlagen vor allem im nördlichen Franken und südlichen Thüringen. Zu den größten und besterhaltenen Beispielen gehören Ostheim, Mönchsondheim und Aschfeld im nördlichen Franken sowie Walldorf, Herpf und Rohr in Thüringen im Umfeld von Meiningen.120 Die kirchlichen Amtsträger wie Pfarrer, Priester, Ka-
Die Kirche ist seit altersher der bauliche und geistlich-soziale Mittelpunkt des Dorfes, hier das Beispiel Schwenda.
plan oder Diakon sind im ländlichen Gemeindeleben meist eine unbestrittene Autorität in religiösen und sittlichen
in ihrem Programm haben. Häufig beteiligen sich ländli-
Fragen. Sie haben sich außerhalb des Dorfes durch eine
che Kirchengemeinden an Dritte-Welt-Aktionen und pfle-
spezialisierte Ausbildung (Studium) und religiöse Wei-
gen Kontakte und Partnerschaften mit Pfarreien in Afrika,
hen qualifiziert. Oft ist der Pfarrer Präses, d. h. Vorstand, im
Asien und Südamerika. Nachdem in den meisten Dörfern
Schützenverein oder Vergleichbares in anderen dorfprä-
keine Schulen mehr existieren, sind die Pfarrheime oft die
genden Vereinen. Vielerorts gehört der Pfarrer oder Pas-
einzigen lokalen Bildungs- und Sozialeinrichtungen.
tor – wenn auch mit abnehmender Tendenz – zu den letz-
Die Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie der bei-
ten traditionellen, noch im Dorf verbliebenen Autoritäts-
den großen Kirchen, die in Deutschland insgesamt knapp
personen, nachdem Bürgermeister und Dorflehrer durch
eine Million Menschen beschäftigen, erfüllen auch auf
einschlägige »Reformen« abgezogen worden sind. Die un-
dem Land einen Großteil der sozial- und bildungspoliti-
tergeordneten kirchlichen Ämter des Küsters, Kirchenpfle-
schen Dienstleistungen. Sie unterhalten Schulen, Kinder-
gers und Organisten waren auf dem Land meist begehrt. Sie
gärten, Altenheime, Krankenhäuser und Sozialstationen
boten auch den sozial schwächeren Gemeindemitgliedern die Möglichkeit, Ansehen zu erhalten und etwas Geld zu verdienen. Das kirchliche Gemeindeleben zeigt sich anhand vielfältiger Aktivitäten. Die Pfarrgemeinden nehmen zusätzlich zu ihrem religiösen Auftrag traditionell auch wesentliche kulturelle und soziale Aufgaben in den Dörfern wahr. Die sonn- und feiertäglichen Gottesdienste sind in vielen ländlichen – zumal katholischen – Regionen immer noch Fix- und Höhepunkte im Alltagsleben der Dorfgemeinde. Vielerorts leistet die Kirche heute eine vorzügliche und aktive Jugendarbeit. Daneben bestehen oft andere Gruppen der Kirchengemeinde wie Frauenverbände, Kolpingvereine, Chöre oder Altenclubs, die nicht nur religiöse Veranstaltungen, sondern auch allgemeine Sozialund Freizeitangebote wie Ausflüge oder Skatnachmittage Die Kirchenburg in Ostheim vor der Rhön war ursprünglich eine Fluchtburg zum Schutz der Dorfbewohner, des Viehs und der Erntevorräte in Notzeiten.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
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Das religiöse Leben auf dem Land wird oft als »Volksfrömmigkeit« bezeichnet. Das Heilige wird herabgeholt in den Bereich des Menschlichen und oft allzu Menschlichen: Petrus, der alle unsere Sünden kennt, wird schon ein Auge zudrücken, wenn wir an der Himmelspforte vor ihm stehen. Die Gottesverehrung ist konkret und sinnlich. Vor allem in katholischen Regionen liebt man die großen Prozessionen mit den festlich geschmückten Straßen und prächtigen Hausaltären. Früher errichtete man Kreuze und Bildstöcke auf den Hofstellen oder im Felde, größere Bauernhäuser oder Gutshöfe hatten ihre eigene Kapelle. Die Gläubigkeit gilt insgesamt als ein Merkmal ländlicher Religiosität. Das »bäuerliche Gottvertrauen« ist zu einem geflügelten Wort geworden. Religiöse Riten und Bräuche, die sich vielfach mit weltlichem Brauchtum verbinden, spielen im ländlichen Leben auch heute noch eine wichtige Rolle. So ist der jahreszeitliche Ablauf in vielen Regionen Deutschlands durch die folgenden, meist mit großem Aufwand betriebenen kirchlichen Feiern gegliedert und geprägt: Advents- und Weihnachtsfestkreis, Fastnacht, Osterfestkreis, Pfingsten, sommerliche Prozessionen in Dorf und Flur, Wallfahrten, Kirchweihfest, Erntedankfest, Martinsumzüge. Auch zu den wichtigsten Stationen im Lebenslauf – Taufe, Erstkommunion, Konfirmation, Firmung, Hochzeit und Begräbnis – ist auf dem Land noch mancherlei kirchliches Brauchtum erhalten geblieben. Ein Beispiel zur gelebten Volksfrömmigkeit auf dem Land sind meine starken Kindheitserinnerungen an die Fronleichnamsprozession. Es muss um das Jahr 1950 gewesen sein – schon eine Woche vor der Prozession begannen die intensiven Vorbereitungen, das ganze Dorf fing regelrecht an zu brummen. Mit großen Wagen wurde FichtenDorfkirchen zeigen im Innern nicht selten eine außergewöhnliche Pracht und bisweilen auch kunstgeschichtliche Schätze, hier die Barockkirche St. Jakobus in Zimmernsupra.
grün aus dem Wald geholt, das dann zu Torbögen und Girlanden gewickelt und geflochten wurde. Im alten Dorfkern, wo wir damals wohnten, errichteten die Nachbarschaften aus zwei bis vier Häusern jeweils einen eigenen Bogen und
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vielfältiger Art. Die meisten dieser Einrichtungen haben in
schmückten ihn festlich, durch den dann die Prozession
der Bevölkerung einen guten Ruf. Der Bildung und Weiter-
feierlich hindurchziehen konnte (im gesamten Dorf wa-
bildung der Landbevölkerung dienen die zahlreichen ka-
ren etwa zehn solcher Bögen aufgestellt). In den letzten Ta-
tholischen und evangelischen Landvolkshochschulen, die
gen kam dann das Farnkraut und die Blumen – vor allem
häufig sehr abgelegen in ehemaligen Klostergebäuden un-
die duftenden Lupinen – hinzu. Damit wurden am Abend
tergebracht sind und durch ihre breit gefächerten Ange-
vor der Prozession auf den Straßen und vor den Häusern
bote eine große und bisweilen überregionale Resonanz be-
große Teppiche ausgelegt und mit religiösen Mustern und
sitzen.
Schriftzeichen (z. B. IHS ) verziert. Zuletzt wurden dann vor
Das moderne Dorf
jedem Haus festliche Altäre aufgestellt und mit religiösen Statuen, großen Heiligenbildern, kostbaren Decken, Blumenschmuck und Kerzen zu kleinen Kunstwerken drapiert. Alle Häuser waren mit großen Fahnen beflaggt. Am gesamten Prozessionsweg waren in regelmäßigen Abständen am Straßenrand kleine Fahnen und dazwischen Birken- oder Buchenzweige mit frischem Grün aufgesteckt (aus diesen »Büschen« bauten wir uns am Nachmittag nach der Prozession gerne Laubhütten). Bei der Fronleichnamsprozession war dann die ganze Gemeinde auf den Beinen. Vier ältere Männer (des Kirchenvorstands) in schwarzen Anzügen trugen den »Himmel«, unter dem die Geistlichen (das Dorf hatte neben dem Pastor noch einen Vikar) mit der emporgehobenen Monstranz schritten. Alle kirchlichen Vereine waren mit Fahnenabordnungen vertreten. Die festlich gekleideten Kommunionkinder trugen Körbchen mit Blumen, die sie unterwegs streuten, und Kerzen. Alle Messdiener waren dabei und mit Schellen, Kerzen und Weihrauchfässern ausgestattet. An vier aufwendig geschmückten »Stationen« machte die Prozession Halt, wobei jeweils Fürbitten in lateinischer Sprache gesungen und der Segen gespendet wurde und der Gesangverein ein Lied vortrug. Während der Prozession durch und um das Dorf spielte die dörfliche Blasmusik Lieder wie »Großer Gott wir loben dich« und »Ein Haus voll Glorie schauet«, wobei im Wechsel dann Strophe für Strophe von allen nachgesungen wurde. Nach
Schöne Feldkreuze bereichern die Flur und bezeugen die Volksfrömmigkeit auf dem Lande, wie hier in Binswangen bei Wertingen in Schwaben.
gut zwei Stunden ging es dann zurück in die Kirche, wo mit dem »Tantum ergo« und kräftigem Orgelspiel ein feier-
deutlich: Von 98,5 % im Jahre 1871 über 93,1 % im Jahre 1939
licher Schlusspunkt gesetzt wurde.
haben sich die Anteile bis heute (2017) auf 54,2 % fast hal-
In den letzten Jahrzehnten geht der Einfluss der Kir-
biert. (Quelle: Forschungsgruppe Weltanschauungen in
che auf das dörfliche Leben aber stark zurück. Auch in
Deutschland 2019) Die Verluste betreffen ganz besonders
der Landbevölkerung ist ein Schwinden von Kirchentreue,
Ostdeutschland, wo nur noch 24 % der Bevölkerung einer
Gläubigkeit und Frömmigkeit zu beobachten. Der früher
christlichen Kirche angehören, gegenüber 71 % in West-
selbstverständliche sonntägliche Kirchgang wird beson-
deutschland. Gegenwärtig verringern sich diese Anteile der
ders von den nachwachsenden Generationen immer weni-
gläubigen Christen jährlich fast um einen Prozentpunkt.
ger wahrgenommen. Neben dem akuten Priestermangel
Der Blick in die Zukunft sieht nicht rosig aus.
haben allgemein Liberalisierung, Individualisierung und
Die Kirchen sind dabei, ihre Angebote in ländlichen Ge-
aufgeklärtes Denken, aber auch die zahllosen Missbrauchs-
bieten immer mehr zurückzunehmen: weniger Seelsorger,
skandale und deren Vertuschungen und fehlenden Einge-
weniger Gottesdienste, weniger religiöse Heranführung
ständnisse zum Autoritätsverlust der Kirchen beigetragen.
der Kinder und Jugendlichen. Vielerorts ist heute gerade
Bei einer Rückschau auf den Wandel der Religionszu-
die Jugendarbeit in den größeren Dorfvereinen intensiver
gehörigkeit der Menschen zu den beiden großen christ-
als in der Kirche. Vereinzelt sind bereits auch auf dem Land
lichen Kirchen (Röm.-katholische und Evangelische) in
einige Kirchen geschlossen und für nicht sakrale Zwecke
Deutschland seit 150 Jahren werden die großen Verluste
umgewidmet worden.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
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Mit einer großen Demo der Initiative »Kirchengemeinde vor Ort« protestierten 1500 Gläubige am 20. 10. 2018 auf dem Domplatz in Trier gegen die Auflösung von 887 Pfarreien und Schaffung von 35 Großpfarreien durch die Bischöfe des Bistums Trier. – Im Dezember 2019 hat die Bistumsleitung von Trier auf Einwirken des Papstes seine »Reform« (vorerst) gestoppt. Die Gläubigen bleiben skeptisch!
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Was passiert aktuell mit der Kirche auf dem Land? Ob-
kirchen lautet: »Wir brauchen euer lokales Denken, Füh-
wohl es ihr kaum noch schlechter gehen kann, macht die
len und Handeln nicht mehr!« Die Kirche schafft neue bü-
Amtskirche vielfach das Schlimmste, was man sich vorstel-
rokratische Monster und kappt gleichzeitig die Mitmach-
len kann: Katholische Bistümer und Evangelische Landes-
kirche in den Dörfern. Eine perfekte wie perfide Strategie
kirchen lösen die die oft seit Jahrhunderten bestehenden
des Durchsteuerns von oben nach unten mit dem Ziel ei-
Dorfpfarreien auf und zwingen sie zu Gemeindefusionen.
ner menschenfernen Kirche? Wie soll man es anders deu-
Aus bisher 5, 10 oder 30 Ortspfarreien, die nicht selten 20
ten? Die Kirche stößt mit ihrer »Reform« besonders die im-
oder 30 km auseinanderliegen, werden riesige Großpfar-
mer weniger werdenden Menschen vor den Kopf, die sich
reien gebildet, die man bisweilen wohlklingend aber ne-
überhaupt noch engagieren und im Selbstverantworten
bulös als »Pastorale Räume« bezeichnet. Die Amtskirche ist
eine lange Erfahrung und hohe Kompetenz besitzen. Das
dabei, dem Dorf und der Kleinstadt das Herz zu brechen.
Mitmachen in den Dörfern würde nach der Beseitigung der
Ein aktuelles Beispiel bietet das Bistum Trier. Dort plant
Ortsgemeinden gegen Null sinken. Pfarreifusionen dienen
die Bischofskirche derzeit, die bestehenden 887 Pfarreien
in keiner Weise der Seelsorge vor Ort oder gar einem aktive-
weitestgehend gegen deren Willen aufzulösen und zu 35
ren Gemeindeleben. Ein Landpfarrer drückte es kürzlich so
Großpfarreien zusammenzufügen. Die Amtskirche besei-
aus: »Wir würden als Kirche das größte Eigentor schießen,
tigt damit in allen in allen Dörfern und Kleinstädten die
das denkbar ist.« Die immer wieder vorgetragenen Warnun-
bestehenden Pfarrgemeinderäte und Verwaltungsräte und
gen, Proteste und Ängste von Landpfarrern und Gläubigen
damit die lokalen und demokratischen Gremien des Mitge-
werden arrogant und kalt abgewimmelt. Warum überlässt
staltens und Mitverantwortens. Das heißt: Die Bistumslei-
man den Ortskirchen nicht die echte Wahlfreiheit zwi-
tung verzichtet mit diesem Entscheid per Diktat von oben
schen Großpfarreien (mit Auflösung der Ortspfarreien)
auf weit mehr als 10 000 Engagierte auf dem Land. Ihre
und Pfarrverbänden, in denen die Ortspfarreien mit ihren
Botschaft an die bisherigen Träger und Gestalter der Orts-
Gremien der Selbstverantwortung und Mitgestaltung wei-
Das moderne Dorf
ter Bestand haben. In mehreren Bistümern wird den Orts-
folge dieser Kirchenpolitik: Das Bistum hat die geringste
pfarreien diese Freiheit angeboten und auch praktiziert.
Austrittsquote an Gläubigen und die besten Quoten an Tau-
Die kirchlichen Gemeindefusionen wiederholen die
fen, Kommunion und Firmung in Deutschland.
gravierenden Fehler der kommunalen Gebietsreformen
Die hier nur knapp skizzierten Argumente für den Er-
der zurückliegenden Jahrzehnte in mehreren Bundeslän-
halt der dörflichen Pfarreien sind allen deutschen Bischö-
dern, die mehr als 20 000 deutsche Dörfer entmündigt und
fen in einer ausführlichen Fassung seit 2014 bekannt.120a In-
mehr als 300 000 ehrenamtlich tätige Bürger in Deutsch-
zwischen wurde durch zahlreiche neue Studien belegt, dass
land aus den Gemeindeparlamenten wegrationalisiert ha-
Gemeindeauflösungen durch Großgemeinden bzw. Groß-
ben (Anm. Ausführlicher dazu auf S. 271 ff. und 327 ff.). Si-
pfarreien keine finanziellen Einsparungen bringen, aber
gnalwirkung: Wir brauchen eure Mitarbeit nicht mehr.
verheerende demokratische, soziale und kulturelle Verluste
Ergebnis: lokalpolitische Ohnmacht und Desinteresse der
verursachen. Man weiß, dass die Mitmachbereitschaft der
Bürger an Kommunalpolitik. Die gleichen Konsequenzen
Dorfbewohner in den neuen anonymen Großpfarreien
würden auch der Kirche bevorstehen.
(zum Beispiel in den Bistümern Münster und Hildesheim)
Gottseidank bestehen durchaus erprobte und bewährte
bereits rapide gesunken ist. Trotz all dieser Erkenntnisse
Alternativen zu Pfarreiauflösungen und Großpfarreien.
planen neben Mainz noch andere Bistümer ihre Pfarreiauf-
Es ist angesichts des Priestermangels und des Rückganges
lösungen: in Augsburg will man aus bisher rund 1000 Pfar-
der Gläubigen durchaus sinnvoll, die bestehenden Kirchen-
reien 203 Großpfarreien, in Freiburg aus derzeit 1057 Pfar-
gemeinden organisatorisch miteinander zu vernetzen und
reinen etwa 40 Großpfarreien machen!
die Seelsorger von Verwaltungsarbeiten zu entlasten. Pfarr-
Die Dorfbewohner und häufig auch Landpfarrer und
verbände, Pfarreiengemeinschaften oder Verbandsgemein-
Kommunalpolitiker wehren sich gegen die Auflösungen
den sind die optimale Alternative zu Großpfarreien. Sie
ihrer Pfarreien. Sie formieren sich in Gruppen (»Wir sind
ermöglichen eine starke zentrale Organisation und Ver-
Kirche«), sie benennen ihre Sorgen und die drohenden Ver-
waltung und belassen den miteinander vernetzten Orts-
luste. Sie protestieren zu Tausenden auf zentralen Plätzen
pfarreien ihre Autonomie, ihr lokales Sich-Engagieren,
der Bischofskirche und verteidigen dort ihre »Volkskirche«
Verantworten und Handeln. Die Verbandsgemeinden ha-
gegen die »Amtskirche«. Sie verweisen auf ihr jahrhunder-
ben sich im kommunalen Bereich auch als Verwaltungs-
telanges Sorgen und Handeln für »ihre Kirche«, sie spre-
gemeinden, Amtsgemeinden oder Samtgemeinden 10 000-
chen von Diebstahl an den bestehenden Kirchengemeinden
fach – unter anderem in den Ländern Rheinland-Pfalz, Ba-
durch stillschweigende Vermögensübertragungen an die
den-Württemberg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und
Bistümer.
Mecklenburg-Vorpommern – bestens bewährt und kommen den dortigen Dörfern sehr zugute.
Mit der Auflösung der Ortspfarreien schadet die Kirche nicht nur sich selbst, sondern auch dem Land und sei-
Mehrere Bistümer – zum Beispiel Osnabrück, Mainz und
nen Menschen. Das Dorf würde damit einen tiefen, an die
München – orientieren sich an diesen Vorbildern und stär-
Existenz gehenden Verlust erfahren: Es verliert seine äl-
ken ihre dörflichen Pfarreien im Rahmen von Pfarrver-
teste und über Jahrhunderte intensivst mit Leben gefüllte
bänden statt sie aufzulösen. Das Bistum Osnabrück verfolgt
Institution. Es verliert seine geistliche, kulturelle und so-
seit vielen Jahren konsequent das Leitbild der Stärkung von
ziale Mitte und damit den Kern seiner lokalen Identifika-
Dorfpfarreien, unter anderem mit Gemeindereferentinnen
tion. Es verliert vielerorts die letzte Bastion seiner lokalen
und ehrenamtlichen Verwaltungsleitern von Pfarreien, um
Selbstverantwortung. Es verliert das Innigste, was ihm die
die Priester zum Beispiel von der Immobilienbetreuung zu
Zentralen bisher noch nicht weggenommen haben – nach
entlasten zugunsten ihrer eigentlichen Aufgabe, der Seel-
Schule, Post und Bürgermeister. Es verliert sein Herz. Kann
sorge an den Menschen. Erste Bilanzen zeigen deutliche Er-
dies der Kirche gleichgültig sein?120b
Bevölkerung – Soziales – Kultur
159
Immer mehr Dörfer ohne Schule! Die Entwicklung der staatlichen Bildung auf dem Land
Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden in Deutsch-
Schulen bestanden haben. Die flächendeckende Einrich-
land flächenhaft staatliche Schulen eingerichtet: Je-
tung der Schule gehörte neben der kommunalen Selbst-
des Dorf und jeder Weiler bekam seine eigene Schule.
verwaltung, der Post und der Polizei zu den großen Infra-
Es war ein Modernitätsschub ohnegleichen. Ab den
strukturleistungen des modernen Staates im 19. Jahrhun-
1960er Jahren waren dann Schulschließungen auf dem
dert, die dem ländlichen Raum zugutekamen. Bis in die
Land an der Tagesordnung – moderne Mittelpunkt-
50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gehörte praktisch
schulen entstanden. Über die Hälfte der deutschen
zu jedem Dorf und größerem Weiler Deutschlands eine
Dörfer hat heute keine Schule mehr. Aber es gibt auch
Schule. Bei einer geringeren Anzahl der Schulkinder wur-
Neugründungen gegen den Trend, wie das Beispiel
den mehrere oder sogar alle Jahrgänge in einem Klassenver-
Lüchow in Mecklenburg-Vorpommern zeigt.
band zusammengefasst und von jeweils einem Lehrer unterrichtet. Die Finanzierung der Schulgebäude und Lehrer
Schulen gibt es auf dem Land seit der Frühen Neuzeit.
gehörte zu den Pflichtaufgaben der ländlichen Gemeinden.
Sie standen zunächst unter der Aufsicht des Pfarrers. Der
Neben den Volksschulen war das Angebot an weiterführen-
Schulmeister hatte meist mehrere Aufgaben zugleich für
den Schulen auf dem Land bis weit ins 20. Jahrhundert hi-
die Gemeinde und die Kirche zu erfüllen. Er war u. a. als
nein sehr begrenzt. Dies hat sicherlich zur Konservierung
Schreiber, Organist und Küster tätig, weshalb häufig auch
der sozialen Klassenunterschiede sowie der Barrieren zwi-
von »Küsterschulen« gesprochen wird. Mit der flächenhaf-
schen Stadt und Land beigetragen.
ten Einführung staatlicher Schulen auf dem Land wurden
Die Dorflehrer konnten sich mit der Entwicklung von
seit dem frühen 19. Jahrhundert nach und nach die frühe-
der kirchlich-kommunalen zur staatlich-kommunalen
ren Küsterschulen abgelöst. Selbst in kleinen und abgele-
Schule emanzipieren. Sie mussten nun nicht mehr mit ver-
genen Dörfern und Weilern von etwa 60 bis 100 Einwoh-
schiedenen Nebentätigkeiten ihren Lebensunterhalt ver-
nern wurden nun Volksschulen gegründet. Überall errich-
dienen, sondern konnten sich mehr und mehr ganz auf
tete man neue, stattliche Schulgebäude. Auch die Frauen
die Schulmeisterei konzentrieren. Allerdings war die Be-
erhielten nun Zugang zum Lehrerberuf, sie unterrichteten zunächst in den Mädchenschulen. Im Gebiet des heutigen Deutschland dürften um 1900 weit über 30 000 dörfliche
160
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Erwartungsfroh und respektvoll schauen die Schüler auf ihren Lehrer in einer Dorfschulklasse im Bayerischen Wald 1946.
soldung anfänglich recht dürftig. Nach und nach rück-
ter ausgemacht. Es begann also eine »Reform« des ländlichen
ten die Lehrer neben dem Pfarrer und Bürgermeister auf
Bildungswesens. In deren Mittelpunkt stand die Diskrimi-
zu den dörflichen Autoritäten ersten Ranges. Die Dorfleh-
nierung der ein- oder zweiklassigen sog. »Zwergschule« und
rer prägten nun das dörfliche Kulturleben mit. Sie führten
generell der kleinen Dorfschule, der man den Rückstand
häufig die Ortschronik und befassten sich mit der Brauch-
der Landkinder an (höherer) Schulbildung anlastete. Eben-
tumspflege oder der Aufarbeitung der lokalen Geschichte.
falls in den späten 1960er Jahren hatte das raumordnungs-
Nicht selten waren sie als Organist oder Dirigent des Kir-
politische Reformkonzept der zentralen Orte seine Blüte-
chenchores tätig, oft waren sie Mitbegründer von Musik-,
zeit. Im Zentralisieren von Gemeinden, Post, Polizei und
Gesang- oder Sportvereinen. Ein Rest an alter »Kirchenver-
auch Schulen sah man nun das große Heil, den Schlüssel
bundenheit« blieb lange bestehen. So »gehörte es sich« für
für jedweden Fortschritt. Man legte aus heutiger Sicht will-
den Dorflehrer bis in die 1960er Jahre hinein, die »Auf-
kürliche Mindestgrenzen (damals »wissenschaftlich« be-
sicht« der Kinder und Jugendlichen in der Sonntagsmesse
legte) für Schulen fest, die häufig bei 120 Schülern lagen.
zu übernehmen.
Es kam in der Folge also zu einer massiven Zentralisierung
Durch zwei Reformbewegungen bekam die Dorfschule
der schulischen Bildungseinrichtungen, d. h. konkret zu
in den 1960er Jahren einen schlechten Ruf. 1964 richtete
flächenhaften Schulschließungen auf dem Land. Neben
Georg Picht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die
den Volksschulen waren hiervon auch die gewerblichen
deutsche »Bildungskatastrophe« und hatte dabei vor allem
Schulen wie z. B. die Landwirtschaftsschulen betroffen.
die Landbevölkerung im Blick. Vom »Bildungsnotstand
Profitiert vom politisch gewollten Bildungsaufschwung
auf dem Land« war die Rede. Als besonders benachteiligt
haben vor allem die weiterführenden Schulen wie Real-
und förderungswürdig wurde die katholische Bauerntoch-
schulen und Gymnasien. Sie nahmen an Zahl und Größe in
Das schöne alte Schulhaus in Ollarzried in Bayern wird heute durch Ferienwohnungen genutzt.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
161
Der Blick in diese Dorfschulklasse von 1925 zeigt schon manche Fortschritte und Annehmlichkeiten der modernen Zeit: elektrisches Licht, Kachelofen, Wandkarten. Der Lehrer erscheint als Respektsperson.
den letzten 60 Jahren auf dem Land deutlich zu. Vor allem
duziert!121 Anstelle der geschlossenen Dorfschulen entstan-
in ländlichen Kleinstädten wurden zahlreiche Realschulen
den nun – oft auf der grünen Wiese – neue, große, moderne
gegründet. Gymnasien und Realschulen, die um 1960 noch
Schulzentren in den festgelegten zentralen Orten. Mit der
einzügig waren, sind heute meist drei- oder vierzügig.
Konzentration auf diese sog. »Mittelpunktschulen« stiegen
Zurück zur schulischen Grundversorgung in den Dörfern: Allein in Baden-Württemberg wurden während der
162
die von den Schülern zu überwindenden Wegdistanzen zur Schule um ein Vielfaches.
1960er bis 1980er Jahre rund 1500 Landschulen geschlossen.
Die Nachteile der Schulschließungen wurden erst spä-
Im gesamten Bundesgebiet dürfte die Zahl der Schulschlie-
ter wahrgenommen. Man erkannte vor allem die physische
ßungen dieser Zeit bei etwa 10 000 liegen. Regionale Unter-
und psychische Belastung der kleinen Kinder durch den
suchungen belegen die drastische schulische Ausdünnung
Bustransport. Manche Kritiker der Schulreform der 1960er
ganzer Landstriche. So ging in der ländlichen Region Ro-
und 1970er Jahre bezeichnen heute das ländliche Schulwe-
thenburg in Westmittelfranken von 1960 bis 1980 die Zahl
sen als »Transportgewerbe wider Willen« und resümieren
der dörflichen Grundschulen von 98 auf 22 zurück, die
ironisch-bissig, dass die vielfach überzogenen Schulkon-
Zahl der Hauptschulen sogar von 98 auf 12. Im Landkreis
zentrationen allein dem ländlichen Busgewerbe genutzt
Lüchow-Danneberg wurde in den 1970er Jahren die Anzahl
haben. Auch aus pädagogischer Sicht wird inzwischen die
der Schulstandorte binnen sieben Jahren von 80 auf 18 re-
kleine und wohnortnahe Schule wieder positiver beurteilt.
Das moderne Dorf
Stirbt diese pädagogische Idylle aus? Eine kleine moderne Klasse in einer kleinen Dorfschule im südhessischen Hesseneck-Hesselbach.
Nachdem alle Beteiligten – Eltern, Kinder, Erziehungswis-
Hier ein Teil seines Fazits: »Heute, nachdem wir ein Jahr-
senschaftler und Bildungspolitiker – ihre Erfahrung mit
zehnt gewaltiger pädagogischer Reformen hinter uns ha-
den großen Schulzentren gemacht haben, sehen Pädago-
ben, in dieser Atempause, die uns geschenkt wird, bevor
gen heute die Schule nicht mehr allein unter dem Aspekt
wir die Reform vollenden, sollten wir uns an die ›Tante-
von Leistung und Noten, sondern auch als Erziehungsraum
Emma-Schule‹ erinnern. So wie man in den Städten längst
zu Werthaltungen wie Kooperation und Kommunikation.
erkannt hat, dass der Kahlschlag urbaner Wohnviertel zu-
Und hier erweist sich die kleine Dorfschule durchaus als
gunsten von Wohnmaschinen seelische Verelendung nach
konkurrenzfähig. Die Bilanz der übertriebenen Zentrali-
sich zieht, so wie es einen Umweltschutz gibt, der einen
sierung der Landschulen ist inzwischen wenig umstritten:
Rest erhaltenswerter Qualitäten bewahrt, so sollte auch in
Der Verlust der Dorfschule brachte nicht nur für die betrof-
der Schule ein Bewusstsein wirksam werden, das der Ver-
fenen Kinder und Eltern Nachteile – mit der Schule ha-
massung entgegenwirkt. Meine Forderungen: Zurück mit
ben die betroffenen Dörfer auch ihre kulturelle und sozi-
den ersten und zweiten Schuljahren in die Heimatdörfer
ale Mitte verloren.
(und wenn das schon nicht möglich ist, was ich verstehen
Der Schriftsteller und Lehrer Walter Kempowski hat jahrelang an einer kleinen Landschule in Niedersachsen un-
kann, sollte man wenigstens die Schulen, die heute noch auf dem Lande existieren, dort belassen).«122
terrichtet und dessen Vorzüge (gegenüber der Mittelpunkt-
Die Gefahr weiterer Schulschließungen besteht auch
schule) in einem kleinen Essay eindrucksvoll dargestellt.
heute noch, vor allem durch den demographisch beding-
Bevölkerung – Soziales – Kultur
163
In Weyarn in Oberbayern errichtete die Gemeinde vor wenigen Jahren diese moderne Dorfschule. Die Gebäude- und Schulplatzgestaltung erzeugen für Schüler und Lehrer eine wohltuende Atmosphäre.
164
ten Rückgang der Schülerzahlen. Gerade die neuen Bun-
Schulen auf dem Land und verzichtet auf Mindestschüler-
desländer sind betroffen, hier sind in den zurückliegenden
zahlen. In Bayern und anderen Ländern gilt heute das sog.
20 Jahren bereits über 2000 Schulen geschlossen worden.
»Vorhalteprinzip«. Dessen Ziel ist es, Schulen oder Kinder-
Es gibt jedoch inzwischen bundesweit vielerlei Bemühun-
gärten zunächst zu erhalten, auch wenn diese nicht mehr
gen um den Erhalt der noch vorhandenen dörflichen Schu-
voll ausgelastet sind. Ein anderer Weg sind organisatorische
len. Einen ersten Anstoß zu einer Wende in der Schulpoli-
Zusammenschlüsse mehrerer Schulen zu Schulverbünden,
tik gab das Schulministerium in Baden-Württemberg, das
um die lokalen Standorte zu sichern.
seit 1986 die (Wieder-)Eröffnung dörflicher Grundschulen
Die heute auf dem Land bestehenden Grund- und wei-
ab 40 Kindern erlaubte: In den meisten der infrage kom-
terführenden Schulen sind in der Regel sehr gut ausgestat-
menden Gemeinden kam es zu sofortigen Wiedereinrich-
tet. So gehören z. B. Sportplätze und -hallen ebenso zum
tungen von Schulen. In Bayern dürfen Grundschulen be-
Standard wie Internetanschlüsse oder die Einrichtung von
stehen bleiben, wenn sie in allen vier Klassen zusammen 26
speziell geförderten Sport- oder Musikklassen. Ein generel-
Schüler haben. In Schopfloch im Landkreis Esslingen hat
ler Schwerpunkt der Schulpolitik auch in ländlichen Regi-
sogar eine »Zwergschule« mit 20 Kindern Bestand, wobei
onen besteht derzeit darin, offene Ganztagsschulen einzu-
die Kinder der Klassen eins bis vier gemeinsam unterrich-
richten. Das auf dem Land heute bestehende relativ dichte
tet werden. In Thüringen bekennt sich die Politik zu den
Netz an Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien hat
Das moderne Dorf
Im Wald- und Bauernhofkindergarten in Thüle in Westfalen sind die Kinder bei Wind und Wetter in der Natur unterwegs. Sie sind dadurch ausgeglichener und abgehärteter geworden. Ein Vorbild.
dazu beigetragen, dass von einem Bildungsnotstand schon
einander verzahnt, die Kinder sollen die Natur und ihre
lange nicht mehr die Rede sein kann. Im Gegenteil: Bil-
Kreisläufe unmittelbar erfahren. Dazu dient das Mithelfen
dungsexperten sprechen bisweilen von einer »Bildungsre-
im eigenen Schulgarten und in der Schulküche. An jedem
volution« auf dem Land.
Schultag gibt es handwerklich-künstlerische und musische
Gegen den immer noch anhaltenden Trend der Schul-
Betätigungsphasen. Die Schule startete 2006 mit vier Kin-
schließungen gibt es auch vereinzelte Beispiele von Dorf-
dern, die jahrgangsübergreifend in kleinen Gruppen un-
schul-Neugründungen. Der abgelegene Weiler Lüchow in
terrichtet wurden. Bis zum Jahr 2010 sind die Schülerzah-
Mecklenburg-Vorpommern hatte 2005 noch vier Einwoh-
len bereits auf 40 angewachsen, da aus den Nachbardörfern
ner, alle jenseits der 60, die in drei Häusern lebten. Die übri-
viele Kinder kommen. Dörte Fuchs, die Klassenlehrerin der
gen Gebäude standen leer oder waren teilweise bereits ver-
ersten und zweiten Klasse, spricht vom »Bullerbü-Faktor«:
fallen. Dies vor Augen, fassten mehrere junge Ehepaare den
Alle kennen sich, alle helfen sich, für die Kinder ist es das
Entschluss, sich hier anzusiedeln. Die Vision war jedoch fest
Paradies.123 In der Mittagspause bekommen die Schüler das
an eine eigene Schule geknüpft. Die Elterninitiative grün-
Essen aus der Schulküche. Der Schulverein beschäftigt in-
dete also 2006 die Landschule Lüchow, eine öffentliche
zwischen sechs Voll- und sechs Teilzeitangestellte. Initia-
Schule in freier Trägerschaft, orientiert an den Grundsät-
tor und Motor der Landschule Lüchow ist Johannes Liess,
zen der Waldorfpädagogik. Dorf und Schule sind eng mit-
seine erste Bilanz nach fünf Jahren lautet: »Wir werden
Bevölkerung – Soziales – Kultur
165
nun ernst genommen«. Anfangs waren die Schulplaner be-
zige Institutionen, darunter vor allem die Kirchen. Kin-
lächelt worden. Doch als die Schule da war und sich präch-
dergärten sind in Deutschland flächenhaft im ländlichen
tig entwickelte und zudem noch Arbeitsplätze im Dorf ent-
Raum verbreitet. Im Gefolge der genannten zentralörtli-
standen, wandelte sich die Stimmung. Liess hat noch wei-
chen Leitbilder wurden gerade in den 1960er und 1970er
tere Visionen: »100 Menschen sollen einmal in unserem
Jahren vielerorts auch kleinere Kindergärten geschlossen
Dorf leben, es wird Arbeit für alle bieten. Neben der Schule
und Mittelpunktkindergärten geschaffen, die häufig auf
planen wir ein Altenheim und einen Dorfladen. Wir den-
der grünen Wiese zwischen den betroffenen Dörfern lie-
ken an eine Windkraftanlage und ein Blockheizkraftwerk.
gen. Inzwischen sind auch hier neue Erkenntnisse gereift.
Wir träumen von umgekehrter Globalisierung. Von einem
Man hält es inzwischen aus gesundheitlichen, sozialen und
Ist Lüchow ein übertrag-
pädagogischen Gründen für besser, auch kleinere Kinder-
bares Modell für andere Dörfer und Regionen? Eine Anre-
gärten in den Dörfern selbst zu belassen. Die meisten deut-
gung zum Nachdenken über Visionen und deren Verwirk-
schen Dörfer ab etwa 500 Einwohnern haben heute ihren
lichung bietet das Beispiel allemal. Durch vielfache Hür-
eigenen Kindergarten. Zunehmend sind diese auch durch-
den seitens des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft
gehend und ganztägig geöffnet und bieten Hortplätze für
und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern musste die Lü-
Kinder unter drei Jahren an.
Dorf, das sich selbst genug ist.«
124
chower Schule zwischenzeitlich geschlossen werden. Der
Seit 1970 wurden die Volkshochschulen zum Zweck der
Trägerverein der Schule hat sich davon nicht beirren las-
Erwachsenenbildung gesetzlich eingeführt. Träger sind
sen. Seit 2018 ist die beliebte Schule in Lüchow als Mittel-
meist Gemeinden, Gemeindeverbände oder Kreise. Die
punkt des Dorflebens wieder in Betrieb und unterrichtet
Volkshochschulen haben sich im ländlichen Raum zu ei-
derzeit (2020) 21 Kinder in den Klassen 1–4. Für die Klas-
ner breit gefächerten und allgemein gut nachgefragten
sen 5–8 wird eine Genehmigung zum Sommer 2020 ange-
Bildungseinrichtung entwickelt. Dies hat seine Ursache
strebt. Mittelfristig sind die Klassen 1–8 mit insgesamt 60
auch darin, dass viele Veranstaltungen bewusst dezentral
Kindern geplant (Auskunft des Trägervereins »Das leben-
durchgeführt, d. h. auch in kleineren, nicht zentralen Dör-
dige Dorf e. V.« in Lüchow im Febr. 2020).125
fern angeboten werden. Die starke Nachfrage des Weiterbil-
Auch Kindergärten und Kindertagesstätten nehmen ei-
dungsprogramms durch Frauen (70 %) zeigt an, dass mit der
nen staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag wahr. Sie
Volkshochschule auch ein gewisser Ausgleich geschaffen
sollen die Kinder vor der Schulpflicht – d. h. in der Regel
wurde zu den herkömmlichen dörflichen Vereinsangebo-
von drei bis sechs bzw. null bis drei Jahren – betreuen, för-
ten, die traditionell überwiegend auf die männliche Bevöl-
dern und allmählich auf die Schule vorbereiten. Träger von
kerung ausgerichtet waren.
Kindergärten sind die Gemeinden oder andere gemeinnüt-
Das kleine Dorf Lüchow, Gemeinde Altkalen, in Mecklenburg-Vorpommern hat sich eine Vision verwirklicht und eine neue Schule gebaut, die zum Mittelpunkt des Dorflebens geworden ist. Im benachbarten Dorfhaus befindet sich die Schulküche, wo täglich Schüler und Dorfbewohner mittags essen können, und ein Dorfladen.
166
Das moderne Dorf
Die Kraftquellen des Dorfes Traditionelle und neue Vereine
Vereine prägen das kulturelle und soziale Leben des
höheren Stellenwert als in den Städten – nach Vereins-
Dorfes. Ummendorf in Sachsen-Anhalt beispielsweise
dichte und Mitgliederzahlen schlägt das Dorf eindeutig
hat 1100 Einwohner und 30 Vereine, Bürgermeister
die Großstadt. Im Durchschnitt kommt auf je 100 ländli-
Reinhard Falke ist in allen Mitglied und nimmt auch
che Einwohner mindestens ein Verein. Große Dorfvereine
regelmäßig an deren Veranstaltungen teil. Das Dorf
wie Sportverein oder Schützenverein haben in mittelgro-
floriert und wächst an Einwohnern. Atteln in Westfalen
ßen Dörfern nicht selten zwischen 600 und 1000 Mitglie-
hat 1500 Einwohner und etwa 35 Vereine. Vor wenigen
dern! (Manche Profi-Sportvereine in Großstädten werden
Jahren ist noch ein neuer Verein hinzugekommen:
vor Neid erblassen.) In den meisten Dörfern ist es zumin-
Er hat das vor der Schließung stehende kommunale
dest für die männliche Bevölkerung selbstverständlich, ei-
Freibad übernommen und in Eigenregie zu einem
nem der großen Vereine, z. B. Schützen-, Sport-, Musikver-
beliebten Naturbad ausgebaut. Zwei Beispiele aus
ein oder Feuerwehr, anzugehören. Die Regel sind Mehr-
über 35 000 Dörfern in Deutschland, die ihre Lebendig-
fachmitgliedschaften.
keit und Lebensqualität zum großen Teil den Vereinen verdanken.
Auch bei der Jugend ist die Vereinstätigkeit sehr beliebt, sie steht in der Rangfolge verschiedener nicht materieller Werte an erster Stelle. Vielfach ist die Vereinsarbeit für die
Die ältesten Dorfvereine sind die Feuerwehr und die Schüt-
Jugendlichen eine soziale Pflicht, z. B. in der Freiwilligen
zenvereine (vgl. S. 102 ff.), die teilweise bereits im Mittelal-
(!) Feuerwehr. Fast alle Vereine betreiben zur Nachwuchs-
ter bestanden. In Deutschland bildeten sich die ländlichen
förderung und Zukunftssicherung des Vereinslebens eine
Vereine verstärkt seit dem späten 19. Jahrhundert, nachdem
regelmäßige und häufig sehr anspruchsvolle Jugendar-
die Rede- und Versammlungsfreiheit zum allgemeinen
beit, um eine möglichst feste Vereinsbindung zu erreichen.
Bürgerrecht geworden war. Zu nennen sind hier die Ge-
Zwischen den einzelnen Dorfvereinen besteht eine ständig
sang-, Musik-, Krieger- und Veteranen-, Turn- und Sport-
belebende Konkurrenz, die durch überörtliche Vergleiche
vereine. Später entstanden die geselligen Vereine und in
häufig noch verstärkt wird.
jüngerer Zeit die immer weiter spezialisierten Kultur- und Freizeitvereine. Das Vereinsleben besitzt auf dem Land einen deutlich
Die Aktiven des Musikvereins Ummendorf bei Biberach präsentieren sich stolz mit ihren Instrumenten auf einer Wiese am Dorfrand.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
167
von etwa 1500 bis 2500 Einwohnern kann pro Woche etwa 50 bis 100 Vereinsveranstaltungen vorweisen. Hauptträger des ländlichen Vereinslebens waren traditionell die alteingesessenen Familien. Dies galt vor allem für die »führenden« Dorfvereine wie Schützenverein und Feuerwehr. Je höher ein Dorfbewohner in der lokalen Prestigehierarchie stand, desto aktiver pflegte er das Vereinsleben, was sich oft in Vorstandstätigkeiten niederschlug. Nicht selten wurden Vorstandsposten in den Familien weitergegeben. Mädchen und Frauen nahmen traditionell meist nur über ihre männlichen Familienangehörigen am Vereinsleben teil. Mittlerweile hat die moderne Liberalisierung des ländlichen Soziallebens längst auch die dörflichen Vereinsstrukturen verändert. So sind heute Frauen und Mädchen in die meisten ländlichen Musik-, Sport-, Kultur- und FreiDer auf 90 Vereinsjahre zurückblickende BSV Fürstenberg hat für seine gut 1000 Mitglieder neben dem Fußball ein breites Angebot: von Badminton über Volleyball bis Leichtathletik, hier die aktuelle 1. Damenmannschaft des BSV .
zeitvereine voll integriert. Zu den größten und aktivsten Dorfvereinen zählen heute die Sportvereine. Sie sind in der Regel in jedem Dorf ab etwa 500 Einwohnern vertreten. Fast alle Sportvereine ha-
Die diversen Vereinsaktivitäten sind täglich an verschie-
ben sich längst von einer Grundsportart ausgehend – meist
denen Plätzen des Dorfes zu beobachten, in Sporthallen und
Fußball, aber auch Turnen oder Handball – dem Breiten-
anderen Übungsräumen (z. B. in Gaststätten oder ehemali-
und Freizeitsport zugewandt. In mittelgroßen Dörfern ge-
gen Schulgebäuden) oder im Freien. Während in der Wo-
hören heute neben dem obligatorischen Fußball (inzwi-
che überwiegend trainiert bzw. geprobt wird, stehen am
schen fast überall auch für Mädchen und Frauen) auch
Wochenende häufig Auftritte in der Öffentlichkeit oder
Tischtennis, Tennis, Volleyball, Badminton, Schwimmen
Punktspiele gegen Nachbardörfer an. Ein größeres Dorf
und Leichtathletik zum fast normalen Programm. Dazu kommen oft noch exotischere Sportarten wie Judo, Ballett oder Karate. In der Regel sind alle sportlichen Angebote in einem Großverein mit diversen Abteilungen gebündelt, aber es gibt auch davon unabhängige Tennis-, Reit-, Schwimm- oder Skiclubs. Die regelmäßigen und umfangreichen Spiel- und Übungsprogramme der Sportvereine richten sich inzwischen an alle Altersgruppen von den Vorschulkindern bis zu den Senioren. Sie laufen im wöchentlichen Rhythmus das ganze Jahr hindurch. All dies wird mit ehrenamtlichen Trainern, Übungsleitern und Betreuern koordiniert und durchgeführt. Dieses Engagement lässt den hohen Wert der Vereinsarbeit erahnen, die nur mit viel Idealismus geleistet werden kann. Auch die aktive Kulturpflege wird im ländlichen Raum traditionell von verschiedenen Vereinen betrieben. Zu nennen sind hier vor allem die Gesang-, Musik-, Schützen-, Karnevals-, Frauen- und Heimatvereine. Daneben bestehen vielerorts Theaterspiel- und Volkstanzgruppen, Förderver-
Kinder turnen während des Sommerfestes eines Sportclubs in Baierbrunn in Oberbayern.
168
Das moderne Dorf
2004 wurde in Atteln der neue Verein »Naturbad Altenautal« gegründet, um das vor der Schließung stehende ehemalige kommunale Freibad umzubauen und als Träger zu übernehmen.
eine für die lokale Geschichte, für regionale Dialekte und
dervereinen. Neben ihrer überwiegend ganzheitlichen
niederdeutsche Sprachen und manchmal auch spezielle
Ausrichtung (»Das Dorf mit Gemarkung in seiner Ge-
Kulturvereine. Zum Bildungsangebot der Heimatvereine
schichte«) haben diese ländlichen Museen manchmal auch
gehören z. B. Exkursionen, Vorträge und Filme über histo-
lokaltypische Schwerpunkte mit überregionaler Ausstrah-
rische und aktuelle Themen, die Pflege des lokalen und re-
lung, z. B. Kloster-, Ackerbürger-, Mühlen-, Glas-, Berg-
gionalen Brauchtums wie Schnadgänge (Begehung der Ge-
bau-, Tuchmacher-, Brauerei-, Fischerei-, Jagd-, Flößer-
markungsgrenzen), die Pflege alter Trachten und Volks-
oder Köhlermuseen.
tänze, die Konservierung alter Handwerksstätten und
Im Vergleich zu diesen »privaten«, d. h. ehrenamtlich
-traditionen, Kulturmärkte, die Anlage von Lehrpfaden, die
getragenen Angeboten der Vereine treten die öffentlich-
Pflege und Dokumentation von Natur- und Kulturdenk-
rechtlichen Kultureinrichtungen auf dem Land deutlich
mälern, heimatkundliche Kalender, Flurnamensammlun-
zurück. Traditionelle staatliche Kultureinrichtungen auch
gen, Friedhofspflege, Anleitungen zur dörflichen Garten-
der kleineren Kommunen sind die Volkshochschulen und
kultur usw. Von Dorf zu Dorf gibt es andere Schwerpunkte.
die Bibliotheken. Die in (meist größeren) Dörfern vorhan-
In zahlreichen Dörfern und Kleinstädten sind vor allem
denen öffentlichen Büchereien befinden sich häufig in der
in den letzten drei Jahrzehnten kleine Heimatmuseen ent-
Trägerschaft der großen Kirchen. In manchen Landkrei-
standen, meist getragen von lokalen oder regionalen För-
sen gibt es »Fahrbüchereien«, die mit großen Bücherbussen
Bevölkerung – Soziales – Kultur
169
Ein Bürgerverein hat in Freienseen in Mittelhessen ein leerstehendes und denkmalgeschütztes Fachwerkensemble »gerettet« und zu einem lebendigen »Haus der Begegnung« ausgebaut. Ein vorbildliches Beispiel für die Vision und Kraft einer Dorfgemeinschaft.
regelmäßig auch die kleinen Dörfer anfahren und bedienen.
sönlichkeitsentfaltung durch Teilnahme und Mitwirkung.
Die kulturellen und sportlichen Aktivitäten tragen
So wie im Jugendclub Ummendorf in Sachsen-Anhalt, der
heute wesentlich zur Identifikation der Bevölkerung mit
Räumlichkeiten für seine Aktivitäten vom Bürgermeis-
ihrem Dorf bei. Dies ist besonders wichtig, nachdem vie-
ter in einem alten Bauernhof kostenfrei zur Verfügung ge-
lerorts durch die kommunale Gebietsreform das lokalpoli-
stellt bekommt. Außerdem unterstützt die Gemeinde die
tische Selbstwertgefühl beseitigt worden ist. So ist Dorf A
Jugendlichen bei der Planung und Durchführung von Ver-
stolz und überregional bekannt wegen seiner guten Fuß-
anstaltungen wie der eines jährlichen Rockfestivals. Da-
ballmannschaft, Dorf B aufgrund seiner alljährlichen The-
für halten die Jugendlichen drei Bushaltestellen und drei
ateraufführungen, Dorf C durch seine Karnevalsaktivitä-
Kinderspielplätze in Ordnung. Ein gutes Beispiel für das
ten, Dorf D wegen seines interessanten Heimatmuseums
gegenseitige Geben und Nehmen zwischen Bürgern und
und Dorf E infolge seiner guten Musikkapelle mit Jugend-
»Staat« in einer kleinen Dorfgemeinde.
orchester. Die Kultur- und Sportaktivitäten sind objek-
170
jungen Dorfbewohnern, mannigfache Chancen der Per-
Seit etwa 15 Jahren ist in Deutschland der Gründungs-
tiv zwar schwer zu messen, subjektiv für das Dorfleben je-
boom eines neuartigen Dorfverein-Typs zu beobachten:
doch hoch einzuschätzen. Sie bieten vielen, vor allem auch
Es handelt sich quasi um Dachvereine oberhalb der bisher
Das moderne Dorf
bestehenden Vereine. Sie vertreten als »Bürgervereine« be-
lie mehr haben. So entstand die Vision der Nachbarschafts-
wusst übergreifende gesamtdörfliche Interessen und befas-
familie, wo man sich begegnen, sich helfen und gegenseitig
sen sich mit Fragen und Problemen, die bisher zwischen
informieren kann. Das erste große Projekt dieses Bürger-
den Spezialinteressen der bestehenden Vereine liegenge-
vereins war die »Dorfschmiede Freienseen«. In der Dorf-
blieben waren. Zum Beispiel: Wer richtet die 800-Jahr-
mitte würde ab 2013 ein schon länger leerstehendes, denk-
Feier des Dorfes aus? Wer kümmert sich um den vernach-
malgeschütztes Fachwerkensemble revitalisiert und zu ei-
lässigten Bachlauf, wer um ein leer stehendes Baudenkmal,
nem »Haus der Begegnung« ausgebaut. Dieses enthält seit
wer um einen fehlenden Spielplatz? Wer treibt die Integra-
der Eröffnung 2016 ein komplexes altersgerechtes Ange-
tion der Zugezogenen voran? Wer beschäftigt sich mit der
bot: einen Tagespflegebereich mit 12 Plätzen, einen Dorf-
zukünftigen Entwicklung des Dorfes? Die neuen Dorfver-
laden (es gab keinen mehr im Ort), betreutes Wohnen, Be-
eine tragen unterschiedliche, aber meist schon aussagekräf-
gegnungsstätte mit Cafe, Demenzbetreuung zum physi-
tige Namen: »Förderverein Unser Westheim«, »Interessen-
schen und mentalen Fithalten älterer Menschen. Zentraler
gemeinschaft Golzheim aktiv«, »Bürgerverein Upsprunge«,
Ort der Dorfschmiede ist eine Küche, in der gemeinsam ge-
»Dorfrat Wewelsburg«, »Verein zur Förderung der Dorfge-
kocht und gegessen werden kann. »Dann schmeckt`s auch
meinschaft Leiberg« oder schlicht »Arbeitsgruppe Weiberg
wieder« sagt Ulf Häbel, der als pensionierter Pfarrer und
2020«, »Pro Fürstenberg« und »Ollarzried aktiv«. Die neuen
Hobbylandwirt das Projekt Nachbarschaftsfamilie initiiert
Bürgervereine reagieren offenbar auf die Verluste an kom-
und als Motor begleitet hat. Oft hat er die Klagen gehört
munaler Selbstbestimmung und übernehmen in gewisser
von den Alten, die jeden Tag allein und appetitlos am Tisch
Weise die Aufgaben der früheren Gemeinderäte.
sitzen, vor sich eine eingeschweißte Mahlzeit die das »Essen
Beispiel Atteln: Im Jahr 2004 haben sich in diesem Dorf
auf Rädern« auf die Treppe gestellt hat. Sein Motto lautet:
500 Bürger zu dem neuen Verein »Naturbad Altenautal« zu-
Wir buchstabieren A–L–T nicht: Arm, Lahm und Teuer, son-
sammengeschlossen. Sein Vorsitzender Ralf Zumbrock er-
dern »Am Leben Teilhaben – bis zum Schluss!« Die »Dorf-
zählt: »Atteln hat ein Naturbad wie aus dem Bilderbuch,
schmiede Freienseen« ist ein nachahmenswertes Beispiel
und das schönste daran ist: Die Bürger haben es selbst ge-
für die innovative Vision und Kraft einer Dorfgemeinschaft
baut.«126 Dafür sind über 13 000 ehrenamtliche Stunden ge-
und einer klugen und charismatischen Führungspersön-
leistet worden. Der Verein wurde quasi aus der Not heraus
lichkeit, auf die Dörfer immer wieder angewiesen sind.
geboren: Das ehemalige kommunale Freibad sollte aus fi-
Die Beispiele Atteln und Freienseen sind keine Einzel-
nanziellen Gründen geschlossen werden. Die Bürger von
fälle, in Tausenden von Dörfern haben neue Bürgerver-
Atteln wollten sich damit nicht abfinden und suchten in-
eine ähnliches geleistet. Mehrere andere Beispiele wie Ol-
tensiv nach Möglichkeiten, das Bad zu erhalten – und zu-
larzried127, Veringenstadt oder Dalwigksthal sind in diesem
gleich attraktiver zu machen, für das Dorf und die Um-
Buch beschrieben. Vielleicht werden diese neuen Bürger-
gebung. Man entwickelte ein Konzept, gründete den Ver-
vereine demnächst die wichtigsten in den Dörfern sein, als
ein und packte an. Es wurden drei Becken gebaut: eines mit
Herz und Sprachrohr der gesamten Dorfgemeinschaft.
Sprungturm und 25-m-Bahn für sportliche Ansprüche, ei-
Die meisten Bürgermeister von Landgemeinden wissen
nes für Nichtschwimmer und eines für Mütter/Väter mit
die ehrenamtliche Mitarbeit der Bürger in den Dörfern zu
Kleinkindern. Alle drei sind chlorfrei und werden aus-
schätzen. Altbürgermeister Günter Germann, der mit sei-
schließlich von der Sonne beheizt. Das Dorf ist heute stolz
nem kleinen Dorf Bärweiler viel bewegt hat, fasst seine
auf sein Naturbad, das ein Verein trägt.
langjährigen Erfahrungen in einem Satz zusammen: »Das
Im 850-Einwohner-Dorf Freienseen, Gemeinde Laubach in Hessen, wurde 2012 der Bürgerverein »Vogelsberger
wichtigste Kapital der Gemeinde steht in keinem Haushaltsplan: es sind die Bürgerinnen und Bürger.«128
Generationennetzwerk / Nachbarschaftsfamilie« gegründet. Dieser Verein befasst sich mit den Kernwünschen vieler älterer Dorfbewohner, die auch im Alter im vertrauten Ort wohnen bleiben möchten, hier aber oft keine eigene Fami-
Bevölkerung – Soziales – Kultur
171
Von Schützenfesten, Rock- und Deelenkonzerten Feste und Kulturveranstaltungen auf dem Land
Feste sind seit altersher ein wesentlicher Teil des
(im Fränkischen »Kerwa«) hat vor allem in vielen Regionen
Landlebens. Die traditionellen Kirchen- und Dorffeste
Süddeutschlands seine Spitzenstellung unter den dörfli-
wie Weihnachten, Ostern, Kirchweih-, Schützen- und
chen Festen bis heute erhalten. Sie wird hier meist an meh-
Erntedankfest waren und sind Fixpunkte im Jahres-
reren Tagen gefeiert und ist vielerorts auch mit Umzügen
ablauf. Auch an den eher privaten Feiern wie Hochzeit
verbunden, die dörfliche Begebenheiten aufs Korn nehmen
und Beerdigung nimmt die Dorfbevölkerung meist
und an Karneval erinnern.
regen Anteil. Seit etwa 25 Jahren gibt es auf dem Land
Zu den traditionellen dörflichen Festen gehören auch
eine erstaunliche Fülle und Vielfalt an neuen Festen
die jährlichen Schützen-, Feuerwehr- und Erntedank-
und Kulturangeboten, die man vor Jahrzehnten kaum
feste, die bis heute im dörflichen Festkalender eine beson-
für möglich gehalten hätte: In Bauernhausdeelen und
dere Rolle spielen. Das wichtigste Dorffest in vielen Regio-
ehemaligen Schafställen werden Konzerte mit klassi-
nen (vor allem im Westen und Norden) Deutschlands sind
scher Musik oder Goethes Faust aufgeführt. In zahl-
die Schützenfeste, die in der Regel an drei aufeinanderfol-
reichen Dörfern wie Ralswiek, Wacken oder Giebelstadt
genden Tagen gefeiert werden. Erster Höhepunkt ist das
finden alljährlich Musik- und Theaterfestspiele oder
Vogel- bzw. Königsschießen auf einen hölzernen Adler, der
Rockkonzerte mit bundesweiter Ausstrahlung statt.
auch noch mit den Ehrenzeichen Krone, Zepter und Apfel geschmückt ist. Der durch das Schießen ermittelte König
Feste bereichern das Landleben. Schon früher wurde der
»regiert« seine Schützen für ein Jahr und erwählt eine Kö-
Alltag der Dorfbewohner durch eine Vielzahl von Festen
nigin und einen Hofstaat, die ihm zur Seite stehen. Zwei-
unterbrochen. Allein die Anzahl der Feste und Feiertage im
ter Höhepunkt des Schützenfestes ist ein Festumzug durch
Kirchenjahr war deutlich höher als heute. Die kirchlichen
das Dorf, in dem sich das Königspaar und der Hofstaat dem
»Hochfeste« wie Weihnachten und Ostern wurden über
Volk in festlichen Kleidern präsentieren. Hunderte von
mehrere Tage hinweg gefeiert. Prozessionen und Wallfahr-
Schützen in Uniformen, Fahnenabordnungen, mehrere
ten sowie Buß- und Bettage nahmen einen breiten Raum
Musikkapellen, Ehrengäste und Honoratioren wie Bür-
ein. Das Kirchweihfest, das an die Gründung und Einweihung der lokalen Kirche erinnert, gehört wohl zu den ältesten Festen auf dem Land. Die »Kirmes« oder »Kirchweih«
172
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Beim Kreisschützenfest in Thüle nehmen die beteiligten Vereine Aufstellung zum Festumzug.
germeister, Ortsvorsteher, Pfarrer, Landrat, Landtags- und Bundestagsabgeordnete begleiten den königlichen Hofstaat. Der erste Abend des Festes beginnt mit dem großen Zapfenstreich, danach – wie auch an den folgenden Tagen – finden große Festbälle statt. Neben dem Schützenverein haben auch die anderen Dorfvereine ihre Jahresfeste mit entsprechenden musikalischen, sportlichen und anderen Programmen. Außer ihren Jahresfesten bestreiten gerade die Musik- und Sportvereine noch zusätzlich im Jahr verstreute Konzerte, Feste und Sportveranstaltungen wie Advents- und Frühlingskonzerte, einen Tanz in den Mai oder einen Sommernachtslauf. Die sich seit Jahren auf dem Land immer weiter ausbreitenden Karnevalsvereine besetzen mit mehreren Veranstaltungen die fünfte Jahreszeit vom 11. 11. bis zum Aschermittwoch.
Nicht nur im Rheinland wird Karneval gefeiert, hier die Schellenrührer mit Holzmasken beim traditionellen Faschingsumzug in Mittenwald in Oberbayern.
Neben den oft sehr aufwendigen Rosenmontagsumzügen gehört vielerorts die Kappensitzung oder der Galaabend zu den aufwendigsten, spritzigsten und stimmungsvollsten Dorffesten, wobei das Programm weitgehend von der eigenen Bevölkerung gestaltet wird. In den deutschen Weinbaulandschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten die Wein- und Winzerfeste, die sich meist auch über mehrere Tage erstrecken, zu den wichtigsten Dorffesten entwickelt. Auch private Feste werden auf dem Land häufig öffentlich gefeiert. An Hochzeiten und Beerdigungen nimmt nicht selten »das halbe Dorf« teil, zuerst am Gottesdienst in der Kirche und danach an den Feiern im größten Saal des Gasthofs oder der Gemeindehalle. Dies gilt auch für runde Geburtstage und Feste wie die Silberne oder Goldene Hochzeit. Es ist üblich, dass auf diesen Festen auch einiges vorgetragen wird: selbstverfasste Gedichte und Lieder
Auf der Naturbühne von Ralswiek am Jasmunder Bodden wurden das von Windmühlen eingerahmte Rathaus von Emden und die Kathedrale der verfeindeten Stadt Marienhafe aufgebaut und so die richtige Kulisse der Störtebeker-Festspiele geschaffen.
zum Lebenslauf, zu den Stärken und kleinen Schwächen der Geehrten, oft mit Akkordeon, Gitarre oder einer kleinen »Kapelle« begleitet. Neben diesen größeren Festen gibt es natürlich die vielen kleinen Feste der Nachbarschaften, Verwandtschaften und Cliquen zu den unterschiedlichsten Anlässen. Insgesamt hat sich die Feierkultur des Dorfes in den letzten Jahrzehnten kräftig ausgeweitet. Vor allem die Jugendlichen haben sich neue Treffpunkte in Grillhütten oder umgestalteten Scheunen am Dorfrand geschaffen oder sie verlassen das Dorf, um Diskos, Clubs, Bowlingbahnen oder Kinos in der Region aufzusuchen. Neben den traditionellen Dorffesten hat sich in den letzten 25 Jahren eine Fülle und Vielfalt von neuen Festen Im Goethetheater und den historischen Kuranlagen von Bad Lauchstädt in SachsenAnhalt werden jeden Sommer Opern, Konzerte und Schauspiele aufgeführt.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
173
Im schleswig-holsteinischen Dorf Wacken findet seit 1990 alljährlich im August das europaweit bekannte Open Air Heavy-Metal-Festival statt.
174
und Kulturveranstaltungen entwickelt, die man den länd-
sehr anschauliche und unterhaltende Sonderveranstaltun-
lichen Gebieten vor Jahrzehnten kaum zugetraut hätte.
gen: z. B. zur Glas- und Tuchmacherei, zur Abwanderung
Man darf von einer »neuen ländlichen Festkultur« spre-
vom Land, zur alten Dorfschule, zum Mühlengewerbe, zur
chen. Die Impulse kamen z. T. aus den Dörfern selbst, z. T.
früheren Flößerei, zur Fischnutzung und Jagd.
aus der umgebenden Region. Darüber hinaus entstanden
Auch die entlegensten Winkel unseres Landes sind
viele Anregungen durch »städtische« Künstler und Mäzene,
zur Konzert- und Theaterbühne geworden. Was mit dem
die ihr Herz für das Land entdeckten.
Schleswig-Holstein Musik Festival 1986 begann, hat in
Man sollte sich an einem beliebigen Sommerwochenende
fast allen Regionen der Republik Nachahmung gefunden.
in einer beliebigen ländlichen Region einmal gezielt das
Von April bis Oktober ist Festivalzeit in Deutschland. Wer
Angebot an Festen und Kulturveranstaltungen anschauen.
sich im Internet unter den Suchbegriffen »Gartenfestival«
Man dürfte in einem Umkreis von 30 km ohne große Mü-
oder »Dorffestival« informiert, findet dort über das Jahr
hen auf 20 bis 40 solcher Angebote stoßen. Hier findet ein
verteilt jeweils mehrere Hundert Veranstaltungen in allen
mehrtägiges Rockkonzert statt, dort ein Gartenfestival, an-
Teilen Deutschlands. Hier in Kurzform ein paar Beispiele:
derswo ein Freilichttheater, ein Klostermarkt, ein Klassik-
Seit 1990 findet in dem Dörfchen Wust bei Tangermünde
konzert in einem alten Bauernhaus, Goethes Faust in einem
in Sachsen-Anhalt jährlich in den Sommerferien die Som-
ehemaligen Schafstall, ein Köhlerfest im Walde, eine Dich-
merschule Wust mit einem sehr anspruchsvollen, von der
terlesung im alten Kurhaus, ein Bahnfest auf einer stillge-
Dorfgemeinschaft getragenen Sprachförderungs- und Kul-
legten Trasse, eine Kunstausstellung in einem ehemaligen
turprogramm statt. Im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt
Gutshof, ein Orgelkonzert in einer alten Dorfkirche. Die
werden jährlich im Sommer Opern und Konzerte aufge-
vielfältigen regionalen Museen haben ihre Tore geöffnet
führt sowie ein »Festspiel der deutschen Sprache« veranstal-
und präsentieren neben ihrem normalen Programm häufig
tet. In der 70-Einwohner-Gemeinde Klein Leppin in Bran-
Das moderne Dorf
denburg werden von der Dorfbevölkerung im ehemaligen Schweinestall einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft (LPG ) Opern wie »Der Freischütz« oder »Die Zauberflöte« aufgeführt. Im westfälischen Dalheim findet seit über 20 Jahren der »Dalheimer Sommer« mit anspruchsvollen Musik- und Theateraufführungen statt, im Jahr 2010 u. a. das Lustspiel »Horribilicribrifax« von Gryphius. In Giebelstadt bei Würzburg wird alljährlich das hier lokal verwurzelte Bauernkriegsdrama von 1525 um den Ritter Florian Geyer in einer monumentalen Ruine des Geyer Stammschlosses gespielt. Einige Musik- und Theateraufführungen auf dem Land haben sogar eine bundesweite und internationale Ausstrahlung: Beispiele sind Ralswiek in Mecklenburg-Vorpommern, Wacken in Schleswig-Holstein und Oberammergau in Bayern. Das kleine Dorf Ralswiek liegt malerisch in einer Bucht des Großen Jasmunder Boddens auf der Insel Rügen. Unterhalb eines Schlosses werden hier auf einer zum Bodden abfallenden Naturbühne seit 1993, anknüpfend an eine ältere Tradition, alljährlich die Störtebeker-Festspiele durchgeführt. Die Spielzeit ist jeweils von Ende Juni
Klassische Musikaufführungen und Schauspiele finden immer häufiger – vornehmlich im Sommer, zunehmend auch ganzjährig – im reizvollen ländlichen Ambiente historischer Guts- und Parkanlagen sowie Bauerngehöften statt und begeistern überall in Deutschland das Publikum. Hier die Einstimmung zu einem sommerlichen FestivalAbend auf Gut Stockseehof im Dorf Stocksee in Schleswig-Holstein.
bis Anfang September. Im Jahr 2018 hat das Schauspiel zu Wasser und zu Lande, an dem rund 150 Darsteller, 30 Pferde
führt. Spielberechtigt sind nur Bürger aus Oberammergau.
und vier Piratenschiffe teilnehmen, über 310 000 Besucher
Im Jahr 2010 nahmen rund 2000 Erwachsene und 450 Kin-
angezogen. Das beliebteste Open-Air-Spektakel Deutsch-
der an dem Passionsspiel teil, das sind knapp die Hälfte der
lands ist natürlich für Ralswiek und die Insel Rügen auch
5000 Einwohner. Das Passionstheater umfasst 4700 über-
ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
dachte Sitzplätze. Zu den insgesamt 102 jeweils achtstün-
Zu den besten Adressen für Rockmusikfans in Deutsch-
digen Aufführungen von Mai bis Oktober kamen rund
land gehört das 1800-Einwohner-Dorf Wacken in Schles-
500 000 Besucher. Sie reisen alle zehn Jahre aus allen Teilen
wig-Holstein. Seit 1990 findet hier jährlich im August das
Deutschlands und der Welt an und machen das oberbayeri-
inzwischen weltgrößte Heavy-Metal-Festival statt. Auf
sche Dorf für ein halbes Jahr zu einem Wallfahrtsort in die
mehreren Bühnen spielten hier 2018 200 Bands. Weltbe-
Geschichte des Christentums. Für Oberammergau sind die
kannte Metal-Bands wie Slayer und Iron Maiden traten
Festspiele »der Identitätskern der Gemeinde«.129
hier schon auf. Rund 75 000 Besucher kamen zu dem drei-
Neben den musischen Künsten sind auch die bildenden
tägigen Festival, das sich auf riesigen, vorher landwirt-
Künste wie Malerei und Bildhauerkunst inzwischen auf
schaftlich genutzten Flächen ausbreitet. Das Erfolgsge-
dem Land weit verbreitet. Im schönen Ambiente alter Müh-
heimnis von Wacken ist das ländliche Flair und die Tatsa-
len, Gutshöfe, Speicher und Kirchen sind zahlreiche Gale-
che, dass praktisch das ganze Dorf mitmacht und nebenbei
rien begründet worden. Immer mehr Kunstprojekte werden
viele Dorfbewohner in irgendeiner Weise von dem Festival
in Dörfern verwirklicht. Ein Beispiel ist das Projekt »Kunst
profitieren.
fürs Dorf – Dörfer für Kunst« der Deutschen Stiftung Kul-
Durch seine Passionsfestspiele weltbekannt ist das ober-
turlandschaft für das Land Mecklenburg-Vorpommern im
bayerische Dorf Oberammergau. Nach einem Gelübde im
Jahr 2009. Die Künstler suchen das Land aus zwei Gründen
Pestjahr 1633 wird hier seit 1634 alle zehn Jahre das Schau-
auf: um Impulse zu geben – aber auch, um selbst vom Land
spiel vom Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth aufge-
zu profitieren. Prof. Michael Soltau, Jurymitglied des Pro-
Bevölkerung – Soziales – Kultur
175
Freiwillige Feuerwehr Lelkendorf rückte selbstverständlich pflichtbewusst an, auch zahlreiche Dorfbewohner schauten sich das Spektakel an, diskutierten mit den Künstlern und feierten ein kleines Dorffest. Das Projekt »Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst« wurde 2011 für Niedersachsen und 2013 auch auf Bundesebene durchgeführt, wobei letzteres in einer mehrteiligen Fernsehreihe vom Kulturkanal ARTE dokumentiert worden ist. Die neuen Feste und Kulturangebote haben das Landleben bereichert. In gewisser Weise ist die Hoch- und Popkultur der Großstädte nach und nach in die ländlichen Regionen vorgedrungen. Gerade in den Sommer- und Herbstmonaten ist das Land beschwingter und heiterer geworden. Und wer in der Adventszeit das Land besucht, findet dort immer mehr Weihnachts- und Adventsmärkte in Dörfern um die alten Kirchen herum oder auf Gutshöfen und Schlössern, die vielfach von der Atmosphäre her mit jenen in Großstädten mithalten können. Nicht nur die Dorfbewohner profitieren von dieser neuen Landkultur, auch die Auch moderne Kunstprojekte wie »Temporäre Kunst« haben ihren Platz auf dem Lande, wie hier in Lelkendorf bei Teterow die Installation »Blitzeinschlag« am 12. September 2009 von Jan Philip Scheibe.
Städter fahren gern zu den Festen und Kulturereignissen
jekts, beschreibt die Motive der Künstler: »Metropolen bers-
tät der Künste in Essen, führt seit über 20 Jahren zusammen
ten vor einem Überangebot an Kunst in Theatern, Galerien,
mit seiner Frau Heide im westfälischen Atteln zweimal im
Konzertsälen und Clubs. Auf dem Land setzen Sportverein
Jahr an jeweils zwei Tagen Kammermusikkonzerte in der
auf dem Land und genießen zweifach: das ländliche Ambiente und ein Stück Hochkultur. Musik-Professor Ekkehard Schoeps, Folkwang-Universi-
und Wirtshaus, Kino und Fernsehen den Rahmen für das
Deele einer alten Schäferei (mit 60 Plätzen) durch. Er be-
gesellschaftliche und kulturelle Leben. Vereinsleben und
schreibt seine bisherigen Erfahrungen mit der Akzeptanz
unberührte Natur bringen oft menschlichere Verhaltens-
in der Landbevölkerung: »Wir sind vorher gewarnt worden,
weisen hervor, als die stundenlange Parkplatzsuche im Bal-
dass das in dem Dorf mit klassischer Musik wohl schwie-
lungsgebiet. Künstlerkolonien haben immer wieder von
rig wird. Aber wir waren überzeugt, dass höchste Quali-
diesem für die Kunst wertvollen Fluchtmechanismus pro-
tät auch auf dem Land angenommen wird. Unsere Künst-
fitiert.«
ler haben jeweils mit einfachen Worten in ihre Stücke ein-
130
Im Rahmen des Projekts »Kunst fürs Dorf« wurde das
geführt. Über die Jahre hin ist so ein tieferes Verständnis
12 m große ehemalige Pförtnerhäuschen am Wege zum al-
der Besucher für die Musik gewachsen. Natürlich hat uns
ten Schloss in Lelkendorf zur »Temporären Kunsthalle Lel-
das Ambiente dieser schönen Fachwerkdeele aus dem Jahr
kendorf« für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst umge-
1724 mit hervorragender Akustik und das hautnahe Erle-
nutzt. Das Ende des Projekts wurde mit einer präzisen Wet-
ben der Interpreten geholfen. Klassische Musik in wohl-
2
176
tervorhersage, einem Blitzschlag, für den 12. September
tuender Atmosphäre kommt also auch auf dem Lande an,
2009, 18:00 Uhr festgelegt. Der Künstler Jan Scheibe hatte
wenn die Qualität stimmt. Unsere ehrenamtliche Tätig-
dazu auf der Temporären Kunsthalle eine 6 m hohe Blitz-
keit wird ständig belohnt durch ein dankbares Publikum
konstruktion mit dem Titel »Einschlag« installiert. Diese
und immer ausverkaufte Konzerte.«131 Bis heute (Mai 2019)
löste per Bewegungsmelder Blitz und Donner aus, als sich
haben insgesamt 101 stets ausgebuchte Deelenkonzerte mit
am 12. September pünktlich die Besucher näherten. Die
über 6000 Besuchern stattgefunden.
Das moderne Dorf
Waidmannsheil und Halali! Die Jagd als traditionsreicher Teil des Landlebens
Zur Kulturgeschichte des Landes gehört die Jagd ganz
gleich immer Inhaber des Jagdrechtes, weshalb die Jagd für
wesentlich und von Anfang an dazu. Das Jagen von
Dorfbewohner etwas Normales ist. Sie kennen in der Regel
Wildtieren und das Sammeln von Wildfrüchten diente
das Wild der Gemarkung und haben immer wieder auch an
während 99 % der Menschheitsgeschichte zur Siche-
Jagden teilgenommen. Jagdgeschichten sind somit ein Teil
rung der Existenz. Manche Wissenschaftler und Philo-
der Dorfgeschichten.
sophen bezeichnen die Jagd deshalb als ein mensch-
Die Prägung unserer Kultur durch die Jagd zeigt sich
liches Urmotiv. Nur das letzte Prozent seit etwa
in der Sprache, der Kunst, Musik, Literatur, Architektur,
7000 Jahren befassten sich die Landbewohner als
im Volkslied und Brauchtum. Die ältesten Malereien aus
Bauern mit Ackerbau und Viehzucht. Die Jagd hat ihre
der Altsteinzeit vor 30 000 Jahren zeigen Jagdbilder. Zu den
ursprüngliche Bedeutung und auch ihren späteren
schönsten und bekanntesten Volksliedern gehören Jagdlie-
»Herren«-Charakter längst verloren. Sie ist jedoch für
der wie »Ein Jäger aus Kurpfalz« und »Ich schieß’ den Hirsch
viele bis heute ein wichtiger Teil des Landlebens
im wilden Forst«. In einer der interessantesten und belieb-
geblieben. Andere hingegen stehen der Jagd kritisch
testen deutschen Opern, in »Der Freischütz«, stehen Jäger
gegenüber. Die heutige Jagd hat inzwischen sehr unter-
und Jagdrituale im Mittelpunkt. Immer wieder haben sich
schiedliche gesellschaftliche Interessen zu erfüllen.
Philosophen und Dichter mit der Jagd beschäftigt. So stellt der spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem Buch
»Die Jagd war für die Evolution des Menschen von zentra-
»Meditationen über die Jagd« die These auf, dass »die Jagd in
ler Bedeutung. Um zu überleben und sich gegen Konkur-
dem Glücksrepertorium des Menschen stets den höchsten
renten aus dem Tierreich erfolgreich durchzusetzen, ent-
Rang eingenommen« habe133. Zahlreiche Jagdschlösser und
wickelte der Mensch eigene Waffen und Jagdstrategien. Die
Tiergärten, die vor allem in der Blütezeit der höfischen Jagd
Notwendigkeit, gemeinsam zu jagen, förderte seine sozia-
angelegt wurden, prägen bis heute unsere Kulturlandschaft.
len und kommunikativen Fähigkeiten. So bildet die Jagd
In der Sprache haben sich viele Redewendungen der Jäger-
eine der Grundlagen der menschlichen Kultur. In Europa ist die Jagd fest in regionalen Lebensweisen und Kulturen verwurzelt.«132 Die Jagd ist naturgemäß auf dem Land stärker verwurzelt als in den Städten. Jeder Landbesitzer ist zu-
Abbildung oben: An die Blütezeit der höfischen Jagd im 18. Jahrhundert erinnern bis heute vor allem die prächtigen Jagdschlösser, hier das Jagdschloss Hubertusburg in Wermsdorf (Landkreis Nordsachsen).
Bevölkerung – Soziales – Kultur
177
sprache bis in die heutige Zeit gehalten. So steht das »durch
bereits weniger der Nahrungsmittelversorgung als dem
die Lappen gehen« für »entwischen« und erinnert an das
Ertragsschutz: Im Vordergrund stand der Schutz des
Ausbrechen des Wildes aus den mit Lappen und Netzen um-
Weideviehs vor Wolf, Bär und Luchs und der Äcker vor
zäunten Waldstücken bei früheren herrschaftlichen Jag-
Schwarzwild, Wisent und Auerochse. Ein wichtiger Ne-
den. Weitere Sprichwörter und Redewendungen jagdlicher
beneffekt war außerdem der Erwerb von Pelzen und
Herkunft sind: »Wissen, wie der Hase läuft«, »Viele Hunde
Häuten, Waffen und Werkzeugen.
sind des Hasen Tod«, »Da liegt der Hase im Pfeffer«, »Den
800 bis 1200
Das Jagdrecht wird nach und nach zum
Letzten beißen die Hunde«, »Den Hund zum Jagen tragen«,
Königsrecht. Die bäuerliche Bevölkerung wird recht
»Ins Netz gehen/im Netz zappeln«, »Fallstricke legen«, »In
bald von der Jagd ausgeschlossen. Fanden keine Feldzüge
die Falle gehen/in der Falle sitzen«, »Lunte riechen«, »Wind
statt, begab sich der König mit seinen adligen Gefolgs-
bekommen von etwas«, »Auf die Schliche kommen«, »Die
leuten auf die Jagd, was der Erholung wie der kriege-
Fährte aufnehmen«, »Beute machen«, »Angsthase, Hasen-
rischen Übung diente.135 Im Laufe des Mittelalters gin-
fuß, alter Hase, Hasenherz«, »Schlauer Fuchs/alter Fuchs«,
gen die königlichen Jagdrechte allmählich in die Hände
»Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, »Auf den
der Landesherren und des Rittertums über. Die Jagd wird
Busch klopfen«, »Schürzenjäger«.
134
Die Geschichte der Jagd vom Frühen Mittelalter bis heute lässt sich grob in vier Phasen einteilen:
zum »Herrenrecht«. 1200 bis 1803 bzw. 1848
Vom Hohen Mittelalter bis
zum 19. Jahrhundert war die Jagd ein Privileg der Landes-
Die bäuerliche Bevölkerung hat weitgehend
herren und des Adels, die Landbevölkerung blieb außen
freie Jagdmöglichkeiten. In dieser Zeit diente die Jagd
vor. Versuche der Bauern wie im Bauernaufstand von
400 bis 800
Um der feudalen Gesellschaft ein gesteigertes Jagdvergnügen zu verschaffen, wurden Jagden kunstvoll inszeniert und teils wie auf diesem Gemälde von H. W. Döbel aus dem 18. Jahrhundert in einem gewässerten Schlosshof durchgeführt.
178
Das moderne Dorf
Herzog Ludwig von Württemberg mit seiner Gemahlin inmitten einer großen Jagdgesellschaft – auf einem Gemälde des Hofmalers Hans Steiner von 1580. Vom 16.–18. Jahrhundert gehörte das fürstliche Jagen zu den zentralen Aktivitäten der adeligen Gesellschaften.
1525, ihren Ausschluss von der Jagd zu beenden und ihre
sorgung der fürstlichen und herrschaftlichen Haushalte
alten Jagdrechte wiederzubekommen, blieben erfolglos.
ausgeübt, wurde die Jagd im Spätbarock und Rokoko
Sie konnten sich damit nicht gegen die Landesherren
zur Bühne prunkvoller Selbstdarstellung einer entarte-
durchsetzen. Vor allem die zwei Jahrhunderte von 1650
ten Absolutie.«136 Auch in zeitgenössischen Darstellun-
bis 1850 gelten als die Blütezeit der sog. »höfischen« Jagd.
gen finden sich kritische Äußerungen zum übertriebe-
Man begann nun, Wildtiere zu hegen, um sie immer
nen Jagdspektakel. So schreibt der Ökonom und Dichter
in großer Zahl zur Verfügung zu haben. Die Jagd selbst
Jung-Stilling um 1780: »Die Jagd war von jeher eine ad-
wurde immer pompöser und zu einer wichtigen Form der
lige Leibes- und Waffenübung der Fürsten. Nebenher hat
Selbstdarstellung der Landesfürsten und des Adels. In al-
sie auch den Zweck, die Länder von schädlichen Tieren
len Teilen des Landes wurden Tiergärten und prachtvolle
zu reinigen. Wenn sich ihrer der Regent auf diese Weise
Jagdschlösser errichtet. In der Jagd der Barock- und Roko-
und zu diesem Zweck bedient, so ist sie zulässig, nütz-
kozeit trieben Landesherren und Hochadel ihre Wünsche
lich und nötig. Allein, ein großer Teil der Landesherren
nach Macht und Repräsentation auf die Spitze, was nicht
hat nichts weniger als diese Absicht. Eine übertriebene
selten Kritik hervorrief. »Ursprünglich teils aus echter
Leidenschaft zur Jagd beherrscht dieselben. Daher wird
Passion, teils aus ritterlichem Sportsgeist, teils zur Ver-
auch eine übermäßige Menge Wildbret gehegt.«137
Bevölkerung – Soziales – Kultur
179
Die bäuerliche Bevölkerung hatte unter den hohen
In der langen Phase der herrschaftlichen Jagd war es ein
Jagdinteressen der Fürsten und Adligen zu leiden, weil
wichtiges Anliegen, die Großraubwildarten Bär, Luchs
das Wild immer wieder die Früchte ihrer Felder abfraß.
und Wolf zu bekämpfen und schließlich zu beseitigen.
Den Bauern blieb die Pflicht, zur Vor- und Nachberei-
Gründe hierfür waren zuerst die hohen Verluste an Weide-
tung der Jagd Hand- und Spanndienste zu leisten oder
vieh, also landwirtschaftliche Interessen. Doch später, im
als Treiber mitzuwirken. In der ländlichen Bevölkerung
17. und 18. Jahrhundert, dienten viele landesherrliche
blieb über die Jahrhunderte ein Groll darüber erhalten,
Wolf- und Luchsjagden vorrangig auch dem Schutz des
dass man das Wild nicht mehr nutzen konnte, und au-
Wildbestands.
ßerdem über die Nachteile, die sie durch die Auswüchse der höfischen Jagd zu erdulden hatten. »Die Revolte dagegen hat nie aufgehört und sie hieß ›Wildern‹.«
1803/1848 bis heute
Die Vorrechte von Landesherren
und Adel wurden beseitigt, die Jagd wurde »bürgerlich«
Gerade
und »demokratisch«. Ausgelöst durch die Französische
im Zeitalter der höfischen Jagd kam es immer wieder zu
Revolution von 1789, die Säkularisation von 1803 und
Wildereien. Aus allen Regionen in Deutschland sind die
schließlich die Revolution von 1848 wurde die Beschrän-
Namen von »berühmten Wildschützen« bekannt. Ein
kung der Jagdrechte auf Landesherren und Adel beendet.
Beispiel ist der Wildschütz Georg Jennerwein, der 1877 er-
Das preußische Gesetz vom 31. 10. 1848 hob das Jagdrecht
schossen wurde und dessen Grab in Hausham am Schlier-
auf fremdem Grund und Boden auf und band das Jagd-
see bis heute gepflegt wird. In der Bevölkerung hatten die
recht an das Grundeigentum. Es erlaubte grundsätzlich
Wilderer häufig einen guten Ruf (sie versorgten z. B. arme
jedem Grundeigentümer die Jagd auf seinem Grund-
Leute mit Wildbret), obwohl sie gegen bestehende Ge-
stück.139 Jeder Bauer konnte nun sein Jagdrecht (wieder)
setze verstießen und vereinzelt auch zu Mördern wurden.
selbst nutzen oder an eine Jagdgenossenschaft oder einen
138�
Jagdpächter weitergeben. Das neue Jagdrecht wurde zu einem Grundrecht der Reichsverfassung. Durch ein weiteres Jagdgesetz von 1850 wurden für die Jagd Reviere mit einer Mindestgröße von 300 Morgen (75 ha) festgelegt. Dem kleinen Bauern mit zehn oder 20 ha Land war damit die separate Jagd auf seinem eigenen Land untersagt. Dies führte zur Bildung von gemeinschaftlichen Jagdbezirken und zur Verpachtung von Jagden. Mit der Verpachtung kamen nun breitere Bevölkerungsschichten in Kontakt zur Jagd. Vor allem auch Stadtbewohner entdeckten ihre Freude daran und fuhren in ihrer Freizeit nach Feierabend oder am Wochenende aufs Land. So kam der Begriff des »Sonntagsjägers« auf, der schon von Carl Spitzweg in seinem berühmten Bild »Der Sonntagsjäger« leicht ironisierend dargestellt wurde. Mehr und mehr verbreitete sich ab dem späten 19. Jahrhundert auch in der bürgerlichen Jägerschaft die Gewohnheit, Teile der erlegten Tiere als Trophäe aufzubewahren und z. B. das Hirschgeweih oder Rehgehörn als dekorativen Raumschmuck zu verwenden. Die Jagd hat sich in den letzten hundert Jahren stark verändert. Sie steht heute unter ständiger Kontrolle des Staates und einer kritischen Beobachtung der nicht jagenden ÖfVor der Entwicklung der modernen »Feuerwaffen« wurde mit Armbrust und Pfeilen gejagt, hier ein historisches Stück von 1650.
180
Das moderne Dorf
fentlichkeit. Die moderne Jagd muss immer mehr gesell-
stellt und erhielten eine ganzjährige Schonzeit. Außerdem
schaftliche Interessen wie Land- und Forstwirtschaft, Na-
muss die Wildhege dafür sorgen, dass Beeinträchtigungen
tur- und Umweltschutz oder Freizeit und Erholung berück-
für die land- und forstwirtschaftliche Nutzung z. B. durch
sichtigen. Ein zentrales Anliegen der Jagd ist die Wildhege,
Wildschäden möglichst vermieden werden. In der Wild-
die auch seit Langem im Jagdrecht verankert ist. Wildhege
hege begegnen sich also bereits Jagd-, Naturschutz- sowie
bedeutet im klassischen Sinne zunächst eine »Vermehrung
land- und forstwirtschaftliche Interessen!
des Nutzwildes zur Optimierung der Jagdmöglichkeiten
Ein zentraler und ständiger Interessenkonflikt besteht
bzw. des Jagdertrages«.140 Darüber hinaus dient die Hege
zwischen der Jagd und der Forstwirtschaft. Der Fernseh-
aber auch dazu, einen artenreichen und gesunden Wildbe-
film »Über den Rothirsch« von Horst Stern, ausgestrahlt
stand zu erhalten und dessen Lebensgrundlagen zu pflegen
am Heiligabend 1971, wirkte wie ein Paukenschlag und er-
und zu sichern. Die Hege beinhaltet auch eine Verbesserung
reichte ein Millionenpublikum. Er griff die einseitigen In-
des Tierschutzes, z. B. durch das Verbot tierquälerischer Fal-
teressen der Jäger an, die nur hohe Wildbestände im Auge
len und die Einführung der Jägerprüfung, in der grund-
hätten und die Zerstörung der Wälder in Kauf nähmen.
legende Kenntnisse über Wildbiologie, Wildkrankheiten
»Waldsterben von unten« durch Wildverbiss war die klare
und Naturschutz verlangt werden. Bedrohte Tierarten wie
Botschaft. Tatsächlich steht fest, dass durch zu viel Wild er-
Fischadler oder Graureiher wurden unter das Jagdrecht ge-
hebliche Baumschäden in den Wäldern entstanden sind. So
Die Liebe zur Jagd zeigt sich auch in der Trophäenpflege, hier als Wandschmuck dekoriert im Speisesaal des Jagdschlosses Moritzburg bei Dresden.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
181
den »richtigen« Umgang mit der Natur. So sind seit den 1980er Jahren neben den traditionellen Jagdverbänden ökologische Jagdverbände gegründet worden. Ein weiteres Konfliktfeld ergibt sich durch die zunehmende Nutzung von Feld und Wald durch Freizeit und Erholung. Immer mehr Menschen suchen Entspannung durch Bewegung und Sport in der freien Natur, im Sommer wie im Winter, am Tage und in der Nacht. Spazierengehen, Radfahren, Reiten, Mountainbiking, Nachtwanderungen, Orientierungsläufe, querfeldein führende Skitouren, Pilze- und Geweihstangensuchen belasten in gehäufter Form die Tierwelt und führen zu Verhaltensänderungen bei den Wildtieren. So ziehen sich Hasen aus Feldbereichen zurück, in denen sie ständig von Spaziergängern mit Hunden gestört werden. Vielerorts arbeiten Forstämter, Jagdinhaber, Kommunen und Tourismusverbände an Lösungen, Ein Jäger beobachtet das Wild von einem Hochsitz aus, das Jagen von dort nennt man »Ansitzjagd«.
den Wald zur Erholung zu nutzen und zugleich den Lebensansprüchen der Wildtiere gerecht zu werden. Zum Beispiel werden Informationstafeln für Waldbesucher aufge-
182
folgte 1974 konsequent ein Aufruf von 120 deutschen Forst-
stellt, Ruhezonen für das Wild ausgewiesen und gesetzlich
wissenschaftlern, die eine nachhaltige Reduzierung der
zulässige Jagdzeiten verkürzt.143
Rot- und Rehwildbestände forderten.141 Inzwischen hat sich
Trotz seiner Siedlungs- und Verkehrsdichte weist
einiges getan. Durch hohe Abschusszahlen sind die Wild-
Deutschland einen artenreichen und auch zahlenmäßig be-
bestände in den Wäldern erheblich reduziert worden. In
deutenden Wildbestand auf. Welche heimischen Wildtiere
der Folge hat die heute angestrebte Naturverjüngung der
stehen heute vor allem im Blickfeld der Jagd? Traditionsge-
Baumbestände deutliche Fortschritte gemacht.
mäß werden die Wildarten immer noch in Hochwild und
Auch in der Beziehung zwischen Jägern und Natur- und
Niederwild eingeteilt. Das Hochwild war vom Mittelal-
Artenschützern gibt es sowohl Konflikte als auch Annä-
ter bis ins frühe 19. Jahrhundert der »Hohen Jagd« zugeord-
herungen. Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel: die Erhal-
net, die dem Kaiser, König, Landesherrn und hohen Adel
tung von Natur und Landschaft und die nachhaltige Si-
vorbehalten war. Das Niederwild stand dem niederen Adel
cherung der Nutzungsfähigkeit der Naturgüter. »Auf die-
zu, seltener auch den Klöstern und Städten. Zum Hochwild
ser Basis setzen die beiden Gruppen allerdings spezifische
zählen vor allem das Rotwild (Hirsch) und das Schwarz-
Akzente: Naturschützer schützen die Natur auch um ih-
wild (Wildschwein), zum Niederwild das Rehwild, Hasen,
rer selbst willen, Jäger wollen auch Beute machen.«
Fuchs und kleines Geflügel wie Rebhuhn und Fasan. In
142
Ein
konkretes Konfliktbeispiel ist die derzeit von Naturschüt-
der Jägersprache ist heute auch die Bezeichnung »Schalen-
zern befürwortete und betriebene Wiedereinführung des
wild« üblich, die alle Wildarten zusammenfasst, die Scha-
Wolfes, der ja durch frühere Jagdmotive und Interessen der
len (Klauen) haben: dazu gehören vor allem Hirsch, Reh
Landwirtschaft aus unserer Kulturlandschaft verschwun-
und Wildschwein. Durch ein fortlaufendes Wildtier-Infor-
den war. Jäger stehen der »Schonung« des Raubwildes Wolf
mationssystem der Länder Deutschlands weiß man heute
überwiegend mit Skepsis gegenüber, weil dieser sowohl an
genau Bescheid über die Bestände und die regionale Ver-
Wildtieren als auch an domestizierten Nutztieren wie Scha-
breitung der wichtigsten Wildtiere. So hat z. B. der Feld-
fen Schaden anrichtet. Generell finden sich in der großen
hase im nordwestdeutschen Tiefland, das Schwarzwild in
Zunft der Jäger, die man früher gern salopp als »die Grü-
den deutschen Mittelgebirgen sowie in Mecklenburg-Vor-
nen« bezeichnete, sehr unterschiedliche Auffassungen über
pommern und Brandenburg seine größte Verbreitung. Die
Das moderne Dorf
Entwicklung der Bestände verlief in den zurückliegenden Jahrzehnten sehr unterschiedlich. Während die Populationen der Feldhasen deutlich zurückgegangen sind, haben sich die Schalenwildbestände seit etwa 200 Jahren mindestens verzehnfacht.144 Warum noch jagen im 21. Jahrhundert, wenn das Töten weder aus Notwehr noch zur Sicherung des Nahrungsbedarfs geschehen muss? Die Antwort muss sehr komplex ausfallen. »Der Jäger von heute tötet und hegt zugleich. Denn die Tiere der Wildbahn haben in unserer Kulturlandschaft keine natürlichen Feinde mehr. Ein zu hoher Wildbestand aber richtet in Wald und Flur Schäden an, die das empfindliche ökologische Gleichgewicht gefährden. Die Jägerschaft leistet heute einen wichtigen Beitrag zum praktischen Natur- und Umweltschutz.«145 Natürlich liegt die Triebfeder zur Jagd nicht in einem reinen Idealismus und Dienst an der Gemeinschaft. Die Jagd verbindet offenbar persönliche Freuden mit dem Bewusstsein, etwas Sinnvolles für sich und die Gesellschaft zu leisten. In Deutschland gibt es heute etwa 384 500 Jäger und Jägerinnen, das sind 0,5 % der Bevölkerung. Inzwischen bilden Angehörige aller Schichten und Berufsgruppen das soziologische Spektrum der Jägerschaft: Neben den Landund Forstwirten gehen heute Bundespräsidenten, Geistliche, Unternehmer, Angestellte, Arbeiter, Ärzte, Studenten und Hausfrauen zur Jagd. Gleichwohl haftet der Jagd der Ruf an, ein elitärer Zirkel zu sein und zugleich sozialen Aufsteigern den Einstieg in die bessere Gesellschaft zu erleichtern. Außerdem hat die Jagd immer noch das Image einer verschworenen Männerdomäne. Was sind die Motive der Menschen, die heute zur Jagd gehen? Ist es die uralte
Nach einer Jagd präsentieren Jäger und Treiber stolz ihre »Strecke«, für Nichtjäger: ihre Jagdbeute.
Jagdleidenschaft, die in vielen Menschen noch vorhanden ist? Ist es die Sehnsucht nach dem Natürlich-Ländlichen?
der Natur und der Wunsch nach Beutemachen zu nennen.
Ist es die Pflege der alten Jagdrituale und der Jägersprache?
Aber es ist immer auch das ›Abenteuerliche‹ bei der Jagd,
Ist es das nachjagdliche »Schüsseltreiben« mit viel »Jägerla-
das reizt. Außerdem das, was man als umfassende Jagdkul-
tein«? Ist es die schlichte Freude an der Natur?
tur bezeichnen kann: die passende Kleidung, das Jagdhorn-
Kulturgeograph Prof. Dr. Reinhold Lob, der vor gut 20
blasen und die Jagdmusik, die Literatur und Malerei, die
Jahren im Alter von 55 den Jagdschein gemacht und damit
Arbeit der Hunde bei den Treibjagden, die oft jahrhunder-
einen Jugendtraum verwirklicht hat, beschreibt heute die
tealten Bräuche rund um die Jagd und die kameradschaft-
Motive seiner Jagdleidenschaft: »Warum ich heute zur Jagd
liche Geselligkeit an alten Kaminen nach der Jagd. Die Jagd
gehe, weiß ich nicht wirklich, aber der Wunsch hierzu ist
ist auch immer eine körperliche und psychische Leistung,
seit Kindertagen, die ich oft auf dem Land verbrachte, in
was insbesondere für einen älter werdenden Menschen eine
mir lebendig, und ich habe ihn mir erst sehr spät im Le-
nützliche Herausforderung darstellen kann, wenn man
ben erfüllt. Sicherlich sind zuerst die Freude am Erleben
seine Grenzen kennt.«145a
Bevölkerung – Soziales – Kultur
183
Ist das Landleben »in«? Die anhaltende Beliebtheit dörflicher Lebensstile
Ohne Zweifel ist das dörfliche Leben zunehmend städ-
Bauern löste sich auf. Die bisherigen ländlichen Mittel-
tischer geworden. Aber dennoch gibt es auch heute
und Unterschichten profitierten von den neuen Aufstiegs-
noch Unterschiede zwischen Land- und Stadtleben.
möglichkeiten in Industrie- und Dienstleistungsberufe, die
Ländliche Lebensstile sind vor allem natur-, traditions-
meist außerhalb des eigenen Dorfes lagen. Der Dorfbewoh-
und handlungsorientiert. Ehrenamt und konkretes
ner wurde zum Pendler. Die breite Motorisierung und die
lokales Denken und Tun spielen wichtige Rollen. Die
modernen Medien wie Fernsehen und Internet beschleu-
Chefs der größten deutschen Wirtschaftsunternehmen
nigten die Öffnung des Dorfes. Verallgemeinernd lässt sich
kommen überwiegend vom Land, was für die dort
die Entwicklung des Landlebens in den zurückliegenden
erworbenen sozialen und emotionalen Kompetenzen
50 Jahren in zwei Punkten zusammenfassen: Das Dorfleben
spricht. Nicht nur ältere Menschen schätzen das
löste sich von der Landwirtschaft und wurde städtischer –
ruhige und überschaubare Dorf. Auch viele junge Fami-
der wirtschaftliche Strukturwandel führte zu einer »Ent-
lien entscheiden sich bewusst für das Landleben.
bäuerlichung« und Urbanisierung der Dörfer. Diese Bilanz gilt in gleicher Weise für West- und Ost-
Noch um 1950 war das Dorf ein auf sich bezogener sozia-
deutschland. Auch in der DDR war die Entwicklung des
ler Lebensraum. Festgefügt waren die sozialen Schichten.
Landlebens – nach der Zerschlagung der Herren- wie auch
Fast alle Dorfbewohner arbeiteten im eigenen Ort, nahezu
Bauernschichten – dadurch geprägt, dass städtisch-indus-
alle in der Agrarwirtschaft und im Handwerk. Das soziale
trielle Wirtschafts- und Sozialformen in die Dörfer über-
Leben verlief nach strengen Regeln, Normen und Werten.
tragen wurden. Nach der sozialistischen Agrarpolitik sollte
Weder die beiden Weltkriege noch das Hinzuströmen der
die Stadt das Land führen. So entstanden auf dem Land zwei
Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in das Dorf konnten
völlig neu geschaffene Einrichtungen: die landwirtschaft-
die alten Ordnungs- und Werteprinzipien des Landlebens
lichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) sowie die »städ-
verändern. Erst als die Landwirtschaft ab etwa 1955 in ihrer
tischen« Mietwohnungen für die Landarbeiter in mehr-
Bedeutung enorm schrumpfte und gleichzeitig die Indus-
geschossigen Plattenbauten. Der Bauer wurde zum LPG -
trie einen Aufschwung erfuhr, kam der entscheidende »Stoß in die Moderne«, wie Ralf Dahrendorf es formulierte. Das alte Schichtengefüge mit der Dominanz der (Groß-)
184
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Dorfbewohner engagieren sich für die Gemeinschaft: Frauen schälen Kartoffeln fürs »Backesgrumbeerefeschd« in Bärweiler.
Arbeiter und LPG -Mieter, die Kinder gingen ganztags in
körperlichen Betätigung. Die Erfahrung von Jahreszeiten
LPG -Krippen bzw. LPG -Kindergärten. Die LPG schuf ein
und natürlichen Abläufen wie Pflanzen, Säen und Ernten
breites ökonomisches, soziales und kulturelles Netzwerk
ist den Menschen wichtig. So gilt vor allem der dörfliche
für alle Dorfbewohner.
Garten inzwischen als ein Kernbestand dörflicher Lebens-
Nach 50-jährigem Wandel lässt sich für das Sozialleben
qualität. Ähnlich beliebt sind Spazierengehen, Wandern
des deutschen Dorfes heute folgende Bilanz ziehen: Die tra-
und Radfahren durch Feld und Wald. Bei wiederholten
ditionelle ökonomische und soziale Einheit von Landwirt-
Umfragen wurden in dem Wittgensteiner Dorf Elsoff die
schaft und Dorf hat sich weitgehend aufgelöst, die Dorfbe-
Freizeitaktivitäten der Bewohner ermittelt, wobei sich zu-
völkerung hat sich in gewisser Weise von der Landwirtschaft
mindest aus städtischer Sicht einige Überraschungen erge-
emanzipiert. Dabei fand eine ökonomische Stabilisierung
ben.146 An der Spitze der Freizeitbeschäftigung liegt die Ar-
statt durch Handwerk und Gewerbe und zunehmend auch
beit in Haus, Hof und Garten. Der normale Freizeitbegriff,
moderne Dienstleistungsberufe. Dörfer werden heute nicht
der in der Regel als »von Arbeit freie Zeit« definiert wird,
nur durch den alten Kern geprägt, sondern auch durch die
erhält hier eine andere Bedeutung. Die Dorfbewohner be-
neue Wohnbebauung an den Rändern. An die Stelle eines
trachten ihre »Arbeiten« in Haus, Hof (z. B. als Neben-
übersichtlichen und eng vernetzten, »intimen« Dorfes (je-
erwerbslandwirte) und Garten als Freizeit. Erst an zweiter
der kennt jeden) ist ein Nebeneinander verschiedener Sozi-
Stelle der Freizeitbeschäftigungen folgen die typischen Ak-
alkreise getreten. Vom Leben in der Dorfgemeinschaft geht
tivitäten Spazierengehen, Wandern und Radfahren.
der Trend zum weitgehend selbstbestimmten Leben in Dör-
Das Denken und Handeln in Traditionen prägt das Land-
fern nach dem Motto »Dorfleben macht frei«. Die Ähnlich-
leben. Man orientiert sich gern an dem, was »immer schon
keit der sozialen Veränderungen in west- und ostdeutschen sowie europäischen Dörfern zeigt den generellen und globalen Charakter des Wandels. Dieser knapp skizzierte soziale Wandel hat sich keineswegs in allen Dörfern und Regionen Deutschlands gleichzeitig vollzogen. Er hat manche Regionen und Dörfer wie im Sturm erfasst, während andere (meist abgelegene) ländliche Gebiete und Orte ihn eher langsam erfahren. Es gibt heute sowohl Dörfer (meist im Umfeld von Großstädten), deren Sozialstrukturen bereits fast städtischen Charakter besitzen, als auch solche, deren Sozialleben man den ländlichen Siedlungen um 1950 oder 1970 zuordnen möchte. Gibt es angesichts des starken wirtschaftlichen und sozialen Wandels des Landlebens überhaupt noch typisch dörfliche bzw. ländliche Lebensstile?� Und wenn ja, was sind ihre Merkmale? Obwohl die Dörfer urbaner geworden sind, bestehen auch heute noch wesentliche Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben. In dieser Feststellung sind sich auch die Wissenschaftler weitgehend einig. Ländliche Lebensstile sind natur-, traditions-, gemeinschafts- und handlungsorientiert. Ruhe und Entschleunigung, Ehrenamt sowie konkretes lokales Denken und Handeln spielen wichtige Rollen. Durch seine Naturnähe bietet das Dorf in Feld, Wald und Garten eine unmittelbare Chance der Erholung, Entspannung, Freizeitnutzung und Eine Frau setzt Blumenzwiebeln in ihrem Garten: die Gartenarbeit ist ein Kernbereich dörflicher Lebensqualität.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
185
Die Brauchtumspflege ist vielen Landbewohnern ein Anliegen: Frauen in Tracht schmücken eine Erntekrone beim 3. Brandenburgischen Dorf- und Erntefest 2006 in Pinnow.
186
war«: an der Kirche, dem Familienbesitz, den alten Verei-
(den haben/tragen sie auf der Schüttelgabel durchs Dorf)
nen oder wie man sich verhält in sozialen Kontakten. Man
bezieht sich auf eine hölzerne Gabel, die zum Wenden und
kennt die wichtigsten Ereignisse der Familien- und Dorfge-
Schütteln der Garben beim Dreschen gebraucht wurde,
schichte und dokumentiert diese in schön gestalteten Chro-
und bedeutet so viel wie »Sie reden alle über ihn«.214a Wir
niken. In vielfältiger Weise pflegt man das Brauchtum.
unterscheiden in Deutschland drei große Mundartland-
Dazu gehört auch die Pflege der lokalen Mundarten
schaften: das Niederdeutsche, das vielfach auch »Platt« ge-
oder Dialekte, in denen sich viele Landbewohner erst rich-
nannt wird (Südgrenze etwa auf der Linie Düsseldorf-Mag-
tig zuhause fühlen. Jede deutsche Region hatte und hat ihre
deburg-Wittenberg), das Mitteldeutsche (im Westen von
sprachlichen Besonderheiten. Mundarten haben sich in
Köln bis zur Pfalz und nach Osten über Hessen und Thürin-
langen Zeiträumen entwickelt, sie verändern ihre Sprach-
gen bis nach Sachsen) und das Oberdeutsche (grob identisch
färbung oft von Dorf zu Dorf. Die Sprache der Dialekte ist
mit den Ländern Baden-Württemberg und Bayern), dazu
reich an Bildern, die häufig aus der Landwirtschaft oder
kommt das Friesische in einigen Regionen an der Nordsee-
dem Kirchenleben stammen. Besonders in Sprichwörtern
küste.214b
und Redensarten steckt viel Welt- und Kulturwissen der
Die deutschen Mundarten befinden sich seit der Mitte
früheren Zeit, hier ein Beispiel aus Hörste im Kreis Gü-
des 20. Jahrhunderts auf dem Rückzug. So spricht in Nord-
tersloh: Die Redensart »Denn hät se uppe Schüddelgaffel«
deutschland nur noch eine Minderheit das ursprüngliche
Das moderne Dorf
Platt. Generell haben sich die Mundarten mehr und mehr an die Hochsprache angepasst. Wissenschaftler sprechen heute von Regionalsprache oder Regiolekt, quasi die moderne Anpassungsform der jeweiligen Dialekte an die überregionale Standardsprache. So gehören Sätze wie »Tus du noch wat trinken?« oder »Gibbet da noch mehr von?«, meist sehr melodisch vorgetragen, am Niederrhein zur regionalen Alltagssprache.214c Die alten Dialekte finden heute in vielfältiger Weise als schützenswertes Brauchtum Beachtung. Sowohl von ehrenamtlichen Vereinen als auch von staatlichen Institutionen werden »Klönabende« in der regionalen Mundart veranstaltet, Dokumentationen in Schrift und Ton
Die niederdeutsche Redensart »Denn hätse uppe Schüddelgaffel« bedautet soviel wie: Den tragen sie auf der Schüttelgabel durchs Dorf, das heißt: Der ist ins dörfliche Gerede gekommen.
angelegt oder Sprichwörter und Namen gesammelt. In allen Regionen gibt es Schriftsteller oder Heimatdichter, die
Lebenswerk eines verdienten Mannes würdigte und dies
literarische und heimatkundliche Texte in Mundart verfas-
auch seiner Familie gegenüber zum Ausdruck brachte.
sen. Das Interesse an Theateraufführungen, Gottesdiensten
Zu den besonderen Stärken des Landlebens gehört das
und Lesungen ist groß. So ist kürzlich eine CD erschienen,
Sich-Auskennen in praktischen und »natürlichen« Angele-
um den »Klang des Plattdeutschen« in Westfalen zu prä-
genheiten, das vielfach auch an die nächste Generation wei-
Viele ältere Dorfbewohner
tergegeben wird. Hier ein paar Beispiele: Gartenbau, das
und manche Sprachsoziologen sehen im allmählichen Ver-
sentieren und zu erhalten.
Einlagern und Einkochen von Garten- und Feldprodukten,
schwinden der regionalen Mundarten einen wesentlichen
das Kochen und Backen, das Hausbauen und andere hand-
Verlust an traditioneller Landkultur.
werkliche Tätigkeiten, das »Holzmachen« im Wald, das
214d
Des Weiteren sind dörfliche Lebensstile durch eine Über-
Pflegen von älteren und behinderten Menschen zu Hause,
schaubarkeit und hohe Dichte sozialer Netzwerke und Kon-
das Vorbereiten und Gestalten von Festen. Ländliche Le-
takte geprägt. Im Vordergrund stehen hier die großen Fa-
bensstile sind durch Handeln und Anpacken, durch stän-
milien, die Verwandtschaften und Nachbarschaften. Da-
diges Geben und Nehmen in der kleinen lokalen Gemein-
rüber hinaus ist es für Dorfbewohner wichtig, sich in
schaft geprägt. Nach einem Bericht in der FAZ 147 sind die
Vereinen und Kirchen zu engagieren und gemeinsame Feste
Chefs der größten deutschen Wirtschaftsunternehmen
zu begehen. Die überschaubaren und engen Sozialkontakte
mehrheitlich in ländlichen Regionen aufgewachsen. Als
bieten Hilfe und Halt für junge wie ältere Menschen und
Erklärung für dieses Phänomen werden die auf dem Dorf
tragen nicht zuletzt auch zum Wohlstand und zur Zufrie-
erworbenen sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie
denheit in den Dörfern bei. Während ich an diesem Kapi-
ein auf dem Land noch vorhandenes »Arbeitsethos« ange-
tel schrieb, verstarb der langjährige Organist meines Hei-
führt, die sich so in der unpersönlicheren und virtuelleren
matdorfes im Alter von 89 Jahren. Er hatte 67 Jahre lang
Großstadt nicht erlernen lassen. Ländliche Lebensstile ha-
den Orgeldienst in der katholischen Pfarrkirche ausgeübt
ben auch deshalb Zukunft, weil Dörfer und Kleinstädte von
und dabei nicht nur die fast täglichen Gottesdienste und
ihren Bewohnern am meisten geliebt werden und deutlich
die Hochfeste des Kirchenjahres wie Ostern, Weihnachten
mehr Kinder hervorbringen, großziehen und in die Schu-
und Pfingsten ganz wesentlich mitgestaltet, sondern auch
len schicken als Großstädte – und schließen Werte mit ein,
die meisten Dorfbewohner an wichtigen Stationen des Le-
die auch dem Gesamtstaat zugutekommen.
bens wie Taufe, Kommunion, Trauung und Beerdigung be-
In ländlichen Lebensstilen zeigt sich die Vielfalt der
gleitet. Die Gemeinde dankte ihm nun mit einem festlichen
Landkultur. Ländliche Kultur entspricht noch am ehesten
Requiem und einer großen Beerdigung. In diesen für die
der ursprünglichen Bedeutung des Wortes (lateinisch cul-
Angehörigen schweren Stunden zeigte sich spürbar der Zu-
tura = Landbau, Pflege von Körper und Geist) und ist durch
sammenhalt und die Kraft der Dorfgemeinschaft, die das
eine enge Beziehung zwischen Mensch und Mitwelt ge-
Bevölkerung – Soziales – Kultur
187
tenpflege. Die Kultur des Helfens und die Vielfalt der sozialen Netzwerke wird auch als das soziale Kapital des Dorfes bezeichnet. Man spricht hier von der »Alltagskultur« oder auch schlicht von der »Lebenskultur« des Dorfes, die zu den Kernqualitäten des Landes gehört. Das 7. Dauner WEGE Symposium hat sich am 8. 11. 2018 in der Verbandsgemeinde Daun mit dem Thema »Kultur in ländlichen Räumen« befasst. Die dabei formulierten »Dauner Thesen« betonen bereits in den ersten drei Sätzen die hohe Bedeutung der Kultur für das Landleben: Kultur ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit menschlichen Lebens. Kultur lebt von Beteiligung und trägt zu einem positiven Lebensgefühl bei. Kultur stärkt die Resilienz, das heißt die Lebendigkeit und Zukunftsfähigkeit von Dorf und Gemeinde. Ländliche Lebensstile sind traditionsorientiert, hier ein Festumzug der Gebirgsschützen beim Bataillionsfest in Neubeuern im Chiemgau.
Dass ländliche Lebensstile und Landkultur der ganzen Bevölkerung eine hohe Anziehungskraft besitzen, zeigt der große Erfolg neuer »Land«-Zeitschriften wie »Land-
188
kennzeichnet. Generell ist ländliche Kultur persönlicher
lust«, »Land Liebe« und »Mein schönes Land«. Oder auch das
und konkreter als städtische Kultur, mehr durch Han-
kaum noch überschaubare Angebot an Büchern und Aus-
deln, Überschaubarkeit und Lokalorientierung geprägt.
stellungen über Gärten, Gartenbau und Gartenkunst.
Die ländliche Kultur wird daher nicht selten als »Aktiv-
Dörfliche Lebensstile können ein Motiv sein, warum sich
kultur« bezeichnet – im Unterschied zur Stadtkultur (als
junge Menschen bewusst dafür entscheiden, aufs Land zu
»Passivkultur«), die meist eher auf Rezeption und Konsum
ziehen. Johannes Liess hatte mit seiner Frau und den klei-
ausgelegt ist. Zur Kultur des Dorfes gehören zunächst ein-
nen Kindern ein modernes Nomadenleben geführt, hatte
mal die historischen und modernen Gebäude sowie die
als Architekt in mehreren Ländern gearbeitet. Nun sehn-
diversen Nutzungen der Natur in Feldern, Wäldern, Ge-
ten sie sich nach Ruhe und Stille. Die Sommerferien ver-
wässern und Gärten. Doch auch die Umgangsweisen zwi-
brachten sie zuletzt regelmäßig zwei Monate in einer re-
schen Menschen verschiedener Gruppen (z. B. zwischen Alt
novierungsbedürftigen Kate im halbverfallenen Dörfchen
und Jung, Einheimischen und Zugezogenen, verschiede-
Lüchow. Und irgendwann kam dabei der Gedanke: Warum
nen sozialen Milieus), die gepflegten Traditionen der Dorf-
bleiben wir nicht einfach hier? In einem Gespräch erklärt
gemeinschaft, der Vereine, Verwandtschaften und Nach-
Liess auf die Frage, warum sich seine Familie für das Land-
barschaften gehören dazu. Die Kultur des Dorfes hat ihre
leben entschieden hat und sich dort bis heute wohlfühlt:
festliche, gewissermaßen sonntägliche Seite. Und die dies-
»Für uns junge Familien bietet das Dorf einen ungeheuren
bezüglichen Anstrengungen und Darbietungen für Hoch-
Freiraum, ein Experimentierfeld, für die Kinder einen gi-
zeiten und Begräbnisse, für Schützen-, Kirchweih-, Musik-,
gantischen Spielplatz. Wir haben hier einen überschauba-
Feuerwehr- und Sportfeste fallen auch besonders ins Auge.
ren, ruhigen Ort, wo man sich kennt, wo man sich gegen-
Aber Dorfkultur zeigt sich auch in der Bewältigung des
seitig helfen und aktivieren und die eigenen Lebensmit-
normalen Alltagslebens: z. B. in Hilfestellungen bei Krank-
tel anbauen kann. Das gute Gemeinschaftsgefühl zeigt uns,
heiten und anderen Notlagen, in der Behinderten- und Al-
dass wir uns richtig entschieden haben.«147a
Das moderne Dorf
Ein fruchtbarer Austausch Die Entwicklung der Stadt-Land-Beziehungen
In der Menschheitsgeschichte ist das Dorf lange
der das Landleben gepriesen. Die gegensätzlichen Argu-
ohne die Ergänzung durch die Stadt ausgekommen.
mente und Auffassungen sind bis heute nahezu konstant
Stadt-Land-Beziehungen gibt es erst, seit vor etwa
und aktuell geblieben.
10 000 Jahren die ersten Städte gebaut wurden.
Die Ausprägung von Städten und ländlichen Siedlungen
Aber noch vor 150 Jahren waren die Beziehungen
mit ihren unterschiedlichen baulichen, wirtschaftlichen
zwischen Stadt und Land relativ gering. Heute sind
und sozialen Merkmalen ist ein Kennzeichen unserer mo-
sie so intensiv, dass man sich eine Steigerung kaum
dernen Kulturen. Gleichwohl bestand und besteht in allen
vorstellen kann. Was sind die Motive des regen
Gesellschaften ein meist reger Austausch zwischen Stadt
Austausches? Sind die modernen Stadt-Land-Bezie-
und Land. Menschen machen Besuche, Güter werden trans-
hungen ausgewogen oder einseitig? Wer leistet in
portiert. Erfahrungen und Ideen werden von der Stadt zum
diesem komplizierten Geflecht mehr für den Gesamt-
Land übertragen und umgekehrt. Stadt-Land-Beziehungen
staat: die Stadt oder das Land?
sind von den jeweiligen Rechts- und Herrschaftsverhältnissen abhängig. So können Stadt und Land rechtlich gleich-
»Des Menschen körperliches und animalisches Dasein mag
gestellt oder mit unterschiedlichen Privilegien ausgestattet
durch das Land befriedigt sein, seine geistigen Bedürfnisse
sein. Bis zu Beginn des Industriezeitalters waren die Gren-
können nur durch die Stadt erfüllt werden.«
zen und Unterschiede zwischen Städten und Dörfern schon
Aristoteles
äußerlich klar zu erkennen (Städte waren mit Mauern um»Die Zukunft der Menschheit liegt nicht in der Stadt,
geben, Dörfer mit Zäunen oder Hecken). Außerdem waren
sondern im Dorf.«
die Städte rechtlich bessergestellt als Landsiedlungen, was
Mao Tse-tung
in dem Motto »Stadtluft macht frei« zum Ausdruck kommt. Das Gegensatzpaar Stadt – Land bewegt die Menschen seit
Nach den Bürgerrechts- und Agrarreformen des 19. Jahr-
etwa 10 000 Jahren, seitdem es die Stadt gibt. Vor allem Po-
hunderts sind Stadt und Land in Deutschland formalrecht-
litiker, Philosophen, Dichter und Raumwissenschenaftler
lich gleichgestellt worden. Mit dem Aufbau der modernen
haben immer wieder kritisch abgewogen und Stellung genommen, was denn für das Wohlergehen des Menschen besser sei. Häufig wurde das Stadtleben favorisiert, dann wie-
Abbildung oben: Bauern vermarkten ihre Produkte direkt in der Stadt: hier auf dem Münsterplatz in Freiburg.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
189
haltensweisen, Bauformen, Kulturgütern und Ideen im ländlichen Raum. Vom Land ausgehende Austauschvorgänge werden als »Verländlichung« oder »Ruralisierung« bezeichnet. Verländlichung bedeutet, dass der Anteil der Landbevölkerung zunimmt. Dies kommt in der Moderne vor allem in Notzeiten im Zuge von Evakuierungen aus Großstädten vor, wie z. B. am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg. In Deutschland hat sich das etwa ausgeglichene Verhältnis von Stadt- und Landbevölkerung seit einigen Jahrzehnten aber wenig verändert. Wenn ländliche Kulturelemente und Verhaltensweisen in den städtischen Raum eindringen, bezeichnet man das als Ruralisierung. Dies geschieht in der Regel durch Zuzügler, die einen Teil ihrer ländlichen Vorstellungen und Lebensgewohnheiten – wie Brauchtumspflege, Gartenbau und Kleintierhaltung – in die Stadt überführen. Vergleicht man die derzeitigen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen BeeinflusIn der Karikatur »Länd-Art« werden Wahrnehmungsunterschiede zwischen dem Land und seinen großstädtischen Besuchern offengelegt.
sungen zwischen Stadt und Land, zieht man sozusagen eine Austauschbilanz, kann man generell eine anhaltende Urbanisierung des Landes feststellen. Dennoch bleibt die Frage
Verkehrsnetze für den Eisenbahn-, Auto- und Flugverkehr
offen, ob die Dorfbewohner mehr von der Stadt oder die
haben die Stadt-Land-Beziehungen seit etwa 150 Jahren
Stadtbewohner mehr vom Land profitieren.
deutlich, in den letzten 50 Jahren drastisch zugenommen.
könnte vermuten lassen, dass es sich hier um zwei gegen-
gann Mitte der 1950er Jahre. Auf dem Land fielen damals
sätzliche, unversöhnliche, etwa gleich starke Partner han-
zahllose Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im Dorf-
delt, die lediglich durch drei tägliche Busverbindungen
handwerk weg. Zugleich lockten in den Städten die kräf-
in losem Kontakt stehen. Doch das wäre ein falsches Bild.
tig steigenden Angebote an Industrie- und Dienstleistungs-
Stadt-Land-Beziehungen sind äußerst komplexe – ökono-
berufen. Die seinerzeit einsetzende Bildungsrevolution
mische, soziale und kulturelle – Austauschbewegungen.
auf dem Land führte dazu, dass sich immer mehr Dorfbe-
Deren Vielschichtigkeit in den modernen Dienstleistungs-
wohner für städtische Berufe qualifizierten. Nicht zuletzt
und Kommunikationsgesellschaften sind kaum Grenzen
wuchs durch die breite Motorisierung die Bereitschaft der
gesetzt. Es gibt vielfache Abstufungen von Stadt-Land-Be-
Landbevölkerung zum beruflichen Pendeln in die Städte.
ziehungen zwischen den Extremen Metropole (wie Ham-
Stadt und Land kamen sich nun immer näher.
burg) und agrarer Einzelhofsiedlung (wie Emsland). Stadt-
Nach Art und Richtung der Austauschbewegungen zwischen Stadt und Land ergeben sich grundsätzlich zwei ver-
190
Das gängige Begriffspaar »Stadt-Land-Beziehungen«
Die Intensivierung der Stadt-Land-Beziehungen be-
bewohner haben sehr verschiedene Anlässe, aufs Land zu fahren, wie umgekehrt Dorfbewohner in die Stadt.
schiedene Entwicklungsschwerpunkte. Ist die Stadt der do-
Generell bestehen immer weniger deutliche ökonomi-
minierende Part, kommt es zu Verstädterung und Urbani-
sche, bauliche, soziale und kulturelle Trennlinien zwischen
sierung. Unter »Verstädterung« versteht man die räumliche
Stadt und Land. Außerdem sind städtische und ländliche
Ausdehnung der städtischen Siedlungsweise. Dies kann
Bevölkerungen in sich jeweils stark differenziert: Manche
passieren, wenn bestehende Städte sich über ihren Raum
Dorfbewohner leben wie Städter, manche Großstädter füh-
hinaus vergrößern oder aber wenn ursprüngliche Dörfer zu
len sich (z. B. wegen intensiver Freizeitbeschäftigungen auf
Städten heranwachsen. Der Begriff »Urbanisierung« um-
dem Land) als Landbewohner. Und nicht zuletzt schwan-
fasst die Ausbreitung von städtischen Lebensformen, Ver-
ken die Abhängigkeiten zwischen Stadt und Land, da die
Das moderne Dorf
Das Land bietet der Gesellschaft schöne Kulturlandschaften für Freizeit und Erholung, hier das Beispiel der von der Landwirtschaft genutzten und gepflegten Tallandschaft vor dem Wettersteingebirge bei Mittenwald in Bayern.
Stadt-Land-Beziehungen einem ständigen Wandel unter-
nachmittag in der Großstadt, das lange Wochenende hin-
worfen sind. Mal zieht die ältere Generation von der Stadt
gegen auf dem Land, was dann meist als das Zuhause be-
aufs Land, mal vom Land in die Stadt. Jugendliche kehren
zeichnet wird. So z. B. Uta Keseling, deren wöchentlicher
nach Studium und Berufsstart in Großstädten häufig in die
Spagat zwischen Berlin und einem 250-Einwohner-Dorf
heimatlichen Dörfer und Kleinstädte zurück.
in der Uckermark stattfindet. Sie beschreibt zunächst ihre
Ein großer Teil der Bevölkerung praktiziert heute im All-
Motive, aufs Dorf zu ziehen: »Als wir vor acht Jahren das
tag die Stadt-Land-Beziehungen in eigener Person. Groß-
alte, graue Haus kauften, wussten wir wenig vom Dorfle-
städter fahren in ihrer Freizeit oder im Urlaub immer wie-
ben. Es war eine vage Idee: Einen Garten wollten wir haben,
der aufs Land. Dorfbewohner suchen zum Arbeiten und
einen Ort, in den wir gehörten. Und ein Ziel, wenn uns die
Studieren die Stadt auf. Viele Menschen »leben« zugleich
Stadt zuviel wurde. Wir fanden die Uckermark: Weites, hü-
als Dorf- und Großstadtbewohner, sie führen eine Art
geliges Endmoränenland, mit sanften Rundungen und ge-
Zwitterdasein zwischen Stadt und Land. Sie verbringen
heimnisvollen Winkeln hinter Gehölz und Gebüsch. Eine
z. B. die Arbeitswochen von Montagmorgen bis Freitag-
Landschaft mit feuchten Augen aus hunderten Seen. Eine
Bevölkerung – Soziales – Kultur
191
ist neben der vorrangigen Erzeugung von land- und forstwirtschaftlichen Produkten zunehmend auch für die Energiegewinnung und die Pflege der ländlichen Kulturlandschaft verantwortlich. Die Aufgaben Ökologie und Umwelt beinhalten neben dem Natur-, Boden- und Klimaschutz vor allem die Sicherung der Wasserversorgung für die Gesamtbevölkerung. Doch die Freizeit- und Erholungsfunktion des ländlichen Raumes ist den meisten Menschen offenbar besonders wichtig: »Natur und schöne Landschaft« sind die Werte, die man in Deutschland nach wiederholten Umfragen am höchsten schätzt. Die sog. »Standortfunktion« umfasst neben der Gewinnung von Rohstoffen und Mineralien auch die Vorhaltung von Flächen für Flughäfen, Kraftwerke, Gewerbegebiete, Mülldeponien usw. Neben diesen Leistungen für die Großstädte und Verdichtungsgebiete besitzt der ländliche Raum natürlich auch die Funktion als Wohn-, Wirtschafts- und Freizeitraum der eigenen Bevölkerung, die ja immerhin die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmacht. Gerade im Zuge der heute vom Staat gewünschten »selbstgetragenen« Entwicklung von Regionen ist es wichtig, das Dorf und den ländlichen Raum nicht allein in ihren Aufgaben für die städtische Gesellschaft zu betrachten – sondern stärker auch sein »Eigenleben«, seine Bedürfnisse, Wünsche und Kräfte »für ihn selbst« in Rechnung zu stellen und zu respektieren. Immer wieder muss das Land für die Gewinnung von Rohstoffen Flächen zur Verfügung stellen: hier bei dem Dorf Grießen am BraunkohleTagebau Jänschwalde.
Eine interessante, aber keineswegs leicht zu beantwortende Frage ist, wer mehr für den Gesamtstaat leistet bzw. wer mehr zu den wechselseitigen Beziehungen beisteuert oder gar, wer leichter ohne den anderen auskommen könn-
menschenleere Ecke kurz vor Polen, die definitiv nie Speck-
192
te, die Stadt oder das Land? Auf den ersten Blick könnte
gürtel wird.« Beim wöchentlichen Abschied vom Dorf am
es die Stadt sein: Mit ihren Bankentürmen, Einkaufspassa-
Sonntagabend kommt zum Ausdruck, was die Autorin in-
gen und Universitäten, den Flughäfen, Messen und Haupt-
zwischen am Dorf liebt: »Bevor wir selbst abfahren, laufen
verwaltungen der großen Konzerne, den Einrichtungen der
wir noch einmal durchs Dorf. Ist es noch schön? Mehr denn
sog. »Hochkultur« wie Museen, Opern- und Konzerthäuser.
je. Was gibt es uns? Manchmal nur Kohlrabi aus dem Garten.
Wer die Vorzüge des Landes betrachten will, muss schon et-
Manchmal Kraft für die Woche. Immer: Dankbarkeit.«148
was genauer hinschauen und sich auf das weniger Spekta-
In der arbeitsteiligen modernen Gesellschaft ergänzen
kuläre einlassen. Das Land bietet auf knapp 90 % der Staats-
sich Stadt und Land mit ihren »Leistungen« für den Ge-
fläche sehr unterschiedliche, in Jahrhunderten gewachsene
samtstaat. Die staatliche Raumordnungspolitik weist dem
Kulturlandschaften mit reizvollen Dörfern und Kleinstäd-
ländlichen Raum die vier klassischen, typisch flächenbezo-
ten. Hier stehen nahezu unbegrenzte Freizeit- und Erho-
genen Funktionen zu: erstens die Agrarproduktion, zwei-
lungsmöglichkeiten zur Verfügung. Ein wertvolles Gut
tens Ökologie und Umwelt, drittens Freizeit und Erholung,
enthalten die ländlichen Lebensstile mit ihrer Aktivkul-
viertens die Vorhaltung von Standorten u. a. für die Ge-
tur des sozialen Engagierens. Das naturnahe, traditionsbe-
winnung von Rohstoffen. Die Land- und Forstwirtschaft
wusste, kinderfreundliche und »ruhigere« Landleben bie-
Das moderne Dorf
tet den Menschen Heimatgefühl, Zufriedenheit und Rückzugsflächen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen beansprucht das Land die Solidarleistungen der Kranken- und Arbeitslosenversicherung weniger als die Stadt, ist die Kriminalitätsrate niedriger, die Blutspendequote zehnmal höher als in der Stadt. Für den Bauern Wilhelm Flocke (Jahrgang 1923) aus dem Nachbardorf Meerhof, mit dem ich mich hin und wieder über den Wandel des Dorfes und das Verhältnis Stadt – Land unterhalten habe, ist die Beantwortung der Frage, wer mehr für das Gemeinwohl des Staates leistet, klar: »Dat Duarp drächt de Stadt«, bemerkte er im Sommer 2010 knapp und kantig in westfälischem Platt. In wörtlicher Übersetzung heißt dies: »Das Dorf trägt die Stadt«. Schon aus diesen kurzen, fast willkürlichen Gegenüberstellungen wird deutlich, dass ein schnelles und eindeutiges Abwägen der Vorzüge von Stadt und Land nicht möglich ist. Fest steht aber, dass sich Stadt und Land mit ihren sehr unterschiedlichen Angeboten nahezu ideal ergänzen.
Die Möhnetalsperre versorgt zusammen mit anderen Talsperren des Sauerlandes schon seit dem späten 19. Jahrhundert große Teile des Ballungsraumes Ruhrgebiet mit Wasser.
Besonders in Deutschland, wo die Verteilung von Stadt und Land recht ausgewogen ist. Das Land braucht die Stadt ge-
daß Stadt und Land … Glieder eines organischen Körpers
nauso, wie die Stadt das Land braucht – die beste Voraus-
sind, von welchen keins verletzt werden kann, ohne daß die
setzung für ein sich ergänzendes Geben und Nehmen ist
übrigen Glieder mitleiden, und daß nur in der Gesundheit
der gegenseitige Respekt. Der traditionelle Gegensatz Stadt – Land wird sich in Zu-
und Kraft des ganzen Organismus das Wohl der einzelnen Glieder zu finden ist.«149
kunft vermutlich weiter abschwächen. Die Beziehungen zwischen Stadt und Land werden durch den Trend zur Informationsgesellschaft mit raschem Datenaustausch noch enger werden. Es ist jedoch zu erwarten und auch zu hoffen, dass wesentliche Bestandteile des anregenden Kontrasts zwischen Stadt und Land zum Wohle des Gesamtstaates bestehen bleiben. Der berühmte Landwirt und Wissenschaftler Johann Heinrich von Thünen, der in Tellow in Mecklenburg-Vorpommern sein Mustergut betrieb und dem wir grundlegende Schriften zur Agrarökonomie verdanken, formulierte vor gut 170 Jahren seine Vorstellung zum StadtLand-Gefüge, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben: »Städte und Land üben in Beziehung auf den Wohlstand eine stete, nie ruhende Wechselwirkung aufeinander aus, beide sind innig miteinander verflochten, und nur Beschränktheit der Einsicht kann wähnen, den Wohlstand des einen Teils auf Kosten des anderen heben zu können. Möchten die Vertreter auf unseren künftigen Landtagen von der Erkenntnis durchdrungen, von dem Gedanken beseelt sein, Auf dem acht Hektar großen Gelände des Thüler Kindergartens erleben die Kinder je nach Jahreszeit und Witterung jeden Tag neue Abenteuer und Erfahrungen in der Natur.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
193
Dorfbewohner als Globetrotter Das Dorf im Austausch mit der Welt
»Nach Meerhof gingen oder fuhren wir einmal im Jahr
und der ehemaligen Sowjetunion und darüber hinaus aus
zu Laurentius im August. Das war der Geburtsort
praktisch allen Regionen der Welt hinzugekommen, die in-
der Mutter. In Helmern bin ich noch nie gewesen,
zwischen fast wie selbstverständlich in deutschen Dörfern
in Haaren ein einziges Mal, in Essentho vielleicht drei-
leben.
mal.« So erzählte meine Mutter über ihre Besuche in
Aber nicht nur durch Zuwanderungen ist das Dorf ein
den Nachbardörfern. Ihre Kinder und Enkelkinder
kleiner Spiegel der Welt geworden. Auch der Dorfbewoh-
haben inzwischen alle Kontinente bereist. Das ist kein
ner selbst hat sich auf die Wanderschaft begeben, ist zu ei-
Einzelfall. Das Dorf und seine Bewohner haben heute
nem Globetrotter geworden. Durch Auto, Bahn und Flug-
in vielfältiger Weise Kontakte mit der ganzen Welt.
zeug haben sich die Tore des Dorfes zur Welt geöffnet. Schon als Kinder lernen Dorfbewohner heute auf Auslandsrei-
Die Globalisierung ist im deutschen Dorf angekommen.
sen andere Länder kennen. In der Schule werden sie durch
Virtuell und real. Über die Medien wie Fernsehen und In-
die Weltsprachen Englisch, Spanisch und Französisch so-
ternet erfahren die Dorfbewohner täglich, wie die Men-
wie neuerdings Chinesisch auf internationale Kontakte ge-
schen in Afrika oder Asien leben. Die internationalen Stars
trimmt. Durch Schüleraustausche kommen sie nach Eng-
aus den Bereichen Sport, Kultur, Musik – ob sie aus Eng-
land, Frankreich, Spanien oder Polen und immer häufiger
land, Brasilien, Italien oder Russland kommen – sind auf
auch nach Nord- und Südamerika, nach Japan oder Korea.
dem Land genauso bekannt und populär wie in den Städ-
Während des Studiums oder der Ausbildung werden die ju-
ten. In die dörfliche Gesellschaft selbst mischen sich im-
gendlichen Dorfbewohner immer wieder zu Auslandsauf-
mer mehr Menschen aus aller Welt. Durch Zuwanderungen
enthalten animiert. Hierbei schließen sie Kontakte und
aus dem Ausland ist das Dorf unmittelbar bunter gewor-
Freundschaften, die sich auch im Dorf niederschlagen.
den. Es begann vor 50 Jahren mit den Gastarbeitern aus Ita-
Besonders in ihrem Urlaubsverhalten sind die deutschen
lien, Spanien, Portugal, dem Balkan und später aus der Tür-
Dorfbewohner wahre Globetrotter. Gefördert durch das in-
kei. Manche Familien leben bereits in der zweiten oder drit-
zwischen recht dichte Netz der Flughäfen und die drastisch
ten Generation hier, sprechen den heimischen Dialekt und nehmen an lokalem Brauchtum teil. In den letzten 20 Jahren sind zahlreiche Menschen aus dem östlichen Europa
194
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Auch Landschulen pflegen den Austausch mit der Welt: Gymnasium Bad Freienwalde 2008 mit Schülern aus USA und Norwegen.
gesunkenen Preise gehören Mallorca, Gran Canaria, Do-
zeigen die heutige Mobilität der Dorfbewohner. Viele von
minikanische Republik, Thailand und Namibia fast schon
ihnen bewohnen nicht nur ihren Heimatort, sondern le-
zum Erfahrungsstandard des dörflichen Mittelstandes. Der Journalist Klaus Brill, der ein sehr lesenswertes Buch
ben – gleichzeitig oder temporär – in fernen Städten und Ländern.
über die Globalisierung des Dorfes geschrieben hat, schil-
Das Dorf unterhält heute auch vielfältige gewerbli-
dert anschaulich ein paar kleine Beispiele aus seinem Hei-
che und institutionelle Kontakte mit der weiten Welt. Die
matdorf Alsweiler im Saarland, dessen Tor zur Welt der
ländliche Forstwirtschaft produziert und liefert hochwer-
nahe Flughafen Hahn geworden ist: »So wagten auch drei
tige Buchen- und Eichenstämme nach Indien oder China.
Pensionäre aus Alsweiler ein kleines touristisches Aben-
Umgekehrt verarbeitet der dörfliche Tischler hochwer-
teuer. Sie buchten ein Ticket für 40 Euro, fuhren am Tag
tiges Merantiholz aus den Tropen für Fenster und Türen.
des Ereignisses in aller Frühe mit dem Auto nach Hahn,
Die deutsche Landwirtschaft exportiert nicht nur Ge-
flogen nach Bergamo, um dort Mittag zu essen, spazieren
treide und Kartoffeln, sondern eine große Vielfalt an Fer-
zu gehen und Rotwein zu trinken, und nach der Rückkehr
tigprodukten wie Brot, Käse, Pizzas und Wein in die ganze
am selben Tag konnten sie spätabends in der Dorfkneipe
Welt. Umgekehrt bezieht sie Mineraldünger oder Futter-
schon von dieser Gaudi erzählen. Reisen nach Rom, früher
mittel wie Sojabohnen für die hiesigen Viehbestände aus
ein lange vorbereitetes, einmaliges Ereignis, wurden jetzt
Asien und Südamerika. Das Ernährungsgewerbe versorgt
zum harmlosen Trip, der sich kostengünstig wiederholen
natürlich auch die ländlichen Läden mit exotischen Früch-
ließ. Ein junges Paar unternahm eine Hochzeitsreise auf die
ten und Lebensmitteln aus aller Welt. Ländliche Hand-
Besonders fasziniert war Brill dann von ei-
werks- und Industriebetriebe produzieren längst nicht
ner Stippvisite nach New York: »Mich elektrisierte vor al-
mehr nur für die eigene Region. Mittelständische dörfli-
lem die Nachricht, dass ein junger Mann aus Alsweiler zur
che Maschinenbaufirmen in Baden-Württemberg, Westfa-
Silvesterfeier 1999 nach New York geflogen war, um dort
len oder Niedersachsen beliefern heute wie selbstverständ-
Malediven.«
150
auf dem Times Square die Ankunft des neuen Jahrtausends
lich den weltweiten Markt und errichten nicht selten Bü-
zu erleben. Jetzt war mir endgültig klar, dass der dörfliche
ros oder Zweigwerke in Brasilien oder China. Einige haben
Horizont in nie gekannter Weise aufgerissen war.«
sich sogar zu Weltmarktführern in ihren Spezialbereichen
Aber nicht nur zu touristischen Zwecken verlassen die
entwickelt. So sitzen zwei der drei in der Welt führenden
Dorfbewohner ihre Heimat. Insbesondere gut ausgebildete
Hersteller von Kartoffelvollerntemaschinen in der nieder-
Ingenieure, Wirtschaftsfachleute, Architekten, Wissen-
sächsischen Kleinstadt Damme.
schaftler und Handwerker reisen ins Ausland, um dort zu
Auch die großen Kirchen fördern durch Aktionen wie
arbeiten. Dies können kurze Aufenthalte von wenigen Ta-
»Brot für die Welt«, Adveniat oder Miserior die Kenntnisse
gen sein, um wichtige Verhandlungen zu führen oder um Maschinen aufzustellen, einzurichten oder zu reparieren. Aber auch Aufenthalte über Monate und Jahre hinweg sind nicht selten. Brill erzählt von einer Geburtstagsfeier bei seiner Mutter in Alsweiler, zu der Nachbarinnen und Verwandte gekommen waren. Als die Rede auf die Söhne und Enkel kam, wurde es global: Ein Sohn war schon seit Jahren in Asien tätig. Ein Enkel war unverhofft zum 80. Geburtstag der Oma aus Dubai angeflogen, wo er für einen deutschen Konzern tätig ist. Ein anderer Enkel war gerade zum Russischlernen in Moskau gewesen, studierte in Tübingen und plante eine Doktorarbeit in Berkeley oder Paris, seine Freundin kam aus Moldawien. Die Geschichten dieses Kaffeeklatsches sind kein Zufall. Sie ereignen sich überall und Auch Dorfbewohner lieben heute Auslands- und Fernreisen. So kommt das Reisebüro ins Dorf, wie hier in Neuhausen auf den Fildern.
Bevölkerung – Soziales – Kultur
195
dienfahrten ins Baltikum, nach Indien oder Marokko und nicht zuletzt durch Kurse und Unterrichtungen in Flamenco, Feng-Shui oder Samba-Trommeln. Der Aufbruch des Dorfes zu einem globalen Austausch hat dem Land sicherlich gutgetan. Er hat seinen Bewohnern ökonomische, soziale und kulturelle Chancen eröffnet und den Horizont erweitert. Die Bildungsrevolution der 1960er und 1970er Jahre hat den Grundstein hierzu gelegt, nachdem man kurz zuvor den »Bildungsnotstand auf dem Land« ausgerufen hatte. Dorfbewohner, die noch vor hundert Jahren überwiegend als Kleinbauern, Landarbeiter, Handwerker, Tagelöhner oder Hirten ihr bescheidenes dörfliches Dasein fristeten, stiegen bald in alle handwerklich-gewerblichen, Verwaltungs- und akademischen Berufe auf. Sie wurden Handwerksmeister, Lehrer, Verwaltungs- und Justizbeamte, Ingenieure und Juristen. Und besetzten nicht zuletzt zahlreiche Führungspositionen des Volkes. Sie wurden Direktoren von mittelständischen FirDorfpartnerschaften mit ausländischen Dörfern wie in Grafenberg bei Metzingen in Baden-Württemberg sind heute längst keine Seltenheit mehr.
men oder Gymnasien, Professoren, Chefärzte oder namhafte Redakteure großer Zeitungen bis hin zu Bundeskanzlern und Bundespräsidenten. Keine schlechten Belege für
und Kontakte mit fernen Ländern. Ausländische Priester, die heute in vielen deutschen Dörfern tätig sind, sor-
Es wäre jedoch falsch, die Kehrseiten und Nachteile des
gen für internationale Partnerschaften. In meiner dörfli-
weltvernetzten und mobilen Dorfes zu verschweigen. Zu-
chen Heimatpfarrei sind von drei Geistlichen zwei Auslän-
nächst einmal entzieht die Urbanisierung und Globalisie-
der, einer kommt aus Indien, einer aus Polen. Die Aktion
rung dem Dorf immer wieder vor allem junge Menschen,
»Fairer Handel« der katholischen Kirche will kleine Pro-
die zur Ausbildung und aus beruflichen Gründen ihr Dorf
jekte in der Dritten Welt unterstützen und nebenbei auf die
verlassen müssen und auch nicht zurückkommen. Die öko-
geltende Weltwirtschaftsordnung aufmerksam machen,
nomische und kulturelle Globalisierung führt aber auch
die die reichen Länder bevorzugt und die ärmeren benach-
dazu, dass sich die bleibenden Dorfbewohner weniger mit
teiligt. Landfrauen- und Landjugendverbände unterstüt-
ihrem Ort beschäftigen und identifizieren als früher. Typi-
zen den Aufbau und Unterhalt von Schulen, Kindergär-
sche ländliche Lebensstile werden nach und nach aufgege-
ten, Waisenhäusern und Krankenstationen oder auch von
ben, wie beispielsweise die Kleintierhaltung oder der Gar-
gewerblichen Einrichtungen wie Maismühlen, Wind- und
ten- und Obstbau, die seit Menschengedenken zur dörfli-
Wasserkraftanlagen in Afrika und Südamerika.
196
die Kraft und Weltoffenheit des heutigen Dorfes.
chen Kultur gehören. Sie verlangen ständige Pflege und
Neben den Kirchen unterhalten auch zahlreiche länd-
Beobachtung und passen daher nicht mehr zusammen mit
liche Kommunen Partnerschaften mit ausländischen Ge-
dem ständig mobilen Dorfbewohner. Statt die Äpfel im ei-
meinden, wobei diese Kontakte meist von vereinsähnlichen
genen Garten zu ernten, werden nun auch auf dem Land
Arbeitskreisen getragen werden. Diese gemeindlichen oder
die überall verbreiteten Braeburn aus Neuseeland gekauft
auch dörflichen Partnerschaften gehen vorwiegend in
und konsumiert. Die ständigen »Welt-Kontakte« per Fern-
das europäische Ausland, bisweilen aber auch darüber hi-
sehen und Internet entziehen dem Dorf soziales Kapi-
naus. Selbst die ländlichen Volkshochschulen machen die
tal. So sind die früher häufigen Dorfkontakte vor allem in
Dorfbewohner fit für den Austausch der Kulturen – durch
den Dorfkneipen rapide zurückgegangen – viele Geschich-
Sprachkurse bis hin zu Russisch und Chinesisch, durch Stu-
ten aus dem eigenen Dorf bleiben unerzählt. Auch in den
Das moderne Dorf
Eine Volkstanzgruppe aus Portugal präsentiert sich im Sommer 2011 auf dem alten Klostergut Böddeken im Rahmen der Internationalen Jugendwoche, die der Kreis Büren/Paderborn seit 1954 im Zweijahresrhythmus durchführt.
Familien wird der Austausch zwischen den Generationen,
barkeit, der Ruhe und Entschleunigung, der Familie und
wie z. B. das Gespräch zwischen Großeltern und Enkeln,
seiner Geschichte. Das Dorf bleibt seine Basisstation für
durch den Medienkonsum weniger gepflegt als früher. Ein
seine Ausflüge in die Welt. Der Dorfbewohner von heute
Amerikaner, der seit 1978 in Deutschland lebt und seit 1985
denkt und handelt global, ist aber lokal verwurzelt und en-
in Alsweiler wohnt, formuliert die Gefahren der Globali-
gagiert. Er ist zugleich bodenständig und weltoffen. Multi-
sierung für das Dorf: »Deutschland verliert langsam seine
lokalität prägt sein Leben, ständig hält er sich – zum Ar-
Eigenschaften, den Charakter, diese schöne deutsche Kul-
beiten oder Einkaufen, zur Ausbildung oder Erholung – an
tur. Den Dialekt zum Beispiel, der stirbt langsam aus, genau
verschiedenen Orten auf. Dies gilt für Millionen von Men-
Klaus Brill zieht ein ähnliches Resümee
schen in Deutschland. Viele bekannte Sportler, Künstler,
seiner langjährigen Beobachtungen in seinem Heimatdorf:
Wissenschaftler, Politiker und Spitzenkräfte der Wirtschaft
»Die große Vermengung ist im Gange. Was nicht heißen
gehören dazu.
wie in Amerika.«
151
soll, dass alles Fremde abzuweisen wäre. Nur sollte man darüber nicht das Eigene verachten und untergehen lassen.«152 Generell weiß der Dorfbewohner auch als Globalist sein Dorf zu schätzen. Als Ort der Vertrautheit und Überschau-
Bevölkerung – Soziales – Kultur
197
E XKU RS
Wie die Kunst das Landleben darstellt
Das Dorf in Literatur, Malerei und Film
Kann die Kunst etwas zum Verständnis des Dorfes
Wie nehmen Wissenschaft und Kunst die Wirklichkeit ei-
beisteuern? Sehr wohl! In unzähligen Werken der Lite-
ner Landschaft oder eines Dorfes wahr? Wie stellen sie diese
ratur, der Malerei, der Musik, der Fotografie und des
Wirklichkeiten dar? Wer kommt schließlich der Realität
Films sind Dorf und Landleben dargestellt worden und
des Dorfes und des ländlichen Raumes näher? Eher die »ob-
prägen unsere Vorstellungen. Wer hat nicht den Lehrer
jektive« und nüchterne Bestandsanalyse und -beschreibung
Lämpel von Wilhelm Busch vor Augen, wenn vom alten
der Wissenschaft oder die ganzheitliche, auch sensitive Er-
Dorfschullehrer die Rede ist. Die Kunst hat mancherlei
fassung der Kunst, die sich in subjektiven, anschaulichen
Vorzüge gegenüber der Wissenschaft. Sie spricht die
und lebendigen Darstellungen widerspiegelt? Was bietet
Sinne an und will emotional sein: Sie zeigt uns z. B.
uns die Kunst, was die Wissenschaft nicht leisten kann?153
die Schwere oder die Heiterkeit des Landlebens mit intensiven Worten und Bildern. Sie stellt komplexe Zusammenhänge komprimiert dar: ob nun die Abhängigkeit des Bauern vom Viehhändler beim Tierverkauf oder den modernen Dorfbewohner als Globetrotter.
198
E X KU RS
Abbildung oben: Im ländlichen Murnau am Staffelsee fand Wassiliy Kandinsky seine Motive, die ihn zur gegenstandslosen Malerei anregten. Das Bild »Murnau – Kohlgruberstraße« von 1908 gehört zu den ersten Werken der Klassischen Moderne.
Die Wissenschaft versucht, ein Dorf nahezu ausschließ-
stehen. An Beispielen wird gezeigt, welche »Bilder« des
lich durch die Vernunft und mathematisch-exakte Metho-
Landes uns die Kunst von etwa 1800 bis heute vermittelt hat,
den zu erfassen. Zählungen und Messungen stehen im Vor-
deren Eindrücke und Aussagen oft weit über die Möglich-
dergrund: An einem Bachlauf werden z. B. die Fließge-
keiten der Wissenschaft hinausgehen.
schwindigkeit, die Temperatur und die Art und Dichte der
Literatur über das Leben auf dem Land gibt es seit der
Schwebstoffe zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten ge-
Antike. Sie beschreibt das Landleben in vielen Facetten,
messen. Im Dorf selbst wird das Gebäudealter, die Sozial-
geht auf sozioökonomische Veränderungen ein und nimmt
schichtung oder das Freizeitverhalten der Bewohner unter
höchst unterschiedliche Bewertungen vor. Sie schwankt
die Lupe genommen, in der Landwirtschaft hingegen der
zwischen realitätsgerechter Darstellung einerseits und
Viehbesatz, die Betriebsgröße und die Zahl der Beschäftig-
Nostalgie und Utopie andererseits. Sie preist das Landle-
ten nachgefragt. Die sinnhafte Wahrnehmung durch Auge,
ben als Idylle oder verlorenes Paradies, als Ort der Wertebe-
Ohr, Nase und Tastsinn sowie alle Arten menschlicher
wahrung gegen Fortschritt und Moderne, als Ort der Selbst-
Empfindungen werden in der Wissenschaft meist ausge-
findung und Heilung. Sie zeichnet das Land aber auch als
klammert. Wissenschaft will nach methodisch festen Re-
Ort der Enge und Zurückgebliebenheit, der Zerstörung und
geln möglichst eindeutig klären und darstellen. Deshalb
Brutalität, der Armut und sozialen Ungerechtigkeit, der
wählt sie meist spezielle Themen aus, greift Einzelheiten
folkloristischen Kulisse und des Heimatkitsches.154
heraus und befasst sich weniger mit ganzheitlichen Fragen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckte die »Bildungs-
Das heißt, Wissenschaft erfasst die Wirklichkeit in der Re-
schicht« in den Städten ihre Vorliebe für das Landleben.
gel nur partiell. Den objektiven Methoden entsprechend, ist
Bauern und Dörfer wurden nun zunehmend positiv bewer-
die Darstellung der wissenschaftlichen Analysen häufig ge-
tet und dargestellt (die zuvor beliebte Charakterisierung des
kennzeichnet durch lange Tabellen und abstrakte Grafiken,
Bauern als derber Tölpel schwächte sich ab), was den Ideen
durch eine formelhafte und (dem Laien) kaum verständ-
der Aufklärung und Romantik entsprach. Einige Schrift-
liche Sprache.
steller verherrlichten das Landleben und gelten als »Idyl-
Was vermag also die Kunst im Vergleich zur Wissen-
lendichter« wie Salomon Geßner und Friedrich Müller, ge-
schaft? Kunst darf und will emotional und subjektiv sein.
nannt »Maler Müller«. Die Dichter der Romantik wie Ei-
Sie spricht neben dem Verstand vor allem auch die Sinne
chendorff oder Mörike haben uns zahlreiche Gedichte und
an, d. h. den ganzen Menschen mit all seinen Gedanken
Lieder überliefert, die den Aufenthalt in Natur und schö-
und Empfindungen. Kunst ist selten eindeutig wie man-
ner Landschaft in wunderbaren Versen preisen. Viele davon
ches Ergebnis der Wissenschaft, sie lässt an einem Ereignis
sind bis heute ein Teil unserer Volkskultur: »O Täler weit, o
oder Objekt vielfältige Beobachtungen und Auswertungen
Höhen, o schöner grüner Wald.« Oder: »Am Brunnen vor
zu. Die Kunst spricht – mehr als die Wissenschaft – kom-
dem Tore, da steht ein Lindenbaum.«
plexe Themen an wie z. B. Armut oder Reichtum, Aufstieg oder Verfall eines Landes oder Dorfes, die wohltuende Wirkung eines Baches am Abend oder eines Waldes am Morgen.
Am Walde
Eduard Mörike
Die Kunst hat viele Möglichkeiten, die »Dorfbilder« darzustellen: wirklichkeitsnah, übersteigert oder gar verfrem-
Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
det, um die Menschen zu fesseln, zu erfreuen, zu verstören,
Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;
zu warnen, zu belehren und generell zum Nachdenken an-
Er scheint das Tal gemaechlich einzuwiegen
zuregen. Die Kunst zeigt, weckt und stillt Sehnsüchte der
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Menschen, aber auch deren Sorgen und Ängste, was die Wissenschaft nur begrenzt leisten kann. In der Kunst gibt es eine lange Tradition, sich mit dem
Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage, Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fuegen,
Dorf und dem Landleben zu befassen. Hier sollen die Lite-
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
ratur, die Malerei und der Film im Fokus der Betrachtung
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
E X KU RS
199
Und wenn die feinen Leute nur erst daechten,
der, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache;
Wie schoen Poeten ihre Zeit verschwenden,
das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.
Sie wuerden mich zuletzt noch gar beneiden.
Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Reiche aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am
Denn des Sonetts gedraengte Kraenze flechten
Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Leben der Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren
Indes die Augen in der Ferne weiden.
seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Reichen.«156
Andere Schriftsteller beschrieben das Landleben realisti-
Sehr realistische Dorfbeschreibungen entstanden vor al-
scher, und ihre Texte lesen sich wie eine volkskundliche
lem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie finden
Skizze. Ein Beispiel ist die Novelle »Die Judenbuche – Ein
sich u. a. bei Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Theodor
Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen« von An-
Storm, Berthold Auerbach, Peter Rosegger, Ludwig Gang-
nette von Droste-Hülshoff aus dem Jahr 1842. Hier der Be-
hofer, Friedrich Hebbel, Theodor Fontane und Wilhelm
ginn der Erzählung:
Raabe. Erzählungen wie »Romeo und Julia auf dem Dorfe«
»Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn ei-
von Gottfried Keller oder »Stopfkuchen« von Wilhelm
nes sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers ge-
Raabe vermitteln ein dichtes Bild des Dorfinnenlebens und
ringer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rau-
lesen sich fast wie moderne soziologische Dorfstudien.
chig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt
Die kurze Novelle »Die Kuh« (1849) von Friedrich Heb-
durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der
bel wirft einen sehr realistischen wie düsteren Blick auf das
grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschicht-
Dorfleben und die Armut der kleinen Leute: Der Kleinst-
lich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen, dem es an-
bauer und Tagelöhner Andreas, der als Zugtiere zwei Esel
gehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwin-
im Stall hat, ist gerade dabei, vom Lohn seiner jahrelan-
kel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch
gen Tagelöhnerarbeiten eine Kuh zu erwerben. Immer wie-
ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte und eine Reise von
der zählt er die dafür benötigten Talerscheine. Der Höhe-
dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses sei-
punkt seines Arbeitslebens steht kurz bevor. Er führt einen
ner Gegend machte – kurz, ein Fleck,
kurzen Dialog mit seinem dreijähri-
wie es deren sonst so viele in Deutsch-
gen Sohn: »Noch heute erhalten un-
land gab, mit all den Mängeln und Tu-
sere beiden Esel Gesellschaft. Dein Va-
genden, all der Originalität und Be-
ter hat’s endlich so weit gebracht, die
schränktheit, wie sie nur in solchen
Kuh ist schon unterwegs! Du musst das
Zuständen gedeihen.«
Pferd schaffen, wenn du groß wirst!
155
Nicht wenige Dichter nahmen Stel-
Hörst du?« Das Kind nickte, obwohl es
lung zur ökonomisch und rechtlich
den Sinn noch nicht verstehen konnte.
prekären Lage der Landbevölkerung
Die Vision des Vaters geht also bereits
gerade in den 1830er und 1840er Jah-
auf die nächste Generation über, die den
ren. Sie wollten wachrütteln und zum
Sprung zum Pferd schaffen und es da-
politischen Umbruch aufrufen (der ja
mit besser haben soll. Da bricht drama-
mit der Landrevolution von 1848 ein-
tisch das Unheil herein: Der kurzfris-
geleitet wurde). Ein Beispiel ist »Der
tig unbeaufsichtigte Kleine zündelt alle
hessische Landbote« von Georg Büch-
sauer verdienten Talerscheine am of-
ner aus dem Jahr 1834, hier ein kleiner
fenen Talglicht zu Asche. Der zurück-
Auszug: »Das Leben der Reichen ist ein
kehrende Vater sieht sein Lebenswerk
langer Sonntag: sie wohnen in schö-
zerstört, gerät außer sich und wirft das
nen Häusern, sie tragen zierliche Klei-
Kind an die Wand und nimmt sich den Ein literarischer Paukenschlag gegen das Versagen der Politik auf dem Land (S. 202).
200
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In seinem Gemälde »Angelusläuten« (1857–1859) vermittelt uns Jean François Millet die Kargheit und Frömmigkeit des Landlebens.
Strick, der für die Kuh bestimmt war. Und die mit der Kuh
hin zu Tradition und Volkstum, und richtete sich gegen al-
ankommende Ehefrau trifft auf den toten Sohn und Mann
les Moderne und Fortschrittliche, das als dekadent verwor-
und das inzwischen brennende Haus, in dem schließlich
fen wurde. »In diesem Rahmen gelten dörfliche Lebensfor-
auch sie und die Kuh umkommen. Was wollte der Dich-
men als organisch, gewachsen und gesund, städtisch-indus-
ter vermitteln? Vielleicht eine wahre Begebenheit. Aber si-
trielle dagegen als ungesund, künstlich und konstruiert.
cherlich auch ein Stück Hoffnungslosigkeit in der breiten
Die Opposition Dorf-Stadt wird weiter verstärkt. Während
Masse der damaligen Landbevölkerung, die noch dem heu-
in der Stadt Sünde und Verfall herrschten, hielt das Dorf an
tigen Leser unter die Haut geht.
Sitte und bewahrender Tradition fest: die Rettung von Volk
157
Um 1900 entstand die »Heimatkunst«, eine zugleich literarische und politische Bewegung, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg wirksam blieb. Sie wandte sich rückwärts,
und Nation sei nur durch eine erneuerte und feste Bindung an diesen Lebensraum möglich.«158 Erst die 1960er und 1970er Jahre brachen mit dem ein-
E X KU RS
201
Das Bild »Bauernfamilie« des Malers Theodor Schüz von 1861 zeigt uns das Landleben als Idylle. Nicht Armut und Sorgen herrschen vor, sondern Wohlstand und Zufriedenheit.
seitig positiven Bild vom Dorfleben. Dorf und Heimat wurden in der Literatur nun als eng und rückständig dargestellt.
Den jüngsten Paukenschlag zur Land-Literatur setzte der
Doch inzwischen sind diese Begriffe auch in der Kunst
erst 24-jährige Autor Lukas Rietzschel mit seinem von den
längst wieder rehabilitiert worden. Viele Schriftsteller le-
überregionalem Medien vielbeachteten und hochgelobten
ben heute in kleinen Dörfern und beschreiben in Büchern
Debütroman »Mit der Faust in die Welt schlagen« (2018).
Andere erinnern sich an ihre Jugend
Im Mittelpunkt steht das trostlose Aufwachsen zweier Brü-
im Dorf oder in der Kleinstadt und verarbeiten dies in ih-
der in der sächsischen Lausitz, wo das Leben in den Dör-
ren Werken. So thematisiert der aus der hessischen Provinz
fern und Kleinstädten von Landflucht, Leerstand und Ver-
stammende und heute in Berlin lebende Autor Florian Il-
fall geprägt ist. Für die zuständige Politik und deren Versa-
ihre Landsehnsucht.
202
rinnen.
159
lies in dem Roman »Ortsgespräch« (2006) seine Liebe zum
gen empfindet der Autor nur Ohnmacht und Zorn: »Dieses
(früheren) Landleben. Dörte Hansen thematisiert in ihren
ganze eingefallene, verlassene Zeug. Untergegangene, trau-
einfühlsamen Romanen »Altes Land« (14. Aufl. 2015) und
rige Scheiße. Kein Mensch auf der Straße. Abriss und Leer-
»Mittagsstunde« (2018) das Landleben mit seinen vielfach
stand. Die Schulen, die sie schlossen, die Sparkassen und
schmerzlichen Umbrüchen in die Moderne und gehört da-
Arztpraxen, die Kreise, die sie zusammenlegten, die Ge-
mit derzeit zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstelle-
meinden und Städte. Die Wege werden länger, die Ent-
E X KU RS
fernungen größer. Für Griechenland war Geld da gewesen und für unnötige Umgehungsstraßen. Schnellstraßen, damit niemand mehr durch die traurigen Orte fahren musste.« Die Lethargie und Verzweiflung der Brüder schlägt in dem Moment – dramatisch wirksam – in Wut und Hass um, als die bis dahin nicht präsente und untätige Politik die lokale, leerstehende und verfallende Grundschule als Flüchtlingsunterkunft wiederbeleben will: »Diese Schule kriegen sie nicht. Niemals! Das ist unsere Heimat!« Der Roman rüttelt auf, geht unter die Haut. Wie die Literatur entdeckte auch die Malerei um 1800 die bäuerlich-ländliche Welt. Dabei ging es nicht in erster Linie um eine realistische Darstellung des Dorfes und seiner Umgebung – die Bilder sind eher als Kommentare oder Visionen zum Land zu sehen. So stammten die Künstler fast immer aus der Stadt und waren akademisch ausgebildet. Ulrich Schütte fasst seine vorzügliche Untersuchung über das dörfliche Leben in der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts zusammen: »Das problematische Verhältnis zwischen Stadt und Land bestimmt auch die Bilder der Künstler, deren Werke nur teilweise als Dokumente bäuerlichen Lebens zu lesen sind. Die Bilder sind von Wünschen, Interessen und mentalen Haltungen wie auch von Sympathie und Engagement der Künstler geprägt, die einem städtischen Mi-
Der in Paris lebende russische Maler Marc Chagall verwendete in seinen Bildern immer wieder Motive aus seinem Heimatdorf Witebsk, wie hier in dem fast biographischen Bild »Ich und das Dorf« von 1911.
lieu entstammen.«160 Einer der bekanntesten Maler des frühen 19. Jahrhunderts war der in Berlin geborene und in
Aber auch das Leben der Bauern wird in vielen Bildern
Dessau tätige Carl Wilhelm Kolbe. Seine Dorf- und Land-
des 19. Jahrhunderts dargestellt.162 Häufig kommt darin
schaftsdarstellungen sind, angeregt vom Schweizer Maler-
Harmonie und Zufriedenheit mit den Lebensumständen
poeten Salomon Geßner, eher Idylle und Vision als realis-
zum Ausdruck – so z. B. auf dem Bild »Bauernfamilie«
tisch: Eine überaus üppige Baum- und Pflanzenvegetation
(1861) von Theodor Schütz. Hier zeigt sich die große Bau-
wird zum Lebensraum liebeshungriger Faune und Nym-
ernfamilie am Feldrand versammelt zu Gebet und Mittags-
phen und urwüchsigen Getiers. Das Land ist hier nicht der
pause. Einen eher sozialkritischen Unterton verbreitet das
locus amoenus, der liebliche Ort, »sondern eine strotzende
Bild von Jozef Israels »Das kärgliche Mahl« (1876), in dem
leidenschaftliche Urwelt-Natur, in der der Mensch seine ei-
eine ärmliche, enge und dunkle Bauernstube mit Eltern,
genen Triebe und Emotionen gespiegelt sieht«.161
Kindern und Kleinvieh dargestellt wird. Im Bild »Kuhhan-
E X KU RS
203
del« (1908) von Ernst Würtenberger verstärkt sich die sozi-
perary« im Herbst 2008 in der Galerie Contemporary Fine
alkritische Aussage. Die Situation der kleinen Bauernfami-
Arts am Kupfergraben in Berlin erschien erstmals das groß-
lie, die beim Verkauf ihrer Kuh von der Willkür des Vieh-
formatige Bild »Bound« (3,20 × 2,20 m groß! 2008): Über ei-
händlers abhängig ist, erscheint hoffnungslos. Auch von
nem idyllischen Dorf fliegt bzw. wandert ein Junge durch
Marc Chagall (1887–1985) sind zahlreiche Dorfbilder be-
die Luft, gefesselt an eine große Weltkugel. Zwei »Welten«
kannt. Immer wieder brachte er sein russisches Heimat-
also in einem Bild. Der Titel »Bound« bedeutet und signa-
dorf Witebsk ins Bild, das er 1910 in Richtung Paris verlas-
lisiert sowohl Sprung als auch Erdverbundenheit. Man ist
sen hatte. Markante Beispiele sind »Ich und das Dorf« und
geneigt, an den Dorfbewohner als Globetrotter zu denken,
»Rußland, den Eseln und den anderen«, beide aus dem Jahr
der sein Dorf vor Augen hat, aber offenbar nicht in diese
1911. Chagall gibt eine knappe wie klare Begründung seiner
Idylle zurück kann, wo er Frieden, Heim und Stabilität fin-
Dorfmotive: »Der Boden, der die Wurzeln meiner Kunst ge-
den und sich ausruhen könnte. Er bleibt an die Globalisie-
nährt hatte, war Witebsk. Ich war begeistert von dem, was
rung gebunden.164 Auch moderne Karikaturen stellen im-
ich in Paris sah. Aber meine Begeisterung kehrte zu ihrem
mer wieder das Landleben dar. Durch ihre Übertreibungen
Ausgangspunkt zurück.«
oder Vereinfachungen gelingt es ihnen, komplexe Zusam-
163
Auch die moderne zeitgenössische Malerei setzt sich mit dem Dorf auseinander. Zur Avantgarde in Berlin gehört
menhänge von Dorfgefühlen oder Dorfpolitik in einem einzigen Bild zu veranschaulichen.
inzwischen der aus einem westfälischen Dorf stammende
Zuletzt ein kurzer Blick auf den Film. Das Land erscheint
Uwe Henneken. In einer großen Ausstellung »Tiptoe to Tip-
im deutschen Film vor allem im sog. »Heimatfilm«. Dörfliche Gemeinschaft und eine schöne, unberührte Landschaft bilden die Kulisse für eine melodramatische Liebesgeschichte, wobei das ländliche Leben generell harmonisch dargestellt wird und ein Happy End nicht fehlen darf. Der Heimatfilm erfreute sich besonders in den 1950er Jahren einer großen Beliebtheit, hatte aber seine Vorläufer in den 1920er und 1930er Jahren.165 Zwischen 1947 und 1960 gehörten durchschnittlich 20 % der deutschsprachigen Urund Erstaufführungen dem Heimatfilm an. Nach den Erschütterungen und Zerstörungen durch die Weltkriege hatten die Menschen Sehnsucht nach einer heilen und unzerstörten Welt, die man auf dem Land vorfand. Am erfolgreichsten war der Film »Grün ist die Heide« von 1951 (Regie: Hans Deppe), der 1953 mit einem Bambi für den »gesellschaftlich erfolgreichsten deutschen Film 1952« ausgezeichnet wurde. Die in einem Dorf in der Lüneburger Heide spielende Geschichte (sie hätte problemlos auch im Allgäu oder Rheinland spielen können) zeigt die für den Heimatfilm dieser Zeit typischen Themen und Bilder: die Dorfschenke, das Pfarrhaus, den Schützenplatz, Schafherden mit Hirten in der Heidelandschaft, das Wildern als Konflikt, das Flüchtlingsmotiv, der Stadt-LandGegensatz. Die Dorfbewohner sind auf Typen reduziert. So ist der schwarz gekleidete, Dialekt sprechende Pfarrer vor seinem schmucken Pfarrhaus bei der Gartenarbeit zu sehen. Das Dorf wird als einfache und traditionsgebundene Le-
Das Ölbild »Bound« von Uwe Henneken zeigt uns den modernen Menschen, der offenbar an die globale Welt gebunden bleibt.
204
E X KU RS
bensform idealisiert. Im Kontrast dazu wird die Großstadt als Ort der Wurzellosigkeit der Menschen negativ gezeichnet. Krönender Abschluss des Films ist ein von Einheimischen und Flüchtlingen gefeiertes Schützenfest. Ab den späten 1960er Jahren entstanden völlig andersartige Filme über das Land, die man als »linke«, »neue« oder »kritische Heimatfilme« bezeichnet.166 Das Dorf wird nun nicht mehr idyllisiert, sondern als Ort sozialer Zwänge und starrer Schichten und Machtstrukturen geschildert. Beispiele sind die Filme »Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach« (1970, Volker Schlöndorff) und »Paule Pauländer« (1975, Reinhard Hauff). Wie eine Zusammenfassung des traditionellen und des »linken« Heimatfilms sieht Korsch die elfteilige Familien- und Dorfchronik »Heimat« (1984, Edgar Reitz), in der die Geschichte eines fiktiven Dorfes »Schabbach« im Hunsrück von 1919 bis 1982 erzählt wird. Phasenweise wird hier mit stimmungsvollen Bildern eine dörfliche Idylle aufgebaut, die jedoch immer wieder zerstört wird. Ein Resümee der doch relativ überschaubaren Phasen deutscher Dorffilme in den zurückliegenden Jahrzehnten, formuliert treffend Bettina Korsch: »Die künstlerisch belanglosen Heimatfilme der fünfziger Jahre siedelten ihre fiktiven Geschichten vornehmlich in der Provinz an. Jedoch war es nicht ihr Anliegen, Dorf als realen Raum wahrzunehmen. Vielmehr verklärten sie mit entsprechenden Bildern ländliches Leben zu einer illusionären Idylle. Die ›linken‹ Heimatfilme der siebziger Jahre zerstörten diese Idylle.
Schon das Plakat des erfolgreichen Heimatfilms »Grün ist die Heide« von 1951 macht das Filmmotiv deutlich: harmonisches Landleben in schöner Landschaft.
Das Dorf wurde als Ort sozialer Enge beschrieben, dem es zu entfliehen galt. Seit den achtziger Jahren zeichnet sich
lich von Bremen, Ahrenshoop auf der Halbinsel Darß an
schließlich im bundesdeutschen Spielfilm ein unkompli-
der Ostsee und Murnau am Staffelsee am Fuße der Alpen.
zierter Umgang mit der Provinz ab.«167�
Auch Wilhelm Leibl, der berühmte Münchner Maler aus
Die Kunst hat eindrucksvolle und einfühlsame Ge-
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ließ sich in seinen
schichten und Bilder vom Dorf und Landleben hervorge-
letzten Schaffens- und Lebensjahren im oberbayerischen
bracht. Sie hat uns erfreut und nachdenklich gemacht, auf-
Dörfchen Kutterling nieder. 1878 schrieb er seiner Mutter:
geklärt und wachgerüttelt, umgarnt und getäuscht. Sie hat
»Ich habe die Berühmtheit satt und freue mich, in der Stille
unsere Vorstellungen vom Land mitgeprägt. Sie hat unse-
des Landlebens ein anderes Bild anzufangen und mit Fleiß
ren Horizont erweitert, uns aber auch auf Fährten gelockt,
und Bescheidenheit auszuführen. Die ewige Lobhudelei
die weniger von Realität als von Bildungsabsichten, Nostal-
und das geräuschvolle Treiben der Welt sind nicht dazu an-
gie oder Visionen bestimmt waren.
getan, mir in der Ausübung meiner Kunst zu nützen.«168
Eine interessante Beobachtung ist es, dass Künstler aus der Stadt immer wieder – bis in die Gegenwart – zu längeren Aufenthalten das Land aufgesucht haben. Bekannte Beispiele sind die Dörfer Worpswede am Teufelsmoor nörd-
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205
Gestalt der Kulturlandschaft
Einführung Die ländliche Kulturlandschaft hat äußerst vielfältige
Unsere Vorfahren haben bereits alle Naturräume unseres
und überwiegend schöne Gesichter. Diese erfreuen Land-
Landes genutzt und besiedelt: So entstanden die Fischerdör-
bewohner und Städter in gleicher Weise und regen nicht
fer an den Küsten und auf den Inseln der Nord- und Ostsee,
selten Maler, Bildhauer, Dichter, Musiker und Philosophen
die Moor- und Marschhufendörfer im deutschen Nordwes-
zu großartigen Schöpfungen oder Ideen an. Die natürlich
ten, die Lössbördendörfer am Nordrand der Mittelgebirge
vorhandenen Ressourcen und deren Nutzung durch die
und auf den süddeutschen Gäuflächen sowie die meist eng
Menschen haben die ländlichen Siedlungen und Fluren ge-
bebauten und oft in Hanglage errichteten Dörfer der Mittel-
prägt. So sind in langen historischen Prozessen die unter-
gebirge. Da man beim Bauen früher die lokal und regional
schiedlichen Dorflagen und -größen sowie Dorf-, Bauern-
anstehenden »Gesteine« nutzte, entstanden die verschiede-
haus- und Flurformen entstanden.
nen Baumateriallandschaften. Im norddeutschen Tiefland
Zahlreiche regionale Kulturlandschaften haben sich he-
dominieren – neben den Graniten und Gneisen aus eiszeit-
rausgebildet und ihr eigenes typisches Gepräge bis heute
lichen Ablagerungen – die roten Backsteine aus dem ge-
bewahrt. Große Teile des nordwestdeutschen Tieflandes in
brannten Lehm der Region. In den Dörfern und Weilern
Niedersachsen und Westfalen sind von markanten Einzel-
der Mittel- und Hochgebirge können wir die typischen re-
hofsiedlungen geprägt, die wie kleine Trutzburgen inmit-
gionalen Farben der Natursteine beobachten und dabei den
ten ihrer Felder liegen. In vielen Regionen Deutschlands do-
geologischen Untergrund ablesen.
minieren die großen und kleinen, locker oder eng bebauten
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die meisten Dör-
Haufendörfer, die mit ihrem labyrinthischen Straßen- und
fer einen Modernisierungsschub erhalten und dabei auch
Wegenetz schon manchen Besucher verwirrt haben. Da-
manche überlieferten Formen verändert oder verloren. So
neben gibt es zahlreiche Regionen mit den regelmäßigen
sind die Neubausiedlungen am Dorfrand zur zweiten dörf-
Grundrissen der Rundlinge, Anger-, Straßen- oder Schach-
lichen Realität geworden. Durch Gebäudemodernisierun-
brettdörfer. Im nordostdeutschen Tiefland, insbesondere
gen, Straßenausbauten und staatlich geförderte »Dorfsa-
in Mecklenburg-Vorpommern, haben sich trotz mancher
nierungen« in den 1960er und 1970er Jahren ist ein Groß-
Brüche zahllose typische Gutsdörfer erhalten. Neben den
teil der historischen Bausubstanz in den Dörfern beseitigt
Dorfformen unterscheiden wir rund 20 Bauernhaus- und
worden. Seitdem ist die Wertschätzung der ländlichen Bau-
Gehöfttypen wie das Norddeutsche Hallenhaus, das Frän-
kultur allerdings wieder gestiegen. Außerdem wird die ma-
kische Gehöft oder das Schwarzwaldhaus. Auch das Aus-
terielle Agrarkultur inzwischen in zahlreichen Freilicht-
sehen der Flur ist in Deutschland, vor allem bedingt durch
museen in allen Regionen Deutschlands vorbildlich do-
die früher jeweils vorherrschenden Erbgewohnheiten, sehr
kumentiert und den Besuchern durch Aktionen wie das
unterschiedlich ausgeprägt. So dominieren im deutschen
»Lebende Museum« nahegebracht. In den Dörfern selbst
Südwesten immer noch die kleingekammerten Flurformen,
droht allerdings eine neue Gefahr: Fast in allen deutschen
ansonsten die großen, zusammengelegten Feldflächen.
Regionen sind gerade die alten und das Dorfbild prägenden Gebäude der Dorfkerne zunehmend vom Leerstand betroffen und damit vom Verschwinden bedroht. Ist dies der Beginn der Dorfauflösung oder gibt es Chancen durch Um-
Abbildung Seite 206/207: In ihrem Oberlauf windet sich die Weser in großen Bögen durch das Weserbergland, landschaftlich sehr reizvoll liegen sich hier die Dörfer Rühle und Pegestorf in Hang- und Tallage gegenüber.
208
Das moderne Dorf
nutzung? Das immer noch reiche bauliche und natürliche Erbe des ländlichen Raumes ist ein Auftrag an die heutige Generation zum nachhaltigen Handeln.
Vom Reiz der Dorflage Die Einbettung der Dörfer in die Landschaft
Wie unterschiedlich präsentieren sich unsere Dörfer in der Landschaft! Viele verstecken sich in einem Tal, nur
– Die Einbettung des Dorfes in die Landschaft, z. B. in einem Tal oder auf einer Bergkuppe.
der Kirchturm weist von Weitem auf eine Siedlung hin.
– Die Orte des »ersten Erkennens« an den wichtigen Zu-
Andere wiederum liegen majestätisch auf einem Berg.
gängen – das sind Stellen in der Landschaft, an denen
Nicht selten schmiegen sich Dörfer wie zum Schutz
man eine Siedlung zum ersten Mal sehen kann. Meist
an den Rand von Wäldern. Wieder andere befinden
sind diese Orte dort, wo die Wegführung sich ändert, z. B.
sich weithin sichtbar auf großen Ebenen inmitten ihrer
wenn man aus einem Wald herauskommt oder über eine
Feldflächen. Die Lage eines Dorfes prägt das Dorfbild
Kuppe fährt und der Weg sich senkt oder wenn man um
wie das Leben seiner Bewohner. Und es sagt uns
eine Kurve kommt. An diesen Stellen entsteht der erste
manches über die Motive der Siedlungsgründer, aber
Eindruck, den man beispielsweise als Fremder von einer
auch über die früheren technischen Möglichkeiten und
Siedlung hat. Deswegen sind diese Stellen in der Land-
politischen Verhältnisse.
schaft von besonderer Wichtigkeit. – Die Übergänge von der Landschaft in die Siedlung, z. B.
Wir schauen auf die topographische Lage des Dorfes, seine
durch Hecken oder Alleen.
Einbettung in den Naturraum. Wo haben unsere Vorfah-
– Die Gliederung des Weges bis zur Mitte: von der Land-
ren ihre Dörfer platziert? Dies ist das ureigene Betrach-
schaft über die Haupt- und Nebenstraßen zu den Plätzen,
tungsfeld der Historischen Geographie. Aber auch der be-
Höfen und Häusern.
kannteste Architekturprofessor für das ländliche Bauen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, Wilhelm Landzet-
Wie kam es dazu, dass sich in unserem Land so unterschied-
tel, hat uns die Wichtigkeit der Dorflage gelehrt. In wun-
liche Dorflagen herausgebildet haben? Dafür gibt es unter-
derschönen Büchern wie »Wege und Orte« (1977) hat er uns
schiedliche Gründe. Deutschland hat sehr verschiedenar-
gezeigt, dass man sich Dörfer am besten (topographisch) er-
tige Naturräume – die diversen Tief- und Bergländer, Mit-
schließt, wenn man sich ihnen – wie er selbst auf Reisen
tel- und Hochgebirge, Küsten und Inseln, Feuchtgebiete
durch Hessen, Niedersachsen und Bayern getan hat – in der Landschaft zu Fuß oder mit dem Fahrrad annähert. Vier Aspekte sind dabei für Landzettel von Bedeutung:169
Abbildung oben: Auf einer Basaltkuppe gelegen sitzt das Dorf Stornfels in typischer Bergspornlage wie auf einem Thron über der Landschaft der Wetterau.
Gestalt der Kulturlandschaft
209
Annäherung von Gronau-Barfelde: Erst im Winter sieht man den Kirchturm in der Achse der Straße und die Bäume auf der Kuppe hinter dem Dorf.
Annäherung von Eberholzen: Das Dorf vor dem Hintergrund der talbegleitenden Berge. Links der Aussiedliungshof, rechts der Hahmbach mit seinen Bäumen und der schöne Kirchturm.
Landschaftsarchitekt Wilhelm Landzettel skizziert und beschreibt seine unterschiedlichen Annäherungen an das Dorf Eitzum in Südniedersachsen.
und trockenen Standorte sind in der Vergangenheit flä-
ferne Dörfer hatten ständige Transport- und Speicherpro-
chenhaft und fast gleichmäßig wirtschaftlich genutzt und
bleme zu bewältigen. Allerdings konnte allzu große Was-
besiedelt worden. Unsere Vorfahren haben dabei ihre Sied-
sernähe auch Nachteile mit sich bringen, z. B. eine perma-
lungen jeweils den unterschiedlichen Naturbedingungen
nente Hochwassergefahr im Auenbereich der Flüsse und
angepasst. Sie haben aber zu verschiedenen Zeiten auch
Bäche. Deswegen mieden zumindest die älteren Dorfgrün-
sehr unterschiedliche Lagevorteile geschätzt. Diese wandel-
dungen den unmittelbaren Hochwasserbereich für ihren
ten sich mit den politischen Rahmenbedingungen, den je-
Siedlungsplatz. Die Wasserlage prägt wohl die meisten deut-
weiligen Nutzungsinteressen oder den technischen Mög-
schen Dörfer. Wilhelm Landzettel lässt in seiner Beschrei-
lichkeiten. In der Zusammenschau der verschiedenen Sied-
bung eines Wasserdorfes erkennen, wie sehr der Strom das
lungslagen und ihrer sich wandelnden Gründungsmotive
Leben der Bewohner bestimmt: »Oedelsheim an der Weser
lassen sich verschiedene Lagetypen feststellen.
faszinierte mich durch den Strom: In das Wasser schauen
Die naturräumliche bzw. topographische Lage bezieht
210
und dieses mit unaufhaltsamer Kraft lautlos dahinfließend
sich vor allem auf das Relief, die Lage am Wasser sowie
als stets sich verändernde und doch immer gleich bleibende,
auf das Klima, den Boden und die Vegetation. Besonders
unbegreifliche Macht zu erkennen – wer könnte sich dem
augenfällig ist in der Regel die Relieflage. Dörfer treten
entziehen? Das Dorf mit etwas über tausend Einwohnern ist
in Tallage, Hanglage, Terrassenlage, Hügellage, Mulden-
geprägt durch die Landwirtschaft und die Weserschifffahrt.
lage, Kammlage, Passlage oder Spornlage (Bergvorsprung
Ein Teil der Felder liegt auf der anderen Flussseite. Die Bau-
zwischen zwei oder drei zusammenlaufenden Tälern) in
ern setzen Schlepper und Wagen mit der Fähre über; es gibt
Erscheinung. Nicht selten verbinden sich zwei oder meh-
keine Siedlung auf der anderen Seite, und so ist die Begeg-
rere Reliefmerkmale in einer Siedlung. So sind viele Dörfer
nung zwischen Dorfraum und Strom eine innige und ele-
hinsichtlich ihrer Relieflage zweigeteilt: Sie haben ein im
mentare. Der Anleger für den Weserdampfer ist Ankunfts-
Tal gelegenes Unterdorf und ein sich auf einem Hügel oder
und Abschiedsort. Ein Gasthaus mit schönem Garten und
Bergsporn anschließendes Oberdorf.
großen Bäumen lädt zum Verweilen ein.« 170
Die Lage bzw. Nähe zum Wasser war für die meisten länd-
Die optimale Lage (»Gunstlage«) im Rahmen des lokalen
lichen Siedlungen das wichtigste Gründungsmotiv. Wasser
Kleinklimas ist bei vielen – vor allem älteren – Dörfern er-
wurde täglich von Mensch und Tier gebraucht, und wasser-
kennbar. So wurden in der Regel die stärker besonnten Tal-
Das moderne Dorf
Die Lage am Wasser bietet Vorteile und Gefahren zugleich. Dörfer in Seelage, wie hier Gmund am Tegernsee in Oberbayern, lebten früher teilweise vom Fischfang, und heute nicht selten vom modernen Tourismus.
hänge und Hügel für Siedlungsplätze bevorzugt, wie auch
Schwäbischen und Fränkischen Alb. Hier war die Größe
die geschützten Standorte im Windschatten von Höhenzü-
einer Siedlung, die Zahl der dort lebenden Menschen und
gen oder Wäldern. Die Lage an guten Böden, vor allem die
vor allem die Zahl der Nutztiere bis ins 20. Jahrhundert da-
Nähe zu wertvollem Ackerland, spielte bei Dorfgründun-
von bestimmt, wie viel Wasser sich in Zisternen sammeln
gen generell eine wichtige Rolle. Sie hatte jedoch weniger
ließ oder in den Regenwasserteichen – in den »Hülen«, wie
Gewicht als die vorrangig gesuchte Nähe zum Wasser.
man sie auf der Schwäbischen Alb nennt. Mit zunehmen-
Die Lagefaktoren sind in der Vergangenheit von den
den technischen Innovationen, z. B. im Brunnen- und Was-
Siedlern sehr unterschiedlich bewertet und genutzt wor-
serleitungsbau, verlor der Lagefaktor Wasser seine beherr-
den. So ist die direkte Lage am Wasser (außerhalb der Hoch-
schende Bedeutung. Die modernen Aussiedlungen land-
wassergefährdung) ein prägendes Merkmal der frühmit-
wirtschaftlicher Betriebe im 20. Jahrhundert konnten daher
telalterlichen Siedlungen. Gerade bei Klostergründungen,
völlig unabhängig von der Wasserlage in ökonomisch sinn-
die meist sehr strategisch geplant wurden, legte man den
voller direkter Nachbarschaft zu den bewirtschafteten Bö-
größten Wert auf eine unmittelbare Wassernähe. Wasser-
den realisiert werden.
arme Gebiete waren generell dünn besiedelt. Besonders pre-
Berg- oder Spornlagen auf Anhöhen über den Talhän-
kär und wachstumshemmend war die schlechte Wasserlage
gen von Flüssen und Bächen wurden besonders in den poli-
der Dörfer auf den Hochflächen der Karstgebiete, z. B. der
tisch unruhigen Zeiten des Hohen und Späten Mittelalters
Gestalt der Kulturlandschaft
211
schuh für die weitere Siedlungsentwicklung. Dennoch prägen die topographisch markant gelegenen Berg- und Spornsiedlungen des Hohen und Späten Mittelalters bis heute das Bild vieler Regionen. Schöne Beispiele sind, jeweils auf einem Basaltkegel gelegen, die Kleinstadt Amöneburg bei Marburg oder das Dörfchen Stornfels in der Wetterau. Wilhelm Landzettel erklärt uns mit knappen Worten die Vorzüge der an die Topographie angepassten Dörfer und damit generell des Bauens mit der Natur: »Unsere Vorfahren hatten schon aus Kostengründen keine Chance, gegen die Natur zu bauen. Jede Veränderung der Topographie kostete Kraft. Die Folge war ein ›angepasstes‹ Bauen, das aber dadurch mit der Umwelt stimmig wurde.«171 Insgesamt ist festzustellen, dass die naturräumliche Prägung des Siedlungsplatzes nach und nach abgenommen hat und heute, z. B. bei Siedlungserweiterungen, in der Regel nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Gleichwohl prägt der historisch gewählte und weiterentwickelte Siedlungsplatz auch heute noch das Erscheinungsbild der Dörfer – und darüber hinaus in mancher Weise das Leben und Befinden seiner Bewohner. Ein Beispiel aus Mainfranken: Viele kennen die Winzerdörfer am Main zwischen Würzburg und Volkach wie Randersacker, Sommerhausen, Frickenhausen oder Sulzfeld. Sie finden sich alle in einer (gut besonnten) Talrandlage am Fuße der als Weinberge genutzten Talhänge. Wer sich nur wenige Kilometer entfernt auf die fränkische Gäufläche mit ihren guten landwirtschaftlichen Böden begibt, entdeckt die Ackerbaudörfer wie Erlach, Kaltensondheim oder Westheim. Sie liegen, abseits überregionaler Verkehrswege, meist in leichter MuldenUnterhalb eines gewaltigen Felsmassivs aus rotem Porphyrgestein liegt Bad Münster am Stein-Ebernburg im Nahetal, durch die imposante topographische Lage ist der Winzerort eine Touristenattraktion.
lage direkt bei ihren Feldflächen. Hier die Winzerdörfer in einer klimabegünstigten Tallage mit Weinbergen, mit langer Tradition des wirtschaftlichen Austausches bis hin zum heutigen Tourismus. Dort – in enger Nachbarschaft – die
212
für Kleinstadt- und Burggründungen gewählt, um sich so
inmitten ihrer Felder liegenden und förmlich in sich ru-
vor Angriffen zu schützen. Ähnliches gilt für die Anlage
henden Bauerndörfer. Man spürt fast einen unterschied-
von Wasserburgen im Tiefland. Man spricht deshalb auch
lichen Pulsschlag der Menschen in den eng benachbarten
von einer Schutzlage oder militärischen Lage. Durch die
Dörfern.
Entwicklung neuer Waffen und Militärtechniken währte
Diese Unterschiede der Dörfer nach ihrer Lage, oft auf
das Hauptmotiv dieser Siedlungsgründungen nur wenige
kleinstem Raum, machen einen wesentlichen Reiz und
Jahrhunderte. Es wurde vielerorts sogar zu einem Hemm-
Wert unserer Kulturlandschaft aus.
Das moderne Dorf
Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt Zur Größe und Definition ländlicher Siedlungen
Wenn man eine Siedlung beschreibt, dann ist deren
Die Größe ist ein wichtiges Merkmal der ländlichen
Größe ein wichtiger Aspekt. Dabei ist die Größe einer
Siedlung. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die äußere Größe
Ortschaft nicht nur ein wichtiger formaler und statis-
einer Siedlung zu bestimmen: nach der Anzahl der Haus-
tischer Begriff. Mit ihr ändert sich auch das wirtschaft-
bzw. Hofstätten, nach der Einwohnerzahl oder auch nach
liche, soziale und kulturelle Leben. Große, mittlere
der besiedelten Fläche. Das Merkmal der Größe wird häu-
und kleine ländliche Siedlungen liegen keineswegs
fig zur Klassifizierung von Siedlungen herangezogen, weil
regional gleichmäßig verteilt in einem bunten Gemisch
es statistisch gut fassbar ist. Allerdings ist der Größenbe-
nebeneinander. Sie sind vielmehr – wie von einer
griff sehr relativ und zumindest für überregionale Verglei-
unsichtbaren Hand arrangiert – nach Größenregionen
che nur begrenzt anwendbar. Ein durchschnittliches mit-
sortiert auf Deutschland verteilt: Hier dominieren
teleuropäisches Dorf von etwa 1000 bis 1500 Einwohnern
die großen Dörfer, da die Einzelhöfe, dort die Weiler.
ist aus der Perspektive der ländlichen Siedlungen Skandi-
Und nicht zuletzt: Was sind neben der Größe weitere
naviens sehr groß, aus der Perspektive der süditalienischen,
Merkmale eines Dorfes, wie wird »Dorf« definiert im
ungarischen oder chinesischen Dörfer sehr klein. Typisie-
Vergleich zur Stadt?
rungen nach der Siedlungsgröße haben daher stets nur regionale Gültigkeit.
Wenn jemand von einem Dorf erzählt, das er gerade besucht
Für Deutschland gilt die folgende Klassifizierung der
hat, wird ihm mit Sicherheit bald die Frage gestellt: Wie
ländlichen Siedlungsgrößen, die im Wesentlichen von der
groß ist das Dorf denn eigentlich? Die Größe einer Sied-
Anzahl der Hausstellen und der Einwohnerzahl abhängt:
lung ist für uns offenbar ein wichtiges Ordnungsraster. Die
Einzelsiedlung, kleine Gruppensiedlung, große Gruppen-
unterschiedlichen Größen signalisieren ja auch etwas über
siedlung (= Dorf), Kleinstadt.
die inneren Eigenschaften. Von einem großen Dorf erwar-
Die Einzelsiedlung besteht aus einer einzigen Haus-
ten wir z. B., dass es dort eine Kirche, eine Schule, einen
oder Hofstätte, die eine unterschiedliche Anzahl von Ne-
Gasthof und einen Sportplatz gibt. In einem kleinen Dorf vermuten wir eine kleine Kapelle, einen Kindergarten und auf jeden Fall eine Feuerwehr, aber nicht unbedingt einen Tennisplatz oder eine Apotheke.
Abbildung oben: Einzelhofsiedlungen sind am weitesten verbreitet im Allgäu und in Nordwestdeutschland, wie hier in Butjadingen an der Wesermündung.
Gestalt der Kulturlandschaft
213
Viele eng bebaute und befestigte Kleinstädte unterscheiden sich an Größe nicht von Dörfern, weswegen man sie auch »Zwergstädte« oder »Titularstädte« nennt. Im attraktiven Winzerort Sommerhausen in Unterfranken sind die Stadtmauern und -tore noch komplett erhalten.
bengebäuden aufweisen kann. Entscheidendes Kriterium für die Einstufung als Einzelsiedlung ist die isolierte Lage
pelsiedlungen nennt man auch »Doppelhöfe«. Weiler sind
einer Wohn- und Wirtschaftseinheit (Mindestabstand von
kleine Gruppensiedlungen mit drei bis ca. 20 Haus- oder
150 m zum Nachbarhof). Bäuerliche Einzelsiedlungen
Hofstätten, d. h. etwa 15 bis 100 Einwohnern. Von einer
werden meist als »Einzelhof«, in Süddeutschland auch als
Streusiedlung wird dann gesprochen, wenn Einzelhöfe
»Einödhof« bezeichnet. Meist sind Einzelsiedlungen ver-
und kleine Gruppensiedlungen in lokaler Mischung ne-
bandsmäßig zusammengeschlossen, z. B. als Bauerschaft
beneinander auftreten.
in Nordwestdeutschland oder Talschaft in den Alpen. Eine
Alle ländlichen Gruppensiedlungen, die Weilergröße
Sonderform der Einzelsiedlung ist die Gutssiedlung, zu
überschreiten, werden in Deutschland als »Dorf« bezeich-
der im Regelfall das Herrenhaus des Gutsherren, die Wirt-
net. Gemeinhin unterscheidet man vier Größenstufen des
schaftsgebäude und die Landarbeiterhäuser gehören.
deutschen bzw. mitteleuropäischen Dorfes:172
Kleine Gruppensiedlungen bestehen aus zwei bis ca. 20 Haus- oder Hofstätten, d. h. etwa zehn bis 100 Einwohnern. Man unterscheidet hier zwischen Doppelsiedlungen und Weilern. Als »Doppelsiedlung« werden zwei benachbarte
214
Haus- oder Hofstätten bezeichnet. Landwirtschaftliche Dop-
Das moderne Dorf
– das kleine bis mäßig große Dorf mit 20–100 Hausstätten bzw. 100–500 Einwohnern, – das mittelgroße Dorf mit 100–400 Hausstätten bzw. 500–2000 Einwohnern,
Das Dorf ist die in Deutschland häufigste Siedlungsform. Ein mittelgroßes Beispiel ist Goßmannsdorf in Unterfranken, eng bebaut und ehemals befestigt mit derzeit etwa 1050 Einwohnern.
– das große Dorf mit 400–1000 Hausstätten bzw. 2000– 5000 Einwohnern und
rem Sprachgebrauch auch als »Landstädte« (über 2000 Einwohner) oder »Ackerbürgerstädte« bezeichnet, was ihren
– das sehr große Dorf mit mehr als 1000 Hausstätten und
bäuerlichen Charakter unterstrich. Die historischen Klein-
5000 Einwohnern. Für die beiden letztgenannten Grö-
städte waren in der Regel mit Stadtmauern und -toren um-
ßenstufen werden vielfach auch die Bezeichnungen
geben, die vielerorts bis heute erhalten sind: Schöne Bei-
»Großdorf« und »Stadtdorf« gebraucht, womit die statis-
spiele sind Sommerhausen am Main und Tangermünde
tische Nähe zur städtischen Siedlung deutlich wird.
an der Elbe. Die meisten Kleinstädte in Deutschland unterscheiden sich allerdings nach Ortsbild, Wirtschaft und
Zu den ländlichen Siedlungen gehören nicht zuletzt die
Infrastruktur nicht von größeren Dörfern. Im Allgemei-
Kleinstädte. Sie werden in älteren Statistiken und frühe-
nen wird die Kleinstadt heute mit 5000 bis 25 000, biswei-
Gestalt der Kulturlandschaft
215
Der zwischen Einzelhof und Dorf stehende Weiler kommt am häufigsten im deutschen Mittelgebirge und in Süddeutschland vor, hier das Beispiel Gunzesried im Allgäu.
len sogar bis 50 000 Einwohnern ausgewiesen. Gerade der
Regel die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftli-
Übergang vom Großdorf zur Kleinstadt ist im Einzelfall oft
chen Schwankungen einer Ortschaft nachvollziehen.174 Die
schwer zu begründen.
meisten ländlichen Siedlungen Mitteleuropas haben in den
Die verschiedenen Siedlungsgrößentypen kommen in
letzten 200 Jahren sowohl Phasen des Rückgangs als auch
Deutschland nur selten bunt gemischt vor. Sie haben je-
der Stagnation und des Wachstums erlebt. Viele ländliche
weils ihre charakteristischen Verbreitungsgebiete. Die
Siedlungen entwickelten sich durch ihr Größenwachstum
Hauptverbreitungsgebiete des Einzelhofes liegen im nord-
zur Stadt, nicht wenige sind im Umkreis der Großstädte
westdeutschen Tiefland sowie in Bayern. Weiler sind vor al-
und Verdichtungsgebiete verstädtert oder als Vororte ein-
lem in den deutschen Mittelgebirgen verbreitet. Dörfer fin-
gemeindet worden. Es gibt aber auch zahlreiche ländli-
det man wiederum schwerpunktmäßig in den fruchtbaren
che Orte, wie das kleine Dorf Asseln im Kreis Paderborn
Bördenlandschaften Mittel- und Süddeutschlands.
mit etwa 400 Einwohnern, deren Größe seit etwa 150 Jah-
173
Verfolgt man die Veränderungen der Siedlungsgröße über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg, lassen sich in der
216
Das moderne Dorf
ren fast ohne jegliche Schwankungen konstant geblieben ist.
Die Siedlungsgröße beeinflusst zumindest indirekt auch das dörfliche Leben. So hat ein Kapellendorf mit 120 Ein-
man sonst verstehen, dass sogar junge Familien mit kleinen Kindern aus Großstädten in abgelegene Weiler ziehen?176
wohnern heute zwar in der Regel die eigene Feuerwehr,
Wir haben das Wort »Dorf« in diesem Kapitel bisher vor
aber noch keinen Sport- oder Musikverein. Erst ab Größen-
allem als einen Begriff der Siedlungsgröße kennenge-
ordnungen von 500 bis 800 Einwohnern wird das Vereins-
lernt. Doch in der Regel hat »das Dorf« eine umfassendere
leben in den Dörfern breiter und dichter. Aber man sollte
Bedeutung. Im Duden heißt es schlicht »ländliche Ort-
sich vor Verallgemeinerungen hüten. Es gibt Dörfer mit
schaft« und »Gesamtheit der Dorfbewohner«.177 In dieser Be-
300 Einwohnern wie Ollarzried in Bayern, die ihren letzten,
deutung ist das Wort seit dem Mittelalter geläufig. »Dorf« ist
wäh-
also ein Sammelbegriff für den ländlichen Lebensraum,
rend andere Dörfer mit 1000 Einwohnern stillschweigend
das Gegenstück zur Stadt – ein Sammelbegriff für die rund
die Schließung der letzten Gastwirtschaft hinnehmen.
35 000 Ortschaften des ländlichen Raumes in Deutschland,
schon aufgegebenen Gasthof wiederbelebt haben,
175
Die Siedlungsgröße spielt auch eine wichtige Rolle bei
die sich heute als Dorf bezeichnen, ob sie nun am Rande ei-
der äußeren und inneren Beurteilung einer Siedlung. Sie
ner Großstadt oder im Erzgebirge liegen. Jedes dieser Dör-
ist zugleich ein wesentliches Identifikationsmerkmal für
fer hat ein anderes Aussehen und eine andere wirtschaft-
die Bevölkerung gerade im ländlichen Raum. So wissen die
liche Basis.
Dorfbewohner in der Regel ganz genau, wie viele Einwoh-
Können wir heute das Dorf im Unterschied zur Stadt
ner ihr Dorf hat und welches Nachbardorf größer oder klei-
noch einheitlich und inhaltlich genauer definieren? Das
ner ist als das eigene. Allein schon deshalb ist es bedauer-
»alte« Dorf hatte es leichter. Es wurde durch seine agrar-
lich, dass seit der kommunalen Gebietsreform die amtliche
wirtschaftlichen Tätigkeiten bestimmt. Diese klassische
Statistik auf der Ebene der eingemeindeten Dörfer bzw. sog.
Definition, die bis vor wenigen Jahrzehnten galt, ist nicht
»Ortsteile« nicht mehr weitergeführt wird.
mehr allzu hilfreich. Heute werden daher häufiger sozi-
Die Betrachtung der Siedlungsgrößen macht deutlich,
ale und kulturelle Kriterien herangezogen. Das Dorf wird
wie facettenreich das Landleben in Wirklichkeit ausgeprägt
mit Dorfgemeinschaft, Nachbarschaftshilfe, Traditionsbe-
ist. Bei einer Bewertung der sehr unterschiedlichen länd-
wusstsein, Kirchentreue, mit engen sozialen Netzwerken
lichen Lebensorte vom Einzelhof bis zur Kleinstadt sollte
und hohem ehrenamtlichem Engagement, seiner Vereins-
man vorsichtig sein. Wer aus der Großstadt in eine Klein-
dichte und Aktivkultur, mit Naturnähe oder insgesamt mit
stadt oder ein mittelgroßes Dorf kommt, mag denken, dass
seinen ländlichen Lebensstilen beschrieben. Eher nüchtern
dort die Welt still stehe. Ähnlich wird es mancher Dorf-
und pragmatisch ist jedoch die Definition, die sich am äu-
bewohner empfinden, wenn er einen Weiler oder gar ei-
ßeren Dorfbild orientiert: Wir sprechen von einem Dorf,
nen Einzelhof im tiefen Münsterland oder Oldenburger
wenn die Gestalt der Siedlung von der Agrarwirtschaft ge-
Land oder im Allgäu besucht. All diese ersten Blicke täu-
prägt wird, d. h. durch Bauern-, Landarbeiter- und Hand-
schen. Auch die ländlichen Streusiedlungen bieten in ih-
werkerhäuser, Gehöfte und Gutshöfe, auch wenn die Land-
rem überschaubaren Mikrokosmos (häufig mit mehreren
wirtschaft selbst heute nur noch eine untergeordnete Rolle
Generationen nebeneinander) einen Lebensraum mit vie-
spielt.178 Wir orientieren uns damit also an den überliefer-
len Reizen und Kontakten, in dem sich die Menschen über-
ten Bauformen der Vergangenheit, die tief in die Dorfge-
wiegend wohler fühlen als in den Metropolen. Wie könnte
schichte zurückreichen.
Gestalt der Kulturlandschaft
217
Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf Über die Vielfalt der deutschen Dorfformen
Dörfer unterscheiden sich nicht nur durch ihre Lage
über 50 Jahre zurück, als ich in einem dieser Pläne mein
und ihre Größe, sondern ganz wesentlich auch durch
Heimatdorf wiederfand: Es war offenbar wie die meisten
die jeweilige Anordnung der Straßen, Plätze und Ge-
Nachbarorte ein »großes Haufendorf«. Die anderen Grund-
bäude. Es gibt Dörfer, die nur aus einem umbauten
risstypen blieben mir damals noch fremd. Ich sollte sie erst
Platz bestehen; andere wiederum nur aus einer einzi-
als Student und bei späteren Reisen kennenlernen.
gen schnurgeraden Straße, an der sich beidseitig Häu-
Die Dorfform ist das Ergebnis planender Gestaltung
ser wie Perlen an einer Kette aufreihen. Die meisten
oder spontaner, ungeregelter Entstehung und Entwick-
deutschen Dörfer präsentieren sich als Haufendörfer –
lung. Am Dorfgrundriss kann man in der Regel ablesen, ob
das sind Labyrinthe, in denen man so schnell keine
die Siedlung allmählich gewachsen oder in einer gezielten
Orientierung findet. Dörfer können ganz eng oder ganz
Gründung entstanden ist. Im Grundriss können sich auch
locker bebaut sein, regelmäßig oder unregelmäßig.
naturräumliche Bedingungen widerspiegeln, wie z. B. bei
Sie können systematisch geplant oder einfach nur in
den Marschhufendörfern, die an Deichen und Flussdäm-
Jahrhunderten unregelmäßig gewachsen sein.
men angelegt wurden. Da Grundrissformen häufig sehr langlebig sind und sich bis in die Gegenwart erhalten ha-
Unter dem Begriff »Dorfform« versteht man den Grund-
ben, bieten sie dem Fachmann wie dem interessierten Laien
riss der bebauten Fläche, der sich aus Straßen, Wegen, Plät-
gute Einblicke in die sozioökonomischen und technischen
zen, Hofstellen und Häusern zusammensetzt. Man erkennt
Rahmenbedingungen der Siedler in früheren Zeiten.
die Grundrissform der Siedlung am besten aus der Vogelper-
Ein zusätzliches Formkriterium neben dem Grundriss
spektive, anhand eines Senkrechtluftbildes oder in der kar-
ergibt sich daraus, ob eine Siedlung regelmäßig oder un-
tographischen Darstellung.
regelmäßig angelegt ist. Die regelmäßig angelegte Sied-
Dorfformen gehören zum klassischen Kanon des Erd-
lung ist gekennzeichnet durch eine geometrische Anord-
kundeunterrichts in Deutschland. Irgendwann im Alter
nung der Haus- und Hofparzellen sowie der Straßen, z. B.
zwischen acht und zwölf Jahren müssen alle Schüler die Besonderheiten von Angerdörfern, Rundlingen oder Moorhufendörfern anhand von Grundrissplänen in Schulbüchern und Atlanten erlernen. Mein Aha-Erlebnis liegt weit
218
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Dörfer mit Freiflächen in der Ortsmitte nennt man Angerdörfer. Die Anger wurden später häufig bebaut, wie auch in Buckow in der Prignitz.
in Form eines Schachbretts. Ein weiteres Merkmal zur ge-
sind u. a. Nordhessen, der Odenwald, die Rhön, der nord-
naueren Beschreibung der Siedlungsform ist die Bebau-
östliche Schwarzwald, der Frankenwald und der Bayerische
ungsdichte. Man unterscheidet zwischen sehr dichter, mä-
Wald. Beispiele für Waldhufendörfer sind Winterkasten im
ßig dichter, lockerer und sehr lockerer Bebauung. Durch
Odenwald und Königshain bei Görlitz.
solche Beobachtungen lässt sich z. B. der große Kontrast
Marschhufendörfer wurden – seit dem Hohen Mittelal-
zwischen den sehr locker bebauten norddeutschen und den
ter – im Schutz der Deiche und Uferdämme der See- und
sehr dicht bebauten mittel- und süddeutschen Dörfern und
Flussmarschen des Tieflandes angelegt. Sie sind an das
Weilern feststellen.
nordwestdeutsche Marschenland gebunden und von der
Generell werden die folgenden drei Grundrisstypen
niederländischen bis zur dänischen Grenze anzutreffen.
ländlicher Siedlungen unterschieden. Die jeweils genann-
Beispiele sind die Marschufendörfer Neuenbrook bei Itze-
ten Beispiele sind am häufigsten in Deutschland verbrei-
hoe und Steinkirchen im Alten Land.
tet:179 – Linearsiedlung mit einer geradlinig reihenförmigen
Moorhufendörfer hingegen entstanden als Siedlungen der Moorkultivierung an geradlinigen Wegen oder Kanä-
Anordnung der Wohnstätten; Beispiele: Straßendorf, Waldhufendorf, Marschhufendorf, Moorhufendorf; – Platzsiedlung mit einer polaren Anordnung der Wohnstätten um einen zentralen Platz; Beispiele: Angerdorf,
Einzel- und Streusiedlung
Angerdörfer
Rundling; – Siedlung mit flächigem Grundriss und mit einer flächenhaften Anordnung der Wohnstätten; Beispiel für unregelmäßigen Grundriss: lockeres und »geschlossenes« Haufendorf; Beispiel für regelmäßigen Grundriss: Schachbrettsiedlung.
Lockere Dörfer (Weiler, Haufendorf) Straßendörfer (Wegedorf, Sackgassendorf)
In Straßendörfern sind die Hof- und Hausstellen kettenförmig zu beiden Seiten einer Straße aufgereiht. Straßendörfer treten in Deutschland in fast allen Regionen auf, insbesondere jedoch als planmäßige Anlagen in jüngeren Kolonisationsgebieten (der Frühen Neuzeit), vor allem
Geschlossene Dörfer (Weiler, Haufendorf, Wurtendorf)
des Mittelgebirges. Beispiele für Straßendörfer sind Markt Lehrberg in Mittelfranken, Freimersheim in der Pfalz und
Zeilendörfer
Niederasphe bei Marburg. Waldhufen-, Marschhufen- und Moorhufendörfer sind
Rechteckplatzdörfer
lineare Siedlungen mit lockerer Reihung von Bauernhäusern, angelegt an eine natürliche oder künstliche Leitlinie. Sie entstanden meist durch Waldrodung oder bei der Neulandgewinnung im Tiefland. Als Leitlinien dieser Ortsformen dienen Deiche, Uferdämme, Kanäle und Wege. Hinter den aufgereihten Höfen liegen die meist langen Parzellen
Rundplatz-Dörfer (Rundling)
Reihendörfer (Waldhufen-, Marschhufen-, Moorhufendorf)
(Hufen) rechtwinklig zur Siedlungsachse und reichen oft bis zur Gemarkungsgrenze. In waldreichen Gebieten, vor allem des Mittelgebirges, entstanden die Waldhufendörfer als typische Siedlungsform der Waldrodung während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Verbreitungsgebiete
Grundrisstypen ländlicher Siedlungen
Gestalt der Kulturlandschaft
219
Beim Rundling sind die Hofstellen wie Tortenstücke um einen runden bis hufeisenförmigen Platz angelegt, hier das Rundlingsdorf Oetzendorf, Gemeinde Weste, in Niedersachsen.
220
len, die als Transport- und Entwässerungskanäle dienten
in lockerem Abstand einen großen Platz umschließen. Die-
und oft mehrere Kilometer Länge aufwiesen. Moorhufen-
ser kann eine lanzenförmige, rechteckige, dreieckige oder
dörfer (eine Untergruppe sind die Fehnsiedlungen Ostfries-
andersartige Gestalt haben und ist gewöhnlich durch die
lands) finden sich vor allem in den ehemaligen Moorgebie-
Erweiterung der Dorfstraße entstanden. Wichtigstes Merk-
ten Nordwestdeutschlands, die im Rahmen der inneren Ko-
mal des Angerdorfes gegenüber anderen Platzformen ist
lonisation des 17. bis 19. Jahrhunderts – nach holländischen
die ausgeprägte Längserstreckung der Freifläche. Der An-
Vorbildern – besiedelt wurden. Beispiele sind Nordgeorgs-
ger diente der ländlichen Gemeinde als Kommunikati-
fehn und Rhauderfehn nordöstlich von Papenburg sowie
onsstätte, Gerichtsplatz und (nächtliche) Viehweide; au-
Heinrichswalde südwestlich von Ueckermünde.
ßerdem standen hier alle wichtigen öffentlichen Gebäude
Platzsiedlungen entstanden meist bei geplanten und or-
und Anlagen wie Kirche, Schule, Dorfbrunnen, Spritzen-
ganisierten Siedlungsgründungen. Der im Allgemeinbe-
haus und Gemeindeteich. Angerdörfer sind in allen Teilen
sitz befindliche zentrale Platz belegt anschaulich das Ge-
Deutschlands, vor allem aber im Osten verstärkt verbreitet.
meinschaftselement dieser Siedlungsform. So sind Anger-
Beispiele sind Baiershofen im bayerischen Schwaben und
dörfer mittelgroße planmäßige Siedlungen, deren Gehöfte
Wulfersdorf in der Prignitz.
Das moderne Dorf
Straßendörfer entstanden als geplante Siedlungen vor allem bei der Besiedlung der Mittelgebirge in der Frühen Neuzeit, hier das Beispiel Lehrberg in Mittelfranken.
Rundplatzdörfer sind durch ovale bis runde Platzformen
derheit darin besteht, ein Rundling zu sein: die Bauernhäu-
und eine entsprechend gekrümmte Gehöftreihung gekenn-
ser stehen im Kreis um den Dorfplatz, und diese Anord-
zeichnet. Die bekannteste Form bildet der Rundling. Hier-
nung vermittelt zugleich größte Geborgenheit und größte
bei sind die Hofstellen um einen runden bis hufeisenför-
Freiheit. Es gibt ein gemeinsames Zentrum, eine verbin-
migen Platz angelegt, wobei dieser Innenraum ursprüng-
dende Mitte, in der man sich trifft, auf die der Alltag zu-
lich nur eine Straßenzufahrt von außen besaß. Rundlinge
läuft, in der sich das Dorfleben konzentriert. Und es gibt
sind nahezu ausschließlich im ehemaligen deutsch-sla-
eine enorme Offenheit nach außen, in den Gärten, die wie
wischen Grenzraum anzutreffen, wie z. B. im Hannover-
Tortenstücke nach hinten immer breiter werden und sich in
schen Wendland. Beispiele sind dort die Orte Güstritz, Sa-
Wäldern und Feldern einfach verlieren.«180
temin, Dolgow und Klennow sowie Lanz bei Wittenberge.
Haufendörfer wiederum sind flächige Siedlungsräume,
Als »Schriftstellerin auf Zeit« lebte Marion Poschmann ei-
die nicht gleichmäßig, sondern haufenartig, sackgassen-
nige Monate in dem Rundling Schreyahn und reflektierte
förmig und unregelmäßig bebaut sind. Man unterscheidet
dabei auch über diese ungewöhnliche Siedlungsform: »Ein
nach der Bebauungsdichte zwischen lockeren und eng be-
Dorf im Wendland, etwa achtzig Einwohner, dessen Beson-
bauten bzw. »geschlossenen« Haufendörfern. Lockere Hau-
Gestalt der Kulturlandschaft
221
Eng bebaute Haufendörfer sind die häufigste Grundrissform in Deutschland und vor allem in den Mittelgebirgen und Südwestdeutschland verbreitet, hier das Beispiel des Winzerdorfes Roßwag an der Enz.
222
fendörfer weisen eine relative Weitständigkeit von Hof-
eine scharfe Außengrenze geprägt. Sie sind die häufigste
stellen auf. Zwischen den Höfen liegen meist Gärten. Die
Siedlungsform in Mitteleuropa. Sehr dichte und große
Verbreitungsgebiete der lockeren Haufendörfer und Wei-
Haufendörfer finden sich besonders in den klassischen Re-
ler liegen fast ausschließlich in Norddeutschland, schwer-
alteilungsgebieten Südwestdeutschlands (wo bei jedem Erb-
punktmäßig in den Börden am Nordrand der Mittelgebirge.
gang der Besitz geteilt wurde). Torsten Gebhard führt die
Sie sind aber auch im Emsland, in Schleswig-Holstein,
unterschiedliche Verbreitung der locker und eng bebau-
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern flächenhaft
ten Dörfer in Deutschland auch auf die unterschiedlichen
anzutreffen. Beispiele sind die Bördendörfer Hüddessum
topographischen Gegebenheiten zurück: »Die Weiten der
und Borsum bei Hildesheim, das Inseldorf Nebel auf Am-
Norddeutschen Tiefebene gestatten großräumige dörfliche
rum und der Weiler Stollen im bayerischen Landkreis Hof.
Siedlungen. In Mitteldeutschland drängen sich die Dörfer
Eng bebaute bzw. geschlossene Haufendörfer werden
in schmalen Tälern, in engen Mulden zusammen. Vielfach
durch eine gedrängte Anordnung der Gebäude und durch
war die Hofstatt nur in Hanglage möglich. Schon diese so
Das moderne Dorf
Eines der bekanntesten und am besten erhaltenen Angerdörfer in Deutschland ist Baiershofen im Kreis Augsburg. Die 650 Meter lange Angerwiese verbindet die beiden Hofreihen, nur Kirche und Friedhof haben hier seit dem Mittelalter ihren Platz.
anders gearteten natürlichen Voraussetzungen mussten zu
während die Frontseiten der Hofstellen nach außen zur
unterschiedlichen Konzeptionen der bäuerlichen Anwe-
umschließenden Ringstraße gerichtet sind. Konzentriert
sen führen.«181 Gute Beispiele für geschlossene Haufendör-
zu finden sind Wurtendörfer in der sog. »Krumhörn« nord-
fer sind Hendungen im Landkreis Rhön-Grabfeld, Nassach
westlich von Emden, Beispiele sind Rysum und Loquard.
im Landkreis Haßberge und Roßwag an der Enz – Orte mit auch denkmalpflegerischen Qualitäten.
Das Schachbrettdorf ist der Hauptvertreter der flächigen Siedlungsform mit einem regelmäßigen Straßennetz, in
Eine Sonderform des geschlossenen Dorfes sind die »Wur-
Deutschland wie in Europa jedoch kaum verbreitet. Der git-
tendörfer« im nordwestdeutschen Marschenland. Wurten
terförmige Grundriss ist hierzulande vereinzelt beim Wie-
sind kleine, künstliche Aufschüttungen, auf denen ein Hof
deraufbau von Dörfern nach Kriegen und Großbränden
oder ein ganzes Dorf steht. Im Zentrum dieser meist kreis-
verwendet worden. Schachbrettdörfer sind z. B. in großer
runden Dörfer liegt auf einem kleinen Platz die Kirche,
Anzahl in den USA und in Südamerika anzutreffen.
Gestalt der Kulturlandschaft
223
Die überlieferten ländlichen Siedlungsformen haben
und das Verhältnis der einzelnen Bauten zueinander eine
sich in den zurückliegenden 60 Jahren teilweise stark ver-
geschichtliche Aussage, die man nicht bei einer Aneinan-
ändert, sodass die typischen »Normalformen« häufig nicht
derreihung von Einzeldenkmalen in einer Denkmalliste er-
mehr leicht zu erkennen sind. So sind in den engen Hau-
reichen kann.«182
fendörfern West- und Süddeutschlands durch »Ortsauflo-
Die überlieferte Dorfform bietet manchmal auch den
ckerung« vielerorts größere Freiflächen entstanden. An-
heutigen Dorfbewohnern eine höhere Lebensqualität. Dies
dererseits haben sich gerade in Nordwestdeutschland viele
gilt besonders für Anger- und Platzdörfer mit ihren Ge-
ehemals locker bebaute Weiler und Kleindörfer in den letz-
meinsinn stiftenden Flächen in der Ortsmitte. So wird der
ten Jahrzehnten »aufgefüllt« und vergrößert, sodass auch
gut erhaltende Anger von Baiershofen nicht nur von der
hier der Anteil der engen oder geschlossenen Dörfer erheb-
amtlichen Denkmalpflege, sondern auch von seinen Be-
lich angewachsen ist. Anderswo sind die ehemals öffentli-
wohnern geliebt. Die 650 m lange »Wiese« verbindet die bei-
chen Grünflächen im Kern der Anger- und Platzdörfer be-
den Häuserreihen des Dorfes, in ihrer Mitte stehen seit fast
baut worden.
700 Jahren Kirche und Friedhof. Die große Fläche, die al-
Die gut erhaltenen und besonders typischen Beispiele tra-
224
len gehört, ist locker mit Obst- und Nussbäumen bestanden
ditioneller Dorfformen stehen daher manchmal flächen-
und vielfältiger Festplatz und Treffpunkt. Die Baiershofe-
haft unter Denkmalschutz – so das geschlossene Haufen-
ner haben vor Jahren dem Trend widerstanden, aus ihrem
dorf Goßmannsdorf im Landkreis Würzburg, das Anger-
Anger eine städtische Grünanlage zu machen mit kurzge-
dorf Effelter im Landkreis Kronach, das Radialhufendorf
schnittenem Rasen und Springbrunnen und Hinweisschil-
Kreuzberg im Bayerischen Wald sowie das Zeilendorf (quasi
dern, dass das Betreten verboten sei. Die danach fragende
ein nur einseitig bebautes Straßendorf) Reicholdsgrün im
Soziologin Erika Haindl bekam zur Antwort: »Wissand,
Landkreis Wunsiedel. Thomas Gunzelmann, Hauptkonser-
nau wär’s nemme unser Dorfcharakter. Ma said, unser An-
vator beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege im
ger soll a Wies sei und net a Rasa. A Wies, dau wögst em
Schloss Seehof bei Bamberg, begründet die Unterschutz-
Früahleng d’r Löwazah und alle mögliche Bluama.« Der un-
stellung von ganzen Dorfensembles: »Der Grund für die
empfindliche Wiesenanger ist vor allem auch kinder- und
Eintragung von gesamten Dorfanlagen als Ensemble ist,
jugendfreundlich, der große Nussbaum ist wichtigster
dass sie eine Gestalteinheit bilden, die mehr aussagt als die
Treffpunkt bei schönem Wetter. »D’r Nußbaum em Anger
Summe ihrer einzelnen Teile. Bei einem Dorfensemble ist
drunte, dös isch unser ›Königsplatz‹, dau triffste am Aubad
eben auch der Grundriss und die ablesbare innere Struktur
d’Jugend, wenn d’s Weater schea isch.«183�
Das moderne Dorf
Menschen, Vieh und Ernte unter einem Dach Die traditionellen Bauernhaus- und Gehöftformen
Was finden die meisten Menschen am Dorf besonders
ten. Dazu gehört vor allem die Differenzierung des histori-
schön und anregend? Die alten Bauernhöfe! Würdevoll
schen Bauernhofes nach Formtypen sowie deren räumliche
stehen sie in den Dorfkernen und vermitteln etwas
Verteilung in Deutschland. Auch die zahlreichen Bedin-
Zeitloses, als wären sie für die Ewigkeit gebaut.
gungen und Faktoren, die den Bau von Bauernhöfen beein-
Bauernhäuser prägen nicht nur das Bild des Dorfes
flusst haben, sind hinreichend untersucht und beschrieben
und der Landschaft. Sie erzählen auch etwas von den
worden. Neben den Schulen tragen vor allem die Freilicht-
speziellen Kräften und Bedingungen der jeweiligen
museen in allen Regionen Deutschlands zur anschaulichen
Region. In den großen Weiten und Ebenheiten Nord-
Dokumentation und Vermittlung der traditionellen Bau-
deutschlands konnten sich andere Bauformen
ernhaus- und Gehöftformen bei.
entfalten als in den engen Tälern der Mittelgebirge.
Die Anzahl der unterscheidbaren Bauernhaustypen in
Aber auch das regional unterschiedliche Erbrecht
Deutschland schwankt zwischen 16 und 42, je nach Grad
prägte das Aussehen der Höfe. Wer sich auf eine
der Differenzierung bzw. Generalisierung. Allgemein üb-
Wanderschaft von Norden nach Süden oder Westen
lich ist die Zweiteilung des Bestands in Einhaus- und Ge-
nach Osten durch deutsche Dörfer begibt, wird schnell
höfttypen. Das Einhaus fasst die Wohn-, Stall- und Spei-
sehr unterschiedliche Typen von Bauernhäusern und
cherfunktionen unter einem Dach zusammen, während
Gehöften kennenlernen.
das Gehöft aus mehreren Gebäuden mit entsprechend getrennten Funktionen für Wohnen, Ställe, Scheunen, Wa-
Das Bild der meisten ländlichen Siedlungen wird immer
gen und Geräte besteht. Die Einhaus- und Gehöftgruppe
noch geprägt durch Bauernhäuser und Gehöfte, auch wenn
umfasst jeweils verschiedene Grund- und Einzeltypen.
diese längst nicht mehr alle in landwirtschaftlicher Nut-
In der Einhausgruppe unterscheidet man vier Grundty-
zung sind. Das bäuerliche Anwesen bleibt ein Inbegriff des
pen: quer geteiltes Einhaus, gestelztes Einhaus, längs geteil-
Dorfes und nimmt selbst in modernen Dorfdefinitionen bis heute einen zentralen Platz ein. Die Bauernhausforschung hat in den zurückliegenden 100 Jahren gute Arbeit geleistet. Ihre wichtigsten Ergebnisse finden sich heute in vielen Schulbüchern und Atlan-
Abbildung oben: Im Niederdeutschen Hallenhaus waren Ställe, Speicher und Wohnräume unter einem Dach vereint, hier ein Blick auf Feuerstelle und Küche in dem Bauernhaus im Westfälischen Freilichtmuseum in Detmold.
Gestalt der Kulturlandschaft
225
tes Einhaus und Gulf-Einhaus. Das quer geteilte Einhaus ist
form liegt darin, dass der Wohnteil »gestelzt«, d. h. ganz oder
ein Langbau, bei dem die Wohnung und die Wirtschafts-
überwiegend im ersten Stock untergebracht ist. Die Haupt-
teile durch senkrecht zur Firstlinie verlaufende Innen-
verbreitungsgebiete des gestelzten Einhauses liegen in Süd-
wände getrennt und jeweils von außen her durch eigene
deutschland.
Zugänge zu erreichen sind. Verbreitungsgebiete sind das
Der wichtigste Vertreter des Grundtyps »längs geteil-
nördliche Schleswig-Holstein, Teile des deutschen Mittel-
tes Einhaus« ist das Hallen-Einhaus, das meist als Nieder-
gebirges, der Kraichgau und das Alpenvorland. Auch für
deutsches Hallenhaus und manchmal noch mit seinem äl-
den Grundtyp des gestelzten Einhauses ist die Querteilung
teren Namen als »Niedersachsenhaus« bezeichnet wird. Die
des Gebäudes charakteristisch. Das Besondere dieser Haus-
Erschließung dieses Hallenhauses erfolgt durch eine große Halle, »Deele« genannt oder »Tenne«, an deren Seiten die Ställe liegen. In die Deele kann ein hoch mit Stroh oder Heu beladener Erntewagen direkt einfahren und entladen werden, sie ist in der Regel 15 m lang und 6 m breit, kann aber in großen Bauernhäusern bis zu 40 m lang und 10 m
Quergeteiltes Einhaus (Alpenvorländer)
Quergeteiltes Einhaus (Nordfriesland)
Gestelztes Kleinbauernhaus
breit sein.184 An ihrem hinteren Ende, quasi zwischen Wirtschaftsteil und Wohnteil, liegt die Herdstelle bzw. Küche. Das Niederdeutsche Hallenhaus ist der im nördlichen Mitteleuropa meistverbreitete Bauernhaustyp. Die Vorzüge des Niederdeutschen Hallenhauses und insbesondere der zentral angelegten Herdstelle beschreibt Jus-
Gestelztes Quereinhaus
Längsgeteiltes Einhaus (Hallen-Einhaus)
Längsgeteiltes Einhaus (Ostelbisches Mittelflurhaus)
tus Möder in seinen »Patriotischen Phantasien« von 1778 in beeindruckender Weise: »Der Herd ist fast in der Mitte des Hauses, und so angelegt, daß die Frau, welche bei demsel-
W = Wohnteil S = Stall T = Tenne
ben sitzt, zu gleicher Zeit alles übersehen kann. Ein so großer und bequemer Gesichtspunkt ist in keiner anderen Art von Gebäuden. Ohne von ihrem Stuhl aufzustehen, über-
Gulf-Einhaus (Ostfriesland)
Gulf-Einhaus (Eiderstedt)
sieht die Wirtin zu gleicher Zeit drei Türen, dankt denen, die hereinkommen, heißt solche bei sich niedersetzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller, Boden und Kammer, spinnet immerfort und kocht dabei. Ihre Schlafstelle ist hinter diesem Feuer, und sie behält aus derselben eben diese große Aussicht,
Haufengehöft
Hakengehöft (Kanter)
Dreiseitgehöft (Seiter)
sieht ihr Gesinde zur Arbeit aufstehen und sich niederlegen, das Feuer anbrennen und verlöschen, und alle Türen auf- und zugehen, hört das Vieh fressen, die Weberin schlagen und beobachtet wiederum Keller, Boden und Kammer […]. Der Platz bei dem Herde ist der Schönste unter allen.«185
Vierseitgehöft (Kanter)
Kreuzfirstgehöft
Streckgehöft
Kennzeichen des Gulf-Einhauses ist der zentrale, ebenerdige Raum (Gulf = Boden), der ohne Zwischendecke bis zum Dach reicht und als Lagerplatz für Heu, Stroh und Getreide dient. Mit dem Niederdeutschen Hallenhaus ver-
Gulf-Gehöft (Westfriesland)
wandt, ist das Gulf-Einhaus generell längs aufgeschlossen. Dieser Grundtyp, der manchmal auch als »Friesenhaus« be-
Bäuerliche Haus- und Gehöftformen in Mitteleuropa
226
Das moderne Dorf
zeichnet wird, war ursprünglich nur in den Marsch- und
Viehzuchtgebieten der Nordseeküste – vom nördlichen Holland bis Eiderstedt – verbreitet. Er wanderte jedoch seit dem 19. Jahrhundert in vielerlei Abwandlungen landeinwärts. In der Gruppe der Gehöfte unterscheiden wir das regellose Gehöft und das Regelgehöft. Das regellose Gehöft ist durch die unregelmäßige Anordnung der einzelnen Gehöftbauten gekennzeichnet. Als wichtigster Einzeltyp ist das Haufengehöft zu nennen, das besonders im mittleren Bayern geschlossen verbreitet ist. Zum Grundtyp »Regelgehöft« gehören alle Gehöfte mit schematischer Anordnung der Einzelbauten. Bei den sog. »Winkelgehöften« bilden die Einzelbauten einen rechteckigen Hofraum, der an zwei, drei oder allen vier Seiten nach außen abgeschlossen ist. Bei einem durchlaufenden First der Dächer spricht man von Kantern, sonst von Seitern. Nach der Anzahl der Gebäude unterscheidet man Haken-, Dreiseit- und Vierseitgehöfte. Diese Winkelgehöfte sind die in Mitteleuropa meistverbreitete Gehöftform, man nennt sie deshalb auch »Mitteldeutsches Gehöft« oder mit einem älteren Begriff »Fränkisches Gehöft«. »Regulierte Zwiegehöfte« dagegen sind Gehöfte mit zwei Gebäuden in regelhafter Stellung, Beispiele sind das Kreuzfirstgehöft und das Streckgehöft. Die Bezeichnung »Zwittergehöft« hat man für Hofanlagen gewählt, die zwischen dem Einhaus- und dem Gehöfttyp stehen. Neben einem Hauptbau, der als solcher dem Einhaustyp entspricht, treten weitere Gebäude auf, sodass von einem Gehöft gesprochen werden muss. Welche Faktoren und Bedingungen haben zur Ausprägung und Verbreitung der so unterschiedlichen Bauernhoftypen in Deutschland geführt? Es ist ein Beziehungsgeflecht von naturgeographischen, ökonomischen, techni-
Auch im Schwarzwaldhaus sind alle Funktionen des Bauernhofes unter einem Dach, wobei der Wohnteil meist im 1. Stock untergebracht ist, hier ein Bauernhof im Gutachtal, Baden-Württemberg.
schen, sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten. In einem historischen Rückblick lässt sich feststellen, dass
den lokalen und regionalen Baumaterialien vertraut war.
die bäuerlichen Anwesen in früheren Zeiten eine engere
Dessen Techniken und Erfahrungswissen wurden von Ge-
Beziehung zu den lokalen und regionalen Naturgegeben-
neration zu Generation weitergegeben und verbessert.
heiten (wie Klima/Wetter, Böden, Relief, lokale Baustoffe)
Grundsätzlich musste das Bauen ökonomisch und zugleich
hatten. Daneben spielten weitere ökonomische, soziale
nachhaltig sein. Das heißt, die Bauten sollten sparsam er-
und politische Faktoren eine Rolle, besonders das vorherr-
richtet und von großem Nutzen sein und möglichst lange
schende Erbrecht, die Größe der Betriebe, das Nutzungs-
halten.
oder Eigentumsrecht am Boden und nicht zuletzt bewährte Vorbilder, die man aus Nachbarregionen übernahm.
Die traditionellen Bauernhausformen haben im 20. Jahrhundert für die Landwirtschaft erheblich an Bedeutung
Generell wurde die überlieferte Baukultur immer vom
verloren. Sie entsprechen vielfach nicht mehr den moder-
dörflichen Handwerk geschaffen, das vor allem auch mit
nen Betriebserfordernissen und Wohnbedürfnissen. Vor-
Gestalt der Kulturlandschaft
227
dass sie bundesweit ähnlich sind und z. B. bei den Baustoffen kaum noch regionale Merkmale aufweisen. Andererseits hat die neuere Entwicklung bisher keinen gleichbleibenden Typ hervorgebracht, sie ist vielmehr durch ständige Veränderungen geprägt. Ein gutes Beispiel bietet das Wohnhaus der Bauernfamilie: Mal ist es eingeschossig, mal zweigeschossig, bald mit steilem, bald mit flachem Satteldach und nicht zuletzt oft als Bungalow ausgebildet. Ähnliche Variationsfolgen lassen sich an den Stallungen oder den – oft landschaftsprägenden – Silo- und Biogasanlagen oder Kornspeichern aufzeigen. Funktionales Bauen und internationaler Stil, die den Städtebau seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bestimmen, haben auch die Bauernhausentwicklung entscheidend beeinflusst. Niederdeutsche Hallenhäuser sind oft stattliche Gebäude und bis zu 40 Meter lang. Die große Deeleneinfahrt an der Giebelseite erschließt alle Räume: Das Beispiel steht im Freilichtmuseum Klockenhagen in Mecklenburg-Vorpommern.
teile besaßen die Gehöfte, die einzeln oder in den lockeren Dörfern und Weilern Norddeutschlands standen. Sie konnten sich mit ihren verschiedenen großen Gebäuden und dem vorhandenen Platz für Erweiterungen leichter als die Einhaustypen an die gewandelten Funktionen anpassen. Sehr begrenzt und vielfach unmöglich waren Umbauten und Erweiterungen in den dicht bebauten Dörfern und Weilern Mittel- und Süddeutschlands. Hier blieb die Aussiedlung in die Feldflur für viele der einzige Weg, den Betrieb zu erhalten, wenn dies denn gewünscht war. Die alten, funktionslos gewordenen Bauten wurden häufig, vor allem in den 1960er und 1970er Jahren, abgerissen. Viele ältere Bauernhäuser, aus denen die Landwirtschaft abgezogen wurde, sind jedoch für neue Zwecke um- und ausgebaut worden. So bleibt durch diese Gebäude ein bäuerlicher Charakter erhalten, obwohl deren ursprüngliche Nutzung längst durch eine andere – meist eine reine Wohnfunktion – abgelöst wurde. Seit etwa 1930 haben sich bei den landwirtschaftlichen Neubauten moderne Formen durchgesetzt und in der Folgezeit allmählich die traditionellen Bauernhaustypen abgelöst. Die verschiedenen Funktionen der Höfe sind heute in der Regel gebäudemäßig streng getrennt, besonders die intensive Tierhaltung ist in separaten Gebäuden untergebracht. Ein weiteres Kennzeichen der neuen Formen ist es, Gehöfte bestehen aus mehreren Hofgebäuden. Hier ist ein prächtiger Vierseithof zu sehen, der in Vielau am Rande des Erzgebirges in Sachsen steht.
228
Das moderne Dorf
Seit etwa 1955 wurden zahllose Bauernhöfe in Westdeutschland aus den beengten Dorflagen in die Feldflur ausgesiedelt. Es sind meist Gehöfte mit mehreren Gebäuden, im Bild ein moderner Aussiedlerhof bei Leinfelden-Echterdingen.
Doch was passiert in der Zukunft mit den noch vorhan-
Erfahrungen mit dem Denkmalschutz überwiegend eher
denen alten Bauernhäusern? Wie lange werden sie noch
negativ: Bei Anfragen nach im Denkmalschutzgesetz vor-
das Dorf prägen und schmücken? Die meisten sind zu rei-
gesehenen Hilfen für den Denkmaleigentümer (z. B. zum
nen Wohngebäuden umgebaut worden, andere für gewerb-
Thema Grundsteuererlass) traf ich auf massive bürokrati-
liche Zwecke. Viele stehen allerdings heute leer oder wer-
sche Schwierigkeiten: Nicht-Reagieren, lange Antwort-
den nur noch zu Bruchteilen genutzt. Wird man alle an die
zeiten, Abwimmeln etc. Problematisch sind außerdem die
nächste Generation weitergeben können? Die meisten Bun-
›Denkmalschutz-Modeströmungen‹: Musste man in den
desländer haben ihre Dorferneuerungsprogramme inzwi-
1970er Jahren seine neuen Fenster am ältesten Vorbild am
schen ganz auf die Umnutzung der Altbauten in den Dorf-
Haus ausrichten, so will man uns nun Sprossenfenster und
kernen konzentriert. Auch die amtlichen Denkmalbehör-
Rollschichten über und unter dem Fenster mit dem Argu-
den sind gefordert, die noch vor wenigen Jahrzehnten die
ment verbieten, man müsse erkennen, dass die Umbaumaß-
historischen Bauernhäuser ignorierten. Inzwischen hat
nahme von heute stamme. Ich war selbst in den 1970er Jah-
man deren Wert erkannt. Doch was darf man den Eigentü-
ren ehrenamtlicher Denkmalpfleger, kann jedoch jedem
mern zumuten, die in einem denkmalgeschützten Bauern-
nur raten, es sich sehr gut zu überlegen, ob er sein Eigen-
haus wohnen?
tum dem willkürlichen Zugriff sehr langsam arbeitender
Leider machen Dorfbewohner immer wieder schlechte
Bürokraten unterwerfen will, die überdies wohl kaum noch
Erfahrungen mit den einschlägigen Behörden. Hier das
über Geldmittel verfügen.«186� Solche Erfahrungen fördern
Beispiel eines befreundeten Kollegen, der seit Jahrzehnten
natürlich nicht die Erhaltung wertvoller Bauten in unse-
mit seiner Großfamilie in einem ehemaligen Bauernhaus
ren Dörfern.
am Rande des Ruhrgebiets wohnt und ein leidenschaftlicher Dorfbewohner ist: »Als Eigentümer und Bewohner einer ehemals bäuerlich genutzten Hofanlage sind meine
Gestalt der Kulturlandschaft
229
So kam die Farbe ins Dorf Die herkömmlichen regionalen Baumaterialien
Unsere Dörfer sind bunt. Sie haben meist ihre eigene
Dörfer des Tieflandes die Geröllsteine aus den eiszeitlichen
lokale oder regionale Farbe. Diese spiegelt die Mate-
Ablagerungen, daneben hatten sie ihre Ton- und Lehmgru-
rialien des Untergrundes wider: rote Tonziegel, braune,
ben. In den übrigen »steinreichen« Regionen Deutschlands
gelbe und rötliche Sandsteine, gräulich-weiße bis
besaßen die meisten Dörfer ihre eigenen Steinbrüche.
hellblaue Kalksteine, bunt glitzernder Granit, schwarzer
Das ursprüngliche Baumaterial im ehemals vom Wald
Schiefer und Basalt, Tuffe in allen Grautönen, schwarz-
beherrschten Mitteleuropa war das Holz. Bis in die Frühe
weißes Fachwerk. Die Menschen haben für ihre
Neuzeit, teilweise sogar bis in das 19. Jahrhundert hinein,
Bauten die Materialien aus ihrer Umgebung genutzt.
behielt das Holz hier seine führende Rolle als Baustoff
Es begann mit Holz, Lehm und Stroh und entwickelte
ländlicher Siedlungen. Hinsichtlich der Gebäudekonstruk-
sich zu prachtvollen Steinbauten. Über ganz Deutsch-
tion dominierte die Fachwerkbauweise. Die Gefache dieser
land gesehen entstanden die regionaltypischen
Holzständerbauten wurden mit Lehm ausgefüllt, den man
Baustofflandschaften. Diese können eine Basis für
mit Ästen und Stroh vermengte, um ihm einen größeren
eine moderne regionale Baukultur sein.
Halt zu geben. Für die Dacheindeckung nutzte man ebenfalls Produkte aus der Land- und Forstwirtschaft: Stroh,
Dörfer haben ihre spezifischen Farben, die mit den verwen-
Reet und Holzschindel.
deten Baumaterialien zusammenhängen. Bis in die 1950er
Seit der Frühen Neuzeit breitete sich allmählich die
Jahre hinein waren die Baustoffe überwiegend ortsgebun-
Steinbauweise, aus den romanischen Ländern kommend,
den. Sie wurden in der Umgebung der Siedlung gewonnen,
in Mitteleuropa aus. Ihre Vorzüge gegenüber dem Holz-
um die Transport- und Baukosten niedrig zu halten. Aus-
und Lehmbau in Bezug auf Wetterbeständigkeit und Fes-
nahmen von dieser Regel leistete man sich nur bei Kult-
tigkeit hatte man durch die Kult- und Herrschaftsbauten
und Repräsentationsbauten wie Kirchen, Pfarrhäusern,
bereits kennengelernt. Vorreiter der Steinbauweise waren
Rathäusern und Herrensitzen wie Burgen, Schlössern und
die wald- und holzarmen Landschaften wie z. B. die Nord-
großen Gutshäusern. In den meisten ländlichen Siedlungen spiegelt das überkommene Baubild die jeweilige Naturausstattung der Gemarkung bzw. Region wider. Man nutzte die Gesteine, die lokal »anstanden«. So verwendeten die
230
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Das Mittelgebirge bietet alle Baumaterialien: Naturstein für den Sockel, Fachwerk für den Aufbau und Schiefer für das Dach. Hier der Dorfkern von Diedenshausen im Wittgensteiner Land.
seemarschen, in denen sich bereits seit dem 16. Jahrhundert
norddeutschen Siedlungen. In Mittel- und Süddeutschland
der Ziegelstein durchsetzte. Während einer langen Über-
haben wir sehr verschiedenartige und reiche Naturstein-
gangsphase vom Holz- zum Steinbau wurden Holz und
vorkommen, die in zahllosen Steinbrüchen abgebaut wur-
Stein häufig in Kombination verwendet. Dabei wurden die
den und z. T. bis heute werden. Anzutreffen sind hier vor
Keller- und teilweise auch die Untergeschosse aus Stein er-
allem die durch Ablagerungen entstandenen Sediment-
baut, während die Ober- und/oder Dachgeschosse in tradi-
gesteine Sandstein, Kalkstein und Grauwacke, die Magma-
tioneller Holzbauweise ausgeführt wurden.
gesteine Granit, Basalt und Tuff sowie die durch Hitze und
Die Steinbauweise erreichte schließlich auch die Dächer
Druck im Erdinnern »umgewandelten« metamorphen Ge-
der Bauernhäuser und verdrängte die früheren »Weichdä-
steine Quarzit, Schiefer und Marmor. Die in Deutschland
cher« aus Stroh und Holz, die um 1800 noch die Dorfbil-
am meisten verbreiteten und für den Hausbau verwende-
der prägten. Dacheindeckungen und teilweise auch Wand-
ten Natursteine sind die diversen Sand- und Kalksteinarten.
verkleidungen wurden danach zunehmend mit Tonziegeln
Quasi unmittelbar »über« den jeweiligen Natursteinvor-
und Gesteinsplatten ausgeführt. Die Nutzung der Dachzie-
kommen haben sich die unterschiedlichen Baumaterial-
gel begann im Norddeutschen Tiefland, die der Dachsteine
landschaften herausgebildet.
in den »steinreichen« Mittelgebirgen. An der unteren We-
Eine große Vielfalt und ein häufiger Wechsel der Stein-
ser wurden die im Solling abgebauten roten Sandsteinplat-
baulandschaften sind bis heute besonders in den deutschen
ten zur Dacheindeckung genutzt. Wer ein noch erhaltenes
Mittelgebirgen, z. B. im südlichen Niedersachsen oder in
Beispiel anschauen möchte, kann dies im nordhessischen
der Eifel, zu beobachten. Ein anderes konkretes Beispiel
Grebenstein am Haus Leck tun, das 1606 seine Dachhaut
ist im Kreis Paderborn im südöstlichen Westfalen zu fin-
aus Solling-Platten erhielt und heute als Ackerbürgermu-
den: Hier sind auf einer Strecke von etwa 25 km – von Al-
seum dient.
187
In einigen Kalksteinregionen Süddeutsch-
lands wurden die Dächer auch mit hellen Kalksteinplatten gedeckt, man findet diese heute gelegentlich noch im Altmühlgebiet und in Mainfranken. Am weitesten verbreitet waren und sind die Dacheindeckungen aus Schiefer. Schiefervorkommen und -brüche gab es in fast allen Teilen des deutschen Mittelgebirges. Ehemals waren die meisten Dächer an der Mosel, der Lahn, am Mittelrhein, im Sauerland, im Harz und in den thüringischen Berggebieten mit Schiefer bedeckt. Generalisierend kann man feststellen, dass die vorher auf dem Land dominierende Holz- und Fachwerkbauweise in Deutschland allmählich seit der Frühen Neuzeit und endgültig ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Steinbauweise ersetzt wurde. Entsprechend der lokalen und regionalen Natursteinvorkommen ist die Skala der für Bauzwecke genutzten Steinarten sehr breit. In Norddeutschland, das überwiegend von eiszeitlichen Ablagerungen bedeckt ist, dominieren die aus Skandinavien stammenden Granite und Gneise (Gerölle und Felsbrocken) als Bausteine. Daneben werden im »steinarmen« Norddeutschland seit Jahrhunderten die in vielen Vorkommen anstehenden Tone und Lehme abgebaut und zu Ziegelsteinen und Dachziegeln gebrannt. Bis heute prägt der rotbraune Ziegel das Bild der Findlinge aus Skandinavien und Ziegelsteine sind die traditionellen Baumaterialien in Norddeutschland: in der Dorfkirche in Briest bei Schwedt wurden beide verbaut.
Gestalt der Kulturlandschaft
231
verändert. An manchen Gebäuden, die ursprünglich mit drei bis vier verschiedenen Baustoffen ausgekommen sind, sind heute nach Ergänzungen und Renovierungen zehn und mehr Baustoffe zu beobachten. Ein früheres Kennzeichen des ländlichen Bauens, nämlich die Beschränkung von Baustoffen, Formen und Farben, ist heute also (durch Angebote und Wohlstand) oft nicht mehr gegeben. In jüngerer Zeit ist jedoch auf dem Land eine Rückbesinnung auf lokale Traditionen und dörfliche Eigenwerte zu beobachten. Dazu gehört auch, dass lokale und regionale Baustoffe zunehmend wieder angeboten werden. Ein Beispiel ist die Neue Ziegel-Manufaktur Glindow bei Werder westlich von Potsdam. Am Standort einer alten Ziegelei und teilweise in Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert werden vielfältige alte und neue Ziegelprodukte für historische Im Natursteinbruch in Rochlitz in Sachsen wird der rötliche Porphyr abgebaut, der bis heute in ganz Sachsen ein beliebter Baustein ist und auch für Repräsentativbauten in Leipzig und Dresden verwendet wurde.
und moderne Bauten und Pflasterungen hergestellt. Unterstützt wird dieser Trend durch die staatliche Dorferneuerungsförderung mit dem entsprechenden Leitbild der »erhaltenden Erneuerung« sowie den Wettbewerb »Unser Dorf
tenbeken über Paderborn nach Delbrück – drei verschie-
hat Zukunft«. So werden z. B. in vielen Dörfern die ortsty-
dene Baumateriallandschaften wahrnehmbar. Zunächst
pischen Hof- und Böschungsmauern wieder mit den loka-
die bräunlich-roten Sandsteinorte des Eggegebirges, dann
len Bruchsteinen erneuert oder neu aufgebaut. Die Dorfbe-
die gräulich-weißen Kalksteinsiedlungen der Paderbor-
wohner merken inzwischen, dass die überlieferten Bautra-
ner Hochfläche (mit dem Paderborner Dom als dominan-
ditionen dem Ortsbild zugutekommen und darüber hinaus
tem »Beleg«) und schließlich die rötlichen Tonziegelbauten
die Zufriedenheit und Identifikation mit dem Dorf stärken.
des Tief landes. Orte, die auf Gesteinsgrenzen liegen, zei-
In einigen Natursteinregionen Deutschlands sind in den
gen im Baubild meist auch ihr »doppeltes« Gesicht – wie
letzten Jahrzehnten kleine Sand- und Kalksteinmuseen
das Dorf Herbram, das am Rande des genannten Egge-
entstanden. Sie vermitteln meist sehr anschaulich Kennt-
gebirges liegt, sowohl durch rote Sandsteine als auch durch
nisse der Entstehung, Gewinnung, Bearbeitung und Ver-
gräuliche Kalksteine geprägt wird.
bauung von Natursteinen. Beispiele solcher regionaler Na-
Die Modernisierung und Industrialisierung der Bau-
tursteinmuseen sind das Sandsteinmuseum in Havixbeck
weise hat ab der Mitte des 20. Jahrhunderts auch auf dem
bei Münster und das Ziegel- und Kalkmuseum in Flints-
Land zu einer allmählichen Aufgabe der ehemals land-
bach an der Donau bei Deggendorf.
schaftsgebundenen Baumaterialien geführt. Fast überall
232
Die regionaltypischen Bautraditionen prägen bis heute
ist bei Neu- und Ergänzungsbauten die traditionelle Holz-
das Bild unserer Dörfer, Kleinstädte und generell der länd-
und Natursteinbauweise durch die Verwendung von Kunst-
lichen Kulturlandschaften. Sie zeigen uns die früher vor-
steinen, Beton, Eisen, Glas und Kunststoff ersetzt worden.
handenen lokalen und regionalen Ressourcen und Bau-
Den dörflichen Bauherren steht heute eine nahezu unüber-
stoffe, die an Boden, Klima und Topographie angepassten
schaubare Auswahl an überregionalen Baustoffen zur Ver-
Haus- und Gehöftformen, die handwerklichen Fähigkeiten
fügung. Die lokalen und regionalen Abbaustätten wur-
und Stilrichtungen und auch die wirtschaftlichen Verhält-
den in der Regel aufgegeben und nur noch in Einzelfällen
nisse der Bauherren. Man spricht deshalb von landschafts-
für Restaurationen historischer Bauten offengehalten. Das
gerechten oder –typischen Bautraditionen. Immer wieder
reichhaltige Angebot an modernen Baustoffen hat nicht
gibt es Versuche, eine »Regionale Baukultur« als einen Bei-
nur die Neubauten, sondern vielfach auch die Altbauten
trag zur Erhaltung von Kulturlandschaften zu etablieren.
Das moderne Dorf
Worin liegt die Bedeutung einer Regionalen Baukultur? Sie ist zugleich ein Wissensspeicher und Identifikationsfaktor. Die überlieferten Siedlungen sind ein gebauter Erfahrungsschatz und damit auch sinnlich fassbare Haltepunkte der lokalen und regionalen Identität. Die überlieferten Bautraditionen können für die heutigen Herausforderungen zu einem nachhaltigen Bauen einige Antworten aufzeigen, da sie durch einen sparsamen Umgang mit Energie und Rohstoffen geprägt waren. Regionale Baukultur kann aber auch die Zufriedenheit und Beheimatung der Menschen fördern und damit zugleich zu einem Standortfaktor für die Zukunft werden. Orte und Regionen mit regionaler Identität und Tradition sind attraktiv und beliebt und haben deshalb auch Vorteile, Touristen sowie Zu- und Rückwanderer anzulocken. Wie kann man die zunächst abstrakten Prinzipien einer Regionalen Baukultur mit Leben zu füllen? In vielen Dörfern, Gemeinden und Regionen sind bereits Gestaltungs-
Das Dorf Herbram in Westfalen liegt auf einer geologischen Gesteinsgrenze, was sich im Ortsbild widerspiegelt: Hellgrauer Kalkstein und roter Sandstein wechseln einander ab.
oder Baufibeln, Handbücher oder Leitfäden zur jeweiligen Baukultur erstellt worden. Diese sollen zunächst den Bau-
sein: Im ehemaligen Bauerndorf Wettstetten entstand eine
herren und Architekten eine Orientierung und den Baube-
neue Ortsmitte mit drei Häusern für Gemeindeverwaltung,
hörden eine Basis für Empfehlungen und eventuelle Förde-
Ratssaal/Bürgersaal und Kita/Altenpflege, die sich am tra-
rungen bieten. Die oft mit Bildbeispielen und Zeichnungen
ditionellen Haustyp der südlichen Fränkischen Alb, dem
ausgestatteten Broschüren können vor allem Denkanstöße
sog. »Jurahaus« orientieren.
geben und den Kommunikationsprozess erleichtern. Gute
Die Bemühungen um eine Regionale Baukultur las-
kommunale Beispiele sind die »Gestaltungssatzung für
sen sich in allen Teilen Deutschlands beobachten. »Beste-
historische und neue Bauten in der Gemeinde Burbach«
Praxis-Beispiele« werden in einschlägigen Fachzeitschrif-
im Siegerland (NRW) von 2010, die »Baufibel Altes Land«
ten wie »Ländlicher Raum«, LandInform«, »Monumente«,
(zwischen Stade und Buxtehude) von 2011 oder die »Initia-
»Bauwelt«, »Der Holznagel« und »Bauernblatt« oder in den
tive Baukultur Eifel. Zeitgemäßes Bauen im Eifelkreis Bit-
Verbandsorganen und Jahrbüchern der der regionalen Hei-
burg-Prüm«, die die reiche Bautradition der Eifel erhalten
matverbände, der Länderakademien Ländlicher Raum, der
und weiterentwickeln will und gemeinsam vom Eifelkreis
Denkmalämter, der Architektenkammern und auch Bau-
Bitburg-Prüm und der Architektenkammer Rheinland-
sparkassen ausführlich beschrieben. Die Verbreitung gu-
Pfalz getragen wird. Um die Regionale Baukultur der Eifel
ter Beispiele ist wohl der beste Impuls für eine erhoffte
zu stärken und im Bewusstsein möglichst vieler Menschen
flächenhafte Ausdehnung der Regionalen Baukultur in
zu verankern, werden seit 2013 jährlich Baukulturpreise
Deutschland. Doch welche Bürgermeister und Landräte
vergeben. Auch bei der Verwirklichung diffiziler Aufga-
machen dies wirklich zu ihrem Anliegen? Und welche
ben kann die Regionale Baukultur ein hilfreicher Maßstab
Bundesländer unterstützen sie dabei?
Gestalt der Kulturlandschaft
233
Deutschland – ein Flickenteppich! Von der Vielfalt der Flurformen
Wie die Dorf- und Bauernhausformen prägen auch
deutschen Südwesten gewitzelt, die Bauern könnten hier
die unterschiedlichen Flurformen das Bild der Agrar-
die neuen Mähdrescher nicht einsetzen, weil diese beim
landschaft. Die Flur kann generell wenig oder stark
einmaligen Befahren ihres Feldes gleich das halbe Nach-
parzelliert, in Streifen oder Blöcke gegliedert sein.
barfeld mitmähen würden.
Flurformen sagen uns eine Menge über die wirtschaft-
Wie kam es zu diesen sehr unterschiedlichen Flurfor-
lichen, besitzrechtlichen und sozialen Verhältnisse
men in Deutschland? Manchmal waren es wohl die natür-
der Landwirtschaft. So wirkt das historische Erbrecht
lichen Verhältnisse. So hat das im Bayerischen Wald auf ei-
mit seinen unterschiedlichen Besitzteilungen bis in
nem Bergkegel gelegene Dorf Kreuzberg eine Radialhufen-
die Gegenwart nach. Für den Bauern ist es heute ein
flur, die sich ideal an die Topographie anpasst. Andere
riesiger Unterschied, ob er 100 ha auf 36 Parzellen
Flurformen hängen mit geplanten Dorfgründungen zu-
in einer kleinparzellierten Flur verstreut hat oder diese
sammen. So haben die gezielt gegründeten Straßen-, Wald-
zusammengefasst in zwei oder drei großen Blöcken
hufen- und Angerdörfer meist im unmittelbaren Anschluss
bewirtschaften kann.
an die Häuserzeilen gleichmäßige Streifenfluren. Die wesentliche Ursache für die in Deutschland sehr un-
Wer mit dem Flugzeug bei gutem Wetter von der Insel Use-
terschiedlichen Flurbilder liegt allerdings im historischen
dom quer durch Deutschland bis in den Raum Freiburg im
Erbrecht. Zwei Grundformen werden hierbei unterschie-
Breisgau fährt, erkennt beim Betrachten der Landschaft
den. Wir sprechen von »Anerbenrecht« oder »geschlosse-
gewaltige Unterschiede: Riesige, oft kilometerlange Feld-
ner Vererbung«, wenn der landwirtschaftliche Grundbe-
stücke im Nordosten, kleine und schmale »Handtuch«-
sitz im Erbfall ungeteilt auf eine Person übergeht. Wird das
Parzellen im Südwesten. Was aus der Luft wie ein maleri-
landwirtschaftliche Vermögen hingegen gleichmäßig an
sches Kunstwerk erscheint, ist in historischen Zeiträumen
die Erben verteilt, nennen wir diese Erbfolge »Realteilung«
gewachsen. Was für Reisende interessant und für Wissen-
oder »Freiteilbarkeit«. In der Regel wird hierbei der Grund
schaftler ein Forschungsfeld ist, ist für den Bauern ein harter Wirtschaftsfaktor. Eine zu starke Parzellierung der Flur bzw. der Betriebsflächen hat ökonomische Nachteile. So wurde schon vor Jahrzehnten auf einer Agrartagung im
234
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Durch die ständige Realteilung bei der Vererbung des Grundeigentums entstand im Südwesten Deutschlands eine starke Flurzersplitterung, wie hier bei Waiblingen in Baden-Württemberg.
und Boden verteilt, nicht aber die eigentliche Hofstelle. Al-
doch deutlich geringer als der Wert des Hofes war. Dem-
lerdings gab es im südwestdeutschen Raum auch Hofge-
gegenüber war die Realteilung dem politischen Leitbild
bäudeteilungen bis hin zum Stockwerkseigentum.
der Gleichheit und Gerechtigkeit verpflichtet. Alle Erb-
Das Hauptziel des Anerbenrechts war die sog. »Hofidee«.
berechtigten sollten die gleichen Startchancen haben. Dies
Es ging darum, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der
hatte Vorrang gegenüber der Hofidee der geschlossenen
ungeteilten Höfe zu stärken und in der Generationenfolge
Vererbung. Die Folge war ein ständiger Auf- und Abbau der
zu erhalten. Die Nachteile des Anerbenrechts lagen in der
landwirtschaftlichen Betriebe, und der größte Nachteil der
wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeit. Die An-
Realteilung bestand in der fortgesetzten Zersplitterung der
sprüche der Miterben gegenüber dem Haupterben waren
landwirtschaftlichen Flächen.
begrenzt. Sie erhielten meist eine sog. »Abfindung«, die je-
Die Verbreitung der historischen Erbsitten zeigt in
Im Osten Deutschlands dominieren heute, bedingt durch die Agrarpolitik seit dem 2. Weltkrieg, die großen Feldstücke, die manchmal die ganze Dorfgemarkung umfassen, hier ein Blick auf die Feldflur bei Sternberg in der Mecklenburgischen Seenplatte.
Gestalt der Kulturlandschaft
235
Die schöne Radialhufenflur von Kreuzberg im Bayerischen Wald ist im Luftbild besonders gut zu erkennen. Wie eine Spinne im Netz liegt das Dorf auf einem Bergsporn, von dort ziehen sich die immer breiter werdenden Feldhufen den Hang hinunter.
Deutschland wie in Europa starke Unterschiede zwischen
ten südlich der Linie Mönchengladbach – Lohr am Main,
In Nordeuropa von Skandinavien
wobei allerdings der Schwarzwald und der Odenwald aus-
Norden und Süden.
187a
über Norddeutschland bis zu den Britischen Inseln domi-
236
gespart bleiben.
niert die geschlossene Vererbung, sie ist darüber hinaus in
In den südwestdeutschen Realteilungsregionen sind die
Mittel- und Westeuropa in einem breiten Gürtel von Öster-
Feldfluren bis heute relativ kleinparzelliert. Dies mag er-
reich, Bayern und Schweiz über Mittel- und Südfrankreich
staunen, denn im Dritten Reich wurde die Realteilung per
bis nach Nordspanien verbreitet. Die Realteilung hingegen
Gesetz aufgehoben. Nach 1945 galten zwar wieder die älte-
ist eindeutig vorherrschend in Südeuropa, vor allem in Ita-
ren Erbregelungen, es wurde jedoch der Grundsatz der Frei-
lien und Spanien, aber auch in großen Teilen Frankreichs,
willigkeit eingeführt, und die Agrarpolitik förderte zuneh-
in Belgien und den Niederlanden. In Deutschland haben
mend das Leitbild der geschlossenen Vererbung. Außerdem
wir ein relativ geschlossenes Realteilungsgebiet im Südwes-
haben auch im deutschen Südwesten die meisten Gemar-
Das moderne Dorf
Im Waldhufendorf Königswalde im sächsischen Erzgebirge ist eine typische Waldhufenflur durch Steinrücken und Buschreihen erhalten. Hinter den Höfen in Tallage verlaufen die langen Streifenparzellen hangaufwärts bis zum angrenzenden Wald.
kungen seit den 1950er Jahren schon mindestens eine Flur-
hofes aufweisen. Als wesentliche Grundformen der Par-
bereinigung mitgemacht. Trotz allem wirkt die lange Tra-
zelle unterscheidet man Blöcke (Groß- und Kleinblöcke)
dition der Realteilung also bis in die Gegenwart!
und Streifen (lange und kurze, schmale und breite) und so-
Wie sehen nun unsere Feldfluren im Einzelnen aus? Die
mit nach dem jeweiligen Vorherrschen zwischen Blockflu-
Parzelle ist die kleinste formale Einheit in der Flur, manch-
ren und Streifenfluren. Je nach Verteilung der Besitzpar-
mal auch einfach »Flurstück« genannt. Sie ist in vielen Län-
zellen über die Flur wird von Gemengelage oder Einödlage
dern wie auch in Deutschland exakt vermessen und in amt-
gesprochen. Unter »Gemengelage« versteht man die ver-
lichen Katasterkarten und Grundbüchern als Eigentum
streute Lage der Parzellen eines Betriebes, unter »Einöd-
eingetragen. Deswegen spricht man auch von »Kataster-
lage« die geschlossene oder arrondierte Lage des Besitzes
parzelle«. Hinsichtlich ihrer Größen können Parzellen
in der Flur. Zur Einödlage gehört meist auch die Hofstelle
nur wenige Quadratmeter bis hin zu 2000 m2 eines Guts-
inmitten der eigenen Felder. Die Grenzen der Besitzparzel-
Gestalt der Kulturlandschaft
237
len sind im Gelände meist durch Steine markiert bzw. »ver-
schutz gestellt worden. Gut erhalten sind die langen Wald-
steint«. Zusätzlich werden die Grenzlinien in der Flur häu-
hufenstreifen in Bärenstein bei Annaberg in Sachsen, wobei
fig durch Hecken, Zäune, Wälle, Raine, Mauern, Gräben
die Hufengrenzen durch markante Buschreihen weithin in
oder »Knicks« (in Schleswig-Holstein) markiert und sicht-
der Landschaft sichtbar sind. Ein anderes Beispiel ist Bai-
bar gemacht. Diese Grenzmarkierungen besitzen in vielen
ershofen bei Augsburg: Hier wurde nicht nur das gut er-
ländlichen Regionen einen landschaftsgliedernden und äs-
haltene Angerdorf unter Schutz gestellt, sondern auch ein
thetisch ansprechenden Charakter.
Teil der ebenfalls noch gut erkennbaren hofanschließenden
Von den ursprünglichen Flurformen ist in Deutschland nur noch relativ wenig erhalten.
Kreuzberg im Bayerischen Wald mit seiner klassischen Ra-
19. Jahrhunderts sind durch staatliche Flurneuordnungen
dialhufenflur. Hier ist vor Jahren in Zusammenarbeit von
meist größere Flurstücke und neue Feldwege geschaffen
Flurbereinigung und Denkmalpflege die Erkennbarkeit der
worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die überliefer-
radial vom Dorf in die Flur verlaufenden Hufen durch He-
ten Flurbilder durch staatlich verordnete und gelenkte Bo-
cken- und Baumpflanzungen wiederhergestellt worden.189
denreformen und Flurbereinigungen noch einmal stark
Auch im Waldhufendorf Königswalde (S. 237) im Süd-
verändert worden. Gerade im Gebiet der ehemaligen DDR
osten Sachsens, im Herzen des Erzgebirges gelegen, ist eine
wurde die überlieferte Parzellenstruktur nahezu vollstän-
typische Waldhufenflur erhalten. Hinter den alten Höfen
dig beseitigt und zu riesigen Schlägen zusammengefasst.
in Tallage ziehen sich die langen Streifenparzellen han-
Die meisten deutschen Gemarkungen dürften in den letz-
gaufwärts. Ihre Grenzen sind seit altersher als Steinrü-
ten 150 Jahren mindestens eine, häufig aber bereits mehrere
cken und z. T. auch mit Hecken und Buschreihen markiert.
Flurbereinigungen durchlaufen haben. Es macht daher we-
Im Jahr 2009 bekam Königswalde für die Erhaltung und
nig Sinn, die Flurformen – wie die Dorf- und Bauernhaus-
Pflege seiner markanten Steinrückenlandschaft als heraus-
formen – in einer kleinmaßstäbigen Karte darzustellen. In-
ragendes kulturlandschaftliches Erbe einen Sonderpreis
teressanter ist hier schon ein Blick auf eine Karte der histo-
beim 7. Sächsischen Landeswettbewerb »Unser Dorf hat Zu-
rischen Flurformen um 1850, die im Atlas der Deutschen
kunft«. Katja Kaubitzsch liefert die Begründung: »Bei Er-
Agrarlandschaft erschienen ist.
halt und Pflege der Waldhufen- und Steinrückenlandschaft
Da sich die historischen Flurformen nur in relativ weni-
238
Hufenparzellen. Immer wieder zurecht zitiert wird auch
Bereits in der Mitte des
187b
greifen nachhaltige Bewirtschaftung, moderne Landwirt-
gen Beispielen erhalten haben, finden diese das besondere
schaft, naturschutzfachliche Pflege und touristische In-
Interesse der Öffentlichkeit bzw. der Denkmalpflege.188 So
wertsetzung ineinander.«190 Das Waldhufendorf Königs-
ist die Klosteranlage und das Dorf Bebenhausen (bei Tü-
walde pflegt also seine geschichtliche Identität und denkt
bingen) mitsamt der umgebenden Feldflur unter Denkmal-
zugleich an den wirtschaftlichen Nutzen.
Das moderne Dorf
Von Nutzen und »paradiesisch« Der dörfliche Garten
Der dörfliche Garten ist für viele ein Inbegriff des Land-
bei Parallelen in der Pflege der Pflanze und der Erziehung
lebens. Dichter und Philosophen beschreiben den
des Menschen: »So wenig der Gärtner sich durch andere
Garten immer wieder als vom Menschen geschaffene
Liebhabereien zerstreuen darf, so wenig darf der ruhige
kleine Paradiese im Einklang mit der Natur, als Orte
Gang unterbrochen werden, den die Pflanze zur dauernden
der edlen Gestaltung und Besinnung. Die Gartenarbeit
oder zur vorübergehenen Vollendung nimmt. Die Pflanze
bringt Freude und zugleich Nutzen. Die Selbstversor-
gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles
gung mit Nahrungsmitteln aus dem eigenen Garten hat
erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt. Ein
auf dem Land eine lange Tradition. Die historischen
ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder Jahreszeit, in
Vorläufer der heutigen Dorfgärten sind Klostergärten,
jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird vielleicht von
Schloss- und Gutsgärten, Pfarr- und Lehrergärten
niemand mehr als vom Gärtner verlangt.«192
sowie Bauerngärten. Heute finden wir auf dem Land neben Nutzgärten auch alle Arten von Zier- und Wohngärten.
Sprachgeschichtlich meint »Garten« das begrenzte, durch einen Zaun, eine Mauer oder Hecke abgeschlossene Stück Land, das zur Anpflanzung von Gemüse, Kräutern, Blumen und Obst genutzt wird. Nach der jeweils im Vor-
Was sind Gärten? Dieter Wieland beschreibt es mit wun-
dergrund stehenden praktischen oder ästhetischen Ziel-
derschönen Worten: »Gepflanzte Paradiese. Jeder Garten ist
setzung unterscheidet man zwischen Nutz- und Ziergar-
ein Spiegel von uns selbst. Denn Gärtnern ist ein Urtrieb,
ten, die häufig nebeneinander angelegt sind. Meist schließt
ein Urbedürfnis des Menschen. Lebensraum Garten – das ist
sich der Garten unmittelbar an das Bauern- oder Wohnhaus
ein phantastischer und immer wieder neuer Dialog mit der
an. In eng bebauten Dörfern fehlte oft der Platz für einen
Natur. Nichts hat die Phantasie des Menschen so befruchtet
Hausgarten. Deswegen legte man hier an den Dorfrändern
wie der Traum vom Traumland Garten.«
größere Gartenflächen an.
191
Doch was verlangt ein Garten vom Gärtner? Er braucht
Die Geschichte der dörflichen Gärten beginnt in
ständige Beobachtung und behutsame Pflege und vor al-
Deutschland mit den Klostergärten im Frühen Mittelalter,
lem Geduld. Dies gilt für alle Jahreszeiten. Sehr einfühlsam beschreibt der Naturforscher und Gartenliebhaber Goethe, was die Pflanze vom Gärtner verlangt. Und er sieht da-
Abbildung oben: Der dörfliche Garten macht ein Stück der Lebensqualität des Landlebens aus. Die Bäuerin in ihrem Blumengarten zeigt es.
Gestalt der Kulturlandschaft
239
terpflanzen. So gab es bereits Zwiebeln, Knoblauch, Porree, Sellerie, Rüben, Mangold, Salat, Pastinaken, Möhren, Große Bohnen, Kohl, Kohlrabi, Rettich, Gurken, Melonen, Grüne Bohnen und Kichererbsen. Neben den zahlreichen Gemüsearten baute man vielfältige Gewürz- und Heilpflanzen wie Bärlauch, Bohnenkraut, Kresse, Dill, Estragon, Fenchel, Minze, Kerbel, Koriander, Kümmel, Liebstöckel, Schlafmohn, Rosmarin, Salbei, Schnittlauch und Senf an.193 Zierpflanzen spielten in Klostergärten eine untergeordnete Rolle. Durch das schon im Mittelalter immer dichter werdende Netz von Klöstern breitete sich deren hohe Gartenkultur flächenhaft über das Land aus. Nach den Klöstern sorgten auch die Burg-, Schloss- und Gutsgärten für eine Ausbreitung der Gartenkultur in die Dörfer.194 Noch später waren es die Pfarr-, Apotheker- und Durch die Klöster kam die Gartenkultur aufs Land und war wohl auch die Keimzelle der Bauerngärten: der Klostergarten des Klosters Michaelstein in Blankenburg im Harz.
Lehrergärten, die eine Vorbildfunktion für die Dorfbewohner übernahmen. Besonders wichtig war der Pfarrgarten, quasi als ein Brückenkopf der Kloster- und Schlossgärten
die selbst von den Gärten ihrer Mutterklöster in den Mit-
ins Dorf. »Er war Tauschbörse für die Pflanzen und Sonn-
telmeerländern »gespeist« bzw. angeregt wurden. Kennzei-
tagsschule für den Obstbaumschnitt. Alle Fachwörter wie
chen der Klostergärten waren zwei rechtwinklige Wegach-
propfen, impfen, pelzen, okulieren sind bestes Kirchenla-
sen, die den Garten in vier Viertel teilten. Durch ihre Form
tein. Der Pfarrer hatte immer die besten Obstbäume und die
wirkten die Gärten der Klöster wie Kreuzgänge im Freien,
meisten Bienenvölker und die kostbarsten, feinsten Blumen
tatsächlich wurden sie immer zugleich als Wandelgärten
für den Altar, Rittersporn und Türkenbund, Madonnen-
genutzt zum Beten und Entspannen. Klostergärten waren
lilien.«195
vorrangig Nutzgärten und reich an Gemüse- und Kräu-
Die um 1800 in Erscheinung tretenden Bauerngärten orientierten sich an den Kloster-, Guts- und Pfarrgärten. Wohlhabende Bauern machten hierbei den Anfang, so wurden Gärten nun auch zu einem Statussymbol. Der Bauerngarten war grundsätzlich wie der Klostergarten quadratisch oder rechteckig und in der Regel durch einen Lattenzaun oder eine Hecke abgegrenzt, im Unterschied zu den meist ummauerten Kloster- und Gutsgärten. Seine innere Gliederung erfolgte ebenfalls durch ein Wegekreuz mit einem bepflanzten Rondell in der Mitte. Auch die Bauerngärten waren in erster Linie Nutzgärten, der Anteil der Zierpflanzen war hier weit geringer als in den Herrengärten. Im Mittelpunkt standen die Gemüse- und Kräuterbeete, dazu kamen Beerensträucher und (vereinzelt) Obstbäume, die an den Nordseiten der Gärten platziert wurden. Zierpflanzen waren lediglich eine Ergänzung und nahmen randliche Plätze ein. Die verschiedenen Beete wurden durch Buchsbaumeinfassungen abgegrenzt. Die Pflege der Bauerngärten gehörte in den Verantwortungsbereich der Frauen, die ihre Erfah-
Dieser kolorierte Holzschnitt »Frauen im Kräutergarten« von 1512 zeigt einen Klostergarten der Insel Reichenau. Frauen prägen seit altersher die Gartenkultur.
240
Das moderne Dorf
rungen an die Töchter weitergaben. Ein ertragreicher und gepflegter Garten war der Stolz jeder Bäuerin. Die Männer steuerten nur im Herbst etwas bei, wenn sie Stallmist einbrachten und den Garten umgruben. Ursprünglich waren die meisten Dorfgärten im wahrsten Sinne des Wortes Bauerngärten, da nahezu alle Besitzer von Haus und Grund in der Landwirtschaft tätig waren. Selbst die landlosen Landarbeiter der großen Höfe und Güter besaßen häufig als Pachtland ein kleines Gartenstück zur Selbstversorgung. Mit dem modernen Rückzug der Landwirtschaft aus den Dörfern verlor der Begriff »Bauerngarten« seinen ursprünglichen Zusammenhang. Echte Bauerngärten sind in der Praxis heute nur noch selten anzutreffen. In den Dörfern selbst spricht man daher auch schlicht von Garten. Die traditionellen Formen und Anpflanzungen von Bauerngärten aus der Zeit von 1850 oder 1900 finden wir heute vornehmlich in den ländlichen Freilichtmuseen. Allerdings ist der Begriff immer noch sehr populär. Eine Fülle von Büchern und Zeitschriften widmet sich diesem Thema, doch stehen in diesen Medien meist Ziergär-
Dieser Garten in Nieheim im Kreis Höxter enthält viele Elemente eines klassischen Bauerngartens: das Wegekreuz, die Mischung aus Nutz-, Zier- und Wohngarten, die Beerenbüsche und Obstbäume am Rande.
ten im Vordergrund, zu denen ein paar Würzkräuter hinzukommen. Das hat mit dem alten Bauerngarten als vorrangi-
worden, die die Möglichkeiten des »Lebens mit dem Gar-
gem Nutzgarten jedoch wenig gemein. Die zunehmenden
ten« jahreszeitlich ausdehnen. Horst D. Krus verweist dar-
und gut besuchten Gartenausstellungen und -festivals vom
auf, dass der heutige Dorfbewohner durch sein intensives
Frühjahr bis zum Herbst in allen Teilen Deutschlands zei-
Freizeitleben mit dem Garten Verhaltensweisen übernom-
gen jedoch, dass der ländliche Garten in (der Sehnsucht) der
men hat, die früher dem Adel vorbehalten waren: »In vie-
Bevölkerung eine große Rolle spielt.
len Gärten steht die Nutzung als Ort der Geselligkeit und
Der dörfliche Garten hat sich, wie bereits angedeutet, in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Generell ist der Nutzflächenanteil stark zurückgegangen, während der Zier- und Blumengarten und vor allem die Rasenflächen entsprechend zugenommen haben. Viele Gärten sind heute auf Pflegeleichtigkeit getrimmt. Man will sich nicht mehr den ganzen Sommer an den Garten »binden« und stattdessen »frei« sein für Reisen und andere Hobbys wie Tennis oder Radfahren. Aus zahlreichen ehemaligen »Nutz- und Arbeitsgärten« wurden »Wohngärten« mit Sitzterrassen und Gartenlaube, Springbrunnen und festen Grillplätzen, mit Sandkästen, Trampolin, Schaukeln und Rutschen für die Kinder. Bei sommerlichem Wetter wird das häusliche Leben gern in den Garten verlagert. Man trifft sich hier mit Freunden und Nachbarn zum Grillen, zu Geburtstagen und anderen Anlässen. Häufig sind im Übergangsbereich von Garten und Haus großzügige Wintergärten errichtet Viele Dorfbewohner schätzen die Gartenarbeit oder das »Garteln«, wie es die Bayern scharmant abkürzen. Hier ein Blick in einen Zier- und Wohngarten in Haidenkofen.
Gestalt der Kulturlandschaft
241
und Mistbeete zum Vorziehen von Gemüse zum technischen Standard der Gemüsegärten. Die meisten dörflichen Gärten sind heute eine Mixtur aus Nutz-, Zier- und Wohngarten, wobei die jeweilige Schwerpunktsetzung in allen Variationen vorkommt. Es gibt z. B. sowohl die klassischen Nutzgärten mit Kartoffeln, allen Gemüsesorten, mit Bohnenstangen und Erbsenreisern, mit Beerenobst, Kräuterbeeten und einzelnen Obstbäumen – als auch den modernen Wohngarten mit größeren Rasenflächen und randlichen Buchsbaum- und Rhododendron-Einfassungen, mit er Dorfs tr
aße
Terrasse, Gartenlaube und Grillplatz, zahlreichen Terracot-
Bendelin
Söll
enth
Gemeinde Bendelin Landkreis Prignitz Brandenburg
in
Margariten, Stauden- und Rosenbeeten sowie einem kleinen exquisiten Kräutergärtchen für den Küchengebrauch. Manche Beobachter schreiben dem Wandel der letzten
Kirche
nach
tatöpfen mit Hortensien, Jasmin, Fuchsien, Oleander und
Jahrzehnte herbe Verluste der ländlichen Gartenkultur zu. Tatsächlich sehen viele der heute pflegeleichten Gärten lieblos aus. Sie sind weder richtig Nutz- noch richtig Ziergärten. Die Gartenpflege beschränkt sich auf das Rasenmähen. Dieter Wieland, ein bekannt scharfer Kritiker des WanHaus mit Nutzgarten
nach Netzow
Haus mit Nutzgarten und Kleinviehhaltung Haus mit Kleinviehhaltung
dels auf dem Land, bedauert das allmähliche Verschwinden der alten Bauerngärten und ihre Ablösung durch Gärten, die diesen Namen nicht verdienen. »Das sind Abstellplätze
rg nach Havelbe
für zwei Blaufichten und drei Krüppelkoniferen. Fad. Kahl. Dürftig. Zu Tode rasiert vom kläffenden Rasenmäher. Leer-
Friedhof 0
100
200 m
gefegte Plattformen der Pedanterie, aus denen jedes Gänseblümchen mit Gift herausgeekelt wird. Rasen – steril wie
Nutzgartenkultur in den neuen Ländern: das Beispiel Bendelin in Brandenburg, 2005
Auslegware.«197 Die Wissenschaft hat sich mit den dörflichen Gärten bisher wenig beschäftigt. Hier eine der Ausnahmen: Drei So-
242
des Feierns im Vordergrund. Den Freizeitwert des eigenen
ziologinnen der Universität Bielefeld haben in einer zwei-
Gartens bestimmt dann nicht die Beschäftigung mit der
jährigen Untersuchung von zwei Dörfern der Warburger
Gartenkultur, d. h. der gärtnerischen Arbeit und der Ge-
Börde ein hohes Maß an »Selbstversorgungskultur« und
staltungsfreude, und erst recht nicht der Anbau von Nah-
eine im Vergleich zur Stadt »ausgedehnte Hauswirtschaft«
rungsmitteln. Darin wird der soziale und wirtschaftliche
festgestellt.198 Von 51 befragten Landfrauen bewirtschaf-
Wandel deutlich, in dessen Verlauf ein vormals nur einer
teten noch 47 einen Garten, 38 davon versorgten ihre Fa-
kleinen Bevölkerungsgruppe des Adels und des gehobenen
milien zu mehr als 50 % mit Gemüse und Obst aus dem ei-
Bürgertums vorbehaltener Gartengenuss nun prinzipiell
genen Garten. Das Verarbeiten und Zubereiten, das Einko-
allen Garteninhabern zuteil wird.«
chen und Haltbarmachen der Gartenprodukte gehört zu
196
In die dörflichen Nutzgärten sind früher eher seltene
den Schwerpunkten der meist noch relativ großen Haus-
Gemüsepflanzen wie Zucchini und Brokkoli sowie Kräu-
wirtschaften. In Gesprächen wurde immer wieder auch der
ter wie Rosmarin und Lavendel eingezogen. Außerdem ge-
soziale Aspekt des Gartens und der Gartenarbeit herausge-
hören heute verglaste Gewächshäuser für Tomaten, Klein-
stellt. Manche Frauen erklärten, dass sie ihren Garten we-
gewächshäuser für Gurken, Folientunnel, Tomatenhauben
gen der kleinen Kinder unterhalten, die praktisch im Gar-
Das moderne Dorf
Die schöne Park- und Gartenanlage von Schloss Ippenburg bei Bad Essen in Niedersachsen öffnet sich mehrfach im Jahr für große Gartenfestivals. Die wachsenden Besucherströme zeigen, dass immer mehr Menschen von der Gartenkultur angetan sind.
ten aufwachsen und im Schulalter z. B. selbst ein kleines
gärtner häufig eine Kleintierhaltung mit Hühnern, Gän-
Stückchen Land bewirtschaften können. Andere (ältere)
sen, Enten und Kaninchen und manchmal auch mit ein bis
Frauen betonten, dass die gewohnte Gartenarbeit und die
zwei Schweinen. Durch diese private Tierhaltung wurde
oft damit verbundene Kleintierhaltung (vor allem Hühner)
nicht nur die Selbstversorgung gesichert, sondern häufig
einen wesentlichen Teil ihrer Lebensfreude ausmachen.
ein spürbares Zweiteinkommen erzielt. Nach der Wieder-
Durch Tauschgeschäfte – z. B. Marmelade und Eier gegen
vereinigung blieben die intensive Gartennutzung und die
kleine Dienstleistungen wie die Lieferung von Stroh oder
Kleintierhaltung weitgehend erhalten, sodass sie hier heute
Einkaufshilfen – werden die sozialen Kontakte aufrechter-
einen deutlich höheren Bestand als in den westdeutschen
halten und intensiviert.
Dörfern aufweisen. Bei verschiedenen Befragungen in Dör-
Eine herausragende Rolle spielen die dörflichen Gär-
fern in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, z. B.
ten in den neuen Bundesländern. Während der DDR -Zeit
in Lelkendorf und Bendelin, ergaben sich erstaunliche Er-
konnten die Arbeiter der landwirtschaftlichen Produkti-
gebnisse: Rund 90 % der Hausgrundstücke hatten noch ei-
onsgenossenschaften (LPG ) und andere Dorfbewohner ihre
nen intakten Nutzgarten, die Hälfte davon eine Kleinvieh-
meist großen Gärten weiter bewirtschaften. Neben den
haltung (s. Abb. Seite 231). Elisabeth Meyer-Renschhausen
Nutzgärten betrieben diese Kleinstlandwirte und Hobby-
fasst ihre Untersuchungen über Dorfgärten und Kleinland-
Gestalt der Kulturlandschaft
243
wirtschaft in der Uckermark zusammen: »Gärten und Ne-
tigte, bemerkte er: »Es ist zwar wohl eine unrationelle Form
benerwerbsbauern sorgen dafür, dass die Dörfer nicht ›aus-
der Gemüseproduktion, aber mir scheint, dass es eine sehr
sterben‹. Ländliche große Nutzgärten helfen Dauerer-
rationelle Form der Glücksproduktion ist.« Und er fügte
werbslosen, ehemaligen LPG -Arbeitern und zwangsweise
noch einen für die Ökonomenzunft ungewöhnlichen
früh Verrenteten angesichts sinkender Sozialleistungen
Satz hinzu: »Ich glaube, dass die maximale Erzeugung des
psychisch, sozial und materiell über die Runden zu kom-
schlichten menschlichen Glücks das höchste Ziel ist, dem
men. Die Dorfbewohner sind also trotz des Verschwindens
wir zu dienen haben.«203
der Erwerbslandwirtschaft als Einkommensquelle auf Hof
Gärten bieten außerdem Rückzugsorte, in denen der zu-
Auch die soziale Bedeutung
nehmend gestresste moderne Mensch sich ausruhen und be-
von Nutzgärten wird in der Studie deutlich: Man tauscht
sinnen kann. Die Idee des Ruhe- und Besinnungsortes geht
und verschenkt Gartenerzeugnisse, knüpft und erhält so-
bis in die Antike zurück: Platon, Aristoteles und Epikur un-
ziale Beziehungen. – Eine Frage bleibt diesbezüglich offen:
terhielten ihre Schulen auf Gartengrundstücken. Auch die
Ist die Gartenbewirtschaftung nur eine vorübergehende
mittelalterlichen Klostergärten hatten neben der Selbst-
oder aber ein wesentlicher Teil des
versorgung mit Nahrungsmitteln den Zweck der Reflexion
ländlichen Lebensstils, der langfristig Bestand haben wird?
und der Geistespflege.204 Von vielen Künstlern wissen wir,
Bei Befragungen hinsichtlich des Wertes der Gartenar-
dass sie große Gartenfreunde sind oder waren – nicht zu-
beit äußern die ländlichen Kleingärtner: »Spaß an der Ar-
letzt unsere Literatur-Klassiker Goethe und Schiller. Sie
beit«, »aus Tradition«, »sinnvolle Beschäftigung«, »Frische
liebten die gärtnerische Arbeit und wussten zugleich die
und Garten angewiesen.«
»Krisenressource«
200
199�
Die
Einsamkeit ihrer Gartenhäuser zu schätzen, in denen sie
Gartenarbeit entspricht dem Betätigungs- und Schaffens-
nachdenken und besonders produktiv an ihren Werken ar-
drang des Menschen und auch dem natürlichen Instinkt,
beiten konnten. Der weit gereiste Goethe dankte dem Him-
sich und seine Familie ganz praktisch mit Nahrungsmit-
mel für sein Glück zu Hause mit dem eigenen Gärtchen:
und Geschmack« der Produkte, »Selbstversorgung«.
201
teln zu versorgen. Sie trägt zugleich zur körperlichen und psychischen Gesundheit bei, ganz konkret »den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren«.202 Als der berühmte Ökonom Wilhelm Röpke einmal kleine Gemüsegärten besich-
Weit und schön ist die Welt, doch o wie dank ich dem Himmel, Daß ein Gärtchen, beschränkt, zierlich, mein eigen gehört. Bringet mich wieder nach Hause! was hat ein Gärtner zu reisen? Ehre bringt’s ihm und Glück, wenn er sein Gärtchen versorgt.205
Die dörflichen Gärten sind ein wichtiger Bestandteil der ländlichen Kulturlandschaft und erhöhen deren Attraktivität. Bei städtischen Zuwanderern aufs Land hört man häufig als vorrangiges Motiv ihres Umzugs, einen eigenen Garten zu besitzen. Ländliche Gärten werden zunehmend auch touristisch vermarktet. So wirbt ein schöner Prospekt »Private Gärten öffnen 2010« dafür, die »Gartenlandschaft Altmark« in Sachsen-Anhalt zu besuchen, darunter finden sich auch ein Klostergarten in Jerichow und zwei Bauerngärten in Diesdorf und Mannhausen. Eine zunehmende Anziehungskraft haben jahreszeitlich wiederkehrende Gartenausstellungen, die inzwischen in allen Teilen Deutschlands stattfinden. Hier können die Besucher neue Anregungen finden, Pflanzen und Gartenzubehör kaufen, flanieren und in meist schönem Ambiente Speisen und Getränke genießen. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Gartenfeste im Park des Schlosses Ippenburg bei Osnabrück. In Bauerngärten finden sich immer neben Gemüse und Kräutern auch Zierpflanzen.
244
Das moderne Dorf
Ausbruch aus dem alten Kern Die neuen Wohnsiedlungen am Dorfrand
Heute ist es eine Selbstverständlichkeit: Zu einem
Beeinflusst wurde diese neuartige Landhauskultur von
»normalen« Dorf gehören der alte Kern und an den
Vorbildern aus England. Um 1900 war der Architekt Her-
Rand anschließend die Neubausiedlungen mit ihren
mann Muthesius von der Regierung in Berlin zum Zwe-
reinen Wohnhäusern. Dieses Nebeneinander von
cke des Studiums der dortigen Landhäuser nach England
»Alt« und »Jung« hat sich aber wesentlich erst ab der
geschickt worden. Anschließend trug er durch Publikati-
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt.
onen und eigene Bauwerke ganz wesentlich zur Verbrei-
Wie kam es zu diesem Boom der Neubausiedlungen
tung des englischen Landhausstils in Deutschland bei.206
seit 1950? Welche Rolle spielen diese heute im dörf-
Das neue Landhaus war ein Familienwohnhaus, im regio-
lichen Leben und Bewusstsein? Ist die Integration
nalen Stil mit regionalen Baumaterialien errichtet. Häu-
von »Altdorf« und »Neudorf« gelungen? Manche Sozio-
fig schloss sich an das Haus eine geräumige Veranda oder
logen sind der Meinung, mit der neuen Wohnbebauung
Terrasse an, die zu einem größeren Garten – mit Park- und
habe der Aufbruch des alten Dorfes in die moderne
Nutzflächen – überleitete. Das nur dem Wohnen dienende
Zeit begonnen.
Landhaus war in deutschen Dörfern eine echte Innovation, die sich dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts flä-
Das in Jahrhunderten langsam gewachsene alte Dorf hat seit
chenhaft durchsetzte.
etwa 60–90 Jahren einen Neuling an seine Seite bekommen,
In den Nachkriegsjahren 1948 bis 1950 begann ein re-
der in vielem ganz anders war und ist. Bis in die 30er Jahre
gelrechter Bauboom an reinen Wohngebäuden in nahezu
des 20. Jahrhunderts gab es in den ländlichen Siedlungen
allen Dörfern Deutschlands. In mehreren »Bauwellen« ent-
kaum reine Wohngebäude. Die Dörfer bestanden fast aus-
standen größere und kleinere Siedlungsgebiete an wech-
schließlich aus Bauern- und Handwerkerhäusern, in denen
selnden Ortsrandlagen, wo jeweils Bauland zur Verfügung
die Wohn- und Wirtschaftsfunktionen miteinander ver-
stand. Die optimale »Platzierung« im direkten Anschluss
knüpft waren. Seit etwa 1930 begann nun das reine Wohn-
an die Ortsränder war aber oft nicht möglich. Und unter
haus in die Dörfer vorzudringen – zunächst noch zögerlich mit wenigen Häusern an einer Straßenzeile am alten Ortsrand. Die neuen Siedler waren überwiegend Beamte, Angestellte und Arbeiter, vereinzelt auch der Dorfarzt.
Abbildung oben: Die nach dem 2. Weltkrieg an den alten Dorfrändern entstehende neue Bebauung mit Wohnhäusern wurde vielerorts als »Siedlung« bezeichnet, so auch in Wannweil bei Tübingen.
Gestalt der Kulturlandschaft
245
dem Druck der z. T. stürmischen Nachfrage nach Bauland, das aber nicht an jeder gewünschten Stelle zur Verfügung stand, kam es zu manchen Zersiedlungseffekten. Gar nicht so selten wurden die Neusiedlungen sogar mehr als 500 oder 1000 m von den alten Dorfrändern entfernt in einer Abseitslage platziert. Dieser Barriereeffekt wird manchmal auch mit einer gewissen psychologischen Abneigung der alten Dorfeliten gegenüber den neuen Siedlern erklärt. Generell sprach man hinsichtlich der neuen Wohngebiete von »Siedlung«, wobei möglicherweise ein leicht abwertender Beigeschmack mitgeschwungen hat. Bezüglich ihrer Infrastrukturausstattung blieben die neuen Wohngebiete hinter den alten Dorfbereichen zurück. Dennoch ließen sich in den größeren Neubausiedlungen einzelne Geschäfte, Gasthöfe und Handwerksbetriebe nieder. Dass mit den Neubausiedlungen Standortfehler gemacht wurden, zeigt uns Wilhelm Landzettel anhand eines guten Beispiels. Das hessische Bergstädtchen Amöneburg liegt auf einem Basaltkegel wie auf einem Thron in der Landschaft, deutlich unterhalb im Tal eine kleine Mühlensiedlung. Die grandiose Spornlage ist nach 1945 durch zersplitterte Hangbebauung empfindlich gestört worden: »Amöneburg. Die Bebauung entlang der Straße den Berg herauf verzettelt die großzügige Situation. Bei notwendiger Vergrößerung der Siedlungsfläche wäre es besser, in zusammenhängenden Partien kombiniert mit gleichzeitiger Bepflanzung zu bauen und die bergauf führende Straße anbaufrei zu halten.«207 Landzettel belegt mittels zweier Skizzen, wie man eine notwendige Verdichtung besser erreicht hätte (vgl.
Bereits 1932 wurde mit diesem Werbeplakat für ein Familienwohnhaus im Landhausstil mit großem Garten geworben, dieser Stil blieb auch nach 1945 prägend.
Abb. Seite 247). Die Architektur bzw. Gestalt der Neubausiedlungen
herbe Architekturkritik hervorgerufen (die ja auch dem
hat in den zurückliegenden Jahrzehnten deutliche Wand-
modernen Städtebau gilt), die manchmal mit dem Schlag-
lungen erfahren. Die Gebäude der 1950er Jahre knüpften
wort »Bausparkasseneinheitsstil« zusammengefasst wird.
an die Bauten der Vorkriegszeit an und übernahmen in
246
Auch bezüglich der Grundstücksgrößen haben erheb-
der Regel die Verwendung regionaler Baumaterialien und
liche Veränderungen stattgefunden. In den frühen 1950er
Bauformen (z. B. in Norddeutschland das vielerorts vor-
Jahren waren noch Flächen von 1500–2000 m2 üblich. Der
herrschende steile Satteldach). Ab den 1960er Jahren sind
große Garten sollte nach Art einer Kleinstlandwirtschaft
die Siedlungen bzw. Häuser zunehmend an den wechseln-
der Selbstversorgung dienen. So besaßen die Häuser die-
den Trends überregional-einheitlicher Stilphasen zu unter-
ser Frühphase daher häufig einen kleinen Stallteil für ein
scheiden: u. a. Bungalowstil mit breiten, »liegenden« Fens-
bis zwei Schweine und zehn bis 20 Hühner. Nach und nach
tern und Klinkerverkleidung, Flachdachbauten, imitierte
wurden die Grundstücke jedoch kleiner. Inzwischen haben
Fachwerkgebäude, postmoderne und neuerdings klassizis-
sie in den meisten dörflichen Bebauungsplänen nur noch
tische Stilformen mit Säulen und Eingangsportalen. Ge-
Größen von 600–800 m2. Auch hier zeigen sich die Anpas-
rade die Bebauung seit etwa 1960 hat bisweilen eine z. T.
sungstendenzen an (vor-)städtische Leitbilder.
Das moderne Dorf
Zwei Skizzen von Wilhelm Landzettel zur Neubebauung der Umgebung von Amöneburg nach 1945, wodurch die ursprünglich großzügige Situation verzettelt wurde.
Die Motorik zur Anlage von Neubausiedlungen ging pri-
Sozialstruktur des Dorfes haben die Neubaugebiete inzwi-
mär von Ortsansässigen aus, die im alten Dorfkern keinen
schen eine beachtliche, manchmal sogar dominierende Po-
Platz zur eigenen Entfaltung fanden. Wie z. B. meine Eltern,
sition erreichen können. Viele Vereinsvorstände, Ratsmit-
die nach der Familiengründung 1939 bis 1950 in der beeng-
glieder, Bürgermeister und Ortsvorsteher kommen heute
ten Dorflage »warten« mussten (bedingt durch den Krieg),
längst aus den neuen Wohngebieten und haben damit teil-
bis sie 1950 endlich in einer neuen Siedlung am Dorfrand
weise die alten Dorfeliten in den Kernen abgelöst.
bauen konnten. Mein Vater brauchte den Platz, um ein Bau-
Trotz dieser sozialen Durchmischung und Integration
geschäft zu eröffnen. Anderen ging es ähnlich. So siedelten
von Altdorf und Neudorf bleiben Unterschiede bestehen –
sich etwa zeitgleich zwei Fuhrunternehmer, eine Zahnarzt-
nicht nur im Dorfbild. Die Identifikation der Dorfbewoh-
praxis und ein kleiner Lebensmittelladen an. Dazu kamen
ner mit ihrem Dorf stützt sich nach wie vor überwiegend
Handwerker, die im Dorf arbeiteten, und ein pensionierter
auf den alten Kern mit Kirche, Schule, Gasthof und den
Gutsinspektor. Neben den Einheimischen ließen sich bald
überkommenen Bauernhäusern. Man muss es nicht so krass
auch viele Ostvertriebene in der neuen Siedlung nieder. Die
sehen wie Anne Wolf, die dem Altdorf die »Seele des Dor-
Hauptboomphase der Neubautätigkeit dauerte gut zehn
fes« zuerkennt, dem Neudorf dagegen nur »ein Fetzchen
Jahre. Nach dieser relativ kurzen Zeit war die neu geplante
Stadt«,208 aber ein Körnchen Wahrheit ist darin.
Siedlung mit rund 70 Häusern praktisch »voll«. Ich selbst habe diese zehn Jahre meiner Kindheit noch gut als gewaltige Aufbruchphase in Erinnerung. Die Erwachsenen rackerten fast rund um die Uhr. Überall wurde gebaut, die riesigen Gärten wurden angelegt und intensiv genutzt, Obstbäume gepflanzt, ein paar Schweine und Hühner gehalten. Im Sommer und Herbst war fast ununterbrochen Einmachzeit. Die Häuser waren dicht bewohnt durch die großen Familien, sodass Einzelzimmer für die Kinder eine große Ausnahme waren, außerdem gab es zu nächst meist noch Untermieter. Die moderne Wohnhaussiedlung am Ortsrand hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg als zweite dörfliche Realität etabliert. Durch die Zahl der Gebäude und Einwohner ist sie vielfach dem alten Dorfbereich ebenbürtig, nicht selten sogar über diesen weit hinausgewachsen. Aber auch in der Moderne Dorfrandbebauung zwischen altem Dorfkern und Feldflur in Alverdissen im Kreis Lippe.
Gestalt der Kulturlandschaft
247
»Ein Kahlschlag geht durchs Land« Zum Wandel der traditionellen Dorf- und Flurformen
Der Wandel der modernen Welt geht auch nicht am
Generell kam es im 20. Jahrhundert zu einer baulichen
Dorf vorbei. Wer die alten Dorfbilder mit ihren schönen
Verdichtung der Dörfer und Weiler, vor allem durch Er-
Bauernhäusern nur aus Bildbänden und Freilicht-
gänzungs- und Erweiterungsbauten der sich ausdehnenden
museen kennt, wird meist enttäuscht sein, wenn er
landwirtschaftlichen und handwerklichen Betriebe wie
heute in ein echtes Dorf kommt. Hier stehen alte,
z. B. Ställe, Scheunen, Remisen, Schmieden oder Schrei-
modernisierte und junge Gebäude häufig stark
nereien. Insbesondere für neue und größere Maschinen
vermischt unmittelbar nebeneinander. Auch die Felder
musste Platz geschaffen werden. Die Dörfer erfuhren zu-
um das Dorf herum haben ihr Aussehen geändert.
nächst eine innere Verdichtung, d. h. in unmittelbarer
Zum modernen Formenwandel hat neben der Agrar-
Nachbarschaft der Betriebe wurde der noch vorhandene
technik wesentlich auch die Agrarpolitik beigetragen,
»Platz« bebaut. Häufig mussten aber – vor allem in den eng
in West- und Ostdeutschland mit sehr unterschied-
bebauten Dörfern – gerade neue Scheunen aus Platzmangel
lichen Ergebnissen.
an den Ortsrändern errichtet werden. So enstanden in vielen Dörfern und Kleinstädten ausgeprägte Scheunenviertel
In den sehr unterschiedlichen Naturlandschaften Deutsch-
an den Ortsrändern, gute Beispiele sind in Gräfenberg im
lands ist im Verlauf der Jahrhunderte vom Alpenrand bis
Landkreis Forchheim/Bayern oder Kremmen in Branden-
zur Küste durch Menschenhand ein Mosaik verschiedener
burg zu sehen.
Siedlungs- und Flurbilder entstanden. Wir sprechen hier
Zu umfangreichen baulichen Veränderungen und Ver-
vom »überlieferten« Formenschatz der Kulturlandschaft.
lusten an historischer Gebäudesubstanz in den Dörfern
Der gravierende ökonomische und soziale Wandel des länd-
kam es vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahr-
lichen Raumes im 20. Jahrhundert, vor allem aber seit dem
hunderts. Nicht selten geschah dies durch staatliche Im-
Zweiten Weltkrieg, hat jedoch die überlieferten Siedlungs-
pulse wie die »Dorfsanierung« (vgl. ausführlicher dazu
und Flurformen kräftig verändert. Die Intensität des mo-
S. 303 ff.). Auch die amtliche Denkmalpflege hat in diesen
dernen Formenwandels verläuft aber regional und lokal sehr unterschiedlich. In der Regel haben abgelegene und strukturschwache Gebiete die alten Formen länger erhalten als großstadtnahe oder reiche Agrarlandschaften.
248
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Die moderne Landwirtschaft benötigt große Bauten: für Viehhaltung, Erntespeicherung, Maschinen und Energiegewinnung. Den Platz hat sie durch die Aussiedlungen in die Flur gewonnen.
Jahrzehnten der ländlichen Baukultur (außer den Kirchen und Schlössern) wenig Beachtung geschenkt. In den alten Dorfkernen wurden zahlreiche Bauernhäuser abgerissen, die leer standen oder deren Flächen man für Straßenbauten oder neue Dorf- und Parkplätze benötigte. Mit diesen – aus heutiger Sicht – vielfach mutwillig erscheinenden Abrissen wurde ein Großteil der Altbauten und damit der dörflichen Identität zerstört. Dazu trugen auch die Modernisierungen, Umbauten und Erweiterungen der bestehenden Gebäude in dieser Phase bei: Sie hatten nach Form, Baumaterial, Größe und Gestaltung häufig keine Beziehung mehr zum überlieferten Dorfbild. Mit seiner z. T. drastischen Streitschrift »Bauen und Bewahren auf dem Lande« hat u. a. der Journalist Dieter Wieland 1978 zu einem Umdenken beigetragen: »Ein Kahlschlag geht durchs Land. Erst fallen die Bäume, dann fallen die Tore, dann fallen die Häuser. Jedes Jahr werden allein in Bayern zwischen 3 und 8 % der historischen Bauernhäuser abgebrochen. Wenn wir so weitermachen, ist der Tag nicht
Die aus den Dörfern abgezogene Landwirtschaft hinterließ viel leere Bausubstanz. Ehemalige Bauernhäuser werden heute meist als reines Wohnhaus genutzt, wie hier in Herbram in Westfalen.
weit, wo unser Land ein uninteressantes Neuland werden muss, ein Land ohne Unterschiede, ohne Gesicht und ohne
ten Weltkrieg entstanden ebenfalls überwiegend in Ost-
Geschichte, vom Grauschleier einer uniformen Häuserko-
deutschland, vereinzelt aber auch in Westdeutschland. Im
lonie überzogen. Muss unser Dorf so hässlich werden? Wo
Zuge einer »Bodenreform« von 1945 bis 1949 verteilte man
ist der Bauernstolz geblieben, die Freude am schönen Be-
in Ostdeutschland das den »Junkern« ab 100 ha Eigentum
sitz?«
Ab den späten 1970ern begann also eine neue Wert-
komplett weggenommene Land auf etwa 220 000 Neubau-
schätzung der ländlichen Baukultur – aus der »Dorfsa-
ernhöfe mit durchschnittlich 8,5 ha Besitz. Diese neuen,
nierung« entwickelte sich nun bald auch die »erhaltende
meist einheitlich gebauten Hofstellen wurden am Rande
Dorferneuerung«.
der alten Dörfer, häufig an kleinen Straßenzeilen, aufge-
209
Die ländliche Siedlungslandschaft erfuhr im 20. Jahr-
reiht und sind bis heute im Dorfbild präsent.
hundert in zwei Phasen auch eine Erweiterung durch Neu-
Auch in Westdeutschland kam es in den 1950er und
gründungen von Dörfern und Weilern. Dies passierte je-
1960er Jahren – mithilfe großer agrarpolitischer Program-
weils nach den Weltkriegen in den 20er und frühen 30er
me – zu einer starken Veränderung der Kulturlandschaft:
Jahren sowie in den späten 40er und 50er Jahren. In beiden
Durch die zahlreichen Aussiedlungen von Höfen aus den
Phasen entstanden die neuen landwirtschaftlichen Sied-
beengten Dorflagen wurden einerseits die Ortslagen »auf-
lungen meist durch die Aufsiedlung von Gütern im Zuge
gelockert« und andererseits den Bauern ein ökonomisch
von staatlichen Bodenreformen. So wurden von 1920 bis
besserer Standort in der arrondierten Feldflur geboten. Mit
1932 durch Privatisierung staatlicher Domänen sowie durch
Maßnahmen der Flurbereinigung wurden des Weiteren in
Aufteilung bankrotter, zwangsversteigerter Güter vor allem
zahllosen deutschen Gemarkungen die zersplitterten Flur-
in Mittel- und Ostdeutschland insgesamt mehr als 60 000
parzellen zu größeren Blöcken umgestaltet und ein neues
Neusiedlerstellen errichtet. Diese fügten sich meist zu Wei-
Feldwegenetz geschaffen.210
lern mit 10 bis 15 Hofstellen zusammen. Manchmal erhiel-
Die Feldfluren wurden aber nicht nur wegen landwirt-
ten die neuen Orte auch eine kleine Kirche, wie Matgendorf
schaftlicher Erfordernisse umgestaltet – gravierend ist auch
bei Teterow oder Elisenhof bei Paderborn. Die neuen Bodenreformsiedlungen nach dem Zwei-
der Landschaftsverbrauch für außerlandwirtschaftliche Belange. Die Flächenbereitstellung für Wohnbebauung,
Gestalt der Kulturlandschaft
249
Industrie und Gewerbe, Sport- und Freizeiteinrichtungen
Siedelbach 1789 Gemeinde Eck- und Siedelbach
sowie regionale und überregionale Verkehrswege hat inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, dass in DeutschWald
land täglich die Besitzfläche eines mittelgroßen Bauernho-
Feldgrasland
fes verloren geht. Nicht nur ein Landwirt bekommt Bauch-
Acker
schmerzen, wenn er auf der Autobahn durch irgendeine der
Wiese
fruchtbaren Agrarlandschaften fährt: Fast an jeder Aus-
Hofgelände
fahrt finden sich auf den besten Böden z. T. riesige Gewerbe-
Bach/Kanal mit Teich Straße/Weg Hofgutgrenze
Siedelbach 1898 Gemeinde Breitnau
Hofgebäude Backhaus Waschhaus Nebengebäude Mühle/Säge Kapelle
gebiete – oder sie entstehen dort gerade. Erhebliche Veränderungen hat es seit dem 19. Jahrhundert in der Feld-Wald-Verteilung gegeben: Generell ist die landwirtschaftliche Nutzfläche zugunsten des Waldes zurückgegangen. Dies gilt besonders für die sog. »Grenzertragsstandorte« der Landwirtschaft in den Mittelgebirgen. Durch den früheren Zwang zur Selbstversorgung gab es auch auf den hochgelegenen Flächen der Mittelgebirge bis etwa 850 m Höhe Ackerbau. Das Beispiel der Schwarzwaldgemeinde Siedelbach (s. Abb. rechts) zeigt, dass der Wald innerhalb der Gemarkung vor gut 200 Jahren gegenüber der Landwirtschaft eine völlig untergeordnete Rolle spielte.
Grünland
Siedelbach 1997 Gemeinde Breitnau
Wohn-/ Ferienhaus ehemalige Säge/Mühle moderne Säge
Heute ist es umgekehrt. Die früher dominierenden Nutzungen als Ackerland und Feldgrasland sind mittlerweile ganz aus der Gemarkung verschwunden. In der DDR brachte die Agrarpolitik ab 1952 mit der weitgehenden Zerschlagung der privaten Landbewirtschaftung zugunsten der LPG-Großbetriebe auch einen radikalen Wandel der überlieferten Kulturlandschaft, d. h. der Orts- und Flurbilder. Die alte Flurparzellierung mit ihrem
0
4 km
kleinteiligen Wegenetz wurde bald aufgegeben – es entstanden riesige Feldstücke, die manchmal die gesamte Flur
Wandel der Flächennutzungen im Schwarzwald
1960
ausmachten. An den Ortsrändern errichtete man die ent-
1995
Ein rasanter Wandel des Jagsttales in nur wenigen Jahrzehnten: eine Umgehungsstraße mit diversen Anschlüssen und eine Begradigung des Flusses haben ein neues Landschaftsbild geschaffen und die Wege in Flur und Wald verändert.
250
Das moderne Dorf
sprechend großen Wirtschaftsgebäude der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) oder volkseigenen Güter (VEG ). Die bewusste Trennung von Arbeiten und Wohnen führte zu den typischen Geschosswohnbauten. Im Zuge des Programms »Industriearbeiter aufs Land« bekam fast jedes LPG -Dorf den Bau dieser »Hochhäuser« von staatlicher Seite vorgeschrieben, um den zuziehenden Landarbeitern Wohnungen bieten zu können. Ein Musterbeispiel für die Entwicklung zu einer industrialisierten Landwirtschaft und einem verstädterten (LPG -)Dorf ist das ehemalige Moorhufendorf Ferdinandshof in Mecklenburg-Vorpommern.211 Die historische Bausubstanz der ehemaligen Bauernhäuser und Gutshöfe blieb zwar aus Mangel an Geld und neuen Baustoffen oft länger als in Westdeutschland erhalten, verfiel jedoch häufig wegen unterlassener Renovierungen. Zu Mittelpunkten des kulturellen Lebens wurden die – meist in den größeren Dörfern – neu errichteten Kulturhäuser, die in der Regel von der LPG , dem VEG oder der
In vielen deutschen Dörfern herrscht heute eine sehr gemischte Baukultur: Neben gut erhaltenen und gepflegten Altbauten stehen stillos modernisierte oder allzu selbstbewusste Neubauten, die dem wechselnden Zeitgeist gefolgt sind.
politischen Gemeinde betrieben wurden. Ingesamt
haben
landwirtschaftlicher
Strukturwandel
Als Beispiel soll hier ein kurzer Blick auf die Entwick-
und Agrarpolitik die traditionellen Kulturlandschaften im
lung des ehemaligen Gutsdorfes Burow in Mecklenburg-
zurückliegenden Jahrhundert bleibend verändert. Manche
Vorpommern in den zurückliegenden 100 Jahren gegeben
sprechen von herben Verlusten und bedauern die Entwick-
werden211a: Aus einem Gutsdorf mit Gutshaus, Park, Wirt-
lung. Tatsächlich sind sowohl in den Fluren als auch in den
schaftsgebäuden, Tagelöhnerkaten, Schule, Gasthof und
Dörfern zahlreiche ländlich-städtische Misch- oder Zwi-
Laden wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein LPG -Dorf
schenformen entstanden, die oft in extremem Gegensatz
mit neuen und größeren Wirtschaftsgebäuden, Geschoss-
stehen zum homogenen Gesamteindruck der traditionel-
wohnungsbauten und Infrastruktureinrichtungen wie
len Siedlungs- und Flurbilder. Zunehmend befassen sich
Oberschule und Kinderkrippe. Die bisherige Entwicklung
Bürger, Wissenschaftler und Politiker mit der Frage, ob wir
seit der Wiedervereinigung setzt wieder andere Schwer-
eine Verpflichtung haben, überlieferte Kulturlandschaf-
punkte: Die ehemaligen LPG -Wirtschaftsgebäude wurden
ten – entgegen den modernen Nutzungstrends – in Gänze
abgebaut, neue Kleingewerbegebiete und Wohnbausied-
oder in Teilen zu erhalten und an die nächste Generation
lungen für Einfamilienhäuser angelegt sowie zahlreiche
weiterzugeben.
Gebäudesanierungen durchgeführt.
Gestalt der Kulturlandschaft
251
Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss? Die ländliche Kulturlandschaft
Hat die uns überlieferte ländliche Kulturlandschaft mit
änderungen gerade auch der älteren Dorf- und Flurbilder
ihren historisch gewachsenen Dörfern, Kleinstädten
geführt. Viele sind der Meinung, dass dieser immer noch
und Fluren einen Wert? Wir finden sie schön, aber wie
anhaltende Wandel schmerzhafte Verluste an Tradition,
steht es mit dem ökonomischen Nutzen in der Gegen-
Identität und Schönheit gebracht hat. Gibt es Möglichkei-
wart und Zukunft? Was sind die Argumente für den
ten oder gar eine Verpflichtung, das »Rad der Geschichte«
(teilweisen) Erhalt der historischen Kulturlandschaft
anzuhalten und die Restbestandteile der historischen Kul-
auf dem Land? Darüber wird in Deutschland seit
turlandschaft an die nächste Generation weiterzugeben?
einigen Jahrzehnten intensiv nachgedacht und auch
Kulturlandschaften sind – im Unterschied zu Naturland-
vieles getan – durch staatliche Förderungen und
schaften – die wesentlich vom Menschen geprägten Land-
private Vereine und Initiativen. Die Beispiele Mittel-
schaften. Das heißt, das dicht besiedelte und intensiv wirt-
rheintal und Veringenstadt sowie Blicke nach England
schaftlich genutzte Deutschland besteht nahezu komplett
oder in die Schweiz zeigen uns, wie erfolgreich der
aus regional unterschiedlichen Kulturlandschaften. Grö-
Einsatz für den Erhalt wertvoller ländlicher Kulturland-
ßere kulturlandschaftliche Einheiten sind z. B. die Lüne-
schaften sein kann.
burger Heide, die Wetterau oder die Schwäbische Alb. Zur Kulturlandschaft gehört die Gesamtheit aller natürlichen
Die »schöne« und naturnahe, in Jahrhunderten gewachsene
sowie vom Menschen geschaffenen Bestandteile wie Boden,
und regionaltypische ländliche Kulturlandschaft – wir alle
Gesteine, Gewässer, Vegetation, Wegenetz, Flureinteilung
haben die vertrauten Dorf- und Flurbilder im Kopf. Exis-
und nicht zuletzt die eigentliche Siedlung. Die überlieferte
tieren sie aber noch in der Wirklichkeit? Die Experten kom-
Kulturlandschaft, die wir heute vor uns haben, setzt sich
men zu sehr differenzierten Antworten. Natürlich gibt es
aus verschiedenen Elementen historischer Epochen zusam-
noch die »traditionellen« Kulturlandschaften in vielen Re-
men. Sie enthält eine Fülle von Bestandteilen aus früheren
gionen Deutschlands, wir können sie zumindest noch in
Zeiten, die ihre ehemalige Funktion eingebüßt oder verlo-
zahlreichen und schönen Resten beobachten und erleben. Doch auch diese sind in Gefahr. Die massiven ökonomischen und technischen Modernisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte in der Landwirtschaft haben zu starken Ver-
252
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Die ländliche Kulturlandschaft ist ein hohes Gut, das von den meisten Menschen sehr geschätzt wird. Hier die Kulturlandschaft Schwäbische Alb am Ipf.
ren haben, wie z. B. eine Burgruine, ein alter Kalkofen, ein
richtungen. Die erste und meist üblichere lautet: Anpas-
terrassierter Hang, ein Hohlweg oder ein verlandeter alter
sung an moderne Nutzungen, Inwertsetzung, Raubbau und
Fischteich.
Vermarktung. In diesem Fall verändert sich die tradierte
Doch was ist dann eine »historische« Kulturlandschaft?
Kulturlandschaft im freien Spiel der marktwirtschaftli-
Das ist z. B. die mittelalterliche Kulturlandschaft oder jene
chen Kräfte oder durch politische Steuerungen ohne Rück-
von 1800 oder 1950. »Historisch ist aber bereits die Kultur-
sicht auf das überlieferte Erbe. Die zweite Variante lässt sich
landschaft von gestern, in die wir heute oder morgen ein-
mit den Stichworten Konservierung, Ressourcensicherung,
greifen«.212 Die historische Kulturlandschaft ist das überlie-
Museumslandschaft und »Käseglocke« (nichts wird verän-
ferte Siedlungs- und Flurbild, das die vorherige Generation
dert) umschreiben. In diesem Fall wird die historische Kul-
quasi an die heutige übergeben hat.
turlandschaft quasi zum Entwicklungsleitbild für die Zu-
Wie gehen wir nun damit um? Die Betrachtung und Be-
kunft. Ein Rückblick in die vergangenen Jahrzehnte zeigt
handlung der überlieferten Kulturlandschaft lässt viele
wechselnde und fast gegensätzliche Denk- und Vorgehens-
Möglichkeiten zu. Generalisiert gibt es jedoch zwei Haupt-
weisen gegenüber der überlieferten Kulturlandschaft, z. B.
Die Kulturlandschaft »Oberharzer Wasserregal«, ein weitverzweigtes System aus Teichen und Wasserläufen, diente als Kraftwerk des mittelalterlichen und neuzeitlichen Bergbaus und wurde 2010 zum Weltkulturerbe erklärt.
Gestalt der Kulturlandschaft
253
in der staatlichen Flurbereinigung oder der Dorfsanierung
Die konkreten Bemühungen um den Erhalt der histori-
bzw. Dorferneuerung.
schen Kulturlandschaft verlangen stets viel Gespür und
Kann aber die überlieferte Kulturlandschaft, die ja prin-
mancherlei Kompromisse. Man kann nicht einfach eine
zipiell Konzepte der Vergangenheit widerspiegelt, in Gänze
Käseglocke der Konservierung auf Siedlungen und Fluren
oder in Teilen ein Gestaltungsmuster für die Zukunft sein?
»stülpen«. Die Erhaltung und Pflege des überlieferten Erbes
Häufig wird diese Frage (grundsätzlich) verneint. Da die
wird in der Regel nur teilweise oder exemplarisch möglich
historische Kulturlandschaft unter anderen ökonomischen
bzw. durchsetzbar sein. Jede Generation hat neue Ansprü-
und sozialen Rahmenbedingungen entstanden ist, sei es
che und Wertvorstellungen, aber auch andere politische
heute unehrlich und Verschwendung, sie weiter zu erhal-
Rahmenbedingungen – beispielsweise durch die Globali-
ten. Nachdem das Leben und Arbeiten mit der früheren
sierung. Die den historischen Bedingungen von 1750, 1850
Kulturlandschaft vorbei sei, habe auch deren »formale Hin-
oder 1920 entsprechenden Dorf- und Flurformen müssen
terlassenschaft« keine Existenzberechtigung mehr. Diese
einfach in mancherlei Hinsicht »modernisiert« werden. Bei
Argumente scheinen auf den ersten Blick einleuchtend.
der notwendigen Umnutzung der früher landwirtschaftli-
Die überlieferte Kulturlandschaft enthält jedoch auch
chen Gebäude sind z. B. Eingriffe in das äußere und innere
eine Reihe von Werten, was dafür spricht, sie bei der Ge-
Bild oft unvermeidlich, um einem Gebäudeleerstand und
staltung der Zukunft zumindest in Teilen zu erhalten:213
zunehmender Verödung der Dorf- und Stadtkerne zu ent-
1. Historische Kulturlandschaften sind bzw. enthalten
gehen.
wichtige Dokumente der Vergangenheit. Wir können
Das allgemeine Interesse und der politische Wille, die
aus ihnen mancherlei Lehren ziehen, z. B. wie man mit
»tradierte Schönheit« der Kulturlandschaft auf dem Land
den vorhandenen lokalen Ressourcen (oft in Jahrhunder-
zumindest teilweise zu erhalten, hat in den letzten 15 Jah-
ten erprobt) erfolgreich wirtschaften kann.
ren zugenommen. Die Bemühungen konzentrieren sich auf
2. Die historische Kulturlandschaft bietet den Menschen
die drei Bereiche Wissenschaft, staatliche Institutionen und
durch ihren Reichtum an Kontrasten und die meist
Förderprogramme sowie private Vereinigungen und Ini-
wohltuende Anpassung an die Natur viele Möglichkei-
tiativen. Die Wissenschaft recherchiert und dokumentiert
ten ästhetischer und sinnlicher Kontakte.
zum einen in akribischer Feinarbeit exemplarisch die kom-
3. Die traditionellen Kulturlandschaften haben in der Re-
pletten Kulturlandschaftselemente, etwa am Beispiel einer
gel ökologische Vorteile. Sie besitzen meist eine höhere
Gemarkung. Zum anderen beschreibt sie in verallgemei-
Artenvielfalt und ein besseres ökologisches Gleichge-
nernder Form regionaltypische Kulturlandschaften – z. B.
wicht als die modernen, vielfach »ausgeräumten« Agrar-
in Bayern oder Sachsen – in ihrer Gesamtheit. Ein Zentrum
landschaften.
der deutschen Kulturlandschaftsforschung ist seit 1975 der
4. Der ökonomische Mehrwert einer historischen Kultur-
interdisziplinäre Arbeitskreis Kulturlandschaftsforschung
landschaft zeigt sich besonders bei (gepflegten) histori-
in Mitteleuropa (ARKUM ), der am Bonner Lehrstuhl für
schen Bauten, die auch einen Nutzungswandel vertragen
Historische Geographie angesiedelt ist und unter Leitung
und oft zu den gefragtesten Immobilien auf dem Land
von Prof. Dr. Winfried Schenk steht.
gehören.
tur- und Denkmalschutzbehörden auf der Basis einschlä-
Menschen nicht zuletzt Heimat, Orientierung, Harmo-
giger Bundes- und Landesgesetze um die Belange des na-
nie und Geborgenheit, manchmal auch das Geheimnis-
türlichen und kulturellen Erbes auf dem Land. Vorbild-
volle und Unerklärliche, das mit einem Waldstück oder
lich sind beispielsweise die Bemühungen der bayerischen
einem alten Haus verbunden ist. Gerade alte Gebäude
Denkmalpflege, die schon in über 800 Dörfern mitsamt ih-
sind oft »Sehnsuchtsorte«.
ren Gemarkungen komplexe denkmalpflegerische Erhe-
6. Die historischen Flur- und Siedlungsformen sind gene-
254
Von staatlicher Seite kümmern sich vorrangig die Na-
5. Die überlieferte Kulturlandschaft bedeutet für viele
bungen durchgeführt hat. Dort wurde erkannt, dass man
rell ein kulturelles Erbe, für dessen (partielle) Weiter-
auf die Bürger und Politiker zugehen muss, wenn man ein-
gabe auch eine staatliche Verantwortung besteht.
zelne Gebäude oder ganze Dörfer und Kleinstädte als En-
Das moderne Dorf
In Schleswig-Holstein waren traditionell Wallhecken oder »Knicks« zur Abgrenzungen der Flurparzellen üblich. Sie prägen bis heute das Flurbild wie hier bei Plön. Dies zu erhalten, versucht die Kulturlandschaftspflege.
semble unter Denkmalschutz stellen will. Thomas Gunzel-
inzwischen auch die Dorferneuerungsbehörden, die seit
mann hat hier seine Erfahrungen gemacht, z. B. in dem un-
1990 flächendeckend den ländlichen Raum in Deutschland
ter Ensembleschutz stehenden Zeilendorf Reicholdsgrün
betreuen. Auch der Bundeswettbewerb »Unser Dorf hat Zu-
(s. Bild S. 257): »Das Bewusstsein der Bevölkerung hat sich
kunft« widmet sich heute u. a. dem natürlichen und kul-
allmählich gewandelt. Zwar nicht himmelhoch jauchzend,
turellen Erbe. Die Zahl der als Bau- und Naturdenkmäler
aber doch mit einem gewissen Stolz auf das Dorf. Mittler-
eingetragenen Objekte auf dem Land dürfte heute in die
weile kann man durchaus von einem alltäglichen, grund-
Millionen gehen. Mehrere Gebäude- und Parkanlagen des
sätzlich positiven Umgang mit dem Ensemble sprechen.«
ländlichen Raumes – wie z. B. Maulbronn, Neustadt an der
214
Generell konnte Gunzelmann feststellen, dass auch die
Donau (Limes), Wörlitz und Bad Muskau – stehen inzwi-
ländlichen Kommunen den Denkmalschutz inzwischen als
schen auf der UNESCO -Welterbeliste. Zu den staatlichen
wichtiges Steuerungsinstrument der Innenentwicklung
Bemühungen um das kulturelle Erbe auf dem Land gehö-
der Dörfer und Kleinstädte sehen und Denkmäler generell
ren nicht zuletzt die inzwischen in allen Teilen Deutsch-
als ein Stück Infrastruktur betrachten.
lands anzutreffenden Freilicht- und Bauernhausmuseen.
Ähnliche Ziele der Kulturlandschaftspflege verfolgen
Die ausdrückliche Erwähnung der (ländlichen) Kultur-
Gestalt der Kulturlandschaft
255
Das Obere Mittelrheintal mit seinen Burgen, schroffen Felsen und Weinbergen gehört seit dem 18. Jahrhundert zu den bekanntesten und beliebtesten deutschen Kulturlandschaften. Hier ein Blick auf den Rheinbogen bei Kaub.
256
landschaft als staatliches Schutzobjekt besteht seit gut zehn
tung der traditionellen Kulturlandschaft gefördert werden.
Jahren. So ist die »Erhaltung gewachsener Kulturlandschaf-
In Schleswig-Holstein stehen z. B. die dort charakteristi-
ten« inzwischen als Grundsatz der Raumordnungspolitik in
schen Knicklandschaften im Mittelpunkt der Kulturland-
Deutschland wie auch in der EU verankert. Das Welterbeko-
schaftspflege (»Knicks« sind Wallhecken zur Abgrenzung
mitee der UNESCO hatte bereits im Jahr 1992 beschlossen,
von Flurparzellen).
neben den Schöpfungen der Natur und singulären Kul-
Neben der Wissenschaft und den verschiedenen öffent-
turdenkmälern auch ganze Kulturlandschaften in seine
lich-rechtlichen Institutionen kümmern sich zahlreiche
»World Heritage List« aufzunehmen. Seit 2002 gehört als
private Verbände, Vereine und Bürgerinitiativen um die
erste »Kulturlandschaft« Deutschlands das Obere Mittel-
Erhaltung der ländlichen Kulturlandschaft. Zu nennen
rheintal zwischen Rüdesheim und Koblenz zum Welt-
ist hier an erster Stelle der Bund Heimat und Umwelt in
erbe der UNESCO . Die meisten Bundesländer – wie auch
Deutschland (BHU ). Dies ist ein Bundesverband für Natur-
die Nachbarstaaten Schweiz und Österreich – haben inzwi-
und Denkmalschutz, Landschafts- und Brauchtumspflege,
schen »Kulturlandschaftsprogramme« aufgelegt, mit denen
dem insgesamt 17 Landesverbände in ganz Deutschland an-
insbesondere die Leistungen der Landwirte für die Erhal-
geschlossen sind. Diese Landesverbände wiederum bündeln
Das moderne Dorf
Das »Zeilendorf« Reicholdsgrün im Kreis Wunsiedel steht unter Ensembleschutz der Denkmalpflege. Die Dorfbewohner sind inzwischen stolz auf ihre auffällige wie seltene historische Dorfform.
die Arbeit der Kreis- und Ortsvereine. So sind die ehren-
(angesiedelt in der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft)
amtlichen Tätigkeiten der dörflichen Heimatvereine bzw.
um den Erhalt von Kulturlandschaften. Weitere Initiativen
Ortsheimatpfleger prinzipiell bundesweit anzutreffen. Zu
sind die Agrarsoziale Gesellschaft ASG in Göttingen, die
den überregional tätigen Aktivgruppen gehören z. B. die
auf der Marksburg am Mittelrhein residierende Deutsche
Deutsche Sektion des Europäischen Verbandes für das Dorf
Burgenvereinigung und nicht zuletzt der interdisziplinäre
und die Kleinstadt ECOVAST (European Council for the
Arbeitskreis Dorfentwicklung, der seit 1978 alle zwei Jahre
Village and Small Town) sowie die in einigen Bundeslän-
Wissenschaftler, Planer und Kommunalpolitiker im west-
dern bestehenden »Akademien« für den ländlichen Raum.
fälischen Dörfchen Bleiwäsche zu Dorfsymposien zusam-
Außerdem kümmern sich der Bundesverband der Regio-
menführt und sich als »Bleiwäscher Kreis« einen Namen
nalbewegung, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Land-
gemacht hat. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere ein-
wirtschaft (ABL ), der Deutsche Bauernverband durch seine
schlägige überregionale Verbände und Aktivgruppen. Die
»Stiftung Deutsche Kulturlandschaft« und die Initiative
wichtigsten Kräfte zur Erhaltung der ländlichen Kultur-
»AgrarKulturerbe« der Gesellschaft für Agrargeschichte
landschaft finden sich allerdings in den Dörfern selbst, wo
Gestalt der Kulturlandschaft
257
deutschen Kulturlandschaften und wurde als solche 2002 in die UNESCO -Welterbeliste aufgenommen. Hier hat sich der Rhein auf rund 65 km Länge mit scharfen Windungen in das Schiefergestein des Mittelgebirges »eingefressen«. Auf markanten Felsen oberhalb der Ufer thronen mehr als 30 Burgen, die auf die mittelalterliche Bedeutung von Schifffahrt und Fernhandelswegen hinweisen. Direkt am Ufer liegen 30 Dörfer und Kleinstädte, an die sich hangaufwärts vielfach Weinberge anschließen. Die grandiose Landschaft (der man schon früh den Untertitel »Rheinromantik« gab) ist seit Jahrhunderten von zahllosen Besuchern bestaunt und von vielen Dichtern besungen worden. Heinrich Heine hat mit seinem berühmten Gedicht von der Loreley diese so typische deutsche Kulturlandschaft literarisch geadelt. Das schöne Mittelrheintal hat jedoch auch seine Schattenseiten. Es leidet vor allem unter dem Verkehr: Zwei Bundesstraßen und zwei der befahrensten Bahnlinien Europas zwängen sich durch das enge Tal und belasten die Bewohner und den Tourismus. Außerdem ist eine neue Rheinbrücke in diesem sensiblen Rheinabschnitt geplant, die den bislang sehr umständlichen Verkehr zwischen den beiden Rheinseiten verbessern soll. Der Welterbetitel »Kulturlandschaft« wird von der Region als Auftrag und Ansporn betrachtet. Man will sowohl die Natur- und Kulturdenkmäler erhalten und pflegen als auch die Lebensqualität der Bewohner und Besucher verbessern. Vor allem möchte man den etwas angestaubten Tourismus wiederbeleben. Dazu soll u. a. der ausgebaute Fernwanderweg »Rheinsteig« beitragen. Auch denkt man daran, die vielfach seit Jahrzehnten brachliegenden alten Weinbergsterrassen wieder Das beeindruckende historische Ortsbild von Veringenstadt wird seit Jahrzehnten von der Bürgerschaft gepflegt: durch kulturelle Veranstaltungen und neu geschaffene Skulpturen zur Lokalgeschichte, mit historischen Hausinschriften und schönen Illustrationen wie dieser kolorierten Federzeichnung der Künstlerin Monika Geiselhart (das Original hängt im Rathaus von Veringenstadt). Zweimal im Jahr wird die ganze Dorfstraße belebt durch einen Krämermarkt, den »Maimarkt« und den »Martinimarkt« im November.
mit Weinstöcken zu bepflanzen. Denn die Weinanbaufläche ist von ihrer Hochphase im Mittelalter mit 4500 ha bis auf 430 ha heute zurückgegangen. Veringenstadt ist ein Dorf (mit alten Stadtrechten) auf der Schwäbischen Alb mit etwa 1800 Einwohnern. Seine Bewohner haben in den letzten zwei Jahrzehnten eine vorbildliche lokale Kulturlandschaftspflege betrieben. Wer
258
sie in den verschiedenartigen Heimat- und Fördervereinen
durch den Ort geht, dazu begleitet von dem unermüdlichen
oder spontanen Bürgerinitiativen wirken. An zwei Beispie-
Kopf und Motor Prof. Dr. Erwin Zillenbiller, wird begeis-
len sollen nun die staatlich-kommunalen und privaten Be-
tert sein. Denn im Ortsbild stößt man auf zahlreiche Denk-
mühungen zur Erhaltung der Kulturlandschaft aufgezeigt
male und Dokumentationen, die sehr anschaulich wichtige
werden:
Phasen der Dorfgeschichte in Erinnerung rufen und be-
Das Obere Mittelrheintal zwischen Rüdesheim/Bingen
schreiben. Ein Denkmal der Zuwanderung erinnert daran,
und Koblenz ist eine der bekanntesten und wertvollsten
dass das Dorf nicht nur im 20. Jahrhundert, sondern bereits
Das moderne Dorf
in Mittelalter und Frühneuzeit eine »Auffrischung« durch
Trotz der zahllosen und vielfältigen Aktivitäten um den
neue Siedler erfahren hat. Das Denkmal der kleinen »Hexe«
Erhalt der überlieferten Kulturlandschaft in allen Teilen
macht die Zeit der Hexenverfolgung zum Thema, der auch
Deutschlands muss eine generelle Bilanz eher nüchtern
in Veringenstadt vor rund 300 Jahren vorwiegend Frauen
ausfallen. Die Modernisierungs- und Uniformierungspro-
zum Opfer fielen. An die frühgeschichtliche Zeit erinnert
zesse in den ländlichen Kulturlandschaften gehen weiter.
ein Denkmal des Neandertalers, dessen Höhlenwohnun-
Außerdem ist eine Zersplitterung der Aktivitäten ohne
gen am Rande des Ortes bis heute sichtbar sind. An 16 his-
landes- oder gar bundesweite Vernetzung offensichtlich.
torisch wichtigen und das Ortsbild prägenden Häusern des
Viele Dörfer mühen sich und kämpfen ohne die Kenntnis
alten Dorfkerns sind knappe Hausbeschreibungen mit je-
von interessanten und erfolgreichen Vorbildern andern-
weils einem symbolträchtigen Bild angebracht worden, die
orts. Auch gibt es keine überregionale Plattform, wo man
die frühere Funktion und Geschichte des Gebäudes erklä-
Beispiele wie Veringenstadt jederzeit als Anregung abrufen
ren und veranschaulichen, z. B. die alte Poststelle von 1780
kann. Dies existiert hingegen schon lange in England, wo
bis 1980, einen Gasthof mit Weinhandlung von 1860 bis
sich seit 1926 ein Interessenverband mit dem Namen »Cam-
1975 usw. Am kleinen Dorffluss Lauchert ist des Weiteren
paign to Protect Rural England« (Verband zum Schutz des
ein Lehrpfad angelegt worden, der nicht nur die Tier- und
ländlichen Erbes) dafür einsetzt, die »Schönheit, das Leben
Pflanzenwelt des Gewässers erklärt, sondern auch seine
und die Einzigartigkeit unserer countryside« zu erhalten.
vielfältige wirtschaftliche Bedeutung in Vergangenheit
Auch in Schweden existiert eine nationale Dorfbewegung
und Gegenwart beschreibt. Mit viel Liebe und Sachverstand
mit über 5000 Dörfern, die z. B. alle zwei Jahre ein »länd-
wurde ebenfalls ein kleines Heimatmuseum aufgebaut. Um
liches Parlament« veranstaltet. Klaus Brill schlägt daher
das kulturelle Erbe des Ortes für Jung und Alt emotional
die Gründung einer vergleichbaren »Organisation zur Ver-
lebendig zu machen, hat Erwin Zillenbiller (mit Hilfe-
teidigung des ländlichen Raumes oder eines Verbandes der
stellungen von auswärtigen Künstlern) mehrere konkrete
deutschen Dörfer« vor.215 Auch die Einrichtung eines Dorf-
Schauspiele zur Dorfgeschichte geschrieben – z. B. zum Le-
portals im Internet und die regelmäßige Einberufung eines
ben der kleinen Hexe –, die dann von der Dorfbevölkerung
Deutschen Dorftages könnten seiner Meinung nach wich-
mit großer Resonanz aufgeführt wurden. Mit derart an-
tige Impulse geben, um die isolierten Aktionen in den ein-
schaulichen Geschichtsdarstellungen wird die Verbunden-
zelnen Dörfern zu verknüpfen und die Kräfte des ländli-
heit und Mitverantwortung für den Ort gefördert. Bereits
chen Raumes zu bündeln.
im Jahr 1996 hatte Zillenbiller für seinen Heimatort Verin-
Zum Schluss noch ein Hoffnungszeichen. In einer Stu-
genstadt eine wissenschaftliche Dokumentation mit dem
die des Instituts für Demoskopie Allensbach wurde 2009
Titel »Kulturlandschaft – Erbe und Auftrag. Entwicklungs-
zur Auswahl gestellt: »Diese Punkte treffen auf Deutsch-
phasen von der Natur- zur Kulturlandschaft« vorgelegt. In
land zu.« Mit 96 % deutlich an der Spitze lag die Angabe
dieser mit zahlreichen Karten, Grafiken und Tabellen an-
»Schöne Landschaft/Natur«. Bereits 2001 war diese Position
gereicherten Schrift wird nicht zuletzt auch ein konkretes
mit 95 % ähnlich. Die Menschen identifizieren sich also mit
Programm zur Pflege der lokalen Kulturlandschaft für die
der deutschen Kulturlandschaft.
Zukunft entwickelt und dargestellt!
Gestalt der Kulturlandschaft
259
Vom Erfahrungsschatz Freilichtmuseum Die Präsentation historischer Wohn- und Wirtschaftsformen
Wer sich für die historische Kulturlandschaft um 1800
auch das frühere Arbeits- und Sozialleben der Landbevöl-
oder 1900 interessiert, findet sie heute in »lebenden«
kerung dargestellt, wie z. B. die Viehhaltung, der Feld- und
Dörfern und bewirtschafteten Fluren nur noch in
Gartenbau, die handwerklichen Tätigkeiten, die Selbst-
Resten. Wer sie jedoch in »Reinkultur« kennenlernen
verwaltung mit Bürgermeister, Polizei und Feuerwehr, das
möchte, hat noch eine Chance: Er braucht nur in ein
dörfliche Brauchtum sowie das Leben mit Kirche, Schule,
Freilicht- oder Agrarmuseum zu gehen. Diese sind
Gasthof und Dorfladen. Die regionaltypischen Hofgrup-
inzwischen in allen Regionen Deutschlands anzu-
pen bzw. Dörfer sind häufig von historischen Nutzflächen
treffen. Sie zeigen nicht nur ganze Dörfer mit ihren
wie Gärten, Wiesen, Weiden, Äckern, Weinbergen und Tei-
Bauern-, Handwerker- und Kötterhäusern, Gasthöfen
chen umgeben. Daneben gibt es spezielle Interessenschwer-
und Läden mit kompletter Ausstattung, sondern auch
punkte wie vom Aussterben bedrohte Nutztierrassen und
die damit verbundenen Flur- und Bewirtschaftungs-
Nutzpflanzen. Neben den Freilichtmuseen bestehen heute
formen. Mit vielfältigen Aktionen des »belebten
in vielen Dörfern und Kleinstädten sehr verschiedenar-
Museums« werden alte Geräte und Maschinen bewegt
tige Heimatmuseen mit meist lokaler, bisweilen auch re-
und typische Alltagsszenen vergangener Zeiten nach-
gionaler Ausrichtung. Eine überregionale Ausrichtung ha-
gespielt.
ben beispielsweise die beiden deutschen Landwirtschaftsmuseen in Hohenheim bei Stuttgart und in Markkleeberg
In Deutschland gibt es heute über 80 Freilichtmuseen, die
bei Leipzig.
manchmal auch als Agrar-, Bauernhaus- oder Freilandmu-
Die Idee der Freilichtmuseen wurde in der zweiten Hälfte
seen bezeichnet werden. Diese Museen sind regional aus-
des 19. Jahrhunderts in Skandinavien entwickelt.216 Hinter-
gewogen über das Land verteilt und dokumentieren über-
grund war die Abwanderung der Bevölkerung aus ländli-
wiegend Themenbereiche der agraren Kulturlandschaft.
chen Regionen im Zuge der Industrialisierung und der fol-
Hauptaufgabe ist die konkrete Präsentation der historischen Siedlungs-, Wohn- und Wirtschaftsweisen einer Region. Im Mittelpunkt steht zunächst die landwirtschaftliche und handwerklich-gewerbliche Sachkultur mit ihren Gebäuden und deren Einrichtungen. Darüber hinaus wird
260
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Freilichtmuseen veranschaulichen die frühere Agrarkultur. Hier präsentieren »Bauern« in traditioneller Feldtracht historische Arbeitsgeräte bei einem Museumsfest im Freilichtmuseum Diesdorf in Sachsen-Anhalt.
gende Verfall von Gehöften und Kirchen auf dem Land. Das erste Freilandmuseum entstand unter dem Namen »Skansen« auf der Insel Djurgarden bei Stockholm. Die neue Museumsgattung verbreitete sich von hier aus bald auch nach Deutschland und in die ganze Welt. Von Beginn an war es für die Freilichtmuseen üblich, die verschiedenen Bestandteile einer historischen Kulturlandschaft zu translozieren, d. h. zu versetzen, und gelegentlich auch zu rekonstruieren. Der ideale Standort für ein Freilichtmuseum ist grundsätzlich aber die »In-situ-Lage«, d. h. die historische Kulturlandschaft wird an ihrem »gewachsenen Platz« präsentiert und mit Leben gefüllt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das »Thünen-Museum-Tellow« in Mecklenburg-Vorpommern, das ein nahezu komplett erhaltenes historisches Gutsdorf präsentiert (s. Abb. links). In idealer Weise kann hier das praktische und theoretische Lebenswerk des großen Agrarökonomen Heinrich
Im »Thünen-Museum-Tellow« präsentiert sich ein Gutsdorf an seinem gewachsenen Platz. Die Ankunft der Gutsfamilie 1810 in Tellow wurde 2010 nachgespielt.
von Thünen an dessen Wirkungsstätte von 1810 bis 1850 veranschaulicht werden. In Tellow entwickelte Thünen
liegt mitten in dem heutigen Dorf Illerbeuren. Mehrere
seine berühmte agrarwirtschaftliche Standortlehre, die bis
Gebäude des Museums stehen an ihrem ursprünglichen
heute in allen einschlägigen Lehrbüchern als »Thünen’sche
Standort und haben also in gewisser Weise eine Doppel-
Ringe« präsent sind.
funktion: als Teil des Museums und als Teil des Dorfes. The-
Ein anderes, sehr interessantes Beispiel ist das »Schwäbi-
menschwerpunkt des Illerbeurer Museums ist das 19. Jahr-
sche Bauernhofmuseum Illerbeuren«, das 1955 eröffnete,
hundert, das hier vor allem mit einer sehr umfangreichen
älteste Freilichtmuseum Bayerns. Das Museum könnte man
und qualitätsvollen Sachgutsammlung in den historischen
auch als »Dorf im Dorf« bezeichnen. Der Museumseingang
Gebäuden präsentiert wird.
Im sehr weitläufigen Westfälischen Freilichtmuseum in Detmold werden mit den historischen Bauwerken ganze Dorfanlagen rekonstruiert, an Tagen des belebten Museums backt hier der Dorfbäcker und hämmert der Dorfschmied.
Gestalt der Kulturlandschaft
261
Die deutschen Freilichtmuseen haben in den zurückliegenden 20 bis 30 Jahren – auch hier angeregt durch die skandinavischen Vorbilder – die Öffentlichkeitsarbeit zu einer primären Aufgabe gemacht. So werden regelmäßig Tage oder Wochen des »belebten Museums« durchgeführt, in denen alte Geräte und Maschinen bewegt, handwerkliche Produkte wie Teppiche, Eisennägel oder Holzschuhe hergestellt oder typische Alltagsszenen nachgespielt werden. Zum festen Bestand gehören heute auch integrierte gastronomische Angebote wie Dorfgasthäuser, Bäckereien und Läden sowie Informationsangebote mit allen modernen Medien. In wechselnden Ausstellungen werden z. B. die verschiedenen Dorfhandwerke und -gewerbe vorgestellt oder Themen wie die Jagd, Dorffeste oder die Ab- und ZuDie meisten Freilichtmuseen haben heute spezielle Lehr- und Aktionsprogramme für Kinder, hier wird eine Schulklasse durch das Freilichtmuseum Schwerin-Mueß in Mecklenburg-Vorpommern geführt.
wanderungen von Dorfbewohnern behandelt. Viele Angebote richten sich speziell an Kinder und animieren zum Mitmachen, z. B. zu alten dörflichen Spielen. Die Besucherströme zeigen, dass die Freilichtmuseen mit ihren vielsei-
Die in den letzten Jahrzehnten neu gegründeten Freilichtmuseen verfolgen immer häufiger einen ganzheitlichen Ansatz: Sie beziehen neben den Gebäuden und de-
Die heutigen Freilichtmuseen haben vielfältige Aufga-
ren Ausstattung auch die umliegende Kulturlandschaft in
ben zu erfüllen:
die museale Darstellung mit ein. Diesem Grundsatz ent-
– Sie erhalten, sichern und dokumentieren historische Ob-
spricht auch die in Frankreich entwickelte Idee des »Eco-
jekte (wie Bauernhäuser mit Inventar) oder Anlagen (wie
museums«, das als Einheit von ecology (Ökologie) und eco-
Gärten, Teichanlagen und Bergwerke). Darüber hinaus
nomy (Wirtschaft) verstanden wird. Dieser Museumstyp
befassen sie sich heute immer mehr mit der komplexen
arbeitet grundsätzlich in situ und bezieht bewusst verschie-
ökologischen, wirtschaftlichen und kulturell-sozialen
dene Außenstandorte in der Umgebung mit ein. Ein Bei-
Entwicklung der regionalen Kulturlandschaft.
spiel hierfür ist der »Museumsverbund Ecomuseum Zwickauer Land«.
217
Als Leit- und Zentralmuseum dient hier
– Sie präsentieren und veranschaulichen die historische Kulturlandschaft mit ihren Wohn-, Wirtschafts- und Le-
das »Deutsche Landwirtschaftsmuseum Schloss Blanken-
bensweisen. Des Weiteren erheben sie die Sensibilisie-
hain«, dessen Kern aus einem alten Rittergut mit anschlie-
rung und Bildung einer breiten Öffentlichkeit, gerade
ßendem Gutsdorf besteht. Das unmittelbare Umfeld des
auch von Kindern, zu ihrer wichtigsten Aufgabe.
Blankenhainer Museums wird in einem Radius von 10 km
– Die meisten Freilichtmuseen betreiben heute qualifi-
durch Lehrpfade und gezielte Wanderwege als »Museum
zierte Regional- und Grundlagenforschung. Sie befassen
in der Landschaft« erschlossen. Auf Informationstafeln, in
sich immer häufiger mit Sachbereichen, die an den Uni-
Broschüren und Führungen werden dann konkret sicht-
versitäten kaum noch Forschungsgegenstand sind, wie
bare Bodendenkmäler wie alte Hohlwege, Wehranlagen,
z. B. die Bauernhausforschung.
Mergelgruben oder historische Teichanlagen beschrieben
– Nicht zuletzt binden Freilichtmuseen ein breites Spek-
und erläutert. Neben diesem unmittelbaren Museumsum-
trum an Arbeitsplätzen (und häufig auch ehrenamtli-
feld gibt es im Rahmen des Museumsverbundes mehrere
chen Tätigkeiten) an den ländlichen Raum. Sie sind da-
Außenstellen wie das Technische Denkmal der ehemali-
her für die jeweilige Region nicht nur ein Kulturzent-
gen Brauerei Vielau oder das »Heimat- und Bergbaumus-
rum, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor.
eum Reinsdorf«.
262
tigen und interessanten Angeboten breite Bevölkerungskreise ansprechen.
Das moderne Dorf
Der Beginn der Dorfauflösung? Zunehmender Leerstand von Gebäuden in den Dorfkernen
»Wir haben keinen Leerstand!« So lautete bis vor
lange an. Durch die intensive Neubautätigkeit am Rande
wenigen Jahren noch die beschwichtigende Antwort
der Dörfer, durch Aussiedlungen von Höfen in die Feldflur
vieler Bürgermeister auf besorgte Fragen nach den
und die bald einsetzende Landflucht kam es bereits in den
bereits erkennbaren Bevölkerungsverlusten in den
1960er Jahren zu Leerständen in den Dorfkernen. Der Staat
Dorfkernen. Inzwischen ist es jedoch allen klar:
reagierte seinerzeit mit den einschlägigen Förderprogram-
Nach einer ersten Entleerungsphase in den 1960er
men der Dorfsanierung und Dorferneuerung. Mit »Auflo-
und 1970er Jahren ist es etwa seit der Jahrtausend-
ckerungen der Ortslagen« durch Gebäudeabrisse und neu
wende zu einer zweiten Leerstandswelle gekommen.
angelegte Dorfplätze, Grünanlagen und Parkplätze änder-
Die Probleme sind brennend und sie gehen an die
ten schon damals viele Dorfkerne ihr Gesicht.
Substanz des Dorfes. Vereinzelt macht sich bereits
Seit etwa 20 Jahren ist es in den meisten Dörfern Deutsch-
Resignation breit wie in dem Weiler Hamm in der Eifel.
lands zu einer erneuten Welle des Gebäudeleerstands ge-
Es gibt aber auch hoffnungsvolle Beispiele für eine
kommen. Sie ist offenbar »ultimativer« als jene in den
Wiederbelebung der alten Dorfkerne.
1960er und 1970er Jahren. Selbst in noch wachsenden Dörfern nimmt der Leerstand in den Kernen zu. Die Ursachen
Noch vor gut 50 Jahren waren alle Dörfer in Deutschland
hierfür sind vielfältig und bekannt. Seit Jahrzehnten wa-
im wahrsten Sinne des Wortes »voll«. Jeder Quadratmeter
ren die z. T. erheblichen Bauaktivitäten auf dem Land na-
wurde genutzt als Wohnungen für Menschen (in viel enge-
hezu ausschließlich auf immer neue Baugebiete an den
ren Räumen als heute), Ställe für Tiere, Speicher für Ernte-
Ortsrändern ausgerichtet. Es gehörte zum guten Image,
vorräte und Schuppen für Maschinen. Die damalige Voll-
sich »draußen« ein »modernes« Haus zu bauen. Die früher
heit der Dörfer hatte vor allem zwei Ursachen: Zum ei-
durch Landwirtschaft und Handwerk genutzten Gebäude
nen war die Bautätigkeit auf dem Land von etwa 1935 bis
in den Dorfkernen wurden in der Folge vielfach mehr und
1950 fast ganz zum Erliegen gekommen. Zum anderen
mehr vernachlässigt. Sie wurden teilweise und nur vorüber-
und Wichtigeren hatten fast alle deutschen Dörfer nach
gehend noch von älteren und sozial schwächeren Bewoh-
dem Zweiten Weltkrieg erhebliche Bevölkerungszuwächse durch Flüchtlinge und Heimatvetriebene aus dem Osten zu verzeichnen. Doch hielt diese Enge in den Dörfern nicht
Abbildung oben: Der alte Amtshof in Eicklingen bei Celle stand lange leer, 2005 wurde er nach Sanierung und Umnutzung wiedereröffnet.
Gestalt der Kulturlandschaft
263
nern genutzt und standen zuletzt immer häufiger leer. Eine
in Thüringen, Hardegsen in Thüringen oder Lommatzsch
Nachfolgenutzung der oftmals riesigen Gebäudekomplexe
in Sachsen. Selbst zahllose ehemalige (bedeutende) Mittel-
ist vielfach ungewiss. Ähnliches gilt für ehemalige Gast-
städte wie Merseburg oder Warburg in Westfalen sind von
höfe oder Dorfläden, die von ihren älteren Eigentümern
deutlichen Leerständen in ihren alten Stadtkernen betrof-
aufgegeben und nicht weitergeführt werden. Allmählich
fen. Zu den Bedeutungsverlusten und Leerständen in den
verschwindet auch die traditionelle bäuerliche und hand-
Klein- und Mittelständen haben häufig die staatlich ver-
werkliche Bevölkerung, die noch eine enge Beziehung zu
ordneten Verluste von Stadt-, Amts- und Kreisverwaltun-
den alten Gebäuden besaß. Die Dorfkerne mit Leerstand
gen (und deren Folgen) durch die staatliche verordneten
und ohne Infrastruktur werden nach und nach unattrak-
Kommunal- und Kreisgebietsreformen beigetragen.
tiv, und es entsteht so ein Teufelskreis. Niemand will in ei-
In einer dramatischen Reportage beschreibt Wolfgang
nem vernachlässigten Umfeld wohnen und investieren. Bei
Bauer im Focus-Magazin unter dem Titel »Das Ende der
den Eigentümern bestehen meist weit überzogene Vorstel-
Dörfer« exemplarisch den Niedergang der kleinen Ge-
lungen vom »Wert« ihrer Immobilie, sodass es nur selten
meinde Hamm im Eifelkreis Bitburg-Prüm.218 Von ehe-
zu Verkäufen und damit Neunutzungen kommt. Die Leer-
mals 76 Einwohnern leben noch 20, bis auf zwei Kin-
standsquote in deutschen Dörfern beträgt durchschnittlich
der sind alle über 50 Jahre alt. Vor 35 Jahren hatte Hamm
zwischen 20 und 35 %.
noch 15 schulpflichtige Kinder. »Die Alten haben den Jun-
Die Probleme leer stehender Gebäude in Dorfkernen
gen später große Häuser gebaut, geräumig, mit separa-
sind in West- wie in Ostdeutschland flächendeckend ver-
ten Wohnungseingängen, nur damit sie bleiben. Sie lock-
breitet. Gleichwohl gibt es regionale Unterschiede. Beson-
ten und warben. Doch es blieb kein Einziger.« Johann
ders betroffen sind zum einen die abgelegenen Landstriche
Marbach, bis 2009 Bürgermeister in Hamm, beschreibt be-
und zum anderen die Dörfer, in denen die großvolumigen
schwörend seinen Überlebenskampf für das Dorf: »Es kann
Bauernhäuser und Gehöfte vorherrschen, die oft nur mit
doch nicht alles umsonst gewesen sein. Alles, wofür man
großem Aufwand umzunutzen sind.
sein ganzes Leben gearbeitet hat.«219 Noch ärger als Hamm
Aus ähnlichen Gründen leiden Tausende von Kleinstäd-
hat es bereits den Nachbarort Staudenhof getroffen. Er ist
ten in ganz Deutschland unter erheblichem Leerstand in
im Jahr 2005 gänzlich aufgegeben worden, aus dem Leer-
den Kernen, wo sich die oft riesigen Gebäudekomplexe ehe-
stand sind nun Ruinen geworden. Die Wissenschaftler nen-
maliger Läden, Gasthöfe, Hotels, Schulen, Krankenhäuser,
nen den Ort jetzt eine »Wüstung«. Fast apokalyptisch um-
Stadt- und Kreisverwaltungen, Finanzämter und Amtsge-
schreibt Wolfgang Bauer das weitere Schicksal des ehema-
richte nur schwer umnutzen lassen. Beispiele sind Birken-
ligen Talweilers: »Von den Hängen herab kriecht der Wald,
feld in Rheinland-Pfalz, Brüssow in Brandenburg, Geisa
Äcker werden zu Wiesen, Wiesen zu Strauchwerk. Die Na-
Der Leerstand bedroht vielerorts die Dorfkerne. Bürger und Gemeinden sind aufgerufen, den Verfall aufzuhalten und die alte Mitte wiederzubeleben, hier ein positives Beispiel aus dem Dorf Herbram in Westfalen (vorher: 1994, nachher: 1996).
264
Das moderne Dorf
Die alte Küsterschule von 1811 am Kirchplatz in Kleinenberg/Westfalen stand leer und sollte abgerissen werden. Eine Bürgerinitiative sorgte für Renovierung und Umnutzung zum schmucken und beliebten Dorfgemeinschaftshaus.
tur nimmt sich, was einst eine Siedlung mit 128 Einwoh-
Aktivierung des innerörtlichen Potenzials« in Baden-Würt-
nern war.«
temberg. Das neue Motto der Kommunalpolitik »Innenent-
220
Obwohl diese extremen Beispiele noch nicht repräsen-
wicklung statt Außenentwicklung« ist für manche ländli-
tativ für Deutschland sind: Der gegenwärtige Leerstand in
chen Gemeinden noch ungewohnt. So zeigen die bisherigen
unseren Dörfern ist nicht mehr zu leugnen. Das Problem
Erfahrungen, dass man beispielsweise viel Geduld und Geld
ist aktuell und brisant, trotzdem herrschte zunächst vieler-
für die Beratung und konkrete Unterstützung der – meist
orts eine erhebliche Wahrnehmungsschwäche. Kollegen
älteren – Eigentümer der leer stehenden Immobilien in den
aus dem baden-württembergischen Ministerium für Er-
Ortskernen aufbringen muss, um eine Neunutzung auf den
nährung und Ländlichen Raum berichten von ihren ersten
Weg zu bringen.
Gesprächen mit den ländlichen Bürgermeistern in den Jah-
Die bereits abgeschlossenen Förderprojekte zur Wieder-
ren 2002/2003: »Wir haben keinen Leerstand«, war vielfach
belebung der Ortskerne machen Mut und regen zur Nach-
die spontane Reaktion. Aber letztlich betrug der Leerstand
ahmung an. Ein Beispiel ist das Dorf Münster bei Creg-
überall zwischen 20 und 35 %. Diese Quote dürfte heute in
lingen mit rund 250 Einwohnern. Mithilfe der MELAP -
deutschen Dörfern durchschnittlich anzutreffen sein. Inzwischen hat sich bundesweit die Auffassung durchgesetzt, dass die bauliche, infrastrukturelle und soziale Wiederbelebung der Dorfkerne zu den wichtigsten Aufgaben der Kom-
Aussiedlerhof
Arbeitsplätze in Zentralorten
Arbeitsplätze in der Region Rathaus (im Hauptort)
munalpolitik und der Fachbehörden auf dem Land gehören. Die meisten Bundesländer haben daher längst entsprechende Förderprogramme aufgelegt. Zwei Ziele will man mit der Fokussierung auf die Ortskerne erreichen: Man will die identitätsstiftende Mitte stärken und damit auch den Verfall der ortsbildprägenden Bausubstanz und Versorgungseinrichtungen wie Läden und Gasthöfe aufhalten. Zum anderen will man einen Beitrag zur Eindämmung des Landschaftsverbrauchs an den Ortsrändern – durch immer neue Baugebiete – leisten. Entsprechende Namen tragen auch die neuen Förderprogramme, wie z. B. das MELAP , das »Modellprojekt Eindämmung des Landschaftsverbrauchs durch
Versorgung mit Waren und Diensten Discounter Arbeitsplätze im Nachbardorf
Neubaugebiet
Grundschule Historischer Dorfkern
Gewerbegebiet
Haupt- und Realschule
Neubaugebiet
Dorfrand
Berufliche und weiterführende Schulen
Gottesdienst
Bedeutungsverluste der historischen Dorfkerne
Gestalt der Kulturlandschaft
265
Förderung von 2003 bis 2008 konnten mit insgesamt 24
abfinden. Mithilfe der Dorferneuerungsförderung wurden
konkreten Maßnahmen die vorhandene Bausubstanz mo-
zahlreiche Wohnhäuser im Ortskern saniert und ehema-
dernisiert und innerörtliche Baulücken geschlossen werden.
lige Landwirtschaftsgebäude zu Wohngebäuden umgebaut.
Bürgermeister Hartmut Holzwarth und Ortsvorsteher Kurt
Es folgten die Umnutzung der alten Schule zu einem Bür-
Thomas ziehen heute ihr Fazit: »Viele junge Leute kehrten
gerhaus und die Renovierung des historischen Backhauses.
Münster in den letzten Jahrzehnten den Rücken, insgesamt
Der Bevölkerungsrückgang konnte gebremst werden. Jetzt
ging die Einwohnerzahl um 34 % zurück. MELAP war der
liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 20 Jah-
entscheidende Anstoß für die Trendwende in Münster. Jede
ren bei 20,6 %, er ist in den zurückliegenden 20 Jahren –
dritte Familie hat sich beteiligt. Die Einwohnerzahl ist seit
entgegen dem allgemeinen Trend – sogar leicht gestiegen.
Projektbeginn im Jahr 2003 wieder um 20 Personen (8 %)
Der wichtigste Faktor für die Wiederbelebung Bärweilers
gestiegen. Der Anteil der Einwohner unter zehn Jahren ist
ist für den heutigen Bürgermeister Hans Gehm das Bürger-
um zwei Drittel gestiegen!«221
engagement und das reichhaltige sozial-kulturelle Leben
Ein anderes Beispiel ist das im Nordpfälzer Bergland gelegene Dorf Bärweiler. Seine besten Zeiten erreichte es of-
266
insbesondere der Vereine und der Kirchengemeinde. Seit 2004 geht die Verbandsgemeinde Wallmerod konse-
fenbar zur Mitte des 19. Jahrhunderts und nach dem Zweiten
quent gegen die weitere Verödung der hier besonders eng-
Weltkrieg (1864: 450 Einw., 1950: 420 Einw.). In den 1970er
bebauten Ortskerne vor. Statt Geld für neue Baugebiete
und 1980er Jahren ging die Bevölkerungszahl bis auf unter
am Rand der insgesamt 21 Dörfer auszugeben, werden alle
300 Einwohner zurück. Auch die Infrastrukturausstattung
Kräfte und Mittel für die Wiederbelebung des Dorfinneren
verschlechterte sich dramatisch: Die Schule schloss 1973, die
eingesetzt. Hierbei geht man bewusst und konkret auf die
letzte Gaststätte und der letzte Dorfladen in den 1980er Jah-
Wünsche der Interessenten ein: Um Platz für einen kleinen
ren. In einer Untersuchung der Universität Mainz von 1986
Garten am Wohnhaus zu gewinnen, darf man auch mal ei-
wurde in Bärweiler ein Gebäudeleerstand von fast 25 % fest-
nen alten Stall abreißen. Bis 2014 wurden bereits 150 För-
gestellt, in einer Vorausschau auf weitere 20 Jahre wurde
derprojekte realisiert, der Anfang ist gemacht bei etwa 800
sogar eine Leerstandsquote von 30–40 % prognostiziert. Der
Problemgrundstücken. Die Erfolge in allen Dörfern der
Name Bärweiler erschien daraufhin zunächst in einem
Verbandsgemeinde Wallmerod sind einmal finanziell mess-
wissenschaftlichen Aufsatz, dann in der Regionalzeitung
bar (1 Million Euro Ersparnis und null Flächenverbrauch)
und im Fernsehen, mit der Bezeichnung »sterbendes Dorf«.
als auch am gewandelten Image zu erkennen: Objekte in
Dieses Menetekel rüttelte die Dorfbewohner auf und mo-
den Dorfkernen sind hier wieder gefragt! Die Erfolgsge-
bilisierte sie zu ungewöhnlichen Anstrengungen und Ak-
schichte von Wallmerod hat sich bis heute (2019) fortge-
tionen. Man wollte sich mit dem vorgesehenen Ende nicht
setzt, inzwischen sind 350 Förderprojekte realisiert. Insge-
Ein leer stehender und zugenagelter ehemaliger Dorfladen in Eicklingen im Landkreis Celle zeigt das Kernproblem vieler Dörfer.
Bärweiler galt als aussterbendes Dorf. Durch Anpackkultur, im Bild ein Dorferlebnispfad, konnte die Gemeinde diesen Trend umkehren.
Das moderne Dorf
samt wurden von 2004–2019 bereits 60 Mill. Euro in die
ökonomischen Kosten von Absiedlungen beschäftigt und
Ortskerne investiert. Initiator und Motor der Entwicklung
festgestellt, dass auch aus volkswirtschaftlicher Sicht eine
ist Klaus Lütkefedder als Bürgermeister der Verbandsge-
Aufgabe von Dörfern für den Staat viel zu teuer ist223. Das
meinde Wallmerod. Sein Leitbild lautet: »Die Identifika-
vielleicht wichtigste Argument gegen das Abwracken klei-
tion der Bürger mit ihren Dörfern kommt aus dem Kern,
ner Dörfer: Die Beobachtungen zum Beispiel bei Wettbe-
deswegen ist bei uns der Dorfkern im Fokus. Ziel unserer
werben wie »Unser Dorf hat Zukunft« oder »Kerniges Dorf«
Initiative ist es, unsere Dörfer attraktiv und lebendig zu er-
zeigen immer wieder, dass gerade in kleinen Dörfern die
halten.« (Gespräch im Mai 2019)
Gemeinschaftsleistungen besonders hoch sind. Jedes Dorf –
Die seit Jahren schrumpfende Gemeinde Hiddenhau-
auch das kleine – verdient Respekt. Jedes Dorf hat reiche
sen im nördlichen Westfalen hat 2007 das kommunale För-
und immer wieder andere Werte: durch seine Naturnähe,
derprogramm »Jung kauft Alt« aufgelegt, um den Verfall
durch seine bauliche, kulturelle und soziale Geschichte und
der Altimmobilien und der Infrastruktur in den Dorfker-
Gegenwart, durch seine zahlreichen Menschen, die sich für
nen zu stoppen und zugleich den Freiflächenverbrauch zu
das Gemeinwohl einsetzen.
reduzieren. Die kommunale Förderung besteht im Wesent-
Die positiven Beispiele zeigen, dass und wie die Entlee-
lichen aus relativ kleinen finanziellen Anreizen (um die
rung der Dorfkerne aufgehalten werden kann: durch ge-
10 000 Euro pro Familie gestaffelt nach der Kinderzahl)
meinsame Anstrengungen der Bürger, der Kommunalpo-
und großem Informations- und Beratungseinsatz. Sie be-
litik und der einschlägigen Fachbehörden. Fehlt auch nur
ginnt mit der Erstellung eines Altbau-Gutachtens, um die
ein Glied in dieser Kette, droht der schleichende Prozess
Nutzungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Um-
der Entleerung weiterzugehen. Dass Dörfer auch durch Zu-
bau- und Sanierungskosten der leer stehenden Immobilien
wanderungen aufgefüllt werden können, ist gegenwärtig
abschätzen zu lassen. Bis 2015 wurden mit dem Programm
in einigen Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vor-
schon 323 Familien angelockt und gefördert, um alte Häu-
pommerns zu beobachten. Dort tragen besonders (Vor-)Ru-
ser in den Dorfkernen zu übernehmen anstatt auf der grü-
hestandswanderer aus Großstädten und Familien mit Kin-
nen Wiese ein Eigenheim zu errichten. Seit 2011 wurden
dern dazu bei, dass selbst abgelegene Dörfer kaum Leer-
keine Neubauflächen mehr ausgewiesen. Inzwischen gibt
stände aufweisen.
es in Hiddenhausen mehr Zu- als Wegzüge. Wegen des gro-
Bei der Umnutzung alter Bausubstanz rät Prof. Detlev
ßen Erfolgs hat der Rat der Gemeinde Hiddenhausen ein-
Simons grundsätzlich zur Flexibilität: »Nach dem Auszug
stimmig beschlossen, »Jung kauft Alt« unbefristet fortzu-
der Landwirtschaft aus den Orten ist die landwirtschaft-
führen.
. Zu den bundesweit für ihre erfolgreiche Leer-
liche Bausubstanz als typischer Bestandteil der Dörfer ge-
standsbekämpfung in den Dörfern bekannten Gemeinden
blieben. Damit dieser Bestandteil erhalten bleibt, sollte eine
gehören u.a. die Großgemeinde Illingen im Saarland und
Umnutzung so erfolgen, dass der Typ möglichst erhalten
die Gemeindeallianz »Hofheimer Land« in Unterfranken
bleibt. Das ist allerdings ein ›frommer‹ Wunsch, denn eine
in Bayern.
praktikable Umnutzung führt auch zu einer bedeutenden
222
Angesichts der Leerstände in vielen Landregionen wer-
Umwandlung der Bausubstanz. Hier sollten die Bau- und
den in der Raumordnung teilweise auch extreme Vor-
Denkmalbehörden nicht zu starr sein. Das ›Neue‹ muss Ein-
schläge diskutiert: zum Beispiel ganze Dörfer und struk-
zug halten können. Nur neue Funktionen können den Er-
turschwache Teilregionen Teilregionen ganz aufzugeben
halt der Dörfer sichern.«224�
und mit staatlicher Unterstützung, durch sog. »Abwrack-
Der alte Dorfkern als leere Hülle oder als lebendige
prämien«, zu begleiten und zu beschleunigen. Hilfreich
und das Ortsbild prägende Mitte – hier wird sich auch die
sind derartige Gedankenspiele über »Vorteile der geordne-
grundsätzliche Frage entscheiden, an welchem Leitbild
ten Wüstung« oder »die aktive Aufgabe eines Ortes« nicht.
sich das zukünftige »Dorf« des 21. Jahrhunderts orientieren
Ulf Hahne, Professor für Ökonomie der Stadt- und Regi-
wird: dem Leitbild des überlieferten Kerns oder dem der
onalentwicklung, hat dazu erhebliche ethische und recht-
Neubausiedlung am Rande.
liche Bedenken ausgeführt. Außerdem hat er sich mit den
Gestalt der Kulturlandschaft
267
Dorfpolitik
Einführung Die Entwicklung der Dörfer und des ländlichen Raumes
wertige Lebensbedingungen anzustreben. Dies ist gerade
wurde und wird in starkem Maße durch die Politik geprägt.
für den ländlichen Raum wichtig. Allerdings herrschte in
Die Politik für das Land ist für viele ein Labyrinth – sie ge-
der Raumordnungspolitik lange Zeit das Leitbild einer zen-
schieht auf verschiedenen Ebenen und in sehr unterschied-
tralstaatlichen Politik von oben nach unten, die dem ländli-
lichen Fachbehörden. Für alle Angelegenheiten der örtli-
chen Raum geschadet hat. Seit etwa 20 Jahren gilt nun (of-
chen Gemeinschaft ist in erster Linie die Kommunalpolitik
fiziell) das Leitbild der endogenen, sprich eigenständigen
zuständig, also Bürgermeister, Ortsvorsteher, Gemeinderat
Entwicklung. Der ländliche Raum soll sich wieder mehr an
und Verwaltung. Deren Aufgaben, Spielräume und Gren-
seinen gewachsenen Werten orientieren und sich mit eige-
zen werden hier im Folgenden dargestellt.
nen Kompetenzen und Kräften entwickeln und entfalten
Aber der ländliche Raum ist nicht autonom. Er erfährt in vielfacher Weise eine politische »Behandlung« durch die
Zu den für das Land besonders wichtigen Fachpolitiken
Parlamente und Ministerien des Bundes und der Länder.
gehört die moderne Agrarpolitik: Diese reicht von den um-
Diese führen die ländlichen Bürger und Kommunen durch
wälzenden Agrar- und Bodenreformen des 19. Jahrhunderts
ein enges Geflecht von Gesetzen, Vorschriften, Richtli-
bis hin zu den heutigen EU -geprägten Zielen gesunder
nien, Steuern und Förderprogrammen am »goldenen Zü-
Nahrungsmittel und einer nachhaltigen Entwicklung des
gel«. Nicht wenige sprechen auch von Bevormundung und
ländlichen Raumes. Auch die Fachpolitiken der Dorfver-
Fremdbestimmung. Ein Beispiel: Ob eine dörfliche Schule
schönerung, Dorfsanierung und Dorferneuerung hatten
heute weiter bestehen bleiben kann, entscheidet längst
und haben für das Dorf eine große Wirkung. Hier gab es
nicht mehr nur der lokale Gemeinderat.
noch vor wenigen Jahrzehnten Phasen, die stark von städ-
Es ist für das Verständnis des ländlichen Raumes wich-
tischen Vorbildern und einer geringen Wertschätzung der
tig, auch dessen komplexe Fernsteuerungen durch Bund
ländlichen Baukultur geprägt waren. Aber auch in diesem
und Länder kennenzulernen. Diese zeigen sich sowohl in
Bereich gelten längst neue Leitbilder: die der erhaltenden
der staatlichen Raumordnung als auch in diversen Fach-
und ganzheitlichen Dorferneuerung und Dorfentwicklung
politiken. Ein wesentlicher Grundsatz der Raumordnungs-
sowie eine über das einzelne Dorf hinausgehende regionale
politik ist das Ziel, in allen Teilräumen des Staates gleich-
Baukultur.
Abbildung Seite 268/269: Für die Politik des ländlichen Raumes ist der ständige Austausch zwischen »oben« und »unten« sehr wichtig, hier Peter Harry Carstensen als Ausschussvorsitzender für Ernährung im Deutschen Bundestag im Gespräch mit Bergbauern auf der Baumoosalm im oberbayerischen Sudelfeld.
270
dürfen.
Das moderne Dorf
»Wir geben keine Region auf!« Wie staatliche Raumordnung die ländliche Entwicklung steuert
Äußerst vielfältig sind die politischen Kräfte, die auf
sung der Raumordnung die typischen flächenbezogenen
den ländlichen Raum einwirken. Zu den am wenigsten
»Leistungen« wie Agrarproduktion, Ökologie und Umwelt
bekannten oder »sichtbaren« gehört die Raumord-
sowie Freizeit und Erholung.
nung – dabei hat sie ein großes Gewicht. So soll sie
Staatliche Raumordnung begann in Deutschland –
dafür sorgen, dass in allen Teilräumen unseres
wie auch die Raumordnung als Wissenschaft – vor etwa
Staates »gleichwertige Lebensbedingungen« herrschen.
100 Jahren. Man begründet ihre Notwendigkeit damals
Als kürzlich in den Medien wissenschaftliche Empfeh-
wie heute mit dem regional unterschiedlichen Wirtschafts-
lungen auftauchten, bestimmte abgelegene ländliche
wachstum und vor allem mit den Problemen der ausufern-
Gebiete nicht weiter zu fördern, wurde dies vom
den Großstadtregionen auf der einen und sich entleeren-
zuständigen Bundesminister Wolfgang Tiefensee ganz
der ländlicher Regionen auf der anderen Seite. Gesetzliche
entschieden mit den Worten zurückgewiesen: »Wir
Grundlage der Raumordnung in Deutschland ist heute
geben keine Menschen auf, wir geben kein Dorf auf.«
das Bundesraumordnungsgesetz (BROG ) von 1965 und das Bundesraumordnungsprogramm (BROP ) von 1975. Auf die-
Aber was genau macht die staatliche Raumordnung? Ver-
ser Basis haben die Bundesländer seit den 1970er Jahren ein-
einfacht ausgedrückt, entwickelt sie überörtliche und fach-
schlägige Landesplanungsgesetze und -programme ent-
übergreifende Leitvorstellungen von der Ordnung und Ent-
wickelt und immer wieder modifiziert. In den größeren
wicklung des gesamten Staatsgebietes. Diese sollen nicht
Ländern hat sich als weitere Planungsebene die Regional-
nur menschen- und umweltgerecht sein, sondern auch
planung etabliert, quasi als Bindeglied zwischen den zent-
der Wirtschaft dienen. Konkret bemüht sich die Raum-
ralstaatlichen Anliegen in Bund und Ländern und der Ge-
ordnungspolitik um eine Beseitigung der räumlichen Dis-
meindeplanung, die für die örtlichen Belange zuständig
paritäten, d. h. der Ungleichgewichte im regionalen Ge-
und verantwortlich ist.
füge des Staates. Wenn z. B. größere Landstriche noch nicht
Für den ländlichen Raum haben die Gesetze und Pro-
durch Autobahn- und ICE -Strecken oder Flughäfen er-
gramme der Raumordnung eine große Bedeutung. So heißt
schlossen sind und wirtschaftlich darunter leiden, arbeitet die Raumordnung auf eine Behebung dieser Defizite hin. Für den Gesamtstaat erfüllt der ländliche Raum nach Wei-
Abbildung oben: Autobahnen und ICE -Strecken erschließen das Land. Die staatliche Raumordnung sorgt für gleichwertige Lebensbedingungen.
Dorfpolitik
271
derung des Raumes führen: das Zentrale-Orte-Konzept, die Siedlungs- und Entwicklungsachsen, die Vorrang- und Sanierungsgebiete sowie die Raumgliederungen bzw. Gebietstypen. Das Zentrale-Orte-Konzept ist das wichtigste Instrument der Raumordnung und hat auch den ländlichen Raum bis heute stark geprägt. Zentrale Orte sind Siedlungen mit einem »Bedeutungsüberschuss« gegenüber dem Umland. Sie versorgen mit ihren öffentlichen und privaten Infrastruktureinrichtungen und Dienstleistungen (z. B. Krankenhäuser, Verwaltungen, Schulen oder Tageszeitungen) nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die Regionalbahnen sind für das Land besonders wichtig, weil sie die Dorfregionen mit den regionalen Klein-, Mittel- und Großstädten verbinden.
von Nachbarorten. Der Geograph Walter Christaller hatte
es im Bundesraumordnungsprogramm von 1975 wörtlich:
gleichmäßig über das Land verteilt und in einem hierar-
»Gleichwertige Lebensbedingungen im Sinne dieses Pro-
chischen System miteinander verküpft sind. So umschließt
gramms sind gegeben, wenn für alle Bürger in allen Teil-
ein Zentralort der höheren Stufe in seinem Verflechtungs-
räumen des Bundesgebietes ein quantitativ und qualitativ
bereich in der Regel mehrere Zentralorte der nächst niedri-
angemessenes Angebot an Wohnungen, Erwerbsmöglich-
geren Stufe. Drei übereinanderliegende Ebenen von zentra-
keiten und öffentlichen Infrastruktureinrichtungen in zu-
len Orten werden unterschieden: Oberzentren, Mittelzent-
mutbarer Entfernung zur Verfügung steht und eine men-
ren und Unter- bzw. Grundzentren.
1933 am Beispiel von Süddeutschland »entdeckt«, dass zentrale Orte unterschiedlicher Größe und Bedeutung recht
schenwürdige Umwelt vorhanden ist: in keinem dieser Be-
Die von Christaller beobachtete und beschriebene »Ge-
reiche soll ein bestimmtes Niveau unterschritten werden.
setzmäßigkeit« zentraler Orte wurde dann in den späten
[…] In den ländlichen Gebieten sind wirtschaftlich und
30er und frühen 40er Jahren von ihm als »wissenschaft-
infrastrukturell den übrigen Teilräumen entsprechend
liches Prinzip« in die aktive Raumordnungspolitik ein-
gleichwertige Lebensbedingungen anzustreben.«
geführt und zum ersten Mal in die Praxis umgesetzt, und
225
Aus diesen Leitforderungen ergibt sich das Prinzip der
zwar bei der »Überplanung« der »eingegliederten Ostge-
»Aktivsanierung«, das die Raumordnung gerade für den
biete« östlich der Oder. Gut 20 Jahre nach seinem »Vorlauf«
ländlichen Raum bislang nie infrage gestellt hat. Aktiv-
im Dritten Reich wurde das Zentrale-Orte-Konzept dann
sanierung bedeutet, dass die staatliche Förderung in be-
in Westdeutschland flächenhaft in die Praxis umgesetzt. Es
nachteiligten Gebieten so lange stattzufinden hat, bis eine
wurde zum wichtigsten Instrument der Raumordnungspo-
Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen mit den übrigen
litik und zur Basis der dann folgenden kommunalen Ge-
Teilregionen erreicht ist. Die in Deutschland bislang nur
bietsreformen, zunächst in den meisten Ländern in West-
theoretisch diskutierte »Passivsanierung« würde bedeuten,
deutschland und nach der Wiedervereinigung auch in Ost-
dass der Staat den wirtschaftlichen, infrastrukturellen und
deutschland. Es hat die die kommunalpolitische Landschaft
demographischen Niedergang von Teilregionen ohne Ge-
in Deutschland grundlegend verändert.
gensteuerung hinnähme.
272
Durch von oben diktierte kommunale Gebietsreformen
Die Raumordnung hat im Verlauf der letzten Jahrzehnte
verloren in Deutschland ab den 1960er Jahren bis heute
mehrere räumliche bzw. formale Instrumente entwickelt,
über 20 000 Landgemeinden ihre kommunale Selbststän-
die auf den ersten Blick harmlos erscheinen, aber doch
digkeit mit Bürgermeister und Gemeinderat. Sie wurden zu
kräftig in die Entwicklung ländlicher (und städtischer) Re-
ohnmächtigen »Ortsteilen« in oft riesigen, willkürlich zu-
gionen eingreifen. Wir unterscheiden vier verschiedene In-
sammengefügten Groß- bzw. Einheitsgemeinden. Deutsch-
strumente, die prinzipiell jeweils zu einer formalen Glie-
landweit wurden mit den Gebietsreformen über 300 000
Das moderne Dorf
Auch die Erhaltung und Entwicklung der Kulturlandschaft, wie hier der Mecklenburgischen Seenplatte mit dem Müritzsee, ist ein wichtiges Anliegen der Raumordnung.
ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker »entlassen«. Ih-
lers in der deutschen Raumordnungspolitik wird heute –
nen wurde vom Staat signalisiert: »Wir brauchen Eure lo-
mit großer Verspätung – sehr kritisch beurteilt. Der Wal-
kale Kompetenz; Euer Denken, Fühlen und Handeln für
ter-Christaller-Preis für verdiente Raumordner wurde vor
Euer Dorf nicht mehr!« Der Herrschaftsanspruch der Zen-
wenigen Jahren mit kurzer Begründung abgeschafft. End-
tralorte gegenüber den sog. nicht-zentralen Orten ist von
lich kommt es in den betroffenen Fächern Geographie und
Christaller mit dem »Führerprinzip«, mit »führenden und
Raumordnung mehr und mehr zu einer breiteren öffentli-
folgenden Siedlungseinheiten« begründet worden (1940
chen Reflexion seiner Person und seiner nachhaltig negati-
und 1943). Die west- und ostdeutschen Gebietsreformen der
ven Wirkung für unser Land. Was freilich nicht einfach ist,
letzten Jahrzehnte atmen also den Geist einer Diktatur. Und
denn immer noch sitzen zahllose Promovierte und Habili-
sie entsprechen nicht dem heutigen demokratischen Staats-
tierte, die dem Zentrale-Orte-Steuerungsmodell verpflich-
aufbau von unten nach oben, dem immer wieder geforder-
tet waren, in den Zentralen der Macht in Politik und Ge-
ten Subsidiaritätsprinzip, dem Prinzip einer vom Bürger
sellschaft.
mitgetragenen Demokratie. Die Entlarvung des Zentrale-Orte-Modells als »Wissen-
Inzwischen ist durch zahlreiche neue Studien belegt worden, dass Gebietsreformen keine finanziellen Einspa-
schaft« ist bereits vor Jahrzehnten erfolgt (vgl. u.a. Henkel
rungen, aber verheerende demokratische, infrastruktu-
und Stiens 1990). Die unrühmliche Rolle Walter Christal-
relle und soziale Verluste verursacht haben und weiter ver-
Dorfpolitik
273
derten aufgebaute und funktionsfähige Einrichtungen in Dörfern und Kleinstädten beseitigt wurden. Das ZentraleOrte-Muster wurde zu einer Politik der Zuordnungen, der Normsetzungen, der Fernsteuerung, generell einer demokratiefeindlichen Politik von oben nach unten. Das in der Raumordnung bis heute angewendete Zentrale-Orte-Konzept wird inzwischen vielfach kritischer betrachtet als noch vor 40, 50 oder 70 Jahren. Vor allem wird es als ein zu starres System angesehen, das der Wirklichkeit der Städte und Dörfer nur selten gerecht wird und außerdem Entwicklungsprozesse behindert. So wird generell kritisiert, dass es sich um kein wissenschaftliches Modell handelt. Auch Ulrich Brösse stellt fest, »dass es keine wissenschaftlich eindeutig nachweisbaren Kriterien für die Bestimmung von Zentralität gibt«.226 Gerade für den ländlichen Raum ist das Zentrale-Orte-Konzept höchst unbefriedigend. Es erfasst nur einen Bruchteil der ländlichen Siedlungen (als zentrale Orte); die weit überwiegende Mehrheit der Dörfer wird als zu vernachlässigende Restkategorie (der Die Internationale Bauausstellung (IBA ) Fürst-Pückler-Land betrieb von 2000 bis 2010 die Rekultivierung und Renaturierung der ausgedienten Braunkohlegebiete in der Lausitz. Hier bei Großräschen entsteht der Ilse-See, eine 63 Meter lange Seebrücke aus einem ausgedienten Tagebaugerät wurde bereits installiert.
sog. »nicht zentralen Orte«) abqualifiziert. Nach Gerhard Stiens dienen die dem ländlichen Raum aufgezwungenen zentralörtlichen Gliederungen vorrangig den Herrschaftsinteressen der staatlichen Administration und schaden der großen Masse der deutschen Dörfer.227
ursachen
. Durch Langzeitstudien wissen wir, dass selb-
Neben den zentralen Orten legt die Raumordnung auch
ständig gebliebene 1000-Einwohner-Dörfer in Bayern sich
die großräumigen Siedlungs- und Entwicklungsachsen
225a
in ihrer Bevölkerungs-, Infrastruktur- und Immobilien-
fest. Dabei geht es um ein lineares Ordnungsprinzip, das im
wertentwicklung besser entwickelt haben als gleich große
Wesentlichen die wichtigen Verkehrsbänder wie Straßen,
eingemeindete Dörfer. Trotz all dieser Erkenntnisse und
Schienen und Kanäle umfasst. Die großräumigen Ach-
gewandelter Leitbilder werden Gebietsreformen weiter be-
sen sollen die Verdichtungsräume miteinander verbinden
trieben wie zuletzt in Thüringen und Brandenburg. Hier
und auch den ländlichen Regionen Entwicklungsimpulse
sehen die betroffenen Bürger, dass die zuständigen Bürger-
bringen. Verkehrsachsen niederer Ordnung werden von der
meister weit entfernt residieren und dass ihr lokales und de-
Landes- und Regionalplanung festgelegt. Neben den punkt-
mokratisches Denken und Handeln in Dörfern und Klein-
und linienhaften Modellen der zentralen Orte und Ach-
städten nicht mehr gefragt ist. Das Vertrauen gegenüber
sen gibt es in der Raumordnung auch noch das flächenbe-
dem Staat schwindet, Ohnmachtsgefühle und Wut stellen
zogene Ordnungsmuster der Vorrang- und Entwicklungs-
sich ein. Nicht- und Protestwähler sind die Folge. Gebiets-
gebiete – z. B. für ökologischen Ausgleich, Rohstoff- und
reformen haben der Mehrheit der deutschen Dörfer und
Wasservorkommen, Freizeit und Erholung. Die zahlreichen
Kleinstädte durch die Wegnahme ihrer Selbstverantwor-
Natur- und Nationalparke lassen sich hier einordnen.
tung großen Schaden zugefügt und damit zugleich eine bestehende demokratische Basis des Staates beseitigt. Nach den kommunalen Gebietsreformen folgten auch
274
Die Bilanz der bisherigen Raumordnungspolitik für den ländlichen Raum ist eher ernüchternd. Der Abbau von Ungleichgewichten zwischen starken und schwa-
im Schul-, Polizei- und Postbereich »Reformen« nach den
chen Teilregionen war wenig erfolgreich. Dies stellen die
gleichen Prinzipien mit dem Ergebnis, dass in Jahrhun-
Raumordnungsberichte des Bundes und der Länder sowie
Das moderne Dorf
wissenschaftliche Analysen immer wieder fest. Auch die Prognosen gehen nicht davon aus, dass sich z. B. die Strukturschwächen abgelegener ländlicher Regionen kurz- oder mittelfristig verbessern werden. Trotz generell gleichbleibender Leitbilder und Instrumente ist daher in der Raumordnung seit etwa 20 Jahren ein (zumindest verbaler) Paradigmenwechsel, d. h. ein Wechsel von einer Grundauffassung zu einer anderen, festzustellen. Man hat erkannt, dass zentralstaatliche, standardisierte Problemlösungen, die »von oben nach unten« diktiert werden, den unterschiedlichen Bedürfnissen auf dem Land nicht mehr gerecht werden und außerdem politisches Kapital verschenken. Heute gilt offiziell das Leitbild der endogenen bzw. regional angepassten Entwicklung, das erstmals im Raumordnungsbericht von 1990 auftaucht. Dieses Konzept will die Kompetenzen und das Engagement der Bürger und Politiker auf dem Land stärker als bisher in die Politik einbringen. Erste konkrete Konzepte »von unten« finden sich z. B. in der kommunalen und regionalen Energieversorgung und beim öffentlichen Nahverkehr. Hoffnung machen auch die neuen »Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland« von 2006.
Alle Regionen Deutschlands bieten eine erhaltenswerte Lebensqualität, hier das Dorf Apfeldorf im bayerischen Alpenvorland.
Hierin wird die »Sicherung und Gestaltung der gewachsenen Kulturlandschaft« als ein herausragendes Leitbild
Regionen nicht mehr zu fördern, entgegnete der zustän-
der Raumordnung genannt. Mit dieser neuen Zielvorgabe
dige Bundesminister Wolfgang Tiefensee kategorisch: »Wer
weist der Staat dem ländlichen Raum eine Hauptrolle zu.
Regionen aufgeben will, der gibt die Menschen darin auf.
Zur weiteren Realisierung der endogenen Entwicklung
Wissenschaftler können so etwas fordern. Politik aber muss
und Kulturlandschaftsgestaltung benötigt die regionale
es verhindern! Der Staat ist der Einzige, der die öffentliche
und kommunale Politik jedoch größere Spielräume. Das
Daseinsvorsorge auch in vom Bevölkerungsrückgang be-
bedeutet vor allem, dass die kommunalen Verwaltungen
troffenen Regionen sichern kann. Soll die alte Frau, die sich
der Kreise und Gemeinden auf dem Land gestärkt werden
an ihr Dorf, ihr Häuschen, ihr Tomatenbeet klammert, ins
müssen.
Pflegeheim im Oberzentrum verfrachtet werden? Ist das
Die grundsätzliche (akademische) Frage, ob die Entwick-
ein demokratisch-sozialer Gestus, oder nicht ein ganz ande-
lung des ländlichen Raumes in den letzten 50 Jahren ohne
rer? Wir werden diese Regionen aber nicht nur weiter för-
die Raumordnungspolitik besser oder schlechter verlaufen
dern um der dort Lebenden willen. Wir werden diese wun-
wäre, lässt sich nicht pauschal beantworten. Bewährt ha-
derschönen Landschaften nicht verloren geben, sondern ih-
ben sich mit Sicherheit die im Grundgesetz und Bundes-
nen eine Zukunft ermöglichen.«228 Ganz ähnlich äußerte
raumordnungsgesetz verankerten Leitbilder, gleichwer-
sich diesbezüglich der ehemalige zuständige Bundesminis-
tige Lebensbedingungen in allen Teilregionen des Landes
ter Ramsauer: »In Deutschland gilt das Ziel gleichwertiger
anzustreben. Diese Idealvision bietet einen ständigen An-
Lebensverhältnisse. Wir geben keine Region auf.«229 Konse-
reiz zum Nachdenken und Handeln. Und die Raumord-
quente, mutige Worte, die gerade für den strukturschwa-
nung hält daran fest, bis heute! Als kürzlich Wissenschaft-
chen ländlichen Raum Hoffnung machen!
ler dieses Leitbild der gleichwertigen Lebensbedingungen zur Diskussion stellten und forderten, bestimmte ländliche
Dorfpolitik
275
Abstufungen des Ländlichen Die drei ländlichen Raumtypen
Den einheitlichen ländlichen Raum gibt es nicht,
nicht vor. Auch das folgende Schema zur Gliederung der
wie es das einheitliche Dorf nicht gibt. Das ist mittler-
Siedlungsstruktur des Bundesgebietes, das in der Bundes-
weile eine Binsenweisheit in Wissenschaft und Politik.
raumordnung festgelegt ist, orientiert sich an den Kreis-
Doch wie viele ländliche Räume können oder wollen
grenzen.
wir unterscheiden? Die Bundesraumordnung legt sich
Zunächst werden von der Raumordnung für das gesamte
auf drei Grundtypen fest, die überall im Land anzu-
Bundesgebiet drei übergeordnete Raumtypen unterschie-
treffen sind. Sie könnten kaum unterschiedlicher sein –
den: Agglomerationsräume mit ihrem Umland, Regionen
wie die darin liegenden Dörfer Grevel, Windesheim und
mit Verstädterungsansätzen und ländlich geprägte Regi-
Bärweiler. Für die Politik stellen sich hier jeweils
onen. Innerhalb dieser drei Haupttypen wird dann weiter
andere Aufgaben.
differenziert und z. B. das ländliche Umland von verstädterten Gebieten ausgewiesen. Kriterien dieser Abgrenzun-
Die Raumordnung hat neben dem Gesamtraum des Staa-
gen sind die Bevölkerungsdichte sowie die Zentralität der
tes immer auch dessen Teilregionen im Blick. Wichtig für
Städte. Fasst man alle ländlichen Gebiete in den drei Raum-
den ländlichen Raum ist natürlich die Frage seiner Abgren-
typen zusammen, ergibt sich, dass sie rund 90 % der Flä-
zung von städtischen Gebieten. Auch damit befasst sich die
che und 54 % der Bevölkerung des Bundesgebietes ausma-
Raumordnung in Wissenschaft und Politik, wobei jedoch
chen. Es soll an dieser Stelle nur darauf aufmerksam ge-
nur selten Einigkeit erzielt wird. Ein grundlegendes Pro-
macht werden, dass es für die Statistiker der Raumordnung
blem solcher Abgrenzungen besteht darin, dass als kleinste
ein Leichtes ist, die ländlichen Räume im gesamten Staats-
Einheit meist einfach die Kreise herangezogen werden.
gefüge »kleiner« zu machen – z. B. durch eine Absenkung
Derart kleinmaßstäbige Übersichten müssen naturgemäß
der Schwellenwerte der Bevölkerungsdichte für die zu defi-
stark verallgemeinern und dabei z. B. Unterschiede zwi-
nierenden ländlichen Gebiete. Was hin und wieder passiert
schen Stadt und Land innerhalb von (oft riesigen) Kreisen
mit dem Ergebnis, dass ländliche Gebiete wie große Teile
verwischen. Die beste Möglichkeit wäre eine Abgrenzung
des Sauerlandes, des Münsterlandes, des Emslandes, Nord-
auf Gemeindebasis oder sogar auf der Basis jeder einzelnen Siedlung. Solche großmaßstäblichen Übersichten zur Abgrenzung städtischer und ländlicher Gebiete liegen jedoch
276
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Bärweiler ist ein abgelegenes Dorf und damit ein »Sorgenkind« der Raumordnung.
und Mittelhessens, Baden-Württembergs und Bayerns auf Karten der Raumordnung plötzlich als »halbstädtisch« (und damit nicht mehr als »ländlich«) erscheinen. So war es in einem FAZ -Artikel vom 31. 5. 2005 230 auf einer beigefügten Karte abzulesen. Hier ein Auszug meiner knappen Antwort darauf: »Den Aussagen des Artikels ›Keine Landliebe mehr‹ (F. A. Z. vom 31. Mai) muß widersprochen werden: Nur noch 15 Prozent der Bevölkerung sollen demnach auf dem Land leben. […] Mit welcher Berechtigung werden alle ländlichen Gebiete ab 100 (bis 500) Einwohner je Quadratkilometer als ›halbstädtisch‹ bezeichnet? Wem nutzt dieses Kunstwort? […] Es gibt bessere, weil differenziertere Abgrenzungen des ländlichen Raumes. Dann ist er auch nicht mehr so klein, wie die genannte Statistik uns weismachen will.«231 Entsprechend der siedlungsstrukturellen Dreigliederung des Bundesgebietes unterscheidet man in der Raumordnung allgemein drei Typen von ländlichen Räumen: Typ A Ländliche Räume am Rande von Agglomerationen,
Grevel liegt am Rand der Agglomeration Ruhrgebiet. An vielen Stellen wurde hier der ehemals dörfliche Charakter durch Wandverkleidungen und größere Mietshäuser und Garagenbauten verändert.
Typ B Ländliche Räume im Umfeld leistungsfähiger Oberzentren, Typ C Periphere, dünn besiedelte ländliche Räume ohne leistungsfähige Oberzentren.
haben sich quasi in einen großen Siedlungsbrei verwandelt. Dies hat auch Auswirkungen auf das Sozialgefüge und lokale Engagement, urbane Lebensstile setzen sich verstärkt durch. Hinsichtlich ihrer Überformung unterscheidet Jo-
Diese drei Grundtypen ländlicher Räume unterscheiden
hann Jessen�drei Dorftypen232:
sich nicht nur im Siedlungs- und Landschaftsbild. Sie wei-
1. Das »geschluckte« Dorf ist bereits ein Teil der Großstadt,
sen auch sehr unterschiedliche ökonomische, infrastruktu-
die ehemals dörfliche Bausubstanz weitgehend ver-
relle sowie kulturelle und soziale Merkmale auf. Entspre-
schwunden. Beispiele sind Eppendorf in Hamburg oder
chend andersartig werden die Entwicklungschancen und
Schöneberg in Berlin.
-probleme für die Zukunft beurteilt. Der Politik stellen sich
2. Im (oft mehrfach) »überformten« Dorf stehen in unmit-
daher in den verschiedenen ländlichen Raumtypen jeweils
telbarer Nachbarschaft großstädtische Wohn- und Ge-
andere Aufgaben. Wie jede knappe Gliederung der komple-
werbesiedlungen neben inselhaften alten Dorfkernen.
xen Wirklichkeit, müssen die folgenden Ausführungen zu
3. Beispiele für das »geschützte« Dorf sind die Weindörfer
den drei Grundtypen ländlicher Räume stark verallgemei-
Uhlbach und Rotenberg in Stuttgart oder Dorflagen im
nernd ausfallen!
Alten Land nahe Hamburg.
231a
Typ A Ländliche Räume am Rande von Agglomerationen:
Das Beispiel Grevel (am Rande von Dortmund) gehört zu
Die Nähe zu Großstädten und Verdichtungsgebieten bringt
den überformten Dörfern. Hier zeigt sich, wie eine vor 60
zugleich Vorteile und Nachteile. Zwar haben die Bewoh-
Jahren noch rein landwirtschaftlich genutzte Gemarkung
ner dieses ländlichen Umfeldes kurze Wege zu den hoch-
in wenigen Jahrzehnten durch Ansprüche der nahen Groß-
wertigen Arbeitsplatz- und Infrastrukturangeboten der na-
stadt massiv überformt wurde: durch eine Trabantenstadt
hen Zentren. Das größte Problem ist aber der immer noch
für 30 000 Einwohner, durch eine städtische Abfalldeponie,
wachsende Druck der Großstädte auf die noch freien Flä-
durch eine Trasse mit Endhaltepunkt der Stadtschnellbahn,
chen. Schon jetzt sind zahlreiche Dörfer so stark überformt
durch einen Bezirksfriedhof (s. Abb. oben). Auf der Strecke
worden, dass man sie als solche gar nicht mehr erkennt. Sie
blieben neben den baulichen und sozialen Dorfstrukturen
Dorfpolitik
277
hilfe zur nachhaltigen Dorfentwicklung im Großraum Hannover von Jörg Knieling.233 Hier eine Stimme aus eialter
1950
nem betroffenen Dorf selbst: Prof. Dr. Reinhold E. Lob, der
Dorfbereich 0
1000 m
seit Jahrzehnten in Grevel lebt, antwortet auf die Frage, ob sich die lokale Bevölkerung als Dorf fühlt und was man in Zukunft von der Kommunalpolitik erwartet: »Die meisten Bewohner unseres nördlichen Dortmunder Vorortes – sowohl Alteingesessene wie auch die in den letzten Jahrzehnten Hinzugezogenen – bezeichnen Grevel noch gern
Gemarkungsgrenze Wald Garten, Wiese, Weide Ackerland Park Industriebrache der Zeche Gneisenau
Verluste an Landwirtschaftsfläche 1950–2019 durch: 3 4
3
2019
2 7
7
umgesiedelter Hof
8 6
5
1a Alt-Scharnhorst 1b Trabantenstadt Neu Scharnhorst 2 Bezirksfriedhof 3 Städtische Abfalldeponie 4 Bergehalde der Zeche Gneisenau 5 Schrebergarten 6 Aufforstungen 7 Stadtschnellbahn 8 Gärtnerei
5 5
6
1a 1b
Verlorene landwirtschaftliche Nutzfläche 6
und das dörfliche Handwerk ist nahezu ganz verschwunden. Aber die räumliche und soziale Überschaubarkeit, lebendige Nachbarschaft sowie die zahlreichen noch erhaltenen ehemals landwirtschaftlichen Gebäude, der ländliche Pferdesport, aber auch das noch grüne Umfeld mit Weiden, Waldparzellen und Ackerland sind wohl die Ursachen dieser Einschätzung. Ich wünschte mir von der Kommunalpolitik einen behutsameren Umgang mit diesen stadtrandnahen ›Wunschdörfern‹, sowohl bei der baulichen Gestaltung im Inneren als auch bei der Bebauung und Umnutzung im Randbereich, und keine bloße Einstufung als ›Flächenreservepotenzial‹ der Großstadt.«234 Typ B Ländliche Räume im Umfeld leistungsfähiger
5
1b
als ›Dorf‹. Bäuerlich sind zwar nur noch zwei Familien,
zw. 1950 und 1970
Oberzentren: Dieser mittlere ländliche Raumtyp erfährt die Vorzüge von Stadt und Land – und kaum deren Nach-
zw. 1970 und 1990
teile. Durch die Nähe zu einem Oberzentrum kann er des-
zw. 1990 und 2019
sen hochwertige Arbeitsplätze und Dienstleistungen nutzen und zugleich die Vorteile des Landes wie Ruhe, sau-
Dortmund-Grevel 1950 und 2019, ein Dorf am Rande des Ballungsraumes im Wandel.
bere Luft, dörfliches Leben und schöne Kulturlandschaft genießen. Die spezifischen Nachteile sowohl der Verdichtungsgebiete als auch von abgelegenen Regionen wie Um-
278
vor allem die Freiflächen für die Land- und Forstwirtschaft,
weltbelastungen oder Verkehrsferne und fehlende Arbeits-
die Erholung, den landschaftlichen Kontrast und ökologi-
plätze müssen hier in der Regel nicht in Kauf genommen
schen Ausgleich. Trotz dieser Verluste fühlen sich die meis-
werden. Da Deutschlands Städtenetz sehr dezentral entwi-
ten Einwohner in den großstadtnahen Orten wie Grevel,
ckelt ist, ist dieser ländliche Raumtyp weit verbreitet. Bei-
welches zu Dortmund gehört, weiterhin als Dorfbewohner
spiele sind das Umland von Würzburg, Münster, Kiel, Er-
und pflegen entsprechend ihr ländliches Brauchtum. Die
furt und Ulm. Meist sind die regionalen Oberzentren noch
politischen Strategien für die Zukunft zielen auf den Erhalt
von einem Netz an Mittelzentren umgeben, die ebenfalls
der noch vorhandenen Reste ab, d. h. konkret: auf eine Si-
diesem ländlichen Raumtyp zugutekommen. Ein Beispiel
cherung der Freiräume und Grundwasserschutzgebiete, der
für diesen ländlichen Raumtyp ist das Dorf Windesheim in
Kultururlandschaftselemente und des historischen Dorf-
der Pfalz. Der Ort ist in den letzten Jahrzehnten an Sied-
ensembles. Wie dies aussehen könnte, zeigt eine sehr an-
lungsfläche und Einwohnern kräftig gewachsen, nicht zu-
regende und mit konkreten Beispielen versehene Planungs-
letzt auch durch städtische Zuwanderer. Das Gros der Be-
Das moderne Dorf
Windesheim liegt im Einzugsbereich einer Großstadt. Der Blick in die Dorfstraße zeigt, dass dieser ländliche Zentralort schon etwas kleinstädtische Züge trägt.
völkerung fährt zum Arbeiten täglich in die benachbarten
gliedert. Von einem Kollegen stammt der Vorschlag, den am
Klein- und Mittelstädte bis hin zum zugehörigen Oberzen-
dünnsten besiedelten Raum als den »ländlichsten Raum« zu
trum Mainz. Von der Raumordnung werden die ökonomi-
bezeichnen. Die ländlichen Regionen dieses Raumtyps sind
schen und sozialen Entwicklungsperspektiven dieses länd-
vor allem durch ihre abgelegene Verkehrslage und geringe
lichen Raumtyps generell als günstig eingestuft. Allerdings
Bevölkerungsdichte geprägt. Dazu kommt häufig ein Man-
zeigen sich bereits Gefährdungen in Richtung zweier Ten-
gel an Arbeitsplätzen und Infrastruktur. Diese erheblichen
denzen: In Großstadtnähe ist es deren Siedlungsdruck, in
Nachteile können die vorhandenen und auch wertgeschätz-
weiter abgelegenen Gebieten sind es hingegen Dörfer mit
ten Vorzüge der schönen und naturnahen Landschaft nicht
zunehmenden Leerständen.
ausgleichen. Zentrales Problem ist die Abwanderung vor allem der jungen Bevölkerung. Gebäudeleerstände und Aus-
Typ C Periphere, dünn besiedelte ländliche Räume ohne
dünnungen der Infrastruktur wie Schule oder Gasthof sind
leistungsfähige Oberzentren: Seit der Wiedervereinigung
oft die Folge. Als Beispiele können hier das kleine Dorf Bär-
und der damit verbundenen Einbeziehung der besonders
weiler oder der Weiler Hamm genannt werden235.�Während
dünnbesiedelten Regionen in Mecklenburg-Vorpommern
die Stimmung in Hamm derzeit von einer gewissen Resig-
und Brandenburg wird dieser Raumtyp meist noch unter-
nation geprägt ist, kämpft Bärweiler seit etwa 20 Jahren er-
Dorfpolitik
279
folgreich gegen seinen Niedergang. Die Zukunftsaussichten
len, der dem ländlichen Raumtyp B zugeordnet wird, meh-
des peripheren ländlichen Raumtyps werden generell kri-
rere Gemeinden bzw. Dörfer, die eigentlich dem Raumtyp
tisch beurteit. Alle Politikbereiche von der Raumordnung
C angehören. Deswegen gibt es einige Bundesländer, in de-
über die diversen Fachplanungen bis hin zur Kommunal-
nen die Raumordnung die ländlichen Räume weiter dif-
politik und nicht zuletzt die Bürgerschaft in den Dörfern
ferenziert, sodass wir dort vier oder fünf ländliche Raum-
selbst sind gefordert. Wichtig wird es vor allem sein, das Ver-
typen (z. B. in Bayern) unterscheiden.
kehrsnetz (Straße, Schiene, Telekommunikation) zu ver-
So unterschiedlich wie die dargestellten ländlichen Ge-
bessern, die Energieressourcen des Landes zu nutzen, sich
bietstypen sind die darin liegenden Dörfer wie Grevel,
mehr um außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze zu be-
Windesheim und Bärweiler. Haben diese Dörfer überhaupt
mühen und nicht zuletzt die Ortsbilder durch Maßnahmen
Gemeinsamkeiten? Was verbindet sie? Ist z. B. Grevel noch
der Dorferneuerung aufzuwerten. Das Beispiel Bärweiler
ein Dorf? Die begriffliche Diskussion, was wir heute unter
zeigt, dass es und wie es geht.
einem Dorf – im Vergleich zur Stadt – verstehen, wird
Die großen regionalen Unterschiede ländlicher Räume in Deutschland machen deutlich: Eine bundes- oder länder-
in Kapitel »Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt« geführt (S. 213 ff.).
einheitliche Politik des ländlichen Raumes würde schnell an ihre Grenzen stoßen. Selbst die hier ausgeführte »Aufteilung« in drei ländliche Raumtypen bietet für eine behutsame Politik nur einen ersten Einstieg, da sie durch ihren Bezug auf die Kreisebene bisweilen erhebliche regionale und lokale Unterschiede verwischt und damit keine durchgehend sichere Planungsgrundlage darstellt. So enthält beispielsweise der Hochsauerlandkreis in Nordrhein-Westfa-
Wehrsdorf in der Lausitz gehört zu den zahlreichen abgelegenen Dörfern im Osten Deutschlands, die unter Abwanderung junger Menschen und Überalterung leiden.
280
Das moderne Dorf
Der lange Weg zur bäuerlichen Landwirtschaft Agrarpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Die Agrarpolitik prägt in vielfältiger Weise und oft
wir dagegen eine Agrarpolitik, die ständig und teilweise
massiv die Agrarwirtschaft und darüber hinaus die
dirigistisch in Produktion und Marktgeschehen eingreift.
Entwicklung der Dörfer. Dies gilt für Vergangenheit wie
Zum Kennzeichen einer Zwangswirtschaft gehören die
Gegenwart. Kommt es zu größeren Umgestaltungen
ausschließlich zentralistische Planung und staatlich kont-
durch die Agrarpolitik, spricht man von Agrarreformen.
rollierte Durchführung, wobei alle privatwirtschaftlichen
Ein Jahrhundert großer Agrarreformen war das 19. Jahr-
Kräfte ohne Wirkung bleiben. Häufig enthält die Agrar-
hundert. Damals entstand aus dem feudalen Agrar-
politik Anteile aus verschiedenen Wirtschaftsordnungen.
system mit vielen Abhängigkeiten die bäuerliche Land-
Heute ist die Agrarpolitik – gerade auch in den EU -Län-
wirtschaft. Bauernrevolten und die Landrevolution von
dern – sehr kompliziert geworden: Sowohl liberale wie ge-
1848 haben dabei geholfen.
lenkte und dirigistische Elemente stehen unmittelbar nebeneinander, sodass kaum noch zu erkennen ist, welches
Jeder Staat hat in der Regel genaue Vorstellungen davon, in
wirtschaftspolitische Grundmodell zugrunde liegt.
welcher Weise die Land- und Forstwirtschaft betrieben wer-
In Deutschland und Europa sind im Verlauf der Ge-
den soll. Die entsprechenden Ziele, Aufgaben, Regeln oder
schichte sehr verschiedenartige Agrarwirtschaftsordnun-
auch Reformprogramme zu formulieren und für deren
gen entstanden, meist nacheinander, bisweilen auch ne-
Umsetzung zu sorgen, ist Aufgabe der Agrarpolitik. In der
beneinander. Wir unterscheiden bisher vor allem feudale,
Agrarpolitik spiegelt sich die jeweils herrschende Wirt-
bäuerliche, kapitalistische und kollektivistische Wirt-
schaftsordnung eines Staates oder einer Gesellschaft wider.
schafts- und Gesellschaftssysteme.
Diese kann generell eher liberal sein und den freien Kräf-
In der feudalen Agrarordnung besitzt eine herrschende
ten des Marktes vertrauen oder staatlich gelenkt sein. Ohne
Oberschicht (meist Klerus und Adel) das Bodeneigentum
Kenntnisse der sich wandelnden Agrarpolitik sind viele
und damit die wirtschaftliche und politische Macht. Das
Entwicklungen des ländlichen Raumes nicht zu verstehen.
Land wird teilweise zur Nutzung verliehen bzw. »zu Le-
Eine liberale Wirtschaftsordnung vertraut auf Markt und Wettbewerb, wo bzw. wodurch sich eine leistungsfähige Agrarwirtschaft entwickelt und selbst organisiert. In gelenkten und gesteuerten Wirtschaftsordnungen haben
hen gegeben«, weshalb auch von einer Lehensherrschaft Abbildung oben: Vor einem Gehöft in Kleindrebnitz in Sachsen präsentiert sich im Jahre 1897 das Gesinde in einem Gruppenbild. Für den heutigen Betrachter ist das Foto eher gefühlte 300 Jahre alt!
Dorfpolitik
281
gesprochen wird. Grundherren als Lehensgeber und Bau-
lungen umgebildet, wobei die alten Dörfer meist aufgelöst
ern als Lehensnehmer standen in einem recht komplizier-
wurden.237 Man bezeichnet diesen Übergang auch als »Bau-
ten Dienst-Lehen-Verhältnis zueinander mit Rechten und
ernlegen« durch die Grundherren. Diese hatten die länger-
Pflichten auf beiden Seiten. Der Bauer war als Landnutzer
fristigen bäuerlichen Nutzungsrechte am Boden zurück-
personell und wirtschaftlich eng an den Grundherren ge-
genommen und in kurzfristige Arbeitsverträge überführt.
bunden, z. B. hatte er Naturalabgaben zu leisten und Hand-
Somit wurden die ehemaligen Bauern zu Landarbeitern
und Spanndienste zu erfüllen. Andererseits stand der
und Tagelöhnern degradiert. Sie gerieten in eine starke per-
Grundherr in der Pflicht der Armen- und Notfürsorge oder
sönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit zum Grund-
der Bestellung eines Richters. Unterhalb der Herren- und
herren, die man auch als »Leibeigenschaft« bezeichnet, z. B.
Bauernschicht entwickelte sich eine breite unterbäuerliche
durften sie den Hof ohne Erlaubnis nicht verlassen. Ent-
Schicht der landarmen Kötter (Kleinbauern und Besitzer
sprechend groß war in den Gutsdörfern die soziale Klassen-
eines Kotten, d. h. eines kleinen Hofgebäudes) und landlo-
trennung zwischen Gutsbesitzern und Landarbeitern.
sen Hausgenossen. Das feudale Agrarsystem dominierte in
Das wesentliche Merkmal kollektivistischer Agrarsys-
Europa und Deutschland vom Frühen Mittelalter bis zu den
teme ist die gemeinschaftliche Produktion und Vermark-
großen Agrarreformen des 18. und 19. Jahrhunderts.
282
tung. Nach dem Grad der Sozialisierung unterscheidet
In der bäuerlichen Landwirtschaft liegen die Eigentums-
man genossenschaftliche und sozialistische Agrarsysteme.
und Nutzungsrechte zusammen in der Hand der Betriebe.
Die genossenschaftliche Landwirtschaft ist ein freiwilli-
Der Hof ist die Heimat und Lebensgrundlage der landwirt-
ger Produktionsverbund selbstständiger Landwirte, die
schaftlichen Familie. Lange Zeit galt die sog. »Hofidee«: Das
auch Eigentümer ihres Landes bleiben. In Deutschland ent-
wirtschaftliche Handeln war vorrangig auf die Erhaltung
stand das moderne Genossenschaftswesen in der Landwirt-
und Weitergabe des Hofes ausgerichtet. Vor über 100 Jah-
schaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In sozialistischen
ren wurde das Leitbild der bäuerlichen Landwirtschaft von
Agrarsystemen regeln staatliche Planung und Aufsicht die
Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) ausführlich beschrie-
landwirtschaftliche Produktion. Eine sozialistische Plan-
ben und propagiert: Im Mittelpunkt stand der selbstgenüg-
wirtschaft mit erheblichen Eingriffen in die Privatrechte
same und heimatverbundene »Bauer guter Art«.236 Das eu-
der Landeigentümer herrschte in Deutschland von 1945 bis
ropäische Hofbauerntum ist seit den Agrarreformen des
1990 im Gebiet der ehemaligen DDR .
19. Jahrhunderts weit verbreitet, verändert sich seit der zwei-
In Deutschland wie auch in den meisten Ländern Euro-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber zunehmend. Das Ver-
pas vollzog sich im 19. Jahrhundert die endgültige Beseiti-
antwortungshandeln gegenüber dem Hof und der künfti-
gung des feudalen Agrarsystems. An seine Stelle trat in ei-
gen Generation schwindet gegenüber individuellen Wün-
nem langen Prozess mehrerer Reformen, die sich fast über
schen der Hofmitglieder. Gleichwohl bleibt der bäuerliche
das ganze Jahrhundert erstreckten, eine liberale und bau-
Familienbetrieb ein Leitbild der Agrarpolitik.
ernorientierte Agrarordnung. Im Mittelpunkt stand die
Kapitalistische Agrarsysteme waren in Mitteleuropa vor
Ablösung des sehr komplizierten Dienst-Lehen-Verhält-
allem in der Gutswirtschaft verbreitet. Die Geschäftsbe-
nisses zwischen Bauern und Grundherren. Sie brachte für
ziehungen zwischen den Bodeneignern und den Pächtern
die Bauern und Landarbeiter die persönliche Freiheit und
oder Verwaltern und den eigentlichen Landarbeitern waren
zugleich Rechte auf Bodeneigentum. Gleichzeitig befreite
durch Pacht- und Arbeitsverträge geregelt. Die Entwick-
sie aber auch die ehemaligen Grundherren von wichtigen
lung zur kapitalistischen Gutswirtschaft, die in England
Verpflichtungen und Beschränkungen, so z. B. die den Bau-
und Skandinavien bereits im Späten Mittelalter einsetzte,
ern eingeräumten alten Waldnutzungsrechte. Ziele der li-
fand in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert vor allem im
beralen Agrarpolitik waren, den Bauern und Landarbei-
nördlichen und östlichen Deutschland statt. So vor allem in
tern gerechte und soziale Lebensbedingungen zu schaffen,
Mecklenburg und Pommern, in Teilen Schleswig-Holsteins,
den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt in der
Brandenburgs und Schlesiens. Es wurden dort flächenhaft
Land- und Forstwirtschaft zu fördern und nicht zuletzt den
ehemals grundherrschaftliche Bauerndörfer zu Gutssied-
Aufbau moderner Staaten zu erleichtern. Bauern, Land-
Das moderne Dorf
Die Landrevolution von 1848 beschleunigte die Agrarreformen und markiert den Start der Bauern in die moderne Zeit. Auf dem Holzschnitt dargestellt sind Erstürmung und Brand des Schlosses Waldenburg am 5. April 1848.
arbeiter und Grundherren waren nun unmittelbar und in
4. Zusammenlegung der verstreuten Besitzflächen und
gleicher Weise der Staatshoheit unterstellt. Nach Abschaf-
Feldwegebau zur individuellen Erschließung der Feld-
fung des feudalen Agrarsystems setzte sich in Deutschland
parzellen im Rahmen staatlicher Förderprogramme der
das Leitbild der bäuerlichen Landwirtschaft durch. Die wichtigsten Agrarreformen des 19. Jahrhunderts
Flurbereinigung. 5. Aufhebung des sog. »Flurzwanges«, wodurch eine ei-
lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen:238
genständige betriebswirtschaftliche Landbewirtschaf-
1. Aufhebung der persönlichen Bindungen und Abhängig-
tung ermöglicht wurde. Mit Flurzwang beschreibt man
keiten der Bauern und Landarbeiter an die Grundherren.
die genaue Festlegung der anzubauenden Feldfrüchte
Ablösung der Hand- und Spanndienste und der natura-
und der zeitlichen Nutzung der Flurparzellen (bei Saat,
len Abgaben.
Pflege und Ernte) durch Grundherren oder Dorfgenos-
2. Ablösung des bisher geteilten Rechts am Boden (grund-
senschaften.
herrliches Obereigentum und bäuerliches Nutzungs-
6. Allmähliche Ablösung landesherrlicher Befugnisse seit
recht) und Übergabe des Eigentums am Boden an die
der Mitte des 19. Jahrhunderts, die dem Adel als Grund-
Bauern.
herren noch aus früheren Rechten zugeordnet waren:
3. Auflösung der bisher gemeinschaftlich genutzten Flächen (Allmenden, Weiderechte in den Wäldern) zuguns-
u. a. die niedere Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt der Gutsherren.
ten von Privateigentum und individueller Nutzung.
Dorfpolitik
283
Der Umbruch vom feudalen zum liberalen System und
konnte sich nun – neben dem Landadel – entwickeln und
überhaupt die Bereitschaft zu grundlegenden Agrarrefor-
etablieren.
men wurde nicht zuletzt durch ein immer stärkeres Auf-
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mithilfe des Reichs-
begehren der Landbevölkerung angetrieben.239 Ab 1830
siedlungsgesetzes von 1919 eine Bodenreform begonnen
kam es in Deutschland wiederholt zu Aufständen und
und damit vor allem eine rege landwirtschaftliche Sied-
Revolten gegen die lokale Grundherrschaft, um die Ab-
lungstätigkeit ausgelöst. Durch Privatisierung staatlicher
gabenlast und rechtliche Ohnmacht zu beseitigen. Den
Güter entstanden von 1919 bis 1932 besonders in Mittel- und
Höhepunkt dieser Protestaktionen bildete dann die Re-
Ostdeutschland über 60 000 Neusiedlerstellen mit durch-
volution von 1848, die von Unruhen und Aufständen
schnittlich 11 ha Land, die vom Staat an Landwirte vergeben
in Paris und Berlin ausging und in kurzer Zeit praktisch
wurden. Beispiele solcher neuer Bauernsiedlungen sind die
ganz Deutschland erfasste, vor allem aber auf dem Land
Straßenweiler Matgendorf, Groß Wüstenfelde und Schwet-
wirksam wurde. Vielerorts – Schwerpunkte lagen in Süd-
zin nördlich von Teterow in Mecklenburg-Vorpommern.
deutschland, Westfalen und Sachsen – zogen Dorfbewoh-
Im Dritten Reich war ein wichtiges Ziel der Agrarpoli-
ner vor Amtssitze, Schlösser und Archive und erklärten
tik die Selbstversorgung aller Staatsbürger mit Lebensmit-
dem Landadel mit seinen Beamten den Kampf. Sie verlang-
teln durch den eigenen Bauernstand. Um wirtschaftlich
ten den Verzicht auf Abgaben und Dienste und pochten auf
stabile Bauernhöfe zu bekommen bzw. zu erhalten, wur-
alte Rechte wie z. B. der Waldnutzung. Fand man kein Ge-
den »Erbhöfe« bestimmt, die mindestens 7,5 ha und höchs-
hör, wurden nicht selten Gebäude der adligen Grundher-
tens 125 ha besaßen und ungeteilt vererbt werden mussten.
ren gestürmt und in Brand gesetzt. Ein Beispiel ist die Er-
Basis dieser Agrarpolitik waren das Reichserbhofgesetz und
stürmung und Brandstiftung des Schlosses Waldenburg in
das Reichsnährstandsgesetz, die beide im September 1933
Sachsen am 5. April 1848, die in einem sehr detaillierten
erlassen wurden. Auf dem 2. Reichsbauerntag im Novem-
Holzschnitt eindrucksstark dargestellt ist. Die Landrevolu-
ber 1934 erfolgte ein entsprechender Aufruf zur »Erzeu-
tion von 1848 beschleunigte letztlich den Durchbruch zu ei-
gungsschlacht« der deutschen Landwirtschaft. Damit ange-
ner liberalen Agrarpolitik und markiert in gewisser Weise
strebt wurde die sog. »Nahrungsfreiheit«, die ernährungs-
den Start der Bauern und generell der deutschen Land-
wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland.240 Dem Ziel
wirtschaft in die Moderne: Die von grundherrschaftlichen
der Produktionssteigerung diente auch die Neulandgewin-
Vorrechten befreite bäuerliche Mittel- und Oberschicht
nung an den Küsten sowie die Urbarmachung von Ödland.
Nach den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts konnte die bäuerliche Landwirtschaft aufblühen und damit auch ein breiterer Wohlstand in die Dörfer einziehen, im Bild das Bauerndorf Unterliezheim in Bayern.
284
Das moderne Dorf
Bodenreform und Kollektivierung Agrarpolitik in Ostdeutschland von 1945 bis 1990
In den ersten 45 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg
Land beim Aufbau der klassenlosen Gesellschaft, in der all-
bestanden in den beiden getrennten Hälften unseres
mählich eine qualitativ neue Siedlungsweise der Mensch-
Landes zwei völlig gegensätzliche Agrarpolitiksysteme
heit geschaffen wird.«241 Die Konsequenz waren die indus-
nebeneinander. Ohne Zweifel hat die Agrarpolitik
trieähnlichen landwirtschaftlichen Produktionsgenossen-
im Gebiet der DDR die bestehenden Verhältnisse der
schaften (LPG ) und die Hochhäuser für Landarbeiter, die in
Landwirtschaft und des Dorfes massiver verändert
den Dörfern entstanden.
als im Westen Deutschlands. Seit 20 Jahren haben
Insgesamt lassen sich in der DDR drei agrarpolitische Pha-
wir wieder eine gemeinsame deutsche Agrarpolitik.
sen unterscheiden.242 Die erste von 1945 bis 1949 stand unter
Die viereinhalb Jahrzehnte Agrarpolitik von 1945 bis
dem Leitwort der Bodenreform. Mit dem Motto »Junker-
1990 haben jedoch bis heute tiefe Spuren in den
land in Bauernhand« wurden alle Höfe und Güter mit
neuen Bundesländern hinterlassen.
mehr als 100 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche entschädigungslos enteignet. Außerdem wurden ebenfalls Betriebe
Die Agrarpolitik im Gebiet der DDR von 1945 bis 1990
unter 100 ha enteignet, sofern ihre Eigentümer als Kriegs-
war ein Teil der sozialistischen Gesellschaftsordnung.
verbrecher, Kriegsschuldige oder Nationalsozialisten aus-
Im Mittelpunkt stand die Beseitigung der adligen Guts-
gewiesen werden konnten (was nicht selten willkürlich ge-
herrschaften und des privaten Bauerntums. Dies wurde er-
schah). Insgesamt wurden so rund 12 000 Land- und Forst-
reicht, indem das Privateigentum in Staatseigentum oder
wirtschaftsbetriebe und etwa 3,2 Mio. ha Land enteignet,
Zwangsgenossenschaften überführt wurde und damit auch
rund ein Drittel der land- und forstwirtschaftlichen Nutz-
in sozialistische und planwirtschaftliche Produktionsfor-
fläche der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ ).
men. Nicht zuletzt verfolgte die Agrarpolitik das Ziel, die
Das durch die Enteignungen »gewonnene« Land verteilte
Lebensverhältnisse auf dem Land denen in der Stadt anzug-
man zu 52 % auf etwa 220 000 Neubauernhöfe (mit durch-
leichen. Da man die Stadt gegenüber dem Land ideolo-
schnittlich 8,5 ha Besitz), zu 16 % auf 335 000 Kleinstland-
gisch bevorzugte, war die Urbanisierung des Landes eine Leitvorstellung. B. Röseler und K. Scherf haben dies treffend formuliert: »Die herrschende Arbeiterklasse konzentriert sich in den Städten.Demzufolge führt die Stadt das
Abbildung oben: Nach der Beseitigung der privaten Landwirtschaft entstanden in der DDR Großbetriebe, hier ein Blick in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG ) Großerkmannsdorf.
Dorfpolitik
285
der Besatzer zu fallen. Nicht selten fanden ganze Familien den Tod. Die zweite Phase der Agrarpolitik von 1952 bis 1960 diente dem planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR – sie gilt als die Zeit der Kollektivierung. Zielvorgabe
der Sozialistischen Einheitspartei war es, dass möglichst alle Bauern sich zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) zusammenschließen. Dies erfolgte zunächst auf freiwilliger Basis, dann mit verschiedenen Vergünstigungen und schließlich durch wirtschaftlichen und politischen Druck. 1960 war die Vollkollektivierung der Landwirtschaft erreicht, die durchschnittliche Wirtschaftsfläche je LPG betrug bereits 580 ha. Die fast komplette Beseitigung des frei verfügbaren Privatbesitzes an landwirtschaftlichen Nutzflächen wurde in der DDR sprachlich als »Bauernbefreiung« gefeiert. Allerdings hatten sich Tausende von Landwirten dem zuletzt immer stärkeren Druck, ihren Betrieb in die LPG einzugliedern, durch ihre Flucht nach Westdeutschland entzogen. Ab 1963 folgte in einer dritten Phase der Agrarpolitik der Aufbau von Kooperationsgemeinschaften. Die Betriebe wurden nun weiter vergrößert und zusammengelegt, außerdem wurden die LPG s auf wenige Produkte spezialisiert. Ab 1968 setzte eine weitergehende Industrialisierung der Landwirtschaft ein, Schichtarbeit und Berufsverkehr wurden zur Normalität. Bis zum Beginn der 1980er Jahre sank die Zahl der Betriebe auf rund 5000, deren durchschnittliche Größe bei 5000 ha lag. Die immer größer werdenden Betriebe wuchsen nun über die Gemeindegrenzen hinaus. Durch den Neubau von modernen GroßstallanlaAlles wird von oben geplant und gesteuert: Auf diesem Plakat von 1952 geben die Zentralbehörden bekannt, wann die Feldarbeiten zu erledigen sind (als wenn man das vor Ort nicht besser wüsste!).
gen entstanden die ersten Beispiele der Agrarindustrie auf deutschem Boden. Für die Arbeiter dieser Agrarfabriken wurden in den LPG -Dörfern kompakte Wohnsiedlungen in vier- bis fünfgeschossigen »Hochhäusern« errichtet, die bis
wirtstellen (mit durchschnittlich 1,5 ha Besitz) und zu 32 %
Die großen LPG s und VEG s erfüllten in ihren Dörfern
de der Bodenreform waren besonders in den Sommer- und
zahlreiche Aufgaben, die weit über die Landwirtschaft
Herbstmonaten des Jahres 1945 oft dramatisch und mit gro-
hinausgingen und die man gemeinhin der Kommunal-
Die enteigneten Be-
politik zuordnet: »Sie übernahmen Infrastrukturmaßnah-
sitzer hatten meist binnen 24 Stunden mit ihren Familien
men bis hin zu Straßenbau, Wasserversorgung und Abwas-
die Höfe zu verlassen. Zahllosen Guts- und Hofbesitzern
serbeseitigung, betrieben Sozialeinrichtungen wie Gast-
und ihren Angehörigen, insbesondere den Frauen, wurde
stätten, Kulturhäuser, Freibäder, Erholungseinrichtungen,
Gewalt angetan. Viele wurden ermordet oder verschleppt,
Kinderkrippen, trugen mit bei zur Sicherung der Alten-
andere wieder begingen Selbstmord, um nicht in die Hände
betreuung und der ärztlichen Versorgung und boten Ar-
ßem menschlichem Leid verbunden.
286
heute das Erscheinungsbild vieler Dörfer prägen.
auf etwa 550 volkseigene Güter (VEG ). Die Begleitumstän-
Das moderne Dorf
243
1951 werden die »Bauern« noch umworben. Das Dorf Drachhausen bekommt nach diesem Plakat von 1951 einen Landwirtschaftlichen Produktionsplan und einen Dorfwirtschaftsplan, wozu auch Straßen- und Brückenbauten gehören.
beitsplätze. LPG s und VEG s verfügten über eigene Baubri-
zunächst nicht überall in der Lage, diese Verluste zu kom-
gaden, die auch die Wohnungen der Betriebsangehörigen
pensieren. Die Aufarbeitung der gewaltigen und überhas-
instandhielten. Die Kantinen versorgten vielfach die Schul-
teten Umbruchphase nach der Wiedervereinigung rückt in
und Krippenkinder mit Mittagsmahlzeiten, Fahrzeuge der
jüngster Zeit immer mehr in den Fokus 244 a.
LPG s oder VEG s fuhren Betriebsangehörige als Teilnehmer
zu Sportveranstaltungen.«244
Zusammengefasst lässt sich die Agrarpolitik der DDR als eine Zentralverwaltungswirtschaft bezeichnen. Alle Pla-
Nach der Auflösung der LPGs in den frühen 1990er Jah-
nungen und Entscheidungen zielten von oben nach unten.
ren fielen in der Regel auch deren infrastrukturelle, soziale
Die alljährlichen zentralen Planfestlegungen regelten Pro-
und kulturelle »Leistungen« für die Dörfer weg. Sowohl die
duktion, Verarbeitung, Absatz und Preise, aber auch die Zu-
Kommunalpolitik als auch die dörflichen Vereine waren
teilung von Maschinen, Dünger, Saatgut und Futtermitteln.
Dorfpolitik
287
In den neuen LPG -Dörfern wurden zahlreiche Arbeitskräfte gebraucht und angezogen, für sie wurden erstmals kleine »Hochhäuser« in die Dörfer gebaut wie hier in Trinwillershagen in Mecklenburg-Vorpommern.
Die LPG war in den Dörfern nicht nur für die Landwirtschaft zuständig, sie schuf und unterhielt auch soziale und kulturelle Einrichtungen, hier das Kulturhaus in Trinwillershagen.
Zwischen den Planzielen auf der einen Seite und den Er-
tionsgemeinschaften. Die Privatisierung der Landwirt-
gebnissen der Produktion auf der anderen Seite traten je-
schaft bedeutete vor allem, dass die vorher genossenschaft-
doch regelmäßig erhebliche Differenzen auf. Dies wird vor
lich genutzten Flächen in die Verfügungsmacht der Ei-
allem darauf zurückgeführt, dass die bürokratische Orga-
gentümer zurückgegeben wurden. Inzwischen sind die
nisation zu schwerfällig und die Betriebsabläufe zu we-
meisten LPG s und VEG s in Gesellschaften neuen Rechts
nig überschaubar waren, z. T. aber auch auf die wenig in-
oder Einzelunternehmen (»Wieder- oder Neueinrichter«)
tensive persönliche Bindung der Mitarbeiter an die Be-
überführt worden. Die politische Behandlung der sog. »Bo-
triebe. Ein ehemaliger Mitarbeiter einer LPG -Verwaltung
denreform« von 1945 bis 1949 war nach der Wiederverei-
ließ mir gegenüber anlässlich eines Besuches in den frühen
nigung höchst umstritten. So bestätigte das Bundesverfas-
1990er Jahren einen knappen sarkastischen Satz fallen, der
sungsgericht letztlich am 23. 4. 1991 die Enteignungen der
mir im Gedächtnis geblieben ist: »Mitte Juni meldeten sich
fünf Nachkriegsjahre, wobei den Alteigentümern später
die Herren vom Bezirk und erklärten, dass jetzt Erntezeit
allerdings eine geringe Entschädigung zugebilligt wurde.
sei.« Insgesamt jedoch konnte die Landwirtschaft der DDR
Die Anzahl der Betriebe in den neuen Ländern hat sich von
durch die Vergrößerung und Rationalisierung der Betriebe
rund 5000 im Jahr 1989/90 auf inzwischen 24 600 im Jahr
ihre Produktivität ständig steigern. Im internationalen
2018 erhöht. Ihre durchschnittliche Größe ist heute aber
Vergleich erreichte sie einen Spitzenplatz unter den Län-
immer noch etwa fünfmal höher als in den westdeutschen
dern Mittel- und Osteuropas, blieb jedoch unter dem Stand
Bundesländern.244 b Durch ihre größeren Flächen haben die
der westeuropäischen Landwirtschaften.
landwirtschaftlichen Betriebe in Ostdeutschland eine für
Mit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 fand auch die
288
Deutschland überdurchschnittliche Produktivität erreicht,
sozialistische Agrarpolitik der DDR ihr Ende. Zum 31. 12.
die auch im europäischen und internationalen Wettbewerb
1991 erloschen die Rechtsformen der LPG s und Koopera-
konkurrenzfähig ist.
Das moderne Dorf
Modernisieren und »Wachsen oder Weichen« Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis heute
Agrarpolitik geht uns alle an, tagtäglich, aber viele
gemeinsamen EU -Agrarpolitik geprägt. Erst seit 20 Jah-
wissen wenig davon. Wer einmal Agrarpolitik zum
ren haben wir wieder eine einheitliche deutsche Agrarpoli-
Anfassen erleben möchte, sollte die alljährliche Inter-
tik, wobei in den neuen Ländern zunächst die Reprivatisie-
nationale Grüne Woche Mitte Januar in Berlin besu-
rung der kollektivierten Betriebe im Vordergrund der Be-
chen. Schon bei der festlichen Eröffnung im CityCube
mühungen stand.
in Berlin präsentieren EU - und Bundespolitiker sowie
Die Agrarpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit
Bauernpräsidenten die unterschiedlichen Wünsche
dem Zweiten Weltkrieg lässt sich bisher in drei Phasen un-
und Sorgen der Agrarpolitik, der Produzenten, Händler
tergliedern.245 In den Nachkriegsjahren von 1945 bis 1953
und Verbraucher von Agrarprodukten. Sie sprechen
stand politisch der Wiederaufbau des zerstörten Landes im
über Agrarsubventionen, Milchquoten und -preise bis
Vordergrund. Wichtigstes agrarpolitisches Ziel war damals
hin zur nachhaltigen Landwirtschaft und zur Verantwor-
die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln.
tung für die Welternährung. An den folgenden Tagen
Dazu musste die landwirtschaftliche Produktion, die in den
zeigt die Grüne Woche unzählige Aktivitäten der Agrar-
Kriegsjahren um mehr als ein Drittel gesunken war, wie-
politik ganz konkret: die Bemühungen um alte Tier-
der gesteigert werden. Die ersten Berichte des Bundesernäh-
rassen und Apfelsorten, um gesunde Lebensmittel
rungsministers hatten daher den Tenor »Sorgen um das täg-
und Ernährung sowie die Erhaltung des Dorfes und
liche Brot«. Diese prekäre Lage dauerte etwa fünf Jahre an.
der ländlichen Kulturlandschaft.
Bereits 1950 konnten alle Bewirtschaftungsmaßnahmen für Nahrungsmittel wieder aufgehoben werden. Zur Phase
Es gibt kaum einen Politikbereich, der in den letzten 70 Jah-
des Wiederaufbaus gehören auch die Bemühungen um
ren in Deutschland so unterschiedlich, wechselhaft und
eine Bodenreform. Man wollte damit vor allem den etwa
teilweise revolutionär und widersprüchlich verlaufen ist
300 000 aus Ostdeutschland und Osteuropa vertriebenen
wie die Agrarpolitik. Im Osten Deutschlands herrschte zu-
Bauern eine neue Existenzmöglichkeit anbieten. Insgesamt
nächst eine sozialistische Gesellschaftsordnung, im Westen
wurden jedoch nur etwa 230 000 ha Land umverteilt, wobei
die soziale Marktwirtschaft. Entsprechend kontrastreich war die jeweilige Agrarpolitik. Seit Mitte der 1960er Jahre wird die (west-)deutsche Agrarpolitik zunehmend von der
Abbildung oben: Auf der jährlichen Grünen Woche in Berlin informiert die Agrarpolitik auch über Verbraucherschutz und gesunde Ernährung.
Dorfpolitik
289
7000 Bauern durchschnittlich 24 ha und 50 000 Neusiedler
darbietet. Konkrete Schwerpunkte der staatlichen Agrar-
durchschnittlich 3 ha erhielten. Zur Landabgabe – gegen
strukturförderung ab 1953 waren u. a.: Flurbereinigung
Entgelt – waren zuvor Großbetriebe über 100 ha per Gesetz
und Aussiedlung, Agrarsubventionen wie Dieselölverbilli-
verpflichtet worden. Insgesamt erfassten die Bodenrefor-
gung oder Preisstützungsmaßnahmen bei Milch und Ge-
men in Westdeutschland weniger als 5 % der agraren Nutz-
treide sowie agrarsoziale Maßnahmen wie die Altershilfe
fläche und bewirkten keine wesentlichen Änderungen der
für Landwirte und deren Ehefrauen. Daneben gab es land-
Agrarstruktur. Man bewertet sie heute als vorübergehende
wirtschaftliche Regionalprogramme zur Unterstützung
Nothilfe, die den Betrieben wegen der geringen Flächen-
benachteiligter Regionen wie dem Emsland, der Schwäbi-
ausstattungen kaum langfristige Chancen boten.
schen Alb und dem Bayerischen Wald. Die Fördermaßnah-
Ab 1953/55 begann die Ausgestaltung einer modernen
men der 1950er und 1960er Jahre dienten letztlich dazu,
Agrarpolitik, deren Herzstück das neue Landwirtschafts-
den angestrebten Modernisierungs- und Schrumpfungs-
gesetz von 1955 wurde. Deren Hauptziele waren die Förde-
prozess der Landwirtschaft nicht dem »freien Markt« zu
rung der landwirtschaftlichen Produktion und die Verbes-
überlassen, sondern in geordneten Bahnen verlaufen zu las-
serung der sozialen Lage der in der Landwirtschaft tätigen
sen. Dazu gehörte auch, dass man an dem Leitbild des bäu-
Menschen. Angesicht der großen Modernisierungs- und
erlichen Familienbetriebes festhielt.
Einkommensfortschritte in Industrie und Handel hatte
Ab Mitte der 1960er Jahre wurde die Agrarpolitik der
man die Notwendigkeit erkannt, auch den Agrarsektor zu
Bundesrepublik zunehmend von übernationalen Regelun-
modernisieren. Um die angestrebten Verbesserungen zu
gen der EWG , dann der EG und heute der EU geprägt. Man
beobachten, wurde ein alljährlicher Bericht über die Ein-
erließ Marktordnungen, in denen z. B. einheitliche Richt-
kommenssituation in der Landwirtschaft an den Bundestag
preise für Milch, Zucker oder Getreide festgelegt wurden.
gesetzlich verankert. Das gilt bis heute. Aus dem »Grünen
Man schützte die eigenen Bauern vor billigen Einfuhren
Bericht« wurde der »Agrarbericht«, der alljährlich Mitte
mit Zöllen und erleichterte andererseits die Ausfuhr von
Januar zur Grünen Woche erscheint und jeweils wichtige
Agrarprodukten durch Subventionen. Ein großes Problem
Zielvorgaben und Daten zur Agrarpolitik in knapper Form
für eine gemeinsame Agrarpolitik waren die erheblichen
Die Agrarpolitik fördert Groß- wie Kleinbetriebe, in der Börde wie im Gebirge. Dieser Hof im Trettachtal bei Oberstdorf betreibt Gründlandwirtschaft und damit zugleich – durch die Offenhaltung der Talaue – Kulturlandschaftspflege.
290
Das moderne Dorf
Unterschiede in der westeuropäischen Agrarstruktur. So
Betriebe und Vergrößerung der Flächen je Betrieb) ökono-
stand die klein- und mittelbäuerliche deutsche Landwirt-
misch und sozial abzufedern. So gab es Förderungen zur
schaft einer von Großbetrieben geprägten Landwirtschaft
Modernisierung landwirtschaftlicher Betriebe, zur Ein-
in Großbritannien und Frankreich gegenüber. Um hier
stellung der landwirtschaftlichen Tätigkeit, zur berufli-
eine notwendige Anpassung zu beschleunigen, verfasste der
chen Qualifikation der in der Landwirtschaft tätigen Perso-
damalige Vizepräsident der EG -Kommission Sicco Mans-
nen und nicht zuletzt das sog. »Bergbauernprogramm« zur
holt im Jahr 1968 ein »Memorandum zur Reform der Land-
Förderung der Landwirtschaft in Berggebieten und in be-
wirtschaft in der EG «. Dieser seinerzeit äußerst umstrittene
stimmten Regionen.
»Mansholt-Plan« forderte nicht zuletzt von der deutschen
Trotz der intensiv betriebenen Gesundschrumpfung der
Landwirtschaft einen forcierten Schrumpfungsprozess
Landwirtschaft vernachlässigte die Agrarpolitik die Ge-
nach dem Motto »Wachsen oder Weichen«. Klein- und Mit-
samtentwicklung des ländlichen Raumes keineswegs. An-
telbetriebe sollten zugunsten von Großbetrieben zum Aus-
ders als im Osten Deutschlands wurde der ländliche Raum
scheiden gedrängt werden. Betriebe mit Bodenproduktion
im Westen als gleichberechtigt neben den Städten und In-
sollten mindestens 80–120 ha groß sein. Der Mansholt-Plan
dustriegebieten respektiert, wie es der damalige Bundes-
wurde besonders in Deutschland seinerzeit als Radikal-
landwirtschaftsminister Josef Ertl im Jahr 1976 unmissver-
lösung verurteilt, er zeigte jedoch mittel- und langfristig
ständlich ausdrückte: »Ein Industriestaat muß gleicherma-
Wirkung. Mit verschiedenen Programmen hat die EU seit
ßen industrielle und ländliche Räume entwickeln. Verliert
den 1970er Jahren dazu beigetragen, den Prozess der Ge-
der ländliche Raum infolge mangelnder Arbeitsplätze an
sundschrumpfung der Landwirtschaft (Verringerung der
Attraktivität, dann ist die Chancengleichheit der Bürger in
Die Agrarpolitik unterstützt zunehmend auch eine nachhaltige und weniger intensive Landbewirtschaftung, hier die Pflege und Bewirtschaftung einer Streuobstwiese in Benediktbeuern in Bayern.
Dorfpolitik
291
Protestierende Bauern machen immer wieder auf Probleme aufmerksam: Hier fordern rund 500 Milchbauern aus Baden-Württemberg vor dem Agrarministerium in Stuttgart am 22. 9. 2009 faire Milchpreise, die nicht unter den eigenen Kosten liegen.
unserem Lande zunehmend gefährdet. Soziale, generative
schen und sozialen Strukturwandel des Landes zu beglei-
und kulturelle Erosion sind die Folge. Noch funktionsfä-
ten. Es gibt jedoch bis heute unterschiedliche Auffassungen
higen Siedlungsstrukturen droht der Kollaps. Auf der an-
darüber, ob das von der Agrarpolitik der EU und Deutsch-
deren Seite würden die stärker verdichteten Räume immer
lands vorgegebene Tempo der Modernisierung nicht doch
dichter werden; die Umweltprobleme potenzieren sich und
zu scharf war und gerade in der deutschen Landwirtschaft
So wurde in
und im deutschen Dorf schmerzhafte Wunden hinterlassen
Deutschland zusätzlich mit einem Gesetz über die Gemein-
hat, die z. T. immer noch nicht verheilt sind. An der Gestal-
schaftsaufgabe des Bundes und der Länder zur Verbesserung
tung der Agrarpolitik haben sich natürlich auch die ver-
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes (GAK , seit 1973)
schiedenen Spitzenverbände der deutschen Agrarwirtschaft
ein Instrument zur Modernisierung der Landwirtschaft
seit Jahrzehnten intensiv beteiligt.
die Infrastruktur wird zunehmend belastet.«
292
246
und des ländlichen Raumes geschaffen, das u. a. der Dorfer-
Immer wieder wurde die EU -Agrarpolitik in den zu-
neuerung zugutekam. Seit den 1990er Jahren werden mit
rückliegenden Jahrzehnten mit Vorwürfen und Krisen
dem EU -LEADER -Programm vielfältige innovative In-
konfrontiert. Finanzkrisen führten dazu, dass Beihilfen
itiativen im ländlichen Raum gefördert, die von lokalen
und Förderprogramme abgesetzt werden mussten. Die viel-
Gruppen getragen werden. All diese Förderungen dien-
fältigen Subventionen ermöglichten erst Produktionsüber-
ten letztlich dazu, den für notwendig gehaltenen ökonomi-
schüsse (erinnert sei an die »Milchseen« und »Butterberge«),
Das moderne Dorf
die man dann durch feste Quoten zu reduzieren versuchte. Vorwürfe, die Brüsseler Agrarbürokratie sei zu aufgebläht, stehen fast ständig im Raum. Dies gilt auch für die hohe Regelungsdichte der Verordungen und Anweisungen, der Eingrenzungen und Ausgrenzungen, der Erstattungen und Abschöpfungen, die so unübersichtlich und wechselhaft geworden sind, dass eine verantwortungsvolle Kontrolle kaum noch möglich ist. An der Basis wird der Sinn der oft wechselnden Programme nicht verstanden. Ähnliche Klagen wie diese hört man häufiger: »Heute wird das Abholzen von Obstbäumen – und morgen das Anpflanzen von Obstbäumen gefördert.« Manche sprechen daher von einer staatlich-bürokratischen Zwangswirtschaft, von Abschottung vor dem Weltmarkt und zu wenig Marktwirtschaft. Andere werfen der Agrarpolitik vor, dass sie die EU -Landwirtschaft zu stark subventioniere und insgesamt zu wenig ihre soziale, ökologische und globale Verantwortung wahrnehme.
Als Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft hat sich Julia Klöckner vor allem um die Sorgen und Wünsche der Landbevölkerung zu kümmern. Im Rahmen der Grünen Woche verkündete sie am 22. 1. 2020: »Die 20er Jahre werden das Jahrzehnt der ländlichen Räume!«
Man muss der Agrarpolitik allerdings zugutehalten, dass sich die Ansprüche der Gesellschaft an die Landwirtschaft
kette sowie Tierschutz und Risikomanagement in der
in den letzten Jahrzehnten ständig verändert haben. Stand
Landwirtschaft.
zunächst die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu erschwinglichen Preisen im Vordergrund, wurden es da-
4. Wiederherstellung, Erhaltung und Verbesserung der von der Land- und Forstwirtschaft abhängigen Ökosysteme.
nach mehr und mehr die ökonomischen, sozialen und bau-
5. Förderung der Ressourceneffizienz und Unterstützung
lichen Verbesserungen im ländlichen Raum sowie heute
des Agrar-, Ernährungs- und Forstsektors beim Über-
zunehmend der Natur- und Kulturlandschaftsschutz.
gang zu einer kohlenstoffarmen und klimaresistenten
Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) macht mit
Wirtschaft.
ihren Förderungen heute 38 % des gesamten EU-Haushalts
6. Förderung des sozialen Eingliederung, der Armutsbe-
aus. Die agrarpolitische Förderung der EU erfolgt in zwei
kämpfung und der wirtschaftlichen Entwicklung in den
Säulen. Säule eins umfasst die direkten Einkommensbei-
ländlichen Gebieten.247
hilfen an die Landwirte und Marktsteuerungsmaßnahmen.
Derzeit laufen bereits die intensiven Beratungen über den
Säule zwei umfasst Maßnahmen zur Förderung des länd-
Mehrjahreshaushalt GAP 2021–2027, wobei u. a. über die
lichen Raumes und gilt zum Beispiel dem Umwelt- und
Verschiebung der Mittel zwischen den Säulen, über mehr
Tierschutz sowie der Dorfentwicklung. Im Förderzeitraum
Umwelt- und Tierschutz, über die verbesserte Förderung
2014–2020 waren drei Viertel des Fördervolumens für die
von kleinen und mittleren Betrieben diskutiert wird.
erste Säule und ein Viertel für die zweite Säule reserviert.
Die für die deutsche Agrarpolitik zuständige Ministerin
Für den Förderzeitraum der GAP 2014–2020 gelten sechs
Julia Klöckner beschreibt in knapper Form ihr Leitbild der
Schwerpunkte:
Landwirtschaft: »Was muss Landwirtschaft leisten? Was sie
1. Förderung von Wissenstransfer und Innovation in der
immer geleistet hat: Sie muss die Menschen ernähren. Dazu
Land- und Forstwirtschaft und den ländlichen Gebieten.
muss sie natürlich wirtschaftlich sein und technische Ent-
2. Verbesserung der Wirtschaftlichkeit von landwirtschaft-
wicklungen nutzen. Sie muss aber auch ein hohes Maß an
lichen Betrieben und der Wettbewerbsfähigkeit aller Ar-
Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen
ten von Landwirtschaft in allen Regionen. 3. Förderung von Organisationen in der Nahrungsmittel-
zeigen, tiergerecht sein und nachhaltig, und auch zur Attraktivität ländlicher Regionen beitragen.«248
Dorfpolitik
293
Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert Aufgaben und Entwicklung der Flurbereinigung
Seit Jahrhunderten betreibt der Staat Bodenneuord-
lich die nur wenige Meter breiten »Handtuchfluren« übrig
nungen im ländlichen Raum – mit sehr unterschied-
blieben. Die Zersplitterung und stetige Verkleinerung des
lichen Zielen. Meist stand die ökonomisch zweckmä-
Besitzes erschwerte natürlich eine langfristige Existenzsi-
ßige Landbewirtschaftung im Vordergrund. Dabei ging
cherung der landwirtschaftlichen Betriebe in den Realerb-
es vor allem um die Zusammenlegung von zersplit-
gebieten.
tertem Grundbesitz, den Feldwegebau und den Hoch-
Generell haben auch die Staaten (und deren Wirtschafts-
wasserschutz. Heute ist die staatliche Flurbereini-
und Finanzminister) bzw. früher die Landes- und Grund-
gungsbehörde für zahlreiche und komplexe Aufgaben
herren ein Interesse an ökonomisch stabilen und ertrag-
der ländlichen Entwicklung zuständig. Im Mittelpunkt
reichen landwirtschaftlichen Betrieben. Daher gibt es in
stehen die Dorferneuerung und die Kultur- und Natur-
Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern
landschaftspflege.
schon seit der Frühen Neuzeit Reformen, Gesetze und Förderprogramme mit dem Hauptziel, die kleinparzellierte
Schon auf kleinmaßstäblichen Luftbildern von Deutsch-
Flur zugunsten größerer, betriebswirtschaftlich sinnvol-
land kann man erkennen, dass die Flurstücke von Region
ler Feldstücke umzuwandeln. Diese einschlägigen staatli-
zu Region sehr unterschiedliche Größen haben. Generell
chen Ziele und Maßnahmen werden heute in den Begriffen
sind sie im Norden und Osten am größten, die kleinsten
»Flurbereinigung« bzw. »Bodenneuordnung« zusammen-
Flurparzellen finden sich im Süden und Westen Deutsch-
gefasst. Auch die dafür zuständigen staatlichen Ämter tru-
lands. Diese Kontraste im Flurbild sind historisch entstan-
gen oder tragen in der Regel diese Namen.
den durch ein unterschiedliches Erbrecht. Im Norden und
Die staatliche Flurbereinigung zielt grundsätzlich auf
Osten Deutschlands galt früher die geschlossene Vererbung
eine Verbesserung der Agrarstruktur ab. Neben der Besei-
oder das Anerbenrecht: Das landwirtschaftliche Grundei-
tigung von kleinparzelliertem Grundbesitz geht es dabei
gentum ging im Erbgang ungeteilt an eine Person über. Im
auch darum, das Feldwegenetz und die Wasserwirtschaft zu
Westen und Südwesten dominierte hingegen die Realtei-
verbessern, Betriebe zu vergrößern, Orte aufzulockern, Aus-
lung: Das landwirtschaftliche Vermögen wurde gleichmäßig auf die Erben aufgeteilt. Durch fortgesetzte Teilungen entstanden so immer schmalere Flurparzellen, bis schließ-
294
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Schmale Parzellen wie hier in Bayern erschweren die Landbewirtschaftung. Hier kann die Flurbereinigung helfen.
siedlerhöfe zu errichten und insgesamt Dörfer zu erneuern.
15. Jahrhundert) und in Skandinavien (seit dem 18. Jahr-
Nicht selten dient die Flurbereinigung auch nicht agraren,
hundert) statt.250 Hier ist die Landwirtschaft schon seit dem
überregionalen Planungen für Autobahnen, Bahntrassen,
19. Jahrhundert komplett aus den beengten Dorflagen ver-
Kanäle oder Flugplätze, wobei sie zwischen den Privatinte-
schwunden und konzentriert sich jetzt auf die frei in der
ressen der Landwirtschaft und den Gemeinwohlinteressen
Feldflur liegenden Gehöfte. Diese Nachbarländer haben
des Staates zu vermitteln hat. Die meisten Gemarkungen in
durch ihre frühen und flächenhaften Flurneuordnungen
Deutschland haben seit dem 19. Jahrhundert zumindest ein-
einen deutlichen strukturellen Vorsprung gegenüber der
mal eine Flurbereinigung erfahren.
deutschen Landwirtschaft, die in vielen Regionen immer
Die ältesten staatlichen Flurneuordnungen fanden in Deutschland ab dem 16. Jahrhundert im Allgäu und in
noch relativ kleinparzelliert ist und sich häufig auch noch in beengten Dorflagen befindet.
Oberschwaben statt. Es kam hier zu den sog. »Vereinödun-
Eine erste flächenhafte Verbreitung fand die staatliche
gen«, d. h. zu Aussiedlungen von Hofstellen aus den beeng-
Flurneuordnung in Deutschland mit den Agrarreformen
ten Ortslagen in die Flur, und gleichzeitig zur Zusammen-
des 19. Jahrhunderts. So kam es zur Aufteilung, d. h. Priva-
legung (Arrondierung) der Besitzflächen um die neuen
tisierung, des Gemeindelandes – der Allmende. Um den
Einödhöfe. Diese Neuordnung fand bis ins 19. Jahrhundert
»Flurzwang«, also die fest geregelte Bewirtschaftung der
statt. Ein Beispiel hierfür ist die Vereinödung von Gun-
Feldparzellen, aufheben zu können, stand für Jahrzehnte
zesried im Allgäu aus den Jahren 1826–28.
Insgesamt 49
der Feldwegebau im Vordergrund. Seit Mitte des 19. Jahr-
Hofstellen wurden in die Feldflur ausgesiedelt und der frei
hunderts konzentrierte sich die Flurbereinigung darauf,
249
werdende Hofgrund an die verbleibenden Höfe aufgeteilt.
die in der Flur verstreuten Feldstücke zusammenzulegen.
Das generelle Ergebnis dieser Flurneuordnung war nicht
Diese Bemühungen trugen regional unterschiedliche Na-
nur eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Produk-
men wie Verkoppelung, Konsolidation, Arrondierung, Se-
tionsbedingungen, sondern auch eine Umgestaltung der
paration, Vereinödung oder Feldbereinigung. In dieser
Siedlungslandschaft: Aus einer Landschaft mit eng bebau-
Phase entwickelte sich allmählich auch der Berufsstand der
ten Dörfern entwickelte sich ein Streusiedlungsgebiet mit
Bodenneuordner oder Flurbereiniger. Es sind früher wie
Einzelhöfen und vereinzelten Weilern sowie locker bebau-
heute Geodäten (früher »Landmesser« oder »Feldmesser«),
ten, kleinen Dörfern. Ähnliche Maßnahmen der Dorfauf-
also Vermessungsingenieure. Doch deren Arbeitsfelder
lockerung und manchmal auch der Dorfauflösung zuguns-
gehen inzwischen weit über das reine Vermessen hinaus.
ten von arrondierten Einzelhöfen in der Flur fanden in sehr
Durch die immer komplexer gewordenen Aufgabenstellun-
viel größeren Ausmaßen vor allem in England (seit dem
gen arbeiten die Flurbereinigungsämter heute intensiv mit
Im Allgäu wurden ab dem 16. Jahrhundert Einzelhöfe in die Flur ausgesiedelt: Ergebnisse einer frühen Flurbereinigung.
Dorfpolitik
295
Gemeinde Büttgen
Gemeinde Kleinenbroich
vor Flurbereinigung 1961 Birkhof
sich extrem zersplittert in schmalen, langen und gebogenen Parzellen in Gemengelage ohne Feldwegeerschließung. Die Gemarkung erhielt im Bereinigungsprozess gerade Linien und größere Besitzflächen. So ist das neue Flurbild geprägt durch wenige rechtwinklige Parzellen und ein syste-
B er en ch Jü
matisches Feldwegenetz, das die Erschließung jeder Besitzeinheit ermöglicht251a.
h ac
Lüttenglehn
Die erste reichseinheitliche Regelung zur Flurneuord-
Glehn
nung erfolgte erst im 20. Jahrhundert, und zwar durch
Schanzer Höfe
das Reichsumlegungsgesetz von 1936 und die Reichsum-
Jüchener Bach
Epsendorf
legungsordnung von 1937. Zu deren vorrangigen Zielen
Scherfhausen
Beispielbetriebe
gehörten die Selbstversorgung der Bevölkerung mit Nah-
Ortsbetrieb 24 Besitzstücke
rungsmitteln und damit eine Erhöhung der landwirt-
Aussiedlungsbetrieb 32 Besitzstücke
schaftlichen Produktion. Die staatlichen Programme zielten darauf ab, Flurstücke zusammenzulegen, Ortslagen aufzulockern und Aussiedlungen zu fördern. Außerdem gab es auch das Leitziel einer Vergrößerung der landwirtschaftli-
00
500 500
m
chen Nutzflächen durch die Urbarmachung von Mooren und Sümpfen, die Nutzung von brachliegendem Ödland Gemeinde Büttgen
Gemeinde Kleinenbroich
nach Flurbereinigung 0 500m 1966 Birkhof
sowie die Neulandgewinnung an den Küsten. Die geplanten Maßnahmen wurden allerdings nur kurze Zeit ausgeführt, sie endeten mit Beginn des Krieges. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete in Westdeutschland das Flurbereinigungsgesetz von 1953 die neue Gesetzes-
Jüc rB
ne
he
grundlage. Zur Durchführung von konkreten Flurbereini-
ach
gungsverfahren entstanden in allen Bundesländern schlag-
Lüttenglehn
Glehn
kräftige Behörden, die sich »Flurbereinigungsämter« oder
Schanzer Höfe
»Ämter für Agrarordnung« nannten. Das Gesetz von 1953 gilt im Wesentlichen bis heute, es bekam jedoch durch eine
Mülldeponie
Jüchen
er Bach
Epsendorf
Beispielbetriebe Ortsbetrieb 3 Besitzstücke
Scherfhausen
Aussiedlungsbetrieb 1 Besitzstück
Eine typische Flurbereinigung der 1960er Jahre: das Beispiel Glehn am Niederrhein
Novellierung im Jahr 1976 neue agrarpolitische Zielsetzungen. Für gut zwei Jahrzehnte lagen die überwiegend ökonomisch orientierten Schwerpunkte der Flurbereinigung in Ortsauflockerungen und Aussiedlungen von Betrieben in die Feldflur, Flurstückszusammenlegungen sowie in Feldwege- und Wasserbauten. Von diesen Maßnahmen, die auch in zahlreichen Weinbergsgemarkungen durchgeführt wurden, profitierte ohne Zweifel die westdeutsche Landwirtschaft.
Agraringenieuren, Bauingenieuren, Architekten, Denk-
Ein typisches Flurbereinigungsverfahren aus den
malpflegern, Geographen, Ökologen, Landespflegern, So-
1960er Jahren zeigt das Beispiel Glehn (s. Abb. oben). Hier
ziologen, Historikern und Juristen zusammen.251
wurden im Wesentlichen sechs Maßnahmen verwirklicht:
Ein gutes Beispiel für die Flurneuordnung des 19. Jahr-
296
1. Beseitigung der Flurzersplitterung: So wurde für den
hunderts bietet die Separation von Göhritz westlich von
dargestellten Ortsbetrieb die Anzahl der Betriebsstücke
Merseburg im Jahr 1854. Die Flur vor der Bereinigung zeigt
von 24 auf 3 reduziert;
Das moderne Dorf
2. Aussiedlung von Höfen in die Feldflur mit arrondierten
lektivierungsphase ab 1952 wurden dann alle landwirt-
Besitzflächen: Hier konnte für das gezeigte Beispiel eine
schaftlichen Betriebe zur Zusammenlegung ihrer Eigen-
optimale Reduzierung der Betriebsstücke von 32 auf 1 er-
tumsflächen in die neu geschaffenen LPG s genötigt. Nach der Wiedervereinigung etablierte man in den
reicht werden; 3. Landstraßenneubauten der L 377 und L 376 mit Umge-
neuen Ländern flächendeckend – nach westdeutschem Vorbild – neue Flurbereinigungsämter und stattete sie mit ho-
hung der Ortschaften; 4. Feldwegebau;
hen Personal- und Sachetats aus. Grundlage waren das be-
5. Begradigung des Jüchener Baches;
stehende Flurbereinigungsgesetz und das in Kraft getretene
6. Anlage von Gräben zur Entwässerung und Vermeidung
Landwirtschaftsanpassungsgesetz von 1990/91. Generell ging es in der Folge um die »Lösung der Bodenfrage«,252 de-
von Überschwemmungen.
ren Herausforderung darin bestand, die sozialistische EiDer in den frühen 1970er Jahren einsetzende allgemeine
gentums- und Agrarordnung in eine liberale, auf Privatei-
Wertewandel zu mehr Umwelt- und Kulturpflegebewusst-
gentum basierende Agrarordnung zu überführen. Die kon-
sein führte zu einer breiten öffentlichen Kritik an der Flur-
kreten Aufgaben der neuen Ämter lagen zunächst in der
bereinigung. Nun waren die alten Ziele wie Begradigung,
Aufteilung der riesigen Schläge, entsprechend der neuen
Arrondierung, Hochwasserfreilegung (der Ortslagen) und
bzw. alten Eigentumsflächen, und im Feldwegebau. Heute
Dorfsanierung umstritten. Die Flurbereinigung wurde ver-
geht es zunehmend und damit vergleichbar mit West-
antwortlich gemacht für den starken Artenrückgang in der
deutschland um Landschaftspflege, Naturschutz und nicht
Tier- und Pflanzenwelt, für die Bodenzerstörung und die
zuletzt um Dorferneuerung.
Ausräumung und manchmal gar Zerstörung ganzer Landschaften und Dörfer. Gesetzgeber und Behörden reagierten daraufhin durchaus auf den Bewusstseinswandel und die Kritik – bereits mit der Novellierung des Flurbereinigungsgesetzes von 1976 wurden andere Akzente gesetzt. Neu aufgenommen wurden »bodenschützende« und »landschaftsgestaltende« Maßnahmen. Die Aufgabenstellungen Ortsauflockerung und Aussiedlung wurden hingegen aufgegeben und durch eine umfassende Dorferneuerung ersetzt. Heute gehören Arten- und Biotopschutz, Boden- und Erosionsschutz,
Wasserrückhaltung,
Kulturlandschafts-
pflege und inzwischen vorrangig die ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung zu den Schwerpunkten der Flurbereinigung. Die klassischen Zielvorgaben der 50er und 60er Jahre sind inzwischen in den Hintergrund gerückt oder ganz aufgegeben worden. In der DDR gab es keine Gesetze und Behörden zur Flurbereinigung, die mit Westdeutschland vergleichbar wären. Dennoch kam es zu »Flurbereinigungen« der ganz anderen Art – als Konsequenz einer sozialistischen Agrarpolitik. Nachdem im Rahmen der sog. »Bodenreform« von 1945 bis 1949 alle landwirtschaftlichen Betriebe ab 100 ha enteignet worden waren, wurden diese Flächen z. T. in kleine Parzellen für Neubauern (in der Regel Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten) aufgeteilt. In der KolAuch Weinberge werden flurbereinigt. Dabei geht es vor allem um Wegeerschließung, Entwässerung und Erosionsschutzmaßnahmen: hier das Beispiel Strümpfelbach.
Dorfpolitik
297
Von der Dorf- und Landesverschönerung Die Entwicklung vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert
Der erste bekannte Dorfverschönerungsplan in
Forstwirtschaft im Vordergrund. Doch seit etwa 200 Jah-
Deutschland stammt aus dem Jahr 1807. Das Dorf
ren gibt es neben den ökonomischen Interessen auch ver-
Freudenbach bei Creglingen sollte nach den Prinzipien
schiedene Bewegungen, die eine Verschönerung der ländli-
der Harmonie, der geometrischen Ordnung und Nütz-
chen Kulturlandschaft zu ihrem Anliegen gemacht haben.
lichkeit umgestaltet werden. Wichtige Impulse erfuhren
Zunächst waren es die Landesherren (der vielen deutschen
zahlreiche Dörfer und ländliche Kulturlandschaften
Kleinstaaten), daneben vor allem der Adel und die Klöster,
durch die großartigen Parkschöpfungen des Adels in
dann die ländlichen Gemeinden und schließlich die Hei-
allen deutschen Regionen. Aber auch der beginnende
matschutz- und Verschönerungsvereine, die das Dorf ästhe-
Tourismus an den Küsten, am Rhein, am Alpenrand
tisch aufwerten wollten.
und in den Mittelgebirgen führte zu bewussten Dorf-
Die Bewegung der »Landesverschönerung« entstand in
verschönerungen. Bereits 1867 wurde in Remagen
Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Als ihr Be-
ein sog. »Lokalverschönerungsverein« gegründet.
gründer gilt Karl Vorherr, der als Baubeamter in verschie-
Eine breite Heimat- und Denkmalschutzbewegung für
denen Regionen Süddeutschlands tätig war. In einem 1808
ganz Deutschland begann um 1900.
veröffentlichten Aufsatz »Über Verschönerung Deutschlands« rief er dazu auf, durch Förderung des Ackerbaus, der
Bei der Gestaltung von Dörfern und Fluren stand früher in
Gartenkunst und der Baukunst das ganze Land planmä-
der Regel die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit im Vorder-
ßig zu verschönern, um Deutschland zu einem »Eden von
grund und das, was lange hielt (also nachhaltig war) und
Europa« zu machen.253 Ideen der Aufklärung und Roman-
was man sich leisten konnte, wie z. B. die Baumaterialien aus
tik kamen hier zusammen. Die Aufklärung brachte Ord-
der eigenen Gemarkung. Mit Gedanken um die Schönheit
nungsdenken, klare Formen und Volkserziehung, die Ro-
ihrer Dörfer und Felder werden sich die meisten Landbe-
mantik entdeckte den Reichtum der eigenen Geschichte
wohner sicherlich nicht allzu oft beschäftigt haben. Auch
sowie den von Natur und Landschaft. Durch die Landesver-
die Landes- und Grundherren hatten vorwiegend ökono-
schönerung sollten die Bereiche Landwirtschaft, Gewerbe,
mische Interessen am ländlichen Raum. Selbst bei den früheren Agrarreformen und Maßnahmen der Flurbereinigung stand die wirtschaftliche Verbesserung der Land- und
298
Das moderne Dorf
Ein bewusst schön gestaltetes »Musterdorf« entstand um 1800 in Paretz in Brandenburg. Initiator war der preußische König Friedrich Wilhelm III .
Obstbau und Gartenbau gefördert und dazu die Dörfer und
auftragte. Es entstanden ein schlichtes königliches Land-
Fluren sowohl nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit
haus im Stil des Klassizismus, ein Amtshaus, mehrere Bau-
und Zweckmäßigkeit als auch der Harmonie und Schön-
erngehöfte und ein Familienhaus, in dem ein Leineweber,
heit gestaltet werden.
ein Fischer, vier Drescher und Tagelöhner, ein Müller und
Von Gustav Vorherr stammt auch der erste bekannte Dorf-
der Dorflehrer wohnten. Außerdem wurde eine Schmiede
verschönerungsplan in Deutschland, den er 1807 für sein
und ein Gasthaus errichtet sowie die alte Feldsteinkir-
Heimatdorf Freudenbach vorlegte (s. Abb. unten).
Das vor-
che zu einer neugotischen Kirche mit einer Königsloge
geschlagene Ordnungsraster neuer, rechtwinkliger Straßen
umgebaut. Den Dorfeingang betonte der Architekt durch
ist vom Stil des Klassizismus geprägt. Aus zeitgenössischen
zwei Torhäuschen, in denen ein Schafstall und die Woh-
Berichten wissen wir, dass die Dörfer damals in einem jäm-
nung für den Schafhirten untergebracht waren. Alle Häu-
254
merlichen Zustand und zugleich verschuldet waren. Um
ser der Dorfbewohner waren sorgfältig geplant. Sogar an
nicht zu viel Geld investieren zu müssen, schlug Vorherr
den Scheunen finden sich verblendete Rundfenster und
deshalb nur geringe Renovierungsarbeiten an den Gebäu-
Fledermausgauben. In Paretz verbrachten König Friedrich
den selbst vor. Es kam ihm zunächst darauf an, die Infra-
Wilhelm III . und seine Ehefrau Königin Luise von 1797 bis
struktur und die Landbewirtschaftung zu modernisieren
1805 jeden Sommer einige Wochen und genossen das Land-
und damit eine Aufbruchstimmung zu begründen. Die
leben. Doch das Musterdorf diente nicht nur dem Vergnü-
Ideen der ästhetischen und kulturellen Landesverschöne-
gen, es warf auch Erträge ab.255
rung des frühen 19. Jahrhunderts schlugen sich zwar noch
Zu einer wirklichen und bleibenden Bereicherung der
in einer Reihe von beeindruckenden Plänen nieder, sie fan-
ländlichen Kulturlandschaft kam es flächenhaft vom spä-
den jedoch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts keine
ten 18. Jahrhundert an durch die zahlreichen und vielfäl-
durchgehende Verbreitung. Die Landbevölkerung wie
tigen Parkschöpfungen des Adels. Vor allem von engli-
auch die Landes- und Grundherren waren mit der Umset-
schen Vorbildern (landscape-gardening) angeregt, entstan-
zung der Agrarreformen, mit starken Bevölkerungszunah-
den um die adligen Schlösser und Herrenhäuser weit mehr
men, Missernten und Hungersnöten sowie betriebswirt-
als tausend Landschaftsparks in Deutschland. Als Urzelle
schaftlichen Neuerungen ausreichend beschäftigt.
auf deutschem Boden gilt Wörlitz, wo man um 1765 mit der
Das Beispiel eines neu errichteten »Musterdorfes« ist Pa-
Gestaltung eines neuen Parks nach Vorbildern aus England
retz westlich von Potsdam. Initiator war der preußische Kö-
begann.256 Zuvor hatte der junge, in Wörlitz residierende
nig Friedrich Wilhelm III ., der 1797 den Architekten David
Fürst Franz von Anhalt-Dessau mit seinem befreundeten
Gilly mit der planmäßigen Anlage eines ganzen Dorfes be-
Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff meh-
1807
um 1830
Dorfverschönerungsplan von Gustav Vorherr für Freudenbach
Ein Dorferneuerungsplan von 1807 für Freudenbach, Kreis Ansbach. Das bestehende Haufendorf Freudenbach (s. Plan von 1830) wurde dem Zeitstil entsprechend streng klassizistisch umgeplant. Die damalige Bewegung der Landesverschönerung hatte zum Ziel, Landwirtschaft, Gartenkunst und Architektur zu vereinen und Dörfer nach den Prinzipien der Harmonie, der geometrischen Ordnung und Nützlichkeit zu gestalten. Dieser erste bekannte deutsche Dorferneuerungsplan von 1807 wurde allerdings nicht verwirklicht, wie der Plan von 1830 zeigt.
Dorfpolitik
299
Ab dem späten 18. Jahrhundert bereicherten zahlreiche Parkschöpfungen die ländliche Kulturlandschaft. Die ersten entstanden – nach englischen Vorbildern – in Wörlitz bei Dessau, hier der Park und das Schloss Luisium.
rere Kunst- und Bildungsreisen nach Italien, Frankreich
ben, Denkmälern, Grotten, Pyramiden und Vulkanen, die
und vor allem England durchgeführt und sich dort reich-
dem Spaziergänger durch immer wechselnde Sichtachsen
liche Anregungen geholt. Die Parkschöpfungen veredelten
erschlossen wurden. Bei der Gestaltung der Parks waren der
die Naturlandschaft: Ehemals sandiges Ödland, sumpfige
Fantasie der Parkschöpfer kaum Grenzen gesetzt. Zu den
Talzüge oder kahle Ebenen wurden in kunstvolle und üp-
großartigsten gehören die Anlagen in Wörlitz, Branitz und
pige Parklandschaften umgewandelt. Mit bestehenden Ge-
Muskau an der Neiße. In Muskau hat Fürst Hermann von
bäuden ging man nicht immer behutsam um. Die häufig
Pückler-Muskau seine »Utopie« realisiert: Nicht nur das
in der Nähe der Residenzen liegenden Gutshöfe oder Teile
Schloss mit seinen Nebengebäuden, sondern auch das Dorf
von Dörfern wurden beseitigt oder verlagert, wenn sie im
Muskau, gewerbliche Betriebe und die Ländereien sind in
Wege standen, wie das Beispiel von Branitz in Brandenburg
das Konzept des Parks einbezogen.
Herzstück der Parks waren zunächst das Schloss
Neben den Parks und Schlossgärten des Adels waren na-
oder Herrenhaus mit den dazugehörigen Nebengebäuden
türlich auch die Klostergärten der verschiedenen Orden
wie Pferdeställen, Wagenschuppen, Küchenhaus, Orange-
ein besonders schönes Element der ländlichen Kulturland-
rie und Gästehaus. Von dort ging es über breite Terrassen
schaft mit oft erheblicher Ausstrahlung auf die Pfarr- und
mit Blumen- und Staudenbeeten zu größeren Rasenflächen,
Bauerngärten der umliegenden Dörfer. Nach der Auflösung
Baumgruppen, Hainen, Einzelbäumen, Baumschulen und
der meisten Klöster durch die Säkularisation im Jahr 1803
Gemüsegärten, zu künstlichen Hügeln, Seen und Bächen
verwilderten und verbuschten jedoch sehr viele der ehemals
mit Brücken, Inseln und Wasserfällen, zu Tempeln, Lau-
prächtigen Gartenanlagen, die wir noch aus alten Stichen
zeigt.
300
257
Das moderne Dorf
Einer der größten Parkschöpfer in Deutschland war Fürst Hermann von Pückler, der zuerst in Muskau an der Neiße seine »Utopie« verwirklichte und dabei Schloss, Gutshof und Dorf in sein Parkkonzept einbezog, hier eine Farblithographie von 1834.
und Gemälden kennen. Nur ein kleiner Teil der früheren
verkehrsgemeinden gründete man zu diesem Zweck häufig
Klostergärten hat bis heute Bestand. Einzelne wurden in-
spezielle Verschönerungsvereine. So entstand in Remagen
zwischen nach alten Vorgaben wiederhergestellt, wie das
am Rhein im Jahr 1867 der erste »Lokalverschönerungs-
Beispiel des Klosters Dalheim in Westfalen zeigt.
verein« der Region.258 Bereits in den folgenden zwei Jah-
Die Orts- und Landesverschönerung bekam ab der Mitte
ren legte dieser Verein einen Promenadenweg an und ge-
des 19. Jahrhunderts einen neuen Impuls durch den Tou-
staltete einen Aussichtspunkt mit einem Pavillon und ei-
rismus, der sich in vielen ländlichen Regionen nun stärker
ner breiten Terrasse. Schon ein Jahr nach Remagen wurde
entwickelte. Dieser begann an den Küsten, im Alpenvorland,
im benachbarten Neuenahr ein »Verschönerungs-Verein
in den Mittelgebirgen, am Rhein und seinen Nebenflüssen
für Bad Neuenahr« gegründet. Der dortige Badearzt Dr. Un-
sowie an Orten mit neu erschlossenen Mineral- und Ther-
schuld formulierte 1870 die Notwendigkeit solcher Bemü-
malquellen. So entstanden bereits ab dem späten 18. Jahr-
hungen: »Neuenahr, erst in der 2. Dekade seiner Wirksam-
hundert in zahlreichen kleinen, ländlichen Orten wie Dri-
keit, bietet dem Fremden als ersten Eindruck den des
burg oder Lauchstädt bemerkenswerte Kurbauten, die bis
Unfertigen. Hütten neben Hotels, Sandwüsten neben Park-
heute Besucher anziehen. Um den Gästen den Aufenthalt
anlagen, Ziegenställe neben Wagenremisen, Filetvorhänge
angenehmer zu machen, wurden auch die Ortsbilder auf-
neben Papierscheiben.«259 In den touristisch geprägten Or-
gebessert, Promenaden und Aussichtspunkte, Kurparke
ten und Regionen Deutschlands entstanden nicht nur die
und Trinkhallen angelegt. In den aufstrebenden Fremden-
bis heute sehenswerten Kurparks, Badehäuser, Wandelhal-
Dorfpolitik
301
Heimatschutz« gegründet, der mit seiner regionalen und lokalen Präsenz bald flächendeckend in ganz Deutschland (also auch in den Städten) aktiv wurde und bis heute Bestand hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug er jahrzehntelang den Namen »Deutscher Heimatbund«, seit 1998 firmiert er unter dem Titel »Bund Heimat und Umwelt (in Deutschland)« oder kurz »BHU «. Das wachsende Heimatund Nationalbewusstsein im späten 19. Jahrhundert beförderte auch die Entstehung der modernen Denkmalpflege. Zu deren Bibel wurde das »Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler«, das in fünf dicken Bänden von 1905 bis 1912 von Georg Dehio herausgegeben wurde. »Der Dehio« dieser Gründerjahre ist bis heute ein Standardwerk und immer wieder neu aufgelegt worden. Auch der Schutz schöner Ortsbilder und Landschaften fand bald seine Verankerung in der Gesetzgebung. Das preußische Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich hervorragenden Gegenden von 1907 wandte sich gegen unschöne bauliche Veränderungen.260 Es gab den Gemeinden außerdem die Erlaubnis, durch Ortssatzungen »schönheitliche« Anforderungen an bevorzugte Gebiete festzulegen. Die Parkanlagen und Kurgebäude von Driburg in Westfalen sind vorwiegend im späten 18. und im 19. Jh. entstanden. Das gesamte Ensemble ist bis heute sehr gepflegt und wurde vor ein paar Jahren zu einer 5-Sterne-Anlage restauriert und ausgebaut.
Die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts brachten relativ wenig nachhaltige Impulse für die Dorf- und Landesverschönerung. Allerdings wurden nun erstmals im Rahmen der Flurbereinigung vereinzelt auch Maßnahmen zur
len und Promenaden, sondern auch ansehnliche Ortsbilder
»Auflockerung der Ortslagen« durchgeführt. In den 1930er
mit zahllosen Gasthöfen, Cafés und Hotels in der sog. »Bä-
Jahren gab es Bestrebungen, den schlechten baulichen Zu-
derarchitektur«. Diese vorwiegend im Historismus-Stil der
stand der Landarbeiterhäuser und -wohnungen in den
Gründerzeit errichteten Gebäude sind besonders auf den
Gutsdörfern zu beseitigen. Es entstand die »Verordnung zur
Inseln und an den Küsten der Ostsee bis heute in großer
beschleunigten Förderung des Baues von Heuerlings- und
Zahl erhalten.
302
Werkswohnungen sowie von Eigenheimen für ländliche
Um 1900 entwickelte sich in allen Teilen Deutschlands
Arbeiter und Handwerker« vom 10. 3. 1937.261 Wie man sich
eine breite Heimatschutzbewegung. Sie zielte vor allem
ein Gutsdorf mit mustergültigen Landarbeiterhäusern vor-
auf eine Erhaltung und Pflege bäuerlich-ländlicher und re-
stellte, wurde dann in Alt Rehse bei Neubrandenburg bei-
gionaler Kulturgüter und Traditionen ab. Man deutet diese
spielhaft veranschaulicht: Nachdem man das alte Dorf ab-
Bewegung heute als Reflex gegen die Industrialisierung
gerissen hatte, wurden 22 Einzel- und Doppelhäuser mit
und Urbanisierung mit ihren schnellen Veränderungen,
Fachwerk und Reetdach im Stil der deutschen Provinzen
aber auch als Folge des im späten 19. Jahrhundert zuneh-
errichtet. Die etwas skurril anmutende Anlage steht heute
menden Nationalgefühls. Im Jahr 1904 wurde der »Bund
unter Denkmalschutz und kann besichtigt werden.
Das moderne Dorf
Die erste Modernisierungswelle der Dörfer Dorfsanierung von 1950 bis 1980
In den 1950er Jahren begann die intensive bauliche
frühen 1950er Jahren? Sie kann in den meisten Dörfern aus
Modernisierung der Landwirtschaft und des Dorfes.
heutiger Sicht als mangelhaft bezeichnet werden. In Tau-
Die Kommunen erneuerten die technische Infra-
senden von deutschen Landgemeinden gab es weder eine
struktur: Straßen, Wasser- und Abwasserleitungen.
Wasserleitung noch eine allgemeine Kanalisation für die
Die Häuser erhielten moderne Badezimmer und
Abwässer. Vielerorts gab es keine befestigten Straßen, Bür-
Toiletten. Zahllose Altbauten wurden abgerissen. Der
gersteige und Straßenbeleuchtung waren eine Seltenheit.
Staat gab durch neue Gesetze und Förderprogramme
Ein Großteil der Bauern- und Handwerkerhäuser war über
vielfach die Richtung vor. »Ortsauflockerung« und »Dorf-
hundert Jahre alt und in einem schlechten baulichen Zu-
sanierung« hießen die Leitbilder. Für die überlieferte
stand. Die meisten Haushalte besaßen weder ein Bad noch
Baukultur zeigte man wenig Respekt. Man glaubt es
eine Wassertoilette. Gleichzeitig stiegen die Ansprüche der
heute kaum, wie radikal noch im Jahr 1970 Landes-
Dorfbewohner an ihre Häuser, z. B. an Geschosshöhen, Zu-
politiker und anerkannte Dorfplaner das Dorf umge-
schnitt und Besonnung der Räume. Sie schauten bald auf
stalten wollten.
die Neubausiedlungen am Dorfrand, die z. B. in ihren Badund Toilettenräumen bereits moderner waren. Die land-
Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg galten dem
wirtschaftlichen und handwerklichen Betriebe hatten vor
Wiederaufbau der landwirtschaftlichen Produktion und
allem in den eng bebauten Dörfern West- und Süddeutsch-
der Notversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmit-
lands kaum Chancen, sich zu erweitern, was wirtschaftlich
teln. Doch ab den frühen 1950er Jahren setzten die Fach-
aber nötig war. Die Hof- und Gewerbeplätze waren einfach
planungen für das Land neue Schwerpunkte. Es begann der
zu klein. Doch der Staat erkannte den Handlungsbedarf
längst überfällige Strukturwandel der Landwirtschaft und
und begleitete und förderte mit seinen Fachplanungen den
die notwendige bauliche Modernisierung des Dorfes. Bei-
notwendigen baulichen Strukturwandel.
des war durch die Weltkriege und Wirtschaftskrisen aufge-
Den ersten Impuls setzte das neue Flurbereinigungsge-
staut und verschoben worden. Die inhaltlichen Leitbilder
setz von 1953, das u. a. zur »Auflockerung« der Ortslagen
der neuen staatlichen Programme lauteten »Ortsauflockerung« und »städtebauliche Dorfsanierung«. Wie also war die bauliche Situation auf dem Land in den
Abbildung oben: Die enge Bebauung alter Dorfkerne um 1950 zeigt den Handlungsbedarf: Platz schaffen und modernisieren!
Dorfpolitik
303
den sehr unterschiedlich genutzt: für Straßenerweiterungen und Parkplätze, für Spielplätze und Grünanlagen, aber auch für Erweiterungen von benachbarten landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betrieben. Mit dem Bundesbaugesetz von 1960 griff eine weitere Fachplanung in das Dorf ein. Allgemeine bauliche und infrastrukturelle Standards, bisher nur in Städten angewandt, galten nun auch auf dem Land. Damit erhielt das Dorf einen kräftigen Modernisierungsschub. Die Landgemeinden legten neue Wasser- und Abwasserleitungen, bauten Schulen, Kindergärten und Turnhallen. Straßen und Plätze wurden asphaltiert, Straßenlampen, Telefonzellen und Feuermelder errichtet. Mit dem Städtebauförderungsgesetz von 1971 kam dann der zusätzliche Auftrag, »städtebauliche Missstände« festzustellen und entsprechende Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen zu fördern. Man wollte Platz schaffen für Neues sowie Luft und Licht in die Häuser bringen – man wollte das Dorf aufwerten. Die Dorfsanierungen der 1960er und frühen 1970er Jahre waren vornehmlich Modernisierungen nach städtischen Standards. Die konkreten Maßnahmen zielten in erster Linie auf Abriss und Neubauten (wie damals auch in den meisten Städten) und weniger auf eine behutsame Sanierung von Altbauten. Generell standen Altbauten nicht hoch im Kurs, man sprach oft abfällig von Gelumpe oder 1950 diente die Dorfstraße den Menschen und Tieren, noch nicht dem Autoverkehr.
Rattenburgen. Die vorherrschenden städtebaulichen Konzepte der Fachplanungen führten nicht selten zu Flächensanierungen, die aus heutiger Sicht als übertrieben erschei-
aufforderte. Diese Zielvorgabe diente zunächst vor allem
nen. Eine große Wichtigkeit besaß seinerzeit der Dorfstra-
der Agrarstrukturverbesserung, nämlich Platz zu schaffen
ßenausbau. Entsprechend dem Leitbild der »autogerechten
für die im Ort bleibenden landwirtschaftlichen Betriebe.
Stadt« wurde auch das »autogerechte Dorf« angestrebt.
Die Kernaufgaben der Flurbereinigung lagen in den 1950er
Man folgte den sog. »RAST -Empfehlungen« (Richtlinien
und 1960er Jahren aber in der Flur: Zusammenlegung von
für die Anlage von Stadtstraßen) mit den darin vorgege-
Parzellen, Feldwegebau und die ebenfalls stark geförderten
benen breiten Trassen und weiten Kurvenradien, um den
Aussiedlungen von Höfen zu ihren arrondierten Feldflä-
schnellen Autodurchfluss durch das Dorf zu ermöglichen.
chen. Die Ortsauflockerungen in dieser Phase waren daher
Dörfer wurden nicht als Lebensraum, sondern als Verkehrs-
eher ein Nebeneffekt der Aktivitäten in der Flur und hatten
hindernis betrachtet. Gerade der Straßenbau der 1960er
nur selten den Charakter ganzheitlicher Ortssanierungen.
und 1970er Jahre hat mit seinen breiten und geraden Tras-
Es kam jedoch in vielen eng bebauten Dörfern West- und
sen viele Altbauten, Plätze und Gärten beseitigt und zahl-
Süddeutschlands zu sog. »Entkernungen« von besonders
reiche Dörfer und Weiler in Deutschland in zwei Teile zer-
verdichteten Gebäudekomplexen, aber auch zu »Flächensa-
schnitten.
nierungen« bis hin zum Abbruch ganzer Dorfteile. In den
304
Die gewachsene Baukultur des Dorfes hatte in dieser
Dörfern Mehrstetten und Stebbach in Baden-Württemberg
Zeitspanne wenig Fürsprecher. Dies gilt nicht nur für die
z. B. ist genau das passiert. Die frei werdenden Flächen wur-
Agrar-, Bau- und Verkehrsbehörden. Auch die staatliche
Das moderne Dorf
Denkmalpflege schenkte seinerzeit ihr Interesse vornehmlich den Domen und Schlössern, den Rathäusern und Klosteranlagen, die bäuerlich-ländliche Bausubstanz überließ sie jedoch weitgehend sich selbst. Auch andere Einrichtungen für das Dorf wie der Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« betrieben zu dieser Zeit eher die Modernisierung des Dorfes und kümmerten sich weniger um die überlieferte Baukultur und Dorfbegrünung. Die deutschen Dörfer haben in den 1960er und 1970er Jahren einen Großteil ihrer überlieferten Bausubstanz verloren. Der Abriss kulturhistorisch wertvoller Gebäude hat vielen Ortsbildern die gewachsene Besonderheit und den alten Charme genommen. Aber auch die modernisierten Alt- und Neubauten dieser Zeit stehen heute vielfach in der Kritik, da sie nach Form, Baumaterial und Gestaltung oft keine Beziehung zum überlieferten Dorfbild erkennen lassen. Über den radikalen »Zeitgeist« der amtlichen Dorfplanung am Ende der 1960er Jahre kann man heute nur ins Staunen geraten. Ein prächtiges Beispiel geben die »Städtebaulichen Gutachten« für Haaren und Fürstenberg in Westfalen, die von der staatlichen Landesentwicklungsgesellschaft (LEG ) des Landes Nordrhein-Westfalen erarbeitet worden sind. Im Vorwort verweisen die beiden diplomierten Autoren ausdrücklich auf enge Beratungen mit den da-
Um 1970 eroberte der Autoverkehr die Dorfstraße, das Dorf galt nun als Verkehrshindernis. Nach der autogerechten Stadt plante man nun das autogerechte Dorf.
mals bedeutendsten Professoren für ländliches Bauen in Deutschland. Diese Gutachten mit Bestandsanalyse, Konzept und Maßnahmenplan zeigen exemplarisch die wissen-
körper Situationen ab, die man als städtebaulich oder histo-
schaftlichen und politischen Leitbilder der Dorfsanierung
risch wertvoll kennzeichnen könnte. Straßen- oder Platz-
vor 40 Jahren. Sie sind geprägt vom Idealziel einer Verstäd-
bildungen, die wegen ihrer Gesamtwirkung erhalten blei-
terung, geringer Wertschätzung der vorhandenen Bau- und
ben sollten, gibt es nicht. Einen ›Traditionsstil‹, auf den eine
Sozialstrukturen, insgesamt von Arroganz und Maßlosig-
Neubebauung Rücksicht zu nehmen hätte, gibt es nicht.«262
keit gegenüber jahrhundertealten Dörfern. Der gesamte
Beiden Dörfern wird jeglicher Eigenwert abgesprochen,
innere Kern der beiden Dörfer mit seinen z. T. sehr attrak-
um die geplante Tabula rasa (das rücksichtslose Wegräu-
tiven niederdeutschen Hallenhäusern, Hofplätzen und
men) zu rechtfertigen. Dabei gibt es sowohl in Haaren als
Gärten wurde für wertlos erklärt und komplett mit städ-
auch in Fürstenberg noch eine Fülle historischer Bauten
tisch-avantgardistischen Bauformen überplant. In Haaren
und Ensembles aus Fachwerk und Naturstein, von denen
waren es alle 120 Häuser des alten Dorfkerns, die man op-
inzwischen über 40 unter Denkmalschutz stehen! Die Rea-
ferte, allein die Kirche wurde verschont. Mit Ladenstraßen,
lisierung der »städtebaulichen Sanierung« von Haaren und
Terrassenbauten, Fußgängerzonen und überdimensiona-
Fürstenberg wurde bis auf einige Gebäudeabrisse aufgrund
len Flachdachblöcken wurden die typischen westfälischen
von Bürgerprotesten ab dem Ende der 1970er Jahre nicht
Haufendörfer in geradezu grotesker Weise verfremdet. Für
weiter betrieben und schließlich ganz eingestellt.
beide Orte wird in den Gutachten – jeweils gleichlautend! –
Die Phase des unbekümmerten und respektlosen Um-
festgestellt: »Nirgendwo innerhalb der bebauten Ortslage
gangs mit der ländlichen Baukultur endete in den späten
zeichnen sich durch Lage, Stellung und Aussehen der Bau-
1970er Jahren. Einen wichtigen Beitrag zu einem allmäh-
Dorfpolitik
305
Neuplanung des Haufendorfes Haaren (Ortskern) 1970
Bestand des Haufendorfes Haaren (Ortskern) 1970
F S
F Z
K A
F
F
F A F K S Z
Altenheim Freizeit-Spor t Kindergar ten Schulzentrum Zentrale Sanierungsgrenze
Neuplanung des Dorfkerns von Haaren im Modell
Städtebauliche Dorfsanierung der 60er und 70er Jahre: das Beispiel Haaren in NRW Die Abbildungen zeigen, wie Dorfplanungen noch vor wenigen Jahrzehnten betrieben wurden: vor allem mit geringer Wertschätzung der überlieferten lokalen und regionalen Baukultur.
306
Das moderne Dorf
lichen Bewusstseinswandel leistete seinerzeit der Journa-
wachsenen Dorf nur mehr der renovierte Kirchturm übrig-
list Dieter Wieland. Hier ein paar Beispielsätze seines kriti-
bleibt. Wir brauchen nicht die Reliquie, in Folie verpackt,
schen Appells an die Fachplaner, Politiker und Dorfbewoh-
wir brauchen die lebendige Auseinandersetzung mit den
ner: »Städte haben wir verpfuscht. Was gut war an ihnen,
alten Bauten, die unerschöpfliche Fundgrube an Rat und
das kompakte Nebeneinander von Wohnen, Geschäft und
Lösungen. […] Vielleicht haben wir keine Lehre nötiger als
Gewerbe – die Stadt der kurzen Wege, die haben wir zer-
das Studium der alten Dörfer. Alte Dörfer zeigen, wie man
stört. Soll sich nun das gleiche Trauerspiel, der gleiche Irr-
aus wenigem das Beste macht.«263
weg auf dem Lande wiederholen, geringer in den Dimen-
Die oft rabiate und auch vom Staat beförderte Moderni-
sionen, aber gleich schäbig und trostlos am Ende? […] Was
sierungswelle der 50er bis 70er Jahren hat in den Dörfern
Jahrhunderte zusammengetragen haben an Reichtum, an
viel Wertvolles quasi weggespült. Die Erinnerung daran ist
Form, an Phantasie, an Können und Wissen um das gute
heute weitgehend verblasst. Es sollte den Bürgern und Po-
Dorf und um das gute Leben in der Gemeinschaft, das dür-
litikern auf dem Land aber bewusst sein: Orte und Regio-
fen wir nicht verprassen und vergeuden. Es geht wahrhaf-
nen, die ihre natürliche und kulturelle Identität bewahren,
tig nicht um die Denkmäler. Es geht um die Welt unserer
sind beliebt und attraktiv – für die Landbewohner ebenso
Kinder. Denkmalschutz ist Mumienpflege, wenn vom ge-
wie für die Besucher, Touristen und potenziellen Zuzügler.
Dorfpolitik
307
Eine Trendwende in der Dorfmodernisierung Ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung von 1980 bis heute
Zwischen 1975 und 1980 vollzog sich eine Trend-
förderung großen Anteil hat. Man könnte sie heute als die
wende in der Beurteilung und Behandlung des Dorfes.
zweite, nunmehr dorfgemäße Modernisierungskampag ne
Die einseitige »Verbesserung« nach städtischen
des Landes durch den Staat bezeichnen.
Vorbildern hörte auf. Planer und Wissenschaftler
Die allmähliche Wahrnehmung der Eigenwerte des
er kannten die Eigenwerte des Dorfes und die Kom-
Dorfes begann Mitte der 1970er Jahre. Ein wichtiges Sig nal
petenz der Landbewohner. Daraus entstand das
gab das Europäische Denkmalschutzjahr 1975, das auch das
allgemein verbreitete Leitbild der »erhaltenden Dorf-
in seinem Geschichtsbewusstsein gebrochene Deutschland
erneuerung«. Man schenkt nun den historisch gewach-
aufforderte, seine historische Baukultur (wieder) wahrzu-
senen Dorfstrukturen eine besondere Beachtung.
nehmen und zu pflegen. Der europäische Impuls kam zwar
Es gilt heute das Ziel, den individuellen Charakter
zunächst Städten wie Lübeck, Osnabrück oder Bamberg zu-
des jeweiligen Dorfes zu erhalten und zu entwickeln.
gute, erreichte aber in zeitlicher Verzögerung bald auch das Land. So forderten das Bundesraumordnungsprogramm
In allen deutschen Dörfern sind in den letzten vier Jahr-
von 1975 und die darauf folgenden Planungsgesetze der
zehnten unter dem Stichwort »Dorferneuerung« zahllose
Länder ausdrücklich die Behebung von Strukturschwächen
und vielfältige öffentliche und private Aktivitäten abge-
in ländlichen Regionen. Besonders wichtig war die Novel-
laufen.
Sie haben dem Land gutgetan. So wurden alte Na-
lierung des Flurbereinigungsgesetzes von 1976. Der frühere
turstein- und Ziegelbauten renoviert und Fachwerkfron-
Auftrag der Ortsauflockerung wurde gestrichen und die
ten freigelegt, Straßen und Wege verkehrsberuhigt und ge-
komplexe Aufgabe der Dorferneuerung nun als wesentli-
pflastert, Dorfplätze mit Brunnen, Bänken und Laternen
cher Bestandteil der Flurbereinigung gesetzlich verankert.
errichtet. Außerdem wurden Dorfbäche renaturiert und
Im Jahr 1977 wurde die Dorferneuerung in das »Zukunfts-
264
Teiche angelegt, ortstypische Bäume, Büsche und Hecken
investitionsprogramm des Bundes und der Länder (ZIP ) zur
angepflanzt und nicht zuletzt durch Dorfgemeinschafts-
Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes«
häuser und Heimatstuben kulturelle und soziale Traditio-
aufgenommen.
nen wiederbelebt. Nach den Jahren der »städtischen« Dorfsanierung hat man die fast vergessenen Werte des Dorfes wiederentdeckt, woran die staatliche Dorferneuerungs-
308
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Nach 1975 wurden allzu breite Dorfstraßen zurückgebaut, wie hier in Wolfsbach in Oberfranken.
Gerade durch die Aufnahme in das ZIP -Programm entfaltete die Dorferneuerung eine ungeheure Breitenwirkung. In allen Bundesländern wurden die bestehenden Agrarämter für die Dorferneuerungsförderung ausgebaut. Auf vielen politischen und wissenschaftlichen Ebenen diskutierte man über Ziele, Inhalte und Verfahren der Dorferneuerung sowie generell über den Stellenwert des Dorfes in der Gesellschaft. In Berlin wurde die »Deutsche Akademie der Forschung und Planung im ländlichen Raum« begründet. Der Impuls der späten 1970er Jahre hatte eine nachhaltige Wirkung, die bis heute trägt. Dorferneuerung hat sich als ganzheitliche Aufgabenstellung zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum etabliert. Dazu gehören: Landwirtschaft, Gewerbe und private Dienstleistungen, Verkehr, Dorfstraßen und -plätze, kommunale Grundausstattung, Begrünung und Gewässer, bauliche Ordnung und Denkmalpflege, Gemeinschaftsleben. Bereits in den späten 1970er Jahren wurde das Leitziel der »erhaltenden Dorferneuerung« entwickelt und auch
Die ruhige Dorfplatzgestaltung – in den 80er Jahren – erlaubt vielfältige Nutzungen durch die Dorfbevölkerung: z. B. Aufstellung der Fronleichnamsprozession und des Schützenumzugs, Spielplatz für Kinder, Pfarrfeste, Kirmesplatz, Abstellen von Erntewagen u. a., das Beispiel zeigt Borgholz im Kreis Höxter.
bald darauf in den Förderungsrichtlinien der Länder verankert. Der Begriff betont den Anspruch, die historisch ge-
die jeweiligen Stärken und Schwächen eines Dorfes. Dar-
wachsenen Dorfstrukturen im Rahmen einer Dorferneue-
aus werden schließlich die notwendigen und wünschens-
rung zu beachten. Damit soll eine Kontinuität des dörfli-
werten Maßnahmen der kommenden Dorfentwicklung ab-
chen Lebensumfeldes in die Zukunft hinein sichergestellt
geleitet – einschließlich der Kosten und Fördermöglichkei-
werden. Dass die Dorferneuerung nun so programmatisch
ten. Der Dorferneuerungsplan enthält generell drei Teile:
auf den Erhalt des kulturellen Erbes zielte, ist sicher auch
die Bestandsanalyse, die Bestandsbewertung mit Prognose
ein Reflex auf die vorhergehenden Sanierungsprogramme.
und das eigentliche Planungskonzept mit einem genauen
Diese bestanden hauptsächlich im Abriss und der Orientie-
Maßnahmen- und Kostenplan.
rung auf städtische Maßstäbe.
Die bisherige Praxis der Dorferneuerung zeigt, dass die
Im Mittelpunkt eines konkreten Dorferneuerungsver-
Bundesländer durchaus unterschiedliche Akzente gesetzt
fahrens steht der obligatorische Dorferneuerungsplan. Die-
haben. So fördert z. B. Baden-Württemberg bei Bauvorha-
ser beschreibt und veranschaulicht mit Karten und Fotos
ben im Ortsbereich auch Maßnahmen des Innenausbaus
Die Dorferneuerung veränderte den maßlos asphaltierten, trostlosen Raum zwischen den Häusern durch kleine Vorgärten, Grünstreifen, Bäume und Gehwege, Erkeln im Kreis Höxter 2002 und 2006.
Dorfpolitik
309
Behandlung der Dorfgewässer: In der ersten Phase der Dorferneuerung hatte man noch Bäche und Teiche verrohrt und zugeschüttet und damit aus dem Dorfbild beseitigt. Inzwischen werden die ehemaligen Dorfgewässer von der Dorferneuerung wieder offengelegt und den Bewohnern mit Wegen, Treppen und Kneipp-Tretbecken nahegebracht. 3. Die Mitwirkung der Bürger bei der Planung und Durchführung der Dorferneuerung hat sich stetig verbessert. Aus einer anfänglich expertenorientierten Dorferneuerung »von oben« ist immer häufiger eine von den Bürgern und Dorfpolitikern mitgetragene »Dorfangelegenheit« geworden. In mehreren Ländern wird die Planung und Durchführung der Dorferneuerung jeweils durch einen Arbeitskreis Dorfentwicklung begleitet, der sich Dieser historische Schafstall von 1780 war jahrelang ungenutzt und halb verfallen. Er wurde in den frühen 90er Jahren vom Fürstenberger Carnevals-Club (FCC ) saniert und dient seitdem als Wagenbauerscheune und sehr beliebte Begegnungsstätte.
aus zehn bis 15 ortsansässigen Bürgern aus den wichtigsten Bereichen des dörflichen Lebens zusammensetzt. 4. Die Planungsbehörden, die für die Erstellung des Dorferneuerungsplans verantwortlich sind, leisten heute in
von Gebäuden. Hessen unterstützt u. a. die Entwicklung
der Regel auch eine Beratung der Kommunen und Bür-
innovativer ländlicher Bauformen nach regionaltypi-
ger während der Durchführungsphase. Denn die Erfah-
schen und ökologischen Gesichtspunkten. Generell erfor-
rung hat gezeigt, dass diese andauernden Orientierungs-
dern dicht bebaute Dörfer im deutschen Südwesten andere
hilfen für den Erfolg der Dorferneuerung maßgebend
Fragestellungen und Lösungen als die locker bebauten im
sind. Ebenfalls der Beratung von Dorfpolitikern und
norddeutschen Tiefland. Dörfer mit noch aktiver Land-
Landbewohnern dienen auch die Dorferneuerungsschu-
wirtschaft stellen andere Ansprüche an die Dorferneue-
len, die seit 1991 zuerst in Bayern begründet wurden: in
rung als Dörfer am Rande der Großstädte.
Klosterlangheim in Oberfranken, in Plankstetten in der
Dennoch lassen sich einige überregionale Merkmale der
Oberpfalz sowie in Thierhaupten in Schwaben. Dem Bei-
Dorferneuerungspraxis in Deutschland von etwa 1980 bis
spiel Bayern sind inzwischen andere Länder wie Sachsen
heute feststellen:
gefolgt.
1. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Dorferneuerung ha-
310
ben sich generell von einer Agrarstrukturförderung zu
In der DDR hat es eine flächendeckende Förderung des Dor-
einer ganzheitlichen Dorfförderung entwickelt. Ein
fes entsprechend der westdeutschen Dorfsanierung und
Großteil der Dorferneuerungsmittel wird heute bundes-
Dorferneuerung nicht gegeben. Die Modernisierungsakti-
weit gegen die bauliche, infrastrukturelle und soziale
vitäten auf dem Land konzentrierten sich auf die Dörfer der
Verödung der Dorfkerne eingesetzt.
landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG ).
2. Anstelle von »städtebaulichen« Leitbildern und massiven
Hier entstanden neben den modernen Wirtschaftsgebäuden
Eingriffen in die Dorfstruktur wird Dorferneuerung
die in den Dörfern vorher unüblichen Geschosswohnungs-
heute in der Regel von lokal gerechteren und behutsame-
bauten für die LPG -Mitarbeiter sowie öffentliche Einrich-
ren Planungen geprägt. So hat die Dorferneuerung in-
tungen wie Kulturhäuser und Kindergärten. Das Fehlen
zwischen zahlreiche vorbildliche, dorfgemäße Straßen
der »Programme« nach westdeutscher Art hatte ambiva-
und Plätze angelegt, wie die Beispiele Borgholz in Nord-
lente Konsequenzen: Bei der Wiedervereinigung 1990 bo-
rhein-Westfalen und Kreuzberg in Bayern zeigen. Den
ten die alten Dorfbereiche teilweise das (malerische) Bild
inhaltlichen Wandel der Dorferneuerung zeigt auch die
der 1950er Jahre, teilweise aber auch des Verfalls.265 Die nach
Das moderne Dorf
1990 in den neuen Ländern sofort eingerichteten Dorferneuerungs- bzw. Agrarbehörden haben inzwischen einen Großteil des aufgestauten Nachholbedarfs abgearbeitet. Darüber hinaus sind hier in den zurückliegenden 20 Jahren viele innovative Erneuerungskonzepte entwickelt und verwirklicht worden, z. B. hinsichtlich einer ökologisch orientierten Dorferneuerung.266 Die Dorferneuerungspolitik der letzten 40 Jahre kann eine insgesamt positive Bilanz ziehen. In Tausenden von deutschen Dörfern sind Ortsbild und Lebensqualität verbessert worden. Die staatliche Förderung hat die Gemeinden und Landbewohner zum Nachdenken über ihre Defizite angeregt und viele private und kommunale Investitionen ausgelöst. Für zahlreiche Dörfer brachte die Dorferneuerungsförderung eine Trendwende von einer rückläufigen und resignativen zu einer positiven und optimistischen Dorfentwicklung. So steht das Fazit von Bürgermeister Hans Gehm für sein Dorf Bärweiler in Rheinland-Pfalz stellvertretend für viele Tausend andere Dörfer in Deutsch-
In Bärweiler wurde 1995/96 die Ortsmitte neu gestaltet und dabei ein »Dorfpfad« geschaffen, der einem früheren Weg zwischen den Scheunen nachempfunden wurde.
land: »Für unser Dorf wurden düstere Prognosen erstellt. Ohne die Dorferneuerung, nur mit eigenen Kräften, hätten
schen Dörfer wahrzunehmen und »wachzurütteln«, um
wir den Aufschwung in unserem Dorf niemals geschafft.
eine Trendwende zu einer lebendigen und »anpacken-
Die wichtigste Lehre aus der Dorferneuerung war, dass sie
den« Dorfentwicklung herbeizuführen.
das Wir-Gefühl in der Bevölkerung und das gemeinsame Handeln für unseren Ort verstärkt hat.«267 Bei einem Blick nach vorn lassen sich für die Dorferneu-
Detlev Simons, Professor für ländliche Siedlungsplanung der Universität Stuttgart, fasst seine jahrzehntelangen Er-
erung die folgenden Trends und Aufgabenschwerpunkte
fahrungen zur Dorferneuerungspraxis zusammen: »Wenn
erkennen:
Dorferneuerung nur als Verschönerung des Ortsbildes ver-
1. Dorferneuerung entwickelt sich weiter weg von der äu-
standen wird, verblasst dieses Make-up sehr schnell. Dorfer-
ßeren Dorfbildpflege und hin zur Umnutzung von leer
neuerung sollte immer auch zu baulichen, wirtschaftlichen
stehenden Gebäuden und brachliegenden Freiflächen in
und sozialen Verbesserungen führen. Wenn das gegeben ist,
den Ortskernen. Nicht mehr nur die Ortsgestalt, sondern
ist der Dorfbewohner auch gerne bereit, Überliefertes zu
auch das wirtschaftliche und soziale Leben des Dorfes ist
bewahren und sich mit dem schönen Äußeren zu befassen.
die Zielrichtung der Dorferneuerung.
Wirtschaftliches und soziales Denken waren und sind die
2. Auch angesichts der knapperen öffentlichen Mittel wird es häufiger zur Förderung von selbstgetragenen Bürgerprojekten kommen, z. B. was die lokale Energieversorgung, den letzten Gasthof oder Laden, die Altenpflege oder Kinderbetreuung sowie Genossenschaften vielfältiger Art betrifft. 3. Nicht alle Dörfer sind bereit und in der Lage, sich mit
Basis einer nachhaltigen Dorfentwicklung.«268
Bei der Ortskern-Revitalisierung sollten Kommunalund Fachpolitik möglichst flexibel auf die Wünsche der Bewohner eingehen und zum Beispiel auch mal auf eng bebauten Parzellen einen alten Schuppen abreißen lassen, wenn sich dadurch Freiräume für einen kleinen Garten oder Spielplatz ergeben.
den anstehenden Problemen zu befassen. Es wird daher mehr und mehr auch die Aufgabe der Dorferneuerung sein, die (zahlreichen!) stagnierenden und oft apathi-
Dorfpolitik
311
Vom Blumenschmuck zur Lebensqualität Der Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«
Der Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« bzw.
Der Wunsch der Jahre 1960/61, das Dorf »schöner« zu ma-
seit 2007 »Unser Dorf hat Zukunft« ist seit 50 Jahren
chen, entsprach einer damals allgemein verbreiteten Vor-
ein fester Bestandteil der politischen Bemühungen um
stellung vom Dorf als unsauberem, rückständigem und
den ländlichen Raum. Er kreiert jeweils Gold-, Silber-
daher besonders hilfebedürftigem Siedlungswesen. Man
und Bronzedörfer auf Kreis-, Landes- und Bundes-
müsse sich nur am Vorbild der Stadt orientieren, um zu
ebene. Am 23. Bundeswettbewerb 2010 nahmen
gesunden. Dies sollte man bedenken, um die später kaum
3330 Dörfer in Deutschland teil. Manche sprechen
noch akzeptierten und z. T. heftig kritisierten Bemühungen
diesbezüglich von der größten Bürgerinitiative auf dem
der ersten Wettbewerbe zu verstehen. Doch schon wenige
Land. Häufig stand der Wettbewerb aber auch in der
Jahre nach seinem Start entwickelte der Wettbewerb neue
Kritik. So warf man ihm lange vor, nur ein »Blumen-
Schwerpunkte. 1967 erschien zum ersten Mal das »Orts-
schmuckwettbewerb« zu sein. Heute verfolgt der Wett-
bild« als Gegenstand der Bewertung. Allerdings war hier
bewerb ganzheitliche Ziele: Er will die Lebensqualität
noch überwiegend die Eingrünung und die »Ordnung des
in den Dörfern verbessern.
Straßenraumes« gemeint, die viele Dörfer nach städtischen Standards umformte. Zur Vorbereitung der kommunalen
Als Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft initi-
Gebietsreform in den 1960er und frühen 1970er Jahren be-
ierte Graf Lennart Bernadotte von der Blumeninsel Mainau
lohnte der Wettbewerb die »zwischengemeindliche Zusam-
im Jahr 1961 den ersten Bundeswettbewerb »Unser Dorf
menarbeit«, danach nicht mehr. Eine grundlegende Erwei-
soll schöner werden«. Dessen Untertitel lautete »Unser Dorf
terung erfuhr der Wettbewerb seit 1977 durch die Einbe-
in Grün und Blumen«. Das Ziel war zu Beginn also klar
ziehung der Belange der Denkmalpflege. (Man muss den
und eindeutig: Die Dörfer sollten mit Grün- und Blumen-
späten Zeitpunkt dieses »Erwachens« nicht übermäßig kri-
schmuck verschönert werden. Der Wettbewerb hat sich seit
tisieren: Auch die amtliche Denkmalpflege hatte bis dato
dieser Anfangsphase mehrfach inhaltlich verändert und ist
das Dorf vernachlässigt.) 1977 wurden erstmals unter der
wohl auch deshalb zum Dauerläufer geworden. Gleichwohl
Rubrik »Private Gebäude und Hofräume« für die »Erhal-
haftete ihm lange und teilweise bis heute das Image eines Blumenschmuckwettbewerbs an, was er aber schon seit vielen Jahren nicht mehr ist.
312
Das moderne Dorf
Abbildung oben: Ein liebevoll gestalteter Vorgarten wie hier in Haidenkofen gehört nach wie vor zu den Pluspunkten des Dorfes.
tung und Pflege der für den Ortscharakter bedeutsamen
Zusätzlich zu den Fachbewertungsbereichen werden der
Bausubstanz« Bewertungspunkte vergeben. Im Jahr 1979 be-
Gesamteindruck des Dorfes in ökonomischer, sozialer
gann die Merkmalsgruppe »Gestaltung des Ortes« erstmalig
und ökologischer Hinsicht sowie gestalterische Gesichts-
mit dem Leitsatz »Erhaltung und Pflege historischer Bau-
punkte, die dazu beitragen, den unverwechselbaren Dorf-
substanz«. Zu dieser Trendwende beigetragen hat sicherlich
und Landschaftscharakter zu erhalten, beurteilt.
ein (den Dorfwettbewerb) provozierendes, weit verbreitetes
6. Gesamturteil.
Poster des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz
Die vier Fachbewertungsbereiche werden gleichgewich-
von 1978 mit dem Titel »Muß unser Dorf so häßlich wer-
tet und bilden mit dem Gesamteindruck und unter Be-
den?« Der Dorfwettbewerb hat derartige Anregungen und
rücksichtigung der Ausgangslage des Dorfes das Gesamt-
Kritiken genutzt. So gehört die Pflege der historischen Bau-
urteil. In allen Bereichen stehen die eigenständigen
substanz heute zu seinen zentralen Anliegen.
Leistungen der Dorfgemeinschaft im Vordergrund. (Be-
Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde der Dorfwettbewerb immer komplexer. Die Beachtung ökologischer Be-
wertungsleitfaden 26. Bundeswettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft« 2019)
lange und der Umgang mit kulturellen Traditionen kamen
Wenn man die aktuellen Bewertungskriterien von 2019
hinzu. So führte die inhaltliche Erweiterung auch zu Än-
mit denen von 2010 vergleicht (s. 3. Aufl. S. 299), wird man
derungen des Titels: Der Untertitel »Unser Dorf in Grün
feststellen, dass man heute auf Begriffe und Leitbilder wie
und Blumen« wurde aufgegeben und 1997 durch den Zusatz
»bürgerschaftliches Engagement der Dorfbevölkerung«,
»Unser Dorf hat Zukunft« ersetzt. Um das alte Image gänz-
»Entwicklung von Perspektiven und Innovationspotentia-
lich abzuschütteln, trägt der Wettbewerb seit 2007 nur
len für die Zukunft des Dorfes«, »Bündelung der vorhan-
noch diesen kurzen Titel »Unser Dorf hat Zukunft«. Heute
denen kommunalen und bürgerschaftlichen Kräften« so-
präsentiert sich der Wettbewerb so umfassend wie nie zuvor.
wie »Stärkung der dörflichen Identität« verzichtet. Statt-
Sein Ziel ist die individuelle und nachhaltige Steigerung
dessen wird nun auf »Akzeptanz des Verwaltungshandelns«
der Lebensqualität in den Dörfern und generell die Verbes-
oder »Ortsübergreifende Kooperationen« Wert gelegt. Will
serung der Zukunftsperspektiven des ländlichen Raumes.
der Wettbewerb damit nicht allzusehr den braven und ge-
Mit seinen Bewertungen und Preisverleihungen will er vor
horsamen Dorfbürger beloben und weniger den noch vor
allem das Engagement und die Eigenleistungen der Men-
neun Jahren erwünschten kritischen und für die dörfli-
schen in den Dörfern anerkennen und fördern.
che Identität engagierten und kämpfenden Bürger unter-
Diese allgemeinen Zielvisionen fin-
stützen? Hat der Wettbewerb 2019 ver-
den ihren Niederschlag in den konkre-
gessen, dass engagierte Bürger in der
teren Bewertungskriterien. Die Aus-
Vergangenheit
oft
wichtige
Berei-
schreibung des 26. Bundeswettbewerbs
che der Dorfkultur, zum Beispiel orts-
2019 benennt vier bzw. sechs Berei-
bildprägende und identitätsstiftende
che (sog. »Querschnittskriterien«), die
Bauten, gegen einstimmige Ratsbe-
durch die Kommissionen bewertet
schlüsse und Verwaltungshandeln er-
werden:
kämpft und gerettet haben? Will man
1. Entwicklungskonzepte und
das in Zukunft möglichst verhindern?
wirtschaftliche Initiativen.
Dies wäre schade, leiden doch die Dör-
2. Soziales Engagement und
fer und Landgemeinden (schon ohne
kulturelle Aktivitäten.
den Dorfwettbewerb) mehr denn je an der fortgesetzten Bevormundung und
3. Baugestaltung und Siedlungs-
Entmündigung durch die Entscheider
entwicklung.
in den Zentren von Politik und Gesell-
4. Grüngestaltung und das Dorf in
schaft (s. S. 271 ff. und 327 ff.).
der Landschaft. 5. Gesamteindruck. Haidenkofen ist stolz auf den Sieg im Dorfwettbewerb und zeigt es am Dorfeingang: »Herzlich Willkommen im Golddorf Bayerns«
Dorfpolitik
313
Das bisher am höchsten prämierte Golddorf Gersbach im Schwarzwald präsentiert seine zahlreichen geschaffenen Attraktionen und Lehrpfade auf einer großen Infotafel.
Wie ist der Dorfwettbewerb organisiert, wie läuft er ab?
Kreiswettbewerbe voraus. Organisiert werden die Landes-
Ausgelobt und durchgeführt wird der Wettbewerb heute
wettbewerbe von den jeweils zuständigen Ministerien, die
vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
Kreiswettbewerbe von den Kreisverwaltungen. In der drei-
und Verbraucherschutz (BMELV ). Ihm zur Seite stehen
stufigen Hierarchie nehmen die Sieger der unteren Ebene
weitere Ministerien und im Bereich der Dorfentwicklung
anschließend an den Wettbewerben der nächst höheren
engagierte Organisationen und Verbände, z. B. der Deutsche
Ebene teil. Die Zahl der meldbaren Sieger zur höheren
Landkreistag, die Deutsche Gartenbau-Gesellschaft 1822
Ebene richtet sich nach der Gesamtzahl der Beteiligung: Je
e. V. (sie organisierte den Wettbewerb in den Anfangsjahr-
größer die Beteiligung im Kreiswettbewerb ist, desto mehr
zehnten) und der Bund Heimat und Umwelt in Deutsch-
Orte können zum Landeswettbewerb gemeldet werden. Auf
land. Aus den verschiedenen Verbänden setzen sich auch
allen drei Wettbewerbsebenen werden den erstplatzierten
die sog. »Bewertungskommissionen« zusammen, die alle
Orten die begehrten Gold-, Silber- und Bronzeplaketten
teilnehmenden Dörfer besichtigen und nach den genann-
verliehen, dazu gibt es kleinere Geldpreise. Im Rahmen der
ten Kriterien begutachten.
Wettbewerbe werden außerdem diverse Sonderpreise vergeben, z. B. für herausragende Einzelleistungen in den Berei-
Der Dorfwettbewerb findet prinzipiell auf drei Ebenen statt: Dem Bundeswettbewerb gehen jeweils Landes- und
314
Das moderne Dorf
chen Naturschutz oder Denkmalpflege. Teilnahmeberechtigt zum Dorfwettbewerb sind alle
Orte des ländlichen Raumes »mit überwiegend dörflichem Charakter« bis zu 3000 Einwohnern. Die Zahl der am Wettbewerb teilnehmenden Dörfer stieg von 1970 Teilnehmern im Jahr 1961 nahezu kontinuierlich an und erreichte 1998 mit 5529 Teilnehmern seinen bisherigen Höchststand. Damit nahmen rund 17 % der insgesamt etwa 32 000 deutschen Dörfer und Weiler am Wettbewerb teil. Seitdem gehen die Zahlen leicht zurück. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Teilnahme in den Bundesländern recht unterschiedlich ist. So übertrifft das kleinere Rheinland-Pfalz das deutlich größere Baden-Württemberg um Längen. Am stärksten ist die Resonanz in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Offensichtlich hat der Wettbewerb in den zuständigen Landesministerien einen unterschiedlichen Stellenwert. Die Siegerdörfer präsentieren ihre Auszeichnungen und Plaketten mit Stolz, sie betrachten diese als sichtbaren Lohn
Die Preisverleihung an die Wettbewerbssieger des 23. Bundeswettbewerbs fand im Januar 2011 durch Bundesministerin Ilse Aigner in Berlin statt.
für die meist langjährigen ehrenamtlichen Bemühungen um ihr Dorf. Oft stehen große Schilder oder Steinblöcke
schaft durch eine dorfeigene Käserei mit Direktvermark-
mit dem eingravierten Schriftzug wie »Bellersen – Silber-
tung; Förderung des Tourismus und des Brauchtums durch
dorf 2004« oder »Banzkow – Golddorf 2007« an den Orts-
einen Rinderlehrpfad, ein Wald-Glas-Zentrum, ein Wis-
rändern. Entsprechende Berichte über die prämierten Leis-
entgehege, eine Barockschanze, einen Informationspavil-
tungen finden sich heute natürlich auch im Internetportal
lon und das jährlich Ende September durchgeführte Wei-
der Siegerdörfer.
defest. Die Erfolge in den Dorfwettbewerben waren für die
Der bislang am höchsten bewertete Ort in Deutschland
Dorfgemeinschaft eine logische Belohnung und Bestäti-
ist das 700 Einwohner zählende Gersbach im südlichen
gung dafür, dass sie sich mit wichtigen Fragen der Dorfzu-
Schwarzwald, auf 800–1170 m ü. N. N. gelegen. Im Bundes-
kunft beschäftigt und dann auch zahlreiche konkrete Maß-
wettbewerb 2004 mit der Goldplakette ausgezeichnet, er-
nahmen verwirklicht hat.«269
hielt das Dorf 98 von 100 möglichen Punkten. Auch im eu-
Warum sinkt seit vielen Jahren die Zahl der teilnehmen-
ropäischen Dorfwettbewerb »Entente Florale« wurde Gers-
den Dörfer – also das Interesse am Dorfwettbewerb? Die
bach 2007 zum Golddorf gekürt. Basis dieser Erfolge ist das
noch für das lokale Gemeinwohl engagierten Dorfbewoh-
von der Dorfgemeinschaft entwickelte Konzept »Dorf in ei-
ner haben ein feines Gespühr dafür, dass die oft oberleh-
nem Stück«, das aus 20 verschiedenen Einzelprojekten be-
rer- und gönnerhaftauftretenden »Inspektoren« von außen
steht. Der ehemalige Ortsvorsteher (1999 bis 2009) und
Ihnen keine wirkliche Hilfe bringen, dass sie beim Kampf
langjährige Motor des Wettbewerbs, Ralf Ühlin, benennt
um die Zukunft des Dorfes generell allein gelassen werden.
die Motive und Ergebnisse für sein Dorf: »Die Herausforde-
Sie machen ja ständig die Erfahrung, dass die Eliten in Staat
rungen in unseren Dörfern, gerade im südlichen Schwarz-
und Gesellschaftes zulassen oder sogar aktiv dazu beitragen,
wald, sind vielfältig. Viele Arbeitsplätze und Infrastruktur-
dass in Dörfern Schulen, Bürgermeisterämter, Polizeistatio-
einrichtungen sind weggebrochen. Wir haben uns durch
nen, Sparkassen und Volksbanken, Kirchen und Poststellen
den Wettbewerb einen Impuls von außen und von innen er-
geschlossen werden. Der Dorfwettbewerb sollte sich mehr
hofft und schließlich ein umfassendes Konzept erstellt. Da-
an den grundlegenden Sorgen und Wünschen der Dorfbe-
nach haben wir z. B. Folgendes umgesetzt: Offenhaltung
wohner ausrichten – statt immer nur wechselnde Vorgaben
der ortstypischen Weide- und Wiesenflächen (es bestand die
von oben zu machen –, um damit eine konkrete Hilfestel-
Gefahr der Verwaldung) und damit Pflege der traditionel-
lung und Aufbruchsstimmung für möglichst viele Dörfer
len Kulturlandschaft; Erhalt und Sicherung der Landwirt-
bewirken zu können.
Dorfpolitik
315
Vom Schultheiß zum Bürgermeister Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung auf dem Land
Die dörfliche Selbstverwaltung hat eine lange Tradition,
des, der Allmende. Aber auch für die übrige Flur gab es
die in Teilen bis ins Hohe Mittelalter zurückreicht.
zahlreiche Regelungen, die fixiert und kontrolliert werden
Zu den ältesten Gemeindeaufgaben gehörte z. B. die
mussten. Zum Beispiel für die Aussaat und Ernte auf den
Organisation der Allmendenutzung oder des Feuer-
schmalen Besitzparzellen, die jeweils nur über Nachbar-
schutzes. Allerdings standen die ländlichen Gemein-
grundstücke zugänglich waren, was mit dem Begriff »Flur-
den – länger als die Städte – unter den dominierenden
zwang« umschrieben wird.
Einflüssen der Landes- und Grundherren. Erst seit dem
Zu den primären Anliegen und Aufgaben, die das Dorf
späten 19. Jahrhundert sind die Landgemeinden den
schon früh in Eigenregie organisierte, gehörte der Schutz
Städten rechtlich gleichgestellt und im Staatsaufbau
vor Überfällen und Dieben – z. B. durch die Errichtung ei-
verankert. Dem dezentralen Staatsgefüge entspre-
nes Dorfzaunes und Einrichtung einer Bürgerwehr. Dazu
chend, haben wir heute in den Bundesländern unter-
kamen der Feuerschutz, die Unterhaltung von Wegen und
schiedliche Gemeindeordnungen und demzufolge auch
Wasserläufen sowie die Armenversorgung. Die Gerichts-
eine sehr unterschiedliche kommunale Selbstverant-
barkeit unterlag nicht der Befugnis der Dorfgemeinschaft,
wortung der deutschen Dörfer.
sondern sie wurde als Herrenrecht ausgeübt. Vorsitzender des Gerichts war in der Regel der Grundherr selbst oder ein
Die Geschichte der gemeindlichen Selbstverwaltung auf
von ihm bestellter Vogt oder Richter.
dem Land ist nicht leicht zu generalisieren und in weni-
Das wichtigste Beratungs- und Beschlussorgan des Dor-
gen Sätzen zu beschreiben. Groß sind die regionalen Unter-
fes war die Gemeindeversammlung. Rechtlich gehörten
schiede. Außerdem stiegen die »Freiheitsrechte« der Dorf-
zur dörflichen Gemeinde bis weit in das 19. Jahrhundert hi-
bewohner, sich selbst zu organisieren, keineswegs kontinu-
nein nur die Grundbesitzer. Zu den verschiedenen öffent-
ierlich vom Mittelalter bis heute an. So gab es wiederholt
lichen Anliegen gab es manchmal detaillierte Dorford-
Rückschläge (z. B. durch die Bauernkriege in der Frühen
nungen, die z. B. den Ablauf des jährlichen Schützenfestes
Neuzeit), die Jahrhunderte andauerten. Immerhin wissen
festlegten. Das wichtigste Amt des Dorfes hatte der Dorf-
wir, was die Dorfbewohner in früheren Zeiten überwiegend selbst geregelt haben. Es war insbesondere die wirtschaftliche Nutzung des allen gehörenden Gemeindelan-
316
Das moderne Dorf
Altbürgermeister Germann und Bürgermeister Gehm präsentieren Bärweiler im Wettbewerb »Kinder- und jugendfreundliche Dorferneuerung«.
vorsteher inne, der regional sehr unterschiedliche Namen trug. Am weitesten verbreitet waren »Schultheiß« und »Schulze«. Daneben gab es zahlreiche regionale Bezeichnungen wie Meier, Ammann, Vogt, Richter, Grebe oder Bauermeister.270 Das Amt des Dorfvorstehers war durchaus janusköpfig. Es wurde zwar von einem ortsansässigen Bauern ausgeübt, dieser hatte neben den Bedürfnissen der Dorfgemeinde aber auch die Interessen der Landes- und Grundherrschaft zu vertreten und auszuführen. Da Dorfbewohner und Grundherren wirtschaftlich, rechtlich und sozial durch das Dienst-Lehen-Verhältnis eng miteinander verknüpft waren, gab es vor Ort ständige Interessenkonflikte. Unmittelbare und häufige Streitpunkte zwischen diesen beiden »Gruppen« waren die jährlich zu leistenden Abgaben und Dienste sowie die diversen Nutzungsrechte der Dorfbewohner am meist grundherrlichen Wald. Man kann sich leicht vorstellen, welchem Druck ein Schultheiß im Jahr 1780 manchmal ausgesetzt war. Einem heutigen Bürgermeister wird dieser Zwiespalt allerdings bekannt vorkommen! Er muss sowohl die Wünsche und Sorgen seiner Bürger als auch die Gesetze des Bundes und des Landes beachten und umsetzen. Mit der preußischen »Städteordnung« von 1808 begann die moderne kommunale Selbstverwaltung in Deutschland.271 Nach den Reformideen des Freiherrn vom Stein
Die kommunale Selbstverwaltung hat auf dem Land eine lange Tradition. Der Stolz vieler Dörfer ist daher das eigene Rathaus wie hier in Wolfschlugen im Landkreis Esslingen.
wurde der Bürgerschaft erstmals das Selbstverwaltungsrecht auf örtlicher Ebene zugestanden. Mit der Städteord-
zweite wesentliche Neuerung war, dass ab nun auch alle
nung wollte man die komplexen Machtstrukturen von Adel
volljährigen Ortseinwohner – unabhängig von Herkunft
und Kirche beseitigen und einen starken Staat auf der Basis
und Besitzstand – als Gemeindemitglieder anerkannt wa-
von drei Selbstverwaltungsebenen (Provinzen, Kreise, Ge-
ren. Somit bekam die kommunale Selbstverwaltung damit
meinden) errichten. Das neue Bürgerrecht blieb allerdings
eine demokratische Basis. Die erste einheitliche deutsche
zunächst auf die Städte beschränkt und galt dort auch nur
Gemeindeordnung wurde 1935 erlassen. Mit ihr wurden die
für Bürger mit Grundbesitz. Die Landgemeinden Preußens
traditionellen Unterschiede in den Gemeindeverfassungen
blieben vorerst unter der Verwaltung des Dorfvorstehers
der Länder beseitigt und außerdem die rechtlichen Unter-
oder Dorfschulzen, der von der Grundherrschaft eingesetzt
scheidungen zwischen Städten und Landgemeinden aufge-
wurde. Als erste kamen die Dörfer im deutschen Südwes-
hoben. Im zentralistischen Staatsgefüge des Dritten Reiches
ten zu einer begrenzten Selbstverwaltung. Das Badische Ge-
kam es allerdings zu einer Aushöhlung der kommunalen
meindegesetz von 1831 machte erstmals keine wesentlichen
Selbstverwaltung. Entsprechend dem »Führerprinzip« wa-
Unterschiede mehr zwischen Stadt- und Landgemeinden.
ren alle gemeindlichen Befugnisse auf den Bürgermeister
Die Landgemeinden Preußens erhielten schließlich im Jahr
übertragen worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch
1872 ihr Selbstverwaltungsrecht.
wurde die Ebene der kommunalen Selbstverwaltung wie-
In der Weimarer Republik wurde das Recht der kom-
der aufgebaut. Die bald folgenden, sehr unterschiedlichen
munalen Selbstverwaltung erstmals für ganz Deutschland
Gemeindeordnungen der Bundesländer setzten neben den
in der Reichsverfassung von 1919 (Art. 127) verankert. Die
deutschen Traditionen vor 1933 auch die Erfahrungen und
Dorfpolitik
317
meindeordnung von Nordrhein-Westfalen in § 1 programmatisch mit dem Satz: »Die Gemeinden sind die Grundlage des demokratischen Staatsaufbaus.« Prinzipiell sind die Gemeinden »für alles« zuständig, was einen örtlichen Bezug hat. Man spricht hierbei vom Grundsatz der »Allzuständigkeit«. Staatspolitische Angelegenheiten wie Bündnis- oder Rüstungsfragen überschreiten hingegen den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. So muss sich die kommunale Selbstverwaltung an den »Rahmen der Gesetze« halten, sie darf also nicht gegen Landes- oder Bundesrecht gerichtet sein. Der Staat überwacht die Einhaltung dieses Rahmens durch eine Kommunalaufsicht. Durch die Selbstverwaltungsgarantie sind jedoch auch alle Regelungen und Vorgaben verfassungswidrig, die die kommunale Autonomie schwächen und zu Vollzugsorganen des Bundes und der Länder werden lassen. Neben den Gemeinden sind auch Gemeindeverbände Bürgermeister in Ausübung seiner Tätigkeit: Bürgermeister Reinhard Streng mit Bundesministerin Ursula von der Leyen bei der Einweihung des Mehrgenerationenhauses in Langenfeld in Mittelfranken in Bayern.
durch Grundgesetz und Landesverfassungen garantiert. In Deutschland existieren die folgenden Formen der Gemeindeverbände nebeneinander: Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz, Verwaltungsgemeinschaften in Baden-
Empfehlungen der jeweiligen Besatzungsmächte um. Bei
318
Württemberg, Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thü-
einem Vergleich der lokalen Selbstverwaltung eines deut-
ringen, Samtgemeinden in Niedersachsen sowie Ämter in
schen Dorfes von 1810 und heute wird man möglicherweise
Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-
nicht nur Fortschritte der Moderne feststellen können. Zwar
Holstein. Allen Gemeindeverbänden liegt eine zweifache
haben sich die persönlich-demokratischen Freiräume der
Zielsetzung zugrunde: die Autonomie der (kleinen) Ortsge-
Dorfbewohner erheblich verbessert, die Rechte der Dorfge-
meinden zu erhalten und zugleich eine starke zentrale Ver-
meinde an der unmittelbaren Nutzung und Gestaltung »ih-
waltung der Verbandsgemeinde zu gewährleisten. Denn die
rer« Gemarkung haben sich jedoch gemindert, zumal hier
Gemeindeordnungen regeln nicht nur die übergemeind-
heute auch Gesetze des Landes und Bundes gelten.
liche Zusammenarbeit (der Gemeindeverbände), sondern
272
Im dezentral aufgebauten Staatsgefüge der Bundesrepu-
auch die innergemeindliche Gliederung. Hierzu bieten die
blik Deutschland haben die Gemeinden mit ihrer Selbst-
Länder sehr unterschiedliche Modelle an. So können die
verwaltung einen sehr hohen Stellenwert inne, wie die
oft riesigen, aus zahlreichen Dörfern und Kleinstädten be-
verfassungsgemäße Verankerung im Grundgesetz unter-
stehenden Gemeindegebiete in Bezirke, Ortsteile oder Ort-
streicht. Im Artikel 28, Absatz 2 heißt es: »Den Gemeinden
schaften gegliedert werden: um dort auch Selbstverwal-
muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der
tungsgremien wie Ortsräte, Ortsbeiräte, Bezirksbeiräte oder
örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener
Bezirksausschüsse oder die Institution eines Ortsvorstehers
Verantwortung zu regeln.« Entsprechende Bestimmungen
einzurichten. Diese (mit begrenzten Befugnissen ausgestat-
zur Selbstverwaltungsgarantie finden sich auch in den Lan-
teten) Gremien sind vor allem nach den teilweise gewalti-
desverfassungen der einzelnen Bundesländer. Die vertikale
gen Gemeindevergrößerungen durch die Eingemeindun-
Gewaltenteilung und Gliederung des Staates in Bund, Län-
gen der kommunalen Gebietsreform in den zurückliegen-
der und Gemeinden ist nach dem Willen des Gesetzgebers
den Jahrzehnten geschaffen worden.
eine wesentliche Voraussetzung für die sich von unten nach
Zwischen den Gemeinden und Ländern stehen die
oben aufbauende Demokratie. Daher beginnt u. a. die Ge-
Kreise, die ebenfalls im Grundgesetz (Art. 28, Abs. 1) ab-
Das moderne Dorf
gesichert sind. Die Kreise werden der kommunalen Selbstverwaltung zugeordnet. Sie übernehmen Aufgaben, die die Leistungsfähigkeit der Gemeinden übersteigen, wie Polizei, Rettungswesen, Kreisstraßen, Schul- und Bauaufsicht. Die Gemeinden und Kreise haben sich in Deutschland zu drei kommunalen Spitzenverbänden zusammengeschlossen: Deutscher Städtetag, Mitglieder sind hauptsächlich die großen, kreisfreien Städte; Deutscher Städte- und Gemeindebund, Mitglieder sind vor allem die mittelgroßen und kleineren, kreisangehörigen Städte und Gemeinden; Deutscher Landkreistag, Mitglieder sind die Landkreise und Kreise. Diese kommunalen Spitzenverbände nehmen eine zweifache Aufgabenstellung wahr. Zum einen beraten und informieren sie ihre Mitglieder, organisieren den Erfahrungsaustausch und erarbeiten Empfehlungen und Mustersatzungen (z. B. für die Ortsbildgestaltung). Zum anderen wirken sie bei der Gesetzgebung und den Finanzre-
Das Repräsentieren bei wichtigen Dorffesten gehört zu den »Pflichten« ländlicher Bürgermeister. Hier Erster Bürgermeister Klaus Korneder, Zweite Bürgermeisterin Iris Habermann und Gemeinderäte der Gemeinde Grasbrunn beim Festumzug zur Einweihung des neuen Feuerwehrgerätehauses in Harthausen.
gelungen in Bund und Ländern mit. Das Grundgesetz hat den Ländern die Ausgestaltung des
meindevertretung (Gemeinderat) ein Magistrat oder Ge-
Gemeinderechts überlassen. Allen Kommunalverfassun-
meindevorstand, der als ausführendes Organ die Gemeinde-
gen gemeinsam sind die zwei zentralen Institutionen der
verwaltung leitet. Vorsitzender des Magistrats ist der haupt-
kommunalen Selbstverwaltung: Der Gemeinderat als ge-
amtliche, direkt gewählte Bürgermeister. An der Spitze der
wählte Vertretung der Gemeindebürger ist das »Beschluss-
Stadtverordnetenversammlung bzw. Gemeindevertretung
organ« der Gemeinde, quasi das Gemeindeparlament. Zur
steht der Stadtverordnetenvorsteher bzw. Gemeindever-
Entlastung des Gemeinderats sind in der Regel beratende
tretungsvorsitzende. Die Position des Bürgermeisters wird
Fachausschüsse eingerichtet, z. B. Haupt-, Finanz-, Bau-,
in Deutschland sowohl als Hauptamt als auch ehrenamt-
Kulturausschuss. Die Mitglieder des Gemeinderats sind wie
lich ausgeübt. In den durch kommunale Gebietsreformen
die sachkundigen Bürger in den Fachausschüssen ehren-
entstandenen ländlichen Groß- oder Einheitsgemeinden
amtlich tätig, sie erhalten lediglich eine geringe pauschale
sind die Bürgermeister in der Regel hauptamtlich, d. h. im
Entschädigung für ihre Aufwendungen. Neben dem Ge-
Hauptberuf, tätig.
meinderat steht die Gemeindeverwaltung. Zu dieser »aus-
Als wohl dienstältester und auch insgesamt ältester Bür-
führenden« Verwaltungsbehörde gehören ein Verwal-
germeister in Deutschland (und vermutlich der Welt) ist
tungschef, Beamte und Arbeiter. Die Leiter der Verwaltung
vor ein paar Jahren Karlheinz Poredda vom niedersächsi-
werden für eine gesetzlich festgelegte Zeit gewählt und gel-
schen Ministerpräsidenten David McAllister geehrt worden.
ten als Wahlbeamte.
Er konnte im Alter von 91 Jahren auf 50 Jahre als Bürger-
Bezüglich der Stellung des Bürgermeisters haben sich
meister und 63 Jahre im Gemeinderat der Gemeinde Hip-
die Gemeindeordnungen in Deutschland in den letzten
stedt bei Bremerhaven zurückblicken. Sein »Programm«
Jahrzehnten stark angeglichen. Mit einer Ausnahme gilt
verrät viel über die Merkmale und Vorzüge der ländlichen
heute in allen Flächenländern die sog. »Süddeutsche Rats-
Kommunalpolitik: »Auf drei Grundsätze baut Poredda, der
verfassung«. Hier hat der direkt vom Volk gewählte Bürger-
rund um die Uhr von den 1300 Bewohnern Hipstedts ange-
meister eine starke Position. Er ist Vorsitzender des Gemein-
rufen werden kann: Man müsse sich für Menschen interes-
derates und zugleich Chef der Verwaltung. Die Ausnahme
sieren, nicht nachtragend sein und Ausdauer haben.«273
bildet Hessen, wo die sog. »Magistratsverfassung« gilt. Hier
Durch die verschieden ausgeführten kommunalen Ge-
besteht neben der Stadtverordnetenversammlung bzw. Ge-
bietsreformen und Gemeindeordnungen ist die kommu-
Dorfpolitik
319
Das kleine Dorf Bärweiler in Rheinland-Pfalz (250 Einwohner) kann sich als eine politisch selbstständige Gemeinde auf seinem Ortsschild präsentieren. Ein Vorzug, den die meisten deutschen Dörfer nicht mehr haben.
Das ehemals politisch selbstständige große Dorf Wrexen in Nordhessen (1750 Einwohner) ist durch Eingemeindung zum »Ortsteil« der Großgemeinde Diemelstadt geworden. Diemelstadt ist eine künstliche Namensprägung und keine reale Ortschaft.
nale Selbstverantwortung der deutschen Dörfer jedoch
– Weesby, Amt Schafflund, Kreis Schleswig-Flensburg:
sehr unterschiedlich ausgeprägt. So gibt es auf der einen
Das Dorf Weesby ist eine selbstständige Gemeinde und
Seite Tausende kleiner Dörfer mit 300 oder 600 Einwoh-
gehört zur Amtsgemeinde Schafflund (Verwaltungssitz).
nern, z. B. in Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz, die
– Gemeinde Eicklingen, Kreis Celle: Das Dorf Eicklingen
ihre lokale Autonomie und damit ihren ehrenamtlichen
ist eine selbstständige Gemeinde und gehört zur Samt-
Ortsbürgermeister und Gemeinderat bis heute bewahrt ha-
gemeinde Flotwedel (deren Verwaltungssitz ist Wienhau-
ben. Allerdings sind diese kleinen, selbstständigen Gemein-
sen).
den in der Regel verwaltungsmäßig zu größeren Einheiten,
– Alsweiler-Marpingen, Kreis St. Wendel: Das große Dorf
z. B. Ämtern, zusammengeschlossen. Auf der anderen Seite
Alsweiler hat mit der kommunalen Gebietsreform seine
finden sich vor allem in Hessen, Nordrhein-Westfalen oder
Selbstständigkeit verloren und ist nun ein Gemeinde-
dem Saarland zahlreiche große Dörfer mit 2500 und mehr
bezirk der Großgemeinde Marpingen (auch Verwaltungs-
Einwohnern, die ihre politische Selbstständigkeit mit der
– Und nicht zuletzt die gar nicht so seltene Verwirrvari-
ergibt sich in Deutschland ein großes Nebeneinander von
ante: Diemelstadt-Wrexen, Kreis Waldeck-Frankenberg:
kommunalpolitisch selbstständigen und unselbstständigen,
Das Dorf Wrexen hat mit der kommunalen Gebiets-
da eingemeindeten Dörfern.
reform seine Selbstständigkeit verloren und ist in die
Der aufmerksame Beobachter kann den unterschied-
neue Großgemeinde Diemelstadt mit einer künstlichen
lichen kommunalpolitischen Status der deutschen Dörfer
Namensprägung eingemeindet worden. Eine reale Ort-
beim Reisen durch das Land bereits an den Ortsschildern
schaft Diemelstadt gibt es also nicht.
ablesen. Hier ein paar Beispiele:
320
sitz).
Eingemeindung zu Großgemeinden aufgeben mussten. So
Das moderne Dorf
Freiwillig, verpflichtend oder übertragen Aufgaben und Spielräume der ländlichen Kommunalpolitik
Das Wohlergehen auf dem Land hängt in vielfacher
len. Über Art und Umfang kommunaler Aufgaben wird
Weise von der lokalen Kommunalpolitik ab. So schafft
immer wieder diskutiert und gestritten, sowohl grundsätz-
die Gemeinde die Rahmenbedingungen für das wirt-
lich als auch konkret. Oft geht es dabei um die Frage, ob
schaftliche, kulturelle und soziale Leben in den
Dienstleistungen wie die Gas- oder Wasserversorgung sinn-
Dörfern. Sie sorgt für Trinkwasser und Kanalisation,
vollerweise kommunal oder privat angeboten werden sol-
sie unterhält Schulen, Kindergärten und Dorfgemein-
len. Eine ständige kommunalpolitische Diskussion wird
schaftshäuser, sie erschließt Bauland und kümmert
auch darüber geführt, wie weit man die Bürger über Steu-
sich um den Leerstand in den Kernen, sie unterstützt
ern und Gebühren an den kommunalen Leistungen beteili-
die dörflichen Vereine. Leider werden die Spielräume
gen kann oder sollte.
der Kommunalpolitik immer enger. Neuerdings gilt das
Die Vielfalt der kommunalen Aufgaben zeigt sich im
Leitbild einer Bürgerkommune: Rat, Verwaltung und
Aufbau der Gemeindeverwaltungen oder auch der Haus-
Bürger treten als gleichwertige Partner auf, wobei auch
haltspläne. Normalerweise werden zehn Aufgabenbereiche
die Bürger immer mehr öffentliche Aufgaben zu über-
unterschieden: allgemeine Verwaltung; Finanzen; öffent-
nehmen haben.
liche Sicherheit und Ordnung; Schulen und Kindergärten; Kulturpflege; soziale Sicherung; Gesundheit, Sport, Erho-
Die Gemeinden sind grundsätzlich für »alle Angelegen-
lung; Bau- und Verkehrswesen; öffentliche Einrichtun-
heiten der örtlichen Gemeinschaft« zuständig. Doch was
gen, Wirtschaftsförderung; wirtschaftliche Unternehmen,
gehört dazu? Welche Aufgaben muss die Gemeinde er-
Grund- und Sondervermögen. Zu den vorrangigen kom-
füllen, welche freien Spielräume hat sie darüber hinaus?
munalen Ausgaben gehören derzeit die Bereiche Schulen
Die Schule und der Kindergarten, das scheint auf den ers-
und Kindergärten, wo vielerorts kräftig in die Kleinkind-
ten Blick klar zu sein. Die Müllabfuhr, das könnten auch
und Ganztagsbetreuung investiert wird. Etwa ein Drittel
private Dienstleister anbieten. Ein kommunales Kino oder
der kommunalen Ausgaben wird für die Personalkosten
ein kommunaler Bus zum Nulltarif, wie es bisweilen vor-
der Angestellten und Arbeiter der Gemeinden ausgegeben.
kommt, ist sicherlich eine Ausnahme. Kommunale Leistungen stehen nicht ein für alle Mal fest – sie unterliegen dem Wandel, häufig ändern sie sich nach Kommunalwah-
Abbildung oben: Auch Landgemeinden schaffen kulturelle Angebote wie hier das Schulmuseum in Folmhusen, Gemeinde Westoverledingen in Ostfriesland.
Dorfpolitik
321
mit sind nun auch alle ländlichen Gemeinden angehalten, eine Lokale Agenda 21 zu erstellen. Hierin müsste dargelegt werden, wie die vorhandenen ökonomischen, ökologischen und kulturell-sozialen Potenziale erhalten und an die nächste Generation weitergegeben werden können. Weil diese sehr unterschiedlichen Schwerpunkte auf den ersten Blick gar nicht zueinander passen, spricht man auch vom »Magischen Dreieck« der Agenda 21. Beim konkreten Abwägen und Entscheiden zwischen den unterschiedlichen Agenda-Zielen zeigen sich bald die Konflikte. Angestrebt wird eine dauerhafte Balance zwischen den ökonomischen, ökologischen und kulturell-sozialen Interessen. Was aber global bisher kaum möglich ist, z. B. die Erhaltung des tropischen Regenwaldes und eine ökonomische Entwicklung der tropischen Länder, ist auch in den ländlichen KommuZu den Pflichtaufgaben der Landgemeinden gehört die Schulversorgung im Grundschulund Sekundarstufenbereich, im Bild die gemeindliche Grundschule in Wrexen.
nen schwierig. So lautet eine typische Frage in vielen bayerischen Alpenrandgemeinden: Bauen wir einen festen Weg auf die Alm? Der ökonomische Gewinn einer besse-
322
Die Kommunen haben neben ihren lokalen Interes-
ren Verkehrserschließung könnte aber vielleicht manche
sen auch die des Staates wahrzunehmen. Wir unterschei-
Nachteile der Umweltbelastung mit sich bringen und auch
den daher zwischen den eigenen oder Selbstverwaltungs-
manche kulturellen Traditionen aushöhlen. Oder in Meck-
aufgaben und den übertragenen oder staatlichen Auf-
lenburg-Vorpommern: Wie weit erschließen wir die Seen
gaben. Die Selbstverwaltungsaufgaben können freiwillig
für den Tourismus? Auch hier sprechen zumindest vorder-
oder verpflichtend sein. Freiwillig ist z. B. die Einrichtung
gründig ökonomische Gründe für eine positive Antwort.
und Unterhaltung eines Heimatmuseums oder einer Ge-
Doch sind ökologische und kulturelle Vorbehalte möglich.
meindehalle. Pflichtaufgaben hingegen sind Wasserversor-
Generell kann bei derartigen Fragen jede Gemeinde zu ei-
gung, Kanalisation, Schulen und die Bauleitplanung. Diese
nem anderen Ergebnis kommen. Wichtig für den Erfolg der
Leistungen müssen von den Gemeinden nach bundes- und
Agenda sind kleine Schritte, die konkrete Ergebnisse brin-
landesrechtlichen Vorgaben erbracht werden, wobei ihnen
gen und von der Bevölkerung mitgetragen werden – z. B.
Spielräume bei der Ausgestaltung bleiben. Bei den übertra-
die Umstellung kommunaler und gewerblicher Heizungs-
genen oder staatlichen Aufgaben erfüllen die Gemeinden
anlagen auf erneuerbare Energieträger der Region, die Re-
Bundes- oder Landesrecht. Sie unterstehen nicht nur der
naturierung des Dorfbaches oder eine genossenschaftliche
Rechts- sondern auch der Fachaufsicht des Staates. Vielfach
Gründung zur Rettung des letzten Dorfladens.
ist hier auch die Durchführung der Aufgaben – z. B. in den
Auf dem Lande hat in den letzten Jahrzehnten eine zwei-
Bereichen Wahlen, Sozialhilfe, Ordnungsrecht oder Melde-
fache Entmündigung kommunaler Instanzen stattgefun-
wesen – fest vorgeschrieben.
den: auf der Ebene der Gemeinden und der Dörfer. Ebene
Durch die UN -Konferenz für Umwelt und Entwicklung
der Gemeinden: Spricht man mit Bürgermeistern, Gemein-
in Rio de Janeiro 1992 haben die Gemeinden weltweit ei-
deräten und Gemeindeverwaltungen oder liest kommunal-
nen neuen Handlungsauftrag für das 21. Jahrhundert be-
politische Publikationen, taucht immer wieder die Klage
kommen – die Agenda 21.274 Unter dem Stichwort »Lokale
auf: »Wir können kaum noch etwas selbst gestalten.« In der
Agenda 21« sind alle Gemeinden zu einer nachhaltigen
Kommunalpolitik dominiert das Gefühl der Bevormun-
Entwicklung aufgefordert. Denn Deutschland hat die Be-
dung und Geringschätzung durch die »hohe« Politik. Tat-
schlüsse von Rio unterzeichnet und das Prinzip der Nach-
sächlich beschneiden die Vorgaben der Landes- und Bun-
haltigkeit 1994 im Grundgesetz, Artikel 20 a verankert. Da-
despolitik immer massiver das Selbstverwaltungsrecht
Das moderne Dorf
der Gemeinden. Die Fernsteuerung der Kommunen zeigt sich in rechtlichen, finanziellen und planerischen Reglementierungen. Die rechtliche Steuerung der Kommunen liegt begründet im Rechtsmonopol für Gesetze und Verordnungen, das in Deutschland dem Bund und den Ländern vorbehalten ist. So zwingen die hierzulande geltenden Prinzipien Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in den Teilräumen des Staates die Gesetzgeber immer wieder zu bundes- und landeseinheitlichem Vorgehen, z. B. in den Bereichen Sozialhilfe, Polizei, Feuerwehr, Baurecht, Denkmal- und Umweltschutz. Doch die finanziellen Abhängigkeiten sind das hauptsächliche Hindernis für eine Entfaltung einer echten Selbstverwaltung der Gemeinden. Die steuerlichen Einnahmen der Gemeinden (vor allem durch die Gewerbesteuer) haben abgenommen gegenüber den Zuweisungen von Bund und Land. Hier dominieren einseitig die zweckge-
Die Dorfgemeinde lebt von ihrer »aktiven Bürgergesellschaft«, die sich Gedanken um die Zukunft des Dorfes macht und dann auch konkrete Aufgaben übernimmt, hier eine Bürgerversammlung in Bärweiler.
bundenen Zuweisungen (»Zweckzuweisungen«) gegenüber den freien Zuweisungen (»Schlüsselzuweisungen«), die
soziale und individuelle Lebensbereiche wie Bildung, So-
von den Kommunen für selbstgewählte Zwecke genutzt
zialfürsorge, Sport, Erholung und Kultur unter die Pla-
werden können. Man spricht hier oft vom »goldenen Zü-
nungshoheit des Bundes und der Länder.
gel« der Zweckzuweisungen, mit dem die öffentlichen Mit-
Die zahlreichen und komplexen Fernsteuerungen der
tel in den Gemeinden weitgehend nach den Kriterien der
Gemeinden durch Bund und Länder bewirken viele Nach-
zentralen Fachpolitiken verteilt werden. Daraus folgt nicht
teile. So ist die Kommunalpolitik auch auf dem Land un-
nur eine lokalpolitische Ohnmacht, sondern auch die häu-
durchsichtiger geworden, und die politische Verantwort-
fig beklagte Vereinheitlichung aller öffentlichen Einrich-
lichkeit ist nicht mehr deutlich auszumachen. Durch das
tungen von Sylt bis Oberstdorf, z. B. beim Kindergarten-
gesetzliche und juristische Übergewicht der zentralen Bü-
oder Spielplatzbau, ohne lokal angemessene Gestaltungs-
rokratien sind die Kompetenzen der kommunalen Parla-
varianten. Inzwischen sind etwa 90 % der kommunalen
mente und Verwaltungen kaum noch gefragt und ihre Wir-
Ausgaben durch staatliche Gesetze und Richtlinien fest-
kungskraft tendiert gegen Null. Die in Sonntagsreden stets
gelegt. Die fehlende »freie Spitze« kommunaler Finanz-
hochgelobte kommunale Selbstverwaltung (»Schule der
planung zwingt viele Kommunen zu verstärkter Schulden-
Politik / der Demokratie«) steht nur noch auf dem Papier.
aufnahme, was ihre Handlungsfreiräume letztlich weiter
Es gibt zu viele bürokratische Vorgaben, zu viele und im-
einschränkt. Ab einer bestimmten Schuldensumme werden
mer neue Hürden, zu viel Töpfchenförderung (mit ihren
sie zu »Ausgleichsstockgemeinden«, die sich alle Vorhaben
labyrinthischen Antrags-, Bewilligungs-, Kofinanzierungs-
vom Land genehmigen lassen müssen, sodass ihre Finanz-
und Evaluationshürden) durch Bund und Länder. Kommu-
autonomie schließlich erlischt.
nalpolitik ist ein permanenter und zermürbender Abnut-
Die planerischen Steuerungen der Kommunen durch
zungskampf gegenüber den Ländern und dem Bund. Die
die Fachbehörden des Bundes und der Länder begannen
im Staatsaufbau vorgesehene und im Grundgesetz veran-
verstärkt ab den 1960er Jahren. Zuerst waren es der Bereich
kerte kommunale »Selbstverantwortung« ist kaum noch
Raumplanung und eher technische Aufgaben wie die Ver-
eine solche, sie ist weitgehend eine Verwaltung von Aufga-
kehrs-, Bau- und Stadtentwicklungsplanung, die der zen-
ben, die meist »von oben« bestimmt werden.
tralen Planung unterworfen wurden. Später kamen auch
Ebene der Dörfer: Ganz aufgelöst wurde eine bestehende
Dorfpolitik
323
Der vom Arbeitskreis Kultur in Weyarn erstellte »Kulturpfad« führt zu Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkten der Gemeinde, dazu gehören auch diese Steinskulpturen von einheimischen und auswärtigen Künstlern.
demokratische Basis des Staates in über 20 000 deutschen
»höhere« staatliche Politik führt somit konsequent zu einer
Dörfern und Kleinstädten: Von oben diktierte Gebietsrefor-
Geringschätzung bei den Bürgern. Gegen diese Missstände
men nach dem sog. Zentrale-Orte-Modell haben hier die
an der Basis des Staates muss dringend und nachhaltig an-
in Jahrhunderten aufgebaute und bewährte lokale Selbst-
gegangen werden, Dies erfordert ein gewaltiges Umden-
verantwortung mit Bürgermeister und Gemeinderat ab-
ken in den Zentralen der Macht in Bund und Ländern. Statt
geschafft. Die Dörfer verloren ihre eigene demokratische
immer weiter seine zentralistischen Programme von oben
Kraft und damit auch das Selbstwertgefühl, für ihr Dorf
nach unten durchzusteuern, sollte der Staat seine demokra-
Kompetenz zu besitzen und verantwortlich zu sein.
tische Basis »unten« respektieren, stärken und wiederbele-
Die vom Staat reduzierten Befugnisse und Freiräume
ben. Ist er dazu von sich aus in der Lage? Mit Heimatmi-
in den Gemeinden und Dörfern haben nicht nur dauer-
nisterien versuchen Bund und Länder derzeit, den Dörfern
haft die kommunalpolitische Arbeit erschwert. Sie haben
und Landgemeinden Zuwendung zu signalisieren. Skep-
auch generell zu einem schlechten Image der Kommunal-
sis ist jedoch angebracht, ob damit tatsächlich eine Kehrt-
politik geführt. So ist es in vielen Orten und Regionen der
wende in der Behandlung des Landes beginnt.
Republik oft schwierig, Nachwuchs für den Gemeinderat
Erst wenn die Kommunalpolitik in den Dörfern und Ge-
zu gewinnen. Und vielerorts findet sich kein Bewerber be-
meinden wieder Gewicht und Befugnisse bekommt, wird
reit, für das Amt des Bürgermeisters oder des Ortsvorstehers
auch ihr Ansehen in der Bevölkerung steigen. Dann wer-
zu kandidieren. Es ist ein Trend zu beobachten, dass viele
den auch die Bürger wieder mitmachen, den Staat tragen
für die Kommunalpolitik hochqualifizierte Bürger bewusst
helfen und sich mit dem Gemeinwesen solidarisieren.
nicht in die Kommunalpolitik gehen, sondern lieber Vor-
Die großen, überregionalen Parteien haben in den Land-
standsämter in Schützen-, Sport-, Musik-, Karnevals- und
gemeinden häufig nur eine begrenzte Ausstrahlung. Sie
Kulturvereinen übernehmen, wo sie wirklich etwas bewe-
werden bisweilen als Honoratioren- und Wahlkampfclub
gen können und die erfolgreiche Arbeit auch noch Spaß
bezeichnet, der für die lokalpolitische Arbeit nur wenige
macht.
Impulse gibt. Zur Sinnfrage der politischen Parteien in der
Die Geringschätzung der Kommunalpolitik durch die
324
Das moderne Dorf
Kommunalpolitik wird gerne ironisch angemerkt, dass
es doch weder eine christdemokratische Straßenbeleuchtung noch einen sozialdemokratischen Dorfbrunnen gebe. Dem Leitbild einer parteifreien Kommunalpolitik entsprechen dann auch die unabhängigen, aber meist sehr engagierten Wählergruppen. Man bezeichnet sie in der Regel als »freie Wählergemeinschaften« oder – durchaus treffend – als »Rathausparteien«. Sie sind gerade in ländlichen Regionen weit verbreitet und stellen nicht selten die Mehrheit und den Bürgermeister im Gemeinderat. Es gibt inzwischen zahlreiche Landgemeinden in Deutschland, in denen nur lokale Wählergemeinschaften und keine Parteien mehr zur Kommunalwahl antreten. Ein Hauptvorteil der ländlichen Kommunalpolitik ist prinzipiell ihre Bürgernähe. Denn die direkten Kontaktmöglichkeiten der Bürger zu »ihren« Kommunalpolitikern sind von der Gemeindegröße abhängig. Je kleiner die Gemeinde, desto volksnäher und erreichbarer sind ihre Bürgermeister und Ratsvertreter. Und je größer die kommu-
Die Dorfgemeinde Weyarn leistet sich eine Bücherei und macht sie besonders attraktiv für Kinder, die sich hier offenkundig wohlfühlen.
nale Einheit, desto größere räumliche und mentale Distanzen liegen zwischen Bürgern und Politikern. Ländliche
kleinen Gemeinde Ummendorf in Sachsen-Anhalt schon
Kommunalpolitik findet daher in der Regel noch auf Au-
seit Jahren. Für Reinhard Falke ist es am wichtigsten, wie
genhöhe zwischen Bürgern, Ratsmitgliedern und Verwal-
man in der Gemeinde miteinander umgeht. Dass auch die
tung statt.
Heranwachsenden das respektvolle Miteinander lernen, ist
Im Verhältnis zwischen den politisch Verantwortlichen
ihm ein besonderes Anliegen. So trifft er sich jede Woche
und den Bürgern bahnt sich in jüngster Zeit ein Paradig-
(!) einmal mit jeweils rund 30 Jugendlichen, um Vorha-
menwechsel, d. h. ein Wechsel in der Grundauffassung, an.
ben und Wünsche zu besprechen.275 Das Klima des Mitein-
Mit Begriffen wie »Bürgerkommune« und »Aktive Bürger-
anders und des Sich-wohl-Fühlens zeigt bereits Wirkung:
gesellschaft« wird zum Ausdruck gebracht, dass im Wesent-
Ummendorf ist einer der wenigen Orte in Sachsen-An-
lichen aktive Bürger das Gemeindeleben tragen und prägen
halt, der an Einwohnern wächst. Im Dorf gibt es auch kei-
(sollen). Hier zeigt sich der lange Weg vom Leitbild »Papa
nen Gebäudeleerstand wie in den meisten anderen Dörfern
Staat« mit dem Bürger als Untertan über das Leitbild »Un-
Deutschlands. Besonders stolz ist Bürgermeister Reinhard
ternehmer Staat« mit dem Bürger als Kunde bis hin zum
Falke auf die Auszeichnung Ummendorfs als kinder- und
heutigen bzw. künftigen Leitbild »aktivierender Staat« mit
familienfreundlichste Gemeinde Sachsen-Anhalts aus dem
dem Bürger als Partner. Generell sind hierbei Bürgermeis-
Jahr 2008. So ist er auch bei einem Blick in die Zukunft zu-
ter, Rat, Verwaltung und Bürger gleichgewichtige Akteure,
versichtlich: »Ein Großteil unserer Jugendlichen, die unser
zwischen denen ein ständiges Geben und Nehmen statt-
Dorf für Ausbildung und Studium verlassen müssen, wird
findet. Dies verlangt von der Kommunalpolitik erhebliche
später wiederkommen, hier bauen und eine Familie grün-
Veränderungen. Sie muss die sich entwickelnde Bürger-
den. Sie haben ja erlebt, wie eine Dorfgemeinschaft funk-
kommune aktivieren, unterstützen und moderieren. Die
tioniert und wohltut. Wir vermitteln diesen Jugendlichen,
Eigenverantwortung und Kooperationsbereitschaft loka-
dass wir uns über ihre Rückkehr freuen. Denn wir wissen,
ler Akteure und Gruppen muss durch intensivere Informa-
dass auch in der Zukunft die Kraft unseres Dorfes in dem
tionsvermittlung und durch einen ständigen Dialog geför-
Mitwirken der Bürger liegen wird.«276
dert werden. Wie so etwas aussehen kann, zeigt der Bürgermeister der
Eine bundesweit beachtete Pionierleistung in Richtung einer umfassenden Bürgerbeteiligung zeigt die oberbaye-
Dorfpolitik
325
rische Gemeinde Weyarn, 3500 Einwohner groß und etwa
Umdenkens mitgenommen wird.«278 Das Modell der Bür-
35 km südöstlich von München gelegen. Seit 17 Jahren wird
gerbeteiligung ist für Bürgermeister Pelzer übertragbar auf
dort »der Weg zur Bürgergesellschaft« unter der Regie von
alle (ländlichen) Gemeinden in Deutschland. Und es gibt
Bürgermeister Michael Pelzer erprobt. In Weyarn werden
bereits eine große Nachfrage nach dem Vorbild Weyarn. Sie
die Bürger wirklich ernst genommen. Dem Bürgermeis-
bestärkt den Bürgermeister: »Den Bedarf an einer neuen
ter ist es ein besonderes Anliegen, dass ein gutes politisches
politischen Kultur erleben wir an der Reaktion der Bürger
Klima im Dorf herrscht. Der Erfolg zeigt sich darin, dass
anderer Gemeinden, Agendagruppen und politischer Or-
sehr viele Bürger in Bürgerwerkstätten und Arbeitskreisen
ganisationen, die uns besuchen oder die wir mit Vorträgen
mitarbeiten, Projekte anschieben und begleiten und die ge-
erreichen (ca. 50 im Jahr). Das macht Mut. Dabei erleben
wählten Kommunalpolitiker unterstützen und kontrollie-
wir allerdings auch Ängste bei den Entscheidungsträgern,
ren. Des Weiteren sorgt der Bürgermeister für totale Trans-
diesen Prozess zuzulassen. Wichtig ist uns, durch unser Vor-
parenz in allen kommunalpolitischen Angelegenheiten
bild Ängste zu nehmen und durch die wirtschaftlichen und
und holt bei Bedarf auch auswärtige Forscher und Planer
sozialen Erfolge unserer Gemeinde andere zur Nachah-
mit ins Boot. Am Anfang stand eine umfassende Bestands-
mung anzuregen.«279
aufnahme dessen, was Weyarn ist und in Zukunft will. Und
Generell haben sich die Aufgabenschwerpunkte der
Weyarn wollte vor allem nicht in den Sog der Verstädterung
ländlichen Kommunen in den letzten Jahrzehnten deut-
durch den Raum München geraten, sondern vielmehr den
lich verändert und erweitert. Früher ging es den Bürger-
Erhalt seiner ländlichen Eigenart und Lebensqualität. So
meistern und Gemeinderäten vorwiegend um neue Bau-
wurden unter anderem ein Autohof verhindert, ein neues
und Gewerbegebiete, um Wasser- und Abwasserversorgung
Schulhaus errichtet, ein Dorfladen gegründet, ein 4,5 km
sowie um das kommunale Wegenetz. Heute steht immer
langer Kulturpfad geschaffen, eine Dorfchronik mit bis-
mehr die Bekämpfung und Steuerung von Schrumpfungs-
her fünf Bänden herausgegeben, eine Senioren-Hilfsbörse
prozessen – mit Themen wie Leerstand, Infrastrukturver-
mit 25 Helfern aufgebaut und eine ehrenamtlich geführte
lusten und demographischem Wandel im Vordergrund. Ein
Bücherei mit 22 Mitarbeitern eingerichtet. Geplant ist, die
Dorfbürgermeister in Rheinland-Pfalz brachte es neulich
Kinder und Jugendlichen noch stärker als bisher durch
auf den Punkt: »Ein Dorfladen ist für uns genauso wichtig
Kindergemeinderatssitzungen und Jungbürgerversamm-
wie die Kanalisation!«. Zunehmend wird die innere und
lungen in die Bürgerbeteiligung einzubinden. Außerdem
vor allem soziale Infrastruktur der Dörfer – wie Kinder-
will man den Energiebedarf der Gemeinde bis zum Jahr
betreuung, Schule, Arzt, Pflege und Betreuung von Seni-
2025 ausschließlich aus regenerativen Energieformen de-
oren, Kranken und Behinderten, Vereine, Einkaufs-, Gas-
cken. Seit 2008 ist die Bürgerbeteiligung in Weyarn – nach
tronomie-, Kultur- und Freizeitangebote – zum harten
15 Jahren Erfahrung – in einer Hauptsatzung, der Bürger-
und bestimmenden Standortfaktor. Und nach dem Sozial-
beteiligungssatzung, auch für die Zukunft festgeschrieben.
staatsprinzip stehen Staat und Kommunen hier in der Ver-
Die Presse titelte: »Bürgerbeteiligung wird zum Weyarner
antwortung.
Grundgesetz.«
326
277
Ganz wichtig sind – vor allem in kleinen und mittelgro-
Bürgermeister Pelzer beschreibt den bisherigen Weg:
ßen Dörfern – öffentliche Treffpunkte für Junge und Alte,
»Unsere Herausforderung ist die Etablierung einer umfas-
wie zum Beispiel im mittelfränkischen Langenfeld in ei-
senden neuen politischen Kultur, statt nur die Veränderung
ner sanierten alten Scheune (»Dorflinde«). Neben den Treff-
von Teilbereichen. Die Gemeinde ist nicht mehr Vollversor-
punkten sind die geschaffenen Möglichkeiten des betreu-
ger für alle Fährnisse des täglichen Lebens, sondern profes-
ten Wohnens und Altwerdens im Dorf wichtig, dies ent-
sionelle Entwicklungsagentur. Die Bürger sind nicht mehr
spricht einem Hauptwunsch der der älteren Landbewohner.
Kunden, sondern Mitgestalter. Politiker sind nicht mehr
Das kleine und nicht übermäßig reiche Bundesland Rhein-
Macher, sondern Ermöglicher. Solidarität entsteht aus Ei-
land-Pfalz unterstützt und fördert diese Möglichkeiten für
genverantwortung. Das ist nur möglich, wenn neben Bür-
die ältere Generation in kleinen mittelgroßen Dörfern vor-
gern und Politik auch die Verwaltung auf diesen Weg des
bildlich.
Das moderne Dorf
Der Kampf um dörfliche Selbstbestimmung Kommunale Gebietsreformen und die Autonomie des Dorfes
Die politische Selbstverantwortung des Dorfes gehört
Rückblick erstaunlich ist, dass es für die Reformen keine
zu den Erfolgen der europäischen Zivilisation.
einheitlichen oder umfassend begründeten Ziele gab. Die
Sie befindet sich in Deutschland jedoch seit etwa
in den späten 1960er Jahren begonnenen Gebietsreformen
40 Jahren in einer schweren Krise. Durch kommunale
entsprachen letztlich einfach den damaligen politisch-
Gebietsreformen hat die weit überwiegende Mehrheit
wissenschaftlichen Vorstellungen und dem Zeitgeist.
der deutschen Dörfer ihre kommunale Selbstbestim-
Die Hintergründe und Begründungen der Reformen in
mung verloren. Sie wurden per Gesetz zu größeren
den 1960er Jahren lassen sich knapp so zusammenfassen:280
kommunalen Einheiten zusammengefügt und zum
Durch die stark anwachsenden Aufgaben der Kommunal-
»Gemeindeteil« degradiert. Die Dörfer verloren ihren
politik war der Ruf nach leistungsfähigen Gemeindever-
Bürgermeister und ihren Gemeinderat, die sich mit
waltungen – auch auf dem Land – immer lauter geworden.
viel Kompetenz und Einsatz um alle Angelegenheiten
Für die konzentrierten Verwaltungen stellte man auch Kos-
der örtlichen Gemeinschaft gekümmert hatten.
teneinsparungen in Aussicht. Man glaubte, starke und rationalisierte Verwaltungen nur durch Zusammenlegung von
Die kommunalen Gebietsreformen der letzten Jahrzehn-
Gemeinden verwirklichen zu können. Die Raumordnung
te sind für die lokale Demokratie in Deutschland ein be-
hatte mit ihrem theoretischen, aber schlichten Konzept der
deutendes Ereignis. Sie haben in weiten Teilen des Staates
zentralen Orte ein »wissenschaftliches« Modell zur Verfü-
die seit dem Mittelalter entwickelte Selbstverwaltung der
gung, das man für die Schaffung von Großgemeinden be-
Landgemeinde beseitigt. Ausgelöst wurden diese »Refor-
nutzen konnte. Aus heutiger Sicht klingt es fast zynisch,
men« durch den Deutschen Juristentag 1964, der die selbst
dass sogar »der Bürger« in die Begründungskataloge auf-
gestellte Frage »Entspricht die gegenwärtige kommunale
genommen wurde. So sollten die neu geschaffenen riesi-
Struktur den Anforderungen der Raumordnung?« mit ei-
gen Einheitsgemeinden (mit z. T. mehr als 20 Altgemein-
nem eindeutigen Votum für Gebietsreformen beantwortete.
den) eine bürger- und ortsnahe Versorgung sichern und die
In der Folge wurden dann Gebietsreformen in den einzel-
bürgerschaftliche Beteiligung erleichtern!
nen Bundesländern mit sehr unterschiedlicher Intensität durchgeführt und nur in wenigen Ländern (SchleswigHolstein und Niedersachsen) weitgehend unterlassen. Im
Langenfeld in Mittelfranken (1400 Einwohner) nutzt seine kommunalpolitische Freiheit und errichtet im Dorfkern ein Mehrgenerationenhaus.
Dorfpolitik
327
den etwa 250 000 Gemeinderatssitze – für kompetente und engagierte Bürger – abgebaut. Die Gebietsreform erfolgte in den Bundesländern in sehr unterschiedlicher Intensität. Am stärksten war die Reduzierung der Gemeindenzahl im Saarland mit 86 %, gefolgt von Hessen (84 %), NordrheinWestfalen (83 %) und Bayern (70 %). Äußerst maßvoll und auf freiwilliger Basis verlief die Kommunalreform hingegen in Schleswig-Holstein mit einer Verringerung der Gemeinden um 18 %, ähnlich war der Ablauf in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. In diesen Bundesländern beließ man den Dorfgemeinden ihre lokale Selbstständigkeit, wobei sie in Gemeindeverbänden wie Amtsgemeinden, Samtgemeinden oder Verbandsgemeinden zusammengefügt und verwaltungsmäßig betreut und vernetzt wurden.Vor allem in den Ländern Saarland, Hessen und Nordrhein-Westfalen herrschte damals die Idealvorstellung einer großen Einheitsgemeinde von mindestens 5000 bis 10 000 Einwohnern. So wurden in Nordrhein-Westfalen und Hessen nicht selten 30 und mehr Gemeinden zu weitflächigen Großgemeinden – mit nun riesigen Distanzen zwischen den einzelnen Ortschaften – zusammengelegt. Die den Gemeinden aufgezwungenen Gebietsreformen verursachten ein ganzes Bündel an negativen Folgen, die vor allem die eingemeindeten Orte trafen. So erwiesen sich die meisten Vorteile, die man sich versprochen hatte, inzwischen als Illusion: Die in den Dörfern existierende demokratische Basis wurde beseitigt. Denn ursprünglich hatten z. B. mittelgroße Dörfer einen Gemeinderat mit zwölf bis 18 Ratsmitgliedern, davon sind nach der Reform ein bis vier Vertreter für das Großgemeindeparlament übrig geblieben. Kleine Dörfer sind heute vielfach gar nicht mehr Der Verlust der kommunalen Selbstständigkeit hat vielerorts zu heftigen Protesten geführt, hier in Gültstein bei Herrenberg wurde der Protest des Dorfes öffentlich auf dem Giebel des alten Feuerwehrhauses platziert.
vertreten. Die früheren Möglichkeiten der kommunalpolitischen Bewährung und Meinungsbildung gerade auch für junge Menschen sind damit auf Null oder bestenfalls auf ein Minimum reduziert worden. Damit hat das seit Jahr-
328
Die Durchführung der kommunalen Gebietsreform lässt
hunderten geltende Leitbild der dörflichen Kommunalpo-
sich gut mit Zahlen belegen. Im Jahrzehnt zwischen 1965
litik, das auf »Kenntnis der Örtlichkeit« basiert, nun aus-
und 1976 wurden in der Bundesrepublik etwa 16000 Ge-
gedient. Des Weiteren sind die wenigen Kommunalpoliti-
meinden aufgelöst – damit verloren zwei Drittel aller west-
ker, die heute in den Großparlamenten sitzen, vielfältigen
deutschen Dörfer ihre politische Selbstständigkeit. Von ehe-
Interessen- und Zeitkonflikten ausgesetzt. Sie müssen sich
mals 24 411 Gemeinden sind 8506 übrig geblieben.281 Die
mit den Gegebenheiten und Wünschen des eigenen Dorfes,
Auflösung von 16 000 Gemeindeparlamenten führte zu-
der übrigen Dörfer, des Zentralortes sowie der Gesamtge-
gleich zu einer drastischen Reduzierung der Anzahl ehren-
meinde befassen. Der Zeitaufwand wächst, sodass es zu ei-
amtlich tätiger Kommunalpolitiker: Mit der Reform wur-
ner beruflichen Auslese kommt: Bauern und Handwerker
Das moderne Dorf
haben einfach keine Zeit mehr für diese ehrenamtliche Arbeit, Beamte und Angestellte dominieren nun die ländlichen Parlamente. Die viel zitierte Bürgernähe ist schon im wörtlichen Sinne verloren gegangen. Wer zum Bürgermeister oder ins Rathaus will, muss längere Wege in Kauf nehmen. Durch die Größe der Gemeinden wächst somit die Distanz zu den politisch Entscheidenden. Auch die Chance der Bürger, sich kommunalpolitisch einzubringen, ist reduziert worden. Die alten Ortsnamen, ein wichtiges Symbol der dörflichen Identifikation, sind vielerorts auf den Ortsschildern, in Urkunden, postalisch und nicht zuletzt auch in der amtlichen Statistik beseitigt worden. Insgesamt hat die Gebietsreform die Möglichkeiten der Mitgestaltung der Bürger in der dörflichen Politik grundlegend verschlechtert. Als Konsequenz ist eine wachsende kommunalpolitische Resignation zu beobachten. Die Rolle der Bürger hat sich vielerorts auf die Beobachtung und Annahme kom-
Die Degradierung des autonomen Dorfes zum eingemeindeten »Ortsteil« in der Karikatur.
munaler Leistungsangebote reduziert. Inzwischen ist auch das Kostenargument für Gebietsreformen entlarvt wor-
ter zuwege gebracht, die von allen guten Geistern verlassen
den: zahleiche neue Studien belegen, dass Gemeinde- und
sind. Und nun kommen sie und wollen an dem gesunden,
Kreiszusammenlegungen keine finanziellen Einsparungen
was sie verachtet und zerstört haben.«283
erbracht haben (ausführlicher dazu s. S. 271 ff).
In der DDR hat es keine Gebietsreform gegeben, sodass
Mit der Gebietsreform ist die große Mehrheit der deut-
im Wesentlichen der Gemeindebestand von 1939 bzw. 1945
schen Dörfer zu ohnmächtigen »Ortsteilen« abgesun-
bis 1990 konstant blieb. Durch die Gemeinde- und Kreis-
ken (schon dieser oft gebrauchte, vom Wortsinn aber fal-
ordnungen von 1946/47 wurde den Gemeinden und Krei-
sche Begriff zeigt die Diskriminierung). Die Konsequenz
sen das Recht der Selbstverwaltung bestätigt. Allerdings
der nun fehlenden lokalen Selbstbestimmung ist der poli-
gab es bereits seit den 1950er Jahren mehrere Gesetze zum
tisch nicht mehr gefragte und daher inaktive Dorfbürger.
strikten Aufbau einer zentralistisch strukturierten Staats-
Für den ländlichen Raum, aber auch für den Staat insge-
macht mit dem Ergebnis einer Aushöhlung der kommuna-
samt hat die Gebietsreform somit einen gewaltigen Demo-
len Selbstverwaltung. Mit der Wiedervereinigung 1990 be-
kratieverlust bewirkt. Die politischen und sozialen Folgen
kamen die Gemeinden entsprechend Artikel 28 des Grund-
der Reform sind offenkundig.282 Ein Blick in benachbarte
gesetzes ihre Selbstverwaltung zurück. Die fünf neuen
Länder mit langen demokratischen Traditionen wie die
Länder gaben sich bald neue Gemeindeordnungen und be-
Schweiz, England und Frankreich zeigt, dass lokale Selbst-
stätigten die kommunalen Einheiten.
verantwortung und Bürgerbeteiligung dort bis heute einen
Inzwischen sind auch in den neuen Ländern kommunale
hohen Stellenwert besitzen. Dies macht deutlich, welchen
Gebietsreformen durchgeführt worden. Bereits im Sommer
Sonderweg man in Deutschland mit der kommunalen Ge-
1990, also noch vor der Wiedervereinigung, gab es aus dem
bietsreform beschritten hat.
Westen einen entsprechend starken »Empfehlungsdruck«.
Der Schriftsteller Walter Kempowski hat für die sensi-
Insbesondere der Deutsche Städtetag und die westdeutschen
bel beobachtete kommunale Gebietsreform nur Sarkasmus
Ministerialbürokratien plädierten für eine möglichst ra-
übrig: »Dörfer wurden ›zusammengelegt‹ (mit dem Erfolg,
sche kommunale Gebietsreform in den neuen Bundeslän-
dass sich die Verwaltungskosten vervielfachten). Ja, was das
dern nach westdeutschen Vorbildern. Erfreulicherweise
Schlimmste ist, alte Namen verschwanden. In Niedersach-
folgten die neuen Länder den schnellen Ratschlägen der ge-
sen gibt es jetzt Dörfer, die N. B. I heißen. Dies haben Städ-
nannten Institutionen zunächst nicht und verzichteten auf
Dorfpolitik
329
Verlust der Autonomie) zusammenschließen. Deren Mindestgröße wurde auf 3000 bis 5000 Einwohner festgelegt. Die große Mehrheit der Dorfgemeinden entschied sich für die Variante Verwaltungsgemeinschaften/Ämter, welche die Vorteile kleiner, überschaubarer Gemeinden mit den Vorteilen großer, leistungsstarker Verwaltungen verbindet, die wir auch auf dem Land brauchen. Durch eine »zweite Welle« von Gebietsreformen haben die meisten neuen Länder jedoch inzwischen ihre liberale Haltung den Gemeinden gegenüber abgelegt und die Anzahl der selbstständigen Kommunen erheblich reduziert. Insbesondere die Länder Sachsen, Brandenburg, Thüringen und zuletzt auch Sachsen-Anhalt haben z. T. erhebliche Druck- und Lockmittel eingesetzt, um ihre eindeutigen Wunschvorstellungen – d. h. Großgemeinden – durchzusetzen. So wurden Geldmittel für eingemeindungswillige Orte angeboten oder die Mindestgrößen für »Ortsteile« und Verwaltungsgemeinschaften höher gesetzt, um die Aufgabe der dörflichen Autonomie zu erzwingen. Über die großen und teilweise noch anhaltenden Proteste und Widerstände der Bürger und Lokalpolitiker gegen diese demokratiefeindliche Politik von oben hat sich die Landespolitik hinweggesetzt. Der »Erfolg« der zentralistischen »Reformen« lässt sich an folgenden Zahlen ablesen: Die Anzahl der Gemeinden wurde in Brandenburg um 77 %, in Sachsen-Anhalt um 75 %, in Sachsen um 70 % und in Thüringen um 44 % reduziert. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern ist die kommunale Gebietsreform bislang maßvoll und auf freiwilliger Basis durchgeführt worden. Die AnDie Gemeinde Ermershausen in Unterfranken konnte sich aus der Eingemeindung »befreien« und errichtete zur Erinnerung an die Rückgewinnung der Selbstständigkeit diesen Gedenkstein in der Dorfmitte.
zahl der (vielfach recht kleinen) Gemeinden ist hier nur um 27 % zurückgegangen. Man orientiert sich offenbar am Vorbild der westlichen Nachbarländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die die Autonomie der Landgemeinden bis-
eine Beseitigung der Gemeinden. Man hatte offenbar aus
330
her ebenfalls nicht angetastet haben.
der eigenen Geschichte mit der zentralstaatlichen Bevor-
Deutschlandweit haben bis heute etwa 20 000 Dörfer
mundung der Gemeinden gelernt und sicherlich auch von
und Kleinstädte ihre gemeindliche Selbstverantwortung
den negativen Erfahrungen der Gebietsreformen in West-
mit Bürgermeister und Gemeinderat verloren und sind
deutschland gehört. Stattdessen wollte man den Dörfern
in Großgemeinden aufgegangen. Damit wurden rund
und Kleinstädten und ihren Bürgern die echte Chance ge-
300 000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker aus ih-
ben, eine lokale Kommunalpolitik als Schule der Demokra-
ren Ämtern entlassen. Ein kleines Beispiel für die Entmün-
tie aufzubauen. So wurde es den ländlichen Gemeinden zu-
digung der Dörfer: Wo früher die marode Friedhofsmauer
nächst freigestellt, ob sie sich zu Verwaltungsgemeinschaf-
durch Bürgermeister und Gemeinderat in Augenschein ge-
ten oder Ämtern (wobei sie politisch selbstständig bleiben
nommen und zeitnah und kostengünstig saniert wurde, be-
würden) oder aber zu Einheits- bzw. Großgemeinden (mit
ginnt heute ein langwieriger und kostspieliger Behörden-
Das moderne Dorf
und Aktenmarathon mit mehrfachen Bereisungen von entfernten Kommissionen, in denen kein ortskundiger und engagierter Dorfbürger mehr gefragt und gebraucht wird. Aufgrund der negativen Erfahrungen, die man bereits in Westdeutschland mit der kommunalen Gebietsreform gemacht hat, sind inzwischen ein paar »Verbesserungen« für die eingemeindeten Dörfer geschaffen worden. So bieten die meisten Gemeindeordnungen heute die Möglichkeit, Gemeindebezirks- oder Ortsbeiräte (als Ersatz für die aufgelösten alten Gemeinderäte) oder das Amt des Ortsvorstehers einzurichten. Die Befugnisse dieser Gremien und Ämter sind allerdings nur sehr bescheiden ausgestaltet. In der Regel handelt es sich hier um Anhörungs-, Beratungs- und Vorschlagsrechte für den Großgemeinderat. Fast durchgängig stehen die Dorfnamen wieder auf den Ortsschildern, nachdem man sie zunächst durch Nummern ersetzen wollte: Lahn 1 und 2 (für Gießen und Wetzlar) oder Schmallenberg 17 (für Oberkirchen) Vielerorts sind in den eingemeindeten größeren Dörfern auch (temporäre) Verwaltungsnebenstellen und Bürgersprechstunden eingerich-
Ein symbolträchtiges Bild, ein Gemeindeamt auf dem Lande, irgendwo in Deutschland, über das der Betrachter nur sinnieren kann: steht das Gebäude leer, weil hier wie in über 20 000 deutschen Dörfern und Kleinstädten die lokale Selbstverantwortung durch wohlklingende »Gebietsreformen« beseitigt wurde, oder wartet eine arme entmündigte Gemeinde schon länger nur auf die Mittel zur Bausanierung aus irgendeinem Fördertopf »von oben«?
tet worden, um wenigstens stundenweise die vor der Reform propagierte »Bürgernähe« zu praktizieren. Die meisten
gehört zu den wenigen Orten im Hassberge-Kreis, die eine
deutschen Dörfer dürften allerdings ihren Traum von der
positive Einwohnerentwicklung zu verzeichnen haben.«284
Befreiung aus den erzwungenen Eingemeindungen weiter-
Im Rückblick ist die kommunale Gebietsreform ein Pro-
träumen. Einige »Rebellendörfer« bzw. »Protestgemeinden«
dukt der 30er und frühen 40er sowie der 60er und 70er
wie Ermershausen, Horgau, Tettenweis und Türkenfeld in
Jahre des 20. Jahrhunderts, als man in Wissenschaft und
Bayern haben dies bereits geschafft. Sie haben sich mit der
hoher Politik glaubte, mit zentralen Modellen die ganze
zwangsweisen Eingemeindung per Gesetz nicht abgefun-
Gesellschaft von oben nach unten steuern und verbessern
den, haben dem Staat die Stirn geboten und sind in die Frei-
zu können. Der Glaube an die Kompetenz und Leistungs-
heit entlassen worden. In diesen Gemeinden blüht das lo-
kraft der Bürger und kommunalen Politik auf dem Land
kalpolitische Leben.
war in der Elite des Staates nicht vorhanden. Eine entspre-
Ermershausen hat sich in der Dorfmitte einen Gedenk-
chende Wissenschaftslobby gab es kaum. Erst ab den 1980er
stein in Erinnerung an die kommunalpolitische Befrei-
Jahren beurteilte man die rigiden Gebietsreformen mit zu-
ung von 1993 gesetzt. Heute hat das Dorf etwa 630 Einwoh-
nehmender Skepsis und teilweise Verachtung. Bemerkens-
ner und gehört zur Verwaltungsgemeinschaft Hofheim.
wert ist das Bekenntnis des bekannten Soziologen Albert
Der ehrenamtliche Bürgermeister Werner Döhler zieht ein
Ilien, der das Dorf Hausen während der Gebietsreform 1971
kurzes Fazit der selbstständigen Gemeindeentwicklung
mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung inten-
seit 1993: »Die Befreiung aus der Eingemeindung hat sich
siv untersucht hat und sich elf Jahre später über den Voll-
auf das Gemeindeleben äußerst positiv ausgewirkt. Der da-
zug der Gebietsreform und seine damalige Auffassung dazu
malige lange und schließlich erfolgreiche Protest hat das
nur wundern kann: »Mitte 1971 empfand ich die Möglich-
Dorf zusammengeschweißt und stolz gemacht. Gemeinde-
keit eines Verlustes der kommunalpolitischen Autonomie
rat und Bürgerschaft arbeiten in wichtigen Dorfangelegen-
für Hausen als nicht besonders aufregend. Die Hausener
heiten eng zusammen. Die Menschen wissen, dass die kom-
schienen mir – gerade durch ihre innerdörflichen kollek-
munale Selbstverwaltung ein hohes Gut ist. Ermershausen
tiven Eigenarten – mit ihrer kommunalpolitischen Selbst-
Dorfpolitik
331
332
ständigkeit überfordert. […] Wenn ich heute, nach elf Jah-
Kleinstädte großen Schaden zugefügt und zugleich die die
ren, an die Eingemeindung Hausens zurückdenke, muss ich
demokratische Basis des Staates massiv beschädigt. Die Eli-
staunen: wie diese Eingemeindung seinerzeit ›durchgezo-
ten in Staat und Gesellschaft scheint das nicht zu beunru-
gen‹ werden konnte. Ein anderes Erstaunen ist in den letz-
higen.
ten Jahren sogar noch gewachsen: wie wenig mir diese Vor-
Zu den bundesweit aktivsten Dörfern gehören die klei-
gänge bedeutet haben, wie wenig Gespür ich damals für
nen, selbstständigen Gemeinden Ummendorf, Weyarn, Bär-
das hatte, was sich vor meinen Augen abspielte. Zweifel-
weiler und Langenfeld. Wäre das hier anzutreffende außer-
los war damals die allgemeine Wertschätzung des lokal Be-
gewöhnliche Engagement der Bürger ohne das Rückgrat ei-
sonderen weit weniger entwickelt als heute.«
Die Dorf-
ner eigenen Gemeinde, eines eigenen Bürgermeisters und
bewohner bleiben skeptisch, ob die Wissenschaft ihre Vor-
Gemeinderats denkbar? Der stellvertretende Bürgermeister
285
stellungen und Wünsche wirklich wahr- und ernst nimmt.
der fränkischen Gemeinde Langenfeld gibt eine Antwort
Als ich auf einer Tagung im Kreis Lippe 1988 davon berich-
auf diese Frage. Langenfeld hatte im Jahr 2009 im Wett-
tete, dass die Wissenschaft nun dabei sei, sich intensiver mit
bewerb der Wüstenrot Stiftung »Land und Leute – Kleine
den negativen Folgen der Gebietsreform zu befassen, be-
Gemeinden gestalten ihre Zukunft im demographischen
merkte ein älterer Kommunalpolitiker eines eingemeinde-
Wandel!« den ersten Preis gewonnen für die Umnutzung ei-
ten Dorfes lapidar: »Es ist doch erstaunlich, dass die Studiker
ner ehemaligen Scheune im alten Dorfkern zu einem mul-
jetzt merken, was wir seit 20 Jahren gelitten haben!«
tifunktionalen Begegnungs- und Veranstaltungszentrum
Das Signal der Gebietsreformen an über 20 000 deut-
für alle Generationen nach dem Motto »Dorflinde. Mitten
sche Dörfer und Kleinstädte mit ihren Bürgermeistern und
im Dorf – Mitten im Leben«. Wolfgang Rückert: »Wich-
rund 300 000 ehrenamtlichen Gemeinderäten lautete:
tig war, dass Langenfeld mit seinen 1040 Einwohnern noch
»Wir brauchen Eure lokale Kompetenz, Euern Denken,
eine selbstständige Gemeinde mit eigener Finanzhoheit ist.
Fühlen und Handeln für Euer Dorf nicht mehr. Dieses Sig-
So konnten die Bürger direkt für das Projekt ›Dorflinde‹
nal war für mich der Beginn des »inneren Dorfsterbens«. Für
gewonnen und einbezogen werden. Ginge Langenfeld in
den Neuzeithistoriker Wolfgang Reinhard war die Gebiets-
einer Großgemeinde auf, wie das Tausenden Dörfern durch
reform der 70er Jahre das Ende der Demokratie in Deutsch-
Gebietsreformen in Bayern und anderen Bundesländern
land (SZ v. 9. 4. 2017). Viele Dörfer und Kleinstädte sind bis
aufgezwungen wurde, dann sind solche Gemeinden wie
heute durch den Verlust ihres lokalen Kompetenz-, Ver-
unsere tot.«286 Werden derartige »Weckrufe« von der Basis
antwortungs- und Kraftzentrums traumatisiert. Gebiets-
in den Parlamenten und Staatskanzleien der Länder gehört
reformen haben der Mehrheit der deutschen Dörfer und
und verstanden?
Das moderne Dorf
Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung Zwei Szenarien zur Entwicklung des ländlichen Raumes
Wer prägt das Leben in den Dörfern und Kleinstädten
lerweise aussehen? Im Folgenden werden zwei alternative
mehr: die Politiker und ihre Berater in den großen
Szenarien für die Zukunft vorgestellt.
Zentren oder die Politiker und Bürger auf dem Land? Die Antwort ist eindeutig: Die Fernsteuerung von oben
Szenario 1: Die Fernsteuerung und Fremdbestimmung des
nach unten dominiert, was nicht selten der ländlichen
Landes hat zwei Facetten – eine grundsätzliche und eine in-
Entwicklung schadet und außerdem eine Politik-
haltliche. Grundsätzlich sind durch die Dominanz der Zen-
verdrossenheit in den Gemeinden und Dörfern fördert.
tralen die Gestaltungsspielräume der ländlichen Kommu-
Hat der ländliche Raum angesichts seiner starken
nen immer kleiner geworden. Dadurch ist die kommunale
Fremdbestimmung durch die Zentralen überhaupt noch
Kompetenz auf dem Land immer mehr ausgehöhlt worden.
die Chance zu einer eigenständigen Entwicklung?
In der Lokalpolitik und der Bürgerschaft entwickelt sich ein Gefühl von Bevormundung, Ohnmacht und Resigna-
Generell bewegt sich die Entwicklung des ländlichen Rau-
tion.
mes zwischen den beiden Polen der Fernsteuerung durch
Die inhaltliche Fernsteuerung der »Provinz« durch die
Bund und Länder sowie der endogenen (d. h. der eigenen,
zentralen Raumordnungs- und Fachpolitiken hat neben ei-
von »innen« kommenden) Selbstbestimmung. Wünschens-
nigen positiven Impulsen auch viele negative Entwicklun-
wert wäre ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des
gen gefördert. Hierzu ein paar Beispiele:
Staates und der Selbstorganisation der lokalen Gemein-
Die staatliche Dorfsanierung der 1960er und 1970er
schaft durch Kommunen und Bürger. Der ländliche Raum
Jahre hat – wie der damalige Wettbewerb »Unser Dorf soll
leidet jedoch seit Jahrzehnten an einer Fremdbestimmung
schöner werden« – die gewachsenen Werte des Dorfes, wie
durch die Zentralen der Macht in Politik, Wirtschaft, Wis-
z. B. die historische Baukultur, ignoriert und vielfach besei-
senschaft und Medien, die meist in den großen Städten an-
tigt. Durch wechselnde »städtebauliche« Moden sind, dem
gesiedelt sind. Was würde es für ihn bedeuten, wenn dieser
jeweiligen Zeitgeist entsprechend, viele Dörfer umgestal-
Trend so weiterginge? Oder wenn wir die bereits aufkom-
tet und aus heutiger Sicht verschandelt worden. Dies gilt
menden Hoffnungszeichen für eine größere eigenständige Entfaltung in den letzten Jahren betrachten: Wie würde eine endogene Entwicklung des ländlichen Raumes idea-
Abbildung oben: Das Land erfüllt zahlreiche Aufgaben für die Gesellschaft, hier durch die Transrapid-Versuchsstrecke im Emsland.
Dorfpolitik
333
u. a. für den Ausbau von Straßen und Plätzen oder für die
Gestalt von Bund und Ländern verwehrt dem Land, seine
Behandlung von Dorfbächen, die man häufig ohne zwin-
Zukunft durch kommunale Selbstverantwortung und bür-
gende Gründe kanalisierte oder verrohrte.
gerschaftliches Mitwirken selbst in die Hand zu nehmen.
Die von der staatlichen Raumordnung initiierten kom-
Wie selbst ein an sich begrüßenswertes »Leitbild Kultur-
munalen Gebietsreformen haben der großen Mehrheit der
landschaft« zu einer äußerst fragwürdigen inhaltlichen
deutschen Dörfer ihre in Jahrhunderten gewachsene lokale
Fernsteuerung werden kann, zeigte sich vor gut 20 Jahren
Selbstverantwortung und damit auch ihr Selbstbewusst-
in Nordrhein-Westfalen. Die Ministerialverwaltung über-
sein genommen, indem sie die Dörfer eingemeindete und
raschte die Kommunen mit einer Karte »13 wertvolle Kul-
zu »nicht-zentralen Orten« abqualifizierten. Durch andere
turlandschaften«, wozu u. a. das Feuchtgebiet Unterer Nie-
zentralistische Reformen wurden Schulen, Kindergärten
derrhein und die Waldlandschaften zwischen Alme und
und Polizeistationen aus den Dörfern entfernt. Andere
Diemel gehörten.287 Mit einer typischen Leitbildsetzung
Aufbauleistungen früherer Generationen wie Post und
von oben nach unten wurde hier eine willkürliche Sach-
Bahn zogen sich immer mehr aus der »Fläche«, d. h. aus
auswahl getroffen, wobei es sich eher um wertvolle »Natur-
zahllosen ländlichen Siedlungen, zurück. In der Agrarpoli-
räume« handelte als um Kulturlandschaften. Diese Auswahl
tik waren die Empfehlungs- und Förderungswellen häufig
vermittelte einen völlig falschen Eindruck von der Verbrei-
undurchsichtig, wechselhaft und aus der Sicht der Bauern
tung und dem Wert der tatsächlichen Kulturlandschaften
vielfach unsinnig. Mal wurde das Abholzen von Obstbäu-
in Nordrhein-Westfalen, an denen es sowohl in Westfalen
men gefördert, mal die Erhaltung von Obstwiesen – mal
als auch im Rheinland keinen Mangel gibt. Am meisten
die Beseitigung von Sümpfen, mal das Anlegen von »natür-
werden sich die zahlreichen Gemeinden, denen keine wert-
lichen« Feuchtgebieten. Zentrale Leitbilder führten häufig
vollen »Kulturlandschaften« von oben zugewiesen wurden,
zu einer Uniformierung der Kulturlandschaft. Lokale und
gewundert haben. Denn sie haben fast alle überaus reich-
regionale Unterschiede und Besonderheiten gingen mehr
haltige, in langer Geschichte geprägte Kulturlandschaften
und mehr verloren.
aufzuweisen.
Fortgesetzt werden Dörfer und Landgemeinden durch
Resümee: Bei einer Fortsetzung der zentralistischen
Landes- und Gebietsentwicklungspläne in ihrer zukünfti-
Trends und Leitbilder könnten ländliche Räume und Dör-
gen Entwicklung gebremst und entmutigt. Selbst die Aus-
fer im Jahr 2040 – knapp generalisiert – folgendermaßen
weisung kleinerer Bau- und Gewerbegebiete wird ihnen
aussehen. Ländliche Räume sind endgültig zur machtlo-
verwehrt. Somit wird den Bürgern und Kommunalpoli-
sen Vefügungsmasse der Verdichtungsgebiete geworden.
tikern untersagt, die ökonomischen und infrastrukturel-
Durch die vornehmlich auf die Metropolen ausgerichtete
len Zukunftschancen durch Ideenreichtum, Tatkraft und
Politik ist der ländliche Raum vor allem politisch und wirt-
»Herzblut« für ihre Heimatorte zu verbessern. Der Staat in
schaftlich abgesunken. Die ländlichen Kommunen werden von Bund und Ländern ferngesteuert und haben ihre Chancen auf eigenständige Entwicklung und Entfaltung weitgehend verloren. Außerdem sind die meisten deutschen Dörfer ohnmächtige »Ortsteile« einer großflächigen Einheitsgemeinde. In ihren Bemühungen um lokale Infrastruktur und Arbeitsplätze sind sie auf sich allein gestellt. Ohne eigenen Bürgermeister und Gemeinderat herrschen in der dörflichen Bevölkerung kommunalpolitische Apathie und ein Rückzug ins Private und Vereinsleben. Bei nüchterner Betrachtung kann man die fortgesetzte Fernsteuerung und Entmachtung der Dörfer und Landgemeinden durch Bund und Länder als systemisch-strukturelle Machtausübung von oben nach unten bezeichnen. Wie
Neuhof am Schaalsee ist auf dem Weg zu einem Bioenergiedorf, ein derzeit häufiges Beispiel für die Eigenentfaltung ländlicher Gemeinden.
334
Das moderne Dorf
Zu den größten Werten des Landes gehören seine Kultur- und Naturlandschaften wie hier die Kreidefelsen auf Rügen. Wird deren Pflege und Erhaltung auch von der Gesellschaft honoriert?
das Wirtschaftssystem unterstützt das politische System das
nungs- und Fachplanungspolitik vonnöten ist, die vor al-
Große, nicht das Kleine. Die vielfältigen Verluste, die Dör-
lem dessen Kompetenz und Regelungskraft nutzt.
fer und Landgemeinden durch Entmündigung, Entdemo-
So erklärte die Bundesregierung erstmals im Jahr 1990
kratisierung, zu geringe Unterstützung und Kappung der
(im Raumordnungsbericht des Bundes) die Förderung
Gestaltungsfreiheit erleiden, können nur teilweise durch
des »endogenen Potenzials des ländlichen Raumes« zu ei-
ein außergewöhnliches Engagement der Bürger und der
nem Leitziel der Raumordnungspolitik. Eine solche (verba-
Kommunalpolitik kompensiert werden.
le) Kehrtwende ist allerdings nicht leicht in die Praxis umzusetzen. Die etablierten Steuerungsmächte der Zentralen
Szenario 2: Trends der eigenständigen Entwicklung. Ne-
möchten natürlich nur ungern etwas von ihren gewohn-
ben dem Haupttrend der Fernsteuerung der »Restkatego-
ten Befugnissen abgeben. Doch es gibt zunehmend konkre-
rie« ländlicher Raum sind ab den frühen 1980er Jahren zu-
te Hoffnungszeichen für eine dorfgerechte Politik. So sind
nehmend Bemühungen zu beobachten, die das Dorf mit
in den meisten Bundesländern die Mindestquoten für dörf-
seinen Eigenwerten respektieren und entwickeln wollen.
liche Grundschulen, die z. B. in Nordrhein-Westfalen in
Auf den Ebenen des Bundes und der Länder sowie in den
den 1990er Jahren noch bei 112 Schülern lagen (was viele
Wissenschaften hat sich mehr und mehr die Einsicht durch-
Eltern und Kommunalpoliker auf dem Land zur Verzweif-
gesetzt, dass für den ländlichen Raum eine neue Raumord-
lung gebracht hatte), erheblich reduziert worden. Die staat-
Dorfpolitik
335
Ollarzried in Bayern hat schon mehrfach seine innere Kraft gezeigt. Hier packt das kleine 340-Einwohner-Dorf wieder an …
liche Dorferneuerungsförderung befasst sich längst nicht
oder 20 Jahren aussehen könnte oder sollte. Oder es geht
mehr vorrangig mit Fassaden, Brunnen und »städtebauli-
um konkrete Projekte wie die Nutzung des leer stehenden
chen« Dorfplätzen, sondern mit Existenzfragen des Dorfes
Schulgebäudes oder die Erhaltung der Pfarrbücherei. Die
wie Gebäudeleerstand und Infrastrukturdefiziten wie Kin-
in jüngster Zeit massenhaft auf dem Land neu gegründe-
derbetreuung und Altenhilfe. Mit neuen Heimatministe-
ten ganzheitlichen Dorfvereine (»Förderverein Unser West-
rien in Bund und Ländern versucht der Staat, das Vertrauen
heim«) scheinen in mancher Weise die Arbeit der früheren
der Bürger und Kommunalpolitiker auf dem Land zurück-
Gemeinderäte fortzuführen.
zugewinnen.
336
Resümee: Die Verstärkung dieser positiven Trends ei-
In der dörflichen Bürgerschaft selbst ist seit den 1990er
ner endogenen Dorfentwicklung könnte bis zum Jahr 2040
Jahren ein wachsendes Lokalbewusstsein zu beobachten.
zu folgenden Ergebnissen führen. Ländliche Regionen sind
Häufig wurden neue Heimat- oder Bürgervereine gegrün-
politisch und wirtschaftlich erstarkt und in ihrem Eigen-
det, um – quasi im außerparlamentarischen Raum – ge-
wert von den urbanen Zentren respektiert. Das lokalpoliti-
samtdörfliche Interessen zu verfolgen. Hier werden grund-
sche Denken und Handeln ist nach dem Trauma der kom-
sätzliche Fragen angesprochen, z. B. wie das Dorf in zehn
munalen Gebietsreform in viele Dörfer zurückgekehrt.
Das moderne Dorf
… und gestaltet den vielfach zu nutzenden Dorfplatz selbst.
Das Dorf ist wieder – wie früher – ein Standort mit Inf-
gischen und z. T. auch Imagegründen neue Nationalparke
rastruktur und vielseitigen wirtschaftlichen Aktivitäten.
ausweisen, wie z. B. derzeit im Raum Senne/Teutoburger
Eine dezentrale Raumordnungs- und Förderpolitik lässt
Wald in Nordrhein-Westfalen. Die groß- und kleinbäuer-
dies wieder zu. Das Dorf mit seinen kulturellen, sozialen
lichen Waldeigentümer sorgen sich nun um ihre Rechte an
und baulichen Eigenwerten wird von seinen Bewohnern
ihren in Jahrhunderten aufgebauten Waldbeständen. Auch
geliebt und als Lebensmitte geschätzt, obwohl sie durch
das waldnutzende Handwerk und Gewerbe, in vielen länd-
vielfältige Kontakte immer mehr mit einer globalisierten
lichen Regionen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, befürch-
Welt verbunden sind.
tet Standortnachteile für ihre dörflichen Betriebe und Arbeitsplätze. Werden diese ländlich-regionalen Interessen
Ein typisches Beispiel dafür, wo zentrale Wünsche des Staa-
und Bedürfnisse von den Befürwortern der Nationalpar-
tes und handfeste Interessen der Landbewohner aufeinan-
kidee nicht ausreichend ernst genommen, wird es wohl
derstoßen können, sind die Nationalparke, die häufig in
kaum zu einer »Umwidmung« von bisher wirtschaftlich
waldreichen Regionen anzutreffen oder geplant sind. Bund
genutzten Flächen kommen.
und Länder sowie regionale Verbände möchten aus ökolo-
Ob das Machtgefälle zwischen Stadt und Land wirklich
Dorfpolitik
337
wässerschutz betreibt und gute Nahrungsmittel mit ökologischen und tierethisch akzeptablen Methoden herstellt. Aber vorläufig verlangt die Stadt durch das Diktat der Ökonomie eine immer weitergehende Rationalisierung, die auf die weitgefassten Funktionen des ländlichen Raumes keine Rücksicht nimmt.«290 Es ist zu hoffen, dass sich das derzeitige Kräftespiel zwischen Stadt und Land möglichst bald zu einer fairen Partnerschaft mit Interessenausgleich entwickeln wird. Auf lange Sicht sehen Albert Herrenknecht und Jürgen Wohlfahrt den ländlichen Raum sogar im Vorteil: »Das Land ist ganzheitlicher, denn es kann ohne die Stadt (über)leben; die Stadt dagegen ist der unvollständigere Teil, denn sie kann ohne das Land aus eigener Kraft nicht überleben.«291 Insgesamt verfügt der ländliche Raum über gute Nachhaltigkeitsressourcen, die längst nicht nur in seinen Im neu geschaffenen Dorfzentrum von Langenfeld sitzen Alt und Jung an einem Tisch. Die Chancen und Lebensfreude des Dorfes werden hier sichtbar.
großen naturnahen Flächen liegen. Nach Herrenknecht und Wohlfahrt besitzt der ländliche Raum gegenüber den Großstädten erhebliche Nachhaltigkeitsvorteile: u. a. weil
abgebaut werden kann, bleibt fraglich. Der bekannte So-
das Erfahrungswissen im Umgang mit der Natur auf dem
ziologe Peter Atteslander hält dies für eine Illusion. Seine
Land noch breiter gespeichert ist als in den durchmoderni-
pessimistische Zukunftsvision sind »voll ferngesteuerte
sierten Städten. Weil hier noch »Nachhaltigkeitskerne« wie
und fremdentwickelte ländliche Gebiete«.
In jünge-
Mühlen, Wasserkraftwerke oder Vermarktungsstrukturen
ren Studien wird darauf aufmerksam gemacht, dass das ge-
vorhanden sind, die wieder aktivierbar sind. Weil hier Ge-
genwärtige Stadt-Land-Verhältnis parasitär ist, dass sich
meinsinn und eine Kultur des Mitmachens und Mithelfens
ein einseitiges Nutzungsverhältnis zum Vorteil der Städte
erhalten geblieben sind, auf die im Bedarf zurückgegriffen
288
und zum Nachteil des ländlichen Raumes ausgebildet hat.
werden kann. Nicht zuletzt bieten Grundbesitz und Ma-
Das renommierte Wuppertal-Institut wirft in seiner um-
schinenverfügbarkeit sowie die noch vorhandenen Klein-
fassenden Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« den Bal-
strukturen in Handwerk, Landwirtschaft und Hobbyland-
lungsgebieten vor, den ländlichen Raum ohne Gegenleis-
wirtschaft ganz andere Möglichkeiten für konkretes Han-
tungen auszubeuten: »Die Ballungsgebiete bzw. die dort le-
deln und Gestalten als das Mietwohnen in der Stadt.
bende Bevölkerung nutzen die sie umgebenden ländlichen
Somit kommen wir zum Fazit der komplexen politischen
Räume aus. Das Wasser, die Luft, die Nahrungsmittel, der
Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Land: Der länd-
Platz für Abfälle, der Raum für Erholung, für Siedlungs-
liche Raum bietet nicht nur Wohn-, Arbeits- und Lebens-
und Verkehrsflächen, die Rohstoffe, die biologische Viel-
raum für die Hälfte der Bevölkerung. Er erbringt darüber
falt, all das erzeugen oder erhalten die ländlichen Räume
hinaus für den Gesamtstaat auf 90 % der Fläche vielfältige
für die Gesellschaft, doch bezahlt werden nur wenige Leis-
ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Leistun-
tungen.«
gen. Der Staat sollte diese Leistungen anerkennen und un-
289
Den Ausweg aus diesem Dilemma sieht Ernst Ulrich von
terstützen. Auch die Zentren sollten dem Land auf Augen-
Weizsäcker in einem fairen Interessenausgleich zwischen
höhe entgegentreten und auf jedwede Art einer »Kolonisie-
Stadt und Land: »Die ökologischen Funktionen des länd-
rung der Fläche« verzichten. Ein faires Geben und Nehmen
lichen Raumes müssen von den Städten angemessen be-
zwischen Stadt und Land ist vonnöten.
zahlt werden, dann kann der umweltbewusste Städter auch verlangen, dass die Landwirtschaft Artenschutz und Ge-
338
Das moderne Dorf
Ein knappes Fazit
Zu Füßen von Schloss Langenburg liegt malerisch das alte Dorf Bächlingen im Hohenloher Land. Hier mussten früher die Pferde gewechselt werden, wenn die Postkutschen von den Höhen ins Jagsttal heruntergerumpelt kamen. Heute ist Bächlingen Ausgangspunkt zu stillen Wanderungen.
Mehr Licht als Schatten Das deutsche Dorf heute und ein Blick nach vorn
Was würde ein Dorfbewohner von 1800 empfinden,
Generationen kennt, durch Geschichten, Erinnerungen
wenn er heute in sein Dorf käme? Würde er noch
und Wertvorstellungen, die man weitergibt. Selbst die mo-
etwas wiedererkennen? Wahrscheinlich nur die Kirche,
derne Dorfforschung orientiert sich gern am alten Dorf.
den Gutshof und ein paar Fachwerkhäuser. Was würde
Sie nimmt immer noch Merkmale aus früheren Zeiten zu
er wohl am meisten bestaunen oder bewundern?
Hilfe, wenn sie das heutige Dorf definiert. Sie spricht vom
Vielleicht den modernen Kindergarten und die Sport-
Dorf, wenn die agrarische Wirtschaft das heutige Ortsbild
anlagen, die technisch perfekte Wasser- und Energie-
prägt – und sei es auch nur noch optisch durch den Bestand
versorgung, die Feldwege, die Sauberkeit der Häuser
alter Bauernhäuser.
und Straßen, den Wohlstand und die »neuen Berufe«
Wie sieht nun ein typisches Dorf von heute aus? Zu-
der Dorfbewohner. Was würde unser Vorfahre wohl
nächst ist eine grundsätzliche Einschränkung zu machen:
vermissen? Vielleicht den Zusammenhalt in den
Natürlich gibt es nicht das typische deutsche Dorf! Die
großen Familien und Hausgemeinschaften. Die dörf-
enormen Unterschiede zwischen den rund 35 000 deut-
lichen Feste und den Feierabend, bei dem man zusam-
schen Dörfern verbieten es eigentlich, ein typisches Dorf
mensaß, Freud und Leid teilte und sich Geschichten
auszuwählen. Wie groß sollte das ausgewählte Dorf sein,
erzählte. Und das Gefühl einer dörflichen Solidarität?
soll es 300 oder 3000 Einwohner haben? Soll es in der Nähe einer Großstadt liegen oder »weit ab« in Mecklenburg oder
Das deutsche Dorf hat in den letzten 220 Jahren den Sprung
der Oberpfalz? Aus welcher deutschen Region soll es sein:
in die moderne Zeit gemacht. Es hat wirtschaftlich, sozial
aus den Küstengebieten und dem Tiefland, dem Mittelge-
und vom Dorfbild her eine neue Identität gewonnen (wie
birge oder dem Alpenvorland? Soll es ein Börden- oder ein
natürlich auch die Stadt). Die alte Agrargesellschaft, die
Winzerdorf sein? Welche ökonomischen Schwerpunkte soll
um 1800 noch den ganzen Staat prägte, gilt nun auch auf
das Dorf haben? Ist das Dorfbild eher durch historische
dem Land nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Gemein-
oder moderne Bauten geprägt – welchen Stellenwert haben
samkeiten zwischen dem alten und dem modernen Dorf.
kulturelles Erbe und Traditionspflege? Soll ein wachsendes
Aber dennoch ist das frühere Dorf nicht völlig verschwunden. Es wirkt weiter: durch seine alten Gebäude, durch den Boden, den Bach, den Wald, das Lokalklima, das man seit
340
Ein knappes Fazit
Abbildung oben: Das harmonisch in der Flur liegende Dorf ist ein Merkmal unserer Kulturlandschaft: gerade für Großstädter faszinierend!
oder schrumpfendes, ein lebendiges oder ein lethargisches
sächlich von mehreren Aussiedlerhöfen aus betrieben, die
Dorf ausgesucht werden?
von 1955 bis 1975 in der Feldflur errichtet worden sind.
Wir wählen ein mittelgroßes Dorf mit etwa 1000 Ein-
Neben den Landwirten gibt es in Kirchhusen heute noch
wohnern und nennen es »Kirchhusen«. Es liegt irgendwo
einige Handwerksbetriebe: eine Tischlerei, einen Elektro-
in der Mitte Deutschlands, ca. 35 km von einer kleineren
und Sanitärbetrieb, eine Bäckerei, einen Kfz-Betrieb mit
Großstadt entfernt. Das Dorf hat klar erkennbar noch einen
Tankstelle, dazu kommen eine Versicherungsagentur, ein
historischen Kern mit Kirche, Schulgebäude und älteren
Steuerberater und ein Architekturbüro. Zur Infrastruktur-
Bauernhäusern. Hier präsentiert sich das Dorf mit seinen
versorgung gehören ein Kindergarten, ein Feuerwehrhaus,
»schönen« Seiten. Aber es gibt auch »normale« Dorfbilder,
ein Lebensmittelladen (der in Kürze schließen wird), ein
wo sich Altes und Neues kunterbunt mischt, und auch ein
Gasthof mit Saal und Kegelbahn, eine Bankfiliale und eine
paar »hässliche« Ecken. Am Dorfrand befinden sich zwei
Postagentur. Die lokale Volksschule musste im Rahmen ei-
Neubaugebiete, das eine relativ geschlossen aus den 1950er
ner großen Schulreform vor etwa 40 Jahren, die Grund-
Jahren, ein zweites mit Häusern der 1960er Jahre bis heute.
schule schließlich vor 20 Jahren aufgegeben werden, was
Nur noch in zwei Bauernhäusern des Dorfkerns wird heute
bis heute bedauert wird. Seit einigen Jahren ist die örtliche
Landwirtschaft (im Nebenerwerb) betrieben, die übrigen
Kirchengemeinde Teil eines Pastoralverbundes und muss
werden als Wohnhäuser genutzt. In ein ehemaliges Bauern-
sich inzwischen mit mehreren Nachbargemeinden einen
haus ist ein Antiquitätengeschäft eingezogen, in ein weite-
Pfarrer teilen. Zur Erfolgsbilanz des Dorfes zählt sein ho-
res ein Handwerksbetrieb, zwei alte Hofstellen stehen weit-
her Standard an technischer Infrastruktur: die Wasserver-
gehend leer. Die lokale Landwirtschaft wird heute haupt-
und -entsorgung, das Strom- und Gasnetz, die Versorgung
Pferdezucht und Reitsport sind auf dem Lande weit verbreitet. Sie sind für viele Menschen ein Kernelement des dörflichen Lebensstils und vielerorts auch ein Wirtschaftsfaktor.
Das deutsche Dorf im Jahr 2011
341
Auch Dörfer im Mittelgebirge haben Charme und Lebendigkeit: Gersbach im Schwarzwald ist Goldsieger im Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«.
mit den modernen Kommunikationsmedien Telefon, Fern-
in Kreis-, Finanz- oder Justizverwaltungen. Ihre täglichen
sehen und Internet.
Ziele sind benachbarte Kleinstädte oder auch die 35 km ent-
Generell hat unser Dorf in den zurückliegenden Jahr-
342
fernte Großstadt.
zehnten einen Großteil seiner Arbeitsplätze und Infra-
Zu den Errungenschaften des heutigen Dorfes gehören
struktureinrichtungen verloren, vor allem in der Land-
seine Sport-, Freizeit- und Kultureinrichtungen. Diese
wirtschaft und im lokalen Handwerk. Außerdem haben
werden überwiegend von Vereinen getragen, so auch in
in den letzten Jahrzehnten mehrere Dorfläden und Gast-
Kirchhusen. Der Sportverein betreibt zwei Rasensport-
höfe geschlossen. Die Dorfbewohner haben ihren Arbeits-
plätze und eine kleine Sporthalle, der Tennisverein zwei
platz heute überwiegend außerhalb des Dorfes – sie sind zu
Tennisplätze, jeweils mit einem zugehörigen Sportheim.
Pendlern geworden. Viele Dorfbewohner üben heute ehe-
Dazu kommen drei Spielplätze, die von einem Förderver-
mals »städtische« Berufe aus: Sie sind Arbeiter und Ange-
ein gepflegt werden. Den kulturtreibenden Dorfvereinen
stellte in Industrie- und Gewerbebetrieben oder Beamte
steht eine Begegnungsstätte – im historischen Schulge-
Ein knappes Fazit
Im Inneren des Dorfes zeigen sich seine Kräfte: Im saarländischen 950-Einwohnerdorf Gonnesweiler war die alte Schlosskapelle bei einer Straßenerweiterung abgerissen worden. 2004/2005 wurde die Nepomuk-Kapelle am Dorfrand neu errichtet und mit einem kleinen Dorffest eingeweiht!
bäude – zur Verfügung. Ein recht aktiver Heimatverein hat
dem hat sich der Ort auf Dauer nicht unterkriegen lassen:
eine kleine Heimatstube mit lokalgeschichtlichen und na-
So besteht seit zehn Jahren ein neuer, integrativer »Förder-
turkundlichen Schriften und Exponaten aufgebaut und au-
verein Unser Dorf«, der sich mit Grundsatzfragen der ak-
ßerdem einen Lehrpfad am Dorfbach und am stillgelegten
tuellen und zukünftigen Dorfentwicklung befasst und in
Steinbruch angelegt. Zwei Musikvereine sind wie die bei-
gewisser Weise die Arbeit des früheren Gemeinderats und
den Sportvereine das ganze Jahr über aktiv und betreiben
Bürgermeisters fortsetzt.
eine breite Jugendarbeit. Und wie steht es mit der kommunalen Selbstverwaltung?
Ein wichtiger Vorzug des Dorfes ist das Engagement in der Dorfgemeinschaft, manchmal auch als »soziales Kapi-
Jahrhundertelang war Kirchhusen eine eigene, selbststän-
tal« bezeichnet. Diese Werte sind nicht leicht zu fassen. Die
dige Gemeinde. Seit der kommunalen Gebietsreform von
Statistiken belegen z. B. eine deutlich höhere Vereinsdichte
1975 ist es jedoch nur noch »Ortsteil« einer neu geschaffe-
bzw. Vereinszugehörigkeit auf dem Land als in Mittel- und
nen Einheitsgemeinde. Statt eines eigenen Gemeinderats mit (früher) zwölf Mitgliedern wird der Ort heute durch zwei Dorfbürger im Großgemeinderat vertreten. Es gibt keinen eigenen Bürgermeister mehr. Mit der kommunalen Gebietsreform der 1960er/1970er Jahre ist die in Jahrhunderten gewachsene politische Selbstverantwortung des Dorfes in Kirchhusen, wie vielerorts auch, gebrochen worden. (Es gibt einige Bundesländer wie Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern, die den kleinen Dorfgemeinden ihre Autonomie belassen haben, wobei deren Verwaltung von Ämtern oder Samtgemeinden geleistet wird.) In Kirchhusen wie in der Mehrzahl der deutschen Dörfer besteht die Identität von Dorf und Gemeinde nicht mehr. Entsprechend verkümmert ist das kommunalpolitische Selbstbewusstsein. TrotzBei einer Dorfkonferenz 2011 in Arzbach wurden Visionen bis 2030 entwickelt. Eine der Kernaussagen war: »Ich bin Arzbach – Yes we can«
Das deutsche Dorf im Jahr 2011
343
schen. Auf dem Dorf gibt es dichte soziale Beziehungen, die Menschen engagieren sich für die soziale Gemeinschaft und man kann in unmittelbarer Nähe zur Natur leben. Dies wird von den Bewohnern in Kirchhusen wie in anderen Dörfern in ganz Deutschland geschätzt! Durch Schule, Urlaub und Beruf haben viele Bewohner von Kirchhusen schon seit Kindesbeinen an Kontakte mit dem Ausland. Manche sind durch ihr Studium oder für ihre Firmen monatelang in anderen Kontinenten tätig. Das Dorf selbst ist regelrecht bunter geworden durch zahlreiche Zuwanderer aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland. Einige sind schon seit Jahrzehnten in Kirchhusen und bewohnen ehemalige Bauern- und Handwerkerhäuser. Im Vergleich zu 1800 zeigt sich das heutige Dorf weltoffen. Der Dorfbewohner ist zum Globetrotter geworden, er bleibt Als stiller Beobachter einer internationalen Dorftagung im Mai 2011 in Berlin entwarf und zeichnete Diplom-Designer Heyko Stöber dieses äußerst symbolträchtige Bild »Sie tragen das Dorf«.
aber »seinem Kirchhusen« als Basisstation verbunden. Das Dorf hat sich von 1800 bis heute stark gewandelt und es wird sich auch in Zukunft weiter verändern. Wir wissen nicht, in welche Richtung. Alois Glück, jahrzehnte-
Großstädten. Auch in Kirchhusen sind praktisch alle Kin-
langer Dorfbewohner seit Geburt im bayerischen Hörzing
der und Jugendlichen sowie die große Mehrheit der Er-
bei Traunstein und jahrzehntelang führender CSU -Politi-
wachsenen in mindestens einem der Sport- und Musikver-
ker in München (und von 2009–2015 Präsident des Zentral-
eine, der Feuerwehr oder dem Schützenverein aktiv. Ne-
komitees der Deutschen Katholiken), wagt einen Blick in
ben den Vereinen bestehen im Dorf enge Verwandtschafts-,
die Zukunft des Dorfes, der insgesamt zuversichtlich aus-
Nachbarschafts- oder Cliquenverbindungen, die durch ein
fällt. Nach Glück liegt die Chance und Besonderheit des
ständiges Austauschen von Gütern, Geräten und Dienst-
ländlichen Raumes in den kleinen, überschaubaren Einhei-
leistungen geprägt sind. Man trifft sich zu privaten Feiern
ten: der Familie, der Nachbarschaften, der Vereine, der Kir-
und hilft sich beim Bauen oder im Garten, bei der Betreu-
chengemeinde, des Dorfes und der Region. Die Kraftquelle
ung von Kindern, Kranken und älteren Menschen. Dieses
des Landes sind die für das Gemeinwohl engagierten Bür-
ständige Geben und Nehmen trägt – neben einer sehr ho-
ger: »Die Selbstorganisation der Bürger […] hat im ländli-
hen Eigenheimquote – zu einem relativ hohen Wohlstand
chen Raum viel mehr Chancen als in den größeren, anony-
des Dorfes bei. Ein weiterer Vorzug des Dorfes ist seine Na-
meren Strukturen.«291 Lassen wir uns anstecken von dieser
turnähe. Sie bietet in Feld, Wald und Garten eine unmit-
Zuversicht!
telbare Chance der Erholung, Entspannung, Freizeitnut-
Auf seine bisherige Geschichte kann das Dorf stolz sein.
zung und körperlichen Betätigung. Vor allem der dörfliche
Es hat einen »wichtigen Beitrag im Prozess der europäi-
Garten gilt inzwischen als ein Kernbestand ländlicher Le-
schen Zivilisation geleistet« und gehört »als Siedlungs- und
bensqualität. So ist es nicht verwunderlich, dass die Zufrie-
Sozialform zu den Erfolgsmodellen der europäischen Ge-
denheit mit dem Lebensumfeld auf dem Dorf deutlich grö-
schichte«.292 Dem ist nichts hinzuzufügen.
ßer ist als in der Großstadt. Dies gilt auch für junge Men-
344
Ein knappes Fazit
Ein Blick nach vorn Argumente dafür, dass das Dorf nicht sterben darf
Kann die »Erfolgsgeschichte« des Dorfes weitergehen?
ist Luxus – lasst das Dorf sterben!« Mein erstes Empfinden
In welche Richtung wird sich das Dorf in den nächsten
war: Zentralistische Hirngespinste oder Satire? Ich folgte
30 oder 50 Jahren entwickeln? Viele Landbewohner
schließlich der Bitte, eine Gegenrede zur plakativen These
und Dorfbeobachter sind eher skeptisch, sie konsta-
zu formulieren (Anm. Henkel 2015 und 2018, S. 273 ff.).
tieren die fortgesetzten und sichtbaren »Verluste«,
Hier nun – stark verkürzt – meine Argumente dafür, dass
nicht wenige sehen das Dorf von heute gar in einer
wir das Dorf auch in Zukunft brauchen.
Existenzkrise. Immer wieder wird das Ende oder – noch
Die Aufforderung »Lasst das Dorf sterben!« offenbart
dramatischer – das Sterben des (alten) Dorfes festge-
eine elitäre urbane Sichtweise (es verlangt ja auch niemand
stellt oder vorhergesagt. In Politik, Wissenschaft und
»Lasst die Großstadt sterben!«). In den Zentren von Poli-
Medien wird recht häufig über die Gegenwart und
tik, Medien, Kultur und Wissenschaft wird die Bedeutung
Zukunft des Dorfes diskutiert. Oft geht es um irgend-
des Wirtschafts- und Lebensraums Dorf für den Staat und
welche neue Förderprogramme für Kommunen,
die Gesellschaft häufig unterschätzt und zu wenig respek-
Verbände und Vereine. Doch es fehlen in der Regel
tiert. Das Land ist jedoch für Staat und Gesellschaft genauso
mittel- und langfristige wissenschaftliche oder politi-
wichtig wie die Großstadt. Beide ergänzen sich und sind
sche Leitbilder und Signale, die dem Land Hoffnung
aufeinander angewiesen. Für eine Zukunft des Landes spre-
machen können. Es bleibt die vielzitierte »Unübersicht-
chen zahlreiche gute Gründe:
lichkeit« der Bewertung von Gegenwart und Zukunft.
– Über 50 % der ökonomischen Wertschöpfung Deutschlands erfolgen auf dem Land, viele unbekannte Welt-
Wenn man über die Zukunft des Landes nachdenkt, sollte
marktführer haben ihren Sitz in Dörfern und Kleinstäd-
man sich zuerst und grundsätzlich fragen: Worin liegt die
ten.
große – oft unterschätzte – Bedeutung bzw. Wertigkeit des
– Auf dem Land herrscht ein relativ hoher Wohlstand.
Lebens- und Wirtschaftsraumes Dorf für Staat und Ge-
Gründe hierfür sind eine hohe Eigenheimquote (über
sellschaft? Vor wenigen Jahren wurde ich von einem angesehenen Berliner Zeitungsverlag gebeten, einen knapp limitierten Beitrag zu dieser These zu leisten: »Wie sinnvoll ist eine Wiederbelebung des ländlichen Raumes? Landleben
Abbildung oben: Der Weihnachtsmarkt im Innenhof der Burg Lichtenfels, die zum 140-Einwohnerdorf Dalwigksthal im Landkreis Waldeck-Frankenberg gehört, erfreut sich größter Beliebtheit in der Region.
Dorfpolitik
345
80 %) oder auch das sog. »Informelle Wirtschaften«, das
– Ein großer Schatz des Landes sind seine abwechslungs-
ständige Geben und Nehmen in der Nachbarschafts- und
reichen und regionalspezifischen Natur- und Kultur-
Verwandtschaftshilfe.
landschaften samt ihrer Dörfer und Kleinstädte mit ih-
– Das Land versorgt die Gesellschaft mit Lebensmitteln
ren sehr unterschiedlichen Bautraditionen, die auch von
und Rohstoffen wie Wasser, Holz und erneuerbarer
der Großstadtbevölkerung sehr geliebt und häufig für
Energie.
Erholung und Freizeit besucht und genutzt werden.
– Auf dem Land sind die Menschen zufriedener mit ihrem Wohnumfeld.
Fazit: Dorf und Land haben ökonomische, ökologische, kul-
– Kinder und Jugendliche können hier ruhiger und ent-
turelle und soziale Potentiale und bringen diese auch in
spannter und generell physisch und psychisch gesunder
hohem Maße in die Gesamtgesellschaft ein. Sehr viele
aufwachsen.
Menschen lieben das naturnahe, überschaubare und ruhi-
– Zufriedenheit und Gesundheit sind ein Resultat der
gere Landleben – und gestalten dies mit Gemeinwohlden-
ländlichen Lebensstile. Diese sind natur-, traditions-, ge-
ken und Anpackkultur. Dies sollte auch in Zukunft mög-
meinschafts- und handlungsorientiert.
lich sein.
– Das Sich-Auskennen und Handeln in vielen praktischen
Wie kann es erreicht werden, dass die vielfache und hohe
und natürlichen Bereichen ist ein Kernbereich des Land-
Wertigkeit des Landes/Dorfes für Staat und Gesellschaft er-
lebens, man kann hier auch von der Lebens- und All-
halten bleibt? Hier sind zunächst einmal die Bürger und
tagskultur des Dorfes sprechen: das Arbeiten im Garten,
Kommunalpolitiker des Landes gefragt/angesprochen/ge-
das Einmachen und Einlagern von Garten-, Feld- und
fordert, in gleicher Weise aber auch die Entscheider in Po-
Waldprodukten, das Kochen und Backen mit Gemüse
litik und Gesellschaft in den urbanen Zentralen von Politik
und Obst aus dem eigenen Garten, das Holzmachen im
und Gesellschaft.
Walde, das ständige Sich-Aushelfen im Alltag, das Ge-
Die Bürger und Kommunen müssen sich klar machen,
stalten von Festen, das Pflegen und Betreuen von älte-
dass die Zukunft ihrer Dörfer und Kleinstädte zunächst
ren und gebrechlichen Menschen, wobei man sich aus-
und entscheidend von ihrem Mitwirken und Gestalten ab-
tauscht und dies auch an die nächste Generation wei-
hängt.
tergibt. Das für eine Gesellschaft wichtige vor- und
Die Entscheider in Staat und Gesellschaft sollten zu-
fürsorgende Denken und Handeln ist auf dem Land weit
nächst die andauernde Entmündigung der Dörfer und
verbreitet.
Landgemeinden beenden. Sie müssten den Bürgern und
– Dorfbewohner haben eine hohe, durch viele Erfahrun-
Kommunalpolitikern auf dem Land mit viel mehr Respekt
gen aufgebaute Kompetenz, lokale Fragen und Probleme
begegnen und ihnen mehr Unterstützung und vor allem
ehrenamtlich oder genossenschaftlich anzugehen und
Gestaltungsfreiheit zukommen lassen. Dann würde das
Verantwortung für das Gemeinwesen zu tragen.
Dorf beste Chancen haben, zu überleben und seine vorhandenen Kräfte neu zu entfalten.
346
Ein knappes Fazit
Anhang
In allen Landregionen werden traditionelle Dorffeste und Umzüge gepflegt wie hier bei der jährlichen Maibaumaufstellung in Harthausen.
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Sachregister A Abriss von Gebäuden 249, 263, 304 f., 309
Abwanderung 22, 40, 124–126, 128 f., 134 f., 174, 260, 279
Abwasserversorgung 97 f. Abwrackprämie 267 Ackerland 51, 90, 140, 250, 278
Adel 16 f., 20–22, 27–29, 116, 140, 178–180, 182, 241f., 281, 283 f., 298–300, 317
Agglomeration 276 f. Agrarbericht 290 Agrargesellschaft 39, 134, 139, 141 f., 340
Agrarkrise 19, 22, 27 Agrarmuseum 260 Agrarordnung – feudale 281 – liberale 282, 296 f. Agrarpolitik 44, 46, 59, 61, 184, 236, 248, 250 f., 270, 281–293, 334
Agrarreformen 28, 34, 73, 83, 111 f., 139, 281–284, 295, 298 f.
Agrarsoziale Gesellschaft (ASG) 257 Agrarsubventionen 48, 289–293
Agrarsystem – feudales 16, 28, 281–283
– kapitalistisches 282 – kollektivistisches 282 – sozialistisches 282 Agrarwirtschaft 18 f., 21, 23 f., 29, 38 f., 184, 217, 281, 292
Aktivkultur 124, 188, 192 , 217
Aktivsanierung 272 Allmende 21, 34, 111, 283, 295, 316
Allmendenutzung 316 Altdorf 245, 247 Altenheime 155 Altersaufbau 134, 137 Amtsgericht 102 f., 117
Anerbenrecht 234 f., 294 Angerdorf 20, 208, 218–220, 223 f., 234, 238
Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL ) 58, 257 Arbeitslosenquote 41 Arbeitsplätze 38 –41, 53, 99
– dörfliche 86, 115, 121, 136 f., 190, 262, 279, 291, 315, 334, 337, 342
– forstwirtschaftliche 75 – landwirtschaftliche 39, 65, 190, 286f.
Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land 20 Armenversorgung 316 Armut 28, 30, 33, 82, 125, 131, 199 f.
Arrondierung 295, 297 Artenvielfalt 254 Ärztemangel 104 Aufklärung 28, 199, 298 Ausgleich, ökologischer 274, 278
Aussiedler 131 Aussiedlung von Höfen 228, 249, 263, 290, 295–297
Autobahnen 88, 97, 99, 133, 271, 295
Autonomie – des Dorfes 318, 327, 330
– kommunale 318, 320, 343
Bauernhausmuseum 255, 260
Bauernkriege 14, 26 f., 316 Bauernlegen 26, 28, 120, 282
Bauerschaft 154, 214 Baugestaltung 313 Baukultur 208, 227, 230,
92, 94, 302
Bauernbefreiung 141, 286 Bauerndorf 82, 115, 119 f. Bauerngarten 239–242, 244, 300
Bauernhaus 121, 129, 156, 174, 219, 221, 225, 228 f., 231, 247–251, 264, 340 f.
Bauernhausform 208, 225–227, 238
Bauernhausforschung 225, 262
325 f., 329
Bürgergesellschaft 325 f. Bürgerkommune 325 f. Bürgermeister 21, 34, 90, 104, 106, 109, 137, 150 f.,
233, 249, 270, 303–308,
155, 161, 170–172, 247,
333
260, 263–267, 270, 316 f.,
Baumaterialien 43, 227, 230, 232, 245 f., 298
Bebauungsdichte 219, 221 Bergbauernprogramm 291
Bergbausiedlung 119 f. Berglage 209, 211 Betriebe, mittelständische 41, 89
Betriebsgrößen 22, 26, 43 f. Bevölkerungsrückgang 22, 134–136, 266, 275
Bevölkerungswachstum 20, 73, 134, 136, 140
Bildungsnotstand auf dem Land 161 Binnenkolonisation 19 f. Binnenwanderung 125 f. Biobauern 60 f. Biotopschutz 297 Blockflur 237 Blütezeit des Dorfhandwerks 81, 85, 87 Boden 49–52, 56, 60, 75, 210
Bodenklimazahl 50 Bodenreform 120, 238, 249, 270, 284–286,
B Bäderarchitektur
welt in Deutschland (BHU ) 256, 302, 314 Bürgerbeteiligung
288–290, 297
Bodenreformsiedlung 249 Brauchtumspflege 133, 152, 161, 169, 186, 190, 256, 278
Bronzedorf 312 Bücherei 91, 169, 325 f. Bundesraumordnung 276 Bundesraumordnungsprogramm 271 f., 308 Bundeswaldgesetz 73, 80 Bundeswettbewerb 312–315
Bund Heimat und Um-
319, 322, 324–332, 334, 343
Bürgernähe 325, 329, 331 Bürgerverein 143, 152, 171 Bürgerwehr 316
Dienstleistungsgesellschaft 39, 41, 139
Doppelhof 214 Dorfauflösung 208, 263, 295
Dorfbild 65, 68, 115, 120, 153, 199, 204, 208 f., 217, 247, 249, 252, 310, 340 f.
– traditionelles 231, 248 – überliefertes 249, 305 Dorfdefinition 115, 148, 213, 217, 225
Dorferneuerung 254, 263, 270, 279, 292, 294, 297, 308–311
– erhaltende 249, 270, C Caritas 155 Cliquen 149, 173 D Dachverein 110 Demokratieverlust 9, 159, 329
Denkmalpflege 224, 238, 248, 302, 305, 309, 312, 315
Denkmalschutz 224, 229, 238, 254–256, 302, 307
Deutsche Burgenvereinigung 257 Deutsche LandwirtschaftsGesellschaft (DLG ) 113 Deutsche Ostsiedlung 19 Deutscher Bauernverband 48, 113, 257
Deutscher Dorftag 259 Deutscher Landkreistag 41, 314, 319
Deutscher Städtetag 319, 329
Deutscher Städte- und Gemeindebund 319 Diakonie 155 Dialekt 169, 186 f. Dienst-Lehen-Verhältnis 17, 31, 282, 317
Dienstleistungen 39 f., 42, 63 f., 86, 108, 110, 118, 120, 128, 155, 243, 272, 278, 309, 321, 344
297, 308 f.
– ganzheitliche 270, 297, 308
Dorferneuerungsförderung 110, 232, 266, 308 f., 311, 336
Dorffeste 149, 172 f., 176, 262
Dorfform 208, 218, 224, 254
Dorfgarten 239, 241, 243 Dorfgasthaus 110, 114, 262 Dorfgemeinschaft 19, 21, 30 f., 103, 124, 130 f., 148–152, 171, 187 f., 217, 213, 315 f., 325, 343
Dorfhandwerk 26, 38, 81, 83–85, 87, 142, 190, 262
Dorfkern 46, 131, 137, 225, 229, 247, 249, 259, 263 f., 277, 305, 332, 341
– Auflockerung 302 – Entleerung 267 – Verödung 129, 254, 266, 310
Dorfkirche 16, 132, 144, 154, 174
Dorfkultur 188 Dorfladen 38, 102, 106 f., 108–110, 113 f., 129, 166, 260, 264–266, 322, 326, 342
Dorflage 208, 247, 249, 277, 295
Dorflehrer 155, 160 f., 299 Dorfordnung 30, 103, 316
Register
355
Dorfpolitik 40, 204, 310 Dorfportal im Internet 259 Dorfsanierung 208, 248 f., 254, 263, 270, 297, 303–310, 333
Dorfschule 34, 110, 161–163, 174
Dorfschulze 317 Dorfstatistik 130 Dorfstraßenausbau 304 Dorftypen 115, 119 f., 277 – ökonomische 115, 120 Dorfverschönerung 270, 298, 302
Dorfvorsteher 317 Dorfwettbewerb 313–315 Dreifelderwirtschaft 19, 28 E Ehrenamt 150, 168–171, 184 f., 328–332, 346
Einhaus 225 f. Einheitsgemeinde 327 f., 334, 343
Einödlage 237 Einzelhof 190, 208, 213 f., 216 f., 295
Einzelsiedlung 213 f. Eisenbahnnetz 84 Elektrifizierung 54 Energieversorgung
45, 65, 140
F Fachplanung 280, 303 f. Fachwerk 230, 302, 305 Fahrbücherei 169 Familienbetrieb 45 f., 282, 290
Familienstand 134, 137 Fehden 22 Feld-Wald-Verteilung
329 ff., 343 ff.
– ehrenamtliches 168, 217 – politisches 108, 143, 275 Enteignung 285, 288 Entwicklung – eigenständige 270, 333 f. – endogene 270, 275, 333, 336
– nachhaltige 270, 278, 311, 323
Erbe, kulturelles 254 f., 259, 309, 340
Erbhöfe 284 Erbrecht 82, 115, 141, 225, 227, 234, 294
Erholung 75 f., 78, 80, 90, 178, 185, 278, 321, 323, 338, 344
Erholungspotenzial – kulturräumliches 90 f. – natürliches 90 Erlebnispark 95 Erntedankfest 151, 156, 172, 186
Anhang
208, 225, 241, 248, 255, 260–262
Freizeit 59, 63, 75 f., 78, 90, 105, 124, 180, 185, 191 f.
Freizeitaktivitäten 76, 185 Freizeitbeschäftigung 185 Freizeit und Erholung 38, 181, 192, 271, 274
283, 294–297, 304
Ferien auf dem Bauernhof 63, 94
Fernsteuerung – der Kommunen 323 f. – des Landes
28, 81, 98
Fürsten 20 f., 179 f.
270, 274, 333 f.
Feudalismus 16 Feuerwehr 34, 97, 102–104, 150, 167 f., 172, 176, 188, 213, 217, 260, 323, 344
Film 181, 198 f., 204 f. Fischerdorf 96, 115 Flächensanierung 304 Flughäfen 97, 100, 192, 194, 271
Flur 183, 208, 234, 304, 316
147, 167 ff., 184 ff., 313,
Freie Wählergemeinschaften 325 Freilichtmuseum 40, 94,
Fremdbestimmung – der Kommunen 270 – des Landes 333 Friesisch 186 Frühindustrielles Gewerbe
236–238, 250, 294–296,
– bürgerschaftliches
113, 282
23, 250
33 f., 97, 102, 129, 275,
313, 343
19, 47, 49, 53, 56, 58 f., 89,
Feldwegebau
311, 340
Engagement 10, 277,
356
Erwerbspersonen 39, 43,
Flurbereinigung
G Garten 124, 185, 190, 196, 239–246, 344
– bäuerlicher 241 – dörflicher 185, 239, 241, 344
Gartenfestival 174 Gartenkultur 10, 169, 240, 242
Gartenkunst 188, 298 Gastarbeiter 130, 194 Gasthaus/Gasthof 38, 86, 99, 102, 106–110, 114,
238 f., 248, 249, 282, 290,
129, 148, 150, 173, 213,
294–298, 302, 304
217, 246 f., 251, 259 f.,
Flurbereinigungsgesetz 296 f., 303, 308
Flurbild 234, 252, 294, 296 – traditionelles 251 f. – überliefertes 238, 248, 250, 253
Flurform 234, 238 – historische 129, 208, 238, 248, 254
– kleingekammerte 208 Flurzersplitterung 234, 296
Flurzwang 28, 111, 283, 295, 316
Formenwandel 248 Förster 65, 68 Forstpolitik 73, 79 Forstrecht 80 Forstwirtschaft 38 f., 59, 65–80, 118, 181, 195
– moderne 73 – multifunktionale 75, 80
– nachhaltige 71, 73 Fortschritt, technischer
264 f., 279, 299, 302, 311, 341 f.
Gebietsreformen, kommunale 151, 170, 272–274, 312, 318–320, 327–331
Geburten 125, 134 f. Gehöft 22, 208, 217, 220, 225–228, 261, 264, 295
Gemeinde 21, 34, 44, 62, 90, 108 f., 136 f., 153, 160, 166, 171, 187, 220, 251, 264, 266 f., 275,
Gemüsegarten 242, 244, 300
Genossenschaften 111–114, 311
Genossenschaftsbanken 102, 105
Gerichtsherrschaft 16, 140 Gesangverein 157, 161, 167 f.
Getreidekette 54 Gewerbefreiheit 83, 141 Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen 272, 323
Globalisierung 10, 166, 196, 204, 254
– des Dorfes 195 Grenzertragsböden 20, 23, 50, 65, 80
Grenzmarkierungen 238 Großgemeinde 145, 320, 327, 330 f.
Grundausstattung 97, 105, 309
Grundherrschaft 14–16, 20, 24, 31, 43, 103, 115 f.,
316–319, 329 f.
Gemeinderat 84, 151, 270, 319 f., 325–327, 331, 334, 343
Gemeindeverfassung 317 Gemeindeversammlung 26, 316
Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP ) 293 Gemeinschaftsleben 110, 186, 309
169 f., 259 f., 322
Heimatschutzbewegung 302
Heimatverein 168 f., 257, 343
Herrenschicht 21, 140 Hochwald 73 f. Hochwasserfreilegung 297 Hochwild 182 Höfesterben 46 Hofidee 43, 46, 235 f., 282 Holzbauweise 231 f. Holzmangel 72 Holzproduktion 38, 74 f., 78
Holzwirtschaft 65, 68–70 Honoratioren 149, 172 Hungerkrisen 141 Hungersnöte 22, 27, 30, 33, 58, 125, 299
128, 150, 282, 317
Grundrissform des Dorfes 218
Grundschule 162, 164, 335, 341
Grundversorgung – öffentliche 102 – private 102, 106 – schulische 162 – technische 97 Grundzentrum 105, 118, 272
Grüngestaltung 313 Grünland 50–52, 62, 90 Gruppensiedlung 213 f. – große 213 – kleine 214 Gunstlage 210 Gutsdorf 115 f., 120, 141, 208, 251, 261 f., 282, 302
Gutsgarten 239 f. Gymnasium 161 f., 164
316–332, 343
Gemeindeordnung
Haupterwerbsbetriebe 47 Hausarztpraxis 105 Hausgarten 239 Haushaltsstruktur 137 Heimatgefühl 143, 193 Heimatmuseum
H Handelsbetriebe 82–84 Händler 81 f., 124, 142, 289
Handwerk 14, 38–40, 44, 69, 81–87, 97, 112, 115 f., 128, 140, 142, 184 f., 227, 262 f., 278, 337 f.
Handwerkerdorf 115, 119 Hangneigung 50 Haufendorf 20, 208, 218 f., 221–224, 305
I Identifikation, lokale 143 f., 170, 232, 247, 329
Individualverkehr 100 Industrialisierung 39, 53, 73, 84 f., 98, 119, 141, 232, 260, 286, 302
Industriebetriebe 38, 40, 84, 195
Industriegesellschaft 130, 150
Industriepflanzen 59, 61 Informationsmedien 101 Informationstechnologie 97, 100
Infrastruktur 33, 38, 97, 102, 255, 264, 279, 292, 299, 334, 337
– technische 97, 102, 303, 341
Internationale Grüne Woche 113, 289 f. Internetanschluss 101 J Jagd 27, 76, 79, 111, 169, 174, 177–183, 262
– bäuerliche 180 – höfische 177, 179 f. Jagdgenossenschaft 111, 180
Jagdrecht 177, 179–181 – bäuerliches 180 Jagdschloss 177, 179
K Kalkstein 230 f. Kanäle 97, 219 f., 274, 295 Kapital, soziales 42, 196, 343
Kirchdorf 154 Kirche 16, 22, 26, 30, 32, 34, 43, 62, 99, 102 f., 111, 124, 143, 150, 153–155, 157 f., 169, 172, 176, 187, 195 f., 220, 223 f., 230, 247, 260 f., 299, 317, 340 f.
Kirchenburgen 154 f. Kirchengemeinde 124, 153, 155, 266, 341, 344
Kirchenschließungen 153
Kirchweihfest 30, 150, 156, 172, 188
Klassifizierung von Siedlungen 213 Kleinstadt 40, 144, 195, 202, 213, 215–217
Kleinstlandwirtschaft 82, 246
Kleinviehhaltung 32, 243 Klima 49–52, 75, 79, 90, 210, 227, 232
Klosterdorf 115 Klostergarten 239 f., 244, 300 f.
Kollektivierung 117, 120, 285 f., 297
Kommunalpolitik 129, 136, 142 f., 265 f., 270, 278 f., 286, 321–332
Kontakte – lokale 114, 139, 196 – mit dem Ausland 194, 196, 344
– soziale 135, 148, 187, 243
Kooperationsgemeinschaften 286, 288 Krankenhäuser 38, 102, 104, 117, 133, 155, 272
Krankenversorgung 102 Kreditgenossenschaft 111 f. Kreise 136, 166, 275 f., 317–319, 329
Kreiswettbewerb 314 Kulturlandschaft 60, 64, 94, 145, 177, 192, 208, 212, 248–262, 278 f., 334
– gewachsene 10, 256, 275 – historische 22, 252–254, 260–262
– ländliche 192, 208, 244,
– regionale 208, 252 f.,
181, 192, 230, 278, 281 f.,
259, 262
– traditionelle 64, 251 f., 254, 257, 315
285, 298
Landvolkshochschule 156 Landwirtschaft 20, 25, 32,
– überlieferte 47, 129, 248, 251–254, 259
Kulturlandschaftspflege 59, 255–258, 297 Kulturlandschaftsprogramm 256 Kulturpflege 168, 321 Kulturveranstaltungen
202, 204 f.
Kunstausstellung 109, 174 Kurorte 91 Kur- und Badeorte 93, 119 Küster 34, 155, 160 L Lage – naturräumliche 210 – topographische 10, 209 f. Landarbeiter 21, 24, 30 f., 46, 138, 140 f., 184, 196, 241, 251, 282 f., 285
Landarmut 58, 141 Landbau, ökologischer 59–61
Landesausbau 23, 27 Landesherren 27 f., 30, 178–180, 182, 298
Landesplanung 274 Landesverschönerung 298 f., 301 f.
Landeswettbewerb 314
Landflucht 125, 127 f., 130, 263
Landgemeinde 105, 137, 171, 303 f., 317, 324 f., 327, 330
Landhandel 40 Landhausstil 245 Landkreise 41, 169, 319 Landkultur 176, 187 f., 208 Landmaschinenbau 53 Ländlicher Raum 277, 338 Landnahme 15 Landrevolution von 1848 281, 284
Landschaftspark 299 Landschaftsverbrauch 249, 265
Landtechnik 53, 55, 58 Land- und Forstwirtschaft
252, 256–259, 289,
32, 38 f., 43–80, 86, 89 f.,
298–300
97, 119, 127 f., 136, 138,
38, 43–66, 71, 115 f., 138,
270, 275, 282 f., 290, 303–305, 310, 321, 325,
315, 338 280–283
– deutsche 45, 47, 195, 284, 291 f., 295
– Entwicklung der 14, 20, 43–45, 48 f., 52–54, 56,
Kulturverein 167–169 Kunst 34, 141, 175 f., 198 f.,
166, 232, 235 f., 246, 267,
153, 199, 263, 298, 309 f.,
– bäuerliche 43, 58, 234,
172, 174
Leistungen des ländlichen Raumes 192, 271, 338 Leitbild 46, 57, 71, 73, 80,
58 f., 63, 112, 217, 252,
328, 334
Literatur 30, 141, 177, 183, 198 f., 202
Lohngefälle 127 Lokale Agenda 322 LPG -Arbeiter 184 f., 245 LPG -Dorf 117, 120, 251, 286, 310
284–286, 295, 303
– Erschließung für die 20, 22 f., 28
– genossenschaftliche 282, 286
– – – – – –
Grundlage der 49 f. industrialisierte 251 Intensivierung der 17 kleine 31, 81, 84 konventionelle 60 f. moderne 58–60, 62, 238, 341
– nachhaltige 58, 61 f., 73, 289
– ökologische/alternative 59–61
– privatisierte 288 – Schrumpfungsprozesse der 142, 184, 190, 228, 241, 251, 290 f., 342
– Spezialisierung der 32, 43, 47, 56 f.
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG ) 44, 112, 117, 175, 184, 243, 251, 285 f., 288, 297
Landwirtschaftsanpassungsgesetz 297 Landwirtschaftsgesetz 290
Landwirtschaftskammern 113
Leben, naturnahes 135, 146 f., 192
Lebensraum Dorf 10, 60 Lebensstile – ländliche 124, 184 f.,187, 192, 196, 217
– urbane 277 Leerstand 208, 263–267, 321, 336
Lehrberg 221 Lehrergarten 239 f. Leibeigenschaft 16, 26, 282
Leibherrschaft 16, 140
M Mädchenschule 160 Magistrat 319 Malerei 30, 77, 154, 175, 177, 183, 198 f., 203 f.
Mansholt-Plan 291 Marktorientierung 19, 24 Marschhufendorf 208, 218 f.
Massenproduktion 84 Massentierhaltung 57–60 Mehrzweck-Forstwirtschaft 80 Mineraldünger 52, 56, 61, 195
Missernten 30, 50, 299 Mitteldeutsch 186 Mittelpunktschulen 160, 162
Mittelschicht 21, 31, 124, 129, 139–142, 184
Mittelzentrum 104, 118,
N Nachbarschaftshilfe 124, 148 f., 217
Nachhaltigkeit 58, 61–64, 71, 73, 298, 313, 338
Nahversorgung 108 Nationalpark 76, 78, 274, 337
Naturfaktoren 49, 51 Naturpark 76, 78, 274 Naturschutz 59, 62, 64, 78, 181, 297, 314
Naturstein 208, 231 f., 305 Natursteinbauweise 232 Natursteinmuseum 232 Nebenerwerbsbetriebe 47, 66
Nebenerwerbslandwirtschaft 47, 185 Netzwerke, soziale 137, 148 f., 185–188, 217
Neubaugebiet 131, 247, 341
Neubausiedlung 208, 245 f., 267, 303
Neubauten 232, 304 f. – landwirtschaftliche 228 Neudorf 245, 247 Neudörfler 139 Neugründung von Siedlungen 16, 20, 249 Neulandgewinnung 219, 284, 296
Niederdeutsch 169, 186 Niederwald 73 f. Niederwild 182 Nutzgarten 239–244
272, 278
Mitverantwortung 145, 259
Mobilität, soziale 21, 141 Modell des demographischen Übergangs 134 Modernisierung – der Landwirtschaft 291–293, 303
– des Dorfes 208, 303–305 – von Gebäuden 108, 232, 249
Molkereigenossenschaft 112
Moorhufendorf 20, 208, 218–220, 251
Motorisierung 54, 68, 84, 87, 121, 184, 190
Mundart 186 f. Musik 77, 176 f., 194, 198 Musikfest/-spiel 172, 188 Musikverein 124, 144, 161, 167 f., 173, 217, 343 f.
Musterdorf 299
O Oberdeutsch 186 Oberschicht 31, 34, 129, 139–142, 281, 284
Oberzentrum 104, 274, 278
Obstbau 50, 196, 299 Ödlandnutzung 296, 300 Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV ) 100 Opern 77, 174 f., 177 Orte – nicht zentrale 273 f., 334 – zentrale 161 f., 272–274 Ortsauflockerung 224, 296 f., 303 f., 308
Ortsbezogenheit 143–147, 153
Ortsbild, überliefertes 250 Ortschaft 213, 216 f., 297, 302, 318, 320, 328
Ortsteil 217, 318, 329 f., 334, 343
Register
357
Ortsvorsteher 173, 247, 266, 270, 315, 318, 331
Ostkolonisation 18
Raumordnungspolitik 64, 88, 192, 256, 270–275, 333, 337
Raumtyp, ländlicher P Parkanlagen 28, 91, 116, 250, 255, 301
Partnerschaften – kirchliche 155, 196 – kommunale 114, 196 Parzelle 28, 111, 219, 234, 237 f., 296 f., 304
Passionsspiel 175 Passivkultur 188 Passivsanierung 272 Pastor 138, 150, 153, 155, 157
Patrimonialgericht 103 Pendelwanderungen 41, 127
Pendler 38, 184, 342 Pendlerdorf 115, 121 Pfarrei 16, 34, 44, 153, 155, 158 f.
Pfarrer 34, 106, 139, 153, 155, 158–161, 173,
276 –280
Realschule 86, 161 f., 164 Realteilung 82, 140 f., 234–238, 294
Reetdach 230, 302 Regionalplanung 271, 274 Regionalprogramme, landwirtschaftliche 290 Reichserbhofgesetz 284 Reichsnährstandsgesetz 284
Reichssiedlungsgesetz 284 Reichsumlegungsgesetz 296
Relief 49–51, 210, 227 Relieflage 210 Residenzsiedlung 116 Rodungsperiode 20 Rohstoffe 192 Romantik 199, 298 Rundling 208, 218 f., 221 Ruralisierung 190
204, 341
Pfarrgemeinde 153, 155, 158
Pfarrheim 155 Pflanzenbau 56, 61 Pflanzenschutzmittel 56, 60, 112
Pflichtaufgaben der Gemeinden 160, 322 Plattdeutsch 187 Polizei 102 f., 112, 160 f., 260, 319, 323
Post 38, 86, 102 f., 108, 113, 118, 160 f., 334, 341
Präzisionslandwirtschaft 55
Preisverfall 48 Produktion, landwirtschaftliche 20, 27 f., 32, 43, 46, 48 f., 54, 56, 83, 282, 289 f., 296, 303
Produktivität der Landwirtschaft 20, 47 f., 52, 58
Protestgemeinden 331 Prozessionen 156 R Raiffeisenbanken 105 Raiffeisengenossenschaften 113 Raumgliederung 272 Raumordnung 41, 129, 132, 267, 270–277, 279 f., 326, 334
358
Anhang
S Saisonwanderungen 126 Samtgemeinde 318, 320, 343
Sandstein 230 f. Sanierung, städtebauliche 305
Schachbrettsiedlung 208, 219, 223
Schichtung, soziale 14, 21, 139
Schifffahrt 258 Schlossgarten 240, 300 Schüleraustausch 194 Schule, weiterführende 160 f., 165
Schulschließungen 136, 160–165
Schultheiß 316 f. Schützenfest 30, 34, 144, 150, 172, 188, 205, 316
Selbstverwaltung 34, 89, 260, 317 f., 323, 327, 329
– dörfliche 316 – kommunale 150, 160, 316–319, 329, 331, 343
Schutzfunktion des Waldes 75, 80
Seebäder 91, 93 f. Selbstbestimmung – kommunale 327 – lokale 329, 333 Selbstversorgung 32, 43, 47, 81, 86, 97, 239, 241, 243 f., 246, 250, 284, 296
Selbstversorgungskultur 242
75, 90 f., 96, 120, 212, 258, 298, 301, 315, 322
– sanfter/nachhaltiger 91 Traditionsbewusstsein 217
Siedlungsform 219 f., 222–224, 254
Silberdorf 312, 315 Solidargemeinschaft 148–150
Sommererholungsorte 91, 94 f.
Sonderkulturen 50 f., 56, 116
Sparkassen 102, 105 »Speckgürtel« am Rand der Großstädte 133 Spielplätze 78, 105, 143,
U Umnutzung von Gebäuden 208, 229, 254, 267, 278, 311, 332
Umweltschutz 181, 183, 323
Unterschicht 21, 25, 31, 124, 129, 139–142, 184
Urbanisierung 76, 184, 190, 196, 285, 302
Urbarmachung von Mooren 27, 296
304, 342
Spitzenverbände, kommunale 319 Spornlage 118, 210 f., 246 Sport 91, 147, 182, 194, 321, 323
Sport- und Freizeiteinrichtungen 102, 105, 250 Sportverein 124, 132, 161, 167 f., 173, 176, 217, 342–344
Sprachpflege 169 Städtebauförderungsgesetz 304 Städtegründungen 19 f., 117
Städtezwang 81, 83 Stadt-Land-Beziehungen 189–191
Stagnation von Siedlungen 136, 216
Sterbefälle 125, 134 f. Straßendorf 208, 219, 224, 234
Straßennetz 99, 223 Streifenflur 234, 237 Streusiedlung 214, 217 Strukturschwächen 40, 275, 308
Schützenverein 34, 103, 155, 167 f., 173, 344
Tourismus 38, 40, 59, 64,
V Verbandsgemeinde 318 Verdichtung, bauliche 15, 19, 246, 248
Verdichtungsgebiete
W Waldarbeiterdörfer 65, 96, 115, 118
Waldbau 50 f., 79 Waldbauern 66 Waldgenossenschaft 110 f. Waldnutzung 26, 71, 282 Waldpädagogik 76 Waldsterben 181 Waldwirtschaft 20, 23, 73, 113
Waldzerstörung 72 Wandel – demographischer 136, 332
– sozialer 185, 242, 248 Wandelgarten 240 Wanderungsbilanz 134 Wanderungsströme 130 Warengenossenschaft 111 f.
Wasserversorgung 33 f., 97 f., 102, 192, 286, 321 f.
Weiler 15, 20, 102, 132,
39, 41, 89, 192, 216,
136, 153 f., 160, 165, 208,
277 f., 334
213 f., 216, 219, 222, 224,
Verdorfung 15, 20 Vereine 105, 107, 110, 124, 131, 143, 145, 150, 152, 155, 157, 167–173, 186–188, 252, 258, 266, 321, 342, 344
Vereinsdichte 167, 217, 343 Vererbung, geschlossene 234, 236, 294
Verkehrserschließung 91, 99, 322
Verländlichung 190 Versorgung, ärztliche 286 Verstädterung 39 f., 125, 190, 305, 326
Vertriebene/Flüchtlinge 130 f., 151, 184, 205, 247, 263, 297
Verwaltungsgemeinschaft 318, 330 f.
Verwandtschaften
228, 248 f., 263, 279, 295, 304, 315
Weinbau 50 f. Welterbe 255, 258 Wildbestand 79, 180–183 Wildschäden 181 Wintersportorte 91, 95 f. Winzerdorf 115, 118, 340 Wirtschaften, informelles 42
Wissenschaft 10 f., 14, 20, 49, 115, 148, 198 f., 242, 254, 271, 276, 331
Witterung 50 Wohlstand 21, 42, 65, 75, 112, 135, 187, 232, 340, 344
Wohndauer im Dorf 139 Wohngarten 239, 241 f. Wohnsiedlung 245, 286 Wüstungen 22 f.
149, 173, 187 f.
T Tagelöhner 25, 31, 44, 82, 124, 142, 196, 200, 282, 299
Tallage 210, 238 Talschaft 214 Telearbeit 101 115, 121 Telekommunikation 101, 280
Tiergärten 177 Tierhaltung 58–60 Tierschutz 181
Viehhaltung 14, 28, 44, 47, 56, 60, 71, 260
Volkseigene Güter (VEG ) 251, 286–288
Volksfrömmigkeit 156 Volkshochschule 102, 166, 169, 196
Volksschule 68, 86, 160 f., 341
Vollerntemaschinen 53, 55, 66, 195
Z Zentrale-Orte-Konzept 272, 274, 324
Ziergarten 239, 241f. Zufriedenheit 42, 124, 143, 145–147, 193, 203, 232, 344
Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP ) 308 Zuwanderung 124 f., 130–134, 194, 258, 262, 267
Ortsregister Die hier aufgeführten Dörfer, Kleinstädte und Gemeinden verweisen auf die Darstellung und Erwähnung in Text und Bild. Sie erscheinen zusätzlich auch in den beiden Deutschlandkarten im vorderen und hinteren Vorsatz des Buches. Die Abkürzungen beziehen sich auf folgende Bundesländer: Baden-Württemberg (BW ), Bayern (BY ), Berlin (B) Brandenburg (BB ), Hamburg (HH ), Hessen (HE ), MecklenburgVorpommern (MV ), Niedersachsen (NI ), Nordrhein-Westfalen (NRW ), Rheinland-Pfalz (RP ), Saarland (SL ), Sachsen (SN ), Sachsen-Anhalt (ST ), Schleswig-Holstein (SH ) Thüringen (TH ).
A Ahrenshoop (MV ) 94, 205
Aiging (BY ) 150 Alheim (HE ) 98 Alme (NRW ) 334 Alsweiler (SL ) 195,197, 320
Alt Rehse (MV ) 302 Altenbeken (NRW ) 231 f. Altmühltal (BY ) 91 Alverdissen (NRW ) 247 Amöneburg (HE ) 212, 246, 247
Angerstein (NI ) 132 Arnsberg (NRW ) 72 Arzbach (RP ) 343 Aschfeld (BY ) 155 Asseln (NRW ) 136, 216 Atteln (NRW ) 167, 169, 171, 176
B Bächlingen (BW ) 339 Bad Driburg (NRW ) 90, 91, 302
Bad Essen (NI ) 243 Bad Freienwalde (BB ) 194 Bad Lauchstädt (ST ) 173, 175
Bad Münster am SteinEbernburg (RP ) 212 Bad Muskau (SN ) 255, 300 Bad Neuenahr (RP ) 301 Bad Wünnenberg (NRW ) 136 Baierbrunn (BY ) 124, 168 Baiershofen (BY ) 220, 223,
Bendingbostel (NI ) 105 Benediktbeuern (BY ) 291 Berlin (B) 113, 128, 146, 309
Bestwig (NRW ) 39 Bingen (RP ) 258 Binswangen (BY ) 157 Binz (MV ) 92 Bitzen (RP ) 152 Blankenburg (ST ) 240 Blankenhain (SN ) 262 Böddeken (NRW ) 197 Bollschweil (BW ) 114 Borgholz (NRW ) 309 f. Borsum (NI ) 222 Bottrop (NRW ) 41 Brakelsiek (NRW ) 127 Branitz (BB ) 300 Braunshausen (NRW ) 72 Briest (BB ) 231 Buckow (BB ) 218 Büdingen (HE ) 21 Butjadingen (NI ) 213 C Clemenswerth (NI ) 29
171, 184, 266, 276, 279f., 311, 320, 323, 332,
Bebenhausen (BW ) 238 Beilstein (BW ) Titelbild Bellersen (NRW ) 315 Belm (NI ) 26, 28 Bendelin (BB ) 242 f.
333
Eppendorf/Hamburg (HH ) 278 Erkeln (NRW ) 309 Erlach (BY ) 212 Ermershausen (BY ) 330 f. Essen (NRW ) 126 f. Essentho (NRW ) 194 F Feldwies (BY ) 109, 114 Ferdinandshof (MV ) 251 Fischen (BY ) 154 Flintsbach (BY ) 232 Freienseen (HE ) 170 f. Freimersheim (RP ) 219 Freudenbach (BW ) 298 f. Freyburg (ST ) 117 Frickenhausen (BY ) 212 Fürstenberg (NRW ) 24, 103, 105, 168, 305, 310
G Gelting (BY ) 113 f. Gersbach (BW )
D Dalheim (NRW ) 175, 301 Dalwigksthal (HE ) 345 Damme (NI ) 40, 195 Delbrück (NRW ) 232 Detmold (NRW ) 225, 261 Diedenshausen (NRW ) 230 Diemelstadt (HE ) 320 Diesdorf (ST ) 244, 260 Dolgow (NI ) 221 Drachhausen (BB ) 267
Gesseln (NRW ) 143 Giebelstadt (BY ) 172, 175 Gießen (HE ) 331 Glashütte (SN ) 40 Glehn (NRW ) 296 Glindow (BB ) 232 Gmund (BY ) 211 Göhritz (ST ) 296 Gonnesweiler (SL ) 343 Goßmannsdorf (BY )
E Eberbach (HE ) 16 Eberswalde (BB ) 40 Edersee (HE ) 77 Effelter (BY ) 224 Eicklingen (NI )
Göttingen (NI ) 62, 257 Grafenberg (BW ) 87, 196 Gräfenberg (BY ) 248 Grasbrunn (BY ) 319 Greetsiel (NI ) 118, 120 Grevel (NRW )
224, 238
Banzkow (MV ) 315 Bärenstein (SN ) 238 Barmen (NRW ) 106, 109f. Barth (MV ) 98 Baruth (BB ) 70 Bärweiler (RP ) 102, 104,
Emsland (NRW )/(NI )
314, 315, 342
215, 225
263, 266, 320
Einhausen (TH ) 16 Eitzum (NI ) 210 Elisenhof (NRW ) 249 Elsoff (NRW ) 144 f., 185
Eltz (RP ) 18
Großgressingen (BY ) 28
Großräschen (BB ) 274 Großweidenmühle (BY ) 23
Gültstein (BW ) 328 Gunzesried (BY ) 216, 295 Gülzow (MV ) 80 Güstritz (NI ) 221 Gutachtal (BW ) 227 H Haaren (NRW ) 194, 305 f. Hahn (RP ) 195 Haidenkofen (BY ) 119, 241, 312, 313
Hamm/Eifel (RP ) 263 f., 279
Harthausen (BY ) 111, 113, 114, 319, 347
Hausen (BW ) 135, 139, 331
Havixbeck (NRW ) 232 Heiligendamm (MV ) 93 Heinrichswalde (MV ) 220 Helmern (NRW ) 194 Hendungen (BY ) 223 Herbram (NRW ) 232, 233, 249, 264
Heroldsbach (BY ) 95 Herpf (TH ) 155 Herrenberg (BW ) 328 Hesseneck-Hesselbach (HE ) 163 Heudorf (BW ) 24 Hiddenhausen (NRW ) 137, 267
Hildesheim (NI ) 126 Hildrizhausen (BW ) 107 Hipstedt (NI ) 319 Hofgeismar (HE ) 91 Hohenheim (BW ) 40, 260 Horgau (BY ) 331 Hüddessum (NI ) 222 Hurlach (BY ) 113
277, 278, 280
Grießen (BB ) 192 Grimmelfingen (BW ) 149 Groß Wüstenfelde (MV ) 284
Großerkmannsdorf (SN )
I Illerbeuren (BY ) 261 Insel Reichenau (BW ) 240 Insel Rügen (MV ) 78, 90, 335
285
Ortsregister
359
J Jachenau (BY ) 153 Jagsttal (BW ) 250, 339 Jänschwalde (BB ) 192 Jasmunder Bodden (MV ) 173, 175 Jühnde (NI ) 61, 62, 98, 120
Mayschoß (NRW ) 35 Meerhof (NRW ) 193 f. Mehrstetten (BW ) 304 Mittenwald (BY ) 173, 191 Möhnetalsperre (NRW ) 193
Mölln (SH ) 83 Mönchengladbach (NRW ) 41, 236
K Kaltensondheim (BY ) 212 Kassel (HE ) 62 Kaub (RP ) 256 Kirchlinteln (NI ) 105 Kleindrebnitz (SN ) 281 Kleinenberg (NRW ) 265 Klein-Oschersleben (ST) 54 Klein Leppin (BB ) 175 Klennow (NI ) 221 Kleve (NRW ) 62 Klockenhagen (MV ) 228 Klosterlangheim (BY ) 310 Koberg (SH ) 109 Kobern-Gondorf (RP ) 51 Koblenz (RP ) 256, 258 Königshain (SN ) 219 Königswalde (SN ) 237, 238
Kremmen (BB ) 248 Kreuzau (NRW ) 113 Kreuzberg (BY ) 224, 234,
Mönchsondheim (BY ) 155
Moritzburg (SN ) 181 Münster (BW ) 265 Müritzsee (MV ) 273 Murnau (BY ) 198, 205 Muskau (SN ) 300 N Nassach (BW ) 223 Nebel (SH ) 222 Nehren (BW ) 81 Netzschkau (SN ) 101 Neubeuern (BY ) 188 Neubösekendorf (NI ) 132 Neuenbrook (SH ) 219 Neuhausen (BW ) 195 Neuhof (MV ) 334 Neustadt/Donau (BY ) 255 Niederasphe (HE ) 219 Nieheim (NRW ) 241 Nordgeorgsfehn (NI ) 220
236, 238, 310
Kunreuth (BY ) 44, 84 Küstrow (MV ) 99 Kutterling (BY ) 205 L Langenfeld (BY ) 318, 327, 332, 338
Lanz (BB ) 221 Lauterbach (MV ) 90, 93 Lehnin (BB ) 63 Lehrberg (BY ) 219, 221 Leibis-Lichte (TH ) 98 Leinfelden-Echterdingen (BW ) 229 Lelkendorf (MV ) 44, 176, 243
Lichtenau (NRW ) 136 Locksiefen (NRW ) 132 Loquard (NI ) 223 Lübeck (SH ) 128, 308 Lüchow (MV ) 160, 162,
O Oberammergau (BY ) 175 f. Oberhausen (NRW ) 41 Oberhof (TH ) 95 f. Oberstdorf (BY ) 93, 96, 290, 323
Ochsenfurt (BY ) 21 Oedelsheim (HE ) 210 Oetzendorf (NI ) 220 Ollarzried (BY ) 106, 110, 161, 171, 217, 336
Ostheim (BY ) 155 Ottobeuren (BY ) 110 P Paderborn (NRW ) 136 f., 230
Reicholdsgrün (BY ) 224, 255, 257
Reinsdorf (SN ) 262 Remagen (RP ) 298, 301 Reuden (ST ) 134 Rhauderfehn (NI ) 220 Rissenthal (SL ) 151 Rixdorf (BB ) 12 Rochlitz (SN ) 232 Rockhausen (TH ) 38 Rohr (TH ) 155 Roßwag (BW ) 222 f. Rötenbach (BW ) 65, 68 Rotenberg (BW ) 278 Rüdesheim (HE )
S Saalhausen (NRW ) 42 Satemin (NI ) 211 Scharmede (NRW ) 135–137
Schöneberg (B) 278 Schönfließ (BB ) 131 Schorfheide-Finow (BB ) 97
Schreyahn (NI ) 221 Schwalenberg (NRW ) 33 Schwenda (ST ) 155 Schwerin-Mueß (MV ) 262
Schwetzin (MV ) 284 Seiffen (SN ) 85 Senne (NRW ) 337 Sieben Linden (ST ) 62, 64 Siedelbach (BW ) 250 Simonshofen (BY ) 113 Sommerhausen (BY ) 212, 214, 215
Starnberger See (BY ) 42 Staudenhof (RP ) 264 Steinkirchen (NI ) 219 Sternberg (MV ) 235 Sternenfels (BW ) 109 Stocksee (SH ) 175 Stollen (BY ) 222 Stornfels (HE ) 209, 212 Ströbeck (ST ) 145 Strümpfelbach (BW )
Lüneburger Heide (NI ) 64 Luthe (NI ) 114
T Tangermünde (ST )
M Markkleeberg (SN ) 260 Matgendorf (MV ) 249, 284 Maulbronn (BW ) 255
R Ralswiek (MV ) 172 f.,175 Randersacker (BY ) 212 Reichenbach (SN ) 100
Tellow (MV ) 116, 261 Tempelhof (B) 30 Tettenweis (BY ) 331 Tharandt (SN ) 40
297
Sulzfeld (BY ) 212
175, 215
360
Anhang
Wulfersdorf (BB ) 220 Wust (ST ) 175
165, 172, 193
Trendelburg (HE ) 40 Treppendorf (BY ) 88, 89 Trettachtal (BY ) 290 Trinwillershagen (MV ) 119, 288 U Uhlbach (BW ) 278 Ummendorf (BW ) 167 Ummendorf (ST ) 167, 170, 325, 332
Unterliezheim (BY ) 284
93, 256, 258
Rühle (NI ) 208 Rysum (NI ) 223
Paretz (BB ) 298 f. Pegestorf (NI ) 206 f, 208 Pinnow (BB ) 110, 186 Plankstetten (BY ) 310 Plön (SH ) 255 Premslin (BB ) 151 Prerow (MV ) 94
165 ff., 188
Thierhaupten (BY ) 310 Thüle (NRW )
V Vahlbruch (NI ) 45 Vechta (NI ) 87 Vellberg (BW ) 14 Verden (NI ) 105 Veringenstadt (BW ) 133, 144 f, 171, 252, 258 f
Vielau (SN ) 228 W Wacken (SH ) 172, 174, 175 Waiblingen (BW ) 234 Waldenburg (SN ) 283 f. Waldkirch (BW ) 40 Walldorf (TH ) 155 Walle (NI ) 106 Wallgau (BY ) 146 f. Wannweil (BW ) 245 Warburg (NRW ) 21 Weesby (SH ) 320 Wehrsdorf (SN ) 280 Weihenstephan (BY ) 40 Wermsdorf (SN ) 177 Weste (NI ) 220 Westheim (NRW ) 171 Westoverledingen (NI ) 321 Wetzlar (HE ) 274 Weyarn (BY ) 164, 324 ff., 332
Wienhausen (NI ) 320 Wietze (NI ) 57 Wilflingen (BW ) 66 Willingen (HE ) 96 Windesheim (RP ) 276, 278 ff.
Winterkasten (HE ) 219 Witzenhausen (HE ) 40 Witzwort (SH ) 109 Wolfsbach (BY ) 308 Wolfschlugen (BW ) 317 Wörlitz (ST ) 255, 299 f., 301
Worpswede (NI ) 205 Wrexen (HE ) 149, 320, 322
Z Zainingen (BW ) 142 Zimmernsupra (TH ) 156
Anmerkungen Vom Leben in der guten alten Zeit 1
2 3 4 5 6 7 8 9 10
11 12 13
14 15 16 17 18 19 20 21
22
23 24 25 26 27 28 29
30
31
32 33 34 35 36
Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 18 Seidl 2006, S. 48 ff. Henning 1974, S. 254 Rösener 1985, S. 27 nach Rösener 1985, S. 215 Rösener 1985, S. 216 Rösener 1985, S. 13 Seidl 2006, S. 85 ff. Glaser et al. 2007, S. 132 f. Glaser et al. 2007, S. 133 f. und Rösener 1985, S. 49 Glaser et al. 2007, S. 135 Rösener 1985, S. 39 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 38 f. Seidl 2006, S. 73 f. Rösener 1985, S. 273 Henkel 1973, S. 107 Henkel 1973, S. 69 Seidl 2006, S. 99 Seidl 2006, S. 104 f. Seidl 2006, S. 108 f. Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 65 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 51 ff. Spille 1985, S. 21 Seidl 2006, S. 75 ff. Seidl 2006, S. 96 Henning 1974, S. 238 ff. Henning 1974, S. 246 ff. Henning 1974, S. 245 ff. siehe Abbildungen in Glaser et al. 2007, S. 145 u. 150 siehe Abbildung nach Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 112 siehe Luftbild und Karte in Glaser et al. 2007, S. 139 Henning 1974, S. 255 ff. nach Seidl 2006, S. 124 Seidl 2006, S. 126 Henning 1974, S. 259 Seidl 2006, S. 126
41 42 43 44
45 46 46a
47 47a
47b 48 49 50 51 52 53 54
55 55a 56 57 57a
58
58a
59 59a 60
60a
61
Wirtschaft und Versorgung 37 38
39 40
Römer 2009, S. T1 Deutscher Landkreistag 2019, Daten von 2016 Klein 2009 Baier et al. 2005, S. 200
62
63
63a
Baier et al. 2005, S. 178 Ulm 2003 Roßbach 2011, S. 10 Deutschlandfunk, Sendung »Studiozeit« vom 9. 8. 2007, Thema: Blühendes Landleben und Forschung rund um das Dorf, Redakteure: Andreas Beckmann und Regina Kusch zitiert nach Braun 2010, S. 84 Kohler 2009, S. 1 Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft; Daten und Fakten 2019 Roßbach 2010, S. 9 Landwirtschaftliches Wochenblatt. Heft 35/2009, S. 14 Grossarth 2012, S. 17 Sonnleitner 2011, S. 58 ff. Seidl 2006, S. 147 Krombholz et al. 2009, S. 37 ff. Krombholz et al. 2009, S. 277 ff. Brill 2009, S. 96 Brill 2009, S. 96 dpa 2009, S. 16 und von Lucius 2010, S. 2 Roßbach 2011, S. 1 von Treuenfels 2012, S. 8 Grossarth 2011, S. 10 Ickler 2010, o. S. Situationsbericht des deutschen Bauernverbandes 2018/2019 Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2009, S. 29 ff. Situationsbericht des deutschen Bauernverbandes 2018/2019 Schwägert 2006, S. 12 BMWI , AGEE -Stat (Febr. 2018) Situationsbericht 2018/2019 des Bauernverbands Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft; Bericht: Der Wald – Deutschland. 3. Aufl. Juli 2018 telefonische Auskunft des Deutschen Forstwirtschaftsrates vom 17. 6. 2010 Wald und Holz in Deutschland. 2019 Statistisches Bundesamt 2010, S. 338 Statistisches Jahrbuch 2018
63b
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Statistisches Jahrbuch 2014 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -3070100-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -3070200-2012.pdf http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -3070400-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -7010300-2012.pdf Wald und Holz in Deutschland. 2019 Holzabsatzfonds 2007, S. 34 Selter et al. 2003, S. 177 ff. zitiert nach Selter et al. 2003, S. 187 Selter et al. 2003, S. 201 beide Zitate nach Selter et al. 2003, S. 203 Selter et al. 2003, S. 219 zitiert nach Selter et al. 2003, S. 220 1963, zitiert nach Selter et al. 2003, S. 232 Köhl et al. 2009, S. 104 Polley 2009, S. 75 Miersch 2009, S. 8 u. a. Möhring u. Mestemacher 2009, S. 65 ff. Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 128 vgl. Glaser et al. 2007, S. 149 f. u. Abbildung S. 81 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 128 Ulm 2003, S. 30 ff. Schuler 2010, S. 18 Haffke 2009, S. 79 ff. Dieterle 2009, S. 31 Frank 2009, S. 9 Gespräch im Herbst 2010 Mihm 2010, S. 11 und Mihm 2011, S. 1 Akademie für die Ländlichen Räume Schleswig-Holsteins e. V. 2009, S. 13 Bayerisches Staatsministerium für Landwirtschaft und Forsten 2007, S. 26 f. Kluge 1967, S. 248 Seidl 2006, S. 211 Seidl 2006, S. 213
92 93 94 95 96
Liebrich 2009, S. 21 Grossarth 2009, S. 14 Grossarth 2009, S. 14 Henkel 2020, S. 276 ff. zu Jühnde siehe Kapitel »Vom Nahrungsmittelzum Energieproduzenten«
Bevölkerung – Soziales – Kultur Leib u. Mertius 1983, S. 110 Henkel 2020, S. 58 99 Westfälisches Freilichtmuseum Detmold, Sonderausstellung zur Wanderarbeit im Sommer 2010 100 Planck u. Ziche 1979, S. 71 101 Fränkisches Freilandmuseum 2000, S. 200 ff. und Happe 2009, S. 9 102 Zinkant 2009, S. 3 103 Elsing 2011, S. 34 104 Sezgin 2011 105 Sieverts 1997 106 Beispiel Dortmund-Grevel, vgl. in Kapitel »Abstufungen des Ländlichen« 106a Deutsches Statistisches Bundesamt 2018 107 Dirscherl u. Fröhlich 2010, S. 18 108 Burger 2011, S. 2 109 Pergande 2010, S. 2 110 Henkel 2019 110a Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2015 111 Bohler 2005, S. 229 112 Henkel 2004b, S. 86 ff. 113 zu Veringenstadt siehe auch Kapitel »Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss?« 114 Gespräch im Winter 2011 114a Petersen 2014 114b Presseinformation der Bundesstiftung Baukultur, Potsdam v. 2. 12. 2015. Titel: Gegen den Trend zur Stadt! 45 % der Deutschen würden am liebsten in einer ländlichen Gemeinde wohnen. 115 Mak 1999 116 siehe hierzu auch die Kapitel »Macht das Landleben glücklich?« und »Ist das Landleben ›in‹?« 97 98
Anmerkungen
361
Brill 2009, S. 267 Mak 1999 119 u. a. Planck u. Ziche 1979, S. 163 f. 120 Nathan 2010 120a Durch ein Schreiben der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz an alle Bischöfe im Juni 2014, s. außerdem: G. Henkel und J. Meier: Lasst den Dörfern ihre Kirche. In: Christ in der Gegenwart. H. 46 v. 16. 11. 2014. S. 521 f.; Henkel 2018, S. 226–238, Henkel 2018, S. 4 120b Henkel 2018, S. 237 121 Henkel 2020, S. 349 122 Kempowski 1985, S. 17 f. 123 Lübbert 2009, S. 12 124 Gespräch im Mai 2010 125 Gespräch mit Johannes Liess im April 2011 126 Deutschlandfunk, Sendung »Studiozeit« vom 9. 8. 2007, Thema: Blühendes Landleben und Forschung rund um das Dorf, Redakteure: Andreas Beckmann und Regina Kusch 127 zu Ollarzried siehe Kapitel »Der Kampf um den letzten Dorf laden« 128 in Henkel u. Schmied 2007, S. 92 129 Schäffer 2010, S. 3 130 Deutsche Stiftung Kulturlandschaft 2010, S. 2 131 Gespräch im Herbst 2010 132 Petrak u. Selter 2003, S. 693 133 Rösener 2004, S. 9 134 Petrak u. Selter 2003, S. 694 135 Rösener 2004, S. 17 136 Kremser 1990, zitiert nach Petrak u. Selter 2003, S. 708 137 Petrak u. Selter 2003, S. 708 138 Aberle 2001, S. 37 139 Petrak u. Selter 2003, S. 713 ff. 140 Petrak u. Selter 2003, S. 714 141 Rösener 2004, S. 380 142 van Elsbergen 2003, S. 774 143 Petrak 2003, S. 771 ff. 144 Rösener 2004, S. 380 145 Blüchel 1996, S. 9 145a Gespräch im Juni 2019 146 vgl. Henkel 2004b, S. 86 ff. 147 Nöcker 2006, S. C1 147a Gespräch im Sommer 2010 148 Keseling 2009, S. 8 149 Bürgerzeitung für Teterow vom 16. 6. 1848, in Niehaus 1958, S. 358 150 Brill 2009, S. 41 151 Brill 2009, S. 232 152 Brill 2009, S. 233 153 vgl. Henkel 1997 154 vgl. Hein 1997, S. 23 ff.
362
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Anhang
157 158 159
160 161
162 163 164 165 166 167
von Droste-Hülshoff 2007, S. 3 zitiert nach Johann 1958, S. 78 Hebbel o. J., S. 565–569 Hein 1997, S. 29 siehe hierzu Kapitel »Das Dorf als Zufluchtsort« Schütte 1997, S. 39 Städtische Museen und Galerien Paderborn 2010 vgl. Schütte 1997, S. 41 ff. zitiert nach Schütte 1997, S. 54 Rinck u. Bell 2008 Korsch 1997, S. 73 ff. Korsch 1997 S. 77 ff. Korsch 1997, S. 73
Gestalt der Kulturlandschaft Landzettel 1982, S. 298 Landzettel 1981 a, S. 71 f. 170 Landzettel 1981 a, S. 56 171 Landzettel 1977, S. 49 172 vgl. u. a. Lienau 1995, S. 64 173 vgl. Henkel 2020, S. 241 174 siehe hierzu die Kapitel »Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt« und »Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung?« 175 zu Ollarzried siehe Kapitel »Der Kampf um den letzten Dorfladen« 176 siehe hierzu die Kapitel »Ist das Landleben ›in‹?« und »Ein fruchtbarer Austausch« 177 Drosdowski 1983 178 in Anlehnung an Born 1977 179 vgl. u. a. Henkel 2020, S. 238 ff. und Lienau 1995, S. 64 ff. 180 Poschmann 2010, S. R7 181 Gebhard 1982, S. 49 182 Gespräch im Juni 2010 183 Haindl u. Landzettel 1991, S. 102 f. 184 Schepers 1994, S. 36 ff. 185 zititert nach Gebhard 1982, S. 13 186 Gespräch im April 2011 mit Prof. Dr. R. Lob 187 Kiesow 2009, S. 68 f. 187a vgl. Henkel 2020, S. 124 ff. 187b Ein Überblick über historische Flurformen vgl. u. a. Henkel 2020, S. 244 ff. und Lienau 1995, S. 75 ff. 188 vgl. hier v. a. Gunzelmann et al. 1999 189 zu Baiershofen und Kreuzberg siehe die Kapitel »Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf«; s. zum Thema »Historische Flurformen«: Henkel 2020, S. 244 f. 190 Kaubitzsch 2009, S. 72 191 Wieland 1993, S. 8 f. 168 169
Bade 2004, S. 53 Krus 2004, S. 38 194 Über die zahlreichen Parks und Landschaftsgärten der Schlösser und Herrensitze auf dem Land wird im Kapitel »Von der Dorfzur Landesverschönerung« berichtet. 195 Wieland 1993, S. 82 196 Krus 2004, S. 205 197 Wieland 1993, S. 87 198 Baier et al. 2005, S. 94; siehe hierzu auch Kapitel »Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind?« 199 Meyer-Renschhausen 2004, S. 83 u. 94 f. 200 Inhetveen 1994, S. 27 201 Fock u. Tillack 2007, S. 37 202 Inhetveen 1994, S. 27 203 Plickert 2009, S. 12 204 Reents 2010, S. 34 205 Bade 2004, S. 78 206 vgl. Frühsorge 1993, S. 219 ff. 207 Landzettel 1977, S. 51 208 Stiftung für die Natur Ravensburg 1988, S. 82 209 Wieland 2003, S. 4, 6 u. 8 210 siehe hierzu auch die Kapitel »Modernisieren und ›Wachsen oder Weichen‹« und »Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert« 211 Buchholz u. Scharmann 1992, S. 64 f. 211a vgl. Henkel 2020, S. 276 f. 212 Burggraaff u. Kleefeld 1998, S. 294 213 Henkel 1997b 214 Gespräch im Juni 2010 214a Markus Denkler: Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens – Linguistische Grundlagenforschung für die Region. In: Heimatpflege in Westfalen, Heft 5/2012, S. 22–24 214b s. genauere Untergliederung in: Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. 14. Aufl. München 2004, S. 230 f. 214c Georg Cornelissen: Der Niederrhein und sein Deutsch. Sprechen tun et fast alle. Greven Verlag. Köln 2009, S. 14 214d Heimatpflege in Westfalen, Heft 2/2012, S. 24 215 Brill 2009, S. 283 f. 216 vgl. Knauss 2005 217 Knauss 2005 218 Bauer 2009, S. 110–115 219 Bauer 2009, S. 112 220 Bauer 2009, S. 112 192
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193
222 223 224
Ministerium für Ernährung und Ländlichen Raum BadenWürttemberg 2009, S. 2 Andreas Homburg 2015 Hahne 2014 und 2017 Gespräch im November 2010
Dorfpolitik Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1975, S. 1 u. 5 225a vgl. u. a. Rösel, Güllner und Kramer 226 Brösse 1975, S. 68 227 Stiens 1990, S. 99 ff. 228 Tiefensee 2009, S. 36 229 Ramsauer 2010, S. 24 230 Schmitt 2005, S. 7 231 Henkel 2005, S. 8 231a vgl. die ausführliche Text- und Kartendarstellung in Henkel 2004 a, S. 287 ff. und Henkel 2020, S. 300 ff. 232 Jessen 2000, S. 96 233 Knieling 1998 234 Gespräch im Juni 2019 235 siehe Kapitel »Der Beginn der Dorfauflösung?« 236 Riehl 1910 237 vgl. das Beispiel Trinwillershagen in Kapitel »Trend zum Pendlerdorf« 238 Henning 1978 u. 1996 239 vgl. u. a. Dipper 1980 240 Seidl 2006, S. 256 241 Röseler u. Scherf 1976, S. 85 242 vgl. u. a. Düsterloh 1975, Halama 2006 und Henning 1978 243 vgl. u. a. von Kruse 1990 244 Halama 2006, S. 256 244a vgl. u. a. Böick 2018 244b Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 245 vgl. Henkel 2020, S. 181 ff. 246 Ertl 1976, S. 136 f. 247 Europäische Kommission 2013: Überblick über die Reform der GAP 2014–2020. Informationen zur Zukunft der Agrarpolitik Nr. 5. S. 9. 248 Rede zum Erntedankfest am 10. 10. 2018 249 Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1986, S. 19 250 Henkel 2020, S. 309 ff. 251 Thomas 2010, S. 381 251a vgl. Henkel 2004a, S. 180 252 Thomas 2010, S. 395 253 zitiert nach Gassner 1981, S. 115 254 Bayerisches Staatsministerium 225
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256 257 258 259 260 261 262
für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1986, S. 20 Nathan 2009, S. 12–19 und Werger 2010, S. R3 Frühsorge 1993, S. 109 ff. Henkel 2020, S. 311 ff. Haffke 2009, S. 132 Haffke 2009, S. 135 Gassner 1981, S. 108 Halama 2006, S. 153 ff. Landesentwicklungsgesellschaft NRW für
263
264 265 266 267 268
269 270
Städtebau, Wohnungswesen und Agrarordnung 1970, S. 50 Wieland 2003, S. 4, 6 u. 68 vgl. Henkel 2020, S. 318 ff. Grube u. Rost 1995, S. 42 Henkel 2020, S. 331 Gespräch im Juli 2010 Gespräch im Sommer 2010 Gespräch im Juli 2010 Troßbach u. Zimmer-
271 272 273 274 275
276
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mann 2006, S. 305 f. vgl. Henkel 2020, S. 368 f. siehe Hauptmeyer 1986 von Lucius 2011, S. 9 vgl. Henkel 2020, S. 401 ff. siehe auch Kapitel »Die Kraftquellen des Dorfes« Gespräch im September 2010 Merk-Holzapfel 2008 Gespräch im August 2010 Gespräch im August 2010 Henkel 2020, S. 382 ff.
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284 285 286 287
288
ausführlich dazu: Gerhard Henkel 2020, S. 382 ff. und Henkel 1986 Henkel 1986 zitiert nach Landzettel 1982, S. 9 Gespräch im Juli 2010 Ilien 1983, S. 59 u. 65 Gespräch im August 2010 siehe Henkel 1997 b, S. 31 ff. Atteslander 1982, S. 53 f.
289
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291
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie 1997, S. 237 von Weizsäcker 1997, S. 106 Herrenknecht u. Wohlfahrt 1997, S. 31
Ein knappes Fazit 292 293
Höpfinger 2010, S. 8 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 284
Anmerkungen
363
Bildnachweis akg-images: S. 16 unten (Bildarchiv Monheim); S. 17 rechts (British Library); S. 18; S. 22; S. 78; S. 90 (Bildarchiv Monheim); S. 130; S. 141; S. 155 oben (Bildarchiv Monheim); S. 180 (Archives CDA /St-Génes); S. 198; S. 201; S. 203; S. 231 (Bild archiv Monheim); S. 240 unten; S. 281; S. 283; S. 286 f.; S. 298; S. 301; S. 335 (Bildarchiv Monheim); Alamy Stock Foto: S. 39 (imageBROKER ), S. 56 (wayne HUTCHINSON ); S. 117 (imageBROKER ); S. 244 (Juniors Bildarchiv GmbH); S. 247 unten (Panther Media GmbH); S. 256 (David Noton Photography); ALE Oberfranken: S. 308; Amtshof Eicklingen Planungsgesellschaft mbH & Co KG : S. 2 Mitte; S. 105 unten; S. 106; S. 263; S. 266 links; Aufwind-Luftbilder/VISUM : S. 6 Mitte; S. 220; S. 255; Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe: S. 25; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege: S. 215; S. 236; S. 257; Bibliotèque de l’Arsenal, Paris: S. 17 links; Bildarchiv der volkskundlichen Kommission für Westfalen – Landschaftsverband Westfalen-Lippe: S. 72; Hans Blossey / Klaes Bildarchiv: S. 235; BMEL / Ute Grabowsky / photothek.net: S. 293; Ulf Böttcher, Potsdam: S. 92; bpk/Anton Meinholz: S. 4; bpk/Kupferstichkabinett, SMB /Jörg P. Anders: S. 13; S. 30; bpk/Nationalgalerie, SMB /Klaus Göken: S. 31; bpk/Edelgard Rehboldt: S. 148; CLAAS KG : S. 5 links; S. 53; Bundesministerium für Ern. und Landwirtschaft: S. 80; LWL -Freilichtmuseum Detmold, Westfälisches Landesmuseum für Volkskunde, Bildsammlung: S. 128; S. 261 unten; Deutsches Jagd- und Fischereimuseum München: S. 178; dpa picture alliance: S. 2 links (Okapia); S. 3 (DuMont Bildarchiv); S. 5 Mittes; S. 5 rechts (Bildagentur Huber); S. 6 links; S. 14 (dpa); S. 16 oben (Bildarchiv Monheim); S. 29; S. 33; S. 36/37; S. 48; S. 49; S. 51 (dpa); S. 52 (okapia); S. 54 (ZB ); S. 55 (ZB ); S. 57; S. 60; S. 63; S. 68 (Stefan Puchner); S. 63, S. 67; S. 69; S. 71; S. 75; S. 77; S. 79 (Uwe Zucchi); S. 83; S. 84; S. 85 (ZB ); S. 86; S. 87 oben (dpa); S. 91 (ZB ); S. 93; S. 97; S. 99; S. 101; S. 104 (dpa); S. 108; S. 110; S. 113; S. 118; S. 120; S. 122/123; S. 125 (Stephan Jansen); S. 126/127; S. 131; S. 132; S. 134 (Euroluftbild); S. 138 (Helga Lade Fotoagentur); S. 142 (DuMont Bildarchiv); S. 145 (dpa); S. 146; S. 151; S. 153; S. 154 (okapia); S. 157 (Helga Lade Foto agentur); S. 163; S. 168 unten (dpa); S. 173 oben (Bildagentur Huber); S. 173 Mitte und unten (ZB ); S. 174; S. 177 (Bildagentur Huber); S. 181, S. 182 (dpa); S. 185 f.; S. 189 ( Josef Wildgruber); S. 191f; S. 193 (Bildarchiv Monheim); S. 194; S. 205; S. 211 (Bildagentur Huber); S. 212 (HB Verlag); S. 213 (Euroluftbild); S. 214 (HB Verlag); S. 216 (Arco Images GmbH); S. 218 (ZB ); S. 225; S. 226: nach Karl Heinz Schröder, 1974 d, Gerhard Henkel 2004, S. 244; S. 227 (ZB ); S. 228 oben (Arco Images Gmbh); S. 229 (Bildagentur Huber); S. 232; S. 239; S. 240 oben; S. 243 (dpa); S. 260 (ZB ); S. 262 (ZB ); S. 271 (Arco Images GmbH); S. 272 oben (ZB ); S. 273 unten; S. 280 (Bildagentur online); S. 285 (ZB ); S. 289 (Robert Schlesinger), S. 290 unten (Arco Images GmbH); S. 292 (dpa); S. 294 (dpa); S. 295; S. 297 (Euroluftbild); S. 300; S. 321; S. 333 f.; Joachim Feist, Pliezhausen: S. 3; S. 8; S. 142; S. 252; Wolfgang Filser: S. 188; Förderkreis für Kultur, Geschichte und Natur im Sintfeld e.V., Fürstenberg, Foto Gefion Apel: S. 105 oben; Fotolia (Gina Sanders): S. 331; Nathalie Franzen: S. 343 unten; Freundeskreis Ökodorf e. V.: S. 62; Willi Gehring: S. 158; Monika Geiselhardt: S. 252; S. 258; Gemeinde Bärweiler: S. 102; S. 184; S. 266 rechts; S. 276; S. 311; S. 316; S. 320 links; S. 323; Gemeinde Ermershausen: S. 330; Gemeinde Gonnesweiler: S. 343 oben beide; Gemeinde Grasbrunn: S. 111; S. 114 alle; S. 319, S. 347; Gemeinde Haidenkofen, Eva Gerl: S. 119; S. 241 unten; S. 312 f.; S. 341; Gemeinde Langenfeld: S. 7 Mitte; S. 318; S. 327; S. 338; Gemeinde Niederaudorf: S. 32; Gemeinde Schopfheim: S. 314; S. 342; Gemeinde Weyarn: S. 164; S. 324f; Geno Archiv: S. 112; Ralf Gerard/JOKER : S. 291; Bettina-Hartkopf.de: S. 165; S. 193; Fotoarchiv Gerhard Henkel: S. 265 oben beide, ergänzt nach Abschlussbericht Modellprojekt Eindämmung des Landschafts-verbrauchs durch Aktivierung des innerörtlichen Potentials. MELAP . Ministerium für Ernährung und Ländlicher Raum. Stuttgart 2009. S. 24; S. 288 beide; S. 306; S. 309 oben; S. 328; Johannes Henkel: S. 94; Eugen Hellinge: S. 233; S. 249; Matthias Janke: S. 87 unten; S. 195 f.; S. 228 unten; S. 248; S. 251; S. 317; Frank Junker, Atteln: S. 169; Bernd Kittlinger: S. 275; Kreismuseum Paderborn: S. 134; S. 137; Horst-D. Krus: S. 241 oben; Katrin Viviane Kurten, Wiesbaden: S. 340; Werner Tiki Küstenmacher: S. 129; Landesmedienzentrum BadenWürttemberg: S. 7 links; S. 250 unten beide; S. 305; Landesmuseum Württemberg, Stuttgart: S. 179; Landpixel.de: S. 41 oben; S. 59; S. 61; S. 182f; Gerhard Launer WFL GmbH, Schießhausstraße 14, 97228 Rottendorf, www.deutschlandvonoben.de: S. 2 rechts; S. 115; S. 221 ff.; S. 234; S. 237; Jochen Littkemann: S. 204; Reinhold Lob, Grevel: S. 277; Verein »Das lebendige Dorf e.V.« in Lüchow: S. 166 ; Maria Lummer,
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Anhang
Hegensdorf: S. 264 beide; S. 309 unten beide; Jochim May, Windesheim: S. 279; © Markttreff: S. 108; Mauritius images: S. 45 (Manfred Mehlig); S. 206/207 (Chris Seba); Herbert Meinunger, Mellrichstadt: S. 155 unten; Sammlung Armin Mayer, Bad Urach: S. 107; S. 245; Oberhofer Freizeit und Tourismus GmbH © Patrick Muschiol: S. 95; Axel Nickolaus: S. 175; Ollarzried aktiv: S. 161; S. 336f; prepress Media GmbH: S. 109; Dennis Pucher, Denkstrukturen: S. 170; Dr. Jürgen Römer, Dalwigksthal: S. 21; S. 27; S. 345; Roland Rossner, Bonn: S. 156; Sägewerk Rötenbach: S. 65; Uwe Schmid: S. 35; Georg Schmidt, Diemelstadt: S. 149 unten, S. 320 rechts; S. 322; Johannes Sieren, Fürstenberg: S. 168 oben; S. 310; Silberburg Verlag Tübingen: S. 81; S. 149 oben; S. 162; Stadtarchiv Balingen: S. 103 oben; sv-Bilderdienst: S. 140; SZ Photo: S. 34; S. 160; S. 268/269; Jan-Phillipp Scheibe, Hamburg © VG Bild, Bonn: S. 176; Staatsgalerie Stuttgart: S. 202; Heyko Stöber, Berlin: S. 344; Musikhaus Thomann: S. 88; Thünen-Museum: S. 116; S. 261 oben; TV Yesterday: S. 246; Ullstein Verlag: S. 200; Musikverein Ummendorf bei Biberach: S. 167; Unternehmensgruppe Graf von Oeynhausen-Sierstorpff, Bad Driburg: S. 302; Verein »Das lebendige Dorf e.V.«: S 166; Stadt Veringenstadt: S. 133; Verkehrsverein Saalhausen: S. 42; Waldburg-Zeil’sches Gesamtarchiv Schloss Zeil, Archivsignatur ZAM s 54: S. 26; Armin Weigel, Bitzen: S. 152; WESTFÄLISCHES VOLKSBLATT : S. 143 (Per Lütje); S. 197 (Hanne Hagelgans); wikimedia: S. 98 (StefanX112); S. 253 (JuTe CLZ ); S. 274; Erwin Zillenbiller, Veringenstadt: S. 144; S. 6 rechts: aus: Dorfentwicklung in Nordrhein-Westfalen, S. 7 oben; S. 15: aus: Norbert Wand, Das Dorf der Salierzeit – ein Lebensbild (1991), S. 25/26; S. 17: aus Blum, J., Die bäuerliche Welt (1982), S. 73; S. 19: aus: Glaser R., Gebhardt, H. und W. Schenk, Geographie Deutschlands (1997), Abb. 4.33 (mit Ergänzungen des Autors); S. 187: aus: Heimatpflege in Westfalen. 25. Jg., H. 5/2011; S. 23: aus Rösener, W.: Bauern im Mittelalter (1985), S. 241 (Holzschnitt aus Lichtenbergers »Prognosticatio«, Jacob Meydenbach, Mainz 1492); S. 25: aus Rösener, W., Bauern im Mittelalter (1985), S. 70; S. 26: Blum, J., Die bäuerliche Welt (1982), S. 149; S. 32: aus: Die Jahreszeiten, Reprint, Monatsbild August; S. 43: aus: Die Jahreszeiten, Reprint, Monatsbild März; S. 74: aus: Die Jahreszeiten, Reprint, Monatsbild Januar; S. 44 oben: nach Weber-Kellermann, I. 1965; S. 47: aus: Schnieders, R., Porträt des Dorfes (1964), S. 100; S. 82: aus Glaser, R., Gebhardt, H. und W. Schenk, Geographie Deutschlands (1997), Abb. S. 150; S. 150: aus: Ländliche Entwicklung in Bayern, S. 13; S. 172: aus: 1150 Jahre Thüle. Ein Dorf im Wandel der Zeit (2006), S. 506; S. 190: aus: Das Parlament Nr. 31/2009, S. 13; S. 209: aus: Wilhelm Landzettel, Wege und Orte. Landschaft und Siedlung in Hessen (1977), S. 18; S. 230: aus: Dorfentwicklung in Nordrhein-Westfalen, S. 7 oben; S. 247 oben: aus: Wilhelm Landzettel, Wege und Orte. Landschaft und Siedlung in Hessen (1977), S. 51; S. 284: aus: Ländliche Entwicklung in Bayern, S. 26 oben; S. 303: aus: Schnieders, R., Porträt des Dorfes (1964), S. 96; S. 304: aus: Schnieders, R., Porträt des Dorfes (1964), S. 50; S. 7, S. 14, S. 339: C.: L. Schmitt, Das Hohenloher Land, Siegloch Edition. Abbildungen/Tabellen S. 40: ergänzt nach Planck und Ziche 1979, Statistische Jahrbücher des Stat. Bundesamtes; S. 44: nach Agrarberichten der Bundesregierung, Klemm 1985 und Eckart 1998, Statistische Jahrbücher 2003 und 2009; S. 46 unten: Regionalatlas der Statist. Ämter des Bundes und der Länder 2010; S. 50: nach Agrarbericht 1991, nach Henkel 2004 a, S. 107; S. 66: Statistisches Jahrbuch des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2009, Deutscher Forstwirtschaftsrat 2010; S. 73 ergänzt in Anlehnung an Selter 2003; S. 103 unten: Eigene Erhebung des Autors; S. 135: nach Henkel 2004 a, S. 48; S. 136: Daten vom Landesamt für Statistik NRW , ab 1975 Gemeindeverwaltungen Lichtenau, Salzkotten und Bad Wünnenberg; S. 139: nach Henkel 2004 a, S. 93; S. 219 nach Born 1977, nach Henkel 2004 a, S. 231; S. 226: nach Schröder 1974, nach Henkel 2004 a, S. 244; S. 242: nach Lob 2005, S. 195; S. 250: nach B. Neuer, Geographisches Institut der Universität Freiburg, nach Henkel 2004 a, S. 268; S. 265 unten: ergänzt nach Abschlussbericht MELAP des Ministeriums Ländlicher Raum, Stuttgart 2009, S. 21; S. 278: nach Henkel 2004 a, S. 291, ergänzt durch R. E. Lob 2010; S. 296: nach Henkel 2004, S. 182; S. 299: nach Henkel 2004 a, S. 298; S. 306: Städtebauliches Gutachten Haaren 1970, nach Henkel 2004 a, S. 304f.; S. 329: Zeichnung Sepp Buchegger in Grundlagen der Dorfentwicklung, H 1. Deutsches Institut für Fernstudien. Tübingen 1988, S. 235.
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